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German Pages [474] Year 2013
Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 Dokumente Forschungsstand Kontroversen Herausgegeben von Norbert Kampe und Peter Klein
2013 BÖHLAU VERL AG KÖLN WEIM AR WIEN
Diese Veröffentlichung wurde durch den Beauftragten der Bundesrepublik für Kultur und Medien (BKM) und durch das Land Berlin gefördert.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: vorn und hinten: aus der Akte »Endlösung der Judenfrage« von Unterstaatssekretär Martin Luther, Politisches Archiv Auswärtiges Amt, Berlin hinten: Abbildung aus dem Briefpapier von Friedrich Minoux, Besitzer der Villa 1920–1940, Privatbesitz
© 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D–50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Český Těšín Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Czech Republic ISBN 978-3-412-21070-0
Die Herausgeber widmen diesen Band Professor Dr. Reinhard Rürup in Dankbarkeit
in memoriam Professor Dr. Wolfgang Scheffler und Dr. Gerhard Schoenberner
Inhalt Vorwort der Herausgeber ...................................................................................... 13 Dokumente und Überlieferung Norbert Kampe Dokumente zur Wannsee-Konferenz (Verzeichnis der Dokumente Seite 10–12).... 17 Christian Mentel Das Protokoll der Wannsee-Konferenz. Überlieferung, Veröffentlichung und revisionistische Infragestellung ............................................................................... 116 Bettina Stangneth Eichmanns Erzählungen ........................................................................................ 139 Michael Wildt Eichmann und der kategorische Imperativ, oder: Gibt es eine nationalsozialistische Moral? .................................................................................. 151 Die Besprechung und der historische Kontext Dieter Pohl Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik um die Jahreswende 1941/42. Zum Kontext der Wannsee-Konferenz .................................................................. 169 Peter Klein Die Wannsee-Konferenz als Echo auf die gefallene Entscheidung zur Ermordung der europäischen Juden.......................................................................................... 182 Edouard Husson Die Rolle Heydrichs im Prozess der Holocaust-Entscheidung und die Bedeutung der Wannsee-Konferenz. Versuch einer Neuinterpretation ..................................... 202 Jan Erik Schulte Die Wannsee-Konferenz und Auschwitz. Rhetorik und Praxis der jüdischen Zwangsarbeit als Voraussetzung des Genozids ........................................................ 216
8 Inhalt Teilnehmer und Institutionen Andrej Angrick Die inszenierte Selbstermächtigung? Motive und Strategie Heydrichs für die Wannsee-Konferenz ............................................................................................... 241 Eckart Conze Neuigkeiten für das Auswärtige Amt? Völkermord als Problem der Diplomatie...... 259 Hans-Christian Jasch Behördliche Abstimmung zur Vorbereitung von Deportation und Völkermord. Zur Rolle des Vertreters des Reichsministeriums des Innern Dr. Wilhelm Stuckart ... 276 Armin Nolzen Gerhard Klopfer, die Abteilung III in der Partei-Kanzlei und deren »Judenpolitik« 1941/42 ................................................................................................................ 303 Isabel Heinemann Otto Hofmann und das Rasse- und Siedlungshauptamt. Die »Lösung der Judenfrage« als Element der rassenpolitischen Neuordnung Europas ..................... 323 Alfred Gottwaldt Warum war die Reichsbahn nicht auf der Wannsee-Konferenz vertreten? .............. 341 Die europäische Dimension des Völkermords Christoph Kreutzmüller Eichmanns Zahlen für die Niederlande.................................................................. 357 Dan Michman Waren die Juden Nordafrikas im Visier der Planer der »Endlösung«? Die »Schoah« und die Zahl 700.000 in Eichmanns Tabelle am 20. Januar 1942 .......................... 379 Rezeption und Wirkungsgeschichte Mark Roseman »Wannsee« als Herausforderung. Die Historiker und die Konferenz ...................... 401 Gerd Kühling Streit um das »Haus der Endlösung«. Joseph Wulf und die Initiative für ein Dokumentationszentrum im Haus der Wannsee-Konferenz .................................. 415
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Wolf Kaiser Die Wannsee-Konferenz als Unterrichtsgegenstand. Anregungen und Dokumente für die Sekundarstufe II ......................................................................................... 437 Anhang Verzeichnis der Abbildungen ................................................................................. 453 Literaturverzeichnis ............................................................................................... 454 Autorinnen und Autoren ....................................................................................... 471 Personenregister .................................................................................................... 476
Verzeichnis der Dokumente zur Wannsee-Konferenz Dokumente 1.1 und 1.2 ...................................................................................... 20 Reichsvereinigung der Juden: Ausarbeitungen für das RSHA, August und Dezember 1941 ................................................................................ 20 Dokument 1.1 Statistische Zusammenstellung der Anzahl der Juden, 7. und 13. August 1941 .............................................................................................. 20 Dokument 1.2 Anzahl der Juden in Frankreich und nordafrikanischen Besitzungen, 4. Dezember 1941 ........................................................................................... 24 Dokument 2 Adolf Eichmann: Vermerk über eine Besprechung Heydrichs mit dem Höheren SS- und Polizeiführer in Krakau mit Entwürfen für Einladungsschreiben zur Wannsee-Konferenz, 1. Dezember 1941 ................................................................ 25 Dokument 3 Hans Frank: Erwartungen des Generalgouverneurs an die Besprechung zur »Endlösung« in Berlin, 16. Dezember 1941 .......................................................... 28 Dokumente 4.1 bis 4.7 Die Wannsee-Konferenz und begleitende Dokumente, 1941–42.......................
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Dokument 4.1 Akte: Endlösung der Judenfrage, Auswärtiges Amt, 1939–1943 ....................... 31 Dokument 4.2 Erste Einladung Heydrichs an Luther, 29. November 1941.............................. 32 Dokument 4.3 Ermächtigung Görings für Heydrich, 31. Juli 1941 ......................................... 34 Dokument 4.4 Rademacher: Wünsche und Ideen des Auswärtigen Amts, Dezember 1941....... 35
Verzeichnis der Dokumente zur Wannsee-Konferenz
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Dokument 4.5 Zweite Einladung Heydrichs an Luther, 8. Januar 1942 ................................... 38 Dokument 4.6 Begleitschreiben Heydrichs bei Versendung des Protokolls, 26. Februar 1942 ............................................................................................. 39 Dokument 4.7 Protokoll der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 .................................. 40 Dokumente 5.1 und 5.2 Reinhard Heydrich: Rundschreiben nach der Wannsee-Konferenz, 25. Januar 1942 ...................................................................................................
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Dokument 5.1 Rundschreiben an alle Dienststellen SD, Sipo und Einsatzgruppen .................. 56 Dokument 5.2 Schreiben an das SS-Personalhauptamt ............................................................ 59 Dokumente 6.1 und 6.2 Frühe Echos auf die Staatssekretärsbesprechung ................................................ 60 Dokument 6.1 Joseph Goebbels: Tagebucheintrag bei Lektüre des Protokolls, 7. März 1942 ................................................................................................... 60 Dokument 6.2 Anfrage von Legationsrat Carltheo Zeitschel in Paris an das Auswärtige Amt, 23. März 1942.................................................................................................. 60 Dokument 7 New York Times: Erste Nachricht von der Wannsee-Konferenz, 21. August 1945 .................................................................................................... 61 Dokument 8 Adolf Eichmann: Äußerungen in der Sassen-Runde, 1957..................................... 63 Dokument 9 Adolf Eichmann: Notizen und Handschriften, 1957.............................................. 69
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Verzeichnis der Dokumente zur Wannsee-Konferenz
Dokument 10 Adolf Eichmann: Zur Wannsee-Konferenz beim Polizeiverhör, Juni/Juli 1960 ....... 70 Dokument 11 Adolf Eichmann: Meine Memoiren, Juni 1960 ..................................................... 88 Dokument 12 Adolf Eichmann: Meine Flucht, März 1960........................................................... 90 Dokument 13 Adolf Eichmann: Zur Wannsee-Konferenz im Prozess, Juni/Juli 1961.................... 93 Dokument 14 Adolf Eichmann: Götzen, August/September 1961................................................ 109 Dokument 15 Adolf Eichmann: Auch hier angesichts des Galgens, Jahreswende 1961/1962 ........ 112 Dokument 16 Avner Less: Die Empfänger der 30 Ausfertigungen des Protokolls, 26. Januar 1982 ..................................................................................................... 113
Vorwort der Herausgeber Das Jahr 2012 mit dem 70. Jahrestag der Wannsee-Konferenz bot für die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz Anlass zu einer Fachkonferenz am 20. und 21. Januar. Die Frage dort lautete, wie die Besprechung am 20. Januar 1942 in den Kontext von Planung und Ingangsetzung des Völkermords an den europäischen Juden einzuordnen ist. Diese Frage stellt sich neu vor allem wegen des großen Forschungsfortschritts, der infolge der Öffnung der Archive in den Nachfolgestaaten der UdSSR möglich wurde. Gut ein halbes Jahr standen die Historiker im intensiven Austausch ihrer Erkenntnisse und Thesen, weitere Experten konnten während dieser Zeit hinzugewonnen werden. Ohne die Bedeutung der ersten grundlegenden Arbeiten zur Wannsee-Konferenz (Kurt Pätzold und Erika Schwarz 1992; Christian Gerlach 1997; Mark Roseman 2002) sowie die Veröffentlichungen der Gedenkstätte seit 1992 infrage zu stellen, findet sich hier erstmals eine umfassende Würdigung des Protokolls im Rahmen einer internationalen Kooperation von Experten: eine Würdigung als schriftliche Quelle, eine Interpretation der bürokratischen Sprache sowie eine Aufdeckung der Mentalität und der Interessen der Teilnehmer und Institutionen, eine Einordnung in Überlieferung in Geschichtsschreibung, Erinnerungskultur und Pädagogik. Die zentralen Dokumente zur Konferenz, zu deren Vorlauf und Echo 1941/42 sind hier – teils als Kopien, teils in Abschriften – zusammengestellt. Eichmanns zahlreiche Äußerungen zur Wannsee-Konferenz seit seiner Flucht nach Argentinien sind erstmals vollständig wiedergegeben. Während keine wissenschaftliche Untersuchung zum Völkermord an den Juden ohne zumindest einen Hinweis auf die »Besprechung am Wannsee« auskommt, steht hier eine der zentralen Konferenzen zur Planung des Holocaust selbst im Mittelpunkt der Darstellungen. Die Schnittmengen, Ergänzungen und auch zum Teil Kontroversen der Autoren bilden den Rahmen zum angemessenen Verständnis im Lichte aktueller Forschungen. Gedenkreden zum 70. Jahrestag der Wannsee-Konferenz und dessen große internationale Beachtung in den Medien haben eindrucksvoll gezeigt: In der Öffentlichkeit überwiegt eine symbolische Betrachtung, in der die Wannsee-Konferenz vereinfachend für »den Beschluss zur Ermordung der Juden« oder für einen »detailliert ausgearbeiteten Mordplan« steht. Die Idylle der großzügigen Villa in einem gestalteten Landschaftspark am Ufer des Wannsees und die Monstrosität des hier von überwiegend akademischen gebildeten Männern besprochenen Plans zu einem Völkermord – bei einem Zusammentreffen mit zweitem Frühstück, mit Kaffee, Cognac und Schnittchen – machen das Haus am Wannsee zu einem sehr geeigneten Ort für die symbolische Sicht auf ein bürokratisch organisiertes Staatsverbrechen. Das Gedenken der Überlebenden, der Nachfahren von Opfern und Tätern, der Erinnerungskollektive braucht eher symbolische Orte und Daten. Der Historiker als Experte sollte sich dafür engagieren, dass Symbol und Erkenntnis nicht
14 Vorwort zu weit auseinander fallen. Er sollte auch komplizierte Abläufe nachvollziehbar darstellen und offene Fragen benennen. Dennoch ist es nicht die Absicht der Herausgeber und der Autoren dieses Bandes, sich über den populären Diskurs zu erheben. In aller Bescheidenheit hoffen wir auf eine Wirkung unserer Bemühungen, auf eine Annäherung von Symbol und Erkenntnis. Wir bedanken uns für die Finanzierung dieses Projektes inklusive der Drucklegung beim Beauftragten der Bundesrepublik für Kultur und Medien (BKM) und beim Leiter des Deutsch-Russischen Museums Berlin-Karlshorst Jörg Morré, der den Einsatz dieser Mittel im Rahmen des Gedenkjahrs 2011 an den deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 koordiniert hat. Das Deutsche Historische Museum (DHM) hat diese Mittel für uns verwaltet und abgerechnet. Die Herausgeber bedanken sich bei den engagierten rund einhundert Teilnehmern der Tagung im Januar 2012, deren Anregungen hier im Band aufgegriffen wurden. Unser Dank gilt den Moderatoren und besonders Herrn Professor Reinhard Rürup für seine Zusammenfassung der Ergebnisse und die Strukturierung der Generaldebatte. Die Kolleginnen und Kollegen in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz haben die Tagung technisch organisiert und betreut. Wir danken unseren Autoren für Kooperation und Geduld angesichts immer neuer Anforderungen, die wir an sie herangetragen haben. Wir bedanken uns bei Frau Dorothea Walther für das Lektorat, bei Herrn Christian Müller für seine Informationen zu den Zahlen auf Seite 6 des Protokolls, bei Frau Kerstin Stubenvoll für Übersetzungen aus dem Französischen, bei Herrn Christian Mentel für das Dokument 16 und bei Herrn Harald Liehr und dem Böhlau Verlag für die gute Betreuung des vorliegenden Bands.
Norbert Kampe
Dokumente zur Wannsee-Konferenz Hier sind die wichtigsten Dokumente mit Bezug zur Wannsee-Konferenz in chronologischer Ordnung als Faksimile oder in Abschrift zusammengestellt. Es werden nur editorische Hinweise gegeben; auf eine inhaltliche Kommentierung wird verzichtet. Da Eichmanns Äußerungen zur Wannsee−Konferenz hier eine prominente Rolle spielen, sollen eingangs die beindruckenden Beobachtungen von Avner Less vorangestellt werden, der Eichmann 275 Stunden allein verhört hat. Durch die Veröffentlichung seiner Aufzeichnungen von Bettina Stangneth kann nun die Persönlichkeit von Less insgesamt und speziell seine Einsichten in Charakter und Strategie Eichmanns endlich gewürdigt werden. Anfangs glaubte Eichmann wohl, dass ihn die israelische Polizei nach GestapoMethode ermorden werde, wenn von ihm keine wichtigen Informationen mehr zu erhalten sind. Deshalb berichtete er Less von Anfang an erstaunlich viele Details. Less und seine Kollegen im Team des Büros 06 hatten den Eindruck, dass Eichmann vor Kurzem eine Art Generalprobe seines Wissen gemacht haben müsse. Erst viel später erschien im Magazin »Time« der Auszug aus dem Sassen-Interview von 1957, das tatsächlich Eichmanns Generalprobe war. Dort hatte er auch die ersten wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Mord an den europäischen Juden gelesen − darunter auch die Veröffenlichung des Wannsee−Protokolls und Kommentare dazu. Mit diesem Wissen erkennt man leicht, wo Eichmann sich dumm stellt, um seine Verteidigungsstrategie als subalterner Gestapo-Beamter ohne größere Kompetenz und Kenntnisse aufzubauen. (Avner Werner Less, Lüge! Alles Lüge! Aufzeichnungen des Eichmann-Verhörers. Rekonstruiert von Bettina Stangneth, Zürich/Hamburg 2012, S. 115, 120, 122, 156). Less beschreibt Eichmann als »verschlagenen Typ. Zwar nicht über den Durchschnitt intelligent, aber von ausgesprochener instinktiver Schauheit und Rafinesse«. Eichmann »ist ein geborener Lügner, der nur die Wahrheit sagen wird, wenn sie ihm nützlich erscheint«. (Ebenda, S. 194). Er besaß ein glänzendes, wenn auch zweckdienliches Gedächtnis (S. 197). Mit welcher Taktik Avner Less Eichmann dennoch brauchbare Information abringen konnte, beschreibt er in einem Text von 1961/1962 wie folgt: »Um aus E. eine Wahrheit herauszuholen, musste ich mich mit viel Geduld wappnen, denn oft redete er, mit Absicht, nicht zur Sache. So musste ich ihn dann ständig nach einem seiner üblichen Redeschwälle durch vorsichtiges Befragen und auf schon früher gegebene Antworten bzw. Teilantworten zurückgreifend auf das eigentliche Thema oder das wirkliche Problem einstreuen, um so eine mehr komplexe Antwort zu bekommen. Ich musste meine Fragen daher so gestalten, dass er zu einer spontanen Antwort bereit war. Und nur durch eine spontane Antwort konnte ich ihn dazu veranlassen, hier und da
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die Wahrheit einzugestehen. Ich hatte meine Fragen mir vorher niedergelegt, doch konnte ich mich nicht immer an sie halten und musste, auf Grund seiner langen und ausweichenden Antworten, oft improvisierte Fragen stellen. So sah ich mich auch veranlasst, des öfteren meine Taktik zu ändern. Anfangs stellte ich ihm Fragen, die sich auf Dokumente bezogen, die ihm noch nicht vorgelegt waren, zu deren Inhalt er aber vorher in irgendwelcher Form in allgemeiner Weise Stellung genommen hatte. Wenn ich ihm dann später die Dokumente vorlegte, merkte er bald, dass seine früher gemachten Erklärungen in Widerspruch zu den Dokumenten standen – und dann versuchte er sich durch inhaltsloses Geschwafel irgendwie aus der Affaire zu ziehen; was dann natürlich äusserst banal und unüberzeugend klang. Nachdem er diese Taktik erfasst hatte, wurde er später in seinen Antworten vorsichtiger und versuchte dann, durch vage Angaben sich ein Schlupfloch zu lassen. Daraufhin änderte ich die Taktik und las ihm sofort aus Dokumenten vor, die ihn dann überrumpelten und ihn zu einer spontanen Stellungnahme zwangen. Versuchte er dann dennoch ausweichende Antworten zu geben, so ging ich im Moment nicht darauf ein, sondern kam erst später, bei einer ganz anderen Gelegenheit, plötzlich darauf zurück, mit dem Resultat, dass er dann nicht umhin konnte, in diesem oder jenem Punkt die Wahrheit zuzugeben, oder sagen wir, der Wahrheit näher zu kommen. […] Verfing er sich in seinen Erläuterungen oft in die unglaublichsten hypothetischen Behauptungen, und in getreuer Nachäffung gewisser deutscher Anthropologen und Pseudo-Wissenschaftler wurden dann später diese spekulativen Bekämpfungen und Verdrehungen zur ›Eichmannschen Wahrheit‹. Dann hiess es: ›Wie ich schon sagen durfte, wie es ja die Dokumente deutlich zeigen‹, und ähnliche Ausdrücke, Versteifungen, die alle nichts mit der Wahrheit und dem wahren Inhalt der Dokumente zu tun hatten.« (S. 195 f.) Da Avner Less sich auf der Basis von Dokumenten ein zutreffendes Bild von Eichmanns tatsächlicher Rolle bei der Deportation der Juden machen konnte, konnte dieser ihn nicht mit seinem Schauspiel in Israel überlisten. Umso schärfer fällt deshalb sein Urteil über diejenigen Prozessbobachter aus, die sich vom Schauspieler Eichman täuschen ließen − allen voran über Hannah Arendt: »Hannah Arendt, die uns das Buch Eichmann in Jerusalem bescherte, und manche Historiker, oder solche, die es glauben, zu sein, haben eines gemeinsam. Ihnen allen gelang es, in blendendem Stil und dicken Wälzern uns zu beweisen, wer Eichmann nicht war. Es stellt sich zunächst einmal die Frage, ob man den wahren Charakter und die wirkliche Persönlichkeit eines Schauspielers aufgrund einer von ihm verkörperten Rolle beurteilen kann. Die Antwort ist ein Nein. Dasselbe trifft auch auf Adolf Eichmann zu. Er spielte in Jerusalem die grösste Rolle seines Lebens. Er spielte für und um seinen Kopf. Das war sein Einsatz, und somit waren alle Tricks erlaubt. Dies aber erkannten die Hannah Arendts nicht. In ihren dramatischen Beschreibungen und Analysen berührten sie alles, ausser den Punkten, die sich mit der wahren Person Eichmanns auseinandersetzen. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn ihre Argumente und Schlussfolgerungen in bezug auf den echten Charakter und die wirkliche Rolle, die Eichmann in der Endlösung der Judenfrage verkörperte, völlig falsch und verfehlt sind.
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Der Kardinalfehler dieser Kritiker, die in allem psychosoziologisch-philosophische Hintergründe wittern, die dann im gleichen Atemzug von ihnen prompt wegerklärt werden, liegt daran, dass sie persönlich anscheinend juristisch nicht genug geschult sind – wenn überhaupt – und daher nicht in der Lage waren, weder die Prozessordnung noch Prozessführung in Jerusalem zu berücksichtigen und gleichzeitig, was wohl mit am schwersten ins Gewicht fällt, das gegen Eichmann zusammengetragene, überwältigende Beweismaterial zu erfassen, es völlig falsch interpretierten und somit zu irrigen Schlussfolgerungen kamen. Der wirkliche Charakter Eichmanns und seine tatsächliche Rolle in der Judenvernichtung sind nicht aus dem zu seiner Verteidigung aufgebauten Lügengewebe zu ersehen. Dies wird nur ersichtlich aus den niederschmetternden und erschütternden Dokumenten, die dem Gericht in Jerusalem vorlagen, die ihre eigene Sprache sprachen und die Eichmanns wahres Gesicht brutal und ungeschminkt enthüllten. Keiner dieser Kritiker hatte persönlichen Kontakt mit Eichmann; für sie war Eichmann ein Zurschaugestellter. Sie lauschten seinen Worten mit tiefer Andacht, denn im Grunde hatten sie sich schon noch vor dem Prozess eine Meinung gebildet, die sie dann danach wie eine neue Gospel mit Vehemenz verkündeten. Für sie stand somit schon von Anfang an fest, dass Eichmann nur ein ›kleiner, armer und unbedeutender Beamter war, der seine Pflicht tat, blind an Kadavergehorsam glaubte‹ und der nun hier im Glaskasten als Verkörperung der Banalität des Übels sass. In ihren Augen wurde er beinahe zu einer bedauernswerten Schiessbudenfigur. Was sie aber nicht sehen wollten, das ist die Tatsache, dass gerade dies die Rolle war, die Eichmann sich vorgenommen hatte, während seines Prozesses in Jerusalem zu spielen. Er spielte sie so glänzend, so überzeugend, dass sowohl Hannah Arendt, als auch manch anderer, Eichmann mit seiner gespielten Rolle verwechselten. So wurde in ihren Augen sogar der ›Glaskäfig‹ zum entlastenden Argument und diente ihnen als zusätzlicher Beweis der unbedeutenden Persönlichkeit Eichmanns. Und so vertauschten seine Kritiker mit Eichmann die Rolle, denn zum Schluss waren sie es, die im Glaskasten sassen. Und dennoch wagten sie, mit Steinen zu werfen. Doch wie so oft in unserer Geschichte trafen ihre Steine nicht den Mörder, sondern die Ermordeten. So wurden die Millionen von Opfern dieses Holocausts zum zweiten Mal getötet. Eichmanns bewusste Lügen dagegen erschienen ihnen, den ›Kritikern‹, um ihren Argumenten Bestärkung und Bestätigung zu verleihen, als die reine, die lautere Wahrheit. Eichmann dagegen erkannte frühzeitig, dass eine eventuelle Rettung von dem ihn erwartenden Strick nur darin liegen kann, wenn er seine Richter von der Unwichtigkeit und Geringfügigkeit seiner eigenen Person zu überzeugen vermag. Doch es gelang ihm nicht, denn seine Richter, gestützt auf eine Lawine von Dokumenten, Zeugenaussagen, Belegen, die teilweise von Eichmann selbst verfasst und unterzeichnet waren, erkannten nur zu wohl die wahre Rolle und Aufgabe bei der von ihm mitinszenierten ›Endlösung der Judenfrage in Europa‹. Umso glänzender gelang es aber Eichmann, eine Hannah Arendt und andere von seiner Winzigkeit, seiner angeblichen Unbedeutendheit zu überzeugen.
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Es ist einfach verblüffend, mit wieviel Naivität sie ihm auf den Leim krochen.« (Ebenda, S. 220–222; Text von 1967) Ich danke Frau Bettina Stangneth auch für die mit ihrem Namen bezeichneten Beiträge zu den folgenden Dokumenten. Dokumente 1.1 und 1.2 Reichsvereinigung der Juden: Ausarbeitungen für das RSHA, August und Dezember 1941 Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland (RV) fertigte auf Anforderungen der »Zentralstelle für jüdische Auswanderung«, Berlin Kurfürstenstrasse (Eichmanns Dienststelle) diverse, zum Teil sehr umfangreiche Ausarbeitungen an. Diese betrafen unter anderem die Statistik der Juden (Verteilung in Europa, auf allen Kontinenten, in Großstädten der Welt, Berufsgliederungen), deren Rechtsstellung in Europa (detaillierte Auflistung der jeweiligen antijüdischen Gesetzgebung). Teilweise finden sich Notizen über telefonische Anforderungen seitens der »Zentralstelle« oder Begleitschreiben vom Mitglied des Vorstandes der Reichsvereinigung Paul Eppstein bei Absendung von Material an Eichmanns Dienststelle. Archiv: Bundesarchiv Berlin, R 8150, Bd. 25, Bl. 1–40; Bd. 28, Bl. 11.
Dokument 1.1 Statistische Zusammenstellung der Anzahl der Juden, 7. und 13. August 1941 Der folgende Auszug aus den Akten der RV erfolgt im Hinblick auf die Tabelle S. 6 des Wannsee-Protokolls (siehe Dok. 4.7). Bereits einen Tag nach der Anforderung durch Eichmanns Dienststelle wurde am 7. August 1941 das Material geliefert. Am 13. August folgte hinsichtlich der Zahlenangaben eine wesentlich detailliertere Aufstellung, in die nicht nur weitere Territorien aufgenommen wurden, sondern die vor allem hinsichtlich der Abfolge von Ländern und Territorien neu aufgebaut war. Unter »Deutschland« werden nun alle besetzten Gebiete und Staaten aufgeführt. Das entspricht der Auflistung unter »A« im Wannsee-Protokoll. Unter »B« folgen dort beginnend mit Bulgarien die Staaten wie in der Aufstellung der RV. Eichmanns Referat hat lediglich Frankreich zu »A« hochgezogen und das ebenfalls deutsch besetzte Serbien dabei offenbar vergessen. Die beiden Ausarbeitungen der RV umfassen zusammen etwa 40 Seiten. Die Zahlen der RV sind mit Eichmanns variierenden Angaben zu seinen Quellen zu vergleichen (Dok. 8 bis 13). Sein Referat ging ganz offensichtlich von den Angaben der RV aus, die dann durch aktuelle Zahlen infolge der Mordbilanzen, der Umsiedlungen und durch die Berichte der Besatzungsbehörden korrigiert wurden. Bezeichnender Weise blieben die Zahlen der RV dort gänzlich unverändert, wo das Referat IV B 4 keinen Zugriff hatte (Albanien, Schweden, Schweiz). Erstaunen lösen im Wannsee-Protokoll die einzigen nicht gerundeten Zahlen (Ukraine und Weißrussland) aus, während für die UdSSR insgesamt übertriebene 5
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Millionen angegeben sind. Die Zahlen bei der RV lauten diesbezüglich 3,02 plus 1,2 Millionen. Zu der im Protokoll offensichtlich irrtümlichen Zahl 700.000 für das besetzte Frankreich, die sich auch nicht durch Einbezug nordafrikanischer Juden errechnen lässt, siehe den Beitrag von Dan Michman; zu der Zahl für die Niederlande siehe den Beitrag von Christoph Kreutzmüller in diesem Band. [Blatt 2] 7. August 1941 An die Zentralstelle für jüdische Auswanderung Kurfürstenstrasse 115/116 Berlin W 62 Betrifft: Begriffsbestimmung des »Juden« in Ländern mit Judengesetzen Im Vollzug des am 6. ds. Mts. erteilten Auftrags überreichen wir in der Anlage eine statistische Zusammenstellung über die Anzahl der Juden, absolut und im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung der einzelnen Länder, nach Erdteilen alphabetisch mit Angaben über die Begriffsbestimmung des Juden in Ländern mit Judengesetzen anhand der bekanntgewordenen Verordnungen. Eine entsprechende Übersichtskarte ist beigefügt. REICHSVEREINIGUNG DER JUDEN IN DEUTSCHLAND gez. Paul Israel Eppstein [Blatt 3] Anzahl der Juden absolut und im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung der einzelnen Länder nach Erdteilen alphabetisch mit Angaben über die Begriffsbestimmung des »Juden« in Ländern mit Judengesetzgebung anhand der bekannt gewordenen Verordnungen Quellen: Hübner’s Weltstatistik 73. Ausgabe 1939 Statist. Reichsamt Berlin Wirtschaft und Statistik; Jahrgang 1940/41 American Jewish Year Book, Band 39, September 1937/September 1938, Philadelphia Wischnitzer, Mark, Die Juden in der Welt, Berlin 1935 Zander, Friedrich, Die Verbreitung der Juden in der Welt, Berlin 1937 Zeitschriften: Die Judenfrage Deutsche Justiz Deutsches Recht Zeitungsausschnitte Berlin, den 7. August 1941
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Die Ziffern, soweit möglich amtlichen Unterlagen entnommen, sonst geschätzt, beziehen sich in der Regel auf Glaubensjuden und stellen daher Mindestzahlen dar.
[Zusammenstellung aus den Zahlenangaben der Reichsvereinigung (RV), hier nur für Europa und Afrika. Die Reihenfolge der Staaten wie in der Aufstellung vom 13. August 1941. Abweichende Zahlenangaben vom 7. August 1941 in Klammern. Zum Vergleich die Zahlen der Seite 6 im Wannsee-Protokoll (WP), in dem diese Reihenfolge der Staaten weitgehend übernommen wird.] Europa Deutschland Altreich Ostmark Protektorat Ost-Oberschlesien Wartheland Generalgouvernement
Zahlen der RV 167.245 (44.000) / 52.549 75.000 115.000 360.000 1.500.000
Zahlen im WP
} } Bialystok
Estland Lettland Litauen mit Wilna Belgien Dänemark Griechenland Luxemburg Niederlande Norwegen Russland (ehemals polnischer Teil) Bessarabien und Nordbukowina Bulgarien England Irland Finnland Frankreich Italien Albanien
4.500 96.000 300.000 80.000 7.000 90.000 (945) / 900 135.000 1.500
131.800 43.700 74.200 Ostgebiete 420.000 2.284.000 400.000 judenfrei 3.500 34.000 43.000 5.600 69.600 160.800 1.300
1.200.000 500.000 50.000 340.000 3.700 1.800 280.000 52.000 200
besetzt unbesetzt mit Sardinien
48.000 330.000 4.000 2.300 165.000 700.000 58.000 200
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Europa Jugoslawien Kroatien Montenegro und Serbien Portugal Rumänien (ohne Bessarabien) Rusland (UdSSR)
Schweden Schweiz Slowakei Spanien Türkei (europäischer Teil) Ungarn (mit KapartoUkraine, Siebenbürgen und Teilen der Slowakei) Europa insgesamt Afrika Ägypten Äthiopien Algier Marokko Südafr. Union Tunis Sonst. britische Besitzungen Sonst. italienische Besitzungen Tanger Übrige Länder Afrika insgesamt
Zahlen der RV
Zahlen im WP
(68.000) 29.000 39.000
40.000 10.000 3.000
2.500 275.000 3.020.000
mit Bessarabien
342.000
60.000
5.000.000 davon Ukraine 2.994.684 davon Weißrussland 446.484 8.000 18.000 88.000 6.000 europäischer Teil 55.000
750.000
742.800
9.707.394
11.000.000
8.000 18.000 89.900 4.500
Zahlen der RV 70.000 80.000 115.000 181.000 95.000 66.000 3.000 43.000 12.000 (1.000) / 9.000 666.000
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Dokument 1.2 Anzahl der Juden in Frankreich und nordafrikanischen Besitzungen, 4. Dezember 1941 Die Abschrift aus der Frankfurter Zeitung vom 4. Dezember 1941 mit den aktuellen Zahlen zur jüdischen Bevölkerung im besetzten und unbesetzten Frankreich sowie in Nordafrika war offenbar eine Anlage bei der Beantwortung einer Anfrage aus Eichmanns Dienststelle. Der Kontext der Archivalien lässt als Datum der Versendung den 11. Dezember 1941 vermuten.
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Dokument 2 Adolf Eichmann: Vermerk über eine Besprechung Heydrichs mit dem Höheren SSund Polizeiführer in Krakau mit Entwürfen für Einladungsschreiben zur WannseeKonferenz, 1. Dezember 1941 Ende November 1941 beschwerte sich Himmlers Statthalter in Krakau, Krüger, bei Heydrich über den Generalgouverneur Hans Frank. Der hinzugezogene Eichmann notierte die Anweisung, zusätzlich zu den bisher Eingeladenen noch Krüger selbst und den Staatsekretär des Generalgouvernements Bühler zur Endlösungskonferenz am 9. Dezember 1941 in Berlin einzuladen. Allerdings fehlte im Einladungsentwurf an Krüger die persönliche Einladungsformel. Archiv: AMV (Archiv des Innenministeriums), Praha, 114-2-56, Bl. 33–35 Faksimile des Originals.
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Dokument 3 Hans Frank: Erwartungen des Generalgouverneurs an die Besprechung zur »Endlösung« in Berlin, 16. Dezember 1941 Während der Regierungssitzung, an der auch Schöngarth, Globocnik und Bühler teilnahmen, wurden u.a. Maßnahmen zur Eindämmung einer Fleckfieber-Epidemie besprochen, an deren Ausbreitung Juden Schuld seien. Juden, die außerhalb ihrer Wohngebiete aufgegriffen werden, seien zu erschießen. In diesem Zusammenhang hielt der Generalgouverneur eine grundsätzliche Rede zur Zukunft der Juden. In: Werner Präg/Wolfgang Jacobmeyer (Hg.), Das Diensttagebuch des deutschen Generalgouverneurs in Polen 1939–1945, Stuttgart 1975, S. 457 f. Mit den Juden – das will ich Ihnen auch ganz offen sagen – muß so oder so Schluß gemacht werden. Der Führer sprach einmal das Wort aus: wenn es der vereinigten Judenschaft wieder gelingen wird, einen Weltkrieg zu entfesseln, dann werden die Blutopfer nicht nur von den in den Krieg gehetzten Völkern gebracht werden, sondern dann wird der Jude in Europa sein Ende gefunden haben. Ich weiß, es wird an vielen Maßnahmen, die jetzt im Reich gegenüber den Juden getroffen werden, Kritik geübt. Bewußt wird – das geht aus den Stimmungsberichten hervor – immer wieder versucht, von Grausamkeit, von Härte usw. zu sprechen. Ich möchte Sie bitten: einigen Sie sich mit mir zunächst, bevor ich jetzt weiterspreche, auf die Formel: Mitleid wollen wir grundsätzlich nur mit dem deutschen Volke haben, sonst mit niemandem auf der Welt. Die anderen haben auch kein Mitleid mit uns gehabt. Ich muß auch als alter Nationalsozialist sagen: wenn die Judensippschaft in Europa den Krieg überleben würde, wir aber unser bestes Blut für die Erhaltung Europas geopfert hätten, dann würde dieser Krieg doch nur einen Teilerfolg darstellen. Ich werde daher den Juden gegenüber grundsätzlich nur von der Erwartung ausgehen, daß sie verschwinden. Sie müssen weg. Ich habe Verhandlungen zu dem Zwecke angeknüpft, sie nach dem Osten abzuschieben. Im Januar findet über diese Frage eine große Besprechung in Berlin statt, zu der ich Herrn Staatssekretär Dr. Bühler entsenden werde. Diese Besprechung soll im Reichssicherheitshauptamt bei SS-Obergruppenführer Heydrich gehalten werden. Jedenfalls wird eine große jüdische Wanderung einsetzen. Aber was soll mit den Juden geschehen? Glauben Sie, man wird sie im Ostland in Siedlungsdörfern unterbringen? Man hat uns in Berlin gesagt: weshalb macht man diese Scherereien; wir können im Ostland oder im Reichskommissariat auch nichts mit ihnen anfangen, liquidiert sie selber! Meine Herren, ich muß Sie bitten, sich gegen alle Mitleidserwägungen zu wappnen. Wir müssen die Juden vernichten, wo immer wir sie treffen und wo es irgend möglich ist, um das Gesamtgefüge des Reiches hier aufrecht zu erhalten. Das wird selbstverständlich mit Methoden geschehen, die anders sind als diejenigen, von denen Amtschef Dr. Hummel gesprochen hat. Auch die Richter der Sondergerichte können nicht dafür verantwortlich gemacht werden, denn das liegt eben nicht im Rahmen des Rechtsverfahrens. Man kann bisherige Anschauungen nicht auf solche gigantischen einmaligen Ereignisse übertragen. Jedenfalls müssen wir aber einen Weg finden, der zum Ziele führt, und ich mache mir darüber meine Gedanken.
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Die Juden sind auch für uns außergewöhnlich schädliche Fresser. Wir haben im Generalgouvernement schätzungsweise 2,5, vielleicht mit den jüdisch Versippten und dem, was alles daran hängt, jetzt 3,5 Millionen Juden. Diese 3,5 Millionen Juden können wir nicht erschießen, wir können sie nicht vergiften, werden aber doch Eingriffe vornehmen können, die irgendwie zu einem Vernichtungserfolg führen, und zwar im Zusammenhang mit den vom Reich her zu besprechenden großen Maßnahmen. Das Generalgouvernement muß genau so judenfrei werden, wie es das Reich ist. Wo und wie das geschieht, ist eine Sache der Instanzen, die wir hier einsetzen und schaffen müssen und deren Wirksamkeit ich Ihnen rechtzeitig bekanntgeben werde.
Dokumente 4.1 bis 4.7 Die Wannsee-Konferenz und begleitende Dokumente, 1941–42 Das Protokoll der Besprechung vom 20. Januar 1942 mit begleitenden Dokumenten wurde vom Team des US-Anklägers Robert Kempner im Januar 1947 in Berlin in einem Aktenbestand aus dem Auswärtigen Amt gefunden (siehe auch den Bericht über die Entdeckung von Betty Nute: http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,182576,00.html). Beim »Wilhelmstraßen-Prozess« in Nürnberg 1947–49 gegen leitende Beamte in den Ministerien diente das Protokoll als Beweismittel der Anklage. Die beiden Einladungen an Luther vom 29. November 1941 und 8. Januar 1942 sowie das mit der ersten Einladung versandte Ermächtigungsschreiben Görings vom 31. Juli 1941, die »Wünsche und Ideen des Auswärtigen Amts zu der vorgesehenen Gesamtlösung der Judenfrage in Europa« und die 16. Ausfertigung des Protokolls für Luther mit dem Begleitschreiben Heydrichs vom 26. Januar 1942 befanden sich in einer Akte aus dem Auswärtigen Amts mit dem Titel »Endlösung der Judenfrage« (Dokument 4.1, Titelblatt von »Heft 1«). Diese stammte aus dem Büro des Unterstaatssekretärs Martin Luther, dem Teilnehmer an der Wannsee-Konferenz für das Auswärtige Amt. Archiv: Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, R1000857, Blatt 1, 165–181, 186–189 (Die zitierbaren Blattnummern befinden sich oben rechts. Die Zahlenstempel unten sind anläßlich der Verfilmungen aufgebracht worden: Bei der ausschließlich aus Ziffern bestehenden Stempelserie unten rechts handelt es sich um die Zählung der Erstverfilmung in Berlin; bei der Serie unten links, der ein »K« vorangestellt ist, um diejenige in Whaddon Hall, GB). Vgl. auch den Beitrag von Christian Mentel in diesem Band.
Transkription der handschriftlichen Randbemerkungen auf Einladungen, Begleitschreiben Heydrichs und Protokoll: Zu Dokument 4.2: Zur ersten Einladung vom 29. November 1941: Vorderseite: Pg. [Parteigenosse] Rademacher [Legationsrat Franz Rademacher, Leiter von Referat D III, dem sogenannten Judenreferat in der »Abteilung Deutschland«], bitte O-Gruf [Obergruppenführer] Heydrich mitzuteilen, daß ich erkrankt bin, ihm für seine Einladung sehr danke und wenn irgend möglich teilnehme. Bitte mir für die
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Sitzung eine Aufzeichnung über unsere Wünsche und Ideen anzufertigen, bitte auch sofort St.S. [Staatssekretär Ernst von Weizsäcker] zu unterrichten. [Paraphe Luther] 4/12 [4. Dezember 1941] Staatssekretär ist unterrichtet, Sitzung ist auf unbestimmte Zeit verschoben. [Paraphe Rademacher] 8/12 [8. Dezember 1941] Zur ersten Einladung vom 29. November 1941, Rückseite: [Durchscheinender Eingangsstempel und Randbemerkungen. Handschriftliche Adressenänderung von] Am Kleinen Wannsee Nr. 16 [zu] Am Großen Wannsee Nr. 56–58 [Eigenhändige Unterschrift] Heydrich Zu Dokument 4.3: Anlage, Ermächtigung Görings für Heydrich vom 31. Juli 1941: Von Eichmann im Auftrag Heydrichs erstellt auf einer Schreibmaschine des RSHA mit SS-Runen, auf neutralem Briefbogen (kein gedruckter Dienstbogen aus Görings Ämtern); als Negativkopie versandt. Oben: Tagesdatum »31.« per Hand eingefügt. Unten: Eigenhändige Unterschrift: »Göring«. Eingangsvermerk wie bei der ersten Einladung: »D III 709.g« Zu Dokument 4.4 Rademacher: Wünsche und Ideen des Auswärtigen Amts zu der vorgesehenen Gesamtlösung der Judenfrage in Europa, Dezember 1941: [Ablagevermerk oben rechts] Zu D III 709 g Zu Dokument 4.5 Zur zweiten Einladung vom 8. Januar 1942: [Oben] 1) Pg. Rademacher z. Kts [zur Kenntnis] 2) Wv. [Wiedervorlage] 18/1. [Datum gestrichen] 19/1. morgens [gezeichnet] Marx [Ursula Marx war Luthers Sekretärin] [Rechts neben 1)] Vorgemerkt [Paraphe Müller; Herbert Müller war Assistent Rademachers. Datum] 14/1. [14. Januar 1942] [Unten] D III 709.g [Eingangsvermerk wie bei der ersten Einladung] Sitzungsprotokoll soll noch eingehen. Vorerst z.d.A. [zu den Akten] [Paraphe Müller. Datum] 21/1. [21. Januar 1942] [Unten rechts. Eigenhändige Unterschrift:] Heydrich Zu Dokument 4.6: Zum Begleitschreiben Heydrichs bei Versendung des Protokolls vom 26. Februar 1942: [Unten] Pg. Rademacher, bitte schriftlich mitzuteilen, daß Sie Sachbearbeiter sind und teilnehmen werden. [Paraphe Luther] 28/II [28. Februar 1942; Luther hatte das Begleitschreiben mit anhängendem Protokoll vermutlich nicht auf dem dienstlichen Postweg erhalten, denn erst später wurde der Eingangsstempel mit Datum 2. März 1942 aufgebracht.] [Unten. Eigenhändige Unterschrift] Heydrich
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Zu Dokument 4.7: Zur ersten Seite des Protokolls: [Handschriftlicher Vermerk unten rechts] D. III.29. g.[eheime]. Rs. [Reichssache; identisch mit dem Eingangsvermerk auf dem Begleitschreiben Heydrichs] Dokument 4.1 Akte: Endlösung der Judenfrage, Auswärtiges Amt, 1939–1943
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Dokument 4.2 Erste Einladung Heydrichs an Luther, 29. November 1941
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Dokument 4.3 Ermächtigung Görings für Heydrich, 31. Juli 1941
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Dokument 4.4 Rademacher: Wünsche und Ideen des Auswärtigen Amts, Dezember 1941
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Dokument 4.5 Zweite Einladung Heydrichs an Luther, 8. Januar 1942
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Dokument 4.6 Begleitschreiben Heydrichs bei Versendung des Protokolls, 26. Februar 1942
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Dokument 4.7 Protokoll der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942
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Dokumente 5.1 und 5.2 Reinhard Heydrich: Rundschreiben nach der Wannsee-Konferenz, 25. Januar 1942 Nur fünf Tage nach der Besprechung versandte Heydrich erneut die Ermächtigung Görings vom 31. Juli 1941. Im Begleitschreiben dazu verweist er auf den Abschluss der »vorbereitenden Arbeiten« zur »Endlösung der Judenfrage«. Archive: Rundschreiben an alle Dienststellen SD, Sipo und Einsatzgruppen, aus: Historisches Staatsarchiv Riga (LVVA), P 1026, opis 1, vol. 3, Bl. 162 f., 165. Schreiben an das SS-Personalhauptamt, aus: Bundesarchiv Berlin, BDC, Heydrich. (Die auch dem Personalhauptamt eingereichte Positivkopie der Ermächtigung wird hier nur im Dokument 5.1 als Faksimile abgebildet.)
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Dokument 5.1 Rundschreiben an alle Dienststellen SD, Sipo und Einsatzgruppen
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Dokument 5.2 Schreiben an das SS-Personalhauptamt
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Dokumente 6.1 und 6.2 Frühe Echos auf die Staatssekretärsbesprechung Dokument 6.1 Joseph Goebbels: Tagebucheintrag bei Lektüre des Protokolls, 7. März 1942 Der Staatssekretär im Propaganda-Ministerium Gutterer war zur Konferenz eingeladen, aber nicht erschienen. Dennoch erhielt er vermutlich das Protokoll zugesandt und gab es seinem Amtschef Goebbels zu Kenntnis. Aus: Die Tagebücher von Joseph Goebbels, herausgegeben von Elke Fröhlich, Teil II, Bd. 3, München u. a. 1994, S. 431 f.
Ich lese eine ausführliche Denkschrift des SD und der Polizei über die Endlösung der Judenfrage. Daraus ergeben sich eine Unmenge von neuen Gesichtspunkten. Die Judenfrage muß jetzt im gesamteuropäischen Rahmen gelöst werden. Es gibt in Europa noch über 11 Millionen Juden. Sie müssen später einmal zuerst im Osten konzentriert werden; eventuell kann man ihnen nach dem Kriege eine Insel, etwa Madagaskar, zuweisen. Jedenfalls wird es keine Ruhe in Europa geben, wenn nicht die Juden restlos aus dem europäischen Gebiet ausgeschaltet werden. Das ergibt eine Unmenge von außerordentlich delikaten Fragen. Was geschieht mit den Halbjuden, was geschieht mit den jüdisch Versippten, Verschwägerten, Verheirateten? Wir werden also hier noch einiges zu tun bekommen, und im Rahmen der Lösung dieses Problems werden sich gewiß auch noch eine ganze Menge von persönlichen Tragödien abspielen. Aber das ist unvermeidlich. Jetzt ist die Situation reif, die Judenfrage einer endgültigen Lösung zuzuführen. Spätere Generationen werden nicht mehr die Tatkraft und auch nicht mehr die Wachheit des Instinkts besitzen. Darum tun wir gut daran, hier radikal und konsequent vorzugehen. Was wir uns heute als Last aufbürden, wird für unsere Nachkommen ein Vorteil und ein Glück sein.
Dokument 6.2 Anfrage von Legationsrat Carltheo Zeitschel in Paris an das Auswärtige Amt, 23. März 1942 Carltheo Zeitschel war Judenreferent in der deutschen Botschaft in Paris. Da Heydrich unmittelbar nach der Konferenz seine Ermächtigung durch Göring erneut breit versandt hatte, wird Zeitschel dieses Dokument aus SD-Kreisen in Paris erhalten haben. Von der stattgefundenen Staatssekretärsbesprechung in Berlin hatte er hingegen nur vage Kenntnis. Seine geheime, vertauliche Anfrage richtete er an den für Frankreich zuständigen Vortragenden Legationsrat im Auswärtigen Amt Hans Heinrich Strack. Es ist anzunehmen, dass die Kenntnis von der beabsichtigten Ermordung aller europäischen Juden auch in anderen deutschen Botschaften verbreitet war. Robert Kempner stellte 1947 durch Vernehmungen fest, dass das Protokoll auch auf der mittleren und niederen Ebene des Dienstes bekannt war.
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Quelle: Nürnberger Dok. NG-3668; abgedruckt auch bei Robert Kempner, Eichmann und Komplizen, Zürich u. a. 1961, S. 148 f.
Der Deutschen Botschaft ist vertraulich ein Erlaß des Reichsmarschalls Goering vom 31.7.41 zur Kenntnis gebracht worden, der infolge der vertraulichen Überlassung nicht weitergegeben werden kann. Es handelt sich darin um eine Ergänzung zu dem Erlaß vom 24.1.39 die Judenfrage betreffend, besonders die Auswanderung und Evakuierung von Juden. Im Anschluß an diesen Erlaß soll in Berlin eine Staatssekretärsbesprechung stattgefunden haben, über deren Verlauf die Deutsche Botschaft gerne Kenntnis hätte. Da ich infolge der vertraulichen Überlassung des Erlasses des Reichsmarschalls von diesem in einem offiziellen Dienstbrief keinen Gebrauch machen darf, wäre ich Ihnen persönlich sehr dankbar, wenn Sie, ebenfalls auf vertraulichem Wege versuchen würden, über Unterstaatssekretär Woermann Protokoll dieser Unterstaatssekretärsbesprechung zu erlangen und der Deutschen Botschaft Abschrift zusenden. Der Inhalt der Besprechung ist, wie Sie verstehen werden, für meine Aufgabe, Behandlung der Judenfrage, von grundlegender Bedeutung. Ich wäre Ihnen daher sehr dankbar, wenn Sie bald das Nötige veranlassen könnten.
Dokument 7 New York Times: Erste Nachricht von der Wannsee-Konferenz, 21. August 1945 Bei Sichtung der von den Alliierten zusammengetragenen NS-Dokumente wurden beide Einladungen an Otto Hofmann, Amtschef des Rasse- und Siedlungshauptamts der SS, gefunden – anderthalb Jahre vor Entdeckung der Dokumente aus dem AA. Abgesehen von den Irrtümern beim Vornamen und bei der Schreibweise des Familiennamens skizziert der kurze Text den spektakulären Fund durchaus angemessen. Aus: New York Times, 21. August 1945.
Die Einladungen an Hofmann wurden hier nicht aufgenommen, da die Texte mit den Einladungen an Luther identisch sind. Als zusätzliche Information kann der handschriftliche Vermerk Hofmanns auf der Rückseite der ersten Einladung zur Änderung der Adresse für die Besprechung gelten (vom Haus der Interpol am Kleinen Wannsee 16 zum SD-Gästehaus am Großen Wannsee 56–58): Sturmbannführer Günther habe ihm das am 4. Dezember 1941 telefonisch mitgeteilt. Vgl. Staatsarchiv Nürnberg, PS 709, Bl. 1–3.
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Dokument 8 Adolf Eichmann: Äußerungen in der Sassen-Runde, 1957 Bettina Stangneth Im Jahr 1957 fanden im Haus von Willem Sassen in Buenos Aires regelmäßige Treffen überzeugter Nationalsozialisten statt, zu denen auch Adolf Eichmann gehörte. Die gemeinsamen Diskussionen wurden auf Tonband aufgenommen und anschließend teilweise gestrafft aber nicht in Verfremdungsabsicht abgeschrieben. Die meisten dieser Transkripte sind in unterschiedlichen Konvoluten erhalten, in einigen Fällen auch Tonbänder. An der Authentizität des Quellenmaterials bestehen keine Zweifel. Demnach gab es in Argentinien nur ein ausführliches Gespräch über die Wannsee-Konferenz. Es fand im September 1957 statt und entwickelte sich aus der gemeinsamen Lektüre des Dokumentenbandes Das Dritte Reich und die Juden, den Léon Poliakov und Joseph Wulf im Arani Verlag, Berlin, 1955 herausgegeben hatten. (Der Band enthielt sowohl das komplette WannseeProtokoll als auch das Ermächtigungsschreiben Görings von 1941.) Es nahmen mindestens vier Personen an diesem Treffen teil. Um wen es sich bei den beiden Männern neben Sassen und Eichmann handelt, ist bisher ungeklärt. (Zur Geschichte dieser Treffen vgl. Bettina Stangneth, Eichmann vor Jerusalem, Zürich/Hamburg 2011, S. 304–399.) Alle erhaltenen Kopien des Sassen-Transkripts gehen auf eine einzige Abschrift zurück. Der Bestand verteilt sich heute auf mehrere deutsche Archive. Das vollständigste Exemplar ist Sassens Original, das sich seit 1998 im Nachlass Adolf Eichmann (BArch Koblenz N1497) befindet, weitere Konvolute mit den hier fehlenden Seiten finden sich im Nachlass Robert Servatius (BArch Koblenz, AllProz 6) und in zwei weiteren Kopierlinien, die sich im Bestand des BArch Ludwigsburg befinden. (Vgl. dazu Bettina Stangneth, Die Argentinien-Papiere. Adolf Eichmanns Aufzeichnungen und die sogenannten Sassen-Interviews 1956 bis Frühjahr 1960. Annotiertes Findbuch zu den Beständen in den Bundesarchiven Koblenz und Ludwigsburg, Privatbindung, Hamburg 2011, einsehbar im Bundesarchiv Koblenz und Ludwigsburg und im Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main. Zur Überlieferungsgeschichte von Transkripten und Tonbändern vgl. Stangneth, Eichmann vor Jerusalem, S. 472–535.) Eine weitere Kopie gelangte auch in die Eichmann-Akte des deutschen Bundesnachrichtendienstes BND (Bestandsignatur BNDArchiv 121099). Das Protokoll wird zeichengenau zitiert und wurde nur um offenkundige Tippfehler korrigiert. Fehler in Satzbau, Grammatik, Namensschreibung etc. wurden beibehalten. Alle Zusätze in eckigen Klammern dienen der Orientierung in dieser generell schwer zu lesenden Quelle und stammen von mir. Auslassungen betreffen allein den Text des Wannsee-Protokolls, den Willem Sassen aus Poliakov/Wulf vorlas, sofern der Vortrag nicht für das Verständnis des Gesprächs notwendig ist.
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Transkript Tonband 50, 6-13 [Willem Sassen liest aus Poliakov, S. 116–126]: Wannseeprotokoll. Das erste ist ein Brief vom Reichsmarschall G.[öring] an den Chef der SIPO in Berlin: ›In Ergaenzung der Ihnen bereits mit Erlass vom 24. Jan 39 uebertragenen Aufgabe die Judenfrage in Form der Auswanderung oder Evakuierung einer der Zeitfrage entsprechenden moeglichst guenstigen Loesung zuzufuehren, beauftrage ich Sie hiermit alle vorliegenden Vorbereitungen in organi. sachlicher und materieller Hinsicht zu treffen fuer eine Gesamtloesung der Judenfrage in den deutschen Einflussgebieten in Europa. Sofern jeweilige Zustaendigkeiten andere Zentralinstanzen beruehrt werden, sind diese zu beteiligen. Ich beauftrage Sie weiter‹ .... Schluss undeutlich …. [Eichmann:] Den Bericht habe ich abdiktiert … steht nicht mein Aktenzeichen dabei? [Sassen:] Nein. [Eichmann:] Den Brief habe ich aber abdiktiert, es sind meine Worte. [Sassen:] Aber es ist ein Brief von Goering an Heydrich. [Eichmann:] Und das stimmt, der Brief ist bei uns entworfen worden und wurde nur unterschrieben von Goering, er wurde unterschriftsfertig vorgelegt. [Sassen, liest weiter:] ›An der Besprechung am 20. Jan. 1942 zur Endloesung der Juden in Berlin am grossen Wannsee nahmen teil:‹ [Zwischenruf:] Ein Jahr vor Stalingrad [Sassen:] Nahmen also teil: Gauleiter Dr. Meier [Meyer], und Reichsamtleiter Dr. Meibrandt [Leibbrandt], Reichsministerium fuer die besetzten Ostgebiete? [Eichmann:] Nein, weiss ich nicht. [Sassen:] Staatssekr. Stuckart. Reichsminister des Innern. [Eichmann:] Ja. [Sassen:] Staatssekr. Neumann, Beauftragter fuer den 4-Jahresplan? [Eichmann:] Ja. /7/ [Sassen:] Staatssekr. Dr. Freissler, Reichsjustizministerium? [Eichmann:] Ja. [Sassen:] Staatssekr. Dr. Buehler, Amt des Generalgouvernements? [Eichmann:] Weiss ich nicht. [Sassen:] Unterstaatssekr. Lutter [Luther], Ausw. Amt? [Eichmann:] Ja. [Sassen:] SS Unterfuehrer Klopfer, Parteikanzlei? [Eichmann:] Kann ich mich nicht entsinnen. [Sassen:] Ministerialdir. Kritizinger, Reichskanzlei? [Eichmann:] Kann ich mich nicht mehr entsinnen. [Sassen:] SS Grpf. Hofmann, Rassen- und Siedlungs HA? [Eichmann:] Kann ich mich nicht entsinnen. [Sassen:] SS Grpf. Mueller, Reichssicherheits HA? [Eichmann:] Ja – – Die Einladungsschreiben habe ich selbst entworfen und abgeschrieben, eine ganze Unterschriftsmappe habe [ich] damals Heydrich zugebracht und er hat sie alle
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unterschrieben, ich habe vor seinem Schreibtisch gesessen und habe nur gewartet bis er sein Heydrich darunter gemalt hatte. Diese Briefe habe ich alle abdiktiert, diese Einladungsschreiben, das weiss ich ganz genau, alle tragen sie das Referatszeichen IV B 4 – – – [Sassen, liest:] ›SS OStbf Eichmann.‹ Waren Sie da schon OStbf.? [Eichmann:] Ja, ich sagte es ja schon, dass ich wohl 5 Jahre OStbf war. [Sassen:] SS Oberfuehrer Dr. Schoengard [Schöngarth], Befehlshaber der SIPO und des SD im Generalgov.? [Eichmann:] Nein. [Sassen:] SS Stbf. Dr. Lange, Kommandeur der SIPO und SD fuer Generalbezirk Lettland, Befehlshaber fuer SIPO und SD im Reichs … Ostland? [Eichmann:] Weiss ich nicht. [Kommentar des Abschreibers:] Durch Husten ist das weitere Vorlesen unverstaendlich. [Sassen liest aus dem Protokoll, Poliakov, S. 120:] … zu dieser Besprechung wurde geladen um grundsaetzliche Klarheit zu schaffen. Die Federfuehrung bei der Bearbeitung fuer die Endloesung der Judenfrage laege ohne Ruecksicht auf geograph. Grenzen zentral bei RF. Der Chef der SIPO gab dann einen kurzen Ueberblick auf die bisher durchgefuehrten Massnahmen bei dem Kampf gegen den Gegner. Die wesentlichen Momente bilden: A) die Zurueckdraengung der Juden aus den Ernaehrungsgebieten des deutschen Volkes und die B) die Zurueckdraengung der Juden aus dem Lebensraum. Im Vollzug der Bestrebungen wurde als einzige, vorlaeufige Loesungsmoeglichkeit die Beschleunigung der Auswanderung der Juden aus dem /8/ Reichsgebiet verstaerkt und planmaessig in Angriff genommen. Auf Anordnung des Reichsmarsch. wurde im Jan 39 eine Reichszentrale fuer jued. Auswanderung errichtet, mir deren Leitung der Chef der SIPO und SD betraut wurde. [Eichmann:] Ja, … [Sassen, liest weiter:] Sie hatte die Aufgabe alle Massnahmen zur Auswanderung der Juden zu treffen, den Auswanderungsstrom zu lenken, durchzufuehren und im Einzelfall zu beschleunigen. Aufgabenziel war, auf legalem Weg, den deutschen Lebensraum von den Juden zu saeubern. Ueber die Nachteile die eine solche Forderung mit sich bringt, waren sich alle im Klaren … [Kommentar des Abschreibers:] (Vorlesen der einzelnen.) [Sassen:] Trotz dieser Schwierigkeiten wurden von der Machtuebernahme bis zum Stichtag, 31. Okt. 1941, insgesamt rund 537 000 Juden zur Auswanderung gebracht. Davon aus dem Altreich vom 30. Jan. 33, rund 360 000; 15. Maerz 38 aus Ostmark rund 147 000, 15. Maerz 1939 aus Prot. B. u. M. [Protektorat Böhmen und Mähren] rund 30 000. [Eichmann:] Nein, das stimmt nicht, das ist verschrieben, 30 000 kann nie sein. [Sassen:] Aus der Ostmark auch nicht mehr wie 147 000? [Zwischenruf:] Aus dem Reich nicht mehr wie 360 000? [Eichmann:] Aus dem Reich kann ich Ihnen nicht sagen – – aus der Ostmark, das kann eigentlich auch nicht stimmen – – ich habe beim Vorlesen nicht so genau hingehoert, es sind ja meine Worte, deswegen muss ich Ihnen sagen, die Zahl im Prot. stimmt keinesfalls, da wurde ich jetzt hellhoerig, und die Zahl der Ostmark, da habe ich Ihnen doch eine Zahl
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genannt von 204/205 000 – – – da hat die Kultusgemeinde in Wien selbst aufgezeichnet und auf meinen Tuerken hingemalt. Und mit dem Altreich, nun ja die Zahl weiss ich nicht, aber die Zahl moechte ich auf Grund dieser Sache ablehnen. [Sassen, liest weiter:] Durch auslaendische Juden auf dem Schenkungswege wurde bis zum Okt. 41 insgesamt rund 9 1/2 Mill Dollar zur Verfuegung gestellt. [Eichmann:] Ja, diese Zahlen habe ich von den jued. Zentralinstanzen bekommen. [Sassen, liest weiter:] Inzwischen hat der RF im Hinblick auf die Gefahr einer Auswanderung im Kriege und im Hinblick auf die Gefahr des Ostens die Auswanderung der Juden verboten. An Stelle der Auswanderung ist nun als weitere Loesungsmoeglichkeit nach Genehmigung vom Fuehrer die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten. Diese Aktionen sind aber lediglich als Ausweichsmoeglichkeit anzusprechen, doch werden hier praktische Erfahrungen gesammelt, die im Hinblick auf die kommende Loesung der Judenfrage bedeutend sind. Im Zuge dieser Endloesung der europaeischen Judenfrage kommen rund 11 Mill in Betracht. Die sich wie folgt auf die einzelnen Laender verteilt: [Zwischenbemerkung:] Noch 11 Mill ausschliessl. der Ausgewanderten. [Sassen, liest:] Altreich: 131 800 – – – Ostmark: 43 700 – – – d.h. also in der ganzen Ostmark waren nur anwesend 190 000 Juden? Ostgebiete: 420 000 – Generalgovern. 2 Mill 284 000 [Zwischenfrage:] Was heisst Ostgebiete? [Sassen, verliest sich:] Bialistok 400 000 – – – [Eichmann:] Bialistok haette ich extra genannt, unmoeglich, ich kann keine Stadt nennen. [Sassen verliest die Zahlen] [Eichmann unterbricht:] Nein, nein, nein, diese Aufstellung ist hineingeschwindelt worden. [Nicht zuzuordnender Kommentar, vermutlich Sassen:] Nun die Absicht ist ganz klar, wenn soviel da waren und es sind jetzt nur noch soviel da, dann sind die anderen getoetet worden. [Eichmann:] Das ist hineingeschwindelt worden, so wahr ich hier stehe … [Sassen, liest:] Bei den angegebenen Judenzahlen der verschied. auslaendischen Zahlen handelt es sich jedoch nur um Glaubensjuden, da die Begriffsbestimmungen der Juden nach rassischen Grundsaetzen teilweise ja doch noch fehlen. Die Behandlung des Problems in den einzelnen Laendern wird im Hinblick auf die allgemeine Haltung und Auffassung auf gewisse Schwierigkeiten stossen besonders in Ungarn und Rumaenien, so kann sich heute noch in Rum. der Jude gegen Geld entsprechende Dokumente die ihm eine fremde Staatsangeh amtlich bescheinigen … [Eichmann unterbricht:] Das alles hat Heydrich in seiner grundsaetzlichen Sache erzaehlt – – – dann waere er ein Waschweib gewesen und ich waere ein A..loch gewesen, wenn ich es gewagt haette ihm einen solchen Vortrag vorzulegen, wo er hier die hohen leitenden Persoenlichkeiten zu einer grundsaetzlichen Besprechung gebeten hatte. [Sassen:] Also dieser Absatz ist reingeschmuggelt? [Eichmann:] Ja, aber selbstverstaendlich.. /10/ [Sassen, liest:] Der Einfluss der Juden auf allen Gebieten in der Sowjetunion ist bekannt, im europaeischen Gebiet leben etwa 5 Mill, im asiatischen Raum knapp eine halbe Mill
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Juden. Die berufsstaendige Angliederung der in europ. Gebieten der Sowjetunion ansaessigen Juden war etwa folgende: In der Landwirtschaft 9,1% – – Arbeiter 14% – – im Handel 20% – – in Staatsarbeit Angestellte 23% – – private Berufe, Theater … 32% [Eichmann:] Da kommt mir bekannt vor. [Sassen, liest:] Unter entsprechender Leitung sollen im Zuge der Endloesung der Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen. [Eichmann:] Das koennte stimmen. [Sassen, liest:] In grossen Kolonnen, unter Trennung der Geschlecher, wurden die arbeitsfaehigen Juden Strassenbauten zugefuehrt, wobei zweifellos ein Grossteil durch Verminderung ausfallen wird. Der allfaellige endgueltige Restbestand wird, da es sich bei diesen zweifellos um den widerstandsfaehigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden muessen, weil diese eine natuerliche Auslese darstellen und als Keimzelle eines neuen jued. Aufbaus anzusprechen ist. (Siehe Erfahrung der Geschichte) [Eichmann:] Moeglich, ja. [Sassen, liest:] Im Zuge der praktischen Endloesung wird Europa vom Westen nach Osten durchkaemmt, das Reichsgebiet, einschliessl. Prot. B. u. M. wird allein schon aus Gruenden der Wohnungsfragen und sonstigen sozialen poli. Notwendigkeiten von vorneherein weggenommen werden. Die evakuierten Juden wurden Zug um Zug in die DurchgangsGhettos verbracht um von dort aus weiter nach dem Osten transportiert zu werden. – – Wichtige Voraussetzungen fuer die Durchfuehrung der Evakuierung ueberhaupt ist die genaue Festlegung der in Betracht kommenden Personenkreis. Es wird beabsichtigt die im Alter gen 65 Jahren nicht zu evakuieren, sondern die einem Altersghetto, vorgesehen ist Theresienstadt zu ueberstellen. Neben diesen Altersklassen, von denen am 31 Okt 41 sich im Altreich und in der Ostmark befindlichen etwa 280 000 Juden sind etwa 30% ueber 65 Jahre alt. – – weiterhin finden in diesen Alterghettos kriegsbeschaedigte und Juden mit Kriegsauszeichnungen Aufnahme. Mit diesen Loesungen werden die vielen Intervention mit einem Schlag aufhoeren. [Eichmann:] Das sind meine Worte … [Sassen, liest:] In der Slowakei und in Kroatien ist die Angelegenheit nicht allzu schwer da die wesentlichsten Kernfragen dort bereits einer Loesung zugefuehrt wurden. In Rumaenien hat man auch inzwischen einen Judenberater eingesetzt. Zur Regelung der Frage in Ungarn ist in Zeitkuerze erforderlich einen Berater /11/ fuer Judenfragen der ung. Regierung aufzuoktruieren. [Eichmann:] Das ist moeglich, das sind auch meine Worte. [Sassen, liest:] Hinsichtlich zur Aufnahme der Vorbereitungen zur Regelung des Problems in Italien haelt Heydrich eine Verbindung mit Polizeichef in diesen Belangen fuer angebracht. [Eichmann:] Sachlich nicht zu beanstanden, es ist nur stilistisch nicht ganz in Ordnung. Es fehlt das Beamtendeutsch … es ist ein Unterschied … es kann auch an dem Protokollaufnehmer liegen dass er gerade mal geschlafen hat, auch das muss man ueberlegen. [Sassen liest die Seiten 124–125 so schnell, dass der Abschreiber es nur zeitweise verstehen kann:] SS Grpf Hoffmann steht auf dem Standpunkt, dass von der Sterilisierung weit-
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gehendst Gebrauch gemacht werden muss, zumal der Mischling, wenn er vor die Wahl gestellt, ob er evakuiert oder sterilisiert werden soll, sich lieber der Sterilisation unterziehen wuerde. Um aber auch dem biologischen Teil Rechnung zu tragen, schlug Staatssekr. Stukart vor, zur Zwangssterilisation zu schreiten … [Eichmann:] Das ist interessant. [Sassen:] Erinnern Sie sich an das? [Eichmann:] Ja, wenn es meine Worte sind, dann werde ich daran erinnert, aber wenn es nicht meine Worte sind, dann weiss ich es nicht, das ist zuviel verlangt, es war doch 1942, das ist eine lange Zeit her … Dem Text nach kann es stimmen, natuerlich. [Sassen, liest:] Staatssekr. Dr. Buehler stellte fest, dass das Generalgovern. es begruessen wuerde, wenn mit der Endloesung dieser Frage im Generalgovern. /12/ begonnen werden wuerde … [Kommentar des Abschreibers:] Zwischengerede, undeutlich. [Eichmann:] Ja, daran kann ich mich entsinnen, jetzt kann ich mich an Buehler entsinnen. [Sassen, liest:] dass gerade der Jude aus dem Generalgovern. entfernt werden muesse, weil er als Seuchentraeger eine eminente Gefahr bedeute und dass er durch dauernden Schleichhandel die Wirtschaft des Landes in Unordnung bringe. Von denen, von den 2 1/2 Mill Juden in Frage koemmenden, sei uebringens die Haelfte davon arbeitsunfaehig. [Eichmann:] Das ist natuerlich uebertrieben – gerade im Generalgovern. ist das Gegenteil der Fall, gerade das Generalgovern. hat die Fuelle des kleinen Handwerkers gestellt. [Sassen, liest:] Abschliessend wurden die verschied. Arten der Loesungsmoeglichkeiten besprochen – – Wobei sowohl seitens des Gauleiters Dr. Meier [Meyer], als auch seitens des Staatssekr. Dr. Buehler der Standpunkt vertreten wurde, gewissen vorbereitende Arbeiten im Zuge der Endloesung gleich in den betr. Gebieten durchzufuehren, wobei aber eine Beunruhigung der Bevoelkerung vermieden werden muesse. [Zwischenfrage:] Was soll das heissen? [Anwesender:] Vielleicht Liquidierung, aber das haben sie doch schon seit 41 gemacht in den besetzen Ostgebieten – – – [Eichmann:] aber diesen Satz muss man anstreichen, den kann ich nicht akzeptieren, obwohl es alles in allem ein Grossteil meiner Worte sind. Also zusammenfassend muss man sagen, dass was den textlichen Teil dieses Berichts betrifft, dass der absolut authentisch ist, dass er nur dort wo es um den wesentlichen Teil geht, naemlich um die Zahlen und die Andeutungen ueber irgendwelche gewaltmaessige Loesungen des Problems, dass er dort daneben haut, bzw. dass es hineingeschmuggelt worden ist … Als Sie mir am Anfang sagten, »Wannseeprotokoll«, sagte ich, dass ich mich so gut wie an nichts entsinne, aber als ich dann meine Worte hoerte, da wusste ich Bescheid. Nun war die Sache folgende: Nach seiner Bestallung durch den Reichsmarschall hat Heydrich mir den Befehl gegeben, hier die und die und die einzuladen, zu einer Besprechung wo die Dinge von einer generellen Basis beleuchtet werden und wo er nun hier seine Faust durchsetzen will. Ich bekam den Befehl Einladungsschreiben zu verfassen, er gab mir Stichworte an, die ich dann aufschrieb, und den Befehl ihm eine
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Rede auszuarbeiten, das habe ich getan, aber wie immer bei solchen Sachen muss eine Rede zwei-dreimal ge-/13/feilt werden und dann hatte er endlich seine Rede zusammen. Und die Einladungsschreiben habe ich allen denselben Text genommen, die Dienstkoepfe holte ich mir informatorisch ein und auch die Anrede musste ich mir besorgen, die war entweder dienstlich oder herzlich. Ich rauschte dann mit einer Unterschriftsmappe zu ihm, wo er nun Zug um Zug sein Heydrich darunter kritzelte, dann wurden die Sachen zum Versand gebracht – – – einige Leute haben auch abgelehnt und ihren Vertreter geschickt, aus irgendwelchen Dienstl. Gruenden oder dgl. Und dann lief also die Sache und nun weiss ich noch, dass im Anschluss an diese Wannseekonferenz, dass Heydrich, Mueller und meine Wenigkeit an einem Kamin gemuetlich sassen, dass ich Heydrich da auch zum ersten Mal habe rauchen sehen, Zigarre oder Zigarette und ich dachte noch, heute raucht ja Heydrich … und was ich nie sah, er trank Cognac, da ich es jahrelang nicht gesehen habe, dass Heydrich mal irgendein alkoholisches Getraenk trank. Ich sah dann Heydrich nur noch einmal trinkend auf irgendeinem Kameradschaftsfest des SDHA, wo Heydrich bereits in animierter Stimmung den mir bisher unbekannten Pappenheimer uns vormachte, man sang ein Lied und trank einen, man stieg auf den Stuhl und trank einen, dann auf den Tisch … usw. und wieder runter, also ein Scherz der mir unbekannt war, es war ein norddeutscher Brauch … Und nach dieser Wannseekonferenz sassen wir also friedlich zusammen, nicht um zu fachsimpeln, sondern uns nach den langen anstrengenden Stunden der Ruhe hinzugeben. Mehr kann ich darueber nicht sagen.
Dokument 9 Adolf Eichmann: Notizen und Handschriften, 1957 Bettina Stangneth Eichmann verfasste im argentinischen Exil Hunderte Seiten eigener Aufzeichnungen, die teils im Kontext eigener Publikationspläne, teils im Kontext der Sassen-Runde entstanden. Die beiden Texte zur Wannsee-Konferenz wurden offensichtlich 1957 als Reaktion auf das gemeinsame Gespräch im September geschrieben. Die Aufzeichnungen gehören zum Konvolut der Argentinien-Papiere, die sich seit 1998 im Bundesarchiv Koblenz befinden. Nachlass Adolf Eichmann, N 1497-95. Konvolut aus 2 Seiten, Maschinenschrift, beide überschrieben mit demselben Titel. Die Abschrift erfolgt zeichengenau. Die nachträglich angebrachte Fußnote stammt vermutlich von Willem Sassen. Die Wannsee-Konferenz
Die in der Nachkriegsliteratur * [Fußnote im Original: Poliakoff »Das Dritte Reich und die Juden« – gemeint ist: Léon Poliakov/Joseph Wulf, Das Dritte Reich und die Juden, Berlin 1955.] aufgeführten »Dokumente« bezüglich der Wannsee-Konferenz erscheinen mir mehr als zweifelhaft. Zum mindestens was die angegebenen Zahlen der respektiven jüdischen Bevölkerung und der deportierten Juden betrifft. Es ist mehr als verwunderlich, dass die
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Zahlen bis zu hunderten, zehnern und sogar teilweise einer-Zahlen »genau« aufgeführt werden. Wir haben uns jedenfalls ab 1934 in Vorträgen und Berichterstattung immer nur abgerundeter Zahlen bedient. Etwas anderes komplett unmöglich. Hätte ich z. B. gewusst, dass in der Schweiz 64.848 Juden lebten, dann hätte ich die Zahl so garnicht angeführt sondern abgerundet, weil der Leser des betreffenden Berichtes den Eindruck bekommt konnte, für dumm verkauft zu werden. Die erwähnten Zahlen kommen nicht von meinem Dezernat und auch nicht von Heydrich, denn ihm lag es absolut nicht mit dieser Art Zahlen so penibel zu sein. Es ist bemerkenswert, dass auch die jüdische Nachkriegsliteratur erwähnt, wie innerhalb der deutschen Zentralinstanzen mit den Zahlen operiert wurde, je nachdem was erreicht werden sollte. Es wurde nach oben hochgestapelt oder nach unten tiefgestapelt, je nachdem wie es opportun war. Wenn also das Auswärtige Amt die jüdischen Zahlen so exhorbitant hochschraubt, dann wollte es damit sicherlich unter Beweis stellen, wie ungeheuer wichtig der betreffende Aspekt wäre. Heydrich wäre in so einem Fall gewiss der genauere gewesen. Die Wahrheit betreffend der jüdischen Bevölkerungsanzahl liegt etwa bei den Zahlen die die d a m a l i g e n Jüdischen Jahrbücher angaben. Wenn ich irgendwelche Berichte machen musste, und Zahlen anzugeben hatte, zusammengestellt aus von nachgeordneten Dienststellen eingegangenen Berichten und Zahlen, so konnte ich natürlich nicht diese Zahlen frei umfriesieren und musste sie nachweisen können, eben in den Berichten der Nachgeordneten Dienststellen. Aber machte ich einen Bericht von mir aus, so waren für mich nur die Zahlen der Jüdischen Jahrbücher bindend. Die Wannsee-Konferenz Durch eine formelle Bestätigung des »Reichsbevollmächtigten für den Vier-Jahres-Plan« Feldmarschall Göring, wurde Heydrich bevollmächtigt die Endlösung der Judenfrage zu übernehmen und in die Wege zu leiten. Diese ganze Sache habe ich mit ausarbeiten müssen und es dauerte ziemlich lange bis die von Göring unterzeichnete Bestallung für Heydrich perfekt war, weil immer Änderungsvorschläge von allen möglichen Seiten gemacht wurden.
Dokument 10 Adolf Eichmann: Zur Wannsee-Konferenz beim Polizeiverhör, Juni/Juli 1960 Verhöre am 1. Juni 1960, am 5. Juni 1960, am 5. Juli 1960. Die Faksimiles der originalen maschinenschriftlichen Verhörprotokolle in deutscher Sprache sind Abschriften der Tonbänder 1, aufgenommen am 29. Mai 1960, bis Tonband 76, aufgenommen am 15. Januar 1961. Die Blätter sind fortlaufend paginiert und umfassen insgesamt 3.564 Seiten MS. Quelle: State of Israel/Ministry of Justice (Hg.), The Trial of Adolf Eichmann. Record of Proceedings in the District Court of Jerusalem, 9 Bde., Jerusalem 1992–1999, hier Bde. VII und VIII.
Siehe als Beispiel Abbildung 1. Eichmann hat jede Abschrift mit dem Tonband verglichen und eigenhändig Korrekturen angebracht. Jede Korrektur hat er am Zeilenrand mit sei-
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ner Paraphe autorisiert. Teilweise korrigierte Eichmann Hörfehler oder Auslassungen in der Abschrift – das wurde hier übernommen; teilweise hat Eichmann die – wohl unbeabsichtigt bei der Abschrift unterlaufenen – stilistischen Verbesserungen an seiner Sprache rückgängig gemacht. Derartige »Korrekturen« Eichmanns wurden hier ignoriert. Die Abbildung 1 zeigt Beispiele für beide Fälle. Auf der jeweils letzten Seite einer Tonbandabschrift vermerkte er: »Ich bestätige hiermit, daß ich diese Transcription mit dem Tonband verglichen und eigenhändig korrigiert habe und ich beglaubige die Genauigkeit der Wiedergabe mit meiner Unterschrift. Adolf Eichmann 24.7.1960.« Das Verhör hat allein Avner Less geführt; ihm stand ein ganzer Stab sprachkundiger Polizisten mit dem Büro 06 zur Verfügung, die laufend die aus verschiedenen Staaten angeforderten Dokumente sichteten. Less Verhörtaktik war es, Eichmann ständig mit unterschiedlichsten Tatkomplexen zu konfrontieren, damit sich Eichmann nicht längerfristig auf ein Narrativ einstellen konnte. Erst in weiteren Sitzungen konfrontierte er Eichmann mit dokumentierten Details und schließlich mit den Dokumenten selbst. Das Wannsee-Protokoll gab Less Eichmann erst am 4. Juli 1960 zu lesen. Die Umschreibungen deutscher Sonderzeichen sind hier nach den Regeln der deutschen Rechtschreibung zum Zeitpunkt des Prozesses aufgelöst. Eindeutige Tippfehler wurden stillschweigend korrigiert. Wir folgen wörtlich dem Text inklusive aller logischen und grammatischen Fehler, wie diese bei Eichmanns Sprache geradezu charakteristisch sind, ohne diese extra zu kennzeichnen. Alle editorischen Eingriffe sind mit eckigen Klammern gekennzeichnet. 1. Juni 1960 Blatt 238–242 […] Eichmann: Diese Wannseekonferenz muß eine geraume Zeit vor dem Tod Heydrichs erfolgt sein. Also wäre das Datum, das ich angeben kann. Es ist daher auch ziemlich festzustellen. Die Wannseekonferenz ist nämlich deswegen besonders wichtig, weil, wie ich gestern schon sagen durfte, Heydrich hier die Ermächtigung bekam, als Beauftragter für die Lösung oder Endlösung der Judenfrage, hier sämtliche Vollmachten in sich vereinigt zu sehen. Zu dieser Konferenz wurden damals sämtliche Zentralinstanzen eingeladen und zwar die höhere Garnitur. Also Staatssekretäre. Von den Parteifunktionären war der Gauamtsleiter Schacht, Vertreter von Goebbels für die Reichshauptstadt Berlin anwesend. Aus der Kanzlei des Führers waren ebenfalls hohe Funktionäre anwesend. »Kanzlei des Führers« muß ich sagen, weil dieses Amt so geheißen hat. IV B 4 erhielt Befehl diese Einladungsbriefe im Entwurf zu schreiben, die dann über den Postauslauf normal befördert wurden, abgezeichnet alle von Heydrich natürlich, weil es sich in Form von persönlichen Einladungsschreiben, die Heydrich an die Staatssekretäre persönlich richtete, mit persönlicher Anschrift und persönlichem Briefende. Der Konferenztag mußte dann verschoben werden, weil einer oder zwei der Eingeladenen plötzlich verhindert waren. Es erging eine neuerliche Einladung. Heydrich hatte eine
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damals von Göring unterschriebene Ermächtigung aufgrund der er nun in einer Rede das bisher Durchgeführte behandelte, und (dies war sein erster eigentlicher Grund der Einladung) um intensive Mitarbeit bat. Sein zweiter eigentlicher Grund war es seiner allgemein bekannten Eitelkeit, das war seine Schwäche, zu frönen, und mit dieser Bestallungsurkunde, die ihn nun zum unumschränkten Gebieter aller Juden in den von Deutschland beeinflußten und besetzten Gebieten machte, zu brillieren, und seine Einflußerweiterung klar zu verstehen zu geben. Vielleicht, aber auch diese mitbenutzen, mitbenutzend, um über diese, wie soll ich mich ausdrücken, offensichtlich zu Tage getretene Gunst in den allerhöchsten Spitzen des Reiches irgendwie andere persönliche Intentionen vorzutragen, die er auch irgendwie für sich zu vereinbaren gedachte. Wie eben diese persönliche Politik mancher der Herren war. Bekannt war sie und Heydrich war dafür bekannt, daß er nie genug für sich ranraffen konnte. [Eichmann berichtet weiter, daß sich Globocnik nachträglich zweimal von Heydrich die Ermordung von bereits getöteten 150.000 oder 250.00 polnischen Juden genehmigen ließ. Die entsprechenden Schreiben habe Heydrich ihm diktiert, darin wörtlich: »… Juden der Endlösung zuzuführen.«] Diese nachträgliche Genehmigung durch den nominellen Beauftragten aufgrund der Wannseekonferenz wurde eben von Heydrich dem Globocnik, der diese merkwürdige Sache hatte, sich so etwas nachträglich bestätigen zu lassen, wurde mir persönlich von Heydrich diktiert, wie er das auch bei den Briefen für die Einladung der Staatsekretäre machte, wie er das haben möchte, wurde dann geschrieben und wurde über seine Adjutantur ihm vorgelegt, und er hat's unterschrieben. Less: Was war das Ziel der Wannseekonferenz? E.: Das Ziel der Wannseekonferenz war von Heydrich, die Ermächtigung zu bekommen hier selbst in jüdischen Angelegenheiten schalten und walten zu können, wie er glaubte. Und hatte, das weiß ich bitte nicht genau, es muß irgendwie eine, eine Teilung oder irgendwie muß Himmler eine, wie soll ich das mal ausdrücken, eine Aufgabenteilung, wenn ich das so sagen darf, erwirkt oder befohlen haben, daß das Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt die gesamten Angelegenheiten in den Konzentrationslagern durchzuführen hat, während eben die Sicherheitspolizei die Erfassung und den Transport durchzuführen hatte. Less: Waren Sie bei der Wannseekonferenz anwesend? E.: Ja, ich mußte auch anwesend sein. Less: Wurde dort eine Resolution gefaßt, in welcher Form jedes Amt, das verantwortlich ist für die Durchführung der Endlösung der Judenfrage, bzw. Vernichtung der Juden? Wurde auch beschlossen, in welchem Rahmen Ihre spezielle Abteilung dort zu arbeiten hat? E.: Nein. Das wurde nicht beschlossen. Das wurde schon deswegen da nicht beschlossen, weil erstens in der Praxis es nicht durchgeführt wurde, und zweitens, weil diese Frage sogar eine Detailfrage gewesen wäre, die an der Wannseekonferenz nicht zur Sprache kamen, vor den Staatssekretären.
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Less: Was kam aber da zur Sprache? E.: Heydrich hatte das bisher Durchgeführte in großen Zügen bekannt gegeben […], hatte eben dann gesagt, daß die Angelegenheit der Lösung der Judenfrage auf diese und jene Schwierigkeiten stieß, hat auf die vielen instanziellen Schwierigkeiten hingewiesen, die sich ergeben aus dem Nebeneinanderarbeiten, die verschiedenen Zuständigkeitsfragen, Kompetenzstreitigkeiten, und weswegen er Göring eben angegangen hatte, zwecks Rationalisierung diese Angelegenheit in einer Hand zu vereinigen, und Göring als Beauftragter des Vierjahresplanes ihm eben hier diese Ermächtigung gegeben habe, wobei ich allerdings jetzt nicht weiß, ob es hieß »dem Reichsführer gegeben habe« und er Heydrich sie im Auftrage Himmlers durchführe, was auch noch möglich wäre, das weiß ich nicht, das müßte man prüfen, das läßt sich auch sehr leicht prüfen, denn dann müßte Heydrich ja im Auftrage geschrieben haben. Dann wäre diese Sache so liegend. Ich kann mich entsinnen, daß irgendwie der eine oder andere der Anwesenden dann das Wort ergriff und wie das eben so geht, ich habe zum ersten Mal im Leben auf einer solchen Konferenz, an der derart hohe Funktionäre wie Staatssekretäre teilnahmen, teilgenommen, das geht eben sehr ruhig, sehr freundlich, sehr höflich und sehr artig und nett zu und es werden nicht viele Worte gemacht, es dauert auch nicht lange, es wird ein Cognac gereicht durch die Ordonnanzen und dann ist die Sache eben vorbei. So ungefähr spielte sich die Wannseekonferenz ab. »Wannseekonferenz« wurde sie genannt, weil sie im Gästehaus des Reichssicherheitshauptamtes, das sich am Wannsee bei Berlin befindet, stattfand. […] 5. Juni 1960 Blatt 408–410, 452 f. […] Less: Sie entsinnen sich an die Wannseekonferenz, wir werden darauf noch genau eingehen. E.: Jawohl. Less: Immerhin fällt mir ein, daß Sie dabei anwesend waren. E.: Jawohl. Ich hab sogar Einladungen am die Staatssekretäre ja selbst schreiben müssen. D.h. Heydrich hat mir hier kurz gesagt, wie er's haben will. Less: Warum wurden Sie zu dieser Wannseekonferenz eingeladen, wo Sie doch so eine untergeordnete Rolle spielten? E.: Herr Hauptmann, ich mußte die Einladungen schreiben, ich mußte den, ich mußte Heydrich die Angaben geben für seine Rede, die er hielt, sämtliche Auswanderungsziffern und das alles das mußte ich ihm ja geben, die hat er von mir verlangt, ich war ja der Dezernent gewesen im Geheimen Staatspolizeiamt, aber nicht der Dezernent im Verwaltungs- und Wirtschaftshauptamt. Less: Müller war auch anwesend? E.: Müller war auch anwesend, jawohl, es war eine Konferenz auf, wie man damals zu sagen pflegte, »hoher Ebene« also nur Staatssekretäre.
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Less: Warum hat man dem kleinen Eichmann rangeholt? Nur weil er der Dezernent gewesen ist? E.: Ich war der Dezernent gewesen und mußte natürlich auch anwesend sein, Herr Hauptmann, ich hab keine Möglichkeit gehabt etwa dort ein Referat zu halten, Herr Hauptmann, oder irgendwie mich sachlich bei der Wannseekonferenz hervorzutun, indem ich hier mit den einzelnen Staatssekretären sprach. In keinem einzigen Fall habe ich je mit einem Staatssekretär solche Sachen behandelt. Less: Wäre es nicht der übliche Weg gewesen, daß Müller Ihnen gesagt hätte, Eichmann, bereite mal das ganze Material vor, so damit ich, wenn ich gefragt werde, darüber Bericht erstatten kann, und Eichmann hätte das Material vorbereitet? E.: Nein, das hat Heydrich verlangt von mir, das sagte ich schon, Herr Hauptmann, Heydrich hat es verlangt von mir. Less: Dann bereiten Sie das Material vor für Heydrich. Heydrich wird Sie doch bestimmt nicht bei der Konferenz jedesmal fragen, ob das, was er gesagt hat, richtig ist. E.: Nein, das hat er vorher verlangt von mir, genau so, wie ich zweimal, ja, die Auswanderungsangelegenheiten, denn die Wannseekonferenz war ja erst der Beginn der eigentlichen Tötungsgeschichten, nicht wahr? Less: Ja, offiziell, getötet wurde ja schon vorher. E.: Ja, aber 1941. Less: Sie behaupten, daß 1941 so ungefähr im November in Auschwitz, daß diese Vergasungsapparate schon gearbeitet hätten. E.: Jawohl, Jawohl, Jawohl. Stimmt. Und die Wannseekonferenz war 42? 42. Jetzt aber wieso denn, es war eine Ermächtigungskonferenz gewesen, eine Konferenz gewesen wo Heydrich seine Ermächtigung bekannt gab. Wenn schon getötet worden ist, und es wurde getötet, denn ich habe ja Müller berichtet nach 1941, nach dem Kriegsausbruch mit Rußland, überlege ich jetzt, was war, ja gut, es war wahrscheinlich straffere Zusammenfassung und solche Sachen, er ist aber bestellt worden von Göring, bis dahin waren eben die Schwierigkeiten zu groß gewesen, zu viele Zentralinstanzen. Less: Ich sehe in der Tatsache, daß man Sie zur Wannseekonferenz herangeholt hat, eher einen Hinweis darauf, daß diese Aufgabe, die Endlösung für das Judenproblem durch Vernichtung, da Sie damit zu tun hatten, Ihnen eine etwas prominentere Rolle gab, als Sie es darstellen wollen. E.: Nein, nein, Herr Hauptmann, ich würde es zugeben, ich würde es ohne weiteres zugeben, aber jeder, der mich kannte, wußte ja schließlich und endlich, wer ich bin, ich war immer Dezernent gewesen im Amt IV B 4 und ein Dezernent im Geheimen Staatspolizeiamt, der kann aus seinem Rahmen, in den er eingespannt ist, kann der gar nicht ausbrechen, das geht überhaupt nicht. Less: War es üblich bei solchen weittragenden Konferenzen, wo die Spitzen zusammentrafen, daß man die kleinen Referenten heranzog? E.: Ja. Less: Das war üblich so?
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E.: Ja, ja, das war so, das ist nicht nur bei uns vorgekommen, sondern jeder Chef … Less: Sprechen durften Sie nicht. E.: Nein, sprechen durften sie nicht, nein, nein, das stand nicht zu, bitte, ich bin ja auch in Laibach oder in Agram, glaube ich, war das, bin runterbefohlen worden, wo Heydrich eine grundlegende Ansprache bezüglich der Evakuierung der Slowenen hielt, ich habe mit Slowenentransporten überhaupt nichts zu tun gehabt, als wie, glaube ich auch Fahrpläne erstellen mußte, sonst nichts. […] Less: Wo bewahrten Sie den Brief Himmler's an den Chef der Sicherheitspolizei und SD vom April 1940 auf, in dem Himmler über die Endlösung der Judenfrage Befehl erteilte? E.: Vom April 1940? Less: 42 E.: 42? Ein Befehl Himmlers? – An den Chef der Sicherheitspolizei? – Ein Befehl Himmlers an den Chef der Sicherheitspolizei? – Und hier soll etwas dringestanden haben über die Tötung der Juden? Less: Über die Endlösung der Judenfrage, daß der Führer befohlen hat usw. usw. E.: Herr Hauptmann, ich kann mir nicht denken, daß Himmler das schriftlich gegeben hat. Das kann ich mir nicht vorstellen. – Das kann ich mir nicht vorstellen, daß er das schriftlich gegeben hat. Less: Nun, wir wissen von der Wannsee-Konferenz, daß auch Heydrich in dem Protokoll der Wannsee-Konferenz das schriftlich gegeben hat. E.: Herr Hauptmann, Heydrich hat nicht von der Tötung gesprochen auf der sogen. WannseeKonferenz, sondern hat vom Arbeitseinsatz im Osten gesprochen. So hat er das getarnt. Less: Gut, wenn Sie das Protokoll der Wannsee-Konferenz durchlesen … E.: Ja. Less: … dann werden Sie sehr gut verstehen, von was er redet. Er drückt sich zwar sehr delikat aus … E.: Ja – ja Less: … aus, aber … E.: Ja ich – entsinn’ – ich entsinn’ mich auch noch – [fehlt im Tonband Less:] E.: Ja bitte, wenn es so ein Schreiben ist, wo es also nicht die nackten brutalen Worte sind, Herr Hauptmann, dann ist es schon möglich, aber ich kann mich auf dieses Schreiben nicht entsinnen. Wenn das Schreiben also existent gewesen ist, dann ist es selbstverständlich bei uns in der GRS-Ablage gewesen. […]
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5. Juli 1960 Bl. 818–879 [Während des Verhörs am 5. Juli 1960 wurde Eichmann nun erstmalig auch unter Vorlage des Protokolls intensiver zur Wannsee-Konferenz befragt. Das Gespräch hakt sich oft fest; Less und Eichmann lesen immer wieder im Text. Der Transskribent des Tonbands resigniert oft mit der Bemerkung in Klammern: »Zwiegespräch, unverständlich« oder »lesen im Text«. Diese Passagen ohne Inhalt werden hier ausgelassen. Eichmann gibt sich betont ahnungslos.] […] Less: Ich habe Ihnen gestern hier vorgelegt das Besprechungsprotokoll der Wannsee Konferenz. Sie haben es sich durchgesehen. Können Sie mir bestätigen, daß es inhaltlich eine genaue Wiedergabe der Wannsee Konferenz ist? E.: Ja. Less: Wollen Sie dazu Bemerkungen machen? E.: […] Zur Photokopie Wannsee-Konferenz habe ich mir hier das notiert. Less: Bitteschön. E.: 1. es zeigt einmal, daß es richtig ist, was ich schon sagte, daß alle möglichen Stellen den Reichsführer SS – also Himmler, bzw. den Chef der Sicherheitspolizei, also Heydrich, mit Lösungswünschen angingen. [Es folgt eine längere Ausführung darüber, dass er sich zu seiner Verantwortung als Referatsleiter bekenne, dass er empört sei, wenn sich Generäle und Offiziere oder Stuckart mit seinem Sterilisierungsvorschlag nach dem Krieg herausredeten.] Das gesamte Mischehen und Mischlingsproblem, wie es auch hier angeschnitten ist, egal ob hier angeschnitten oder irgendwo anders, unterstand ausnahmslos von der federführenden, federführend bearbeitenden Stelle, nämlich der Kanzlei des Stellvertreters des Führers. Drittens – es zeigt weiter eindeutig, daß nicht IV B 4 es war, welches solche Sachen ausarbeitete, sondern, daß es die hohe Garnitur selbst war, welche sich ganz persönlich in dieses Geschehen teilte. Von IV B 4 stammte lediglich das Zahlenmaterial in den europäischen Ländern, – Auswanderungszahlen und das bisher – bis zur Konferenz Geschehene. Alles andere sind Angelegenheiten, die der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Heydrich, mit Himmler sicherlich abbesprach, bzw. mit Göring, so vermute ich, daß Heydrich es ja auch mit Stellen, welche befehlsgebend waren abbesprechen mußte, – das ist das Entscheidende, kommt mir vor, – befehlsgebende Stellen oder Befehlsempfänger. In einem Falle wird hier sogar ausdrücklich festgestellt, daß Führergenehmigung eingeholt werden müsse. 4. Es resultiert und zeigt ferner klar, daß das Referat IV B 4 reiner Befehlsempfänger gewesen ist. – Darf ich das übergeben oder wird es nicht benötigt? [Der übergebene Text ist nahezu identisch mit den mündliche Ausführungen – vermutlich abgelesen.] Less: Ja, ja, ich übernehme es. Jetzt – wollen wir vielleicht zusammen noch einige Punkte durchgehen? E.: Bitte sehr.
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Less: Der Vortrag der hier von Heydrich gehalten worden ist, wurde der vorher von Ihrem Dezernat ausgearbeitet, in irgendeiner Form außer wie Sie schon erwähnten die Zahlen? […] Es gibt im Englischen einen Ausdruck »der Ghostwriter«. E.: Ja, ich weiß, was Sie meinen, Herr Hauptmann. [… Heydrich] hatte als Richtschnur – das mußte ich im selben Atemzug machen wie die Einladungsschreiben, – als Richtschnur hatte er das Zahlenmaterial und was eben bisher geschehen ist – das hat IV B 4 ausarbeiten müssen. Less: Die Wannsee-Konferenz war eine wichtige Konferenz … E.: Jawohl, jawohl. Less: Die war ausschlaggebend und Richtungsgebend für die zukünftige Behandlung der Judenfrage? E.: Jawohl, es war nie vorher und nie nachher so eine Konferenz gewesen, wo derart hohe Persönlichkeiten daran teilnahmen, – schon das alleine besagt ja an sich die Wichtigkeit der Konferenz. Less: Haben die diversen Staatssekretäre oder Gauleiter, die hier teilnahmen, ihre Referenten zu dieser Konferenz mitgeladen oder mitgebracht, sagen wir? E.: Herr Hauptmann, das weiß ich nicht – das mag sein, der eine oder andere, das will ich nicht in Abrede stellen, das will ich nicht in Abrede stellen, das der eine oder andere sagte – das ist auch je nachdem, wie das bei den Herren Gepflogenheit war, der eine … Less: Ist da nicht üblich, daß dann auch die Namen der, der Sitzung beiwohnenden sachbearbeitenden Referenten dieser Staatssekretäre auch namentlich hier genannt worden wären? E.: Ich weiß es nicht… Less: Wenn man schon erwähnt, wer die Anwesenden waren? E.: Schon, aber die Wichtigkeit lag ja hier bei der Person des Staatssekretärs, bzw. bei dem, bei den zuständigen Bevollmächtigten der Ämter von denen sie kamen, das andere war uninteressante zwote Garnitur. […] Less: Hier, auf Seite 3 sagt Heydrich, auf Anordnung des Reichsmarschalls wurde im Januar 1933 eine Reichszentrale für jüdische Auswanderung errichtet, für deren Leitung der Chef der Sicherheitspolizei und des SD betraut wurde. Ist das so zu verstehen, daß damals Sie im Januar 39 mit dieser Aufgabe schon betraut wurden? E.: Nein, Herr Hauptmann, denn ich bin ja im Januar 1939 überhaupt nicht in Berlin gewesen. [Eichmann leitete vom 22. August 1938 bis Oktober 1939 die »Zentralstelle für Jüdische Auswanderung« in Wien. Die ersten konkreten Schritte zum Aufbau der Berliner »Reichszentrale für jüdische Auswanderung« wurden vom SS-Sturmbannführer Kurt Lischka unternommen. Die Leitung hatte Heydrich, Gestapochef Müller fungierte als Geschäftsführer. Im Oktober 1939 übernahm Eichmann die Geschäftsführung in Berlin.] Less: Hier steht dann auf derselben Seite weiter, sie – damit meinte Heydrich die Reichszentrale für jüdische Auswanderung – hatte insbesondere die Aufgabe (unklar) … [Less liest von der Seite 3 des Protokolls:]
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Abbildung 1 Handschriftliche Korrekturen Eichmanns im Verhörprotokoll, Juli 1960 Die Seiten 847 f. sind die letzten beiden Seiten der Abschrift von Tonband 17, aufgenommen am 5. Juli 1960, mit Eichmanns Korrekturen, Paraphen und seiner Beglaubigung am Ende. Unten rechts Paraphe Avner Less.
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Quelle: State of Israel/Ministry of Justice (Hg.), The Trial of Adolf Eichmann. Record of Proceedings in the District Court of Jerusalem, 9 Bde., Jerusalem 1992–1999; hier Bde. VII und VIII, S. 847 f.
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a) alle Maßnahmen zur Vorbereitung einer verstärkten Auswanderung der Juden zu treffen, b) den Auswanderungsstrom zu lenken, c) die Durchführung der Auswanderung im Einzelfall zu beschleunigen. – Unter diesen 3 Punkten – sind das als die Ihnen gegebenen Richtlinien zu verstehen, die damals gültig waren? E.: Jawohl, darf ich’s noch mal sehen, Herr Hauptmann? Ich habe mir einmal jetzt gerade überlegt, es wäre an sich durchaus denkbar – weil es mir so völlig unbekannt ist – eine Reichszentrale – eine R e i c h s Zentrale für jüdische Auswanderung – daß das vielleicht in der, in der, sagen wir mal, in der Flüchtigkeit Heydrich statt Zentralstellen für jüdische Auswanderung, daß er hier vielleicht einen Begriff geprägt hat, den es vielleicht gar nicht gegeben hat, möglich wär’s auch. [... Eichmann liest diese Textstelle erneut] Jawohl, das sind die Punkte im Wesentlichen. […] Less: Hier auf derselben Seite, der letzte Abschnitt heißt: Das Aufgabenziel war auf legale Weise den deutschen Lebensraum von Juden zu säubern. – Wie ist das hier zu verstehen – »legale Weise«? E.: Die Auswanderung auf legale Art und Weise in Zusammenarbeit mit den jüdischen und nicht-jüdischen Stellen im Reich, in der Ostmark und Protektorat und dem Ausland. Less: Hier am 1. Absatz auf Seite 4 sagt Heydrich folgendes: Über die Nachteile, die eine solche Auswanderungsforcierung mit sich brachte, waren sich alle Stellen im klaren. Sie mussten jedoch angesichts des Fehlens anderer Lösungsmöglichkeiten vorerst in Kauf genommen werden. – Welche Nachteile einer Auswanderungsforcierung sind hier gemeint? E.: Ja, Herr Hauptmann, da gab's verschiedene Schwierigkeiten damals, die ich schon, soweit sie mir in Erinnerung sind, nennen durfte. [… nennt Devisenprobleme, Überbewertung des Dollars, Probleme in der Freistellung jüdischer Arbeiter bei Familienauswanderung, Proteste von Zentralinstanzen gegen zu schnelle Abwanderung]. Less: Hier, auf derselben Seite 4 steht dann weiter: »Trotz dieser Schwierigkeiten wurden seit der Machtübernahme bis zum Stichtag 31.10.1941 insgesamt rund 537.000 Juden zur Auswanderung gebracht.« Das sind Zahlen die von Ihnen gegeben worden sind? E.: Jawohl, jawohl. Denn die hat ja Heydrich gar nicht haben können, als wie von uns. Less: Hier, auf derselben Seite wird dann fortgesetzt: »Die Finanzierung der Auswanderung erfolgte durch die Juden bzw. jüdisch-politischen Organisationen selbst.« – Stammte dieser Finanzierungsplan von Ihnen oder wurde er von Ihrem Dezernat ausgearbeitet? Von Ihrem Sachbearbeiter? E.: Soweit ich das in Wien und in Prag, hauptsächlich aber in Wien, denn Prag war ja eine, eine – eine Kopie von Wien, – gemacht habe, habe ich habe ich diese Sachen damals zusammen mit Storfer, mit Loewenherz und am Anfang auch mit Rottenberg besprochen. Nämlich, die Finanzierung, – wie ich glaub ich, schon mal sagen durfte, – es sind die Funktionäre ins Ausland gefahren, haben von dort Geld hereingeholt und dieses Geld wurde dann im Inland, an auswandern wollende Juden verkauft. Waren sie vermögend,
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mit einem entsprechend höheren Betrag, wie ich das schon gesagt habe, über den die Kultusgemeinde dann verfügen konnte. Less: Die Devisen die aus dem Ausland von den jüdischen Funktionären hereingebracht wurden, das waren dann Spenden der anderen jüdischen Organisationen im Ausland? E.: Jawohl. Deswegen hieß es auch hier: Die Finanzierung der Auswanderung erfolgte durch die Juden bzw. jüdischen-politischen Organisationen selbst. Das ist – diese Sache ist auch von mir, von mir gemacht worden – diese, diese … Less: Also, das ist der Plan, den Sie damals in Wien ausgearbeitet haben? E.: Jawohl, jawohl. Less: Ich verstehe … Hier auf Seite 5 steht dann am 2. Absatz: »Inzwischen hat der Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei im Hinblick auf die Gefahren einer Auswanderung im Kriege und im Hinblick auf die Möglichkeiten des Ostens die Auswanderung von Juden verboten.« Was bedeutet hier »die Gefahren einer Auswanderung im Kriege«, welche Gefahren sind hier gemeint? Und welches sind hier die Möglichkeiten, die Möglichkeiten des Ostens? E.: Ja, Herr Hauptmann, Himmler hat damals, wie ich schon gesagt habe, mit dem – nicht mit Beginn des Krieges – das ist – das ist an sich verkehrt hier – das habe ich auch nie so gesagt, sondern mit dem, mit dem Beginn des russischen Krieges muß es an sich heißen. Less: Nein … denn da, – es steht ja nicht mit Beginn des Krieges, inzwischen, schreibt er – inzwischen … E.: Ja … Less: denn 1942 als die Wannsee Konferenz vorbei war die Auswanderung längst verboten. E.: Ja, längst verboten. […] Jawohl, das stimmt, muß stimmen, es wäre ganz genau, wenn’s geheißen hätte: ab Beginn des deutsch-russischen Krieges wurde die Auswanderung von Himmler striktamente verboten. […] Less: Gut, aber was mir nicht klar ist, welche Gefahren einer Auswanderung sind hier gemeint? E.: Ja, Herr Hauptmann, das weiß ich auch nicht – das sind ja nicht meine Worte, das sind – da ist – zu wissen, wie er das gemeint hat – das sind Worte die – die Heydrich gewählt hat – die Gefahr einer Auswanderung im Kriege … Less: Gut aber … E.: … denn, es war bis dahin ja auch Krieg gewesen, und die Auswanderung ist auch weiter gegangen bis zum Juni 1941, nicht wahr und die Gefahr der Auswanderung im Kriege, das ist eine – das ist – wie er eben sicherlich gesprochen hat, ich – bis dahin hat’s keine Gefahr gegeben, obwohl der Krieg schon eineinhalb Jahre gedauert hat und … Less: Vielleicht – Sie müssen mir sagen ob ich mich irre – vielleicht ist die Meinung, so wie ich es eben auffasse … E.: Ja … Less: die Gefahren weiterer – daß, wenn die Juden auswandern, sie potentielle Informationen dem sogenannten Feind geben könnten oder Propaganda machen können, erzählen könnten über die Lage im Lande bzw. über das Vorgehen gegen die Juden …
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E.: Herr Hauptmann, wenn sie bis 15. Juni 1941 auswandern konnten, da hätte ich – da hätten sie ja bis bis zum 15. Juni auch alles Mögliche erzählen können, was sie ja auch sicherlich getan haben, das ist ja ihr gutes Recht, nicht wahr? Aber was hätten sie ab 15. Juni noch verschlechtern sollen? Less: Und was heißt hier: die Möglichkeiten des Ostens? Was soll ich darunter verstehen? E.: Möglichkeiten des Ostens? Da muß man drunter verstehen, daß die nach dem Osten evakuiert wurden, also diese Sachen, das ist, wie ich schon sagte, diese Sachen, die hat Heydrich dann gewählt, – wahrscheinlich geht er jetzt gleich über auf den Osten auch, nicht wahr? Das stammt nicht von, – von uns, bis daher, das ist noch – was gewesen ist … Less: Das heißt, die neuneinhalb Millionen Dollar, die hier ist auf Seite 5 stehen, die bis zum 30.10.1941 hereingeflossen sind … E.: Jawohl ... Less: …die Spenden, das sind Zahlen, die von Ihrem Referat gegeben worden sind? E.: Jawohl. […] Less: Hier steht jetzt auf Seite 5, Paragraph 3 steht: »Anstelle der Auswanderung ist nunmehr als weitere Lösungsmöglichkeit nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten. Diese Aktionen sind jedoch lediglich als Ausweichmöglichkeiten anzusprechen, doch werden hier bereits jene praktischen Erfahrungen gesammelt, die im Hinblick auf die kommende Endlösung der Judenfrage von wichtiger Bedeutung sind.« Was bedeutet hier da dieser Ausdruck, daß diese Aktionen, das heißt die Evakuierung nach dem Osten als Ausweichmöglichkeiten anzusprechen sind? E.: Weil die Auswanderung verboten war, wurden sie nach dem Osten abgeschoben. So ist das zu verstehen. Allerdings muß ich gleich hier betonen, Herr Hauptmann, diese Sache hier, die – das ist die neue – äh – Konzeption gewesen, dessentwegen ja sicherlich diese Staatssekretär-Besprechung anberaumt worden ist – ist die neue Konzeption gewesen, die Himmler mit Göring besprochen hat sicherlich, im Beisein Heydrichs. Less: Ja aber wie sind dann hier die erwähnten praktischen Erfahrungen die im Hinblick auf die kommende Endlösung der Judenfrage gesammelt wurden, zu verstehen? Was heißt hier »praktische Erfahrungen«? E.: »Diese Aktionen sind jedoch …« (gelesen, unklar, Text vermutlich w.o.) ja, die ist ja – die Wannsee Konferenz – wir haben sie Staatssekretär-Konferenz genannt, nicht Wannseekonferenz – Staatssekretär-Besprechung hieß es offiziell – ist am 20.1.1942 gewesen, Herr Hauptmann, ich wurde 2 Monate später nach Globocnig geschickt damals, wie ich angesprochen habe schon, es ist leicht möglich, – was ich aber jetzt nicht weiß – leicht möglich, daß um diese Zeit dort, wo ich die Hütten gesehen habe, damals, daß die dort schon getötet haben … Less: Ah, Sie meinen dann … E.: … meine ich. Less: »Praktische Erfahrungen« bezieht sich auf die schon vorgenommenen Tötungen der Juden?
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E.: Meine ich, meine ich – obwohl ich keine Beweise habe – denn ich weiß nicht ob sie schon getötet haben oder ob sie noch nicht getötet haben – aber das ließe sich ja feststellen – wenn das also festgestellt werden könnte, daß um diese Zeit schon getötet worden ist, dann bezieht sich das sicherlich auf die Tötung, nicht wahr? Less: Ich glaube, Sie erwähnten schon vorher, daß Sie nochmals 1941 das gesehen hatten, bei Globocnig, nachdem Heydrich Ihnen das damals mitgeteilt hatte? E.: Ja, nein Herr Hauptmann, es war – es war Winter, es war schon Schnee gewesen, sagte ich, wie ich das nächste Mal herauskam, das, glaube ich, sagte ich. Less: Es gab ja damals schon Einsatzgruppen. E.: Ja, die gab es schon ab – natürlich ist getötet worden, sicherlich, weil der – mit Beginn des russisch-deutschen Krieges sind ja die Einsatz Gruppen in Tätigkeit gekommen, ganz klar – das ist – da brauch ich gar nicht mehr nachdenken, es ist ja ganz klar … […] Less: Sie sagten gerade, daß die »praktischen Erfahrungen« sich auf die schon vorher vorgenommenen Tötungen, Tötungsaktionen der Einsatzgruppen usw. zu beziehen haben? E.: Sicherlich, denn ab Beginn des deutsch-russischen Krieges waren ja die Einsatzgruppen – wie mir eben eingefallen ist – bereits in Tätigkeit gewesen und die Einsatzgruppen oben, die haben ja getötet. Less: Die Tabelle auf Seite 6, die – die Gesamtzahl der Juden Europas zeigt und mit 11 Millionen zusammengefaßt ist, ist das eine Tabelle die auch von Ihrem Dezernat ausgearbeitet wurde? E.: Jawohl, und zwar in Zusammenarbeit mit den jüdischen Funktionären und den verschiedenen jüdischen Jahrbüchern und den Schätzungen seitens der verschiedenen Leute usw. z. B. Auswärtiges Amt usw., die dort vorlagen; aus allen diesen Unterlagen zusammen sind dann diese Summen hervorgegangen – natürlich, es ist aufgerundet, das sieht man ja schon an den … – aufgerundet worden, aber es dreht sich ja immer nur um Hunderte, so daß die Zahl von 11 Millionen herauskam. Diese Tabelle ist von IV B 4 erstellt worden und wurde Heydrich damals gegeben für seinen Vortrag bei der Wannsee Konferenz. Less: Ich sehe hier unter »Estland« steht: »judenfrei« – unter »Lettland«: 3.500 Juden, unter »Litauen«: 34.000 Juden. Woher wußten Sie, daß Estland schon judenfrei sei? Und daß in Lettland nur noch 3.500 Juden übrig geblieben sind und in Litauen nur noch 34.000? E.: Herr Hauptmann, weil – diese Tabelle mußte ja vorbereitet werden für den Vortrag Heydrichs und ich sagte schon, daß ich aus den verschiedenen Quellen hier die Zahlen mir zusammenraffen mußte. Natürlich habe ich das nicht alles selbst gemacht – kann ich ja gar nicht machen – sondern das hat das Amt – das Referat IV B 4 gemacht und wenn es sich hier um Estland, Lettland, Litauen usw. handelt, so sind ja sicherlich Fernschreiben abgegangen an die zuständigen deutschen Stellen hier oben in diesen Gebieten, und da habe ich mir die Zahlen, – das heißt, ob ich das jetzt nun – das ist ja egal ob ich das nun machte oder Günther – es ist – es war das Referat IV B 4 – es ging
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ja unter meinem Namen – dann haben wir diese Zahlen die wir bekamen in diese Liste hereingesetzt, denn Heydrich wollte ja sicherlich – und das ist ganz klar, – nicht irgend einen Türken vorgebaut bekommen von uns, für diesen Vortrag in der Staatssekretär Besprechung, sondern mußten ziemlich genaue Unterlagen beschafft werden, die ich ja unter Umständen sogar auch hätte beweisen müssen, wenn er mich gefragt hätte – dann hätte ich eben hier diesen ganzen Vorgang der sich zusammengetragen hat anläßlich der Beschaffung dieses ganzen Zahlenmaterials, hätte ich vorweisen können und hätte dann gesagt, z. B.: hier – wenn er mich gefragt hätte – Estland, wieso judenfrei? – hätte ich gesagt: bitte, hier ist die Unterlage von dem zuständigen Einsatzgruppenchef – oder irgendwie. Less: Hier, auf Seite 7, sagt Heydrich dann: »Unter entsprechender Leitung sollen nun im Zuge der Endlösung die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen. In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird.« Was ist hier unter »natürlicher Verminderung« zu verstehen? E.: Herr Hauptmann, diese Sachen hörten wir damals auch zum allerersten Male. Das ist sicherlich eine, – ein Befehl Himmlers, denke ich mir, oder hat ihn sich Heydrich selbst zurechtgedacht – ich weiß es also nicht – unter »natürlicher Verminderung« da verstanden wir immer – »natürliche Verminderung« ist normaler Tod. Wie das in Statistiken immer unter »natürliche Verminderung« heißt – »natürliche Verminderung« ist ein, – ein völlig normales Absterben. Less: Oder auch jeder Tod der verursacht wird, nicht durch den – nicht Vergasung oder durch Erschießen usw. …. E.: Jawohl, also ein Herzschlag, und – und – und – Lungenentzündung, oder, oder – ich weiß – also »natürliche Verminderung« – also wenn ich heute sterbe, z. B., wenn ich jetzt sterben würde, ja, in diesem Moment, so ist das eine natürliche Verminderung. Less: Würde man da aber auch […] wenn dann die zur Arbeit gezwungenen Juden sozusagen in […] der Zwangsarbeit starben die sie durchführen mußten – es war ja ein Art Sklavenarbeit – die Bedingungen waren nicht – keine sehr guten – sie sind dann, sagen wir einmal, zu einer Schwächung gekommen, zusammengebrochen und sind also auch eines natürlichen Todes gestorben. Ist das eventuell darunter zu verstehen? E.: Ja, Herr Hauptmann, an sich bin ich, wenn eine Statistik hier aufgestellt werden hätte müssen, dann z. B., da bin ich überfragt, denn solche Statistiken habe ich ja nie – nie gemacht. Less: Na, ich möchte bloß von Ihnen wissen, wie sind hier – diese »natürliche Verminderung« …? E.: »natürliche Verminderung« ist immer bei uns verstanden worden – ich habe das Wort ja auch übernommen, ich habe das nicht selbst geprägt, »natürliche Verminderung« ist ja ein, ist ein – ein – wie soll ich nur sagen – ein Fachwort, nicht aufgebracht etwa von der Sicherheitspolizei, sondern ein Fachwort für das normale Absterben. In Theresienstadt, z. B. habe ich dieses Wort ebenfalls – äh – angewandt, wenn die Leute normal gestorben
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sind und von den jüdischen Ärzten behandelt worden sind und die jüdischen Ärzte haben die Todesursache festgestellt und alle diese Sachen, – so war das eine natürliche Verminderung gewesen. Less: Gut, ich möchte das nur klar bekommen; ich kann mir vorstellen, wenn ein Mensch schwere physische Arbeit leisten muß, nicht genug zu essen bekommt – er wird schwächer, – er wird so schwach, daß er einen Herzschlag bekommt! E.: Sicher, wenn das – das würde sicherlich als »natürliche Verminderung« gemeldet worden sein von den zuständigen Stellen im Osten und wäre selbstverständlich dann im Reichsicherheitshauptamt – unter dieser Rubrik natürliche Verminderung, gefallen – weil’s ja so gemeldet worden ist, – so kam’s selbstverständlich, ja … Less: Hier auf Seite 8 im 1. Absatz fährt dann Heydrich fort: »Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist.« – Was bedeutet hier: »entsprechend behandelt werden müssen«? E.: Das ist – das ist eine – diese Sache die stammt von Himmler – »natürliche Auslese« – das ist – das ist sein, – das ist sein Steckenpferd – »natürliche Auslese« – Less: Ja, aber was bedeutet es hier? E.: getötet, getötet, sicherlich … Less: Hier auf Seite 9 am 1. Absatz wird dann folgendes gesagt; ich zitiere aus dem Satz heraus: »Bezüglich der Behandlung der Endlösung in den von uns besetzten und beeinflußten europäischen Gebieten wurde vorgeschlagen, daß die in Betracht kommenden Sachbearbeiter des Auswärtigen Amtes sich mit dem zuständigen Referenten der Sicherheitspolizei und des SD besprechen.« – Der hier erwähnte zuständige Referent, bezieht sich das auf Sie? E.: Das würde sich auf mich beziehen, ja, – darf ich mal sehen, bitte – [liest den Text] das wurde also offenbar – wurde das von dem Vertreter des Auswärtigen Amtes [ungereimte Worte] von Unterstaatssekretär Luther wurde also offenbar vorgeschlagen – nicht offenbar – das ist ja selbstverständlich, es geht ja hier draus hervor, daß die in Betracht kommenden Sachbearbeiter des Auswärtigen Amtes sich mit dem zuständigen Referenten der Sicherheitspolizei und des SD in Verbindung setzen. Das wäre ich gewesen, jawohl. Less: Auf derselben Seite 9 steht dann im 2. Absatz der letzte Satz: »Zur Regelung der Frage in Ungarn ist es erforderlich, in Zeitkürze einen Berater für Judenfragen der ungarischen Regierung aufzuoktroyieren.« Wie ist das zu verstehen – wer war denn der Berater für jüdische Fragen der dann aufoktroyiert wurde? E.: War gar keiner dort gewesen [liest im Text]… es geht 1. hier nicht draus hervor wer diese Anregung gab – ob sie der Staatssekretär Luther gab oder Heydrich – aber egal auch – wer sie gegeben haben mag – 1942 – da dauerte es ja noch, da dauerte es ja noch 2 Jahre bevor also hier der ungarischen Regierung ein Judenberater aufoktroyiert wurde, ja – der wurde ja nicht aufoktroyiert, sondern der wurde ja damals im Zuge der – der brauchte ja gar nicht mehr aufoktroyiert – der brauchte ja gar nicht mehr aufoktroyiert
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werden, denn im Zuge des Umschwunges in Ungarn ging diese Sache ja automatisch und wurde ja von der Szalezsi Regierung direkt angefordert, möchte ich mal so sagen, also das Gegenteil von aufoktroyiert – also das war ja – in Ungarn war überhaupt keiner da gewesen, die ganzen Jahre , war gar keiner da. Less: Das war ein Vorschlag, der damals Anfang 1942 gemacht wurde? E.: Jawohl, jawohl, jawohl, das ist gemacht worden von irgend jemand und dazu ist es nicht gekommen, wie die Praxis ja ganz klar beweist. Less: Hier auf Seite 10 Paragraph 4 steht dann folgendes: »Im Zuge der Endlösungsvorhaben sollen die Nürnberger Gesetze gewissermaßen die Grundlage bilden, wobei Voraussetzung für die restlose Bereinigung des Problems auch die Lösung der Mischehen- und Mischlingsfragen ist.« [Less liest weiter diese Passage bis S. 10 unten.] E.: Mischlinge 1. Grades – jawohl, werden demnach wie Juden behandelt. Less: Das heißt … der Endlösung zuzuführen, das heißt: zur Vernichtung? E.: Nach diesem Vorschlag hier – ja. Less: Dann weiter: »Von dieser Behandlung werden ausgenommen« [Less liest weiter S.11 bis zur Mitte.] Das heißt also, die unter diesen a) b) und c) erwähnten Mischlinge 2. Grades sind dann auch der Endlösung zuzuführen? E.: Nach dem ja [Eichmann drückt seine Verwunderung darüber aus, daß sich Heydrich bei seinen Vorschlägen auf ein Schreiben des Chefs der Reichskanzlei bezieht – Protokoll S. 10 unten. Er habe immer gedacht, daß die Kanzlei des Stellvertreters des Führers einen radikalen Trennungsstrich unter das Durcheinander nach den Nürnberger Gesetzen ziehen wollte. Er selbst und auch Juristen haben durch die Verordnungen und Bestimmungen nicht durchgeblickt. Da es so im Protokoll stehe, müsse es stimmen. Vermutlich habe die Kanzlei des Stellvertreters des Führers die Angelegenheit an die Reichskanzlei abgegeben. Von dort haben dann wohl Himmler und Heydrich die Genehmigung zur »reinlichen Scheidung« erhalten.] Less: [Liest ab S. 12 Mitte die Passagen zu Mischehen sowie die anschließenden Beiträge von Teilnehmern der Konferenz zur Zwangssterilisation, automatischer Zwangsscheidung bis zu Bühlers Bitte, mit der Endlösung im GG zu beginnen – bis S. 15 Ende des ersten Absatzes »sei überdies die Mehrzahl der Fälle arbeitsunfähig«.] Was will er denn da andeuten? E.: Da will er andeuten, daß sie getötet werden sollen. […] Less: [Bezieht sich auf eine frühere Mutmaßung Eichmanns, daß vielleicht persönliche Referenten an der Sitzung teilgenommen haben, die aber nicht namentlich im Protokoll erwähnt werden – auch Heydrichs Referent nicht.] Immerhin Sie als Obersturmbannführer Eichmann vom Reichsicherheitshauptamt sind persönlich ja angeführt, namentlich. E.: Ja, natürlich, ich mußte ja, denn der Einberufer war ja der Chef der Sicherheitspolizei und des SD und ich bekam ja den Auftrag die Einladungen zu schreiben, fertig zu machen und ihm zur Unterschrift vorzulegen, auf dem Dienstwege und ich bekam den Auftrag alles das was bisher geschehen ist hier zusammenzufassen, auch die ganzen Zahlen die ich …
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Less: Gut, ich habe Ihnen doch schon einmal gesagt, der Grund, daß Sie die Einladungsschreiben verfaßt haben wäre noch kein Grund gewesen, Sie zu einer Sitzung einzuladen, z. B. einer Sitzung die wirklich eine Sitzung der höchsten Warte beinahe war. E.: Ja … Less: Sie mußten also – vielleicht ist anzunehmen, daß Sie doch hier eine – Ihnen eine größere Funktion hier zugedacht war, da man es notwendig fand … E.: Rein namentlich, rein namentlich, rein – denn das Protokoll habe ja ich gemacht, das heißt, – habe ich gemacht – das heißt – das hat das Referat IV B 4 gemacht, nicht wahr ja – denn es war ja auch eine Stenotypistin dagewesen. Es war ja eine Stenotypistin bei dieser ganzen Sache hier gewesen. Ich mußte selbstverständlich dabei sein, wenn ein Protokoll erstellt wird, das wurde ja nachher ausgegeben, sicherlich hat das Heydrich auch gesagt, daß das Protokoll – äh – genau gemacht werden muß, denn er war ja ein genauer Mann, – und daß es im Nachhange dann – äh – verschickt wird an die einzelnen Besprechungsteilnehmer. Less: Ich würde folgendes sagen, hier, nachdem was Sie sagen, daß, daß Sie Einladungen vorbereitet haben, daß Sie die Zahlen vorbereitet haben, usw. waren Sie doch auch eigentlich – sozusagen der Adlatus von Müller? Müller ist bei der Sitzung dagewesen? E.: Jawohl. Less: Als der Chef der Abteilung – des Amtes IV? E.: IV – Jawohl. Less: Dann war es doch gar nicht notwendig, auch Sie als Vertreter des Amtes RSHA oder des Amtes IV zu erwähnen, überhaupt wenn auch Sie nur ein Adlatus waren. E.: Herr Hauptmann, wenn ich jetzt nun dem Vortragenden, – ich nenne ihn jetzt Vortragenden – wenn ich dem Material habe erstellen müssen, was geschehen ist, Zahlen usw. usw., – wenn also ich aber bin der – dann nehme ich mir den also sicherlich mit – und wenn der Mann die Einladungsschreiben geschickt hat, so heißt es ja nicht, weil ich die Einladungsschreiben geschickt habe, sondern nachher mußte ja bei ihm genau dieselbe Korrespondenz wieder los, es mußten diese Leute alle wieder angeschrieben werden, und es mußte ihnen das Protokoll gegeben werden, denn die Stenotypistin alleine, daß die das Protokoll alleine macht, ja, das geht ja gar nicht – ich bin ja während dem Vortrag dabei gesessen und habe aufpassen müssen, daß diese Stenotypistin, die doch keine Ahnung hat von dem Geschehen, daß das mit dem Protokoll klar kommt, dafür war ich ja verantwortlich gewesen. Less: Aber das alles … E.: Sonst hätte ja hier irgendwie ein, eine, eine namentliche Bezeichnung – gehabt – ohne weiteres tragen können, da hätte ja Heydrich sagen können: im übrigen, wegen der einzelnen Fälle wenden Sie sich dann hier an den Obersturmbannführer Eichmann – hätte er ja sagen können – das hat er ja nicht gemacht. dazu war ich ein viel zu kleiner Hanswurst – bitte – unter Anführungszeichen jetzt einmal – war ich – brauch ich gar nicht unter Anführungszeichen – denn das waren ja in der Regel alles Obergruppenführer und Gruppenführer, also alle sind im Rang eines Generals gewesen.
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Less: Aber gerade diese Tatsache, daß das alle solch hohe Ränge waren und daß … E.:. Hat sich keiner mit mir abgegeben […] Less: Gestatten Sie, hier, wie wir gesehen haben, wurde ein Vorschlag gemacht, daß dann die Sachberater des Auswärtigen Amtes … sich mit Ihnen in Verbindung, setzen sollen, über diese Frage […] E.: [erläutert erneut umständlich die Hierarchien. Wenn er auch nur ein Wort bei der Konferenz geredet hätte, würde er das sagen. Aber er habe schweigen müssen.] Herr Hauptmann, was ich sagen möchte, – ich bin mit der Stenotypistin – bin ich hier in einer Ecke gesessen und da hat sich niemand um uns gekümmert, niemand, niemand, – da waren wir viel zu klein – viel zu klein gewesen, man hat uns nicht beachtet, nicht einmal, nicht einmal Heydrich in seinen Sachen. […] Und hätte ich das Protokoll nicht selbst gemacht, resp. aus dem – dem Stenogramm der Stenotypistin, die das nur abgeschrieben hat – ich habe dann eben alles was da drin war sicherlich gestrichen und dann wird’s Günther sicher nochmals angesehen haben und dann wird es zum Heydrich hochgegangen sein und dann ist es noch einmal zurückgeworfen worden, wie das eben schon geht, bis das, diese Sache herausgekommen ist, denn dieses Protokoll ist redigiert nicht nur von Heydrich, sondern auch von Müller – bis daß es endlich so weit war, daß es rausging. […]
Dokument 11 Adolf Eichmann: Meine Memoiren, Juni 1960 Bettina Stangneth Eichmann folgte im Juni 1960 dem Vorschlag des israelischen Verhöroffiziers Avner Werner Less, gleich zu Beginn des Verhörs seine Erinnerungen aufzuschreiben. Er übergab den 127-seitigen handschriftlichen Text unter dem Titel Meine Memoiren und der PhantasieDatierung »9. Mai bis 16. Juni 1960« am 16. Juni 1960 an Less. Das Manuskript kam unter der Signatur B06-1492 in den Bestand des Untersuchungsbüros B06 und wurde unter der Nummer T/44 als Beweismittel der Anklage im Prozess vorgelegt. Das Original befindet sich heute im Israelischen Staatsarchiv, eine Kopie der Handschrift und eine unvollständige Abschrift in: State of Israel/Ministry of Justice (Hg.), The Trial of Adolf Eichmann. Record of Proceedings in the District Court of Jerusalem, Microfiche-Sammlung. Weitere Kopien finden sich im Nachlass Robert Servatius (BArch AllProz 6) und im Nachlass Avner W Less (AfZ ETH Zürich). Zeichengenaue Transkription der Handschrift (Seite 111 ff.) nach dem Editionsprinzip der letzten Hand, also ohne Eichmanns Streichungen. Die Paginierung stammt von Eichmann. /111/Die gesamte Lösung der Judenfrage lag in ihrer Obersten Spitze eigentlich bei dem Beauftragten für den Fünf-Jahresplan, dem Reichsmarschall Göring. Und soviel ich weiß, hatte das Wort »Endlösung der Judenfrage« anfänglich nichts mit der Tötung zu tun, sondern
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der autonome Judenstaat, der einmal im Gen. Gouv. und später auf Madagaskar errichtet werden sollte, hatte auch die Bezeichnung »Endlösung der Judenfrage«. Diese Bezeichnung wurde dann /112/ später, ich weiß natürlich nicht, zuerst von Himmler und dann von Heydrich oder umgekehrt, als Bezeichnung für den Hitlerschen Tötungsbefehl verwendet. Jedenfalls waren ähnlich wie früher bei der Auswanderung, nunmehr in verstärktem Maße bei der Evakuierung Schwierigkeiten aufgetaucht. Auf der einen Seite war Hitlers Befehl und die Detailbefehlsgebung von Himmler an Heydrich, die auf eine beschleunigte Evakuierung drängten, auf der anderen Seite erstarb die Arbeit im bürokratischen Leerlauf und in tatsächlichen Schwierigkeiten. Dies wollte Heydrich, soferne deutscherseits hieran etwas zu vereinfachen gab, klären, indem er sich vom Reichsmarschall eine Ermächtigung geben ließ. (Weder Wortlaut noch Inhalt der Ermächtigung sind mir gegenwärtig, auch ist es möglich, daß ich dieses überhaupt nur noch, bzw. erst wieder durch das Lesen »Reitlinger« oder »Poliakoff« in meinem Gedächtnis /113/ habe. Daher bitte ich auch hier, diesen Komplex weitgehends durch vorhandenen Unterlagen, zu ergänzen, bzw. mir ggfs. die Möglichleit dazu zu lassen). Jedenfalls wie Heydrich diese Ermächtigung bekam (ob sie überhaupt »Ermächtigung« hieß, alles dies müßte ich mir irgendwie (Unterlagen, Reitlinger, Poliakoff) noch mals auffrischen), weiß ich nicht, ich weiß nur, daß ich eines Tages Befehl bekam, mich bei ihm zu melden und er mir mitteilte, daß er die Staatssekretäre der deutschen Ministerien, Kanzlei des Stellvertr. des Führers, glaublich auch Bevollmächtigte der deutschen Militärbefehlshaber, Höhere SSu. Pol. Führer, den HauptAmtchef des V. + W. Hauptamtes, SS Ogruf. u. Gen. der Waffen SS Pohl, zu einer Besprechung nach Berlin einladen wolle, in der alle Schwierigkeiten besprochen werden sollten. Er gab mir stichwortartig den Inhalt dieser Einladungsbriefe bekannt, so wie er es haben möchte und ich mußte dann den Entwurf des Schreibens ausarbeiten. Er wurde dann nach etlichen malen der Korrektur schließlich von ihm gutgeheißen. Der Inhalt aller Schreiben war derselbe nur die Anreden und Briefschlüße unter-/114/schieden sich nach dem Grad des persönlichen Verhältnisses, in dem Heydrich zum Angeschriebenen stand. Letzteres holte ich mir von der Adjutantur des C.d.S.u.d.SD. Wegen Verhinderung oder Krankheit einiger Geladener, wurde der Termin einmal oder zweimal verschoben, eine zusätzliche Arbeitsanhäufung in jenen Tagen bei IV B 4, denn Heydrich war ein außerordentlich penibler und nervöser Vorgesetzter, bei dem alles »wie am Schnürchen« ablaufen mußte und wehe, es gab hierin irgendwelche Pannen. Auch hatte er so eine Marotten bezügl. der stilistischen Art des Briefinhaltes und man konnte sich dieserhalb noch so bemühen, den Entwurf halbwegs in seinem Sinne »hinzukriegen«, etwas zu korrigieren, konnte er nie unterlassen. Die Besprechung fand statt im Gästehaus des RSHA am Wannsee b. Berlin. Sowohl ich, als auch Günther, sowie die Mehrzahl der Amtchefs des R.S.H.A., nahmen daran teil und Gün-
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ther und ich fertigten im Anschluß hieran eine Besprechungsniederschrift an, deren Extrakt dann den Besprechungsteilnehmern – so ist es mir heute noch in etwa in Erinnerung – abschließend wieder durch ein persönliches Schreiben Heydrichs zuging. (Mir ist bis heute der Inhalt, ja selbst die einzelnen Punkte nicht mehr so in Erinnerung, daß ich sie widergeben könnte. Aber es dürfte /115/ keineswegs schwer sein, dieses genau festzustellen, da ja an eine solch große Zahl diese Schreiben verschickt wurde, daß angenommen werden darf, daß das eine oder andere Exemplar aufgefunden werden konnte; zumal in den wenigsten Staatssekretariaten die Akten 1945 verbrannt wurden.) Das Tempo der Evakuierung selber aber wurde trotz dieser Besprechung auf »hoher Ebene« keineswegs beschleunigt. Ich denke, daß dieses Staatssekretärbesprechung entweder Ende 1941 war oder 1942. Ich glaube, eher im Jahre 1942.
Dokument 12 Adolf Eichmann: Meine Flucht, März 1960 Bettina Stangneth Der Abschnitt ist datiert auf den 11. März 1960. Eichmann schrieb den Text unter dem ursprünglichen Titel In einer Mainacht 1945 auf Anregung seines Anwalts. Robert Servatius versuchte, tatkräftig unterstützt von Eichmanns Brüdern in Linz und dem NaziNachlass-Verwerter François Genoud, Geld durch den Verkauf von Eichmann-Texten zu gewinnen, von dem auch Servatius profitieren wollte. Meine Flucht erschien in einer nur wenig gekürzten Übersetzung in der englischen Zeitschrift People (30.4.–28.5.1961). Der Text wurde nicht als Beweismittel im Prozess verwendet. Zur Entstehungsgeschichte vgl. ausführlich Willi Winkler, Der Schattenmann. Von Goebbels zu Carlos: Das mysteriöse Leben des François Genoud, Berlin 2011, S. 117– 141; ders., »Adolf Eichmann und seine Unterstützer. Ein kleiner Nachtrag zu einem bekannten Rechtsfall«, in: Werner Renz (Hg.), Interessen um Eichmann. Israelische Justiz, deutsche Strafverfolgung und alte Kameradschaften (= Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Bd. 20), Frankfurt am Main 2012 , S. 289–318. Eine Kopie der etwas gestrafften Abschrift findet sich im Nachlass Servatius (BArch Koblenz AllProz 6/247). Eine Kopie der Handschrift fand den Weg in die Eichmann-Akte des bundesdeutschen Nachrichtendienstes, was sich dadurch erklären ließe, dass der Mitarbeiter Genouds außerdem V-Mann des BND war. Der Abdruck folgt dennoch weitgehend der etwas gestrafften Fassung der Transkription (BArch Koblenz, AllProz 6/247, 35 f.), ergänzt durch einen darin fehlenden Abschnitt aus der Handschrift (Beiakte Verfahren BVerwG 7A 15.10, Saure gegen BND, BNDAkten, Archiv Signatur 121099, 1621-2. Zitiert mit der freundlichen Genehmigung von Hans-Wilhelm Saure (Bild) und seinem Anwalt Christoph Partsch.)
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Mein Auftrag war, alles für Juden zu ordnen, die Deutschland verlassen mußten. Diesen Auftrag habe ich ausgeführt. In dieser meiner Dienststellung habe ich auch an der berüchtigten Wannsee-Konferenz teilgenommen, die am 20. Januar 1942 in Berlin stattfand. Das war die Konferenz der Naziführer, die man zusammengeholt hatte, um die »Endlösung der Judenfrage« zu diskutieren, und bei der die Entscheidung getroffen wurde, die jüdische Rasse ein für alle Mal in Europa auszulöschen. Man hat mich beschuldigt, diese abscheuliche Konferenz veranlaßt zu haben. Das ist völlig absurd. Mein Auftrag bestand darin, die Verhandlungen korrekt zu protokollieren. Dies hatte mein Chef, [Gruppenführer] Müller, angeordnet. Die meiste Zeit war ich damit beschäftigt, die Bleistifte zum Mitstenographieren zu spitzen. Es war eine beachtenswerte Konferenz, denn an ihr nahmen elf führende Persönlichkeiten des Reiches teil, der Chef der Gestapo, Reinhard Heydrich hatte den Vorsitz. Als sich diese wichtigen Herren am hochglanzpolierten Konferenztisch niederließen, benutzte ich die Gelegenheit, mich für einen Augenblick zu verdrücken und draußen schnell einen Kognac – und anschließend einen Mokka, wegen des Geruchs – zu trinken. Ich aß noch schnell ein Sandwich und brachte noch ein belegtes Brötchen der Stenographin mit, man wußte ja nicht, wie lange die Besprechung dauern würde. Ich hatte das Brötchen in ein Blatt Stenopapier eingewickelt. Bei den Begrüßungsworten Heydrichs musterte ich die übrigen Anwesenden eingehend. Freisler, der Justizminister, saß sehr aufrecht da, drückte seinen Hintern in den Sessel und drehte in seiner ausgestreckten Hand andauernd einen Bleistift. Mein eigener Vorgesetzter, [Gruppenführer] Müller, saß da wie ein guterzogener Schüler. Er hatte seine Hände auf dem Schoß gefaltet und bot ein Bild der Bescheidenheit. Ein anderer hatte es sich im Sessel bequem gemacht, das Kinn auf eine Hand gestützt, die Beine übereinandergeschlagen, und betrachtete konzentriert den Redner, ein Beispiel für die Konzentrationsfähigkeit des Außenministers. Ich hatte nie zuvor so viele prominente Persönlichkeiten von ihnen mit völliger Entscheidungsfreiheit, bei einer Zusammenkunft vereinigt gesehen. Jede bedeutende Autorität des Reiches war zugegen. Niemand war vergessen worden. Alle lauschten gespannt, als Heydrich die Pläne des Führers für die Behandlung des jüdischen Problems darlegte. Keine einzige Stimme des Widerspruchs wurde laut. Bei jeder Pause, die er machte, nickten sie heftig mit dem Kopf, obwohl es ganz klar war, daß die Endlösung nichts anderes bedeutete als – Vernichtung. Ich war über die völlige Einstimmigkeit unter diesen hochstehenden Persönlichkeiten außerordentlich überrascht. Auf meiner Arbeitsebene war ich an kleinliche Widerstände, an Verzögerungen von Entscheidungen, an Bürokratie, an Vorschriften und Gewohnheiten gewöhnt. Aber hier gab es keinen Aufschub, kein Handeln, keine Opposition, keine Meinungsverschiedenheit. Die Entscheidungen, auf Grund derer Millionen in den Tod geschickt wurden, fällte man hier mit einer erfrischenden Schnelle und Einstimmigkeit. Ein jeder Teilnehmer dieser Konferenz war von der Größe des Planes berauscht. Nach Heydrich erhoben sich die übrigen und gaben ihre zustimmenden Erklärungen ab. So sagte zum Beispiel SS-General Hoffmann, vom SS-Rassenamt: »Es gibt nur eines, – Ste-
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rilisierung dieser Leute.« Und Dr. Stuckart vom Innenministerium: »Sterilisierung? Jawohl, aber mit Gewalt.« Sterilisierung, Ausrottung, Vernichtung … die Worte gingen über den Tisch hin und her, als man eine ganze Rasse zum Tode verurteilte. Dr. Bühler, der den Generalgouverneur von Polen vertrat, erklärte, er würde es sehr begrüßen, wenn die Endlösung der Judenfrage – er meinte damit die Liquidierung der Juden – in seinem Gebiet beginnen würde. Da die Juden dort schon konzentriert seien, würde die Transportfrage bei ihm am leichtesten zu lösen sein. Man kann nur sagen, es war alles lückenlos, die Juden in Europa sollten von allen Seiten aus in die Falle getrieben werden. Heydrich strahlte, als die Allmächtigen seine Vorschläge ausnahmslos akzeptierten. Er war zu dem Treffen in der Annahme gekommen, daß man ihm alle möglichen bürokratischen /39/ Schwierigkeiten entgegenhalten werde, die dem Plan entgegenstünden, aber nicht ein einziger Stein wurde ihm in den Weg gelegt. Was um alle Welt hätte ich daran ändern können, frage ich, der ich auf meinem kleinen Stuhl neben der Stenographin saß! Hätte ich etwa aufstehen sollen und sagen: »Obergruppenführer, verehrte Herren, ich hatte gemeint, daß diese Konferenz die Emigration der Juden als Besprechungsthema hat. Ich bin überrascht, daß Sie sich über die Ausrottung der Juden unterhalten.« Im günstigsten Fall hätte man mich danach wohl in eine Irrenanstalt gesperrt. Aber sehr wahrscheinlich wäre ich wegen Sabotage eines Führerbefehls auf der Stelle erschossen worden und meine Familie hätte man liquidiert. Ich hatte vor dieser grauenhaften Konferenz und den schrecklichen, dort gefaßten Beschlüssen an Plänen für die Massenevakuierung von Juden nach Palästina gearbeitet. Gegen den Willen der Creme de la Creme zu protestieren war nutzlos. Mir blieb garnichts anderes übrig, als meinen Mund zu halten und, gebunden durch den Fahneneid und Diensteid, meine Pflicht zu tun. Die Konferenz wurde beendet. Die großen Herren erhoben sich und suchten bequeme Sessel auf, die neben dem Kaminfeuer standen, und ließen sich von uniformierten Bediensteten Kognac, Wein und Zigarren servieren. Die Entscheidung war gefallen. Wenig später erhielt ich meine Befehle und der Tod begann in ganz Europa an die Türen zu klopfen. Ich wußte es und konnte dennoch nichts daran ändern. [Ergänzend findet sich in der Handschrift, S. 133 f.:] Es war die behördlich sanktionierte Indietatsetzung der Rundfunkproklamationen des Führers und Reichskanzlers! Es war die von Zentralinstanzlichen Spitzen gutgeheißte und befohlene Verwirklichung des Befehls des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler. Man zog sich wieder in die gemütlichen Ecken zurück. Das Kaminfeuer war eigentlich nicht mehr von Nöten. Die Herren hatten sich etwas in Eifer geredet und schienen gesund gerötet im Gesicht. Aber trotz allem knackten die Buchenscheiter im Feuer und die weißen Feldblusen brachten Kognak, Portwein, Zigarren und Zigaretten. Ein freundlicher, köstlicher Ausklang; alles ein Herz und eine Seele.
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Ich ließ mir von der Schreibkraft inzwischen das Protokoll vorlesen, langsam, bedachtsam, denn ich mußte mich vergewissern, ob sie nicht etwa einiges »in den falschen Hals« bekommen hatte; noch war Zeit, über Müller das eine oder andere zu erfragen in einer Stunde würde es zu spät sein. Zuvor aber mußte auch ich mir in dem jetzt leeren Zimmer eine bewehrte Ordonanz kommen lassen. Ein guttemperierter Rotspon, der konnte nie schaden und ein Liqueurchen für das Mädchen. Ich habe Heydrich selten in solch herrlicher Laune gesehen. Ja, ja, er war ein schlaues Füchslein. Aber dumm waren auch die eben gegangenen Gäste nicht; aber selbstherrlich. Machtberauscht. Ungekrönte Könige auf ihrem Gebiet, alle zusammen! Eine zermalmende Gewalt!
Dokument 13 Adolf Eichmann: Zur Wannsee-Konferenz im Prozess, Juni/Juli 1961 Auszüge aus den Sitzungsprotokollen: 78. Sitzung am 23. Juni 1961; 79. Sitzung am 26. Juni 1961; 93. Sitzung am 12. Juli 1961; 99. Sitzung am 17. Juli 1961; 100. Sitzung am 18. Juli 1961; 106. Sitzung am 21. Juli 1961; 107. Sitzung am 24. Juli 1961 Nach jeder Sitzung wurden Abschriften der Verhandlung angefertigt, die täglich in größerer Anzahl vom Gericht an Prozessbeteiligte, Beobachter und Medienvertreter ausgegeben wurden. Vollständig vorhanden im: ETH Archiv für Zeitgeschichte, Zürich, NL Avner W. Less, 162; Sitzungsprotokolle Nr. 78 bis 107. In dem verwendeten Exemplar finden sich Anmerkungen von der Hand von Avner Less, die hier ignoriert werden. Die Umschreibungen deutscher Sonderzeichen sind hier nach den Regeln der deutschen Rechtschreibung zum Zeitpunkt des Prozesses aufgelöst. Eindeutige Tippfehler wurden stillschweigend korrigiert. Wir folgen wörtlich dem Text inklusive aller logischen und grammatischen Fehler, wie diese bei Eichmanns Sprache geradezu charakteristisch sind, ohne diese extra zu kennzeichnen. Die amtliche Dokumentation des israelischen Justizministeriums enthält die Verhandlungen für jedem Prozesstag in englischer Übersetzung: State of Israel/Ministry of Justice (Hg.), The Trial of Adolf Eichmann. Record of Proceedings in the District Court of Jerusalem, 9 Bände, Jerusalem 1992–1999. Offensichtlich wurde für die englische Übersetzung des Prozesses der Tonmitschnitt verwendet, denn Hörfehler und Auslassungen in den Sitzungsprotokollen in deutscher Sprache finden sich hier nicht. Deshalb wurde die Übersetzung zur Überprüfung herangezogen; mit dieser Hilfe erfolgte Korrekturen und Ergänzungen werden in [eckige Klammern] gesetzt. Eichmann wird in den Protokollen mit »A« (Angeklagter) bezeichnet.
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78. Sitzung am 23. Juni 1961: Fortsetzung der Befragung Adolfs Eichmanns als Zeugen [Die Sitzung setzte die Befragung Adolfs Eichmanns als Zeugen durch seinen Verteidiger Dr. Robert Servatius fort. Servatius präsentiert dem Gericht NS-Dokumente zur Vorbereitung und Durchführung der Verbrechen an den Juden, die Eichmann dadurch entlasten sollen, weil er darin gar keine oder nur eine auf Befehl ausführende, untergeordnete Rolle spielte.] […] Dr. Servatius: Das nächste Dokument ist T 185, Urkunde 74. Es ist das Besprechungsprotokoll der Wannseekonferenz. Nach Erfolg der Umladung, fand diese Konferenz am 20.1.42 statt, es ist die sogenannte Staatssekretärbesprechung. In der Anwesenheitsliste zu Beginn des Protokolls ist Müller und Eichmann als Vertreter des Reichssicherheitshauptamts aufgeführt. Leiter der Besprechung ist Heydrich. Herr Zeuge, was ist Ihnen über die Veranlassung zur Einberufung dieser Konferenz bekannt? Angeklagter: Zweifelsohne war der treibende Faktor für Heydrich selbst die Erweiterung seiner Machtvollkommenheit, seiner Machtbefugnis. S.: Hatte er irgendwelche Schwierigkeiten zu befürchten? A.: Nach der bisherigen Praxis waren stets alle Stellen, aus raisonmässigen Gründen bestrebt, Verschleppungen an den Tag zu legen, Vorbehalte zu machen, kurz und gut, es gab bei den bisherigen, langläufigen Besprechungen jedes Mal eine Kette von Einzelbesprechungen, sie schleppten sich hin, es wurde nie irgendwie auf einem Anhieb eine klare Lösung erzielt. Dies war der Grund, warum Heydrich zu dieser Wannseebesprechung aufrief und hier auf höchster Ebene gewissermaßen sein Wollen und das Wollen des Reichsführers SS und Chefs der deutschen Polizei durchzudrücken. S.: Herr Zeuge, ich glaube Sie haben dem Gericht schon erklärt, daß Sie die Ansprache, die Heydrich gehalten hat, vorbereitet haben? […] Wollen Sie einmal das dann nochmals erklären, wie Sie zunächst mit dieser Angelegenheit befaßt wurden. A.: Ich bekam den Befehl, als Vorbereitung für die Wannseekonferenz das Pfahlmaterial zusammenzutragen, was Heydrich in seiner Ansprache zu verwenden gedachte. Ferner einen Generalüberblick über die bisher in den letzten Jahren durchgeführten Maßnahmen bezüglich der Auswanderung, ihrer Schwierigkeiten und ihrer Ergebnisse. Diese meine Sammelarbeit wurde in den ersten 7 Seiten, wie ich jetzt wiederum feststellen konnte, im wesentlichen zusammengetragen, wobei es mir aufgefallen ist, daß gewisse Hauptbalken, die ich hier sah, nicht meiner Feder entstammen, sondern dem Munde Heydrichs, der diese Rede – die, soviel ich bemerken konnte – alle seinen Reden – sehr frei hielt, entstammten. […] Hierunter gehört der Satz am Ende der Seite 7 »unter entsprechender Leitung sollen im Zuge der Endlösung die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen, in großen Arbeitskolonnen; unter Trennung der Geschlechter werden die arbeitsfähigen Juden Straßen bauend in diese Gebiete geführt.« Dieser Satz könnte gar nicht von mir stammen, denn er erschien hier zum ersten Mal anläßlich
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Abbildung 2 Adolf Eichmann in seiner Zelle in Ramle Gefängnis, 15. April 1961 Auf Wunsch seines Rechtsanwalts, Dr. Robert Servatius, erhielt Eichmann am 29. Dezember 1960 acht Bücher über die Judenverfolgung. Servatius erwartete von seinem Mandanten, der Verteidigung zuzuarbeiten, um Kosten zu sparen. Darunter waren die Bände von Léon Poliakov, Joseph Wulf und Gerald Reitlinger. Fotografie: John Milli, Israel Government Press Office
dieser Wannseekonferenz und war mit ein Kernpunkt der neuen Ordnung, die Heydrich bekanntgab. […] Darf ich zur Ergänzung noch sagen, daß meine zweite Aufgabe anläßlich der Wannseekonferenz neben diesen Punkten, die ich eben ausführte, noch war, während der Besprechung mit einer Sekretärin das Protokoll zu führen. S.: Gibt das Protokoll den Inhalt der Besprechung richtig wieder? A.: Das Protokoll gibt die wesentlichen Punkte sachlich, korrekt wieder, nur natürlich ist es kein wortgetreues Protokoll, weil die, sagen wir mal, gewisse Auswüchse, gewisser Jargon der vorgebracht wurde, in dienstliche Worte von mir zu kleiden waren und dieses Protokoll ist, glaube ich, 3 oder gar 4 Mal von Heydrich korrigiert worden, auf dem Dienstweg über Müller zurückgekommen. Es wurde seinen Wünschen entsprechend dann umgearbeitet, bis schließlich dieses hier vorliegende Protokoll entstand. Vorsitzender: Dr. Servatius, können wir hier Halt machen oder haben Sie noch etwas über diese Urkunde zu sagen, die in jeder Beziehung eine wichtige Urkunde ist? S.: Ich würde es vorziehen, wenn wir bei der nächsten Sitzung damit beginnen. […] 79. Sitzung am 26. Juni 1961: Fortsetzung der Befragung Adolfs Eichmanns als Zeugen […] Dr. Servatius: Es ist besprochen worden das Dokument T/85 Urkunde 74 betreffend die sogenannte Wannsee-Konferenz. Der Angeklagte hat hierzu Stellung genommen, zu der Einberufung der Konferenz und gesagt, daß die Ansprache Heydrichs er ausgearbeitet habe. Er hat dann gesagt, daß ein Protokoll abgefaßt worden ist, das mehrfach geändert worden ist, und dessen endgültige Fassung nun hier vorliegt. Herr Zeuge, gibt das Protokoll den Inhalt der Besprechung richtig wieder? Angeklagter: Bevor ich auf diese Frage eingehe, darf ich bitten eine kleine Ergänzung vorzunehmen, Herr Verteidiger. Sie sagten eben, ich hätte die Ansprache Heydrichs ausgearbeitet. Dies stimmt nur bedingt, insofern nämlich, als ich dazu das letzte Mal bereits Stellung nahm. Auch zu der Frage, ob das Protokoll das Ergebnis der Besprechung wiedergibt, habe ich schon das letzte Mal, glaube ich, in Verbindung mit einer anderen
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Frage, Stellung genommen, und sagte, daß dieses Protokoll den Inhalt der Besprechung wiedergibt, wenngleich – sagen wir mal – diese Auswüchse – wenn man so sagen darf – ein gewisser Jargon geglättet wurde und in dienstmäßiger Form ausgearbeitet wurde und zwar ergab sich dies aus dem wiederholten Hin- und Hergehen des Protokolls als Entwurf zu Heydrich und zurück zu mir. S.: Herr Zeuge, was so ein Protokoll nicht wiedergibt, ist die Stimmung, die auf dieser Konferenz herrschte, grundsätzliche Haltung aller Teilnehmer. Können Sie dazu etwas sagen? A: Jawohl. Die Stimmung fand ihren sichtbaren Niederschlag in der aufgelockerten und zufriedenen Haltung Heydrichs. Er hatte sicherlich auf dieser Konferenz die größten Schwierigkeiten erwartet gehabt. S.: Herr Zeuge, es kommt darauf an, was die übrigen Teilnehmer auf der Konferenz zum Ausdruck gebracht haben. A.: Jawohl. Hier war nicht nur eine freudige Zustimmung allseits festzustellen, sondern darüber hinaus ein gänzlich Unerwartetes, ich möchte sagen, sie Übertreffendes und Überbietendes im Hinblick auf die Forderung zur Endlösung der Judenfrage. Und die größte Überraschung wohl war, so habe ich es noch in Erinnerung, Bühler, aber vor allen Dingen Stuckart, der stets Vorsichtige, der stets Zaudernde, der hier plötzlich mit einem ungewohnten Elan sich offenbarte. S.: Herr Zeuge, Sie hatten selbst vor dieser Konferenz schon im Osten etwas von der Vorbereitung der Vernichtungsmaßnahmen gesehen. Stimmt das? A.: Jawohl. S.: Wußten die Teilnehmer an der Konferenz ebenfalls schon etwas über diese Art der Endlösung? A.: Ich muß das als bekannt voraussetzen, deshalb, weil der Krieg gegen Rußland um jene Zeit der Wannsee-Konferenz doch schon ein halbes Jahr lang dauerte und, wie wir selbst hier aus den Dokumenten gesehen haben, die Einsatzgruppen in diesen Gebieten walteten. Und die zentralen Schlüsselfiguren der Reichsregierung haben von diesen Tatsachen selbstverständlich Kenntnis gehabt. S.: Wie lange hat die Konferenz gedauert? Und was geschah nach dem Ende der Konferenz? A.: Die Konferenz selbst war relativ kurz. Ich kann es heute zeitlich nicht mehr genau sagen, wenn ich aber meine, daß es etwa eine bis anderthalb Stunden gewesen ist, dann mag es ungefähr zutreffen. Vor und nachher standen die Herren selbstverständlich in Gruppen herum, diskutierten sicherlich über die Konferenz und auch Anderes, und nachher entsinne ich mich, als die Gäste abgefahren waren, daß Heydrich und Müller zurückblieben. Ich selber durfte auch an diesem internen Beisammensein teilnehmen, bekam die Erlaubnis dazu, und hier hat nun Heydrich seine Meinung über die Konferenz in kurzen Worten dargetan und es ist das, was ich vorhin schon sagte, seine Zufriedenheit war eine sehr sichtbare gewesen. S.: Herr Zeuge, aus den Bemerkungen, glaube ich, zu den Sassen-Memoiren, scheinen Sie aber auch sehr zufrieden gewesen zu sein, wollen Sie das mal erklären? A.: Jawohl, nur ist diese Zufriedenheit aber auf einem anderen Sektor zu suchen als wie etwa die Heydrichsche Zufriedenheit und ich bitte mir zu gestatten, hier einige nähere
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Ausführungen zu machen, nur so wird diese meine Stimmung um jene Zeit verständlich werden. Heydrichs Zufriedenheit hing mit dem Ergebnis der Konferenz zusammen, meine Zufriedenheit hing zusammen mit der Prüfung meiner Person zum Ergebnis der Wannsee-Konferenz. Und hier habe ich mir Rechenschaft abzugeben, inwieweit ich persönlich – Vorsitzender: Eine Minute, eine Minute bitte. Gut, bitte fahren Sie fort. A.: Ich hatte mir Rechenschaft abzugeben inwieweit mein Ich mit dem Ergebnis der Konferenz in Zusammenhang steht und hier fand ich für mich die Beruhigung im Denken daran, daß ich trotz meines relativ kleinen Dienstgrades als Oberstleutnant und vordem noch geringerer gradmäßiger Natur, bestrebt gewesen bin, von mir aus Ausschau zu halten nach Lösungsmöglichkeiten, nach friedlichen Lösungsmöglichkeiten, für beide Teile tragbar, aber nie kommend zu einer solchen blutigen Gewaltlösung. Und daß diese meine Worte nicht jetzt im Augenblick von mir gegeben werden, da ich vor den Schranken eines israelischen Gerichtes stehe, sondern daß diese meine Worte erhärtet werden können, bezeugen einmal meine Bemühungen im Hinblick der Organisierung im Chaos des Auswandernmüssen und des Auswandernwollen. Zum anderen meine Bemühungen im sogenannten Radom-Projekt. Drittens meine Bemühungen im Madagaskar-Projekt. Nachdem ich dergestalt dieses mein Wollen gewissermaßen mir selbst offenbaren konnte, am Ergebnis der Wannsee-Konferenz, in dem Augenblick hatte ich eine Art Pilatussche Zufriedenheit in mir verspürt, denn ich fühlte mich bar jeder Schuld. Hier auf der Wannsee-Konferenz sprachen nun die Prominentesten des damaligen Reiches, es befahlen die Päpste, ich hatte zu gehorchen und daran dachte ich in all den kommenden Jahren. Und nicht zuletzt findet dieses mein Denken und mein Fühlen zu jener Zeit auch seinen Niederschlag in den handschriftlichen Aufzeichnungen des Bandes 17, den allein ich anerkenne in den sogenannten Sassenschen Dokumenten, die ich zu einer Zeit abfaßte, wo ich in absoluter Sicherheit am Rande der argentinischen Pampa diese meine Gedanken niederschreiben konnte, mit keiner Faser je daran dachte, eines Tages mich vor einem israelischen Gerichtshof verantworten zu müssen. […] S.: Ich komme zu dem nächsten Dokument T/1381, Urkunde 597. Es ist eine Gegenüberstellung der Ansichten der Konferenzteilnehmer aufgestellt vom Justizminister vom 5.4.42. Auf der Seite 1 Spalte 1 steht unter 6 und 7 die scharfen Vorschläge des Ministers des Innern, Staatssekretär Stuckart, unter 6 heißt es Scheidung der Ehen, Reichsminister des Innern, Zwangsscheidungen, 7 Sterilisierung Reichsminister des Innern, Staatssekretär Stuckart, Zwangssterilisierung. Auf der nächsten Seite unter IX. Zeitpunkt Amt des Generalgouverneurs Staatssekretär Dr. Bühler, zu beginnen im Generalgouvernement, Seuchenträger, Schleichhandel, Mehrzahl Arbeitsunfähiger. Das nächste Schreiben im Dokument ist ein Schreiben des Justizministers vom 5.4.42 an die beteiligten Dienststellen. Der Justizminister hat nur kleine Bedenken. Das letzte Schreiben in diesem Dokument ist ein Schreiben des Reichsministers des Innern Stuckart vom 16.3.42 an die Hauptbeteiligten der Konferenz, am Schluß des Schreibens letzter
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Satz, wird wiederholt, was vorgeschlagen war von seiner Dienststelle, ob die Scheidung entweder auf Antrag des Staatsanwaltes oder Kraft des Gesetzes auszusprechen ist. Das nächste Dokument T/730, Urkunde 1278. [Eichmanns Schnellbrief vom 31. Januar 1942 zur Vorbereitung der Deportationen aus dem Deutschen Reich] Es ist ein Rundschreiben von Eichmann vom 31.1.42 an alle Polizeileitstellen, Wien, Zentralstelle für Auswanderung Wien und nachrichtig an Inspekteure der Sicherheitspolizei im Altreich und auch in Wien. Das Schreiben betrifft die bevorstehenden Maßnahmen zur Endlösung. Herr Zeuge, wollen Sie zur Entstehung des Schreibens Stellung nehmen. A.: Dieses Schreiben ist die erste Folge in der Wannsee-Konferenz u.(nd) z.(war) dient es im Wesentlichen der Feststellung der Judenzahlen in den genannten Gebieten des Reiches und des Protektorates als Grundlage zur Erstellung des Fahrplanes. Dieses Schreiben wurde befohlen, es mußte als Grunderlaß ausgehen. Ich sagte, es wäre die erste Maßnahme gewesen der Wannsee-Konferenz; es kommen im weiteren Verlauf der Konferenz noch andere Folgen und war ich vor der Wannsee-Konferenz schon ohne jede eigene Entschlußfreudigkeit und ohne jedes eigene Entschlußwollen, wie ich schon ausdrücken durfte, so habe ich mich nach der Wannsee-Konferenz ganz besonders befleißigt, von mir aus nichts und auch nicht das Geringste selbst zu entscheiden u.(nd) z.(war) ist es mir so zur Manier geworden, daß selbst meine Nachgeordneten um jene Zeit mir diese Sache oftmals bemängelten, weil ich Ihnen dadurch zusätzlich bürokratische Arbeiten aufhäufte, und vor wenigen Tagen noch sagte Krumey anläßlich der Zeugenaussage, daß ich übertrieben vorsichtig gewesen wäre, ein Wort, das in Abwandlung etwa Stuckart ebenfalls in seinem Bericht an den Reichsaußenminister feststellte, mit anderen Worten und abschließend darf ich sagen, ich habe seit der Wannsee-Konferenz erst recht mir in jedem, und sei es nur der kleinste Fall gewesen, die Weisung meines vorgesetzten Amtschefs eingeholt. S.: [Servatius legt weitere Dokumente vor.] [...] Ich übergehe das nächstes Dokument 762 und komme zu T/186, Urkunde 841. Es ist ein Schreiben von Heydrich an Luther, Auswärtiges Amte vom 28.2.1942. Es betrifft die Einladung zu einer ersten Sachbearbeiterbesprechung im Anschluß an die Wannsee-Konferenz. Es heißt am Schluß: »Ich darf Sie bitten, Ihren Sachbearbeiter zu veranlassen, sich mit Eichmann ins Benehmen zu setzen.« […] Richter Halevi: Wieso waren Sie der zuständige Referent Heydrichs in dieser Angelegenheit? Angeklagter: Weil die Wannsee-Konferenz Vorbereitung unter der Zuständigkeit des Amtes IV gefallen ist. Dies bestätigt auch die Tatsache, daß der Amtschef IV persönlich daran teilgenommen hat und soviel ich weiß, keiner der anderen Amtschefs. Nun wurde auf der Wannsee-Konferenz der Beschluß gefaßt, daß die nähere Stellungnahme der einzelnen anwesenden Staatssekretäre im Anschluß an die Wannsee-Konferenz zu folgen hätte. Ferner hat in dem Bestallungsschreiben Görings an Heydrich Göring festgestellt und Heydrich aufgefordert, daß er ihm jebaldigst einen Bericht über die technischen, materiellen usw. Voraussetzungen vorzulegen habe. Nun war das Ergebnis der Wann-
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see-Konferenz in seiner detaillierten Beschlußfassung auf gewissen Gebieten, wie beispielsweise das von dem Staatssekretär Stuckart angeregte Problem, noch nicht gefaßt. Daher wurde IVB4 mit der administratorischen und bürokratischen Bearbeitung dieses Falls beauftragt und so wurde von Heydrich befohlen, daß in dem Dienstgebäude, in dem mein Referat untergebracht war, diese Besprechungen stattzufinden hätten. Und so erklärt sich dann hier die Formulierung, »mein zuständiger Referent«. Es ist dies weder eine Formulierung »zuständiger Referent des Reichssicherheitshauptamtes«, sondern aus dieser bürokratisch-administrativen Notwendigkeit heraus geboren, möchte ich einmal sagen. [Im weiteren Verlauf der Befragung Eichmanns durch seinen Verteidiger legte Dr. Servatius dem Gericht diverse Dokumente betreffend die beiden Nachfolgekonferenzen vom 6. März 1942 und 27. Oktober 1942 sowie zur Frage der Sterilisation von »Mischlingen« vor. Eichmann betonte, dass er weder an diesen Konferenzen teilgenommen, noch dass IVB4 mit diesen Fragen befasst war. Servatius legte dann Dokument T/734, Urkunde 119 vor: Bericht eines Düsseldorfer Polizeiinspektors vom 9.3.42 über eine Besprechung mit Eichmann im Amt IV B 4 betreffend die unmittelbar bevorstehenden Deportationen aus dem Reichsgebiet, Wien, Prag und dem Protektorat. Eichmann verwies dabei auf das strikte Verbot Heydrichs, unerwünschte ältere Juden in die Osttransporte zu geben, wie das bereits öfter geschehen sei. Die Übersiedlung ins »Altersghetto« Theresienstadt geschehe laut Eichmann, um »nach außen das Gesicht zu wahren«.] Servatius: Herr Zeuge, wollen Sie zu dieser Bemerkung Stellung nehmen. […] A.: Es waren diese Formulierungen in jener Zeit unter dem Begriff »Sprachregelung« von Himmler verfügt worden. Und gemäß diesen Befehlen, die über den Chef der Sicherheitspolizei von Müller kamen, wurden sie für den Aktengebrauch vorgeschrieben. Nicht immer hielt man sich an diesen Befehl aus dem einfachen Grunde, weil er oft im Diktat übersehen und vergessen wurde. Jedoch wurde in der Mehrzahl der Fälle dann diese Angelegenheit spätestens durch den Amtschef IV bei Durchgang der Akten durch seine Hand moniert und zur Änderung befohlen. Ich darf zur näheren Erklärung noch Folgendes ausführen: Dieses Dokument steht in unmittelbarer Beziehung zum Ergebnis der Wannsee-Konferenz. Und wiederum steht dieses Dokument in direktem Zusammenhang mit dem zu Beginn der heutigen Sitzung behandelten Dokument T/730 [Eichmanns Schnellbrief vom 31. Januar 1942 zur Vorbereitung der Deportationen aus dem Deutschen Reich], worin festgehalten wird, daß die einzelnen örtlichen Stellen verhalten worden sind, die Zahlen der für die Evakuierung in Frage kommenden Juden dem Reichssicherheitshauptamt mit Ausnahme der in diesem Erlaß festgesetzten Ausnahmen zu berichten. Diese Zahlen lagen nun also vor. Auf Grund dieser Zahlen mußte mein Dezernat befehlsgemäß mit dem Reichsverkehrsministerium den Fahrplan erstellen, denn die Deportierung war in der Wannsee-Konferenz festgelegt. Es handelt sich, nebenbei
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bemerkt, um die 3. Evakuierungswelle, zwei Evakuierungswellen waren dieser vorausgegangen im Jahre 1941. Und nun hatten sich bei diesen beiden Evakuierungswellen im Jahre 1941, die beiden ersten großen Evakuierungswellen von Juden aus dem Reichsgebiet nach dem Osten, Schwierigkeiten ergeben, die der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Heydrich, damals persönlich erfuhr und der in Zukunft die einzelnen Staatspolizeistellenleiter persönlich verantwortlich machte für die strikte Durchhaltung dieser Richtlinien. […] Richter Halevi: Ich habe noch eine Frage über die vorige Antwort, die ich nicht verstanden habe. Sie sagten Dr. Servatius, Sie erklärten dem Dr. Servatius mit den Worten, um nach außen das Gesicht zu wahren. Daß dies eine Sprachregelung war, so nannten Sie das, zum Zweck der Benutzung in den Akten, ich verstehe das nicht. Ich glaube, das ist eine Sprachregelung für Amtsaktengebrauch, eine Umschreibung, also an Stelle von Evakuierung, Aussiedlung zu schreiben, oder an Stelle von Vernichtung es Endlösung zu nennen, aber hier handelt es sich über die Einweisung der alten Juden nach Theresienstadt und das sagten Sie, das geschieht, um nach außen hin das Gesicht zu wahren, warum ist denn das eine Sprachregelung? A.: Ich habe mich wahrscheinlich nicht genug deutlich ausgedrückt. Nicht für den Aktengebrauch ist diese Sprachregelung gefunden worden, sondern diese Sprachregelung ist erfunden worden wenn man darüber nach außen hin in Verhandlungen u.s.w. zu sprechen hatte, und wenn man nun über diese Verhandlungen, Besprechungen einen Aktenvermerk anlegte, so ist diese Sprachänderung, selbstverständlich automatisch auch in die Akten hineingekommen, das Primäre lag hier auf den Willen Himmlers außen hin diese Sprachregelung zu gebrauchen. Richter Halevi: Welche Sprachregelung? A.: Das Gesicht zu wahren im Hinblick auf die Deportierungen nach dem Osten, wo die Umstände, unter denen die Deportierten dann leben mußten, ja weit aus ungünstiger waren, als in Theresienstadt, so wünschte Himmler nunmehr hier durch sein Altersghetto Theresienstadt gewissermaßen ein Aushängeschild zu machen und befahl dies auch, damit man des Glaubens wäre, so würde in Deutschland die Judenfrage gelöst, das ist der kurze Sinn. Richter Halevi: Noch eine Frage, auf der zweiten Seite gibt es einen Satz: »dürfen die Juden unter keinen Umständen Kenntnis erhalten, daher ist absolute Geheimhaltung erforderlich.« Warum war das notwendig? A.: Die meisten derartigen Akten wurden im Reichssicherheitshauptamt entweder geheim oder auch unter geheimer Reichssache geführt, gemäß dem Befehl. Richter Halevi: Wozu, warum? A.: Damit nach Außen die polizeilichen Vorbereitungen nicht in Erscheinung traten. Das wurde jeweils befohlen. […]
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93. Sitzung am 12. Juli 1961: Fortsetzung des Kreuzverhörs Adolf Eichmanns durch den Generalstaatsanwalt Gideon Hausner und den Vorsitzenden Richter des Bezirksgerichts Jerusalem Moshe Landau [Der Generalstaatsanwalt versuchte mit diversen Dokumenten zu belegen, dass andere Ämter ihre Anfragen oder Korrespondenz zu antijüdischen Massnahmen direkt an die Person Eichmann richteten – nicht an seine Vorgesetzten. Er führte eine Nachkriegsaussage von Prof. Six an, dass die Einzelheiten und Kenntnisse betreffend die Judenverfolgung in Eichmanns Hand lagen.] […] Angeklagter: Ich war nicht in Judenangelegenheiten der Mann, an den man sich zu wenden hatte. Es stimmt hingegen, daß ich durch die Berichterstattung, und klare Berichterstattung, zu der ich verhalten war, von oben nach unten und von unten nach oben als Übermittlungsstelle hinreichend orientiert gewesen bin und auch Auskunft hätte erteilen können. Aber ich war nicht der Mann in Judenangelegenheiten. […] Generalstaatsanwalt: Die Weisungen, die Sie sofort nach der Wannsee-Konferenz herausgaben, ich meine die Weisungen bezüglich der Deportationen, waren ein Teil der Endlösung, nicht wahr? A.: Jawohl, das stimmt. G.: Und von da ab hängt die Endlösung von zwei Gegebenheiten ab: Die Zahl der Aufnahmeplätze in den Lagern im Osten, die Aufnahmemöglichkeiten der Lager im Osten, und die Zahl der Eisenbahnzüge, die zur Verfügung gestellt werden konnten. Stimmt das? A.: Die Dinge hingen ab von der Befehlsgebung meiner Vorgesetzten. Davon hingen sie in erster Linie ab. […] Vorsitzender: Die Frage ist nach den physischen Möglichkeiten der Vernichtung gerichtet – so verstehe ich die Frage und das hängt wohl von zwei Faktoren ab – wie der Generalstaatsanwalt erwähnte – die Transportmöglichkeiten und die Aufnahmemöglichkeiten. Ist das richtig? A.: Das ist im Prinzip richtig, Herr Präsident, es mußte dem vorausgehen: die Befehlsgebung. Vorsitzender: Ist recht. Generalstaatsanwalt: Aber es gab doch schon den Befehl – es gab den Befehl den Führerbefehl vom Sommer 1941 und Sie sahen doch diese Urkunde von Göring unterzeichnet. A.: Dann hätte es ja praktisch so sein müssen, daß nach der Wannseekonferenz beispielsweise Heydrich zu mir gesagt haben müßte: » … So, Eichmann, es ist alles erledigt, genehmigt, jetzt sehen Sie zu, machen Sie was Sie wollen, aber es muß Ruck-Zuck die Sache erledigt werden.« Es war eben nicht so gewesen, sondern Himmler hat jeweils immer wieder Befehle gegeben, wieder Befehle gegeben und da mußten all die vielen hundert Stellen, die daran irgendwie eingespannt waren, das ihre erledigen und so war auch ich bedauerlicherweise in einen solchen Rahmen eingespannt und hatte im Zuge dieser Maßnahmen die mir befohlenen Angelegenheiten zu erledigen – das habe ich
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nie geleugnet und leugne es auch nicht. Ich kann es nicht leugnen, weil es nun mal so passiert ist … G.: … weil so viele Dokumente da sind … A.: Nein, weil es so passiert ist … G.: Gut also, wir wollen sehen was war … Nehmen wir also T/730 – unsere Nummer 1278. […] Das ist eine Weisung, die von Ihnen – von Ihrem Referat von Ihnen gezeichnet – ausgeht. »An alle Stapo-Leitstellen im Altreich – an die Stapoleitzentrale in Wien – an die Zentralstelle für jüdische Auswanderung Wien – mit einer Weisung an alle Kommandeure – Inspekteure – der Sicherheitspolizei und des SD im Altreich und an den Inspekteur der Sicherheitspolizei in Wien.« Das wird sofort gleich nach Wannsee am 31. Januar 1942 herausgegeben. Und hier heißt es in der Urkunde, die – wie ich sagte – von Ihnen unterschrieben ist, – hier heißt es, daß die in der letzten Zeit in einzelnen Gebieten durchgeführte Evakuierung von Juden nach dem Osten den Beginn der Endlösung der Judenfrage im Altreich, in der Ostmark und im Protektorat Böhmen und Mähren darstelle. Und im zweiten Abschnitt heißt es, daß die Staatspolizei-Leitstellen nun die Teilaktionen abzuwickeln haben und daß nur die Aufnahmemöglichkeiten im Osten und die Transportschwierigkeiten zu berücksichtigen seien. Und daher hatte ich recht, als ich Ihnen sagte, daß nur diese die praktischen Probleme darstellten. Vorsitzender: Gut. Inzwischen hat er dem bereits zugestimmt. G.: Aber er sagte, er hätte Sonderbefehle für jeden Fall benötigt und ich sagte: nein, es war nicht notwendig, Sonderbefehle zu erhalten – Abwicklung und Teilaktion. Es waren also keine Sonderbefehle mehr notwendig und das Problem war nur: die Abwicklung von Teilaktionen. […] 99. Sitzung am 17. Juli 1961: Fortsetzung des Kreuzverhörs Adolf Eichmanns durch den Generalstaatsanwalt Gideon Hausner […] Generalstaatsanwalt: Einer der Zwecke der Wannsee-Konferenz war, die Endlösung der Judenfrage hier im Generalgouvernement in die Hände Heydrichs zu geben. Stimmt das? Angeklagter: Jawohl, das stimmt. G.: Und der Vertreter des Generalgouvernements teilte mit in Wannsee, daß er damit einverstanden sei, daß Heydrich und sein Amt die Endlösung der Judenfrage … auch im Gebiet des Generalgouvernements zur Durchführung bringen. Stimmt das? A.: Ich glaube, es heißt, daß der Chef der Sicherheitspolizei [und] SD die Endlösung der Judenfrage im Generalgouvernement zur Durchführung bringen sollte. Die Formulierung ist mir nicht gegenwärtig. G.: Auf jeden Fall, der Generalbefehl Görings, welchen Heydrich in der Wannseekonferenz mitteilte, daß [er] Heydrich mit der Durchführung, mit der Endlösung der Judenfrage beauftragt hätte, fand seine Anwendung auch auf das Generalgouvernement. Stimmt das?
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A.: Das glaube ich sicher, wenngleich an sich, glaube ich, die Wannseekonferenz in erster Linie die Freimachung Europas von den Juden bedeutete, glaube ich. Aber [so] sagte Bühler, der Führer hätte eine Formulierung gebraucht, die lautet, daß – im Generalgouvernement oder mit dem Generalgouvernement, das weiß ich nicht, begonnen werden möge. Und Luther hatte die Länder Europas behandelt. Vorsitzender Richter: Auf jeden Fall wollen wir doch mal einstimmig sein darüber, daß Polen innerhalb Europas ist. Das ist wohl klar, nicht wahr? A.: Ja, das ist klar? [Hausner versuchte nun dem Referat IV B 4 und damit Eichmann, dann ersatzweise dem RSHA die Zuständigkeit auch für die Ermordung der polnischen Juden zuzuschreiben. Eichmann wehrte sich dagegen mit Hinweis auf die unmittelbare Befehlsgebung durch Himmler an Globocnik und an die Höheren SS- und Polizeiführer in Polen.] G.: Und als sie mit Heydrich und Müller über die Stamperl Likör nach der Wannsee-Konferenz zurückblieben und sich freundschaftlich unterhielten, wurde nicht darüber gesprochen, daß man dem Wunsche Bühlers nachkommen solle? A.: Das glaube ich auf gar keinen Fall, denn es wurde, so viel mir noch erinnerlich ist, ist Heydrich damals sehr aufgeräumt gewesen, weil er schließlich Schwierigkeiten erwartet hatte, diese Schwierigkeiten traten nicht ein, und deswegen seine Aufgeräumtheit um jene Zeit, aber über die sachlichen, dienstlichen [Fragen] wurde weiters, soviel ich mich noch erinnern kann, nicht gesprochen, und ich kann mich an diese Sache etwa erinnern, weil ich noch die Umgebung sehe, dieses Gebäude, d.h. das Innere, wo die Besprechung stattgefunden hat. […] 100. Sitzung am 18. Juli 1961: Fortsetzung des Kreuzverhörs Adolf Eichmanns durch den Generalstaatsanwalt Gideon Hausner […] Generalstaatsanwalt: In der Wannseekonferenz nahm von ihrem Dezernat auch Günther teil, nicht wahr? Angeklagter: Nein Günther nahm nicht teil. G.: Günther war anwesend oder nicht? A.: Günther war nicht anwesend. G.: Also was auf der Seite 114 Ihrer Memoiren geschrieben steht – Dokument T/44 – in dieser Angelegenheit ist angeblich nicht richtig, das ist, was Sie Sagen wollen? A.: Dann müßte ich mich geirrt haben, Günther war jedenfalls nicht auf der Konferenz anwesend u.[nd] zw.[ar] aus dem ganz einfachen Grunde, weil ihn ja die Anwesenheitsliste mit angeführt hätte. G.: Aber so schrieben Sie dort. Bitte sehen Sie sich das mal an! Ich bezeichne Ihnen die Stelle in der Mitte der Seite 114 Ihrer Memoiren. Sie schrieben das sogar dort. A.: Ja, hier hat mich mein Gedächtnis verlassen. Es stimmen zwei Punkte nicht. Erstens einmal: Günther hat nicht teilgenommen, auch die Mehrzahl der Amtschefs stimmt z. B. nicht.
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G.: Ihr Gedächtnis scheint Sie also gründlich zu täuschen. Was nun betreffs [der] Abfassung der Niederschriften der Wannseekonferenz – also das Protokoll, die Niederschrift – ist [diese] richtig oder nicht richtig? A.: Ja, die habe ich selber gemacht. G.: Und die Niederschrift ist richtig? A.: Die Niederschrift ist meines Erachtens richtig, jawohl. G.: Auch die Zahl: 11 Millionen Juden, die zu liquidieren seien – ist auch richtig – nicht wahr? A.: Bei den Zahlen bin ich erst jetzt – in der neueren Zeit daraufgekommen, daß bei den Zahlen etwas nicht stimmt. Bei Frankreich z. B. – aber ich weiß nicht, vielleicht ist es auch möglich, daß ich schon damals die Zahlen falsch geschrieben habe. [Der letzte Halbsatz ist von Eichmann – nach eigener Überprüfung anhand des aufgezeichneten Originaltons – unpersönlich formuliert worden: »Bei Frankreich z. B. – aber ich weiß nicht, vielleicht ist es auch möglich, daß schon damals die Zahlen falsch geschrieben wurden.« Die englische Übersetzung nach dem Originalton ist richtiger: »For example, France … but I do not know for sure, perhaps it is also possible that the figures at that time were already put down incorrectly.« The Trial, Vol. IV, S. 1723] G.: Aber geben Sie doch zu, daß dort über 11 Millionen Juden gesprochen wurde, für die die Endlösung zu finden sei. Stimmt das? A.: An sich glaube ich, daß die Zahl, die gemeint worden ist, die ich seinerzeit zusammenstellen mußte, als [der] in Europa vorhandenen Juden. Nun waren nicht alle Gebiete, den Deutschen zugängig gewesen. G.: Richtig, Ihr inkludiertet dort alle Juden der Sowjetunion, Englands, Portugals u.s.w., in guter Hoffnung, daß Ihr ganz Europa beherrschen würdet und dadurch in Euerem Machtbereich sich 11 Millionen Juden befinden würden. Das stimmt? A.: Ich hatte den Befehl, die Gesamtzahl der Juden, der in Europa lebenden Juden … G.: Das war nicht meine Frage. Ich möchte wissen, ob dort die Zahl 11 Millionen Juden behandelt wurde? Vorsitzender Richter Moshe Landau: Ist denn die Niederschrift als solche, an sich allein, nicht bindend? Der Angeklagte sagte, daß die Niederschrift richtig sei, und damit ist auch wohl das Kapitel zu Ende. […] 106. Sitzung des Gerichts am 21. Juli 1961: Vernehmung Adolf Eichmanns durch den beisitzenden Richter Yitzhak Raveh […] Raveh: Zur Wannsee-Konferenz haben Sie Heydrich das statistische Material geliefert. Angeklagter: Jawohl. R.: Wann ungefähr haben Sie das vorbereitet? A.: Das hatte ich etwa 14 Tage, 3 Wochen, so schätze ich heute, vor Beginn des ursprünglich vorgesehenen Termins im Dezember 1941 war das vorbereitet gewesen. R.: Also ungefähr November, Anfang Dezember 1941?
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A.: Um diese Zeit muß es gewesen sein. R.: Was waren Ihre Quellen? A.: Die Quellen, soviel ich mich erinnere, waren damals einmal jüdische Jahrbücher, vor allen Dingen war es aber dann auch die Berichterstattung aus allen möglichen Teilen, Anfragen mittels Fernschreiben an die verschiedenen Stellen, wo die Zahlen fehlten, dann Rückfragen bei örtlichen Stellen, kurz und gut, ich habe damals alle Möglichkeiten, die mir zur Verfügung standen, ausgenützt, um das Zahlenmaterial zu erhalten. R.: Inklusive Berichte der Einsatzgruppen. A.: Sicherlich habe ich die auch mitbenutzt, obwohl ich das nicht weiß. Denn hier wurde ja eine globale Zahl, glaube ich, genommen. Es wurde ja jedes Land für sich genommen, nicht aufgeteilt nach Regionen. R.: Bei Ihrer polizeilichen Vernehmung haben Sie bestätigt, gesagt, daß Sie die Einsatz gruppenzahl(en) verwertet haben. Wenn Sie das nicht haben, so zeige ich Ihnen das. A.: Ich will es gar nicht ableugnen, es ist möglich, denn als Korherr später seinen Bericht machte, wurde ja auch alles angegeben. […] R.: Jetzt Wannsee. Es gibt hier im Protokoll einen Passus, da steht geschrieben: »Abschließend wurden die verschiedenen Arten der Lösungsmöglichkeiten besprochen.« Entsinnen Sie sich daran? Oder wollen Sie das sehen? A.: Ich entsinne mich, daß es drin steht, Herr Richter. R.: Vielleicht entsinnen Sie sich noch, was da besprochen wurde? A.: Die verschiedenen Arten der Lösungsmöglichkeiten fingen an, das war ein Überblick gewesen über das … R.: Nein, nein, vorher war: »haben die verschiedenen Staatssekretäre ihre verschiedenen Meinungen gesagt«. A.: Jawohl. R.: Und dann kommt: »Abschließend wurden die verschiedenen Arten der Lösungsmöglichkeiten besprochen.« A.: Nachdem die … bereiten, nein, ich weiß schon, Herr Richter. Ich habe gedacht, das wäre im Anfang gewesen, der Überblick von Heydrich … Staatssekretär … R.: Gucken Sie sich das lieber an. Also vielleicht entsinnen Sie sich, was man da gesprochen hat? A.: Da sind die verschiedenen Tötungsmöglichkeiten besprochen worden. R.: Verschiedene Tötungsmöglichkeiten? A.: Jawohl. R.: Jetzt müssen Sie mir erklären, warum nach der Konferenz ausgerechnet die 3 Männer – Heydrich, Müller und Eichmann – zusammengeblieben sind und gefeiert haben? A.: Wieso gefeiert haben? R.: Heydrich und Müller verstehe ich, warum Eichmann, warum auch Eichmann? A.: Weil ich das Protokoll machen mußte. Ich hatte ja während der ganzen Zeit mit der Schreibkraft das Protokoll zu fertigen, und im Anschluß an die Besprechung mußte das Protokoll sofort ausgearbeitet werden.
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Vorsitzender: Ruhe, bitte. R.: Bisher habe ich verstanden jedenfalls, daß Sie Drei sind zurückgeblieben »to relax«, sich etwas zu erholen. Heydrich war zufrieden, er befürchtete, es wären Schwierigkeiten, er hat geraucht, was Sie damals kaum je sonst gesehen haben, und man hat um den Kamin herum gesessen, hat mit dem Protokoll nichts zu tun gehabt, wie Sie bisher gesagt haben. A.: Ja, ja, nein, nein, da wurde auch, in diesem Augenblick wurde auch am Protokoll nichts gearbeitet. R.: Gut. Also, warum wurde Eichmann als dritter Mann zu diesem Sitzen am Kamin herangezogen? A.: Weil, kaum waren wir 3 allein geblieben und es war niemand mehr da, da gab Heydrich bekannt, wie er das Protokoll aufgefaßt zu wissen wünscht, und nachdem er diesen Punkt bekanntgegeben hatte, dann wurde von diesen Angelegenheiten nichts mehr gesprochen, sondern ich wurde gebeten ein Glas Cognak zu trinken oder zwei oder drei. So kam das. Und im Anschluß daran, dann fuhr jeder nach Hause und ich stellte mich hin und machte die nötigen Weisungen Heydrichs für das Protokoll, so daß diese Worte in dem Protokoll meine Worte sind, mit Ausnahme jener Stellen, die Heydrich eben dann verbessert, ergänzt oder zu verbessern gewünscht hat. R.: Jetzt kommen wir zu Pontius Pilatus. Da haben Sie uns gesagt, da haben Sie das Gefühl gehabt von Pontius Pilatus. A.: Jawohl. R.: Die Frage von Pontius Pilatus hat Sie noch einmal beschäftigt und ich zeige Ihnen etwas und habe einen bestimmten Passus angestrichen. T 43 g. A.: Das habe ich geschrieben. R.: Wann haben Sie das geschrieben? A.: Wann ich das geschrieben habe, weiß ich nicht mehr. Ich glaube, das habe ich in Haifa geschrieben. R.: Vielleicht haben Sie da geschrieben. Jedenfalls ich zeige Ihnen den Passus. Lesen Sie den Passus mal vor. A.: Jawohl. »Trotz allem weiß ich natürlich, daß ich meine Hände nicht in Unschuld waschen kann, weil die Tatsache, daß ich ein absoluter Befehlsempfänger war, heute sicherlich nichts mehr bedeutet.« R.: Also, wie kommen die beiden Sachen zusammen? A.: [Es folgen umständliche Ausführungen mit der zentralen Aussage, dass bei der rückwirkenden Anwendung heutiger Gesetze er als schuldig betrachtet werde, obwohl er nur Befehlsempfänger gewesen sei und alles Erdenkliche getan habe, um nicht im Judenreferat zu bleiben. In seinem Inneren fühle er sich unschuldig.] R.: Was (das) Händewaschen vom Jahr 1942 anlangt, das war eine Art Mentalreservation? A.: 1942? R.: Ja, nun, Wannsee, bei der Wannsee Konferenz. A.: Ah, Wannsee Konferenz. R.: Ja, das war eine Art Mentalreservation?
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A.: Ja, nun hier dachte ich mir – hier sitzen ja nun alle Großköpfigen beisammen nach dem ich … R.: Sie haben das nicht gesagt (zu) Heydrich und Sie haben das nicht gesagt (zu) Müller? [Dass er um eine andere Dienstverwendung nachsuche.] A.: Nein, nein. Das habe ich auch gesagt. […] 107. Sitzung am 24. Juli 1961: Verhör Adolf Eichmanns durch den Vorsitzenden Richter Moshe Landau […] Richter: Jetzt wegen des Wannseeprotokolls – wegen der Wannseetagung – haben Sie meinem Kollegen, dem Richter Raveh, geantwortet, daß in dem Teil, der nicht im Protokoll erwähnt ist – über Tötungsmethoden gesprochen wurde. Angeklagter: Jawohl. R.: Wer hat über dieses Thema gesprochen? Da? A.: Im einzelnen ist mir diese Sache heute nicht mehr gegenwärtig, Herr Präsident, aber ich weiß, daß die Herren beisammen gespannt und beisammen gesessen sind und da haben sie eben in sehr unverblümten Worten – nicht in den Worten, wie ich sie dann ins Protokoll geben mußte, sondern in sehr unverblümten Worten die Sache genannt – ohne sie zu kleiden. Ich könnte mich dessen auch bestimmt nicht mehr erinnern, wenn ich nicht wüßte, daß ich mir damals gesagt hätte: schau, schau der Stuckart, den man immer als einen sehr genauen und sehr heiklen Gesetzesonkel betrachtete und da hier wars eben der Ton und die ganzen Formulierungen waren hier sehr unparagraphenmäßig gewesen. Das einzige, möchte ich sagen, das mir noch effektiv dieserhalb im Gedächtnis haften geblieben ist. R.: Was hat er über dieses Thema gesagt? A.: Im einzelnen, Herr Präsident, möchte ich … R.: Nicht im einzelnen – im allgemeinen! A.: Es wurde von Töten und Eliminieren und Vernichten gesprochen. Ich selber hatte ja meine Vorbereitungen zu machen für die Protokollangelegenheit – ich konnte nicht dastehen und einfach zuhorchen – aber die Worte drangen eben zu mir herein – zu mir ran, denn das Zimmer war ja nicht zu groß gewesen, als daß man in dem Wortschwall nicht einzelne Wörter hätte aufgeschnappt …. R.: Ich dachte, das war im offiziellen Teil der Tagung? A.: Der offizielle Teil – der hat nicht sehr lange gedauert, das war der … R.: War das in dem offiziellen Teil oder nicht – ich dachte mir, das war in dem offiziellen Teil, weil das im Protokoll erscheint und … A.: Es war auch im offiziellen Teil, Herr Präsident, aber der offizielle Teil, wenn man so will, der setzte sich wieder aus zwei Teilen zusammen – nämlich der Anfang – wo alles ruhig gewesen ist und zu gehorchen hat und dann gegen das Ende zu, wo die Sache durcheinandergesprochen wurde und wo die Ordonnanzen überreichten die ganze Zeit Cognac oder andere Getränke und es ist nicht, daß etwa eine alkoholische Wirkung zustande-
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gekommen wäre – ich will damit nur sagen, es war eine offizielle Angelegenheit – aber doch wieder keine chefoffizielle Angelegenheit, wo jeder ruhig war und jeder jeden ruhig aussprechen ließ, sondern wo am Ende alles durcheinander gesprochen wurde. R.: Aber auch diese Sachen wurden von den Stenographen oder der Stenographen [sic, vermutlich Tippfehler anstatt »Stenographin«, in der englischen Edition »by the male or the female stenograhper«] aufgenommen? A.: Von den Stenographen. [»Taken down from the male stenographer.«] Jawohl. R.: Und Sie haben anscheinend dann den Auftrag bekommen, das nicht in das offizielle Protokoll hineinzuschreiben. A.: Jawohl, das war so gewesen. Die Stenotypistin saß neben mir und ich hatte dafür zu sorgen, daß das alles aufgenommen wird. Und nachher hatte dann die Stenotypistin [beide Male in Englisch geschlechtsneutral: »the shorthand-typist«] das abgeschrieben und Heydrich hat dann bestimmt, was in das Protokoll hineinkommen soll und was nicht. Und dann hatte er es gewissermaßen noch abgeschliffen und damit war die Sache fertig. R.: Und was über dieses wichtige Thema gesprochen wurde, daran erinnern Sie sich überhaupt nicht. A.: Herr Präsident, wenn ich das wüßte, was das Wichtigste ist … R.: Entschuldigen Sie, ich habe nicht gesagt das Wichtigste, ich sagte »ein wichtiges Thema«, so wichtig, daß man es … (Auslassung) kann. [»so important that it was then left out«] A.: Nein, im Gegenteil, Herr Präsident, das Wesentliche wollte Heydrich in das Protokoll verankert wissen, weil er die Staatssekretäre »annageln« wollte und im Protokoll verhaften wollte. Wie soll ich das nennen, gerade um Hitler, das Wesentliche ist im Protokoll drin und das Unwesentliche das hat er ausgelassen, weil er sich hier gewissermaßen die – wie soll ich das sagen – eine Art Rückversicherung geschaffen hat, indem er die Staatssekretäre einzeln festgenagelt hat. R.: Das soll also heißen, daß die Tötungsarten ein unwichtiges Thema war? A.: Ah, die Tötungsarten! R.: Darüber sprechen wir. A.: Das hat er nicht hineingenommen, nein, nein. R.: Wurde damals über Tötung durch Gas gesprochen? A.: Nein. Durchaus nicht, mit Gas nicht. R.: Sondern wie? A.: Es war die Motoren-Geschichte Gegenstand der Erörterung, soweit ich mich erinnere. R.: »Es wurden die verschiedenen Arten der Lösungsmöglichkeiten besprochen, wobei von Gauleiter Mayer, Staatssekretär Bühler der Standpunkt vertreten wurde, gewisse vorbereitende Arbeiten im Zuge der Endlösung gleich in den betreffenden Gebieten selbst durchzuführen sind, wobei jedoch eine Beunruhigung der Bevölkerung vermieden werden müsse.« Können Sie sich daran erinnern? A.: Verzeihung, ich habe das nicht verstanden. R.: Haben Sie das nicht verstanden, ich werde es Ihnen nochmals vorlesen.
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A.: Jawohl. R.: Über welche Arbeiten wurde hier gesprochen? Was war hier gemeint? A.: Da kann ich mir nichts anderes darunter vorstellen, und das habe … R.: Nicht vorstellen. Ich frage Sie weiter, wie auch der Generalstaatsanwalt immer Sie gefragt hat, »Woran können Sie sich erinnern?« Das war hier ein Wendepunkt, nicht wahr? A.: Ich hatte vorher die vorbereitenden Arbeiten im Gebiet Lublin gesehen. Ich … das, wo die zwei Häuschen gemacht wurden, hermetisch abgeschlossen wurden, anläßlich meines … R.: Das haben wir schon gehört. Ich will wissen, was bei dieser Tagung war, was damals darüber gesprochen wurde. Daran können Sie sich nicht erinnern? A.: Ich weiß nicht, was in dieser Angelegenheit besprochen wurde, die Sie meinen. Wie es heißt »An Ort und Stelle, ohne die Bevölkerung zu beunruhigen«, so konnte ich mir gar nichts anders vorstellen, als daß solche Anlagen gemeint waren, wie ich sie kurz vorher gesehen habe. R.: Haben Sie damals berichtet über das was Sie gesehen haben? A.: Bei der Wannseekonferenz habe ich überhaupt kein Wort gesagt. Ich war auch nicht autorisiert dazu. R.: Wer hat über diese technischen Fragen berichtet. A.: Es hat eigentlich niemand berichtet, es hat Heydrich gesprochen und dann sprachen die Leute durcheinander, es ist möglich, daß, es ist möglich aber ich weiß es nicht, daß Bühler vielleicht irgend etwas durchsagte und sicherlich wird Krüger hier auch mitgesprochen haben, denn Krüger war ja als Höherer Polizeiführer für das Generalgouvernement, war er ja der Chef gewissermaßen dieser ganzen Angelegenheit an Ort und Stelle. Globocnik war ja Krüger unterstellt gewesen, also hat Krüger als sein Chef sicherlich hier ganz genau Bescheid gewußt. R.: Aber Krueger hat sich nicht an der Wannseekonferenz beteiligt, nach der Anwesenheitsliste. A.: Aber er war zuvor schon bei Heydrich gewesen und hat erwirkt, daß Bühler daran teilnimmt. Und da hat Heydrich mit Krüger ausgiebig darüber gesprochen, ich mußte ja dessentwegen extra Einladungsschreiben an Krüger und an Bühler loslassen. […]
Dokument 14 Adolf Eichmann: Götzen, August/September 1961 Bettina Stangneth
Eichmann beendete sein umfangreichstes Manuskript in der Prozesspause im September 1961. Es diente unter anderem der Vorbereitung seines Schlusswortes, das er in die Einleitung übernehmen wollte. Die Vermarktung war ebenfalls geplant. Die 1.206 Seiten, von denen 676 zur Veröffentlichung bestimmt waren, wurden jedoch von den israelischen Behörden nicht freigegeben. Sie sind erst seit dem 27. Februar 2000 zugänglich, weil sie für den Irving-Lipstadt-Prozess in London als Beweismittel zur Verfügung gestellt wur-
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den. Das Original liegt im israelischen Staatsarchiv. Eine Transkription des Textes findet sich auch im Internet. Der Abdruck folgt der Transkription von E. Friesel (1999), die behutsam um Flüchtigkeitsfehler reduziert wurde. Es wird sowohl die Paginierung des Staatsarchivs als auch die Adolf Eichmanns (AE) verzeichnet. /218 AE: 150/ Der Madagaskarplan war tot. Und am 20. Januar 1942 fand unter Heydrichs Vorsitz im Gebäude der »Internationalen-Kriminalpolizeilichen-Kommission«, Am Großen Wannsee bei Berlin die mehrmals verschobene Besprechung statt. Ich hatte mit einer Stenotypistin das Protokoll zu erledigen, nachdem ich schon Wochen vorher, Heydrich, das für seine Rede benötigte zahlenmäßige Unterlagenmaterial besorgen mußte. Der Staatssekretär des Reichsinnenministeriums, Dr. Stuckart, der sonst so vorsichtige und abwägende Beamte, ging an diesem Vormittag sehr forsch an das Werk, indem er knapp und formlos erklärte, die »Zwangssterilisierung« und die gesetzlich noch zu erlassende Anordnung »Mischehen sind geschieden«, sei die einzige Lösungsmöglichkeit des Mischehen- und Mischlingsproblems. Auch Luther vom Auswärtigen Amt, der äußerst aktive Unterstaatssekretär Ribbentrops, brachte zu Heydrich Staunen seine Wunschliste vor, aus der die Bedenkenlosigkeit des Auswärtigen Amtes, Deportationen aus den beeinflußten Ländern Europas durchzuführen, klar hervorging. /219 AE: 151/ Der Staatssekretär Bühler trug Sorge, man könne bei dieser Gelegenheit das Generalgouvernement, in dessen Regierung er saß, stiefmütterlich behandeln und bat darum, mit dem Generalgouvernement zu beginnen. Denn einmal seien die Juden seines Gebietes als Seuchenträger zu bezeichnen und zum anderen stünden weder arbeitseinsatzmäßige Gründe, noch Transportschwierigkeiten einer Umsiedlung hindernd im Wege. Es nahmen ferner teil, der Chef des Rasse- und Siedlungshauptamtes SS-Gruppenführer Hoffmann, Gauleiter Dr. Meyer, der Präsident des Volksgerichtshofes, damals als Staatssekretär für das Reichsjustizministerium, Dr. Freisler, der bevollmächtigte Vertreter der Parteikanzlei und andere mehr. Seitens der Polizei waren außer Heydrich und Müller als Amtchef IV des Reichssicherheitshauptamtes, noch die Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD, Dr. Schöngarth und Dr. Lange vertreten. Dachte Heydrich, durch eine wohlgesetzte Rede überzeugend wirken und wie die Praxis es bislang zeigte, gegen allfällige Bedenken und Vorbehalte Stellung nehmen zu müßen, so konnte auf dieser Konferenz das gerade Gegenteilige festgestellt werden. In seltener Einmütigkeit und freudiger Zustimmung, forderten diese Staatssekretäre ein beschleunigtes Durchgreifen. Und es war die sachbearbeitende, federführende Prominenz, welche sich zur Beschlußfassung hier versammelt hatte. Und ihre Entscheidungen waren endgültig, /220 AE: 152/ denn sie waren von ihren Ministern und Chefs, bevollmächtigt, nicht nur bindendes Einverständnis zu erklären, sondern teilweise sogar, über von Heydrich Erhofftes, hinauszugehen. Und es wurde eine offene, unverblümte Sprache gesprochen.
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Wenn ich so, als Protokollant dieser seinerzeitigen Staatssekretärbesprechung, hier in Israel erstmalig die Aussagen der verschiedenen an der Konferenz teilgenommenen Größen studierte, die sie nach 1945, in eben derselben Sache von sich gaben, und wenn ich ferner die Aussagen ihrer Chefs in jenen Zeiten lese, dann muß ich nur sagen, daß es ebenfalls zum Staunen ist, wie wenig Mut diese ehemaligen Befehlsgeber, aufbrachten. Und solchen Kadetten hatte man Gehorsam bis in den Tod geschworen! Es waren in Wahrheit doch alles kleine, billige, armselige Geister ohne jeden Charakter. Geister, denen lediglich das Lametta ihrer hohen Dienstgrade oder die Durchschlagsmöglichkeit ihrer Dienststellung, in den Tagen ihres Glanzes, das nötige Auftreten und die Haltung verlieh. Aber hätte ich dies alles schon damals im Herbst 1939 erkannt, es hätte mir solches ebenso wenig genützt, wie auch anderen. Die Zivilisten in den Ämtern, freilich, die /221–222 AE: 153/ hatten es leichter. Der Uniformträger hatte nur zu gehorchen. Das Protokoll dieser Konferenz war lang, obgleich ich das Unwesentliche nicht einmal hatte stenographieren lassen. Heydrich arbeitete mit seinem Blaustift und ließ zum Schluß nur noch einen Extrakt gelten; den hatte ich zu bearbeiten und er wurde dann nach weiteren mancherlei Änderungen durch Heydrich, an die nichtsicherheitspolizeilichen Teilnehmer der Konferenz, als »Geheime Reichssache« zur Absendung gebracht. Die von Stuckart abgegebenen Erklärungen, er plädiere für Zwangsscheidung und Zwangssterilisierung waren neue Tatbestände, in einer Schärfe, wie sie selbst Heydrich überraschen mußten. Die Art und Weise der bürokratischen Bearbeitung im Hinblick auf die Detailregelung war noch unklar. Es wurde daher seitens der Konferenzteilnehmer besprochen, daß in Zeitkürze eine Besprechung der Sachbearbeiter der zuständigen Zentralinstanzen in den Räumlichkeiten meines Referates, in der Kurfürstenstraße 116, stattzufinden habe. Sie hätte ebenso gut im Amte II des Reichssicherheitshauptamtes – als die für juristische Dinge zuständige Dienststelle der Sicherheitspolizei – und wie die Dokumente es zeigten, sich auch mit Judenangelegenheiten befaßte, die mit Juristerei kaum oder schon gar nichts mehr zu tun hatten – stattfinden können; obzwar sie in der Prinz-Albrechtstraße reichlich wenig Platz hatten. Die Wannseekonferenz selbst wurde aus diesem Grunde auch nicht in der Heydrich´schen Zentrale der Albrechtstraße abgehalten. Außerdem fanden in jener Zeit umfangreiche Umbauten im Innern /223 AE: 154/ des Hauses statt. Es war ja ein Haus mit hundert Winkeln und Ecken, noch aus der alten Kaiserzeit stammend, und für einen modernen Behördenapparat kaum noch geeignet. Den Diensträumen der Amtchefs, insonderheit aber denen des Chefs der Sicherheitspolizei, wurden durch Innenarchitekten der Stil der neuen Zeit aufgeprägt. Ich fand ihn schön, weil er einfach und sauber war. Diese Besprechungen hätten ebenso gut aber auch im Innenministerium oder in der Parteikanzlei, dem Auswärtigen Amt, oder selbst wieder am Wannsee stattfinden können. Warum Heydrich gerade meine Dienststelle dazu bestimmte, weiß ich nicht. Aber er bestimmte es jedenfalls so. Denn daß ich sachlich nicht damit befaßt worden bin, zeigt die erste diesbezügliche Sitzung am 6. März 1942. Weder ich, noch irgendeiner der Angehörigen meines Referates, hatte daran teilgenommen. Das Besprechungsprotokoll mit der Anwesenheitsliste, zeigte dies deutlich. Der für diese Fragen zuständige Referent im Reichsministe-
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rium des Innern, Regierungsrat Dr. Fledscher [tatsächlich: Feldscher] erläuterte im einzelnen die Meinung seines Staatssekretärs, bezüglich seines am 20. Januar gemachten Vorschlages. Es war eine reine Angelegenheit der Juristen des Innenministerium, der Parteikanzlei, des Auswärtigen Amtes, der Reichskanzlei, des Rassepolitischen Amtes der NSDAP, des Rasse- und /224 AE: 155/ Siedlungshauptamtes, des Amtes II des Reichssicherheitshauptamtes, des Propagandaministeriums und der anderen zentralen Behörden. Diese Besprechung endete mit dem Einverständnis aller Anwesenden, jedoch Beschlüße wurden nicht gefaßt, da die Teilnehmer ja nur Referenten, ohne Entscheidungsbefugnisse waren.
Dokument 15 Adolf Eichmann: Auch hier angesichts des Galgens, Jahreswende 1961/1962 Bettina Stangneth Eichmann verfasste den Text zur Jahreswende 1961/62, nachdem er sich von dem Schock erholt hatte, den das Urteil für ihn bedeutete. Er ist von seinen Aggressionen geprägt, weil er sich einmal zu Unrecht verurteilt, vor allem aber von Deutschland im Stich gelassen fühlte. Dass sein Antrag auf Rechtsbeihilfe mit der Begründung, Eichmann sei »verteidigungsunwürdig« abgelehnt wurde, traf ihn offensichtlich in seiner Ehre. Der Text zeigt, wie schnell Eichmann in der Lage ist, Zusammenhänge je nach Stimmung ganz anders darzustellen und dazu alles zu integrieren, was er in der Zwischenzeit gehört hat, also beispielsweise problematische Themen wie Lösener. Abschrift im Nachlass Servatius, BArch AllProz 6/165, 15-6. Eine Kopie findet sich – wegen der ausführlichen Erwähnung Globkes und der Angriffe auf die Bundesrepublik – auch in der BND-Akte. Anlässlich der WANNSEE-KONFERENZ war es auch, dass ich glaublich erstmals von meinen Vorgesetzten den Namen Globke hörte, durchaus nicht in abfälligem Sinne, wie ich wohl hinzusetzen muss. Anscheinend wollte auch Staatssekretär Stuckart seinen nächsten Sachbearbeiter zur grossen Konferenz mitbringen. Was HEYDRICH oder Gestapo-Müller ablehnte, aus grundsätzlichen Erwägungen und Platzgründen, denn sonst hätte wohl jeder der hohen Herren seinen nächsten Mitarbeiter mitgebracht, denn in jenen Jahren als noch Orden und Beförderungen zu verdienen waren, drängte sich alles dazu, teilzuhaben an der »Endlösung«. »Seht nur, wie sie sich drängeln«, meinte Heydrich in seiner zynischen Art, »wenn die wüssten …« Nehmen wir einmal an, Heydrich als Gastgeber wäre damals grosszügiger gewesen, welch ungeahnte Möglichkeit. Die derzeit rechte Hand des bundesdeutschen Kanzlers wäre dann ebenfalls als Teilnehmer im Protokoll erwähnt und manch einer der heutigen Elite vielleicht auch! Und nicht am Katzentisch, wie der verteidigungsunwürdige Obersturmbannführer Adolf Eichmann, sondern dem Rang entsprechend neben oder direkt hinter einem Staatssekretär Stuckart. Solange Ministerialrat Lösener im M.d.I. [Ministerium des Innern] war, wurden wie mir in der Erinnerung scheint, die Dinge dort rein geschäftsmässig nach der Ochsentour behandelt.
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Nach seinem Ausscheiden wehte ein anderer Wind; da fing der Druck seitens des M.d.I. an; ich meine soweit ich dies beurteilen kann in der Judenfrage. Stuckart und seine Mitarbeiter wollten das Sterilisationsprogramm mit grossem Elan verwirklicht sehen. Damals wie heute waren Staatssekretäre mächtige Persönlichkeiten, die sich bestenfalls mit einem Ministerialdirektor oder Rat, aber niemals mit einem kleinen Referenten der, dass [!] Bleistift spitzend am Katzentisch sass, abgaben. […]
Dokument 16 Avner Less: Die Empfänger der 30 Ausfertigungen des Protokolls, 26. Januar 1982 Avner Less und Robert Kempner standen in freundschaftlichem Briefkontakt. Auf eine Frage Kempners gab er diesem Auskunft über die Empfänger der 30 Ausfertigungen. Nach dem Zitat der Briefpassage, in der Less angibt, diese Information von Eichmann erhalten zu haben, folgen als Scans die zwei Seiten Anlage zum Brief. Archiv: Bundesarchiv Koblenz, Bestand N 1470, Nachlass von Robert Kempner, Bd. 4, Nr. 120, ohne Foliierung.
[…] Was Ihre Frage betrifft, an welchen Personenkreis und an welche Ministerien das Protokoll der Wannsee-Konferenz geschickt wurde, hatte mir tatsächlich Eichmann während der Kontrolle des Tonbandes mit der Protokoll-Niederschrift gesagt, dass die dreissig Ausfertigungen der Wannsee-Konferenz ausser an alle Teilnehmer auch an die Empfänger der Einladung (die erste datierte vom 1. Dezember 1941, da die Konferenz schon am 9. Dezember 1941 stattfinden sollte, wegen des Angriffs auf Pearl Harbour dann auf den 20. Januar 1942 vertagt werden musste, wie Sie ja wissen) sowie die Ministerien ging, die dann später, als Folge auf die Wannsee-Konferenz, an den Sitzungen betreffs der Mischlinge teilnahmen. Ich habe diese Verteilerliste zusammengestellt und lege sie diesem Brief bei.
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Das Protokoll der Wannsee-Konferenz Überlieferung, Veröffentlichung und revisionistische Infragestellung1 Vor einigen Jahren nannte Peter Longerich das Protokoll der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 »eines der wichtigsten überlieferten Dokumente zur Planung und Organisation des millionenfachen Mordes an den europäischen Juden durch das NS-Regime«. Dieser Einschätzung, der sich die überwiegende Zahl der Fachkollegen wohl vorbehaltlos anschließen kann, fügte Longerich aber noch einen wichtigen Aspekt hinzu. »Durch dieses Dokument«, so Longerich im darauf folgenden Satz, »ist die Konferenz am Großen Wannsee als Synonym für den kaltblütigen, verwaltungsmäßig und arbeitsteilig organisierten Massenmord der NS-Zeit in der Erinnerung«.2 Longerich benannte damit zwei Charakteristika des Wannsee-Protokolls, die in vergleichbarer Weise kaum ein zweites Dokument der NS-Zeit aufweist: zum einen sein herausragender faktischer Stellenwert in Hinsicht auf den realgeschichtlichen Ablauf des Holocaust, und zum anderen seine mindestens ebenbürtige symbolische Bedeutung als Chiffre für den bürokratisch abgestimmten Völkermord an den Juden. Der Nimbus der Wannsee-Konferenz speist sich zu einem großen Teil aus der Suggestivkraft der sie umgebenden Umstände. Handelt es sich doch um eine Besprechung von hohen Funktionsträgern des NS-Staats, die nicht etwa im geschäftigen Regierungsviertel, sondern in geradezu idyllischer Abgeschiedenheit stattfand, eine Besprechung, die bei Brunch und Cognac ausklang, nachdem man sich zuvor über die geplante Ermordung von elf Millionen Menschen austauschte. Auch die Nachgeschichte unterstreicht, dass diese Konferenz aus dem Rahmen fällt, wissen wir Details über den Inhalt und Ablauf doch in erster Linie aus einem einzigen Exemplar des Konferenzprotokolls, das offenbar nur aufgrund von Zufällen der Vernichtung entging und dessen von Adolf Eichmann 1 Dieser Text stützt sich in Teilen auf: Christian Mentel, »Zwischen ›Jahrhundertfälschung‹ und nationalsozialistischer Vision eines ›Jewish revival‹. Das Protokoll der Wannsee-Konferenz in der revisionistischen Publizistik«, in: Gideon Botsch u. a. (Hg.), Politik des Hasses. Antisemitismus und radikale Rechte in Europa, Hildesheim u. a. 2010, S. 195–210. Dank für ihre Unterstützung und wertvolle Hinweise zu einzelnen Aspekten schulde ich neben den Herausgebern Norbert Kampe und Peter Klein vor allem Peter Grupp, Mark Roseman, Karsten Linne, Eckart Conze, Daniel Koerfer, Matt Surman, Trevor Helminski und nicht zuletzt Gideon Botsch, der diesen Aufsatz einer ebenso aufmerksamen wie kritischen Lektüre unterzog. 2 Peter Longerich, Die Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942. Planung und Beginn des Genozids an den europäischen Juden, Berlin 1998, S. 11.
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ersonnene Formulierungen als Inbegriff nationalsozialistischer Tarnsprache gelten können. Dass gleichwohl in »keinem anderen Dokument«, wie Wolfgang Scheffler einst anmerkte, »die Gesamtvorstellung zur Vernichtung der europäischen Juden deutlicher dargestellt«3 wurde, hebt das Protokoll aus der kaum überschaubaren Masse schriftlicher Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus heraus. Nachdem sich Historiker bislang vor allem auf den Inhalt und die Deutung dieser Quelle, aber auch auf deren Entstehungsprozess, die Hintergründe und die unmittelbaren Folgen konzentrierten, ist es naheliegend, dieses Dokument nun selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken und in seinen wesentlichen Merkmalen zu beschreiben. Der vorliegende Aufsatz setzt sich aus zwei Teilen gleichen Umfangs zusammen, wobei die Darstellung der Überlieferungsgeschichte sowie der Veröffentlichungsumstände des Wannsee-Protokolls und der Dokumente des engsten Umfelds den ersten Teil bildet. Im eng anschließenden zweiten Teil wird dann das seit Jahrzehnten zu beobachtende Phänomen, dass das Protokoll für Revisionisten unterschiedlichster Couleur eine der wichtigsten Zielscheiben darstellt, beleuchtet werden.4 Bereits an dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die revisionistischen Argumentationen, die das Wannsee-Protokoll entweder als Fälschung vom Tisch wischen oder zur Blaupause eines von den Nationalsozialisten angestrebten jüdischen Staats umdeuten, als Teil des revisionistischen Unternehmens insgesamt zu interpretieren sind. Als Fluchtpunkt dieser Bemühungen kann nicht nur die Marginalisierung des Holocaust gelten, sondern vielmehr dessen teilweise oder gänzliche Bestreitung. Während einige Revisionisten in ihrer Demontage der Quellenbasis des Holocaust an der schriftlichen Überlieferung ansetzen, bringen andere mittels vermeintlich naturwissenschaftlich-technischer Untersuchungen vor, dass die Gaskammern der Konzentrations- und Vernichtungslager nicht zur Ermordung von Menschen eingesetzt worden seien. Diese Publizisten nennen sich mit Bedacht »revisionistische Historiker« oder kurz »Revisionisten« – soll damit doch suggeriert werden, dass sie Teil einer historiographischen Traditionslinie seien und lediglich geschichtswissenschaftliche Standardprozeduren der Überprüfung und Neubewertung von Quellen und Erkenntnissen anwendeten. Gerade weil sie – zumindest im deutschsprachigen Bereich – fast ausschließlich dem rechtsextrem-(neo)nazistischen Spektrum zuzuordnen sind, bemühen sich die revisionistischen Autoren, als vermeintlich kritische Fachkundige einen seriösen Eindruck zu vermitteln, ihre Argumentationen sachlich zu formulieren, 3 Wolfgang Scheffler, »Die Wannsee-Konferenz und ihre historische Bedeutung«, in: Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz (Hg.), Erinnern für die Zukunft. Ansprachen und Vorträge zur Eröffnung der Gedenkstätte, Berlin [1992], S. 30. 4 Dieses wurde bereits thematisiert in: Scheffler, »Wannsee-Konferenz«; Peter Klein, Die WannseeKonferenz vom 20. Januar 1942. Analyse und Dokumentation, Berlin [1995]; Norbert Kampe, »Überlieferungsgeschichte und Fälschungsvorwurf. Anmerkungen zum Faksimile-Anhang«, in: Mark Roseman, Die Wannsee-Konferenz. Wie die NS-Bürokratie den Holocaust organisierte, München u. a. 2002, S. 157–184.
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nachvollziehbar, schlüssig und durch Quellen- und Literaturverweise gestützt erscheinen zu lassen, wobei sie gleichzeitig jedoch systematisch täuschen und manipulieren.5 Wenig überraschend wurden ihre Ausführungen hinsichtlich des Wannsee-Protokolls – sieht man von den rechts- und revisionismuslastigen Historikern Ernst Nolte und Werner Maser ab – nicht außerhalb des engen eigenen Zirkels rezipiert und diskutiert. Bevor die revisionistischen Hauptargumentationslinien näher dargestellt werden, die sich in dem mehrheitlich seit den 1970er Jahren entstandenen, überaus heterogenen revisionistischen Schriftgut finden lassen, steht nun aber zunächst das Wannsee-Protokoll selbst im Fokus.
Das Wannsee-Protokoll und die Dokumente des Umfelds So sehr das einzig vorliegende Exemplar des Wannsee-Protokolls als Schlüsseldokument herausgestellt wird, so sehr muss man zugleich auf seine unspektakuläre Normalität als kleiner Teil eines zusammenhängenden großen Aktenbestandes hinweisen. Selbst im engsten Umfeld – das Protokoll wurde in einem von zwei mit »Endlösung der Judenfrage« beschrifteten Heftordnern abgelegt – verschwinden die 15 Seiten des Wannsee-Protokolls zwischen zahlreichen anderen Konferenzprotokollen, Denkschriften, Notizen und Schriftverkehr sowohl banalen als auch verbrecherischen Charakters. Da die Anzahl der in Rede stehenden Schriftstücke erheblich ist, werden im Folgenden lediglich die drei dem Protokoll am nächsten stehenden Schreiben angeführt. Dabei handelt es sich erstens um ein Schreiben vom 29. November 1941, mit dem der Chef des Reichssicherheitshauptamtes, Reinhard Heydrich, zu einer »Besprechung mit anschließendem Frühstück« am 9. Dezember 1941 einlud, in Kopie beigefügt war das sogenannte Ermächtigungsschreiben Hermann Görings vom 31. Juli 1941, das Heydrich mit den Vorbereitungen zur »Durchführung der angestrebten Endlösung der Judenfrage« beauftragte. Wie im zweiten Schriftstück, dem Einladungsschreiben vom 8. Januar 1942 formuliert, wurde diese Besprechung »aufgrund plötzlich bekannt gegebener Ereignisse«6 kurzfristig verschoben und nun für den 20. Januar 1942 angesetzt. Schließlich ist drittens ein Schreiben vom 26. Februar 1942 zu nennen, das zu einer Nachfolgekonferenz auf Sachbearbeiterebene für den 6. März 1942 einlud und dem als Anlage das Protokoll der Wannsee-Konferenz beigefügt war.7 5 Vgl. Deborah E. Lipstadt, Betrifft: Leugnen des Holocaust, Zürich 1994; Brigitte Bailer-Galanda u. a. (Hg.), Die Auschwitzleugner. »Revisionistische« Geschichtslüge und historische Wahrheit, Berlin 1996; Michael Shermer/Alex Grobman, Denying History. Who Says the Holocaust Never Happened and Why Do They Say It?, 2. akt. u. erw. Aufl., Berkeley u. a. 2009. 6 Gemeint ist der japanische Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember und die folgende deutsche Kriegserklärung an die USA am 11. Dezember 1941. 7 Diese Dokumente befinden sich im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes (PAAA, R 100857, Bl. 165–181, 188 f.). Die qualitativ hochwertigsten farbigen Faksimiles sind abgedruckt in: Gedenkund Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz (Hg.), Villenkolonien in Wannsee 1870–1945.
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Alle drei Schreiben, gerichtet an den Leiter der Abteilung Deutschland im Auswärtigen Amt, Unterstaatssekretär Martin Luther, wurden von Heydrich eigenhändig unterzeichnet. Vorbereitet und erstellt wurden sie jedoch von Adolf Eichmann, dem Leiter des Referats IV B 4 im Reichssicherheitshauptamt. In israelischer Untersuchungshaft 1960/61, seinem anschließenden Prozess in Jerusalem als auch während seines vorhergehenden Exils in Argentinien trug Eichmann Details bei, die aus den Akten selbst nicht ersichtlich sind. Auch wenn diese Informationen nur mit größter quellenkritischer Umsicht angemessen zu bewerten sind, erweitern sie dennoch unser Wissen über den Ablauf der Konferenz sowie deren Vor- und Nachbereitung.8 Aussagen über die Verlässlichkeit von Eichmanns Angaben zur Wannsee-Konferenz müssen jedoch bis zu einem gewissen Grad Spekulation bleiben, nicht zuletzt weil weder Protokollentwürfe noch ein zugrundeliegendes Stenogramm vorliegen und zu gegebener Zeit versäumt wurde, Eichmanns Angaben möglichst zu überprüfen. So wurde beispielsweise Eichmanns Sekretärin Ingeborg Wagner, die im Rahmen eines Prozesses gegen Eichmanns früheren Mitarbeiter Otto Hunsche 1962 in Frankfurt am Main vor Gericht behauptete, sie habe die Wannsee-Konferenz stenographiert, hierzu von Historikern nie eingehender befragt.9
Überlieferung der Wannsee-Dokumente Laut Wannsee-Protokoll, das in die höchste Geheimhaltungskategorie »geheime Reichssache« eingestuft ist, wurden insgesamt 30 Abzüge angefertigt. Da ein Verteiler nicht vermerkt ist, die Anzahl der erstellten Ausfertigungen die der Konferenzteilnehmer von insgesamt 15 deutlich übersteigt und jeder Teilnehmer nur ein Exemplar erhalten zu haben scheint, ist folglich davon auszugehen, dass auch andere Empfänger Ausfertigungen des Protokolls erhalten haben. Laut seinem Tagebuch gehörte auch Joseph Goebbels zu diesem Kreis – sein Staatssekretär Leopold Gutterer war wie andere zwar eingeladen, aber nicht zur Konferenz erschienen.10 Dennoch: obwohl zwar beide Einladungen an Großbürgerliche Lebenswelt und Ort der Wannsee-Konferenz, Berlin 2000, S. 114–132, sowie in: Haus der Wannsee-Konferenz (Hg.), Die Wannsee-Konferenz und der Völkermord an den europäischen Juden, Berlin 2009, S. 114–213. Vgl. hier im Band die Dokumente 4.1–4.7. 8 Vgl. besonders die Dokumente 8 bis 15 in diesem Band zu den oft widersprüchlichen Aussagen Eichmanns. Ferner Kurt Pätzold/Erika Schwarz, Tagesordnung: Judenmord. Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942. Eine Dokumentation zur Organisation der »Endlösung«, 4. Aufl. Berlin 1998. Zur kritischen Bewertung von Eichmanns Aussagen vgl. Bettina Stangneth, Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders, Zürich/Hamburg 2011; sowie ihren Aufsatz in diesem Band. 9 »Gestapo-Sekretärinnen vernommen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.6.1962. 10 Vgl. Dokument 6.1 in diesem Band. Vgl. Dokument 16 in diesem Band: Avner Less 1982 zu möglichen weiteren Empfängern des Wannsee-Protokolls; ferner dazu Klein, Wannsee-Konferenz, S. 16 f.; Christian Gerlach, »Die Wannsee-Konferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers po-
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den Chef des Rasse- und Siedlungshauptamts Otto Hofmann sowie ein Entwurfsexemplar für ein Einladungsschreiben überliefert sind, wurde bis zum heutigen Tag mit der 16. Ausfertigung in den Akten des Auswärtigen Amtes nur ein einziges Protokollexemplar aufgefunden.11 Gleichwohl gibt es auch Hinweise, dass von den Empfängern angefertigte Abschriften des Protokolls kursierten und sogar in nicht-deutsche Hände gerieten. So berichtete Carl Lutz, der ab Mitte 1944 in Budapest tätige Schweizer Vizekonsul, dass er im September 1944 eine Abschrift des Wannsee-Protokolls zusammen mit anderen Geheimdokumenten von Gerhart Feine, einem Vertreter der dortigen deutschen Gesandtschaft, erhalten habe.12 Auch wenn diese Aussage aus verschiedenen Gründen als eher unwahrscheinlich einzustufen ist, harrt sie nichtsdestoweniger noch der Überprüfung. Sollte die Angabe zutreffen, würden jedoch Fragen größerer Tragweite aufgeworfen – schließlich wurde das einzige erhaltene Protokoll erst zweieinhalb Jahre später entdeckt, und zwar im Zuge der Vorbereitungen für den Wilhelmstraßen-Prozess, einem der letzten der Nürnberger Nachfolgeverfahren.13 Jenseits der Frage, an wen tatsächlich ein Exemplar des Wannsee-Protokolls ging, steht jedoch fest, dass die Kenntnis über die Konferenz und deren Inhalt weit verbreitet war. So litische Grundsatzentscheidung, alle Juden Europas zu ermorden«, in: ders., Krieg, Ernährung, Völkermord. Deutsche Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, überarb. Ausg., Zürich u. a. 2001, S. 79–152; hier: S. 137. 11 Die Hofmann-Dokumente sind unter das Nürnberger Zeichen »709-PS« gefasst und als Faksimile abgedruckt in: Haus der Wannsee-Konferenz (Hg.), Die Wannsee-Konferenz, S.88 f.; ferner in: Klein, Wannsee-Konferenz, S. 33–35, 39. Das Entwurfsexemplar der ersten Einladung vom November 1941 findet sich im Bestand des Innenministeriums der Tschechischen Republik in Prag und ist in diesem Band als Faksimile abgedruckt (Dokument 2); vgl. auch: Yehoshua Büchler, »A Preparatory Document for the Wannsee ›Conference‹«, in: Holocaust and Genocide Studies 9 (1995), H. 1, S. 121–129. 12 Vgl. die Wiedergabe eines offenbar frühestens Mitte der 1950er Jahre entstandenen Aufschriebs von Lutz in: Alexander Grossmann, Nur das Gewissen. Carl Lutz und seine Budapester Aktion. Geschichte und Porträt, Wald 1986, S. 63, sowie S. 64−72; vgl. auch: Eckart Conze u. a., Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010, S. 312 ff. 13 Skeptisch bezüglich des Verrats von Dokumenten im Rang einer »geheimen Reichssache« durch Feine: Theo Tschuy, Carl Lutz und die Juden von Budapest, Zürich 1995, S. 149. Zur Verifizierung von Lutz’ Angaben wären insbesondere seine Nachlässe in Jerusalem (Yad Vashem) und in Zürich (Archiv für Zeitgeschichte) zu konsultieren. Auch der dortige Nachlass von Lutz’ Freund und Biographen Grossmann ist mit einzubeziehen, fand sich doch vor kurzem bei der Erschließung des Bestands eine Fotokopie einer Abschrift des Wannsee-Protokolls, wobei erstere mit Vermerken für den Abdruck im Anhang der Lutz-Biographie versehen ist. Auch wenn sich deren Herkunft nicht näher bestimmen lässt, sprechen mehrere Indizien dafür, dass es sich dabei um eine – nicht von deutschen Stellen angefertigte – Nachkriegsabschrift handelt (AfZ, NL Alexander Grossmann, 55(A) und 70(A)). Für den Hinweis auf diesen Fund und ihre Hilfestellungen bin ich Lea Ingber und Lara Bär vom Archiv für Zeitgeschichte in Zürich zu großem Dank verpflichtet.
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kündigte Hans Frank, Generalgouverneur im besetzten Polen, in einer Regierungssitzung am 16. Dezember 1941 die bevorstehende Konferenz über die »Judenfrage« erwartungsvoll an und auch im interministeriellen Schriftverkehr taucht sie als wichtiges anstehendes Ereignis bereits auf. Im Protokoll einer Konferenz im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, die am 29. Januar 1942 in Berlin stattfand, wurde auf »die Staatssekretärsbesprechung am 20. Januar 1942« Bezug genommen und in diversen Schriftwechseln und Vermerken, nicht zuletzt im Zusammenhang mit den von Eichmann abgehaltenen Nachfolgekonferenzen vom 6. März und 27. Oktober 1942, wird regelmäßig auf die WannseeKonferenz verwiesen. Am eindrücklichsten das verbreitete Wissen um die Wannsee-Konferenz unterstreichen dürfte jedoch das Schreiben eines Legationsrats in der deutschen Botschaft in Paris, der am 23. März 1942 das Auswärtige Amt in Berlin um Übersendung des Protokolls bat, von dessen Existenz er auf vertraulichem Wege erfahren habe.14 Zum Zeitpunkt ihrer Auffindung, des Einsatzes in Verhören, der Einführung in den Wilhelmstraßen-Prozess – und, was kaum erwähnt wird, der Nutzung im bereits Monate zuvor angelaufenen Prozess gegen das ehemalige Rasse- und Siedlungshauptamt – hatten die Schriftstücke schon einen langen Weg hinter sich.15 Dabei dürfte der Grund, warum Luthers Dokumente überhaupt noch existieren, zunächst bei Luther selbst zu suchen sein. In Konsequenz eines fehlgeschlagenen Versuchs, Außenminister Joachim von Ribbentrop um die Jahreswende 1942/43 zu stürzen, wurde Luther Anfang 1943 verhaftet und ins Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht, wo er bis zu seinem Tod im Mai 1945 bleiben sollte – wohl hatte dies zur Folge, dass die belastenden Dokumente zu gegebener Zeit nicht vernichtet wurden.16 Darüber hinaus wurde die von Luther geleitete Abteilung aufgelöst und wenig später unter dem Eindruck zunehmender Luftangriffe begonnen, die Aktenbestände des Auswärtigen Amtes auszulagern. Die ersten Transporte in Schlösser und Burgen im Harz begannen bereits im Juni 1943, abgeschlossen war diese Umlagerung im April 1944.17 Mit den näher rückenden alliierten Truppen ergingen seit Anfang 1945 zwar Vernichtungsanweisungen für Geheimakten, diese konnten jedoch nur noch
14 Zu den angeführten und weiteren Verweisen auf die Wannsee-Konferenz in diversen Quellen vgl. Pätzold/Schwarz, Tagesordnung, S. 91 ff., 119, 124 f., 127 f.; Gerlach, »Wannsee-Konferenz«, S. 96, 98 f., 107, 135 ff., 142; Wolfgang Benz u. a. (Hg.), Einsatz im »Reichskommissariat Ostland«. Dokumente zum Völkermord im Baltikum und in Weißrussland 1941–1944, Berlin 1998, S. 55−61. 15 In den Prozess ging das Wannsee-Protokoll unter dem Zeichen »NG-2586-G« ein. Ein Faksimile der im Wilhelmstraßen-Prozess vorliegenden Fotokopien ist abgedruckt in: John Mendelsohn (Hg.), The Holocaust. Selected Documents in Eighteen Volumes, Band XI: The Wannsee Protocol and a 1944 Report on Auschwitz by the Office of Strategic Services, New York u. a. 1982, S. 3−17. 16 Vgl. Conze u. a., Das Amt, S. 142–145. 17 Vgl. Martin Kröger/Roland Thimme, »Das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes im Zweiten Weltkrieg. Sicherung, Flucht, Verlust, Rückführung«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 47 (1999), H. 2, S. 243−264, hier S. 255 f.
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teilweise ausgeführt werden.18 Die Bestände fielen den Amerikanern in die Hände, die bereits im April 1945 begannen, sie ins weiter westlich gelegene Marburger Schloss zu verlegen, um sie dem Zugriff der Sowjets zu entziehen.19 Dort begannen unter amerikanisch-britischer Federführung sogleich erste Analysen und Mikroverfilmungen, bevor der Aktenbestand Anfang Februar 1946 in den amerikanischen Sektor Berlins verbracht wurde. Im Telefunken-Werk in Berlin-Lichterfelde wurden die Akten weiter gesichtet, und auch die Wannsee-Dokumente wurden hier entdeckt und erstmals mikroverfilmt.20 Wegen der beginnenden Berlin-Blockade wurde im Sommer 1948 der gesamte Bestand dann auf den Landsitz Whaddon Hall/Buckinghamshire nach England gebracht, wo eine zweite Mikroverfilmung vorgenommen wurde.21 Zwischen Ende 1956 und Anfang 1959 wurden die Akten schließlich an das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn zurückgegeben.22 Über die konkreten Auffindungsumstände der Wannsee-Dokumente haben wir in erster Linie durch Robert Kempner Kenntnis. Kempner, Jahrgang 1899 und vormals Justiziar der Preußischen Polizei in Berlin, hatte sich schon früh mit Denkschriften gegen den Nationalsozialismus gewandt und rechtliche Schritte zum Verbot der NSDAP vorgeschlagen. Als Jude wurde er 1933 des Amtes enthoben, nach seiner Ausbürgerung und Emigration in die USA kehrte er als Mitglied der Allied War Crimes Commission nach Deutschland zurück. Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess 1945/46 fungierte er als stellvertretender Hauptankläger, im Wilhelmstraßen-Prozess füllte er dann ab 1947 die Funktion des Hauptanklägers aus. Ausführlich beschreibt Kempner die Auffindung in seinen Erinnerungen Ankläger einer Epoche im Jahr 1983: Während der Vorbereitungen für den Wilhelmstraßen-Prozess habe er im März 1947 einen Anruf von seinen Mitarbeitern aus Berlin erhalten, die ihm berichteten, dass in Geheimakten des Auswärtigen Amtes das Protokoll einer wichtigen Konferenz in Berlin-Wannsee vom 20. Januar 1942 gefunden worden sei. Er habe daraufhin seine Mitarbeiter angewiesen, die fraglichen Ordner umgehend zu ihm nach Nürnberg zu bringen.23 18 Vgl. Sacha Zala, Geschichte unter der Schere politischer Zensur. Amtliche Aktensammlungen im internationalen Vergleich, München 2001, S. 147. 19 Vgl. Astrid M. Eckert, Kampf um die Akten. Die Westalliierten und die Rückgabe von deutschem Archivgut nach dem Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 2004, S. 79. 20 Vgl. Kröger/Thimme, »Das Politische Archiv«, S. 263. 21 Von den Mikroverfilmungen geben die auf jeder Seite der Dokumente aufgebrachten Nummernstempel Zeugnis. Bei der ausschließlich aus Ziffern bestehenden Stempelserie unten rechts handelt es sich um die Zählung der Erstverfilmung in Berlin, bei der Serie unten links, der ein »K« vorangestellt ist, um diejenige in Whaddon Hall. Vgl. George O. Kent (Hg.), A Catalog of Files and Microfilms of the German Foreign Ministry Archives 1920–1945, Stanford 1962–1966, Band I, S. XVI f., Band III, S. 317. 22 Vgl. Hans Philippi, »Das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes«, in: Der Archivar 11 (1958), H. 2, S. 139−150, hier: S. 139. 23 Vgl. Robert M. W. Kempner, Ankläger einer Epoche. Lebenserinnerungen. In Zusammenarbeit mit Jörg Friedrich, Frankfurt am Main 1983, S. 249, 310–313.
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Betty Nute, Mitglied in Kempners Berliner Team, bestätigte diese Darstellung im Rahmen eines Interviews im Jahre 2002 und fügte hinzu, dass ihr Kollege Kenneth Duke das Protokoll entdeckt habe.24 Kempner äußerte sich bereits seit den 1960er Jahren in Büchern, Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln sowie in Interviews zahlreich über die Auffindung der Dokumente.25 Obgleich diese nur aus ein, zwei Sätzen bestehenden Aussagen sich in der Regel mit dem Bericht in seinen Memoiren decken, widersprechen sie sich jedoch auch teilweise oder sind zumindest missverständlich. So strich Kempner mitunter seine Rolle als Vorgesetzter heraus, die Entdeckung seiner Mitarbeiter geriet dadurch zum gemeinsamen Fund. In einem Fall beschrieb er – kurz vor seinem Tod, 92-jährig und von Krankheit gezeichnet – den Moment, als er in den Akten zum ersten Mal auf das Protokoll stieß, sogar in einer Art und Weise, dass man den Eindruck gewinnen konnte, Kempners erste Begegnung mit dem Protokoll sei der eigentliche Auffindungsakt.26 Jenseits dieser Äußerung, der angesichts der Umstände nicht allzu viel Gewicht beizumessen ist, sind auch die meist geringfügigen Abweichungen und offensichtlichen Irrtümer in anderen Berichten von untergeordneter Bedeutung. Wie Kempners kaum überschaubare Zahl an Publikationen zeigt, gehörten das Herauskehren der eigenen historischen Bedeutung und vor allem das anekdotenhafte Aus-dem-Gedächtnis-Berichten zu den Charakteristika seiner Selbstpräsentation – nicht zuletzt seine fast 500 Druckseiten umfassenden Erinnerungen zeugen hiervon, sind sie doch in unverkennbar mündlichem Duktus auf Basis von Gesprächen niedergeschrieben. Diese Eigenheiten Kempners, die sich in vagen und missverständlichen Formulierungen, zahlreichen Fehlern und mitunter kritikwürdigen Vorgehensweisen niederschlugen, bilden den Ausgangspunkt vieler revisionistischer Angriffe auf das Wannsee-Protokoll. Hiervon abgesehen, ist Kempners und Nutes Auffindungsbericht, insbesondere der Zeitpunkt der Auffindung, zu ergänzen – wenn nicht gar zu korrigieren. Denn auch wenn Kempner und Nute übereinstimmend das Frühjahr beziehungsweise den März 1947 nennen, scheint das Protokoll bereits spätestens in den ersten Dezembertagen 1946, wahrscheinlich aber bereits früher, aufgefunden worden zu sein. Darauf weist die Mikroverfilmung hin, die im Fall der Wannsee-Dokumente bereits am 4. Dezember 1946 abgeschlossen wurde.27 Auch wenn man sich die Verfilmung wohl als größtenteils mechanisch24 Vgl. »›Ich war gleich alarmiert‹«, in: Der Spiegel, 9.2.2002. 25 Vgl. etwa: Robert M. W. Kempner, Das Dritte Reich im Kreuzverhör. Aus den unveröffentlichten Vernehmungsprotokollen des Anklägers Robert M. W. Kempner, München u. a. 1969, S. 193; ders., »Die Wannsee-Konferenz vor 30 Jahren«, in: Jedioth Chadashot, 21.1.1972; ders., »Wie sie die Juden ›auskämmten‹«, in: Vorwärts, 20.1.1977; ders., »Vor 40 Jahren: Das Signal zur ›Endlösung‹«, in: Die Welt, 20.1.1982. 26 Die Erklärung Kempners »Die Entdeckung des Wannsee-Protokolls« vom 19. Januar 1992 ist abgedruckt in: Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz (Hg.), Erinnern für die Zukunft. Ansprachen und Vorträge zur Eröffnung der Gedenkstätte, Berlin [1992], S. 57. 27 Vgl. Filmnummernverzeichnis des vom britischen Foreign Office und amerikanischen State Department durchgeführten »German War Documents Project«, PAAA, S. 151.
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technischen Vorgang ohne vorherige detaillierte Auswertung vorzustellen hat, scheint aber doch eine zumindest grobe inhaltliche Sichtung vorgenommen worden zu sein. Denn es wurden nicht sämtliche Dokumente wahllos verfilmt – waren Originale vorhanden, sah man von einer zusätzlichen Verfilmung der Abschriften ab. Offenbar entging den zuständigen Dokumentenauswertern im Dezember 1946 also die Brisanz der zwei Heftordner »Endlösung der Judenfrage« im Allgemeinen und des Wannsee-Protokolls im Speziellen. Erst drei Monate später, im März 1947, wurde das Protokoll dann als solches erkannt, als Kenneth Duke, wie von Nute berichtet, aufgrund seiner Entdeckung »aufgeregt« zu ihr kam. Es war derselbe Kenneth Duke, der für die Verfilmung der Wannsee-Dokumente zuständig war.
Die Publikation des Wannsee-Protokolls Dass auf einer Konferenz am 20. Januar 1942 in Berlin-Wannsee unter Heydrichs Vorsitz über die »Endlösung der Judenfrage« beraten wurde, war schon frühzeitig bekannt. Bereits am 21. August 1945 verbreitete die New York Times die Agenturmeldung, dass die US-Militäradministration den Fund zweier Einladungsschreiben vom 29. November 1941 und 8. Januar 1942 an Otto Hofmann, den Chef des Rasse- und Siedlungshauptamts, bekannt gegeben habe.28 In der Diktion der Meldung: »Conclusive proof that the extermination of Europe’s Jewry was plotted by the Nazi inner circle was discovered«. Über Luthers Protokollausfertigung und damit über Details der Wannsee-Konferenz wurde nach augenblicklichem Kenntnisstand erstmals im Herbst 1947 berichtet. Am 20. Oktober 1947, dem Tag, als der Anklagevertreter sein Eröffnungsplädoyer im Prozess gegen das vormalige Rasse- und Siedlungshauptamt (Fall VIII der Nürnberger Prozesse) hielt und breit aus dem Wannsee-Protokoll zitierte, stellte die Washington Post – und mit ihr eine Phalanx regionaler und lokaler Zeitungen in den USA – ausführlich den Inhalt des Protokolls dar.29 Die US-Regierung wegen der Geheimhaltung solcher Schriftstücke kritisierend, bewertete der Autor der Kolumne das Protokoll als ein »sensational Nazi document«. Was dann folgte, waren die zentralen Passagen des Protokolls, samt der Auflistung aller Teilnehmer. Wochen später, nachdem das Wannsee-Protokoll in der Anfang November 1947 übergebenen Anklageschrift des Wilhelmstraßen-Prozesses (Fall XI) in Nürnberg erneut – wenn auch deutlich weniger prominent als zuvor – thematisiert wurde, 28 Vgl. »Nazi Jewish Files Found«, in: The New York Times, 21.8.1945, vgl. Dokument 7. 29 »Restricted Documents Give Nazi War Data«, in: The Washington Post, 20.10.1947. Der Beitrag erschien teilweise bereits tags zuvor in Sonntagsblättern, vgl. »The Washington Merry-Go-Round«, in: Nevada State Journal (Reno, Nevada), 19.10.1947. Das Eröffnungsplädoyer der Anklage ist wiedergegeben in: Trials of War Criminals before the Nuernberg Military Tribunals under Control Council Law No. 10, Band IV: »The Einsatzgruppen Case«, »The RuSHA Case«, Washington 1950, S. 622–694, hier: S. 668 f.
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machte die deutsch-jüdische Exilzeitung Aufbau am 14. November 1947 mit einem ähnlichen Bericht auf.30 Unter der Überschrift »Ein Dokument der Schande« und der unzutreffenden Angabe, erstmals ausführlich über die Wannsee-Konferenz zu berichten, fand sich das Protokoll ebenfalls in seinen zentralen Abschnitten, hier jedoch auf Deutsch wieder. Eine zweite Welle in der Berichterstattung lässt sich schließlich im Juni 1948 feststellen, dem Zeitpunkt, als die Vernehmung des angeklagten ehemaligen Staatssekretärs Ernst von Weizsäcker begann. Basierend auf einer Agenturmeldung, berichteten abermals zahlreiche große und kleine Zeitungen von den USA bis nach Australien über die wesentlichen Inhalte der Wannsee-Konferenz.31 Im Kontrast zur ausländischen Presse scheint die Wannsee-Konferenz in deutschen Blättern hingegen ein Schattendasein gefristet zu haben. Zwar taucht sie im Rahmen der Berichterstattung über den Wilhelmstraßen-Prozess als wichtiges Ereignis auf, genauer auf sie eingegangen, geschweige denn aus dem Protokoll zitiert, wurde jedoch nicht.32 Erst nach dem Ende des Prozesses scheint das Protokoll nennenswert thematisiert und in seinem wesentlichen Inhalt referiert worden zu sein, etwa in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im März 1950, oder aber in dem von Robert Kempner im selben Jahr herausgegebenen Urteil.33 Während in der offiziellen Dokumentation des Wilhelmstraßen-Prozesses von 1952 das Protokoll lediglich in einer ausschnittsweisen Übersetzung abgedruckt wurde, ist die erste vollständige Wiedergabe auf Mitte 1952 zu terminieren, als der Bund der Verfolgten des Naziregimes mit der Broschüre Das »Wannsee-Protokoll« zur Endlösung der Judenfrage und einige Fragen an die, die es angeht eine notariell beglaubigte Abschrift zugänglich machte.34 Es folgten weitere Veröffentlichungen im Rahmen erster historischer Analysen und Dokumentationen, zuvorderst in Léon Poliakovs und Joseph Wulfs Das Dritte Reich und die Juden von 1955 und Raimund Schnabels Macht ohne Moral von 30 »Ein Dokument der Schande«, in: Aufbau (New York), 14.11.1947. Die Anklageschrift in der gültigen Fassung vom 15.11.1947 ist abgedruckt in: Trials of War Criminals, Band XII: »The Ministries Case«, Washington 1952, S. 13–63, hier S. 48. 31 Vgl. etwa: »Plan to Gas 11,000,000 Jews Disclosed at Trial«, in: The Los Angeles Times (Los Angeles, Kalifornien), 13.6.1948; »Conference Record Reveals Hitler Planned to Gas 11,000,000 Jews«, in: The Lima News (Lima, Ohio), 10.6.1948; »Hitler Planned to Kill 11,000,000 Jews«, in: The Daily News (Perth, Western Australia), 12.6.1948. 32 Vgl. etwa: »Anklage gegen die ›Wilhelmstraße‹«, in: Frankfurter Rundschau, 8.11.1947; »Otto Meißner in Nürnberg freigesprochen«, in: Süddeutsche Zeitung, 14.4.1949. 33 »Das ›Protokoll von Wannsee‹«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.3.1950; Das Urteil im Wilhelmstrassen-Prozeß. Der amtliche Wortlaut der Entscheidung im Fall Nr. 11 des Nürnberger Militärtribunals gegen von Weizsäcker und andere, mit abweichender Urteilsbegründung, Berichtigungsbeschlüssen, den grundlegenden Gesetzesbestimmungen, einem Verzeichnis der Gerichtspersonen und Zeugen, und Einführungen von Dr. Robert M. W. Kempner und Dr. Carl Haensel, Schwäbisch Gmünd 1950, hier: S. 84–95. 34 Trials of War Criminals, Band XIII: »The Ministries Case«, Washington 1952, S. 210–217; Bundesvorstand des Bundes der Verfolgten des Naziregimes (Hg.), Das »Wannsee-Protokoll« zur Endlösung der Judenfrage und einige Fragen an die, die es angeht, Düsseldorf 1952.
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1957.35 Die wissenschaftliche Edition nach der Rückgabe der Akten an die Bundesrepublik fand schließlich im Rahmen der Reihe Akten zur deutschen auswärtigen Politik im Jahre 1969 statt.36 Bereits 1961 erschien im Umfeld des Eichmann-Prozesses jedoch auch ein Buch Robert Kempners. In Eichmann und Komplizen machte Kempner neben dem WannseeProtokoll und seinem Begleitschreiben auch das erste Einladungsschreiben samt Anlage erstmals als Faksimile zugänglich.37 Doch muss das Buch als unzuverlässig und in Teilen als problematisch eingeordnet werden. Denn obwohl Kempner global angab, die enthaltenen Faksimiles stammten aus den Akten des Auswärtigen Amtes, handelt es sich hierbei in Wahrheit nicht um die archivarischen Dokumente. Statt diese eins zu eins abzudrucken, veröffentlichte Kempner Faksimiles von Abschriften und Montagen, die den Originalen lediglich nachempfunden sind. Vergleicht man das von Kempner abgedruckte Wannsee-Protokoll mit dem Original, dann fallen als Unterschiede beispielsweise ins Auge, dass ein anderer Schreibmaschinentyp verwendet wurde. Während im Originaldokument »SS« in der üblichen Runenschrift vorhanden ist, zeigt Kempners Faksimile lateinische Schrift. Auch die vom Empfänger des Protokolls in der unteren rechten Ecke vermerkte Journalnummer »D. III. 29. g. Rs.« ist unterschiedlich. Während sie im Original handschriftlich vorhanden ist, wurde sie bei Kempner wie der übrige Text mit der Maschine geschrieben. Einen Schritt aufwändiger nimmt sich Kempners Wiedergabe des Ermächtigungsschreibens Görings vom 31. Juli 1941 aus – diese ist zwar auch eine Abschrift des Originals, zusätzlich wurde jedoch die Unterschrift Görings fotomechanisch auf den neu erstellten Text übertragen. Noch komplizierter stellen sich schließlich Kempners Faksimiles der Einladungsschreiben vom 29. November 1941 und des Begleitschreibens vom 26. Februar 1942 dar. Bei beiden Abbildungen wurde ebenfalls eine maschinenschriftliche Abschrift auf Blankopapier angefertigt, auf die dann der Briefkopf des Originaldokuments und die dortigen Stempel, handschriftlichen Notizen und Unterschriften übertragen wurden. Da im Gegensatz zu dem Schreiben Görings sich die Notizen jedoch auf dem maschinenschriftlichen Text befinden und nicht etwa freistehend vor weißem Hintergrund, war in diesen Fällen als zusätzlicher Arbeitsschritt eine Retusche nötig, bevor lediglich die handschriftlichen Notizen und andere Merkmale auf die Abschrift übertragen werden konnten. Der Grund für dieses Vorgehen lässt sich heute nicht mehr zweifelsfrei rekonstruieren. Jedoch kann man mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass die druck- und reproduktionstechnischen Zwänge der frühen 1960er Jahre die entscheidende Rolle 35 Vgl. Léon Poliakov/Joseph Wulf, Das Dritte Reich und die Juden. Dokumente und Aufsätze, Berlin 1955, S. 119–126; Raimund Schnabel, Macht ohne Moral. Eine Dokumentation über die SS, Frankfurt am Main 1957, S. 496–506. 36 Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945, Serie E: 1941–1945, Band I: 12. Dezember 1941 bis 28. Februar 1942, Göttingen 1969, S. 267–275. 37 Robert M. W. Kempner, Eichmann und Komplizen, Zürich u. a. 1961, S. 98, 127 f., 133–147, 150.
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spielten.38 Es ist durchaus zu bezweifeln, dass die erst kurz zuvor an das Auswärtige Amt zurückgegebenen Originaldokumente für ein solches Buchprojekt zur Verfügung standen; wahrscheinlicher ist, dass der Verlag auf Fotokopien angewiesen war. Dass diese jedoch die technischen Anforderungen für eine leserliche Faksimile-Wiedergabe erfüllten, ist mehr als fraglich. Bereits bei den Originaldokumenten ist solches angesichts blasser Schrift oder gräulichem, beidseitig durchscheinend beschriebenem »Butterbrotpapier« nur schwer anzunehmen. Der notwendige deutliche Kontrast zwischen Text und Hintergrund ist hier nicht gegeben, und offenbar wurden bei den zahlreichen Faksimiles in Eichmann und Komplizen je nach Beschaffenheit der Vorlage unterschiedliche Reproduktionsverfahren eingesetzt, teilweise ist die Fotomontage selbst für Laien offensichtlich. Auch wenn die nach heutigen Standards mehr als fragwürdige Verfahrensweise der Montage aus dem ehrenwerten Motiv heraus zu erklären sein mag, einem breiten Publikum einen möglichst unmittelbaren Eindruck von NS-Dokumenten zu verschaffen, hätte zumindest für eine angemessene Kommentierung gesorgt werden müssen. Dass dies unterblieb, befeuerte Fälschungsvorwürfe von Revisionisten und/oder Rechtsextremisten entscheidend und gab ihnen den wohl stärksten ihrer argumentativen Hebel gegen das Wannsee-Protokoll an die Hand.
Der erste revisionistische Ansatzpunkt: Überlieferung und Veröffentlichung Kempners Faksimile steht meist als erster und eindruckvollster Gegenstand im Zentrum revisionistischer Argumentationen, werfen die Unterschiede zwischen Originaldokument und Kempners Faksimile doch auch für unvoreingenommene Leser Fragen auf. In umfangreichen Vergleichen beider »Versionen« erheben Revisionisten bereits in diesem Stadium und auf dieser Basis »unwiderlegbare« Fälschungsvorwürfe. Dem gehen in der Regel Abschnitte voran, in denen die Auffindungs- und Überlieferungsumstände als unklar und fragwürdig dargestellt, sowie andererseits Vorwürfe angebracht werden, die Dokumente würden unter Verschluss gehalten und kritischer Untersuchung entzogen. Um so argumentieren zu können, werden selbst eklatante Selbstwidersprüche in Kauf genommen. So behauptet der – unter anderem auch zu »Rassefragen« publizierende – Johannes Peter Ney in mehreren Publikationen der Jahre 1991 und 1992, dass nicht
38 Korrespondenz Kempners mit dem heute nicht mehr existierenden Verlag oder anderweitige Anhaltspunkte sind in dessen Nachlass im Bundesarchiv Koblenz nicht zu finden, eine diesbezügliche Prüfung von Kempners Nachlass in Washington (United States Holocaust Memorial Museum) steht jedoch noch aus. Es ist nicht auszuschließen, dass Kempner die Montagen für sein privates Archiv anfertigen ließ, um – laut seiner eigenen Aussage – bei Publikationsprojekten nicht auf Archive angewiesen zu sein (vgl. Kempner, Ankläger, S. 406 f.).
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bekannt sei, »wie, wo, wann, von wem und aus welchem Aktenbereich«39 die WannseeDokumente aufgefunden wurden, und auch in einem 1994 erschienenen Beitrag schreibt er, dass die Fundumstände unbekannt seien.40 Als Co-Autor in einem mit dem völkisch ausgerichteten Autor und Verleger Roland Bohlinger erstellten »Gutachten« greift Ney Kempner hingegen wegen vermeintlicher Widersprüche in nun sogar mehreren Auffindungsberichten an. Jenes »Gutachten«, das die Aussagen in Neys Einzelveröffentlichungen ad absurdum führt, erschien 1992 und 1994 in zwei Auflagen – also parallel mit den eigenständigen Beiträgen Neys.41 Eine Richtigstellung von dessen Behauptungen bedarf folglich nicht einmal des allzu simplen Hinweises auf Kempners Memoiren von 1983 – es genügt bereits ein Verweis auf Neys eigene Publikationen. Die Widersprüche in den Auffindungsberichten werden jedoch nicht annähernd so effektvoll thematisiert wie dies möglich gewesen wäre. Lediglich zwei Berichte Kempners – derjenige in seinen Memoiren und ein im Rahmen eines Dokumentarhörspiels gesendetes Interview – stellen Bohlinger und Ney nebeneinander. Offenbar ohne Kenntnis der ungleich missverständlicheren Aussagen Kempners in anderen Auffindungsberichten, konstruieren die Autoren die vermeintlichen Widersprüche, indem sie selektiv zitieren und Auslassungen nicht kenntlich machen. So wird eine Interviewpassage ausgespart, in der Kempner einen Telefondialog mit einer Berliner Mitarbeiterin schilderte. Von Bohlinger und Ney erfährt man nicht, dass jene Mitarbeiterin Kempner vom Fund »hochinteressanter« Dokumente berichtete – stattdessen präsentieren die Autoren Kempners Schilderung entgegen seiner Aussage so, als habe er sich selbst als Auffinder präsentiert.42 Ebenso wenig redlich gehen Bohlinger und Ney mit einem offensichtlichen Irrtum Kempners um, der im Interview als Auffindungszeitpunkt den Herbst 1947 nannte, obwohl er das Protokoll nachweisbar bereits im Frühjahr 1947 für Vernehmungen nutzte. Anstatt 39 Johannes Peter Ney, »Das Wannsee-Protokoll. Die Jahrhundertfälschung«, in: Huttenbriefe für Volkstum, Kultur, Wahrheit und Recht 10 (1992), H. 3 (Sonderdruck Juni 1992), S. 3, 6. Vorabund Kurzfassungen wurden veröffentlicht als: ders., »Das Wannsee-Protokoll, die Fälschung des Jahrhunderts«, in: Huttenbriefe für Volkstum, Kultur, Wahrheit und Recht 9 (1991), H. 12, S. 9 f.; ders., »Das Wannsee-Protokoll. Die Fälschung des Jahrhunderts«, in: Die Bauernschaft 22 (1992), H. 2, S. 16–19. 40 Vgl. Johannes Peter Ney, »Das Wannsee-Protokoll. Anatomie einer Fälschung«, in: Ernst Gauss (d.i. Germar Rudolf ) (Hg.), Grundlagen zur Zeitgeschichte. Ein Handbuch über strittige Fragen des 20. Jahrhunderts, Tübingen 1994, S. 170 f., 179. 41 Roland Bohlinger/Johannes Peter Ney, Gutachten zur Frage der Echtheit des sogenannten WannseeProtokolls und der dazugehörenden Schriftstücke, 2. verb. und erw. Aufl., Viöl 1994, S. 32–38. Vgl. auch die zum allergrößten Teil wortgleiche erste Auflage: dies., Gutachten zur Frage der Echtheit des sogenannten Wannsee-Protokolls und der dazugehörenden Schriftstücke, herausgegeben vom Deutschen Rechts- und Lebensschutz-Verband, Viöl 1992, S. 31–36. Folgende Verweise beziehen sich stets auf die zweite Auflage. 42 Vgl. Bohlinger/Ney, Gutachten, S. 32–38. Bei den zwei Auffindungsberichten handelt es sich um: Kempner, Ankläger, S. 310–313; Rolf Defrank, Ihr Name steht im Protokoll. Dokumentar-Hörspiel, WDR 1984.
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dieses Versehen aufzuklären, werden die von Kempner angeführten Zeitpunkte jedoch als unvereinbar gegenübergestellt. Jenseits solcher Täuschungsmanöver werden die revisionistischen Argumentationen von Aussagen bestimmt, die sich grundsätzlich widersprechen. So führt ein seit Jahrzehnten aktiver Revisionist, der Politologe Udo Walendy, nicht nur die angeblich »[u]nbekannte Herkunft« des Wannsee-Protokolls an, sondern wirft Kempner vor, über die Umstände der Auffindung zu schweigen – zugleich zitiert Walendy jedoch die Memoiren Kempners, die das genaue Gegenteil beweisen.43 Nicht genug, behauptet Walendy auch, dass es bisher keinem Historiker möglich gewesen sei, »›das aufgefundene Original‹ ausfindig zu machen und zu Gesicht zu bekommen«, während er nur eine Seite darauf das Archiv des Auswärtigen Amtes als Archivierungsort anführt.44 Ein weiterer prominenter Revisionist, der vormalige Richter Wilhelm Stäglich, bedauert in seinem dickleibigen Buch Der Auschwitz-Mythos von 1979, dass es ihm nicht gelungen sei, »wenigstens den Aufbewahrungsort des sog. Wannsee-Protokolls in Erfahrung zu bringen«45 und auch Ney schlägt in dieselbe Kerbe, wenn er der »Umerziehungsgilde aus Bonn« vorwirft, das Protokoll zurückzuhalten.46 Solcherlei Vorhaltungen erweisen sich bereits dann als substanzlos, wirft man einen Blick in Kempners Buch Eichmann und Komplizen von 1961, wo das Auswärtige Amt als Quellengeber ausgewiesen ist. Walendy, Stäglich und Ney taten jedoch weit mehr als nur diesen einen nötigen Blick: Alle drei druckten Kempners Faksimile nach. Nicht mehr nachvollziehbar ist schließlich, wenn Ney sich über »die willfährige deutsche Staatsführung« auslässt, die das Wannsee-Protokoll angeblich zurückhalte – denn gleichzeitig führt Ney exakt den Band der Reihe Akten zur deutschen auswärtigen Politik an, in dem mehr als 20 Jahre zuvor das Wannsee-Protokoll offiziell ediert wurde.47 Neben dem Verweis auf die generellen Umstände der Überlieferung und Veröffentlichung beziehen sich die meisten Revisionisten auf die Faksimiles in Kempners Eichmann und Komplizen und bauen sie, mehr oder weniger explizit, in ihre Argumentationsstrukturen ein. Dazu wird unterstellt, Kempners Druckvorlagen seien vor den Originaldokumenten entstanden, demnach also Entwurfsexemplare. So argumentiert beispielsweise Ney – für ihn ist das Protokoll-Faksimile Kempners ein »allzu stümperhaft[es]« »Machwerk«, dem eine verbesserte Version »nachgeschoben« worden sei. Dieser »offensichtliche Versuch, die Güte der Fälschung […] aufzubessern« begründet in Neys Sicht den Verdacht, »daß beide Protokolle Fälschungen sind«.48 Durch diese Umkehrung der Entstehungschronologie werden die aus dem Abschreibvorgang resultierenden Unterschiede 43 Udo Walendy, Die Wannsee-Konferenz vom 20.1.1942, in: Historische Tatsachen 35 (1988), S. 4, 8. 44 Ebenda, S. 4. 45 Wilhelm Stäglich, Der Auschwitz-Mythos. Legende oder Wirklichkeit? Eine kritische Bestandsaufnahme, Tübingen 1979, S. 19. 46 Ney, »Jahrhundertfälschung«, S. 2. 47 Ebenda, S. 6, 19; vgl. auch Ney, »Anatomie«, S. 171. 48 Ney, »Jahrhundertfälschung«, S. 3. Hervorhebung im Original.
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zum Originaldokument als Mängelbeseitigung in einem evolutionären Fälschungsprozess dargestellt. Eine Begründung, von einem Nachweis ganz zu schweigen, weshalb es sich bei Kempners Faksimile ausschließlich um einen irrtümlicherweise publizierten Entwurf für eine später perfektionierte Fälschung handeln kann, sucht man in revisionistischen Publikationen jedoch vergebens. Es sind vor allem zwei Strategien, die Revisionisten mit Kempners Faksimiles verfolgen. Zum ersten ist dies die Demonstration der Unterschiede zu den Originaldokumenten. Ohne Thesen zu bilden, wie sich die Unterschiede erklären lassen könnten, werden einander ausschließende Spekulationen in den Raum gestellt – eine Diskussion oder Abwägung findet nicht statt. Behauptungen, dass Kempners Faksimile, wie das Wannsee-Protokoll überhaupt, eine Fälschung sei, stehen somit unvermittelt neben der Feststellung, dass es sich bei Kempners Faksimiles lediglich um »fehlerhafte Nachahmungen« handle.49 Diese Ambivalenzen dienen zum einen dazu, sich gegen Kritik und Widerlegung abzuschirmen. Zum anderen sind sie aber auch Grundlage der zweiten Strategie, mit der versucht wird, über die Angreifbarkeit der Faksimileveröffentlichung die Integrität Kempners und damit das Originaldokument zu beschädigen. Dazu reicht es aus, dass die Unterschiede möglichst plastisch vor Augen geführt, über die Art und Weise ihrer Entstehung episch genug spekuliert und die angeblich dahinterstehenden Motive möglichst düster ausgemalt werden. Explizite Aussagen sind bei dieser Suggestivkraft nicht nötig, die aufgehäufte Masse vermeintlicher Fragwürdigkeiten diktiert das Ergebnis. Entsprechend wird auch nicht zwischen den Attributen »nicht authentisch« und »gefälscht« unterschieden – aus einer unzureichend kommentierten Nachahmung wird so durch eine geringe semantische Verschiebung eine arglistig erstellte Fälschung. Dass Kempners Druckvorlage uns jedoch gar nicht vorliegt, alle revisionistischen Aussagen also lediglich auf einem kleinformatigen Buchabdruck basieren, der im Vergleich zum physisch vorliegenden Originaldokument nur sehr bedingt aussagekräftig ist, sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben.
Der zweite revisionistische Ansatzpunkt: Formalia und Zeugenaussagen Abseits der Faksimile-Vergleiche kombinieren Revisionisten den Vorwurf der fragwürdigen Herkunft auch mit der Behauptung, es fehlten notwendige und erwartbare bürokratische Vermerke und Kennzeichnungen. Geschichtswissenschaftliche Quellenkritik vorgebend, wird an diesen äußeren Merkmalen angesetzt und versucht nachzuweisen, dass
49 Bohlinger/Ney, Gutachten, S. 17, 79, 95, 105 f. Vgl. auch dies., Die Stellungnahme der Leitung der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz zu dem von Bohlinger und Ney verfaßten Gutachten zur Frage der Echtheit des sogenannten Wannsee-Protokolls und der dazugehörigen Schriftstücke, Viöl 1995, S. 1 f.
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das Wannsee-Protokoll »in keiner Weise deutscher Behördenpraxis entspricht«50 und – unabhängig davon, ob »echt« oder »gefälscht« – aufgrund »seiner Formmängel […] nach deutschem Recht ungültig«51 sei. Flankiert und unterfüttert wird dies mit dem Verweis auf Aussagen der Konferenzteilnehmer nach 1945, die fast durchgängig bestritten, dass das Wannsee-Protokoll den Konferenzinhalt korrekt wiedergibt oder dass sie es überhaupt erhalten hatten. Laut Bohlinger und Ney lasse das Wannsee-Protokoll all jene Formalia vermissen, »die sonst bei einer eingefahrenen Bürokratie nie fehlen«,52 darunter das Datum, der Posteingangsstempel und das Zeichen der ausstellenden Dienststelle. So zutreffend diese Aussage auf den ersten Blick erscheinen mag – das Protokoll weist die genannten Merkmale in der Tat nicht auf –, so scheinheilig stellt sie sich bei einem zweiten Blick heraus. Denn um diese Behauptung aufzustellen, trennen Bohlinger und Ney das (vom Absender als Anlage versandte und vom Empfänger als Anlage erfasste) Wannsee-Protokoll vom zugehörigen Anschreiben. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, dass sie zwei eng aufeinander bezogene Dokumente aus ihrem gemeinsamen Kontext gelöst haben und als zwei isolierte Schriftstücke behandeln, monieren sie auf der Anlage nun all die Formalia, die auf dem übergeordneten Anschreiben vorhandenen sind. Aufschlussreich hieran ist vor allem die Reaktion Bohlingers und Neys auf Kritik an ihrem unlauteren Vorgehen. So fragen sie, die Formalia auf dem Anschreiben einräumend, wie ohne Formalia auf dem Protokoll »die Möglichkeit zweifelsfrei« ausgeschlossen werden könne, »daß ein verfälschtes Exemplar oder ein ganz andersartiges Exemplar als das ursprüngliche untergeschoben wurde«.53 Eindrucksvoll führen sie damit vor Augen, dass sie nicht etwa die Praxis der Behörde als transparenten und nachvollziehbaren Maßstab bei der Bewertung des Wannsee-Protokolls heranziehen, sondern es an selbst aufgestellten und speziell auf das Protokoll zugeschnittenen Forderungen messen. Ironischerweise lässt sich – nicht nur bei Bohlinger und Ney – zugleich aber auch die gegenteilige Argumentation feststellen: Verwaltungsanordnungen werden verabsolutiert und implizit wie explizit wird eine perfekte Bürokratie unterstellt, in der Fehler oder selbst geringe Abweichungen von Vorschriften nicht vorgekommen seien. Um zu demonstrieren, dass die Wannsee-Dokumente den damaligen Vorgaben nicht genügten und folglich zweifelhaft seien, führen die Revisionisten dann Erlasse an, die für die beteiligten Behörden zu keinem Zeitpunkt Geltung besaßen. So nennt etwa der als einschlägiger Dokumentenfälscher bekannte Emil Lachout eine »Anordnung Nr. 2 der Reichsstelle für Papier und Verpackungswesen, R.A. z. Nr. 304 v. 31.12.1941«, gegen die im Wannsee50 51 52 53
Stäglich, Auschwitz-Mythos, S. 65. Ney, »Anatomie«, S. 172. Bohlinger/Ney, Gutachten, S. 17. Bohlinger/Ney, Stellungnahme, S. 5. Hervorhebungen entfernt. Die Entgegnung auf Bohlinger und Ney wurde vom damaligen Direktor des Hauses der Wannsee-Konferenz Gerhard Schoenberner und von Peter Klein verfasst; das zweiseitige Schreiben ist als Faksimile an selber Stelle abgedruckt.
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Protokoll durch abweichende Randbreite, Zeilenabstand und ähnlichem verstoßen worden sei. Lachouts auf die Spitze getriebenes Argument, dass eine solche Vorschrift in der NS-Zeit »besonders streng beachtet« worden und eine Nichtbefolgung bereits als »Beweis der Fälschung« zu werten sei, überspannt aber auch für viele Revisionisten den Bogen.54 Da für die Alliierten, wie Ney schreibt, »die Möglichkeiten zu Fälschungen angesichts der erbeuteten Archive […] gigantisch«55 gewesen seien, erweist sich als argumentativer Trumpf der Revisionisten, sämtliche überlieferte NS-Dokumente unter generellen Fälschungsverdacht zu stellen. Stäglich untermauert dies, wenn er ausführt, dass »den Siegern aus den Beständen der deutschen Dienststellen vom Papier über die Schreibmaschinen bis hin zu den Originalstempeln alles in die Hände gefallen« sei, demnach bei der Aufdeckung von Fälschungen sogar »kriminaltechnische Untersuchungsmethoden kaum Erfolg« versprächen.56 Folglich kann, selbst wenn die Erwartungen Bohlingers und Neys an die äußeren Merkmale des Wannsee-Protokolls erfüllt wären, das Dokument dennoch als potentiell gefälscht und zweifelhaft disqualifiziert werden. Bezeichnenderweise werden Quellen aber nur dann mit derart weitgehenden Forderungen nach Authentizitätsnachweisen konfrontiert, besitzen sie aus revisionistischer Sicht »belastendes« Potential. Umgekehrt werden »entlastende« Quellen, wie sie der Großteil der abwiegelnden Nachkriegsaussagen von Teilnehmern der Wannsee-Konferenz darstellt, keinerlei Kritik unterzogen. Robert Kempner verhörte im Vorfeld und im Rahmen des Wilhelmstraßen-Prozesses mit Wilhelm Stuckart, Gerhard Klopfer, Georg Leibbrandt, Friedrich Kritzinger und Erich Neumann gleich mehrere Teilnehmer der Wannsee-Konferenz.57 Deren vor allem dem Selbstschutz dienende Aussagen, dass sie sich an die Konferenz oder ihren Gegenstand nicht erinnern könnten, das Protokoll die Besprechung und ihre eigene Position völlig entstellt wiedergebe, oder aber dass sie das Protokoll nie erhalten und nichts über den Judenmord gewusst hätten, gelten Revisionisten per se als zutreffend und glaubwürdig. So gibt David Irving, der bei Weitem Versierteste unter den Revisionisten, mit Verweis auf Aussagen von Teilnehmern als Gegenstand der Wannsee-Konferenz an: »In the east the Jews would build roads until they dropped. This, and no more, is all that the muchmentioned Wannsee conference protocols reveal; there was no talk of murder, and later interrogations of the participants confirmed this (we can disregard Eichmann’s version).«58 54 Emil Lachout, »Gutachten über das Protokoll der Wannsee-Konferenz vom 20. Jänner 1942 (Berlin)«, in: Sieg 19 (1990), H. 11, S. 11 f., hier: S. 11. 55 Ney, »Anatomie«, S. 170. 56 Wilhelm Stäglich, »Stellungnahme zum Gutachten von Prof. Dr. Scheffler über mein Buch ›Der Auschwitz-Mythos‹«, in: Wigbert Grabert (Hg.), Geschichtsbetrachtung als Wagnis. Eine Dokumentation, herausgegeben in Zusammenarbeit mit dem Institut für deutsche Nachkriegsgeschichte Tübingen, Tübingen u.a. 1984, S. 69–130, hier: S. 90. 57 Vgl. die Ausschnitte aus Verhörprotokollen, in: Kempner, Eichmann, S. 151–161. 58 David Irving, Hitler’s War and The War Path, London 2002, URL: http://www.fpp.co.uk/books/ Hitler/2001/HW_Web_dl.pdf [zuletzt aufgerufen am 22.4.2012], S. 495. Klammer im Original.
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Abgesehen davon, dass Straßenbau »until they dropped« sehr wohl als »murder« einzustufen wäre, ist hier vor allem Irvings Einschränkung von Bedeutung, dass Eichmanns Aussage außer Acht gelassen werden könne, war Eichmann doch der einzige Teilnehmer, der umfangreich zur Wannsee-Konferenz aussagte und deren verbrecherischen Gegenstand nicht verschwieg.59 Die vorgeblichen Gedächtnislücken der anderen Teilnehmer versucht Irving auf geradezu groteske Weise zu erklären: Die Wannsee-Konferenz sei auf derselben trivialen Ebene wie viele andere Besprechungen zu »stocks, shipping, barges, economy, the fat supply« zu verorten. Für die meisten der Anwesenden sei »the solution of the Jewish Problem« schlicht so langweilig gewesen, dass »a lot of them did have their minds elsewhere«. Somit könne man nicht erwarten, dass sich die Teilnehmer noch an diese Konferenz erinnerten.60 Andere Revisionisten entwerten ebenfalls Eichmanns Aussagen. Stäglich führt ins Feld, es sei eine »unwahrscheinliche […] Behauptung«, dass Eichmann bezeugt habe, der Ausdruck »Lösungsmöglichkeiten« im Protokoll meine »Mordmethoden«.61 Walendy gibt an, dass es für »den Historiker keineswegs belegt« sei, »daß, ob und in welcher Weise sich der angeklagte, eingekerkerte Adolf Eichmann in Jerusalem als Verfasser dieser ›Niederschrift‹ bekannt hat«.62 Und für Bohlinger und Ney zeigen die Vernehmungsprotokolle »ganz klar, daß an Eichmann eine Gehirnwäsche vorgenommen worden ist«.63 Verschwiegen wird bei all diesen unbelegten Behauptungen, dass Eichmann bereits vor seinen Verhören durch israelische Stellen dem ehemaligen SS-Offizier Willem Sassen im Rahmen ausladender Gespräche aus freier Entscheidung eingehend über die WannseeKonferenz berichtet hat. Selbst in das 1980 veröffentlichte Buch Ich, Adolf Eichmann, das auf dem Transkript jener Gespräche basiert, wurden noch ausführliche Passagen zur Wannsee-Konferenz übernommen. Wider besseres Wissen verneint Walendy dies – ihm zufolge enthält das Buch »über die Wannsee Konferenz nichts«.64 Das Motiv Walendys ist wohl darin zu suchen, dass die Verlässlichkeit des Buches aus revisionistischer Sicht gegeben ist. Nicht nur ist es in einem einschlägigen Verlag mit entsprechend ausgerichtetem Herausgeber erschienen, sondern wurde das zugrundeliegende Transkript von Eichmann eigenhändig korrigiert, darüber hinaus bekundete seine Witwe dem Verlag deren Authentizität an Eides Statt.
59 Vgl. die Aussagen Eichmanns zur Wannsee-Konferenz in den Dokumenten 8 bis 15 in diesem Band. 60 Aussage Irvings vor dem District Court of Ontario, Toronto am 22. April 1988, ausschnittsweise abgedruckt in der revisionistischen Publikation: Barbara Kulaszka (Hg.), Did Six Million Really Die? Report of the Evidence in the Canadian »False News« Trial of Ernst Zündel – 1988, Toronto 1992, S. 381. 61 Stäglich, Auschwitz-Mythos, S. 64. 62 Walendy, »Wannsee-Konferenz«, S. 34. 63 Bohlinger/Ney, Gutachten, S. 56. 64 Vgl. Rudolf Aschenauer (Hg.), Ich, Adolf Eichmann. Ein historischer Zeugenbericht, Leoni am Starnberger See 1980, S. 478–487; Walendy, »Wannsee-Konferenz«, S. 34.
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Der dritte revisionistische Ansatzpunkt: Sprache und Semantik Neben den äußeren Merkmalen konzentrieren die Autoren revisionistischer Publikationen einen erheblichen Teil ihrer Aufmerksamkeit auf die inneren Merkmale des Wannsee-Protokolls. In besonderer Weise rückt dabei die ungelenke, verschrobene Sprache in die Kritik. Nicht selten steht dabei der Vorwurf, das Wannsee-Protokoll sei böswillig gefälscht, neben dem Argument, der Inhalt sei unverfänglich und für den Nachweis genozidaler Intentionen nicht geeignet. Vereinzelt wird sogar angeführt, das Protokoll spiegle löbliche Absichten gegenüber den Juden wider. Im Gegenzug werden Historiker pauschal beschuldigt, ihre Leserschaft über den wahren Gegenstand der Wannsee-Konferenz zu täuschen. Die von den Revisionisten betriebene innere Kritik des Protokolls stellt sich als normativ wertende Sprachkritik dar: Textstellen werden hinsichtlich ihres Stils, der Lexik, der Redewendungen und Satzkonstruktionen, aber auch der Orthographie und Zeichensetzung knapp kommentiert. So kritisiert Ney den sich im Protokoll (S. 3) findenden Satz »Das Aufgabenziel war, auf legale Weise den deutschen Lebensraum von Juden zu säubern« folgendermaßen: »Hier ist das vom Amerikanischen verhunzte Neudeutsch um 49 Jahre vorweggenommen.«65 Walendy beklagt einen »undeutschen mehrfach hintereinander geschachtelten Genitiv«, der ausgerechnet in der auf eine gute deutsche Sprache bedachten Partei vorkomme.66 Kommentare wie »Diese Wortsuppe ist nicht deutsch«,67 »So drückt sich ein Deutscher nicht aus, schon gar nicht ein höherer Offizier«68 wechseln sich ab mit Behauptungen, wie dass »schwer« nicht im Sinne von »schwierig« gebraucht werden könne. Eine solche Verwendung deute auf eine inkorrekte Übersetzung der englischen Entsprechung »difficult« hin, die im Amerikanischen, im Gegensatz zum Deutschen, in beiden Bedeutungen verwendet werden könne.69 Ihr Argument entkräften Bohlinger und Ney nur drei Seiten später bereits selbst – dort verwenden sie »schwer« in diesem angeblich falschen Sinne. Eine in der Empirie wurzelnde Quellenkritik wird von den Revisionisten, denen vor allem an ihren eigenen Idealvorstellungen guter deutscher Sprache gelegen ist, nicht betrieben. Ohne das Wannsee-Protokoll mit ähnlichen, ebenfalls von Eichmann stammenden Schriftstücken zu vergleichen, ohne auf die Spezifika des in Behörden gepflegten Jargons einzugehen und ohne die grundlegende sprachwissenschaftliche Literatur zu konsultieren, wird dem Wannsee-Protokoll eine »elende undeutsche Sprache«70 attestiert. Schnell wird dann auch die Frage nach dem Autor gestellt: Es müsse sich um einen Ausländer oder 65 66 67 68 69 70
Ney, »Jahrhundertfälschung«, S. 7. Walendy, »Wannsee-Konferenz«, S. 17. Ney, »Jahrhundertfälschung«, S. 7. Walendy, »Wannsee-Konferenz«, S. 17. Bohlinger/Ney, Gutachten, S. 44. Ney, »Anatomie«, S. 175.
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– was als Fingerzeig auf Kempner zu verstehen ist – um einen Emigranten handeln, keinesfalls jedoch um Eichmann. Selbst geneigte Leser dürfte ein Autor wie Ney aber ratlos zurücklassen, wenn er meint, den Verfasser des Protokolls als »Angehörigen der intellektuellen jüdischen Kreise zwischen Wien und Prag« identifizieren zu können, der »etwa 1938 in die Staaten emigriert« sei und »nicht die geringste Sprach-Unsicherheit« zeige.71 Durchgängig werden die im Wannsee-Protokoll enthaltenen Euphemismen, mit denen allzu explizite Vokabeln umschifft wurden, von Revisionisten als unverfänglich ausgewiesen. Für Irving, der das Protokoll als echt verteidigt, gibt es selbst angesichts von Ausdrücken wie »natürliche Verminderung« und »entsprechende Behandlung« »no reference to killing Jews«, »not even an indication«.72 Und auch für Ney »heißt es […] nirgends, dass irgendwer getötet«73 werden sollte. Doch ist die entsprechende Passage im Protokoll (S. 7 f.) bereits ohne ihren Kontext und trotz der Tarnbegriffe mehr als deutlich: »Unter entsprechender Leitung sollen nun im Zuge der Endlösung die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen. In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird. Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaus anzusprechen ist. (Siehe die Erfahrung der Geschichte.)« In der revisionistischen Ausdeutung des Literaturwissenschaftlers Robert Faurisson drückt dieser Abschnitt hingegen Heydrichs hehre Absichten aus. Letzterem habe ein »Jewish revival« in »a Jewish national homeland« vorgeschwebt, sodass »the Jews would finally constitute a nation among other nations, in place of being ›parasites‹«. Die Keimzelle dieser Erneuerung stellten Faurisson zufolge diejenigen Juden dar, die »the terrible time of testing through wartime forced labor« überleben, sich somit als Elite ausweisen und von den Nationalsozialisten zum Aufbau eines jüdischen Staates freigelassen würden. Die Geschichte, so Faurisson in Rekurs auf den Protokolltext, sei voll von Beispielen solcher »physical and moral trials«.74 Die Vorstellung einer »natürlichen Auslese« sei zugleich nationalsozialistisch, zionistisch, stoisch und auch christlich – nicht umsonst werde im Protokoll von »Aufbau« gesprochen, was bezeichnenderweise auch der Name 71 Ney, »Jahrhundertfälschung«, S. 8. 72 David Irving, »Revelations from Goebbels’ Diary. Bringing to Light Secrets of Hitler’s Propaganda Minister«, in: Journal of Historical Review 15 (1995), H. 1, S. 16. Jahre später räumte Irving ein, dass »murder« sehr wohl als »legitimate interpretation« gelten könne. Vgl. Aussage Irvings vor dem High Court of Justice London am 24. Februar 2000, URL: http://www.holocaustdenialontrial.org/trial/ transcripts/day25 [zuletzt aufgerufen am 22.4.2012], S. 185 f. 73 Ney, »Jahrhundertfälschung«, S. 6. 74 Robert Faurisson, »My Life as a Revisionist (September 1983 to September 1987). Paper Presented to the Eighth International Revisionist Conference«, in: Journal of Historical Review 9 (1989), H. 1, S. 47. Hervorhebungen entfernt.
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einer jüdischen Zeitung sei.75 Wie kann Faurisson derlei Behauptungen aufstellen? Zum einen basiert seine Ausführung auf der ebenso unbegründeten wie unzutreffenden Unterstellung, dass »Endlösung der Judenfrage« in jener Passage nicht als Ermordung, sondern als Vision eines jüdischen Nationalstaats zu verstehen sei, zum anderen, dass bei dem skizzierten, zu Tode schindenden Straßenbau nicht etwa genozidale Absichten zu erkennen seien, sondern es sich lediglich um harte, den Kriegsumständen geschuldete Zwangsarbeit handle. Mit diesen zwei Umdeutungen, die er zusätzlich in einen weltanschaulich-religiösen Kontext stellt, transformiert Faurisson das von Heydrich entworfene Völkermordprogramm in von außen auferlegte Prüfungen, die ein Volk zu durchlaufen habe, um daraus verjüngt und stärker als zuvor hervorzugehen. Dies, so suggeriert die von Faurisson implizit gezogene alttestamentarische Parallele von Zweitem Weltkrieg und Sintflut sowie von Heydrich und Noah, sei auch eine von Juden akzeptierte, gar begrüßte Gottestat. Andere revisionistische Argumentationen sind weniger durchsichtig. Wirkungsvoll ist vor allem die Vorgehensweise, weit verbreitetes, aber falsches Wissen als die einhellige Position der Geschichtswissenschaft auszugeben, um sie dann zu Lasten der Historikerzunft zu demontieren. Die Aussage, dass auf der Wannsee-Konferenz die Entscheidung gefallen sei, alle Juden Europas zu ermorden, ist eine solche populäre Legende. Auch wenn sie von Kempner vertreten wurde und in der historischen Forschung und Publizistik der 1950er Jahre noch zu finden ist, wird sie jedoch seit Jahrzehnten von keiner ernstzunehmenden Stimme innerhalb der Fachhistorikerschaft mehr vertreten.76 Dennoch finden sich selbst Historiker wie Kurt Pätzold, die explizit darauf hinweisen, dass sich die Historiker schon seit langem gegen eine solche Überbewertung der Konferenz wenden, entgegen ihrer Intention inmitten der revisionistischen Argumentation wieder. Anstatt als Vertreter des allgemein anerkannten Forschungsstandes werden sie jedoch als Abweichler dargestellt, deren vermeintliche Einzelmeinung ein angeblich bestehendes Tabu und Dogma breche.77 Das Wannsee-Protokoll wird also als »›das‹ zentrale Belastungsdokument bezüglich des Holocaust«78 gezielt überbewertet. Indem sie anschließend dieses nicht tragfähige Bild zerstören, wird zum einen die Wannsee-Konferenz in ihrer Bedeutung beschädigt, zum anderen können sich die Revisionisten als Aufdecker von Geschichts(ver)fälschungen »der 75 Vgl. Aussage Faurissons vor dem District Court of Ontario, Toronto am 13. April 1988, ausschnittsweise abgedruckt in der revisionistischen Publikation: Kulaszka, Did Six Million Really Die?, S. 302. 76 Bedauerlicherweise wird die längst verworfene Vorstellung einer »Entscheidungskonferenz« auch von Kennern der Materie weiterverbreitet, so etwa im April 2012 von Ludwig Biewer, der als Leiter des Politischen Archivs das Wannsee-Protokoll verwahrt. Vgl. das für die Onlineausgabe der Akademischen Blätter geführte Interview: URL: http://akademische-blaetter.de/studium/hochschule/diesuche-nach-den-grautoenen [zuletzt aufgerufen am 22.4.2012]. 77 Vgl. Kurt Pätzold, »›Die vorbereitenden Arbeiten sind eingeleitet.‹ Zum 50. Jahrestag der ›WannseeKonferenz‹ vom 20. Januar 1942«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 3.1.1992, S. 14–23, hier: S. 17; Ney, »Jahrhundertfälschung«, S. 6. 78 Ney, »Anatomie«, S. 170.
Das Protokoll der Wannsee-Konferenz
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Historiker« darstellen. Nicht zuletzt wird damit transportiert, dass, wenn das von Historikern vermittelte Geschichtsbild an solch geradezu brennpunktartigen Stellen falsch sei, es an anderen Stellen womöglich ebenfalls nicht zutreffen könnte. Der Fluchtpunkt dieser Argumentation ist klar: Wenn auf der Wannsee-Konferenz die »Endlösung« nicht beschlossen wurde, dann gab es einen solchen Beschluss wahrscheinlich nie – und wo kein Beschluss, da auch kein Plan und keine Umsetzung des Völkermords an den Juden.
Neue Erkenntnisse und offene Fragen Was bleibt abschließend zur Überlieferungs- und Veröffentlichungsgeschichte des Wannsee-Protokolls und den revisionistischen Angriffen festzustellen? Zunächst wohl das Offensichtliche, nämlich dass es sich bei den beschriebenen revisionistischen Vorgehensweisen nicht um vereinzelt unterlaufene, unschuldige Fehler oder lediglich handwerkliche Mängel handelt. Obgleich auch fundamentale Widersprüche und eklatante Wissensdefizite zu Tage liegen, weist doch die Menge, vor allem aber die Systematik der Täuschungen, Manipulationen, Auslassungen und Falschdarstellungen die Schriften der Revisionisten als absichtsvolle Geschichtsfälschung aus. Die Stoßrichtung: die Wannsee-Konferenz umzuwerten, zu entwerten oder zu tilgen. Die Spezifik des Wannsee-Protokolls sowohl in seiner faktisch-dokumentarischen Bedeutung als auch in seiner symbolisch-metaphorischen Dimension kommt dieser Absicht zupass: Kann die Wannsee-Konferenz, die vielfach als Eckpfeiler des Wissens über den Holocaust gilt, ins Wanken gebracht werden, würde dies grundsätzliches Misstrauen gegenüber Historikern und dem von ihnen vermittelten Bild des Nationalsozialismus stiften. Zweifel an der »offiziellen Version« der Wannsee-Konferenz zögen dann Zweifel an der »offiziellen Version« des Holocaust nach sich. Doch sind die Revisionisten dabei nicht nur auf den eigenen Einfallsreichtum angewiesen. Mit missverständlichen Aussagen zur Auffindung und insbesondere durch kritikwürdige Faksimiles der Dokumente lieferte ihnen Robert Kempner die Steilvorlage, derer sie sich nur bedienen mussten. Die Konstellation, dass Kempner als Ankläger in den Nürnberger Prozessen sowohl für die Auffindung des Protokolls, dessen Einsatz in Verhören, der Einführung in den Wilhelmstraßen-Prozess als auch für jene FaksimileVeröffentlichung verantwortlich zeichnet, ermöglicht die Tragweite der Angriffe. Kritische Fragen zur Authentizität der abgedruckten Dokumente und entsprechende Vorwürfe der Irreführung sind damit nicht auf Kempner als Autor oder Herausgeber beschränkt, sondern beziehen sich auch auf dessen andere Verantwortungsbereiche. Damit rücken auch die Überlieferung der Dokumente, die Schriftstücke selbst und nicht zuletzt das von ihnen bezeugte Geschehen ins Zwielicht. Man wird es tragisch nennen können, dass ausgerechnet Kempner, der den Kampf für das Recht und gegen Nationalsozialismus und Neonazismus als sein Lebensthema ansah, den Revisionisten eine scheinbar legitimierende Ausgangsbasis bereitet hat.
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Unabhängig davon wird man aber festhalten können, dass die Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte des Wannsee-Protokolls trotz der allgemein anerkannten Bedeutung dieses Dokuments erstaunlich wenig erforscht sind. Mehrere Gewissheiten sind offenbar zu korrigieren, teilweise ist geboten, auf die Notwendigkeit weiterer Recherchen aufmerksam zu machen oder zumindest Wahrnehmungsraster zu thematisieren. So scheint die enge Verbindung von Wannsee-Protokoll, Kempner und Wilhelmstraßen-Prozess (Fall XI) mitunter den Blick darauf zu verstellen, dass bereits Wochen und Monate vor der Anklageerhebung im Fall XI das Wannsee-Protokoll eine prominente Rolle spielte – im Prozess gegen das Rasse- und Siedlungshauptamt (Fall VIII). Auch dass das Protokoll spätestens im Dezember 1946 durch die Hände der nach Anklagedokumenten fahndenden Mitarbeiter ging, bevor es erst drei Monate später in seiner Bedeutung erkannt wurde, fügt der Geschichte des Protokolls ein neues Detail hinzu. Weitaus bedeutender dürfte jedoch die noch zu klärende Frage sein, ob eine Abschrift des Wannsee-Protokolls tatsächlich bereits im September 1944 den Weg zum Schweizer Diplomaten Carl Lutz fand. Ein nennenswertes Potential für weitere Präzisierungen und Korrekturen bisheriger Erkenntnisse dürfte in den Zeitungen der frühen Nachkriegszeit zu finden sein. Auch wenn für diesen Aufsatz die Presseproduktion jener Jahre nicht systematisch in Augenschein genommen werden konnte, ist doch bemerkenswert, was bereits die kursorische Durchsicht einiger deutscher und internationaler Zeitungen ergab. Nicht nur findet sich schon 1962 ein Name für die noch lange danach als unbekannt apostrophierte Stenotypistin der Wannsee-Konferenz, sondern es zeigte sich auch, dass, zumindest in der englischsprachigen Presse, früher, umfangreicher und auf breiterer Basis als angenommen über die Wannsee-Konferenz berichtet wurde. Dass dies meist quellennah geschah, indem man die zentralen Passagen des Protokolls ausführlich dokumentierte, stellt ein durchaus interessantes Detail dar – nicht zuletzt, weil in den deutschen Zeitungen der Besatzungszeit die Wannsee-Konferenz nur kurz und beiläufig erwähnt wurde. Offenbar gibt es also noch Einiges, das über die Nachgeschichte der Wannsee-Konferenz und ihres Protokolls herauszufinden ist.
Bettina Stangneth
Eichmanns Erzählungen Wer über die Wannsee-Konferenz sprechen will, kommt um die Erzählungen eines Mannes nicht herum, der dabei war: Adolf Eichmann, »Judenreferent« in Amt IV des Reichssicherheitshauptamtes, Gestapo. Eichmann hat mit seinen Aussagen als Gefangener in Jerusalem unser Nachdenken über die Entwicklung des nationalsozialistischen Genozids und damit auch unsere Vorstellung von der Konferenz am Wannsee geprägt wie kaum ein anderer Zeitzeuge. Umso erstaunlicher ist es, dass diese Konferenz in Eichmanns eigener Erinnerung zunächst gar keine Rolle spielt. 1956 arbeitet der ehemalige SS-Obersturmbannführer in Argentinien an einem Manuskript, das »die Wahrheit« über seine »Arbeit« während der Nazi-Zeit und ihre Bedeutung für die Weltgeschichte enthalten soll: Die anderen sprachen, jetzt will ich sprechen!1 Elf Jahre nach Kriegsende sorgte sich der Exilant Eichmann um seinen Ruf. Die Vorstellung, dass andere das Bild von ihm prägen könnten, machte ihm mehr Angst als die Gefahr, nach vielen Jahren auf der Flucht doch entdeckt zu werden. Sein Ziel ist dabei ebenso ambitioniert wie unerhört: Er möchte verstanden werden und seinen Kindern, aber auch der Nachwelt noch einmal erklären, warum er und seine Mitstreiter – vom »Führer« bis zum letzten Untergebenen – richtig gehandelt hatten. Sein Buch soll deshalb auch ein großes Kapitel über die Entwicklung der »Judenpolitik« bis zur Vernichtung enthalten. Eichmann spricht ausführlich über die Vertreibung, die bei ihm selbstverständlich »Auswanderung« heißt, und setzt die Zeit »bis zum Kriegsausbruch« von der »Kriegszeit« ab; er beschreibt die angeblichen jüdischen Interessen an einer »Endlösung«, die Veränderung durch die Kriegssituation, den »Führer-Befehl« 1941, die Radikalisierung der Methoden. Aber die Wannsee-Konferenz kommt in dieser Erzählung nicht einmal andeutungsweise vor. Dass Eichmann mit diesem Ereignis etwas anfangen konnte, scheint er selber erst bemerkt zu haben, als andere es wichtig nahmen.
1 Originalhandschriften, Abschriftteile, Filme und Kopien dieses Großmanuskripts verteilen sich auf die Archivbestände BArch Koblenz, Nachlass Eichmann N1497, Nachlass Robert Servatius, AllProz 6, und BArch Ludwigsburg, B162, Ordner Diverses. Siehe Bettina Stangneth, Die Argentinien-Papiere. Adolf Eichmanns Aufzeichnungen und die sogenannten Sassen-Interviews 1956 bis Frühjahr 1960. Annotiertes Findbuch zu den Beständen in den Bundesarchiven Koblenz und Ludwigsburg, Privatbindung, Hamburg April 2011, einsehbar im Bundesarchiv (Koblenz und Ludwigsburg) und im Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main.
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Die Anderen – das war eine Gruppe von immer noch überzeugten Nationalsozialisten, die Ende der fünfziger Jahre die Geschichte umschreiben wollten.2 Der ehemalige SS-Freiwillige Willem Sassen, der diesem absonderlichen Historiker-Club den Namen gab, versammelte 1957 jedes Wochenende alles in seinem Haus in Buenos Aires um sich, was zur großen Revision beitragen sollte und zufällig auch in Argentinien lebte: vom vergleichsweise einfachen Wehrmachtsoldaten über frühere SD-Mitarbeiter und Fliegerhelden bis zum General der Waffen-SS Ludolf von Alvensleben. In dieser Runde beherrschte Eichmann schnell das Feld, weil er der Einzige war, der aus eigener Anschauung wusste, was mit den Juden geschehen war. Von ihm erhoffte man sich die Chance, die größte Anschuldigung gegen die Nationalsozialisten zu entkräften, denn dass die Judenvernichtung nur eine Erfindung der Juden selbst sein konnte, galt für diese Männer als Tatsache. Das war der Grund, Adolf Eichmann im September 1957, also nach etwa vier Monaten gemeinsamer Gespräche, auch das Protokoll der Wannsee-Konferenz vorzulegen. Der Text war nämlich seit 1955 vergleichsweise einfach zugänglich. Léon Poliakov und Joseph Wulf hatten ihn in ihre Dokumentensammlung Das Dritte Reich und die Juden aufgenommen. Aber statt dieses inkriminierende Dokument zur Freude aller als jüdische Fälschung zu demaskieren, bekannte ein erschrockener Eichmann, es höchstselbst verfasst zu haben und wetterte gegen die ehemaligen Kollegen vom Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt, die nie auf ihn gehört hätten, wenn er sie zur Vernichtung derart hochgeheimer Unterlagen angehalten habe. Dass es das Exemplar des Auswärtigen Amtes war, das den Krieg überstanden hatte, erfuhr Eichmann erst in Jerusalem. Was er allerdings schon 1957 in Argentinien begriff, das war der große Eindruck, den dieses Dokument und das Ereignis »Wannsee-Konferenz« auf Außenstehende macht. Für ihn waren Besprechungen, bei denen man über die Vernichtung von Millionen Menschen redete wie über eine Firmenbilanz, jahrelanger Alltag gewesen. Auf den Gedanken, dass irgendjemand genau das irritierend finden könnte, war Eichmann offensichtlich ebenso wenig gekommen wie auf die Idee, dass man die WannseeKonferenz als singuläres Ereignis betrachten und damit die Geschichte anders erzählen konnte. Ein herausgehobenes Datum strukturiert unser Bild von Handlungsabläufen, weil es einen Orientierungspunkt setzt, also etwas, das wir notwendig brauchen, wenn wir uns im unübersehbaren Gewimmel von Ereignissen zurechtfinden müssen. Allerdings präformiert jede Struktur auch unser Verstehen, weil Orientierungspunkte nun einmal von uns gewählt werden und nicht per se existieren. Einfacher gesagt: So unverzichtbar es ist, ein Datum zu einem Ereignis zu symbolisieren, wenn man Geschichte verstehen will, so sehr ist unser nachfolgendes Denken auch ein Denken in diesen selbstgewählten Symbolen. Wer sich Eichmanns Erzählungen über die Wannsee-Konferenz zuwendet, sollte das schon deshalb bedenken, weil dieser Erzähler genug Erfahrung
2 Vgl. ausführlich Bettina Stangneth, Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders, Zürich/Hamburg 2011.
Eichmanns Erzählungen
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darin hatte, Menschen zu manipulieren, indem man ihren Wunsch nach Orientierung missbraucht.3 Auch in Argentinien sagte Eichmann keinesfalls nur die Wahrheit. Man darf sich die Gesprächssituation in der Sassen-Runde nicht idyllisch vorstellen. Sollte das regelmäßige Stelldichein je wie ein harmonisches Treffen alter Kameraden begonnen haben – nach mehreren Monaten des mühsamen Studiums von Büchern und Dokumenten war die Harmonie längst vorbei. Eichmann hatte schnell begriffen, dass die Männer um Willem Sassen nicht nur die Geschichte der Nationalsozialisten umschreiben, sondern auch das herausschreiben wollten, was er als seine Lebensleistung betrachtete: die sogenannte Judenpolitik, zu der die Vernichtung von Millionen gehörte. Sassen seinerseits erlebte Wochenende um Wochenende, dass Eichmann ihm nicht die Fakten lieferte, auf die er gehofft hatte. Wer Eichmanns Verhalten in der Sassen-Runde verstehen und seine Äußerungen interpretieren will, muss diesen perversen Stolz auf seinen Anteil am Massenmord ebenso mitdenken wie die Weigerung von Willem Sassen, die Judenvernichtung auch nur als geschichtliches Faktum anzuerkennen. Das Groteske dieser Situation wird am Beispiel des Gesprächs über die Wannsee-Konferenz besonders deutlich. Für Sassen stand von vornherein fest, dass das Protokoll eine Fälschung sein musste. In eigenen Notizen nennt er es »den feindlichen Wannseebericht«, »die feindliche Wannseeberichterstattung« oder einfach den »Feindbericht«.4 Dasselbe galt für die Dokumente aus dem Umfeld der Konferenz, die ebenso bei Poliakov und Wulf abgedruckt waren. Eichmann hingegen erkannte bei der Verlesung des Sitzungs-Protokolls nicht nur seine Formulierungen wieder, sondern überraschte seine Zuhörer außerdem mit vielen Informationen über die Planungsphase der Konferenz. Er gab nicht nur zu, selber an der Konferenz teilgenommen zu haben, sondern hatte eine maßgebliche Rolle bei ihrer Planung gespielt, mehrmals Einladungen geschrieben, Besprechungen mit Heydrich gehabt, hinterher das Protokoll verfasst, ja, mehr noch, Eichmann erzählte dem ungläubigen Sassen sogar, dass schon das von Hermann Göring unterschriebene Ermächtigungsschreiben vom 31. Juli 1941 in seinem Büro verfasst worden war. Statt Sassen also die erhofften Argumente zu liefern, mit denen sich die Authentizität des Konferenz-Protokolls in Zweifel ziehen ließ, beschrieb Eichmann schon das Zustandekommen der Konferenz in so vielen Einzelheiten, dass an dem Ereignis überhaupt nicht mehr zu zweifeln war. Allen Beteiligten war außerdem klar, dass es sich bei allen Ausführungen Eichmanns nur um echte Erinnerungen handeln konnte und nicht etwa um angelesenes Wissen. Sassen ließ nämlich Eichmann grundsätzlich nicht selber in den Büchern lesen, sondern versuchte ihn, der sich die Anschaffung der Bände 3 Vgl. Bettina Stangneth, »›Offenes Visier war bei mir ein geflügeltes Wort‹. Bekenntnisse des Täuschers Adolf Eichmann«, in: Werner Renz (Hg.), Interessen um Eichmann. Israelische Justiz, deutsche Strafverfolgung und alte Kamaradschaft (= Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Bd. 20), Frankfurt am Main u.a. 2012, S. 181–199. 4 Sassens Notizen finden sich auf einem »Extrablatt«, das er der Abschrift von Tonband 50 hinzufügte. Es findet sich in allen erhaltenen Sammlungen.
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nicht leisten konnte, mit dem Inhalt zu überraschen und überließ ihm ein Buch immer erst dann, wenn die Gruppenbesprechung darüber beendet war. Der israelische Verhöroffizier Avner Werner Less wird es drei Jahre später mit derselben Befragungstechnik versuchen. Es war aber nicht nur sein Stolz, der Eichmann erzählen ließ, woran er sich erinnern kann. Er genoss ebenso die Aufmerksamkeit, die ihm plötzlich wieder alle entgegenbrachten und plauderte deshalb auch ausführlich über das, was man von ihm hören wollte. Als er verstanden hatte, wie wichtig Statistiken und Zahlen für seine Gesprächspartner sind, ließ er sich bereitwillig auf Diskussionen um die Echtheit des Zahlenmaterials im Wannsee-Protokoll ein und spielte dabei auch gewitzt das Wissen eines Insiders aus: Denn natürlich wusste Eichmann ganz genau, dass die Statistik auf der Protokollseite Nr. 6 problematisch war. In gut verschwörungstheoretischer Manier faselte er Willem Sassen zum Munde, genau diese Seite müsse »irgendwie hereingeschmuggelt« worden sein – was genaugenommen auch stimmt, aber nicht etwa, weil eine »Jüdische Weltverschwörung« das Blatt nach dem Krieg hineingefälscht, sondern weil sich Eichmann schon 1942 mal wieder mit der Arbeitsleistung anderer geschmückt hatte, als er Heydrich das Zahlenmaterial für den Vortrag zusammenstellen musste.5 So unterschiedlich wie die Absichten der Gesprächsteilnehmer in der Sassen-Runde waren auch die Folgerungen der Beteiligten aus der gemeinsamen Lektüre der WannseeDokumente. Willem Sassen kam schon unmittelbar nach der Befragung Eichmanns zu dem Schluss, dass man am besten eine eigene Version über die Konferenz vom 20. Januar 1942 verfassen müsse. Ansonsten, so vertraut er dem Tonband an, nachdem die anderen gegangen sind, dürfe man nur über Zahlenfälschungen und Eichmanns Äußerungen darüber reden und schreiben, »ohne jedoch die feindliche Wannseeberichterstattung foermlich zu erwaehnen«.6 Das Protokoll der Wannsee-Konferenz ließ sich nicht widerlegen, sondern nur noch verschweigen. Adolf Eichmann hingegen erkannte mit der Zeit, dass er genau das Gegenteil tun musste, um die Wahrnehmung der Geschehnisse zu seinen Gunsten zu verändern: Er konnte sich nicht nur auf das Wannsee-Protokoll beziehen, sondern musste es sogar besonders betonen. Die Konferenz am Großen Wannsee und die Tatsache, dass er das Protokoll verfasst hatte, ließen sich zu einer Zäsur umerzählen – jedenfalls wenn man die Beteiligung an der monatelangen Vorarbeit nicht so ausführlich erzählte, wie Eichmann es im September 1957 getan hatte. Eichmann hat diese Möglichkeit offenbar schon in Argentinien entdeckt, denn er erprobt sie wenige Wochen später in einem der letzten aufgenommenen Gespräche mit Willem Sassen. Man las gemeinsam Gerald Reitlingers Buch Die Endlösung, in dem sich selbstverständlich ebenfalls ein Abschnitt über die »Wannsee-Besprechung« fand. Während Sassen sich bemühte, so schnell wie möglich darüber hinwegzuspringen, und lieber über die Erinnerung des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß zu sprechen, der von Adolf Eichmann schon 1941 Anweisungen in Auschwitz 5 Siehe die Dokumente zu Eichmanns Aussagen in diesem Band. 6 »Extrablatt« zu Tonband 50.
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erhalten haben wollte, nutzt Eichmann die Gelegenheit zu einer erstaunlichen Zwischenbemerkung: »Sehen Sie, das haut wieder hin, was ich Ihnen vorhin sagte. Die Leute sind alle viel früher installiert worden und viel früher avisiert worden und viel früher befasst worden mit der Sache [gemeint ist der Massenmord] wie ich, der ich die Transportzüge zusammenstellen musste, [...] überhaupt davon in Kenntnis gesetzt wurde.«7 Eichmann wollte nun zu den letzten gehört haben, die von den Vernichtungsabsichten Hitlers erfahren hatten und zwar erst unmittelbar vor der Wannsee-Konferenz. Warum hielt er diese Selbstkorrektur schon in Argentinien für notwendig? Kurz vor dieser neuen Selbstdarstellung waren die Differenzen in der Sassen-Runde unübersehbar geworden. Schuld daran war nicht zuletzt ein Missverständnis gewesen. Eichmann war nämlich davon ausgegangen, dass man von ihm eine Art Resümee erwartete und hatte sich in altvertrautem Pathos zu dem vielzitierten Schlusswort aufgeschwungen, das unter all den Schrecklichkeiten auch das Bekenntnis enthielt: »Ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen, hätten wir von den 10,3 Millionen Juden, die Korherr, wie wir jetzt nun wissen, ausgewiesen hat, 10,3 Millionen Juden getötet, dann wäre ich befriedigt und würde sagen, gut, wir haben einen Feind vernichtet.« Ein so radikaler Antisemitismus schockte sogar die überzeugtesten Nationalsozialisten in der Sassen-Runde. Alle Hoffnung auf eine mögliche große Revision der deutschen Geschichte hatte getrogen. Der vermeintliche Kronzeuge für die Unschuld hatte sich als überzeugter Täter entpuppt. Eichmann war damit unversehens ins Abseits geraten und fand sich endgültig in der Position, die auch seine letzten Lebensjahre in Israel bestimmen sollte: Er musste sich kleiner machen, als er es gewesen war, um nicht unrettbar aus der Gemeinschaft zu fallen. Das effektivste Mittel, Verantwortung zu leugnen, besteht darin, das Mitwissen zu leugnen. Nur wer nichts gewusst hat, konnte auch nicht beschuldigt werden, dass er es nicht verhindert hatte. Dabei verriet Eichmann sein exklusives Wissen noch mit der Wahl der neuen Zäsur: Letztlich konnte nämlich in diesen Jahren nur ein Beteiligter wissen, wie viel es vor dem 20. Januar 1942 wirklich zu verbergen gab. Willem Sassen hatte von Eichmann in jedem Fall zu viel gehört, um auf diese letzte Kapriole noch neugierig zu sein. Er beendete die gemeinsamen Lektüre-Treffen kurz darauf. Für seine eigenen Versuche, die Judenvernichtung trotz Eichmann zu leugnen, fand er bis zu seinem Tod im Jahr 2000 keinen Verleger.8 Adolf Eichmann hat von den monatelangen Gesprächen in der Sassen-Runde eindeutig mehr profitiert. Als er im Mai 1960 von Agenten des israelischen Geheimdienstes Mossad aufgegriffen wird, steht seine Verteidigungslinie ebenso fest wie das tauglichste Mittel: Dokumente und Bücher. Nur wenige Tage nach der Entführung hat Eichmann sich genug gefangen, um sich auf diese Mittel zu besinnen: »Nachdem ich mich nicht an alle Einzelheiten mehr erinnern kann und auch manches verwechsle und durcheinander bringe, bitte ich, mir dabei behilflich zu sein, durch Zurverfügungsstellung von 7 Original Tonband BArch Koblenz, NL Adolf Eichmann N1497, BArch Zählung Band 10A, 12:15. 8 Sassens Versuch findet sich im Nachlass Eberhard Fritsch, ebenso wie eine Korrespondenz über Publikationsversuche. Im Privatbesitz.
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Unterlagen und Aussagen, bei meinen Bemühungen die Wahrheit zu suchen, behilflich zu sein«, setzte Eichmann unter die Erklärung, dass er sich freiwillig vor ein Gericht in Israel begeben wolle. So unfreiwillig er diese Erklärung auch zweifellos abgegeben hatte, war die Bitte um »Zurverfügungstellung« von Dokumenten ebenso zweifellos von Eichmann persönlich verfasst, schon allein weil niemandem sonst derartige Formulierungen eingefallen wären.9 In Israel begann das Verhör nur wenige Tage nach Eichmanns Ankunft am 31. Mai 1960. Avner Werner Less, zum Verhöroffizier bestimmt, ließ dem Gefangenen zunächst völlig freie Hand, das zu erzählen, was er erzählen wollte, denn seine Aufgabe bestand zunächst einmal darin, Eichmann überhaupt zum Reden zu bringen. Es war also Eichmanns eigene Entscheidung, schon am zweiten Tag von sich aus das Gespräch auf die Wannsee-Konferenz zu bringen und sie als ein Ereignis darzustellen, das »besonders wichtig« sei. Die Dreistigkeit, mit der er sich gegenüber Less als nur mühsam Erinnernden präsentiert, wird erst angesichts unseres heutigen Wissens über seinen Lektürestand und die Gespräche in Argentinien offensichtlich. Eichmann hat in diesem Fall keinesfalls Gedächtnislücken. Er versucht vielmehr in Israel alles, um möglichst schnell über das Wannsee-Protokoll reden zu können. Als Avner Werner Less ihn motiviert, seine Sicht der Dinge in einem zusammenhängenden Text zu formulieren, schreibt Eichmann in Windeseile 127 Seiten, die er schon am 16. Juni 1960 unter dem Titel Meine Memoiren an Less übergibt. Sie enthalten – so beiläufig wie möglich und in Klammern – den ausdrücklichen Hinweis auf das begehrte Dokument: »Mir ist bis heute der Inhalt, ja selbst die einzelnen Punkte nicht mehr so in Erinnerung, dass ich sie widergeben könnte. Aber es dürfte keineswegs schwer sein, dieses genau festzustellen, da ja an eine solch große Zahl diese Schreiben verschickt wurde, dass angenommen werden darf, dass das eine oder andere Exemplar aufgefunden werden konnte; zumal in den wenigsten Staatssekretariaten die Akten 1945 verbrannt wurden.«10 Zwanzig Tage, nachdem Eichmann sein Manuskript abgegeben hatte, wurde sein Wunsch erfüllt. Am 4. Juli 1960 legt Less eine Kopie des Wannsee-Protokolls auf den Verhör-Tisch.11 Der Eifer, mit dem Eichmann sich auf das folgende Verhörgespräch über dieses Dokument einlässt, ist auffällig. Er sprudelt geradezu über in der Schilderung von Einzelheiten und weiß auch ganz plötzlich, dass die Wannsee-Konferenz immer schon »StaatssekretärKonferenz« oder vielleicht doch nur »Staatssekretär-Besprechung«12 genannt worden war. 9 Dokument der Anklage im Prozess, T/3. Ein Mossad-Agent berichtete, dass Eichmann den zweiten Absatz auf eigenen Wunsch unter die ansonsten vorformulierte Erklärung setzte. Peter Malkin/Harry Stein, Ich jagte Eichmann, München u.a. 1990, S. 275. 10 Meine Memoiren, Handschrift, Eichmann Paginierung, S. 114 f. Siehe Dokumententeil, Dok. 11. 11 Die Datierung auf den 4. Juni, die sich bei Kurt Pätzold/Erika Schwarz, Tagesordnung: Judenmord. Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942. Eine Dokumentation zur Organisation der »Endlösung«, Berlin 1992, mehrfach findet, ist ein Druckfehler. 12 Verhörprotokoll, S. 846. (5. Juli 1961), siehe Dokumententeil, Dok. 10.
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Seine Redseligkeit verrät die Hoffnung, die er mit dem Wannsee-Protokoll verknüpfte. Er ist offensichtlich davon überzeugt, mit dem Bezug auf dieses Dokument einen bedeutenden Schritt zu seiner Verteidigung erreicht zu haben, auch wenn er noch bis zum Ende der Verhöre warten musste, bis er auch die erbetenen Fachbücher in seine Zelle bekam, um sie wenigstens noch für den Prozess in seinem Sinne benutzen zu können.13 Seine Arbeit mit den Büchern und die Erfahrungen aus dem Verhör fließen schon in die Version ein, die Eichmann im März 1961 im Auftrag seines Anwalts für eine Artikelserie verfasst, die zur Finanzierung der Verteidigung im britischen Magazin People erscheint: Aus dem engagierten Judenreferenten, der schon im Sommer 1941 in die Bemühungen Heydrichs und Himmlers eingeweiht ist, wird hier endgültig der kleine naive Schreiberling, der sich aus der langweiligen Konferenz bisweilen unbemerkt davonschleicht, um etwas zu essen, der ansonsten bleistiftspitzend neben der nun plötzlich erscheinenden Sekretärin am Protokoll-Tischchen sitzt, die beide nur vom Zimmerrand mit anhören können, was die Hohen Herren Überraschendes besprechen und der also auch erst im Januar 1942 zum widerwilligen Mitwisser eines Menschheitsverbrechens wird. »Ich wußte es und konnte dennoch nichts daran ändern ...«14 Zu den ersten Zeugen im Prozess des Staates Israel gegen Adolf Eichmann gehört der Verhöroffizier Avner W. Less, der im April 1961 ausführlich darüber berichtete, wie das Verhörprotokoll zustande kam und zur Erläuterung auch kurze Ausschnitte der TonbandAufnahmen seiner Befragung vorspielte. Zu den ausgewählten Themen gehörte – die Wannsee-Konferenz. Auch Eichmanns Anwalt räumte dem Wannsee-Protokoll großen Raum ein und sowohl der Generalstaatsanwalt als auch die Richter ließen sich ebenfalls darauf ein. Eichmann deutete das offensichtlich als Erfolg und machte sich allen Ernstes Hoffnungen auf ein mildes Urteil. In der Prozesspause zwischen den Plädoyers und der Urteilsverkündung verfasste er seine vorgebliche Generalabrechnung mit seinen ehemaligen Vorgesetzten unter dem Titel Götzen15, die natürlich auch einen Abschnitt über die Wannsee-Konferenz enthält. In dieser neuen Version des Ereignisses beschuldigte Eichmann jetzt namentlich und ausführlich die anderen Beteiligten. So berechtigt der Hinweis darauf ist, dass das Wannsee-Dokument selbstverständlich nicht nur Eichmann schwer 13 Eichmann erhält auch die Werke von Léon Poliakov, Joseph Wulf und Gerald Reitlinger erst am 29. Dezember 1960 und zwar nicht auf Wunsch der Untersuchungsbehörde, sondern auf Betreiben seines Anwalts Robert Servatius, der von seinem Mandanten erwartet, der Verteidigung zuzuarbeiten, um Kosten zu sparen. Die Vermutung, Eichmann habe die Bücher gleich zu Beginn des Verhörs von Less bekommen, um seinem »Erinnerungsvermögen aufzuhelfen«, beruht eindeutig auf einem Missverständnis des Verhörprotokolls. So u.a. Pätzold/Schwarz, Tagesordnung, S. 13. Vgl. dazu das Tagebuch von Avner W. Less, Eintrag vom 29. Dezember 1960. NL Avner W Less, Archiv für Zeitgeschichte, ETH Zürich, Signatur 4.2.3.2 (115), Heft Nr. 4. Jetzt abgedruckt in: Avner Werner Less. Lüge! Alles Lüge! Aufzeichnungen des Eichmann-Verhörers, Rekonstruiert von Bettina Stangneth, Zürich/Hamburg 2012. 14 Siehe Dokumententeil, Dok. 12. 15 Siehe Dokumententeil, Dok. 14.
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belastete, und so verständlich Eichmanns Ärger darüber war, dass andere besser davongekommen waren als er, so offensichtlich ist Eichmanns Hauptmotiv: Er musste vor allem auf die Unstimmigkeiten reagieren, die im Prozessverlauf zutage getreten waren. Nicht zuletzt die Wahl seiner Dienststelle als Ort für die Folgekonferenzen beunruhigte ihn offensichtlich. Der Zusammenhang zwischen seinem Referat und der weiteren Diskussion um die sogenannte Mischlingsfrage schien ihm so gefährlich, dass er sich sogar zu der aberwitzigen Behauptung versteigt, selber nicht an diesen Besprechungen teilgenommen zu haben. Eichmanns Fähigkeit, auf veränderte Umstände und neue Details mit immer neuen Geschichten zu reagieren, zeigte sich vollends nach der Urteilsverkündung, auch wenn ihn das Urteil selbst zunächst völlig aus der Bahn geworfen hat. Aber nach den Tagen der Apathie begann er wiederum zu schreiben. »Auch hier angesichts des Galgens«16 beginnt der trotzige Text, in dem Eichmann zum Schlag gegen alles ausholt, was er vorher aus taktischen Gründen außen vor gelassen hatte, insbesondere Konrad Adenauer und Hans Globke und die aktuelle Politik. Dass die Bundesrepublik ihm die Rechtsbeihilfe verweigert hatte und sogar das Wort »verteidigungsunwürdig« gefallen war, machte Eichmann jetzt zum Thema. Mit erschreckend sicherem Gespür findet er den wunden Punkt Globkes: Dessen Ruf hing maßgeblich (und bisher keineswegs aufgearbeitet) von den Aussagen seines ehemaligen Kollegen im Reichsinnenministerium, Bernhard Lösener ab, der nicht nur Stuckart im Wilhelmstraßen-Prozess entlastet hatte, sondern auch Globke. Lösener erklärte wiederholt beide – wie sich selbst – zu Hitlers Opfern. 1961, neun Jahre nach Löseners Tod, war der sogenannte Lösener-Bericht erschienen, der auch im Prozess thematisiert worden war und das Reichsinnenministerium samt Mitarbeitern weiter als möglich von den Verbrechen distanzierte. Eichmann wusste natürlich nicht, dass Teile des Textes seinerzeit in enger Absprache zwischen Lösener und Globke entstanden waren.17 Aber er wusste doch genug, um hier einen wunden Punkt zu vermuten, und virtuos eine weitere Wannsee-Konferenz-Version zu verfassen, die unmittelbar einleuchtend klänge – wenn man nicht all die anderen einleuchtend klingenden Versionen danebenlegen könnte. Die Umformungen, die Eichmann an seiner Schilderung der Wannsee-Konferenz und ihrer Bedeutung vornimmt, sind so erschreckend durchschaubar, dass man sich kaum vorstellen kann, dass je jemand insbesondere seiner Prozess-Version Glauben schenken konnte. Aber obwohl die Staatsanwaltschaft und das Gericht Eichmanns Verkleinerungs16 Siehe Dokumententeil, Dok. 15. 17 Der Nachlass Globkes im Konrad Adenauer Institut, St. Augustin, enthält auch große Teile des Briefwechsels zwischen Globke und Lösener, aus dem wie aus den erhaltenen Vorfassungen eine so enge Absprache hervorgeht, dass es gar nicht einfach ist, noch zu entscheiden, wer hier Autor und wer Korrektor war. Das Institut für Zeitgeschichte, München, veröffentlichte den sogenannten LösenerBericht 1961 unter dem Titel »Als Rassereferent im Reichsministerium des Innern«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 9 (1961), S. 262–313. Der angekündigte Kommentar zum Text erschien bis heute nicht. Eine gründliches Studium der Unterlagen im Globke-Nachlass sei hiermit ausdrücklich empfohlen.
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Taktik sehr wohl durchschauten, ist man ihm jenseits des Gerichtssaals immer wieder gefolgt. In weitgehender Unkenntnis der anderen Äußerungen verbreitete sich sein Bild der Wannsee-Konferenz bis ins kleinste Detail in der Öffentlichkeit, nicht zuletzt durch den Film von Paul Mommertz aus dem Jahr 1984 unter der Regie von Heinz Schirk, das aus der heutigen Sicht vor allem eines deutlich macht: Wie sehr eine winzige Kleinigkeit die Wahrnehmung eines ganzen Ereignisses verändern kann. Vor 1961 hatte niemand je eine Sekretärin erwähnt. Insbesondere Eichmann hatte immer von einem Mann für das Protokoll gesprochen und in einem unvorsichtigen Moment, nämlich in der Eile beim Verfassen von Meine Memoiren sogar seinen Vertreter Rolf Günther namentlich erwähnt. Man kann also nicht ausschließen, dass die Sekretärin zunächst nur ein Versuch war, von diesem Hinweis wieder abzulenken. Adolf Eichmann war bis zu seinem Tod unerschütterlich davon überzeugt, dass Günther noch lebte und hatte schon in Argentinien vehement darauf bestanden, Bemerkungen über ihn im Sassen-Protokoll streichen zu lassen, weil er seinen ehemaligen Untergebenen nicht in Gefahr bringen wollte.18 Tatsache ist allerdings, dass allein die Vorstellung, eine Frau habe die Besprechung protokolliert, unser Bild von der Konferenz gravierend verändert. Nicht nur in den vierziger Jahren stellt man sich Männer in der Gesellschaft von Frauen nun einmal anders vor, wenn auch nicht notwendig geckenhaft dauerflirtend wie den Heydrich in der Verfilmung von 1984. Das Protokoll, das in einer vergleichsweise zurückhaltenden Sprache verfasst ist, bekam dadurch ebenfalls ein anderes Gewicht. Die Weitschweifigkeit, mit der sich Eichmann auf den Gedanken einlässt, legt nahe, dass ihm die Akzentverschiebung auch bewusst war. Ein Mann, der seiner Sekretärin galant ein Brötchen mitbringt, schien ihm zurecht nützlicher als ein Obersturmbannführer, der Reinhard Heydrich mit Redemanuskript und Zahlenmaterial ausgestattet hatte. Wie weit der Einfluss von Eichmanns Erzählungen auf unser Verständnis der Geschichte nationalsozialistischer Judenverfolgung reicht, ist eine der drängendsten Fragen angesichts der Argentinien-Papiere. Das gilt nicht nur für Literatur, die sich unvorsichtig auf Eichmanns Äußerungen verlässt und ihnen damit Eingang in die Forschung verschafft hat wie beispielsweise im Fall der Biographien über den Gestapo-Chef Heinrich Müller oder die jahrzehntelange Vernachlässigung der Rolle des Eichmann-Referats bei der Judenvernich18 Worauf Eichmanns Sicherheit in dieser Frage beruhte, konnte bisher nicht geklärt werden. Nach landläufiger Meinung soll sich Rolf Günther im August 1945 im amerikanischen Kriegsgefangenenlager Ebensee vergiftet haben. Die eidesstattliche Erklärung, die dieser Meinung zugrunde liegt, stammt allerdings von einem alles andere als Unbeteiligten. Walter Huppenkothen, langjähriger Kollege Eichmanns im RSHA und unter anderem Mitglied der Sonderkommission zur Verfolgung der Hitler-Attentäter vom 20. Juli, war nicht für seine Wahrheitsliebe bekannt. Es ist also nicht völlig auszuschließen, dass Eichmann verlässlichere Informanten hatte, zumal sein Vater in Linz über vielerlei Kontakte verfügte und ihn auch in anderen Fällen in Kenntnis gesetzt hatte. Die eidesstattliche Aussage von Walter Huppenkothen in Nürnberg vom 11. Juli 1947 ist zitiert in: Jan Björn Potthast, Das jüdische Zentralmuseum der SS in Prag. Gegnerforschung und Völkermord im Nationalsozialismus, München 2002, S. 393.
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tung noch im Jahr 1945. Die Frage der Wirkmächtigkeit von planmäßigen Lügen eines Insiders auf die Geschichtswissenschaft ist schon im Falle der Wannsee-Konferenz keineswegs beantwortet. Welche Aussagen entsprechen der Wahrheit? Welche sind einer Betrugsabsicht, welche schlicht der Angeberei geschuldet? Können wir wirklich ausschließen, dass die Konferenz sogar mehr als einmal verschoben worden ist und dass Eichmann davon nur deshalb weniger berichtet, weil es auch seine Beteiligung lange vor dem Januar 1942 wieder in den Vordergrund gerückt hätte? Schließlich behauptet auch Konferenz-Teilnehmer Josef Bühler, dass die Sitzung schon deutlich früher geplant gewesen sei.19 Wie lang war die Sitzung wirklich gewesen? Nur anderthalb Stunden oder doch eher stundenlang? Eichmann behauptet beides. Hatte Eichmann die Wannsee-Konferenz eventuell 1956 mit Recht vergessen, weil sehr viel mehr Sitzungen zum Thema stattgefunden hatten und sie nur eine von vielen war, von denen nur keine Kopie die Aktenvernichtung überstanden hat? Dass Eichmann in der Lage war, seine eigene Teilnahme an Besprechungen hochrangiger Nazis einfach zu verschweigen, beweist seine Weigerung, sich daran zu erinnern, schon am 12. November 1938 mit viel »höheren Herrn« an einem Tisch gesessen zu haben, nämlich mit Josef Goebbels, Hermann Göring, Walther Funk, Wilhelm Frick und – schon damals – Wilhelm Stuckart.20 Wie entscheidend sind die sogenannten Wendepunkte oder Epochen der Radikalisierung, durch die wir uns heute die Entwicklung von der Diskriminierung zur Vernichtung gliedern und damit verständlich machen? Ja, noch grundsätzlicher gefragt: Welche Bedeutung haben Konferenzen und interministerielle Treffen generell für eine Entscheidungsfindung und vor allem für unsere Vorstellung über das politische Handeln? Dass Politik vornehmlich an offiziellen Terminen stattfindet, ist zwar eine elegante, aber letztlich romantische Vorstellung. Im Fall der Wannsee-Konferenz war das Bild von der »entscheidenden Sitzung« schon 1942 gewollt. Die Konferenz sollte das Ende der Konkurrenz zwischen den Ministerien und Instanzen symbolisieren und damit möglichst verewigen. Adolf Eichmann fällt noch 1961 in einen feierlichen Duktus, wenn er über diese »Machtvollkommenheitserweiterung« spricht. Dass Heydrich ihn mit dem neuzugeschnittenen Referat IV B 4 als seinen Judenreferenten inthronisierte, war auch deshalb einer der größten Momente in Eichmanns Karriere, weil seine zentrale Position der sichtbare Ausdruck einer neuen interministeriellen Komplizenschaft war. Selber ein Symbol gewesen zu sein, das war eine Vorstellung, die Eichmann so erhebend fand, dass er noch in Argentinien nicht aufhören konnte, damit zu prahlen – ebenso wie er nicht aufhörte, seine Vorgesetzten dafür zu bewundern, die entscheidende Bedeutung von Symbolen in Machtfragen durchschaut und ihn als eines davon auserwählt zu haben.21 Eben deshalb dachte er gern daran, dass Heydrich auch ihn nach der Wannsee-Konferenz mit einem Cognac gefeiert 19 Aussage Josef Bühler 1946, siehe Pätzold/Schwarz, Tagesordnung, S. 135. 20 Das Protokoll der Sitzung war schon ein Beweisdokument im ersten Nürnberger Prozess (IMT 1816PS). Im Eichmann-Prozess T/144. 21 Stangneth, Eichmann, S. 25 ff.
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hatte. Es ist dieses komplexe Verständnis von politischem Handeln, das wir berücksichtigen müssen, wenn wir über den Quellenwert der Eichmann-Aussagen diskutieren. Bei Menschen, die das Manipulieren aus der Praxis eines Massenmords vor aller Augen erlernt haben, ist wissenschaftliche Sorgfalt in der Quellenkritik allein nicht genug. Sie fordern das stetig bewusste Umgehen mit den Methoden des Denkens selbst und damit auch unserer Fähigkeit, uns in der Welt zu orientieren. Genau das ist allerdings auch ein guter Grund, Eichmanns Äußerungen nicht einfach komplett zu verwerfen, auch wenn dieser verführerische Gedanke sogar den besten Forschern angesichts der Unberechenbarkeit dieser »Zeugnisse« schon in den Sinn gekommen ist. Es ist die Auseinandersetzung mit den Lügnern und Manipulateuren, die uns noch die Anfälligkeit unserer Erkenntnismethoden erkennen läßt. Dass sich das Lügen mit Worten leichter beherrschen läßt als das Vortäuschen emotionaler Regungen, ist eine Binsenweisheit. Es kann deshalb nicht verwundern, dass die Menschen, die Eichmann befragten, wenigstens von seinen Gefühlen abzulesen versuchten, was er ihnen offensichtlich nicht sagen wollte. Nach der Wannsee-Konferenz habe er, so sagt Eichmann in Jerusalem auf Befragen seines Anwalts, »eine Art Pilatussche Zufriedenheit in mir verspürt, denn ich fühlte mich bar jeder Schuld«.22 Auch auf Nachfragen von Richter Yitzhak Raveh blieb Eichmann dabei, dass ihm, dem sehr wohl an traditioneller Moral orientierten Menschen, nichts anderes möglich gewesen wäre als die bewusste Trennung von dienstlicher Pflichtauffassung und privatem Machtlosigkeitsgefühl. Wer sich die Film-Aufnahmen der beiden Sitzungen ansieht, wird kaum glauben, was dennoch unwiderleglich ist: Eichmann verspürte seit jeher eine tiefe Verachtung für genau die – wie er sie zu anderen Zeiten genannt hatte – »pilatische Gebärde«. Sich derart auf einen Befehl herauszureden, hatte er in der Sassen-Runde gesagt, »das ist billiger Mumpitz, das ist eine Ausrede«.23 »Humanitaere Ansichten« wie diese dienten doch immer nur dazu, »sich bequemst hinter Verordnungen, Erlass und Gesetz zu verstecken«.24 Für eine solche Haltung habe er auch bei Untergebenen nie Verständnis gehabt. Ein Nationalsozialist war zu klug, um auf das Gerede über »innere Moral« hereinzufallen. Eichmann vor Jerusalem fühlte sich zwar auch »bar jeder Schuld«, aber aus einem ganz anderen Grund: Er war überzeugt davon, genau das Richtige getan zu haben, auch wenn er sich gelegentlich vorwarf, dass er »mehr hätte machen müssen«.25 Sein Fazit zur Schuldfrage lautet schon 1956 unmissverständlich: »Ohne jede pilatische Gebärde stelle ich fest: Ich bin vor dem Gesetz und vor meinem Gewissen nicht schuldig.«26 Als Gefangener in Jerusalem jedoch 22 23 24 25
Siehe Dokument 13, Prozess-Sitzung 106, 21. Juli 1961. Sassen-Transkript Band 3, S. 3. Sassen-Transkript Band 33, S. 10. Sassen-Transkript, sog. »Schlußwort«, Original-Tonband BArch Koblenz NL, BArch Zählung 10 B 52:30–1:02:58. Vollständige Transkription in: Stangneth, Eichmann, S. 391−394. 26 Aus dem Manuskript Die anderen sprachen, jetzt will ich sprechen!, siehe Stangneth, Die Argentinienpapiere, III, S. 5.
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konnte er sich gar nicht genug bemühen, seine Hände in Unschuld zu waschen – und sich geradezu überschwänglich bei dem Menschen zu bedanken, der ihn angeblich zuallererst überhaupt auf den Vergleich mit dem Statthalter von Judäa gebracht hatte, nämlich dem Psychologen, der ihn genau 19 Jahre nach der Wannsee-Konferenz in Israel untersucht hatte.27 Man tut entsprechend gut daran, auch noch bei den Gefühlsausbrüchen skeptisch zu sein, wenn sie von Adolf Eichmann stammen. Auf einem der vielen Zettel, die Eichmann während des Prozesses an seinen Verteidiger Robert Servatius schickte, findet sich auch einer, der noch heute jeden beunruhigen muss, der über die Wannsee-Konferenz nachdenken möchte und dafür nach Eichmanns Aussagen greift. Servatius wollte Eichmann über das Besprechungs-Protokoll befragen. »Hoffentlich kann man damit den Vormittag ausfüllen«, schrieb Eichmann. »Vielleicht hält sich das Gericht bei der Wannsee-Akte auf.«28 Wir tun genau das bis heute. Die Frage im Umgang mit dem historischen Ereignis Wannsee-Konferenz muss also immer auch lauten, ob wir uns wegen oder trotz Adolf Eichmanns Hoffnung damit beschäftigen.
27 Shlomo Kulcsar, der Eichmann ab dem 20. Januar 1961 untersuchte, berichtet von dem Enthusiasmus, mit dem er auf Kulcsars Frage reagiert habe, ob er sich einmal mit Pontius Pilatus verglichen habe. »Das ist genau mein Fall!«, habe er ausgerufen. Ausführlich in: Stangneth, Eichmann, S. 291. 28 BArch Koblenz, Nachlass Servatius, AllProz 6/165.
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Eichmann und der kategorische Imperativ, oder: Gibt es eine nationalsozialistische Moral? Am 20. Juli 1961 geschah während der 105. Sitzung des Bezirksgerichts Jerusalem im Strafverfahren 40/61 (Der Staat Israel gegen Adolf Eichmann) etwas Unerwartetes. Ziemlich am Ende dieses Tages forderte Richter Raveh den Angeklagten auf, eine Passage in der polizeilichen Vernehmung zu erläutern, in der Eichmann gesagt hatte, er habe sich sein ganzes Leben darum bemüht, der »ganzen Forderung« entsprechend zu leben. »Da verstand ich darunter«, antwortete Eichmann, »dass das Prinzip meines Wollens und das Prinzip meines Strebens so sein muss, dass es jederzeit zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung erhoben werden könnte, so wie Kant das in seinem kategorischen Imperativ ungefähr ausdrückt.«1 Dass Eichmann damit recht präzise den ersten kategorischen Imperativ Kants: »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne«2 wiedergab und darüber hinaus mitteilte, er habe während des Krieges Kants Kritik der praktischen Vernunft gelesen, überraschte Richter wie Publikum. Ungläubig fragte Raveh nach: »Dann wollen Sie also damit sagen, dass Ihre Tätigkeit im Rahmen der Deportation der Juden dem Kantschen kategorischen Imperativ entsprach?« Aber Eichmann widersprach: »Nein, das in keiner Weise, denn diese Tätigkeit und diese Zeit habe ich ja unter einem Zwang, Zwang eines Dritten zu leben und zu wirken während außergewöhnlicher Zeiten. Ich meinte damit, mit der, mit der, mit dem Leben nach dem Kant‘schen Grundsatz, so weit ich Herr über mich selbst bin und mein Leben nach meinem Wollen und nach meinen Wünschen einrichten kann. Das ist ja selbstverständlich, anders kann es nicht gemeint sein, denn wenn ich einer höheren Gewalt und einer höheren Kraft unterworfen werde, dann ist ja mein freier Wille an sich ausgeschaltet und dann, nachdem ich nicht mehr Herr meines Willens und Wollens sein kann, kann ich mir ja keine irgendwelche Prinzipien zu eigen machen, die ich nicht beeinflussen kann, wohingegen ich den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit in diesen Begriff hineinbauen muss und auch darf, verantworten muss ihn ja dann die Obrigkeit.«3
1 Protokoll der Verhandlungen des Bezirksgerichts Jerusalem gegen Adolf Eichmann, Strafakt 40/61, 105. Sitzung 20.7.1961, Bl. Nn1, Bundesarchiv, AllProz 6/76. 2 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1797), herausgegeben von Karl Vorländer, Hamburg 1990, S. 36. 3 Verhandlung gegen Eichmann, 20.7.1961, Bl. Nn 1.
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Eichmann unterteilte sein Leben in eine Zeit, in der er versuchte, »so gut es ging, in den Dienst, möchte ich mal sagen, dieser Kant’schen Forderung« zu stellen, und eine darauf folgende Zeit des Krieges, in der er nur zu gehorchen hatte und nicht nach dem kategorischen Imperativ leben konnte, »weil ich durch höhere Gewalten nicht in der Lage war, danach zu leben«. Die Grenzkategorie, die beide Zeiten voneinander trennte, benannte Eichmann klar: »Es kann nicht im Sinne der Kant‘schen Forderung liegen, Menschen gewaltsam zu töten, weil es an sich nicht Gottgewolltes ist.« Schon vor der Lektüre von Kants Kritik der praktischen Vernunft sei ihm die Formel: »Getreu dem Gesetz, gehorsam, selber ein ordentliches Leben führen, nicht mit den Gesetzen in Konflikt kommen« bekannt gewesen, aber diese Fassung sei eher, wie Eichmann es ausdrückte, der kategorische Imperativ »für den Hausgebrauch des kleinen Mannes« gewesen.4 Richter Raveh ließ es damit bewenden und ging zum nächsten Beweisstück über. Die Philosophin und Prozessbeobachterin Hannah Arendt, die bereits mit sechzehn Jahren Kants Kritik der reinen Vernunft gelesen hatte,5 bemerkte selbstverständlich die Bedeutung dieser Szene und machte sich über den SS-Kantianer eher lustig. Zwar habe Eichmann erklärt, dass er in dem Augenblick, als er mit den Maßnahmen zur »Endlösung« beauftragt wurde, aufgehört habe, nach kantischen Prinzipien zu leben, sich mit dem Gedanken getröstet, nicht länger Herr über sich selbst gewesen zu sein. Damit aber habe Eichmann, so Arendt, die Kant’sche Formel nicht einfach als überholt beiseite gelegt, sondern sie sich vielmehr so zurechtgebogen, bis sie jener Formel entsprach, die Eichmann »den kategorischen Imperativ für den Hausgebrauch des kleinen Mannes« genannt hatte. Von Kant bliebe damit »nur noch die moralische Forderung übrig, nicht nur dem Buchstaben des Gesetzes zu gehorchen und sich so in den Grenzen der Legalität zu halten, sondern den eigenen Willen mit dem Geist des Gesetzes zu identifizieren – mit der Quelle, der das Gesetz entsprang. In Kants Philosophie war diese Quelle die praktische Vernunft; im Hausgebrauch, den Eichmann von ihr machte, war diese Quelle identisch geworden mit dem Willen des Führers«.6 Daran schloss sie die hellsichtige Bemerkung an, viel von der peniblen Gründlichkeit, die »Endlösung« in Gang zu setzen und zu halten, sei auf die in Deutschland verbreitete Vorstellung zurückzuführen, dass Gesetzestreue sich nicht darin erschöpfe, den Gesetzen zu folgen, sondern darüber hinaus so zu handeln verlange, als sei man selbst der Schöpfer der Gesetze. Wenige Jahre zuvor klang die Frage der Moral bei Eichmann noch ganz anders. In jenen Wochenendgesprächen bei dem ehemaligen SS-Kriegspropagandisten Willem Sassen in Buenos Aires im Frühjahr 1957 sprachen Eichmann und die übrigen Teilnehmer, unter 4 Ebenda, Bl. O1. 5 Elisabeth Young-Bruehl, Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt am Main 1991, S. 76 f. 6 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1986, S. 233 (Originalausgabe: New York 1963, deutsche Erstausgabe: München 1964); vgl. dazu Steven E. Aschheim (Hg.), Hannah Arendt in Jerusalem, Berkeley u.a. 2001; Gary Smith (Hg.), Hannah Arendt Revisited: »Eichmann in Jerusalem« und die Folgen, Frankfurt am Main 2000.
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anderem auch der ehemalige Himmler-Adjutant Ludolf von Alvensleben, ungeschminkt und stolz über ihre Mordtaten. Das Töten, so Eichmann, sei nun einmal nötig gewesen, denn »nur ein toter Reichsgegner ist gut. Im Besonderen habe ich dazu zu sagen, wenn ich einen Befehl bekommen habe, so habe ich beim Henker diesen Befehl stets ausgeführt, darauf bin ich auch heute noch stolz«.7 Die Deportation der ungarischen Juden 1944 war »eine Höchstleistung, die nie vorher und oder nachher zu verzeichnen war«.8 »Sehen Sie einmal«, erläuterte Eichmann seinen Zuhörern, »wie können Sie 25.000 Juden, od[er] Menschen oder sagen wir 25.000 Kühe, wie können Sie 25.000 Tiere unterwegs einfach so verschwinden lassen. […] Haben Sie je mal 10.000 Menschen auf einem Haufen gesehen? Das sind 5 Transportzüge und lassen [Sie] sie nach dem Muster der ung[arischen] Gend[armerie] die Transpz. [Transportzüge] vollknallen, da geht Ihnen beim besten Willen in einen Transpz. nicht mehr wie 3.000 Menschen rein.«9 Die »Endlösung«, so Eichmann ganz ohne Ironie, sei eine »Mordsarbeit« gewesen.10 Er sei ein »vorsichtiger Bürokrat« gewesen, resümierte er in seinem Schlusswort, aber zugleich »ein fanatischer Kämpfer für die Freiheit meines Blutes, dem ich anstamme und ich sage hier, genau wie ich Ihnen vorhin sagte, Ihre Laus, die Sie zwickt, Kamerad Sassen, interessiert mich nicht. Mich interessiert meine Laus unter meinem Kragen. Die zerquetsche ich. Das gilt für mein Volk. Da wurde ich von dem vorsichtigen Bürokraten, selbstverständlich der ich war, das war ich gewesen, wurde ich aber inspirierend geleitet: Was meinem Volke nützt, ist für mich heiliger Befehl und heiliges Gesetz.«11
Volk als Referenz Das Neue des nationalsozialistischen Regimes bestand darin, dass es sich nicht auf Staat und Gesetz als Ordnungsprinzip gründete, sondern auf Volk und Rasse. Nicht der Staat stand im Mittelpunkt des nationalsozialistischen Denkens, sondern das Volk. Hitler selbst hat dies in Mein Kampf unmissverständlich formuliert: »Im allgemeinen soll aber nie vergessen werden, dass nicht die Erhaltung eines Staates oder gar die einer Regierung höchster Zweck des Daseins der Menschen ist, sondern die Bewahrung ihrer Art. [...] Wir, als Arier, vermögen uns unter einem Staat also nur den lebendigen Organismus eines Volkstums vorzustellen, der die Erhaltung dieses Volkstums nicht nur sichert, sondern es auch durch Weiterbildung seiner geistigen und ideellen Fähigkeiten zur höchsten Freiheit führt.«12 7 Zit. nach Bettina Stangneth, Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders, Zürich/Hamburg 2011, S. 345. 8 Zit. nach Stangneth, Eichmann, S. 346. 9 Zit. nach ebenda, S. 341. 10 Zit. nach ebenda, S. 345. 11 Zit. nach ebenda, S. 391. 12 Adolf Hitler, Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band, 349.–351. Auflage, München 1938, S. 104, 434.
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Nicht anders Heinrich Himmler: »Die nationalsozialistische Idee, die heute das deutsche Volk und das Reich beherrscht, sieht im Volk, nicht im Einzelmenschen, die wirkliche Erscheinungsform des Menschentums«, führte er in seinem grundsätzlichen Aufsatz über »Aufgaben und Aufbau der Polizei des Dritten Reiches« aus. »Das Volk wird begriffen nicht als zufällige Summe von Einzelnen, nicht einmal als die Gesamtheit der gegenwärtig lebenden Menschen gleichen Blutes, sondern als überpersönliche und überzeitliche Gesamtwesenheit, die begrifflich alle Generationen dieses Blutes – von den frühesten Ahnen bis zu den fernsten Enkeln – umfasst. Dieser Volkskörper wird als organische Einheit gesehen, die von einem Gestaltungs- und Entwicklungsgesetz eigener Art beherrscht wird. [...] Die Aufgaben der Führung und der von ihr geschaffenen Einrichtungen zielen ausschließlich auf die Erhaltung und Entfaltung aller Kräfte des Volkes.« Und entsprechend folgerte Himmler daraus für die nationalsozialistische Polizei: »Die Polizei hat das deutsche Volk als organisches Gesamtwesen, seine Lebenskraft und seine Einrichtungen gegen Zerstörungen und Zersetzung zu sichern. Die Befugnisse einer Polizei, der diese Aufgaben gestellt sind, können nicht einschränkend ausgelegt werden.«13 Nicht das selbst in seiner repressivsten Form bindende staatliche bzw. bürokratische Regelwerk einer Diktatur bildete die Handlungsgrundlage, sondern das »gesunde Volksempfinden«, die Rasse, deren Fortentwicklung »naturgemäß« von keiner Bürokratie geregelt werden durfte. Von hierher rührte der bekannte Widerwillen gegen Juristen, den Hitler ebenso wie Himmler und Heydrich teilten. Nicht so sehr kleinbürgerliches Ressentiment war dafür verantwortlich, als vielmehr klare politische Ablehnung jeglicher juristischer, das heißt systematischer, einheitlicher, durchschaubarer und in der Reichweite ihrer Gültigkeit verbindlich definierter Regulierungsansprüche. Nicht der einzelne Mensch, nicht das subjektive Recht als Angelpunkt der bürgerlichen Rechtsordnung, sondern das Recht der Gemeinschaft, das Recht der Volksgemeinschaft bildete den Kern eines nationalsozialistischen Rechts. Im Nachlass des SS-Führers und Korruptionsermittlers Konrad Morgen fand sich dessen NSDAP-Ausweis mit einem Vorwort von Hitler aus dem Januar 1927, in dem es heißt: »Handle dabei in allem so, als ob das Schicksal Deines ganzen Volkes nur auf Deinen Schultern allein läge und erwarte nichts von anderen, was Du nicht selbst zu geben und zu tun bereit bist [...].«14 Insbesondere der SS-Jurist Reinhard Höhn, der sich 1934 bei Ernst Krieck in Heidelberg habilitiert hatte, profilierte sich als »Vorkämpfer des Gemeinschaftsgedankens im Staatsrecht« (Michael Stolleis). »Die neue, auf Gemeinschaftsboden fußende Welt«, so Höhn 1934, »stürmte mit ihren Begriffen Gemeinschaft, Führer, Volk, Rasse gegen eine Welt an, die
13 Heinrich Himmler, »Aufgaben und Aufbau der Polizei des Dritten Reiches«, in: Dr. Wilhelm Frick und sein Ministerium, herausgegeben von Hans Pfundtner, München 1937, S. 125–130, hier: S. 127 f. 14 Zit. nach Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Frankfurt am Main 2010, S. 160.
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auf einem anderen Boden stand.«15 In deutlicher Kritik an den Theoretikern eines eher etatistischen »Führerstaats« wie Otto Koellreutter oder Ernst Rudolf Huber setzte Höhn andere Akzente: »An die Stelle des individualistischen Prinzips ist heute ein anderes getreten, das Prinzip der Gemeinschaft. Nicht mehr die juristische Staatsperson ist Grund und Eckstein des Staatsrechts, sondern die Volksgemeinschaft ist der neue Ausgangspunkt.«16 Höhn nahm damit einen Gedanken auf, den Carl Schmitt in einem einflussreichen Aufsatz 1934 Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens formuliert hatte, in dem er zwischen dem Normativismus als Gesetzes- und Regeldenken, dem Dezisionismus als Denken des Rechts von der Entscheidung des Richters her und schließlich dem konkreten Ordnungsdenken unterschied, das sich auf konkrete Gemeinschaften innerhalb des Volkes beziehe. »Für das konkrete Ordnungsdenken«, so Schmitt, »ist ›Ordnung‹ auch juristisch nicht in erster Linie Regel oder eine Summe von Regeln, sondern, umgekehrt, die Regel ist nur ein Bestandteil und ein Mittel der Ordnung.«17 Zwar war die These, dass das angewandte Recht weniger in den geschriebenen Gesetzen als vielmehr in den Rechtsgewohnheiten der jeweiligen Rechtsgenossen zu finden sei, nicht neu. Aber Schmitts konkretes Ordnungsdenken in Verbindung mit dem Konzept einer Volksgemeinschaft stellte den Wendepunkt in der Entwicklung einer nationalsozialistischen Rechtstheorie dar. Der jüdische und sozialdemokratische Jurist Ernst Fraenkel, der nach seiner Emigration aus Deutschland in die USA mit seinem 1941 erschienenen Buch The Dual State eine der wichtigsten zeitgenössischen Analysen des NS-Regimes verfasste, sah die politischen Konsequenzen dieses Rechtsdenkens sehr klar. »Der Vorstellung, dass die Gemeinschaft alleinige Quelle des Rechts sei, entspricht die Lehre, dass es außerhalb der Gemeinschaft kein Recht geben könne. [...] Wer außerhalb der Gemeinschaft steht, ist der wirkliche oder potentielle Feind. Innerhalb der Gemeinschaft gelten Friede, Ordnung und Recht. Außerhalb der Gemeinschaft gelten Macht, Kampf und Vernichtung.«18 15 Reinhard Höhn, »Gemeinschaft als Rechtsprinzip«, in: Deutsches Recht 1934, zit. nach Oliver Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft unter dem Nationalsozialismus, München 1994, S. 8. 16 Reinhard Höhn, »Die staatsrechtliche Lage«, in: Volk im Werden, 1934/35, zit. nach Michael Stolleis, »Gemeinschaft und Volksgemeinschaft. Zur juristischen Terminologie im Nationalsozialismus«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 20 (1972), Heft 1, S. 16–38, hier S. 29. 17 Carl Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Berlin 1934, S. 13; vgl. dazu insbesondere Raphael Gross, Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre, Frankfurt am Main 2000. 18 Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2: Nationalsozialismus und Widerstand, herausgegeben von Alexander v. Brünneck, Baden-Baden 1999, S. 193; vgl. dazu meine Antrittsvorlesung an der Universität Hannover: Michael Wildt, »Die politische Ordnung der Volksgemeinschaft. Ernst Fraenkels ›Doppelstaat‹ neu betrachtet«, in: Mittelweg 36 12 (2003), Heft 2, S. 45–61; zur Biographie Fraenkels siehe Simone Ladwig-Winters, Ernst Fraenkel. Ein politisches Leben, Frankfurt am Main 2009.
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Er werde nicht aus einem Saulus zu einem Paulus werden, beharrte Adolf Eichmann 1957 in Argentinien. »Mich reut gar nichts! Ich krieche in keinster Weise zu Kreuze! […] Ich sage Ihnen, Kamerad Sassen, das kann ich nicht. Das kann ich nicht, weil ich nicht bereit bin, weil sich mir das Innere sträubt, etwa zu sagen, wir hätten etwas falsch gemacht. Nein. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, hätten wir von den 10,3 Millionen Juden, die Korherr, wie wir jetzt nun wissen, ausgewiesen hat, 10,3 Millionen Juden getötet, dann wäre ich befriedigt und würde sagen, gut, wir haben einen Feind vernichtet. Nun durch des Schicksals Tücke der Großteil dieser 10,3 Millionen Juden am Leben erhalten geblieben sind, sage ich mir: Das Schicksal wollte es so. Ich habe mich dem Schicksal und der Vorsehung unterzuordnen.«19 Ganz anders als vier Jahre später im Jerusalemer Bezirksgericht beschreibt sich Eichmann hier keineswegs als kleines Rädchen in einem großen Getriebe. Seine beflissene, fast unterwürfige Haltung, mit der er die Fragen des Staatsanwaltes und der Richter beantwortete, seine bemühte Art, einen »richtigen« Ausdruck zu finden, seine Beteuerung, ein Idealist gewesen zu sein, der eigentlich nur das verwirklichen wollte, was »die Juden« doch selbst anstrebten, nämlich eine eigene Heimstatt – selbstredend weit von Deutschland und dem nationalsozialistischen Herrschaftsbereich entfernt. Wie sehr dieses Bild eines mediokren Büroangestellten seine tatsächlichen Überzeugungen und Selbstwahrnehmungen verdeckte (und verdecken sollte), stellen die Aufzeichnungen aus Argentinien unter Beweis. Hannah Arendt, die diese Unterlagen nicht kannte, verfehlte daher den Täter Eichmann, wenn sie schrieb: »Es war gewissermaßen schiere Gedankenlosigkeit – etwas, was mit Dummheit keineswegs identisch ist –, die ihn dafür prädisponierte, zu einem der größten Verbrecher jener Zeit zu werden. Und wenn dies ›banal‹ ist und sogar komisch, wenn man ihm nämlich beim besten Willen keine teuflisch-dämonische Tiefe abgewinnen kann, so ist es darum doch noch lange nicht alltäglich.«20 Eichmann war sehr wohl in der Lage, sich vorzustellen, was er tat, weil er tun wollte, was er tat. Er leugnete keineswegs, dass es Moral, Gewissen, Schuld gibt. Die Frage nach der Moral beantwortete er bezeichnend: »Es gibt eine ganze Anzahl von Morale: eine christliche, eine Moral der ethischen Werte, eine Kriegsmoral, eine Kampfmoral. Welche soll es sein?«21 Darin bestand die Nebelkerze, die er mit Kants Kritik der praktischen Vernunft auswarf. Eichmann ging es – diametral gegen den universalistischen Ansatz des Königsberger Philosophen – nicht darum, einer Moral zu entsprechen, die für alle Menschen galt, sondern nur einem partikularen Kollektiv: dem deutschen Volk. Was Carl Schmitt für das Recht behauptete, das jeweils nur für konkrete Gemeinschaften angewandt werden könne, galt für Eichmann auch für die Moral. Alle Angehörigen der eigenen (Volks)Gemeinschaft hatten sich einem Moralkodex zu unterwerfen, der das eigene Handeln daran orientierte, dass es jederzeit auch ein allgemeines Prinzip 19 Zit. nach Stangneth, Eichmann, S. 391 f. 20 Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 16. 21 Zit. nach Stangneth, Eichmann, S. 283.
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dieser Volksgemeinschaft sein könnte. Für all diejenigen, die aus dieser Volksgemeinschaft ausgeschlossen wurden, galten solche moralischen Prinzipien nicht. Im Gegenteil, gegen »Volksfeinde«, »Rassegegner« und »Gemeinschaftsfremde« war jedes Mittel erlaubt, um sie zu vernichten.
Partikulare Moral Es war nicht der »Wille des Führers«, der hinter Eichmanns Definition des kantischen Imperativs »für den Hausgebrauch des kleinen Mannes« steckte, wie Hannah Arendt glaubte. Vielmehr lässt sich hinter Eichmanns Aussagen ein durchaus in sich stimmiges System einer partikularen Moral erkennen, das ihm die Legitimation für den millionenfachen Massenmord lieferte. Natürlich, konzediert die Philosophin Bettina Stangneth ihrer Kollegin Hannah Arendt, sei es eine kaum erträgliche Zumutung gewesen, Eichmanns Selbststilisierung als Kant-Schüler zu erleben. Wer Eichmanns Ausführungen nur als pseudo-philosophisches Geschwafel und geckenhafte Eitelkeit begreife, verkenne über der richtigen Beobachtung der Posenhaftigkeit Eichmanns in Jerusalem dessen tatsächliche Überzeugung: »eine avitalistische Philosophie unausweichlicher Naturgesetzlichkeit, weil nur ein völkisches Denken die Chance bot, den Endsieg im Kampf alles Lebendigen zu erreichen.«22 Wer darin allein Pseudo-Philosophie erkenne, versäume nicht nur, diesem Dogma reiner Naturkausalität ohne Freiheit etwas entgegenzusetzen, sondern setze sich auch dem Vorwurf aus, Philosophie als solche zu idealisieren, statt ihre gefährlichen Irrwege zu sehen, die keineswegs nur bei SS-Männern zu suchen seien. Stangneth zitiert Martin Heidegger, der 1933 darauf insistierte, dass es »die geistige Welt eines Volkes« sei, die »die Macht der tiefsten Bewahrung seiner erd- und bluthaften Kräfte als Macht der innersten Erregung und weitesten Erschütterung des Daseins« gewährleiste.23 Weltanschauung, so resümiert Bettina Stangneth, war für Eichmann nicht weniger als die Ermächtigung zu dem, was er tat. »Eichmann wollte Macht, aber nicht durch Willkürakte und hemmungslose Aggressivität, eine Uniform und ein Befehl, sondern legitimiert durch ein Denk- und Wertsystem, das sein Handeln als ›das Richtige‹ erscheinen ließ. Er wollte nicht weniger als die Selbstermächtigung, das Handeln aus eigener Überzeugung.«24 Ähnlich argumentiert Harald Welzer in seinem Buch Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Wenn die Täter aus allen Schichten, Milieus und Regionen kamen, wenn man demnach nichts Besonderes in den jeweiligen Biographien entdecken kann, »dann muss die Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie das alles möglich war, bei den Prozessen und Situationen [beginnen], in denen die Täter sich dazu entschie22 Stangneth, Eichmann, S. 288. 23 Martin Heidegger, »Ansprache zur Wahlkundgebung der deutschen Wissenschaft am 11. November 1933«, in: Guido Schneeberger, Nachlese zu Heidegger, Bern 1962, Dokument Nr. 132. 24 Stangneth, Eichmann. S. 289.
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den haben, zu Mördern zu werden«.25 Bei Welzer rückt die Frage nach einer nationalsozialistischen Moral, die das Töten erlaubte, in den Mittelpunkt der Erklärung. Ganz im Unterschied zu einer universalistischen Moral, die allen Menschen gleiche Rechte zubilligt, schuf der Nationalsozialismus demnach eine partikulare Moral, die vor allem auf der Norm einer absoluten rassischen Ungleichheit von Menschen gegründet war, verstärkt von einem Bedrohungsszenario, dass die sich höherwertig dünkende Rasse von dem angeblich zersetzenden Einfluss der so genannten minderwertigen Rassen in ihrer Existenz akut bedroht sei. Gegen diese Bedrohung ist, gewissermaßen unter dem Blickwinkel eines Notwehrrechts, jedes Mittel erlaubt, ja, der rassenbiologische Charakter der Auseinandersetzung verweist soziale oder kulturelle Politikkonzepte von vornherein in die Wirkungslosigkeit und lässt allein biologische Maßnahmen als »Endlösung« gelten. Im Morden »anständig« geblieben sein, wie es Heinrich Himmler für seine SS-Exekutoren verlangte, konnte man laut Welzer, weil sich die Definition dessen, was Recht und was Unrecht ist, insgesamt verschoben hatte, so dass das Töten von Menschen als »gut« gelten konnte, weil es dem übergeordneten Wohl der Volksgemeinschaft diente.26 Anders als Hannah Arendt, die in ihrem Buch Eichmann in Jerusalem für die NS-Gesellschaft eine »Totalität des moralischen Zusammenbruchs« feststellte, wonach Täter wie Eichmann nicht mehr in der Lage waren, moralisch zu urteilen, geht Welzer von einer partikularen, nationalsozialistischen Moral aus, die es den Tätern und Täterinnen möglich machte, zu morden und sich zugleich nicht als Mörder zu fühlen, sich selbst weiterhin als moralische, normativ urteilende Menschen, die eben keine »Unmenschen« sind, zu empfinden. Welzers Überlegungen haben zu Recht viel Resonanz und Zustimmung gefunden, weil sie NS-Täter/innen nicht mehr als bloße Rädchen in einer Vernichtungsmaschinerie, als willenlose Empfänger/innen von Befehlen oder als Verführte, die der Hasspropaganda Hitlers erlegen sind, sondern als »normale« Menschen betrachten, die zu einer Entscheidung über ihr Handeln und zu einem Urteil über ihr Tun in der Lage sind. Im Unterschied zu Daniel J. Goldhagen, der in der Konstruktion eines ubiquitären »eliminatorischen Antisemitismus« eine hegemoniale deutsche Mentalität entwirft, die 1933 gewissermaßen nur auf die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Verwirklichung gewartet hat, besitzt Welzers Modell den Reiz, dass es keine von vornherein gegebene Determinanten braucht. Nötig ist die Veränderung des Gesamt-Settings, um die moralische Selbstund Fremdwahrnehmung der Einzelnen nachhaltig zu verändern. Es müsse »in einem sozialen Gefüge lediglich eine einzige Koordinate verschoben werden, um das Ganze zu verändern – um eine Wirklichkeit zu etablieren, die anders ist als die, die bis zum Zeitpunkt dieser Koordinatenverschiebung bestanden hatte. Diese Koordinate heißt soziale Zugehörigkeit.«27 25 Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, unter Mitarbeit von Michaela Christ, Frankfurt am Main 2005, S. 43. 26 Ebenda, S. 37. 27 Ebenda, S. 248.
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Und doch muss Welzer, um vom ersten Schritt zum letzten des Tötens zu kommen, in dieses Modell eine Zwangsläufigkeit einbauen, die es wiederum selbst in eine invariante Dominante verwandelt. Zwar sei es zweifellos jeweils etwas anderes, ob man die Straßenseite wechsle, wenn einem ein jüdischer Bekannter entgegenkomme, ob man jüdisches Eigentum raube, den Tod eines Menschen durch einen bürokratischen Akt verursache oder ob man schließlich selbst einen Menschen erschieße. All diese seien, so Welzer, qualitativ verschiedene Stufen, die unterschiedlich zu überschreiten seien, »aber ich fürchte, es handelt sich dabei um ein Kontinuum, an dessen Anfang etwas scheinbar Harmloses steht und dessen Ende durch die Vernichtung markiert ist. Es ist nur für die meisten von uns wichtig, die ersten überschritten zu haben, um auch die letzten überschreiten zu können.«28 Dieses angenommene Kontinuum jedoch bereitet analytische Probleme. Denn ist es teleologisch gemeint, kann das Modell nicht erklären, warum es dennoch zu verschiedenen, ja gegensätzlichen Verhaltensweisen gekommen ist. Wenn zum Beispiel die Brüder Stauffenberg, die dem NS-Regime zu Beginn durchaus positiv gegenüberstanden, oder Wolf-Heinrich Graf von Helldorf, als SA-Führer wie als nationalsozialistischer Berliner Polizeipräsident verantwortlich für eine unerbittliche antisemitische Politik, sich dennoch später dem Regime widersetzten, dann ist der Begriff des Kontinuums falsch. Es gab offenkundig immer wieder Möglichkeiten, sich anders zu entscheiden. Und anders als Hannah Arendts Konzept der totalitären Ordnung, die die Atomisierung der Menschen in der modernen Massengesellschaft zur Voraussetzung hat, also soziale wie politische Determinanten für den Ordnungswechsel ausmacht, ersteht in Welzers Modell die antisemitische, Zu- und Nicht-Zugehörigkeiten neu definierende Ordnung gewissermaßen durch einen bloßen voluntaristischen Akt, der zugleich die Kontinuität garantiert. Selbst wenn der Begriff des Kontinuums beinhalten sollte, dass an jeder einzelnen Schwelle sich jeweils neue Handlungsoptionen eröffneten, die genutzt oder ungenutzt bleiben konnten, so legt er doch nahe, es gebe einen folgerichtigen Weg von hier nach dort, dem sich niemand habe so wirklich entziehen können. Die Übergänge von einer »Normalität« in die andere – also von der gesellschaftlichen Moral der Weimarer Republik, in der das Töten der »Gemeinschaftsfremden« noch keine Norm war, in die partikulare Moral des Nationalsozialismus, in der alles, was der Volksgemeinschaft nutzt, erlaubt ist, auch wenn es »böse« ist, bis hin in die nun wieder nicht-mörderische Moral der Nachkriegszeit – alle diese Transformationen von »Normalität«, die stets doch »normal« bleiben sollen, sind in Welzers Modell unausgeleuchtet. Welzers Konzept, das die Diskussion um die Beweggründe der Täter ungemein bereichert hat, zielt, so kritisiert Raphael Gross, eben vor allem darauf, die Rechtfertigungen des Massenmords zu analysieren, während es ihm und Werner Konitzer in ihren Überlegungen zu einer nationalsozialistischen Moral mehr darum geht, die Transformation
28 Ebenda, S. 257.
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einer NS-Moral, auch über 1945 hinaus, zu untersuchen.29 Auch Gross und Konitzer verfolgen – mit Ernst Tugendhat – das Konzept einer partikularen Moral, die aber, was den Nationalsozialismus betrifft, durch spezifische Elemente geprägt ist und nicht, wie bei Welzer, allein vom situativen Setting abhängig ist. Ein Gedanke, so Werner Konitzer, der bei allen NS-Ideologen trotz evidenter Unterschiede zwischen ihnen, auftaucht, ist die »grundsätzliche und prinzipielle Bejahung des Krieges«.30 In der Tat steht der Krieg im rassistischen Denken im Mittelpunkt. Hitler formulierte immer und immer wieder, dass der Krieg das unabänderliche Gesetz des Lebens sei, die Voraussetzung für die angeblich natürliche Auslese des Stärkeren und der Beseitigung des Schwachen. Im Kampf bewies sich der SS-Mann, wie ebenso Himmler nicht müde wurde zu betonen. In Anlehnung an das 1938 in London erschienene Buch von Aurel Kolnai, The War Against the West, spricht Werner Konitzer als zweites Charakteristikum einer spezifischen NS-Moral, die er lieber in Anführungszeichen setzen und als NS-»Moral« bezeichnen würde, von einem »universalen Partikularismus«, der »sich daraus ergibt, dass man eine besondere Gruppe, nämlich die, der die Nationalsozialisten sich zugehörig fühlen (die Deutschen oder die Arier) und deren Elite sie sein wollen, in ihrer Besonderheit, also mit den nur ihr eigenen Werten und Normen, und ohne dass sie diese Besonderheit verliert, zugleich zur Quelle und zum Maßstab aller Werte und aller ethischen Normen erklärt«.31 In dieser nationalsozialistischen Moralperspektive müssen andere Völker und Nationen eine jeweils eigene, partikulare Moral besitzen, weil sie nur dadurch unter Beweis stellen, dass sie überhaupt »gemeinschaftsfähig« und staatsbildend sind. Dieser Grundsatz könnte auch von gemäßigten Nationalisten vertreten werden, indem es die Pflicht aller Menschen und gut für sie sei, wenn jeder Einzelne sich für seine eigene Nation einsetzt. Dieser noch universalistische Ansatz, da er für alle Menschen formuliert ist, wurde jedoch von den Nationalsozialisten radikalisiert, dass sie die eigene Gruppe für die bessere hielten und folglich gegen die anderen kämpfen müssten. »Es gab nicht erst die Normen einer partikularen Moral und dann die Verfolgung, sondern die ›ethischen‹ Vorstellungen des Nationalsozialismus sind unmittelbar in einem Verfolgungskontext entstanden und auch maßgeblich aus diesem heraus zu verstehen. Nicht deshalb, weil die andere Gruppe eine andere Moral hat, wird sie verfolgt, sondern man spricht ihr eine andere ›Moral‹ zu, um sich verfolgend von ihr zu unterscheiden. Die Konstruktion der Verschiedenheit völkischer Moralen, die Konstruktion von Vererbungstheorien wie auch die entsprechenden 29 Gross, Anständig geblieben, S. 248. 30 Werner Konitzer, »Moral oder ›Moral‹? Einige Überlegungen zum Thema ›Moral und Nationalsozialismus‹«, in: ders./Raphael Gross (Hg.), Moralität des Bösen. Ethik und nationalsozialistische Verbrechen (Jahrbuch des Fritz-Bauer-Institut zur Geschichte und Wirkung des Holocaust), Frankfurt/ New York 2009, S. 97–115, hier: S. 102; siehe auch Raphael Gross/Werner Konitzer, »Geschichte und Ethik. Zum Fortwirken der nationalsozialistischen Moral«, in: Mittelweg 36 8 (1999), Heft 4, S. 44–67. 31 Konitzer, »Moral oder ›Moral‹«, S. 103.
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Selbstbilder wären also Ausdruck und Rationalisierungen von rassistischen Haltungen, nicht etwa die Haltungen ›Folge‹ eines partikularen Moralkonzepts.«32
Moral und Vernichtung Partikulare Moral als Verpflichtung gegenüber dem eigenen Volk, die rücksichtslos zu gelten habe, hob insbesondere Himmler, nicht zuletzt in der berüchtigten Posener Rede an die SS-Gruppenführer im Oktober 1943, hervor: »Es ist grundfalsch, wenn wir unsere ganze harmlose Seele mit Gemüt, wenn wir unsere Gutmütigkeit, unseren Idealismus in fremde Völker hineintragen. Das gilt, angefangen von Herder, der die ›Stimmen der Völker‹ wohl in einer besoffenen Stunde geschrieben hat und uns, den Nachkommen, damit so maßloses Leid und Elend gebracht hat. Das gilt, angefangen bei den Tschechen und Slowenen, denen wir ja ihr Nationalgefühl gebracht haben. Sie selber waren dazu gar nicht fähig, sondern wir haben das für sie erfunden. Ein Grundsatz muss für den SS-Mann absolut gelten: ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich haben wir zu Angehörigen unseres eigenen Blutes zu sein und zu sonst niemandem. Wie es den Russen geht, wie es den Tschechen geht, ist mir total gleichgültig. Das, was in den Völkern an gutem Blut unserer Art vorhanden ist, werden wir uns holen, indem wir ihnen, wenn notwendig, die Kinder rauben und sie bei uns großziehen. Ob die anderen Kinder im Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders interessiert mich das nicht.«33 Himmlers Reden wie Eichmanns Ausführungen in Argentinien waren gleichermaßen von der Vorstellung eines existentiellen Kampfes der Rassen gegeneinander, vor allem gegen »die Juden«, der »Anti-Rasse« schlechthin, geprägt wie bei anderen Angehörigen der NS-Elite. Kurz vor der Wannsee-Konferenz hielt der NS-Ideologe und Reichsminister für die besetzten Ostgebiete Alfred Rosenberg am 18. Dezember 1941 im Berliner Sportpalast eine groß angekündigte Rede, in der er den Krieg gegen die Sowjetunion als den größten »Rassenkampf der Weltgeschichte« bezeichnet, der eng mit der »Judenfrage« verbunden sei. Das Judentum habe sich als »erbittertster Feind des germanischen Wesens erwiesen. Aller ›Liberalismus‹ hat niemals darüber hinweg täuschen können, dass sich hier zwei todfeindliche Seelen und Körper gegenüberstanden, so dass der jüdische Hass gegen alles Deutsche beim Niederlegen aller Schranken sich wie eine Schlammflut ausbreitete. Aber nicht nur in Deutschland, überall stand der jüdische Finanzier und hinter ihm der jüdische Bolschewist als Aufrührer aller zersetzenden Bewegungen, und heute erleben wir die Hetze des gesamten Judentums in der Welt gegen das Großdeutsche Reich und seine 32 Ebenda. S. 108. 33 Heinrich Himmler, Rede auf der SS-Gruppenführertagung in Posen am 4.10.1943, gedruckt in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Bd. 29, Nürnberg 1947, S. 110–173, Zitat: S. 143.
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Verbündeten.« Die Juden seien selbst schuld an dem Krieg, der sie nun mit aller Härte treffen würde. »Erst nach dieser negativen Ausschaltung der parasitären Kräfte gewinnt dann die positive Aufgabe der Gesamterschliessung des großen Ostraumes seine lichtere Gestalt auf dem düsteren Hintergrund des entscheidenden Ringens.«34 Einen Monat später, am 20. Januar 1942, formulierte Heydrich laut Niederschrift über die Wannsee-Konferenz die vorangegangenen Ziele der antisemitischen Politik unmissverständlich klar: »a) die Zurückdrängung der Juden aus den einzelnen Lebensgebieten des deutschen Volkes, b) die Zurückdrängung der Juden aus dem Lebensraum des deutschen Volkes.« Die Radikalisierung der Ziele ist deutlich. War der Fokus der Judenpolitik zunächst auf das Deutsche Reich beschränkt, richtete er sich nun auf den »Lebensraum des deutschen Volkes«, jenes Imperium unter deutscher Herrschaft, das sich in Europa und Russland bis an den Ural ausdehnen sollte. Die räumliche Dimension dieses »Lebensraumes« lässt sich unschwer an jener berühmten Statistik auf Seite 6 des Protokolls erkennen, die, von Eichmann aus Auftragsarbeiten zusammengestellt, 11 Millionen Juden in Europa nach Ländern geordnet auflistet und auch Länder wie Portugal, Irland, Norwegen, die Schweiz oder die Türkei aufführt, die sich gar nicht im deutschen Machtbereich befanden. Diese Statistik war kein Masterplan für die Vernichtung der europäischen Juden, aber sie zeigt den Horizont der Täter, in dem diese dachten und handelten. Im Verlaufe der Diskussion, wie sie im Protokoll festgehalten wurde, besprach man sehr eingehend, was von deutscher Seite aus zu tun sei, damit auch die verbündeten Länder die »Judenfrage« im nationalsozialistischen Sinn »lösten«. Man werde, hielt das Protokoll fest, in anderen Länder, namentlich wurden Ungarn und Rumänien genannt, »im Hinblick auf die allgemeine Haltung und Auffassung auf gewisse Schwierigkeiten stoßen«, da jüdische Menschen dort immer noch durch Geld ihr Leben retten konnten. In der Slowakei und in Kroatien sahen die Teilnehmer der Wannsee-Konferenz hingegen kein Problem, auch in Frankreich werde die Erfassung der Juden zur Deportation »aller Wahrscheinlichkeit ohne große Schwierigkeiten« vor sich gehen können, und der ungarischen Regierung wolle man baldmöglichst einen so genannten Judenberater, also einen Vertreter des Eichmann-Deportationsreferates im Reichssicherheitshauptamt, wie es wörtlich hieß, »aufoktroyieren«. Allein bei den skandinavischen Ländern könnte es Schwierigkeiten geben. Daher empfehle es sich, diese Länder vorerst zurückzustellen. Aber, so führte Unterstaatssekretär Luther von Auswärtigen Amt aus, »in Anbetracht der hier in Frage 34 Hektographiertes Redetyposkript Rosenbergs mit dem Titel: »Die grosse Stunde des Ostens. Rede von Reichsleiter Reichsminister Rosenberg im Sportpalast am 18. Dezember 1941«, Sonderarchiv Moskau, 1525-1-12, Blatt 15–19. Ich danke Peter Klein für das Dokument. Zu Rosenberg vgl. Ernst Piper, Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München 2005. Wenige Tage vor Rosenbergs Rede soll Hitler am 12. Dezember 1941 auf der Reichs- und Gauleiterkonferenz – so die, allerdings umstrittene, These Christian Gerlachs – seine Grundsatzentscheidung zur Ermordung der europäischen Juden bekannt gegeben haben, vgl. Christian Gerlach, »Die Wannsee-Konferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers politische Grundsatzentscheidung, alle Juden Europas zu ermorden«, in: WerkstattGeschichte 18 (1997), S. 7–44.
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kommenden geringen Judenzahlen bildet diese Zurückstellung ohnedies keine wesentliche Einschränkung«. »Anstelle der Auswanderung«, so lautet die Formulierung im Protokoll, »ist nunmehr als weitere Lösungsmöglichkeit nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer die Evakuierung nach dem Osten getreten. […] In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird. Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist. (Siehe die Erfahrung der Geschichte.)« So weit holten diese Täter aus, um mit dem babylonischen Exil des jüdischen Volkes und der Zerstörung des Tempels durch die Römer und der anschließenden Vertreibung der Juden in alle Länder des Römischen Imperiums ihre eigenen Taten zu begründen. Auch dieser anmaßende historische Geist, der die Konferenz in einen großen historischen Bogen spannt und die Mordmaßnahmen als weltgeschichtliches Projekt erscheinen lässt, gehört zum Denken dieser Täter.
Massenmord mit »Anstand« Oftmals ist der Mord an den europäischen Juden als bürokratischer Verwaltungsakt beschrieben worden. Es scheint, als ob diese Beschreibung etwas Entscheidendes verdeckt. Anstatt die Formen der Kommunikation für reales Handeln zu nehmen, könnte es im Gegenteil sein, dass eben diese Kommunikation über Regeln notwendig war, um das Ungeheuerliche, das auch den Tätern als ungeheuerlich, wenn auch nicht als »unmoralisch« vorkam, zu tun. Weniger eine Frage der Moral, als vielmehr eine Frage des Diskurses, der Begründungen und Rechtfertigungen, die sämtlich um Unabweisbarkeit und Rationalität bemüht sind. Als Josef Bühler, Staatssekretär in der deutschen Besatzungsverwaltung des Generalgouvernements, im Februar 1946 – zu einem Zeitpunkt also, als die Tatsache der Besprechung vom 20. Januar 1942 sowie deren Gegenstand (»Endlösung der Judenfrage«) infolge des Auffindens der Einladung an Otto Hofmann zwar schon bekannt, aber das Protokoll der Wannsee-Konferenz noch nicht entdeckt worden war und deshalb den Anklägern nicht zur Verfügung stand – zu diesem Treffen vernommen wurde, antwortete er, dass es notwendig sei, die damaligen Verhältnisse des Generalgouvernements zu kennen, um diese Besprechung mit Heydrich zu verstehen. »Das Generalgouvernement«, führte Bühler wörtlich aus, »wurde von den Polizei- und Parteiorganen als Territorium behandelt, das der Unterbringung unerwünschter und lästiger Bevölkerungsteile diente, wodurch es als Müllplatz des Deutschen Reiches (diese Bezeichnung soll in der nächsten Umgebung des Führers geprägt worden sein) gegolten habe. Auf dieses Territorium wurden bei
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der Ausmistung anderer Gebiete, insbesondere des Warthegaus, des Regierungsbezirks Danzig-Westpreußen und auch des Regierungsbezirks Ostpreußen, Juden, Geisteskranke, Zigeuner und arbeitsunfähige Bewohner abgeschoben. […] Die Lage des Generalgouvernements wurde infolgedessen von Tag zu Tag immer ernster und schwieriger. […] Zum Zeitpunkt der mit Heydrich stattgefundenen Besprechung hatte also das Generalgouvernement das größte Interesse daran, das weitere Abstoßen von Bewohnern fremder Gebiete in das Generalgouvernement zu unterbinden und – im Gegenteil – die ohne Zustimmung des Generalgouverneurs eigenwillig eingeführten Fremdvölker wieder aus dem Generalgouvernement loszuwerden.«35 Laut dem Protokoll der Wannsee-Konferenz argumentierte Bühler vier Jahre zuvor in gleicher Weise: »Staatssekretär Dr. Bühler stellte fest, daß das Generalgouvernement es begrüßen würde, wenn mit der Endlösung dieser Frage im Generalgouvernement begonnen würde, weil einmal hier das Transportproblem keine übergeordnete Rolle spielt und arbeitseinsatzmäßige Gründe den Lauf der Aktion nicht behindern würden. Juden müßten so schnell wie möglich aus dem Gebiet des Generalgouvernements entfernt werden, weil gerade hier der Jude als Seuchenträger eine eminente Gefahr bedeutet und er zum anderen durch fortgesetzten Schleichhandel die wirtschaftliche Struktur des Landes dauernd in Unordnung bringt.« Diese Männer waren von der Notwendigkeit des Massenmords überzeugt. In ihren Augen waren die Juden die Hauptfeinde des deutschen Volkes, die sowohl die sowjetischen Partisanen leiteten wie den US-Präsidenten beherrschten. Alle auftauchenden Probleme in der Kriegführung wie in der Besatzungsherrschaft wurden den Juden angelastet, deren Ausrottung in der Perspektive dieser Täter eben diese Probleme lösen würde. Die Perfidie ihrer Mordlogik war, dass die Täter sich selbst als Reagierende betrachteten, die gezwungen seien, zum Mittel des Massenmords zu greifen. Dieses Notwendige ohne Gewissensbisse zu tun und dennoch »anständig« zu bleiben, ist die Botschaft eben jener Rede Himmlers in Posen 1943. »Anständigkeit« markiert die bedeutsame Grenze, die deutsche Täter vom Schlage Eichmanns und Himmlers zogen, um das eigene mörderische Tun von barbarisch entfesselter, von entgrenzter Gewalt zu unterscheiden. »Anständigkeit« hieß in ihrer Perspektive, dass man nicht aus niederen Gefühlsgründen tötete, nicht aus Habgier oder Rachsucht, dass man nicht mordete, um zu rauben: »Wir hatten das moralische Recht«, so Himmler, »wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen. Wir haben aber nicht das Recht, uns auch nur mit einem Pelz, mit einer Uhr, mit einer Mark oder mit einer Zigarette oder mit sonst etwas zu bereichern. [...] Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. ›Das jüdische Volk wird ausgerottet‹, sagt ein jeder Parteigenosse, ›ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen 35 Aussage Bühlers, in: Kurt Pätzold/Erika Schwarz (Hg.), Tagesordnung: Judenmord. Die WannseeKonferenz am 20. Januar 1942. Eine Dokumentation zur Organisation der »Endlösung«, Berlin 1992, S. 130–131.
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wir.‹ Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist ja klar, die anderen sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.«36 Es ist signifikant für diese Passage, dass Himmler, der als oberster Vorgesetzter die SS-Gruppenführer während der ganzen Rede mit dem förmlichen »Sie« angesprochen hat, nun, und auch nur an dieser Stelle, ins vertrauliche »Du« wechselt. Da es von dieser Rede einen Tonmitschnitt gibt, kann man die abrupte Stille hören, die während dieser Ausführungen im Raum herrscht. Selbstverständlich wurde ebenso aus Neid, Habgier wie aus Profitsucht getötet, aber für die Selbstbeschreibung, Selbstlegitimation der Täter war es unerlässlich, eine Begründung ihres Tuns zu besitzen, die ihrer Selbstdeutung als Teil eines kulturell höchst stehenden Volkes entsprach. Gerade indem Himmler das »Unmenschliche« benannte, das diesen Morden selbst für die Mörder anhaftete, indem er die Vernichtungspraxis nicht beschönigte oder mit falschem Pathos versah, sondern als unausweichliche Notwendigkeit bezeichnete, als Barbarei, die getan werden musste – und die zu tun einem nur erlaubt sei, wenn man sie »anständig«, »zivilisiert« begehe, bot er eine Rechtfertigungsfigur an, die es den Mördern gestattete, sich als moralisch integre, nämlich zur »Anständigkeit« befähigte Menschen zu begreifen. Mehr noch, nur die SS war als Organisation dazu in der Lage, dieses Ungeheuerliche zu tun. Dazu hätte ein Korps, so Himmler im Mai 1944 vor SS-Teilnehmern eines weltanschaulichen Lehrgangs in Sonthofen, »das nur seinen Beamteneid geleistet hat, nicht die Kraft. Diese Maßnahmen konnten nur getragen werden und durchgeführt werden von einer in sich bis zum äußersten gefestigten Organisation, von fanatischen und zutiefst überzeugten Nationalsozialisten. Die SS rechnet sich dazu und behauptet von sich, dafür geeignet zu sein und hat die Aufgabe übernommen«.37 Himmler drehte damit noch einmal in charakteristischer Weise den Tugendkatalog der SS und bot den SS-Tätern sogar noch die Möglichkeit des Stolzes. Stolz sollten sie sein – nicht wegen der Tat selbst, des blutigen, viehischen Massenmords, als vielmehr wegen der »Stärke«, die sie unter Beweis gestellt hätten, diese Tat zu begehen. Himmlers Formulierung, die Gewissheit, anständig geblieben zu sein, müsse ein Geheimnis bleiben, ein »niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt 36 Heinrich Himmler, Rede auf der SS-Gruppenführertagung in Posen am 4.10.1943, gedruckt in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Bd. 29, Nürnberg 1947, S. 110–173, Zitat: S. 145. 37 Rede Himmlers vor den Teilnehmern eines politisch-weltanschaulichen Lehrgangs in Sonthofen, 5.5.1944, BArch, NS 19/4013, Bl. 9 ff.
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unserer Geschichte«, lud seine Zuhörer darüber hinaus zu der Perfidie ein, sich später nach der Zerschlagung des NS-Systems im Nachkriegsdeutschland noch als anonyme Helden zu verstehen, deren historische Leistung zwar gegenwärtig nicht gewürdigt werden konnte − dem stand die Hegemonie der Alliierten und der Opportunismus der Deutschen entgegen −, jedoch bei künftigen Generationen die angemessene öffentliche Anerkennung finden würde. Solche Kontinuitätslinien finden sich durchaus in den Aussagen ehemaliger Beamter des Bundeskriminalamtes, die dem Reichssicherheitshauptamt angehört hatten und ihre Entlassung in den 1960er Jahren als Undank des Staates empfanden, dem sie als Kämpfer gegen das Verbrechertum vor und nach 1945 treu gedient hätten.38 Während Hans Buchheim in seinem Anfang der 1960er Jahre für den AuschwitzProzess geschriebenen Gutachten, das bis heute ein glänzender Beitrag zur SS-Mentalität geblieben ist, davon ausging, dass die Täter durchaus ein Unrechtsbewusstsein besaßen, das gewissermaßen im Ausnahmezustand im Namen der Notwendigkeit suspendiert worden sei,39 weisen Bühlers Argumentation, 1946 ebenso wie 1942, wie Himmlers Rede in Posen 1943 oder Eichmanns Ausführungen in Argentinien, die gewöhnlich als unverstellter Ausdruck perverser Moralität und verbrecherischen Zynismus’ herangezogen werden, auf ein konstitutives Element in den Selbstrechtfertigungen nationalsozialistischer Massenmörder hin. Sie waren trotz des entfesselten Mordens nicht zu »Tieren« geworden, hatten sich vielmehr »anständig« verhalten und eine letzte Grenze, nämlich die entgrenzter Gewalt, nicht überschritten. Juden wurden nicht umgebracht, weil sie Juden waren, sondern weil es angeblich Notwendigkeiten gab, die zu einem solchen Vorgehen zwangen. Gerade an solcher Apologetik ist abzulesen, wie sehr die Täter von der Sorge umgetrieben waren, die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, Kultur und Trieb, Zivilisation und Barbarei getilgt zu haben. So ist es keineswegs überraschend, wenn Heinrich Himmler einen Tugendkatalog männlicher Selbstdisziplinierung bemüht, um bestreiten zu können, dass Mordlust in den exzessiven Gewaltpraktiken am Werk gewesen sei. Wolfgangs Sofskys bestechender und oft zitierter Satz, dass diese Männer nicht mordeten, weil sie mussten, sondern weil sie durften, weist womöglich ebenso wie Dan Diners bekannter Topos vom »Zivilisationsbruch« in eine falsche Richtung. Im Gegenteil, gerade weil die Täter die Vernichtungspraxis als eine ihnen aufgegebene geschichtliche Aufgabe verstanden, die nicht barbarisch, nicht »unmoralisch«, sondern »zivilisiert«, d.h. kontrolliert, diszipliniert und souverän zu exekutieren sei, waren diese Akteure in der Lage, einen gigantischen Massenmord planmäßig und effektiv zu begehen.
38 Patrick Wagner u.a., Schatten der Vergangenheit. Das BKA und seine Gründungsgeneration in der frühen Bundesrepublik, München 2011. 39 Hans Buchheim, »Befehl und Gehorsam«, in: ders. u.a., Anatomie des SS-Staates, München 1994 (erstmals 1967 erschienen), S. 215–320, hier: S. 279.
Dieter Pohl
Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik um die Jahreswende 1941/42 Zum Kontext der Wannsee-Konferenz
Als sich am 20. Januar 1942 die Vertreter mehrerer deutscher Ministerien, des SD und der Partei-Kanzlei in der Villa Minoux am Großen Wannsee trafen, war in Hitlers Europa bereits eine Serie von Massenverbrechen im Gange, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellte. Seit 1933 fielen Häftlinge in den Konzentrationslagern Morden zum Opfer, unmittelbar nach Kriegsbeginn, etwa am 3. September 1939 verübte eine deutsche Einheit den ersten Massenmord im besetzten Polen. Bald danach begann die systematische Ermordung bestimmter Gruppen deutscher und polnischer Psychiatriepatienten; von April 1941 an wurden die Morde in den »Euthanasie«-Anstalten auch auf geschwächte KZ-Häftlinge ausgedehnt. In dieser Zeit starben Zehntausende von Insassen des Warschauer Ghettos als Folge der grauenhaften Lebensbedingungen. Völlig neue Dimensionen bekamen die Verbrechen dann im Krieg gegen die Sowjetunion. Schon am 22. Juni 1941 erschoss eine Einheit der Wehrmacht erste Kriegsgefangene, die man für Politkommissare der Roten Armee hielt, zwei Tage später begannen die Massaker an jüdischen Männern, spätestens im August dann auch solche an Frauen und Kindern. Nichtjüdische Zivilisten fielen in großer Zahl den exzessiven Repressalien wegen erster Partisanenanschläge ebenfalls ab August 1941 zum Opfer. Die größte Zahl der Opfer dieser Zeit stellten jedoch die sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Hand. Beim Abtransport aus den großen Kesselschlachten, vor allem von August bis Oktober 1941, wurden Zehntausende von Gefangenen, die die Märsche nicht durchhielten, am Wegesrand erschossen. Und im September 1941 setzte allmählich das Massensterben in den Kriegsgefangenenlagern ein, wegen unzureichender Versorgung mit Nahrungsmittel und medizinischer Unterstützung, aber auch wegen der streckenweise kaum vorhandenen Unterbringungsmöglichkeiten. Und schließlich waren es sowjetische Kriegsgefangene, die zu den ersten Opfern systematischer Massenmorde innerhalb der Konzentrationslager wurden, in sogenannten Genickschussanlagen, aber auch beim ersten Einsatz des Schädlingsbekämpfungsmittels Zyklon B gegen Menschen in Auschwitz am 5./6. September 1941. Schätzungsweise sind bei Jahresende 1941 bereits etwa zwei Millionen Menschen den nationalsozialistischen Verbrechen zum Opfer gefallen, etwas weniger als die Hälfte
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davon Juden.1 Ohne Zweifel stieg diese Zahl im Jahr 1942 deutlich an. Der Massenmord im deutsch beherrschten Osteuropa war schon alltägliche Realität geworden, als die Wannsee-Konferenz stattfand. Im Folgenden soll es nicht darum gehen, eine neue Vorgeschichte dieser Konferenz oder neue Quellenfunde zu präsentieren, die sie in ein anderes Licht stellen würden. Vielmehr gilt es, einige strukturelle Hintergründe zu skizzieren, vor denen das Treffen auch interpretiert werden sollte. Dabei handelt es sich um mehrere Kontexte. Erstens: Das alles beherrschende Thema nicht nur unter der Bevölkerung, sondern auch in deutschen Ministerien und Amtsstuben zu dieser Zeit, war der Verlauf des Krieges, ohne den die deutsche Politik dieser Zeit überhaupt nicht verstanden werden kann. Als zweiter Komplex muss die Zielorientierung und die Art der Planung der deutschen Politik in Augenschein genommen werden. Die Radikalisierung der antijüdischen Politik war drittens besonders mit der Besatzungspolitik in jenen Gebieten verknüpft, in denen besonders viele Juden lebten. Sodann gilt es, die Aufmerksamkeit auf die Praxis nationalsozialistischer Gewalt, die zugehörigen Legitimationsstrategien und ihre Akzeptanz zu richten, die sich im Laufe des Krieges veränderten. Und abschließend soll danach gefragt werden, welche Rolle das Ausland und die internationale Öffentlichkeit in den Überlegungen der nationalsozialistischen Elite gespielt haben. Der Krieg war der Vater aller nationalsozialistischen Dinge. Bereits drei Tage nach der Machtergreifung hatte Hitler 1933 der Führung der Reichswehr angekündigt, dass er einen Krieg um Lebensraum führen wolle.2 Der Krieg, den Hitler dann 1939 vom Zaun brach, sah deutlich anders aus als er ihn ursprünglich vorgesehen hatte. Nicht die Tschechoslowakei und Frankreich waren die ersten militärischen Gegner, sondern Polen und Nordeuropa. Dennoch verlief die Expansion bis Juli 1941 aus deutscher Sicht extrem erfolgreich. Deutschland, das sich 1933 noch auf einem niedrigen Rüstungsstand befunden hatte, war es gelungen, mit politischen und kriegerischen Mitteln die Hegemonie auf dem europäischen Kontinent zu erringen, und es machte sich auf, über den Kaukasus und Nordafrika auch den Nahen Osten zu erobern. Der Höhepunkt der militärischen Aspirationen war recht genau zum Zeitpunkt der Wannsee-Konferenz erreicht, als am 18. Januar 1942 die Bündnispartner Deutschland und Japan ihre Operationszonen auf dem eurasischen Kontinent absteckten. Die Demarkationslinie zwischen beiden Mächten war am 70. Längengrad vorgesehen, also etwa im Raum von Afghanistan.3
1 Dieter Pohl, »Erst die Sowjetunion, dann ganz Europa: Die Ausdehnung des Völkermords an den Juden bis Anfang 1942«, URL: http://www.ghwk.de/deut/jahrestag/2002–pohl.pdf. 2 Andreas Wirsching, »›Man kann nur Boden germanisieren‹. Eine neue Quelle zu Hitlers Rede vor den Spitzen der Reichswehr am 3. Februar 1933«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 49 (2001), S. 517–551. 3 Militärische Vereinbarung zwischen Deutschland, Italien und Japan, 18. Januar 1942, Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945. Serie E, Band 1, Göttingen 1969, S. 260–262.
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Freilich begann der deutsche Kriegsplan schon im Juli 1941 aus dem Ruder zu laufen. Anstatt die Rote Armee in acht bis zwölf Wochen in einem »Blitzkrieg« niederzuwerfen, wie es Hitler und sein Generalstab geplant hatten, stockte der deutsche Angriff mit der Schlacht von Smolensk Mitte Juli. Damit war der Zenit des Zweiten Weltkrieges auf deutscher Seite erreicht.4 Trotz der schweren Niederlagen der Roten Armee in den Kesselschlachten bei Kiew und bei Vjaz’ma-Brjansk konnte ein Ende des Feldzuges im Jahre 1941 nicht mehr ernsthaft erwartet werden. Mit der sowjetischen Offensive Anfang Dezember 1941 war das »Unternehmen Barbarossa«, also die Niederwerfung der Roten Armee in einem schnellen Feldzug, vollends gescheitert. Damit waren die Handlungsoptionen der deutschen Führung deutlich geschrumpft: Die Rüstung musste dauerhaft auf Landkriegführung umgestellt werden, deutsche Arbeiter und Angestellte die personellen Verluste der Wehrmacht an der Ostfront ausgleichen, die vom Juli 1941 an massiv anstiegen. Dies führte letztendlich zur Entwicklung eines groß angelegten Programms für Zwangsarbeit. Alle Ressourcen wurden nun dauerhaft noch knapper, die besetzten Gebiete sollten noch mehr ausgebeutet werden als zuvor. Ein Zweites kam hinzu: Da die Sowjetunion militärisch nicht besiegt werden konnte, würde nun auf unabsehbare Zeit Krieg im Osten geführt werden. Zwar mutmaßten nur die wenigsten Zeitgenossen, dass die Rote Armee irgendwann bis an die Elbe gelangen könnte, wie es etwa Otto Bräutigam vom Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete äußerte (»Der Krieg im Osten ist milit. nicht mehr zu gewinnen«5). Doch sah man sich allgemein in einem Dilemma gefangen, aus dem es kein Entrinnen mehr gab, wollte man nicht auf einen Sonderfrieden zusteuern. Auf der anderen Seite war ein militärisch noch viel gefährlicherer Feind auf den Plan getreten: Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 hatte auch Hitler den USA den Krieg erklärt, in der Hoffnung, die ökonomische Großmacht im Westen würde ihr Potential auf zwei Kriegsschauplätze verteilen und damit zerstreuen. Zwar wusste man aus dem Ersten Weltkrieg, dass die USA eine Weile brauchten, bis sie voll auf Rüstungsproduktion umstellen und ihre Armee mobilisieren konnten. Doch aus Sicht Hitlers musste der Krieg auf jeden Fall 1942 gewonnen werden, nicht nur wegen der strategischen Lage, sondern auch wegen der schrumpfenden Ölreserven. Sonst galt der Krieg als verloren, und das hieß in nationalsozialistischer Interpretation: Das sogenannte jüdische Finanzkapital im Westen und der sogenannte jüdische Bolschewismus im Osten, mit denen Hitler sich im Krieg wähnte, würden Deutschland vernichten. Anfang 1942 stellte sich die Lage des Reiches für die NS-Führung also als zwiespältig dar: Einerseits hatte man riesige Landgewinne erzielt, andererseits waren diese aufs Äußerste gefährdet, wenn man nicht schnell und entschieden handelte.
4 Andreas Hillgruber, Der Zenit des Zweiten Weltkrieges. Juli 1941, Wiesbaden 1977. 5 Zitat aus Vortragsnotiz Himmlers vom 15.2.1942, in: Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, herausgegeben von Peter Witte u.a., Hamburg 1999, S. 350.
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Um die Jahreswende 1941/42 wurden die Kriegsziele der NS-Führung, wie allein schon die deutsch-japanische Absprache andeutet, eher noch gesteigert. Dies galt nicht nur für die strategischen Zielmarken, also Kriegführung und Eroberung, sondern auch für den Kern von Hitlers Utopie, die Schaffung des sogenannten Lebensraums im Osten. Während Hitler diese Vorstellung schon seit 1924 mehr oder weniger deutlich propagiert hatte, begannen deutsche Raumplaner um 1937 mit Überlegungen zur demographischen Neustrukturierung Osteuropas, zur Verdrängung Einheimischer und zur regionalen Ansiedlung deutschsprachiger Personen. Im Zusammenhang mit dem deutschen Krieg gegen Polen eskalierten diese Vorstellungen Ende 1939. Sie sollten nach den Feldzügen jeweils sofort in die Tat umgesetzt werden, mit der »Germanisierung« der annektierten Teile im Westen Polens, später auch in annektierten Gebieten Frankreichs und Jugoslawiens. Obwohl diese Projekte in einem Dickicht von Teilprojekten und gescheiterten Deportationsprogrammen, die für die betroffenen Ausländer verheerende Folgen zeitigten, versickerten, wurde die Planung immer gigantischer, immer phantastischer, immer gewalttätiger.6 Ende 1939 sprach man am grünen Tisch von zwei Millionen Polen und Juden, die deportiert werden sollten. Bei der berüchtigten Besprechung der Staatssekretäre vom Mai 1941 zur Vorbereitung der Ernährungspolitik im kommenden Krieg gegen die Sowjetunion ging es schon um »zig« Millionen Einwohner der Sowjetunion, die verhungern oder vor dem Hunger flüchten sollten, inoffiziell kursierte die Zahl von 30 Millionen.7 Und schließlich kulminierte diese Form der Planung Ende 1941 im Generalplan Ost des Reichssicherheitshauptamtes, der mit der Deportation von 31 Millionen Slawen rechnete, Juden dabei gar nicht mehr gezählt. Im Frühjahr 1942 kursierten Vorschläge, die Zahlen aus dem Generalplan nach oben zu korrigieren, so etwa die Denkschrift des Potsdamer Amtsgerichtsrates Erhard Wetzel, der forderte, man müsse 50 Millionen Menschen deportieren.8 In diesen Zusammenhang passen auch die Statistiken des Wannsee-Protokolls mit der Schätzung von elf Millionen »Glaubensjuden« in ganz Europa, die langfristig der »Endlösung« zum Opfer fallen sollten. Schon im Dezember 1940 hatte Adolf Eichmann bekanntlich eine Aufstellung für Himmler gemacht, die damals noch etwa 5,8 Millionen Juden unter deutscher Hegemonie ausmachte. Auch Ende 1940 standen diese Berechnungen im Kontext der gesamten Rassenplanungen, also auch jener gegen die polnische
6 Vgl. dazu Götz Aly, »Endlösung«. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt am Main 1995. 7 Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland, Hamburg 1999, S. 46–55; Alex J. Kay, »Verhungernlassen als Massenmordstrategie. Das Treffen der deutschen Staatssekretäre am 2. Mai 1941«, in: Zeitschrift für Weltgeschichte 11 (2010), S. 81–105. 8 Madajczyk, Czesław (Hg.), Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan, München u.a. 1994, S. X, XIV f.
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Bevölkerung.9 Zwei Dinge sind hier von Bedeutung für den Kontext der Wannsee-Konferenz: Erstens die Art, in der die nationalsozialistischen Experten planten, wie sie sich in den Dimensionen überschlugen und ernsthaft bei »einem anschließenden Frühstück« die Deportation oder den Tod von Millionen diskutierten. Nimmt man Hungerplanung, Generalplan Ost und die »Endlösungs«-Planung 1941/42 zusammen, so wurde hier die Vertreibung, Deportation, Aushungerung und direkte Tötung von über 70 Millionen Menschen ins Auge gefasst: Das waren nicht weniger als 13 Prozent der Einwohner Europas. Zweitens soll aber darauf hingewiesen werden, wie eng die Planungen gegen Polen und Juden auch noch um die Jahreswende 1941/42 zusammenhingen. Die Kerngebiete des Generalplans Ost gehörten zu Polen in seinen Grenzen vor dem Krieg; zugleich lebten die meisten Juden unter deutscher Hegemonie genau hier. Im Baltikum und östlich einer Nord-Süd-Linie von Minsk bis Žytomyr waren die Juden entweder geflüchtet oder bis Ende 1941 – von kleinen Ausnahmen abgesehen – restlos umgebracht worden. Besonders deutlich wird der Zusammenhang zwischen Deportation der Polen und Mord an den Juden im Distrikt Lublin des Generalgouvernements. Der dortige SS- und Polizeiführer Odilo Globocnik hatte von Himmler im Juli 1941 zuerst die Weisung erhalten, eine Besiedlung seines Gebietes durch Deutsche vorzubereiten, erst danach vereinbarten beide im September/Oktober 1941 die Ermordung der Juden. Unmittelbar nachdem der Mord an den Juden im Distrikt Lublin dann im November 1942 weitgehend vollendet war, begann Globocnik mit der Deportation von Polen aus dem Süden des Distrikts. Auch Globocniks Absprachen mit dem Reichssicherheitshauptamt vom Februar 1942 oder der von ihm inspirierte Himmler-Befehl vom Juli 1942 zur Beendigung der »Endlösung« im GG bis Jahresende sprechen von einem durchgängig engen Konnex beider Projekte. Doch dieser Zusammenhang ging auch über das Generalgouvernement hinaus. So war Globocnik ebenso damit beauftragt, Siedlungsstützpunkte in den besetzten sowjetischen Gebieten vorzubereiten. Nachdem diese Aufgabenstellung im März 1942 nicht mehr als sinnvoll angesehen wurde, erhielt Globocnik – wahrscheinlich im Juli 1942 – weitergehende Kompetenzen zur Ermordung der Juden, auch außerhalb des Generalgouvernements.10 Wie in vielen Fällen bekannt ist, war die nationalsozialistische Planung nur die eine Seite der Medaille und die Realität der Besatzungspolitik die andere. Gerade das erste große Deportationsprogramm für Polen und zum Teil für die Juden in den eingegliederten 9 Notiz Adolf Eichmanns, Dezember 1940; Notizen Himmlers für eine Rede vor den Reichs- und Gauleitern, 10.12.1940, in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Band 3: Deutsches Reich und Protektorat Böhmen und Mähren September 1939–September 1941, bearb. von Andrea Löw, München 2012, S. 336– 339. 10 Vgl. Dieter Pohl, »Die Rolle des Distrikts Lublin im Völkermord an den Juden«, in: Bogdan Musial (Hg.), Die »Aktion Reinhardt«, Osnabrück 2004, S. 87–107; und auch den Beitrag von Jan-Erik Schulte in diesem Band.
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Gebieten scheiterte 1939/40 an den Realitäten der Besatzung, an Kompetenzkonflikten und Ressourcenknappheit. Freilich hieß das nicht, dass die Besatzungspolitik die Planungen sozusagen auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Vielmehr wurde ein neuer Plan gemacht, je nach strategischer Gesamtlage einer, der viel größer dimensioniert und somit brutaler war. Quasi eine Scharnierfunktion zwischen den Umsiedlungsplänen und dem systematischen Massenmord nahmen die Überlegungen ein, Juden in Massen in die neu besetzten sowjetischen Gebiete zu deportieren. Bereits im März 1941, also Monate vor dem Krieg gegen die Sowjetunion, hatte Hitler etwa dem Generalgouverneur in Polen, Hans Frank, das Versprechen gegeben, die Juden würden alsbald weiter nach Osten deportiert. Die Deportationen sollten in die Pripjat-Sümpfe im Süden von Weißrussland gelangen. Ähnlich wie etwa der sogenannte Madagaskar-Plan blieben die Vorstellungen über dieses »Reservat«, soweit sie überhaupt zu rekonstruieren sind, recht vage. Eine Deportation in Sumpfgebiete, um diese durch Zwangsarbeit trocken zu legen, war keine ganz neue Idee. Dies wurde schon in den berüchtigten Emslandlagern praktiziert, vereinzelt auch durch jüdische Zwangsarbeiter im Generalgouvernement. Ähnlich wie die Pläne für ein »Reservat« im Raum Lublin und auf der Insel Madagaskar sollten dort die Lebensbedingungen so schlecht gestaltet werden, dass die Insassen bald sterben würden. Neu am Pripjat-Plan war jedoch zweierlei: zum einen wäre dies mit einem groß angelegten Zwangsarbeits-Einsatz verbunden gewesen, den es im Raum Lublin nur locker verbunden mit dem »Reservat« gab. Zum anderen wurden seit Anfang Juli 1941 in dem Raum, der zum »Reservat« auserkoren werden sollte, Massenmorde in großem Stil begangen. Die zwei SS-Kavallerieregimenter begannen im Pripjat-Gebiet sogar vergleichsweise früh damit, auch jüdische Frauen und Kinder zu ermorden.11 Somit zeichnen sich in dieser Planung bestimmte Muster ab, die dann um die Jahreswende 1941/42 realisiert wurden: die Deportation in Gebiete, in denen die einheimischen Juden schon zu erheblichen Teilen ermordet wurden, und die »Vernichtung durch Arbeit«, die, soweit zu sehen ist, im Spätsommer 1941 erstmals verstärkt diskutiert wurde,12 dann wieder im sogenannten Wannsee-Protokoll thematisiert wird. Es kann kaum bezweifelt werden, dass zumindest ein Teil jener Juden, die in das Pripjat-Gebiet deportiert worden wären, auch für die Ermordung vorgesehen war. Generalgouverneur Frank beabsichtigte gar, das Pripjat-Gebiet an das Generalgouvernement anzuschließen, um das »Reservat« selbst zu verwalten.13 Doch es kam anders. Bereits am 17. Juli 1941 wurde die Einrichtung eines Reichskommissariats Ukraine ange11 Martin Cüppers, Wegbereiter der Shoah. Die Waffen-SS, der Kommandostab Reichsführer-SS und die Judenvernichtung 1939–1945, Darmstadt 2005. 12 Dieter Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien 1941–1944. Organisation und Durchführung eines staatlichen Massenverbrechens, München 1996, S. 170. 13 Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München 1998, S. 426 f.
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ordnet, das sich dann ab Anfang September 1941 etablierte und die Pripjat-Gebiete übernahm. Vor allem aber verlief der Vormarsch der Wehrmacht weit langsamer als erwartet. Beides, der Widerstand der neuen Verwaltung im Osten und die Fortdauer des Krieges, haben wohl verhindert, dass die Pripjat-Planung Gestalt annehmen konnte. Am 13. September 1941 teilte Eichmann dann mit, dass nicht einmal die deutschen Juden nach Russland deportiert werden könnten.14 Doch muss man für die besetzten sowjetischen Gebiete kontrafaktisch danach fragen, was denn mit den Juden passiert wäre, wenn die Rote Armee tatsächlich plangemäß im September 1941 niedergeworfen worden wäre. Das heißt, ob es riesige Deportationen nach Osten gegeben hätte und ob SS und Polizei dann auch zur restlosen Ermordung der Deportierten geschritten wären. Anscheinend war diese »Reservats«-Idee jedoch die letzte, bevor sich eine umfassende systematische Ermordung der europäischen Juden abzeichnete. Von da an diente »der Osten« immer mehr als Chiffre für den Todesraum. Es waren aber nicht nur die Planungen und ihr Scheitern, die sich auf die Besatzungspolitik in Polen und in der Sowjetunion und auf die Judenverfolgung insgesamt so verheerend auswirkten. Entscheidend waren die Weltbilder der Akteure und ihre Kommunikation, wenn man so will, der Besatzungsdiskurs. Und dieser war tendenziell und abgestuft antislawisch, aber durch und durch antisemitisch. Für die unsichere Lage in den rückwärtigen Gebieten, für Preissteigerungen und für Seuchen wurden die Juden verantwortlich gemacht, während man gleichzeitig alle Engpässe wie Wohnungsknappheit, bei der Erfüllung von Ablieferungsquoten usw. auf Kosten von Juden lösen wollte. Die deutschen Besatzer unterdrückten die Juden, beuteten sie aus und brachten sie an den Rand ihrer physischen Existenz, und zogen anschließend aus dieser Situation die Begründungen für Massenmorde.15 Eine zentrale Bedeutung in diesem Kontext hat der Begriff der »Arbeitsunfähigkeit«. Einerseits wird darin zwar eine Ökonomisierung der Verfolgungspolitik signalisiert, wichtiger erscheint jedoch die ideologische Aufladung dieses Konzepts. Juden wurden aus antisemitischer Sicht generell als wenig geeignet zu physischer Arbeit angesehen, was sich durch die Wahrnehmung der oftmals ausgezehrten Ghettobewohner noch verstärkte. Gerade im Generalgouvernement ging die Bedeutung der Zwangsarbeit für Juden ab dem Herbst 1940 eher zurück, die Mehrheit der Juden lebte von der Fürsorge. »Arbeitsunfähigkeit« war schon ein zentrales Legitimationsmuster für die Massenmorde der »Euthanasie« oder an den KZ-Häftlingen im Rahmen der »Aktion 14f13« gewesen. Lediglich in der besetzten Sowjetunion wurden zunächst gezielt »arbeitsfähige« jüdische Männer ermordet, weil diese in antisemitischer Perspektive als besonders gefährlich galten. Im 14 Vermerk Rademacher vom 13.9. auf Telegramm von Benzler vom 12.9.1941, Faksimile, URL: http://www.ghwk.de/2006-neu/sabac.jpg (Zuletzt aufgerufen am 5.1.2012). 15 Vgl. Götz Aly/Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991; Christian Gerlach, Krieg, Ernährung, Völkermord. Forschungen zur deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1998.
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Herbst 1941 kehrte sich dieses Prinzip um, vor allem Kinder und Alte wurden Opfer der Massenmorde. Frauen hatten kaum eine Überlebenschance, wenn sie nicht »kriegswichtige« Arbeit vorweisen konnten. Die echte oder vermeintliche »Arbeitsunfähigkeit« wurde von Herbst 1941 an zum zentralen Kriterium für die Auswahl der Mordopfer. Die Forschung der letzten zwanzig Jahre hat eindringlich gezeigt, dass wichtige Impulse zur systematischen Ermordung der Juden aus der Peripherie, aus den Besatzungsgebieten kamen, nicht nur aus Polen und der Sowjetunion, auch aus Serbien oder Frankreich. Das gilt natürlich auch für die Initiativen aus dem Reich, wo NSDAP und Behörden auf den baldigen Abtransport der Juden drängten.16 In den Besatzungsgebieten im Osten entwickelte sich auch eine Gewaltmentalität, die sich mehr und mehr über Hitlers Europa ausbreitete. Die Formen der Propagierung von Gewalt und des beifälligen Applaus waren jedoch nicht neu, in Ansätzen lassen sie sich schon auf die politischen Morde der frühen 1920er Jahre zurückverfolgen, man lese nur die Reaktionen konservativer bis rechtsextremer Kreise auf die Attentate auf Erzberger oder Rathenau. Auch in der Spätphase Weimars und der Frühphase des NS-Regimes wurde solches noch deutlich artikuliert, dann aber anscheinend mit Blick auf das Ausland und auf die bürgerliche Anständigkeit der Deutschen eher zurückgedrängt. Mit Hitlers Vernichtungsdrohungen von Anfang 1939, dann in voller Breite mit dem Krieg gegen Polen brach sich die Gewaltrhetorik jedoch wieder in neuer Form Bahn. Gerade die Ostjuden galten Nazis wie Nationalkonservativen als fremd und abschreckend. Die Ghettos wurden in der Konsequenz auch nicht als vorbildliche deutsche Einrichtungen präsentiert, sondern als Absturz der Zivilisation, der das Umfeld gefährde und dessen Existenz somit nicht von langer Dauer sein könne. Sowohl aus der Perspektive der Besatzungsverwaltungen als auch in der deutschen Öffentlichkeit ergab sich der Eindruck, dass die Ghettos möglichst schnell beseitigt werden müssten. Im Krieg gegen die Sowjetunion wurde diese Formel noch durch das Stereotyp von der besonderen Affinität der Juden zum Bolschewismus gesteigert. Heckenschütze, Flintenweib, Spion, Hetzer, so lauteten die Legitimationsformeln für den Massenmord, und sie waren weit verbreitet. Verbreitet waren auch die Informationen über die Massenerschießungen in den besetzten Gebieten. Über Feldpost, Dienstreise oder Heimaturlaub gelangten bis Ende 1941 massenhaft Details von den Verbrechen auch ins Reich. Für die Entwicklung der »Endlösung« ist das in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Erstens konnte das Regime, ganz im Gegensatz zu den Reaktionen auf die »Euthanasie«-Mordaktion, kaum Kritik an den Tötungen registrieren. Somit können die Verbrechen in der besetzten Sowjetunion auch als Testfall für die Reaktion der Bevölkerung und der deutschen Eliten gesehen werden. Gerade angesichts der Schwierigkeiten, die die Wehrmacht seit Sommer 1941 und dann ganz massiv seit Anfang Dezember 1941 im Osten hatte, sollte jegliche Beunruhigung der »Heimatfront« vermieden werden. Dies war einer der Gründe, warum 16 Zusammenfassend: Christopher Browning, Die Entfesselung der »Endlösung«. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939–1942, München 2003.
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die Mordaktion gegen die Kranken und Behinderten im August 1941 zeitweise unterbrochen wurde. Daneben ist darauf hinzuweisen, und dies ist der zweite Aspekt, dass die allgemeine Vernichtungsrhetorik gegen die Juden nun einen immer realeren Hintergrund bekam. Wer jetzt öffentlich von »Vernichtung der Juden« sprach, wusste nicht nur selbst, dass etwas Derartiges bereits im Osten im Gange sei, sondern konnte auch erwarten, dass unter seinem Publikum eine Ahnung davon vorhanden war.17 So schwadronierte der Kölner Gauleiter Grohé bei einer Massenkundgebung am 28. September 1941, einen Tag vor dem Babij Jar-Massaker: »Sie wissen, der Jude ist der Urheber des Krieges, der Hetzer in der ganzen Welt, und er lebt heute in Deutschland noch in Massen und ist damit hier der Spion im eigenen Land. [...] Dieses Volk auszurotten wäre deshalb vor jedermann und zu jeder Zeit der Geschichte vertretbar.«18 Und obwohl einiger Protest gegen die Krankenmorde 1940/41 von den Kirchen gekommen war, blieb dieser gegen die Judenmorde im Osten völlig aus. Vielmehr sorgten einige protestantische Landeskirchen im Dezember dafür, Propaganda für die angelaufenen Deportationen in den Osten zu machen: »Die nationalsozialistische deutsche Führung hat mit zahlreichen Dokumenten unwiderleglich bewiesen, daß dieser Krieg in seinen weltweiten Ausmaßen von den Juden angezettelt ist. Als Glieder der deutschen Volksgemeinschaft stehen die unterzeichneten deutschen evangelischen Landeskirchen und Kirchenleiter in der Front dieses historischen Abwehrkampfes, der unter anderem die Reichspolizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden als der geborenen Welt- und Reichsfeinde notwendig gemacht hat. Schon Dr. Martin Luther erhob nach bitteren Erfahrungen die Forderung, schärfste Maßnahmen gegen die Juden zu ergreifen und sie aus deutschen Landen auszuweisen.«19 Die innenpolitischen Voraussetzungen für eine »Endlösung der Judenfrage« erschienen der nationalsozialistischen Führung Ende 1941 also durchaus als günstig. Die neuere Forschung zur nationalsozialistischen Gewalt hat zu Recht betont, dass die Ursachen hierfür nicht nur in Ideologisierung, Propaganda und Schulung gesucht werden können, sondern auch in der Gewaltpraxis selbst. Das bedeutet, wenn Gewalt ausgeübt wurde, fand sich zwangsläufig auch eine Legitimierung hierfür. Freilich kam diese nicht aus dem Nichts, sondern orientierte sich an dem Diskurs, der bereits existierte. Und die Gewalt breitete sich zwischen 1939 und 1941 immer weiter aus, in immer neuen Formen. 17 Bernward Dörner, Die Deutschen und der Holocaust. Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte, Berlin 2007, S. 423 ff.; Peter Longerich, »Davon haben wir nichts gewusst!«. Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945, München 2006, S. 159 ff. 18 Verfolgung und Ermordung, Band 3, S. 553 f. 19 Erklärung der evangelischen Landesbischöfe und Landeskirchenpräsidenten von Sachsen, HessenNassau, Mecklenburg, Schleswig-Holstein, Anhalt, Thüringen und Lübeck, 17.12.1941, in: Kirchliches Jahrbuch der Evangelischen Kirche in Deutschland 1933–1945, Gütersloh 1948, S. 481.
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Waren die ersten Morde im besetzten Polen, zum Teil auch in der besetzten Sowjetunion oft noch nach den Regeln militärischer Exekutionen verlaufen, so wurden die Massenerschießungen immer formloser, gerieten bisweilen auch zu extremen Gewaltexzessen. Dies konnte jedoch zu Kritik führen, auch innerhalb des SS- und Polizeiapparates. Gleichzeitig beteiligten sich immer mehr Institutionen an den Morden: die Medizinalverwaltungen im Reich, Teile der Wehrmacht, Arbeits- und Wirtschaftsverwaltungen im besetzten Polen, die Sonderjustiz usw. Es ist zu fragen, welche Bedeutung bestimmte Gewaltformen für die Radikalisierung gehabt haben, etwa die Erstickung im Gas, wie sie seit November/Dezember 1941 auch zur massenhaften Ermordung von Juden verwendet wurde. Dies qualifizierten die Täter als angeblich besonders geordnet und human, also für einen gigantischen Völkermord geeignet. Allerdings ist umstritten, ob um die Jahreswende 1941/42 bei den verantwortlichen Funktionären bereits Klarheit darüber herrschte, dass die Massenmorde in Zukunft mittels Giftgas begangen werden sollten.20 Eine radikalisierende Funktion hatte sicher auch das Massensterben in den Ghettos und in den Lagern für sowjetische Kriegsgefangene. Die Schuld am Massentod wurde quasi den Insassen selbst zugeschoben, die angeblich schon zu schwach gewesen seien, oder äußeren Zwangssituationen wie einer allgemein schlechten Versorgungslage. Freilich gab es nicht wenige deutsche Funktionäre, die die Ghettos als Räume bezeichneten, deren eigentlicher Zweck genau das Massensterben sei. Auf der anderen Seite galten Lager und Ghettos als geeigneter Ort, um den Massentod von der übrigen Bevölkerung oder von deutschen Besatzern und Truppen fernzuhalten. Schließlich eskalierte auch die Praxis der Gewalt in der zweiten Jahreshälfte 1941, vor allem im September und Oktober. Damit sind natürlich in erster Linie die Verbrechen in der besetzten Sowjetunion gemeint, aber eben nicht nur dort: Repressalerschießungen gab es auch in vermeintlich befriedeten Gebieten wie Serbien, in eingeschränktem Ausmaß sogar in Frankreich. Im annektierten Westpolen setzten bereits im Oktober die ersten großen Massenmorde an Juden ein, bevor im Dezember die Deportationen in das Vernichtungslager Kulmhof begannen. Es stellt sich die Frage, inwieweit die Massenmorde, die sich innerhalb der besetzten sowjetischen Gebiete abspielten, im deutschen Herrschaftssystem wahrgenommen und in einen größeren Kontext eingeordnet wurden. Innerhalb der nationalsozialistischen Füh20 Vgl. die Kontroverse zwischen Michael Allen und Jan Erik Schulte: Jan Erik Schulte, »Vom Arbeitszum Vernichtungslager. Die Entstehungsgeschichte von Auschwitz-Birkenau 1941/42«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 50 (2002), S. 41–69; Michael Thad Allen, »The Devil in the Details: The Gas Chambers of Birkenau, October 1941«, in: Holocaust and Genocide Studies 16 (2002), S. 189– 210; ders., »Anfänge der Menschenvernichtung in Auschwitz, Oktober 1941. Eine Erwiderung auf Jan Erik Schulte«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51 (2003), S. 565–573; Jan Erik Schulte, »Auschwitz und der Holocaust 1941/42. Eine kurze Antwort auf Michael Thad Allen«, in: ebd. 52 (2004), S. 569–572.
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rung und im SS- und Polizeiapparat war der Kenntnisstand ausgezeichnet. Informationen über die Massenerschießungen verbreiteten sich bis Ende 1941 aber auch allgemein unter der Bevölkerung im Deutschen Reich, der Einsatz der neuen »Gaswagen« ab etwa November 1941 wurde als regelrechte Sensation gehandelt. Auch das Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen war im Reich bekannt. Echte oder angebliche Politkommissare, sogar Frauen, wurden in der Propaganda vorgeführt und zwischen den Zeilen war klar zu erkennen, was mit ihnen geschehen würde. Der Massentod der Kriegsgefangenen von Oktober an blieb schon deshalb nicht verborgen, weil er sich genauso in den Lagern im Reich abspielte, wo die Rotarmisten gezielt schlechter behandelt wurden als die Gefangenen aus anderen Ländern. Doch die Kenntnis von den Dimensionen dieses Verbrechens blieb nicht auf die Führung von Staat und Wehrmacht beschränkt. In Berlin kursierte schon Ende 1941 die Zahl von einer Million Toten unter den gefangenen Rotarmisten.21 War dies nun allein eine Konsequenz aus dem Kampf gegen den ideologischen Todfeind, als der der Bolschewismus galt? Oder schlich sich mit fortdauerndem Krieg das Bewusstsein ein, dass in diesem globalen Ringen, das inzwischen ins dritte Jahr ging, äußerste Mittel gegen innere und äußere Feinde anzuwenden waren? Immerhin wurde Ende 1941 auch leise Kritik am gewalttätigen Vorgehen geübt. Darauf deutet die Auswertung von Feldpostbriefen hin, in denen Unverständnis über die Ermordung von jüdischen Frauen und Kindern im Osten geäußert wurde. Deutlicher und politischer begründet war hingegen die Kritik an der Aushungerung der sowjetischen Kriegsgefangenen. Kein geringerer als der Reichsminister für die besetzten Ostgebiete beschwerte sich hierüber, sah er doch die Arbeitskräfte und ebenso potentielle Verbündete wie Muslime und Asiaten, die sich in großer Zahl unter den Gefangenen befanden, schwinden.22 Tatsächlich wurde schon im Dezember 1941 dem Hungersterben etwas entgegengesteuert, allerdings mit geringem Erfolg. Gerade um Weihnachten 1941 herum schnellten die Todeszahlen in die Höhe, oft über 1.000 Todesfälle unter den Gefangenen am Tag. Erst im Frühjahr 1942 wurde das Ruder etwas herumgerissen, und im zweiten deutsch-sowjetischen Kriegswinter 1942/43 wiederholte sich das Sterben zumindest nicht mehr in diesem Ausmaß. Bei der Ermordung der Juden blieb die Kritik aus dem Apparat aber weitgehend aus. Ab Anfang 1942 wurde freilich vermehrt geltend gemacht, dass man zumindest kriegswichtig eingesetzte jüdische Arbeitskräfte eine Zeitlang am Leben lassen müsse. Erst im Juli/August 1942, als die Totalvernichtung bevorstand, verschärften sich dann die Auseinandersetzungen der Behörden und Unternehmen um die Arbeiter.
21 Rolf Keller, Sowjetische Kriegsgefangene im Deutschen Reich 1941/42. Behandlung und Arbeitseinsatz zwischen Vernichtungspolitik und kriegswirtschaftlichen Erfordernissen, Göttingen 2011; Karel C. Berkhoff, »The ›Russian‹ Prisoners of War in Nazi-Ruled Ukraine as Victims of Genocidal Massacre«, in: Holocaust and Genocide Studies 15 (2001), S. 1–32, hier S. 1. 22 Dieter Pohl, Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944, München 2008, S. 221, 279 f.
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Schließlich ist noch kurz auf die Frage einzugehen, wie es um den internationalen Kontext der Vernichtungspolitik um die Jahreswende 1941/42 aussah. Grundsätzlich spielten Erwägungen über die Weltmeinung für die NS-Führung nach dem Sommer 1940 nur noch eine untergeordnete Rolle. Die westlichen Kriegsgefangenen wurden weitgehend völkerrechtskonform behandelt, auch bei den jüdischen Staatsangehörigen neutraler und außereuropäischer Staaten agierte man insgesamt vorsichtig. Den engeren Kreis um das Reich bildeten seine Verbündeten in Europa, zumal mit jenen, die sich am Krieg gegen die Sowjetunion beteiligten, also Italien, Rumänien, Ungarn, begrenzt auch Kroatien und die Slowakei. Alle diese Länder betrieben eine eigene Gewaltpolitik und starteten Initiativen zur Verfolgung der Juden. Insbesondere die rumänische Regierung unternahm seit Ende Juni 1941 eine nahezu eigenständige Vernichtungspolitik, zunächst in seinen reannektierten Gebieten Nordbukowina und Bessarabien, bald aber auch im rumänischen Besatzungsgebiet in der Südukraine, Transnistrien. Ungarn wiederum schob im Sommer 1941 ausländische Juden aus der annektierten Karpatoukraine nach Osten, wo sie von deutschen SS- und Polizeistellen ermordet wurden. Ungarische Einheiten massakrierten in der Ukraine und in Zentralrussland Zivilisten im Rahmen ihrer Partisanenbekämfung. Das kroatische Ustascha-Regime begann mit der Vertreibung und teilweisen Ermordung der serbischen Bevölkerungsteile, und bezog auch die Juden in die Verfolgungspolitik ein. Und schließlich bat die slowakische Regierung im Herbst 1941 darum, dass das Reich bei der Deportation der slowakischen Juden helfe. Zusammengenommen ergab sich der Eindruck, als ob die Achsenstaaten die Vernichtungspolitik durchaus mittrugen, wenn sich auch das faschistische Italien in dieser Form nicht beteiligte und alle Staaten – bis auf die Slowakei – die eigenen Staatsbürger noch nicht dem Tod ausliefern wollten. Deutlich geringere Bedeutung maß die NS-Führung der Einstellung anderer Staaten bei, überging sie freilich aber auch nicht. So wurde sogar die einzige Rede Churchills, in der er im August 1941 die Massenmorde in der besetzten Sowjetunion thematisierte, auch im Reich veröffentlicht.23 Welchen Effekt die Pressekonferenz Roosevelts zu den deutschen Geiselerschießungen in Frankreich hatte, lässt sich schwer ermessen. Die Schutzfunktion der USA für Westeuropa, das heißt auch für die dortigen Juden, entfiel im Dezember 1941. Immerhin sah man sich im Januar 1942 in Berlin dazu genötigt, auf die zweite sogenannte Molotow-Note zu reagieren. Darin hatte der sowjetische Außenkommissar deutsche Massaker angeprangert. Goebbels ließ, zeitgemäß für die Auseinandersetzung der beiden verbrecherischen Regime, entgegnen, der Bolschewismus sei selbst für 30 Millionen Tote verantwortlich, übrigens eine erstaunliche Parallele zur Dimension der deutschen Hungerplanungen. So ist – trotz aller Ignorierung des internationalen Rechts – eine gewisse Sensibilität gegenüber der Weltmeinung erhalten geblieben. Gerade im Frühjahr 1942 wurde dann mehrfach intern thematisiert, dass man mit dem Massenmord genau jetzt möglichst schnell vorankommen müsse, bevor die Weltöffentlichkeit dahinter käme. 23 Archiv der Gegenwart 1941. Die weltweite Dokumentation für Politik und Wirtschaft, Band 11, Wien o.J.[1942], S. 5173. Für den Hinweis danke ich Dr. Bert Hoppe.
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Ähnlich wie in der militärischen Lageeinschätzung galt das Jahr 1942 quasi als »Fenster« für die Massenverbrechen, ein begrenzter Zeitabschnitt, in dem noch Handlungsspielräume vorhanden waren.24 Diese Überlegungen können natürlich die Analyse der politischen Entscheidungsfindung hin zum Massenmord und zur Wannsee-Konferenz nicht ersetzen, sondern nur in einen breiteren Kontext stellen. Sieht man sich die ambivalente Kriegslage an, die radikalen Umsiedlungsplanungen, das Drängen der Gauleitungen und Besatzungsverwaltungen, die Bereitschaft zu töten oder Morde zu tolerieren, die Erfahrungen mit Deportationen und Massenmorden, so zeichnet sich für den Herbst 1941 eine Situation ab, in der die Weichenstellung für den totalen Massenmord, aber auch seine Akzeptanz innerhalb der Funktionselite des »Dritten Reiches« möglich war. Von den Verbündeten kamen ähnliche Signale, während die Weltmeinung als Feindpropaganda abgekanzelt wurde. Es muss jedoch immer nach der konkreten Situation gefragt werden, in der die Entschlüsse zum Mord fielen. Denn letztendlich handelte es sich um die Entscheidungen von Menschen, sowohl an der Spitze des Staates als auch in Kleinstädten in Polen und der Sowjetunion. Sicherlich agierten sie in hierarchisch strukturierten Organisationen mit hoher kultureller Prägekraft. Erfahrungen, Legitimationsstrategien, Gewaltpraktiken waren Ende 1941 weit fortgeschritten. Wenn von der deutschen Führung eine Notwendigkeit dafür gesehen wurde, so erschien auch das Undenkbare realisierbar, die Ermordung aller europäischen Juden, das Menschheitsverbrechen schlechthin.
24 Frank Bajohr/Dieter Pohl, Der Holocaust als offenes Geheimnis. Die Deutschen, das NS-Regime und die Alliierten, München 2006, S. 91–100.
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Die Wannsee-Konferenz als Echo auf die gefallene Entscheidung zur Ermordung der europäischen Juden Die internationale Historiographie zum Völkermord an den Juden Europas ist zu einem weit verzweigten Spezialthema geworden. Der aktuelle Trend zur Erforschung der Lebensumstände in den Ghettos, die täterorientierte Holocaustforschung, der laufende Versuch zur Analyse der Verfolgungsorganisationen als funktionierende Netzwerke oder die Regionalisierung der Holocaustforschung auf Orte und Gebiete stellt eine solche Fülle an neuen Erkenntnissen bereit, dass eine integrierende Gesamtdarstellung des nationalsozialistischen Völkermords aus der jüngeren Zeit nur von Saul Friedländer vorgelegt wurde.1 Er hatte jedoch die Perspektive gewechselt und eindrucksvoll bewiesen, dass die Geschichte des Judenmordes auch aus der Perspektive der Verfolgten historiographisch fassbar ist.2 Nur Christopher Browning hat es vor knapp zehn Jahren unternommen, die Geschichte der nach wie vor nur schwer datierbaren Entschlussbildung zur »Endlösung der Judenfrage« aus kritischer Sicht auf die neuere Literatur und aus eigenen Forschungsergebnissen aufzuschreiben. Er favorisiert hier die Interpretation, Hitler habe analog seiner Siegeseu1 Hier sind lediglich die jüngsten Veröffentlichungen genannt. Lebenswelt Ghetto: Im Ghetto 1939– 1945. Neue Forschungen zu Alltag und Umfeld, herausgegeben von Christoph Dieckmann und Babette Quinkert (= Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 25), Göttingen 2009; Der Judenrat von Białystok. Dokumente aus dem Archiv des Białystoker Ghettos 1941–1943, herausgegeben von Freia Anders, Katrin Stoll, Karsten Wilke, Paderborn 2010; Andrea Löw/Markus Roth, Juden in Krakau unter deutscher Besatzung 1939–1945, Göttingen 2011; I Ghetti Nazisti, a Cura di Marcello Pezzetti, Bruno Vespa, Sara Berger, Roma 2012 (Ausstellungskatalog); Lebenswelt Ghetto, herausgegeben von Joachim Tauber u.a. (im Erscheinen); Arbeit in den nationalsozialistischen Ghettos, herausgegeben von Jürgen Hensel und Stephan Lehnstaedt (im Erscheinen). Täterstudien: Christian Ingrao, Hitlers Elite. Die Wegbereiter des nationalsozialistischen Massenmords, München 2012; Jutta Mühlenberg, Das SS-Helferinnenkorps. Ausbildung, Einsatz und Entnazifizierung der weiblichen Angehörigen der Waffen-SS 1942–1949, Hamburg 2010; Markus Roth, Herrenmenschen. Die deutschen Kreishauptleute im besetzten Polen – Karrierewege, Herrschaftspraxis und Nachgeschichte, Göttingen 2009; Christoph Schneider, »Täter ohne Eigenschaften. Über die Tragweite sozialpsychologischer Modelle in der Holocaustforschung«, in: Mittelweg 36 20 (2011), Heft 5, S. 3–23. Jüngste Regionalstudien: Christoph Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944, 2 Bde., Göttingen 2011; Wolfgang Seibel, Macht und Moral. Die »Endlösung der Judenfrage« in Frankreich, Konstanz 2011. 2 Saul Friedländer, Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939–1945, Bd. 2, München 2006.
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phorie im Krieg gegen die Sowjetunion zuerst im Juli 1941 an Himmler und Heydrich den Auftrag für eine »Machbarkeitsstudie« für die massenhafte Ermordung der europäischen Juden gegeben, um dann im Oktober 1941 den Völkermord mit Hilfe der im Aufbau befindlichen Tötungszentren in Gang zu setzen.3 Christian Gerlach ist anderer Meinung. Nach seiner Auffassung war das Schicksal der gerade eben deportierten Juden aus dem »Großdeutschen Reich« noch nicht besiegelt. An keinem der Ankunftsorte Litzmannstadt, Minsk, Kaunas und Riga seien Tendenzen erkennbar, wo an einer Umsetzung bereits ausgegebener Massenmordbefehle gearbeitet wurde. Die Geschichte der beiden Vernichtungslager in Chełmno und Bełżec im Herbst 1941 seien kein Beweis für den umfassenden Massenmord, wohl aber für den Mord an polnischen Juden im Reichsgau Wartheland sowie im Distrikt Lublin. Erst mit der Kriegserklärung Hitlers an die USA vollzogen sich die von ihm stets selbst prophezeiten Voraussetzungen zur Vernichtung der Juden, und er erklärte am 12. Dezember 1941 während einer geheimen Reichs- und Gauleitersitzung, er werde nun seine Voraussage von der »Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa« ins Werk setzen.4 Für Gerlach hat dieser Tag mit Hitlers Ankündigung vor seinen »alten Mitkämpfern« eine herausragende Bedeutung. Peter Longerich hingegen hält die Suche nach einen »ungeschriebenen Befehl« Hitlers im Sinne einer Grundsatzentscheidung für nicht zielführend. Immer wieder sei Hitler mit Teilentscheidungen hervorgetreten, die man in eine radikalisierende und ohnehin nicht einseitig von der Zentrale zur Peripherie gerichteten »Politik der Vernichtung« zwischen dem Herbst 1939 und dem Sommer 1942 integrieren müsse. Hierbei kristallisierten sich vier Eskalationsstufen heraus, die von der Judenverfolgung in Polen mit Vertreibungs- und Ghettoisierungsmaßnahmen und dem Madagaskarplan über die Massenmorde an den Juden in der besetzten Sowjetunion im Sommer 1941 zu einem dritten Eskalationslevel führten: Hitlers zwei Entscheidungen, mit den Deportationen aus dem »Großdeutschen Reich« zu beginnen und an den Aufnahmeorten die einheimischen Juden zu töten. »Die vierte Eskalationsstufe der Politik der Vernichtung liegt im April/ Mai 1942. Nun wurde das bisherige Schema der Deportation zentraleuropäischer Juden in bestimmte Räume, in denen zunächst die einheimischen Juden ermordet wurden, aufgegeben. Ende April/Anfang Mai muss offensichtlich die Entscheidung getroffen worden sein, ab sofort Juden unterschiedslos zu ermorden.«5 3 Christopher Browning, Die Entfesselung der »Endlösung«. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939–1942. Mit einem Beitrag von Jürgen Matthäus, München 2003. 4 Christian Gerlach, »Die Wannsee-Konferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers politische Grundsatzentscheidung, alle Juden Europas zu ermorden.«, in: ders., Krieg, Ernährung, Völkermord. Forschungen zur deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1998, S. 85–166. 5 Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München 1989, S. 584. Auch für Hans Mommsen fand die Radikalisierung im mörderischen Vorgehen gegen die Juden im März/April 1942 ihren Abschluss. Siehe Hans Mommsen, Der Wendepunkt zur »Endlösung. Die Eskalation der nationalsozialistischen Judenverfolgung, in: Jürgen Matthäus/Klaus-Michael Mallmann (Hg.), Deutsche, Juden, Völkermord. Der Holocaust aus Geschichte und Gegenwart, Darmstadt 2006, S. 67.
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Trotzdem gibt es eine ganze Reihe jüngerer Anläufe, gerade die Zeit zwischen dem Sommer 1941 und dem Frühjahr 1942 aus der Perspektive der nationalsozialistischen Führungsebene neu zu akzentuieren. Hatte Christian Gerlachs Beitrag zunächst für einen Höhepunkt in der Diskussion um Hitlers Entschluss zum Massenmord an den Juden gesorgt6, so kamen in den letzten Jahren nicht weniger fundierte, aber nicht mehr so prominent diskutierte Beiträge zur umstrittenen »Befehlsfrage« heraus. So hat Tobias Jersak argumentiert, Hitler habe unter dem Eindruck der ihm am 14. August 1941 bekannt gewordenen Atlantik-Charta noch im selben Monat die Entscheidung getroffen, mit den notwendigen Vorarbeiten für eine »Endlösung der Judenfrage« durch Massenmord im Osten beginnen zu lassen. Hitlers Ansprache am 12. Dezember 1941 vor den Reichs- und Gauleitern war die Verkündung einer bereits getroffenen Entscheidung.7 Edouard Husson hingegen stellt die interessante These auf, dass die Sitzungsniederschrift von der Wannsee-Konferenz inhaltlich den verloren gegangenen Plan Reinhard Heydrichs vom Januar 1941 wiedergebe. Am 20. Januar 1942 bekamen die Teilnehmer »ein Gesamtkonzept zur Kenntnis, das dem Stand der Planung vor dem Beginn des Unternehmens ›Barbarossa‹ entsprach«.8 Dennoch war bereits im November – Husson favorisiert den 9. November 1941 – Hitlers grundsätzliche Entscheidung zum Massenmord gefallen, »weil er daran glaubte, dass die Ermordung der europäischen Juden Roosevelt noch davon abhalten könnte, in den Krieg einzutreten«.9 Dass Heydrich die Niederschrift an seinen ein Jahr alten Plan anlehnte, so Husson, war der Tatsache geschuldet, dass der Chef der Sicherheitspolizei und des SD (CdS), Hermann Göring und Heinrich Himmler noch immer auf eine schnelle Niederlage der Sowjetunion hofften.10 Florent Brayard betont die Relevanz der Wannsee-Konferenz ganz anders; in der Niederschrift stand das Schicksal der Juden Europas festgeschrieben: Niemand sollte überleben. Allerdings stand darin nicht, wie lange der Prozess der mörderischen Zwangsarbeit dauern sollte und ab wann der »verbleibende Restbestand« – so die Niederschrift – ebenfalls 6 Fundierte Stellungnahme zur Kritik an seinen Thesen vgl. Christian Gerlach, »Nachwort«, in: ders, Krieg, Ernährung, Völkermord, S. 258–299; Kritik von Browning, »Der Entscheidungsprozess im Machtzentrum«, in: ders., Judenmord. NS-Politik, Zwangsarbeit und das Verhalten der Täter, Frankfurt am Main 2001, S. 47–92; Peter Longerich, Der ungeschriebene Befehl. Hitler und der Weg zur »Endlösung«, München 2001. Zusammenfassend vgl. Ian Kershaw, »Hitler’s Role in the ›Final Solution‹«, in: Yad Vashem Studies 34 (2006), S. 7–43. 7 Tobias Jersak, »Entscheidungen zu Mord und Lüge. Die deutsche Kriegsgesellschaft und der Holocaust.«, in: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945, im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes herausgegeben von Jörg Echternkamp (= Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9/I), München 2004, S. 273–355, hier S. 304–311. 8 Edouard Husson, »Die Entscheidung zur Vernichtung aller europäischer Juden. Versuch einer Neuinterpretation.«, in: Klaus Hildebrand u.a. (Hg.), Geschichtswissenschaft und Zeiterkenntnis. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Festschrift zum 65. Geburtstag von Horst Möller, München 2008, S. 277–289, hier S. 285. Der Beitrag ist eine Zusammenfassung seiner Studie: »Nous pouvons vivre sans les juifs«. Novembre 1941. Quand et comment ils ont décidé la solution finale, Paris 2005. 9 Ebenda, S. 288. 10 Ebenda, S. 289.
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ermordet werden sollte. Da Heydrich die »Trennung der Geschlechter« erwähnte, könnte dies auf einen längeren Zeitraum hinweisen. Seitdem Hitler den Vereinigten Staaten den Krieg erklärt hatte, so Brayard, war die Vernichtung aller Juden erklärtes Ziel der Naziführung.11 Doch inhaltlich war die Sitzung am Wannsee noch eher eine Absichtserklärung als die Präsentation eines ausgearbeiteten Planes im Sinne von Görings Beauftragung. Bis Ende Mai 1942, so Brayard, hatte es Heydrich nicht geschafft, einen Gesamtentwurf zur »Endlösung« zu erstellen.12 Erst Himmler sollte im Sommer 1942 nicht nur den Befehl zum Mord an den Juden im Generalgouvernement bis Ende des Jahres, sondern auch den Befehl zur Deportierung sämtlicher Juden aus dem deutsch besetzten Europa bis Sommer 1943 erlassen.13 Jersak, Brayard und Husson kommen zu ihren Ergebnissen unter hauptsächlicher Berücksichtigung derjenigen Quellen, die uns als Besprechungstermine und -ergebnisse, als Meinungsäußerungen und Aktenvorgänge um Hitler und seine engere Umgebung vertraut sind.14 Und während Husson diese zentrale Entscheidungsebene kaum verlässt, argumentiert Brayard zur Hinführung seiner zentralen These von Himmlers herausgehobener Rolle als Planer der »Endlösung« nach Heydrichs Tod vor allem mit den Korrespondenzen zwischen dem Amt IV B 4 des Reichssicherheitshauptamtes, dessen nachgeordneten Behördenvertretern im besetzten Frankreich und der deutschen Botschaft in Paris sowie dem Auswärtigen Amt.15 Jersaks Aufsatz hingegen beleuchtet einen anderen Gesichtspunkt, nämlich die Konfrontation der deutschen Kriegsgesellschaft inner- und außerhalb des Reiches mit den Massenmordaktionen. Seine Interpretation von der Relevanz der Atlantik-Charta für Hitlers Entscheidung zum Mord dient lediglich als Hinführung zum eigentlichen Thema. Seine Wahl des Tatortes Riga am 30. November 1941 soll zeigen, wie die deutschen Besatzungsbürokraten, die deutschen Soldaten und Polizisten auf
11 Florent Brayard, »To What Extent Was the ›Final Solution‹ Planned?«, in: Yad Vashem Studies 36 (2008), S. 73–111, hier S. 88–89. Auch diesem Aufsatz ging eine Studie voraus: La »solution finale de la question juive«: La technique, le temps et les catégories de la décision, Paris 2004. 12 Ebenda, S. 95. 13 Ebenda, S. 96–101. 14 Adolf Hitler. Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944, aufgezeichnet von Heinrich Heim, herausgegeben und kommentiert von Werner Jochmann, Hamburg 1980; Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, Stuttgart 1977; Herbst im »Führerhauptquartier«. Berichte Werner Koeppens an seinen Minister Alfred Rosenberg, herausgegeben und kommentiert von Martin Vogt, Koblenz 2002; »Das Kriegstagebuch des Diplomaten Otto Bräutigam,« eingeleitet und kommentiert von Hans-Dieter Heilmann, in: Biedermann und die Schreibtischtäter. Materialien zur deutschen Täter-Biographie, 2. Aufl., Berlin 1989, S. 123–187; Die Tagebücher von Joseph Goebbels, herausgegeben von Elke Fröhlich, München 1993–2005; Peter Witte u.a. (Hg.), Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, Hamburg 1999; Staatsmänner und Diplomaten bei Hitler, herausgegeben von Andreas Hillgruber, Frankfurt am Main 1967. 15 Die meisten der dort verwendeten Dokumente sind neu aufgelegt: Serge Klarsfeld, Vichy – Auschwitz. Die »Endlösung der Judenfrage« in Frankreich, aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Ahlrich Meyer, Darmstadt 2007.
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die »neue Normalität der Judenvernichtung« reagierten.16 Dass an diesem Morgen auch 1.053 aus Berlin deportierte Juden unter der Tathoheit des Höheren SS- und Polizeiführers (HSSPF) Friedrich Jeckeln ermordet wurden, liegt bei Jersak ganz im Sinne seiner Chronologie von Entscheidung und Durchführung. Himmlers und Heydrichs Intervention, die verschleppten Berliner Juden nicht zu töten, erfolgte lediglich in diesem einen Fall, um bei drohenden Nachfragen seitens des Oberkommandos des Heeres in dieser geheimen Reichssache gewappnet zu sein.17 Diese Studien, die Hitlers Entscheidung zur Ingangsetzung der »Endlösung« zuerst mit Hilfe der Interpretation von Überlieferungen aus der Zentrale zu rekonstruieren versuchen, sind aber nur ein Teil der jüngsten Historiographie. Der andere Teil untersucht den Holocaust in einzelnen Regionen, an bestimmten Tatorten oder am Verhalten der Täter und ergänzt oder hinterfragt auf diese Weise die lediglich um Hitler zentrierten Erkenntnisse. Und hier gibt es nicht weniger unterschiedliche Interpretationen. Die regionalen Initiativen zum massenhaften Mord durch Giftgas aus dem Reichsgau Wartheland und dem Distrikt Lublin, also von der Peripherie der Machtzentrale, lassen sich eindeutig auf den Posener Gauleiter und Reichsstatthalter Arthur Greiser und den Lubliner SS- und Polizeiführer (SSPF) Odilo Globocnik zurückführen.18 Die jüngeren Studien zu diesem Thema differieren jedoch in der genaueren Datierung der Akzeptanz dieser Initiativen seitens Hitlers und Himmlers und in der Dimension des geplanten Mordes.19 In seiner Studie über die Rolle der deutschen Zivilverwaltung beim Mord an den Juden im Generalgouvernement (GG) argumentiert Bogdan Musial, Hitler habe zwischen dem 1. Oktober und dem 12. Oktober 1941 entschieden, sämtliche Juden in diesem Gebiet ermorden zu lassen und Himmler habe dies seinem dortigen HSSPF Friedrich-Wilhelm Krüger und dem Lubliner SSPF Globocnik am 13. Oktober mitgeteilt.20 Ob das kleine Vernichtungslager der späteren »Aktion Reinhardt« in Bełżec eventuell nur für die Juden des Distrikts 16 Jersak, Entscheidung zu Mord und Lüge, S. 339. 17 Ebenda, S. 337. 18 Beide Akteure vergleicht Jacek Andrzej Młynarczyk, »Mordinitiativen von unten. Die Rolle Arthur Greisers und Odilo Globocniks im Entscheidungsprozess zum Judenmord«, in: ders./Jochen Böhler (Hg.), Der Judenmord in den eingegliederten polnischen Gebieten 1939–1945, Osnabrück 2010, S. 27–56. Zu Globocnik zuletzt Jan Erik Schulte, »Initiative der Peripherie. Globocniks Siedlungsstützpunkte und die Entscheidung zum Bau des Vernichtungslagers Belzec«, in: Die SS, Himmler und die Wewelsburg, herausgegeben von Jan Erik Schulte, Paderborn u.a. 2009, S. 119–137. Zu Arthur Greiser zuletzt Catherine Epstein, Model Nazi. Arthur Greiser and the Occupation of Western Poland, New York 2010, S. 160–192. 19 Zu Kulmhof mit weiteren Hinweisen auf geübte Kritik zuletzt Peter Klein, Die »Gettoverwaltung Litzmannstadt« 1940–1944. Eine Dienststelle im Spannungsfeld von Kommunalbürokratie und staatlicher Verfolgungspolitik, Hamburg 2009, S. 336–352, 383–393; Patrick Montague, Chełmno and the Holocaust. The History of Hitler’s First Death Camp, London u.a. 2012, S. 35–61. 20 Bogdan Musial, Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung im Generalgouvernement, Wiesbaden 1999, S. 205.
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Lublin errichtet wurde, verneint Musial auch in späteren Äußerungen, so dass die Reichweite des geplanten Massenmordes in diesem Lager umstritten ist.21 Damit kommt der Baugeschichte des zweiten Vernichtungslagers in Sobibor und der Professionalisierung der Abläufe eine größere Bedeutung zu. Völlig geklärt sind diese Punkte noch nicht.22 Für Musial ist klar, dass GG-Staatssekretär Josef Bühlers Anwesenheit auf der Wannsee-Konferenz auf einer bereits getroffenen Entscheidung fußte, sämtliche Juden im Generalgouvernement als Teil der »Endlösung der europäischen Judenfrage« zu ermorden.23 In seiner Studie zur deutschen Besatzungszeit im Distrikt Radom schließt sich Robert Seidel dieser Interpretation an, wohingegen Jacek Młynarczyk in seiner ganz auf die Judenverfolgung in diesem Distrikt konzentrierten Arbeit eher auf die stufenweise Radikalisierung der »Endlösung« abhebt.24 Sie begann mit den Ostsiedlungsplänen Globocniks im Oktober 1941 und endete mit Himmlers Vernichtungsbefehl gegen die Juden im GG im Juli 1942.25 Młynarczyks Arbeit zeigt übrigens deutlich, dass es bezüglich der Qualität einer Regionalstudie zum GG gar nicht notwendig ist, einen neuen Erklärungsansatz hinsichtlich des komplexen Weges zur »Endlösung« zu präsentieren, wenn eine vorliegende Interpretation, in diesem Falle die von Peter Longerich, genau die radikalisierende Entwicklung der Judenverfolgung vor Ort widerspiegelt.26 Ganz ähnlich findet dies in Michael Albertis großer Territorialstudie über die Verfolgung und Vernichtung der Juden im Reichsgau Wartheland statt. Denn die Verhältnisse dort mit den Diskussionen um den Mord an arbeitsunfähigen Juden seit Sommer 1941, der Aufbau des Vernichtungslagers in Kulmhof auf Initiative des Gauleiters Greiser, die ersten Aktivitäten des Mordkommandos von Herbert Lange und letztlich die Ankunft der deutschen Juden im Ghetto von Litzmannstadt lassen sich leichter in eine Phase der schrittweisen Radikalisierung des Völkermordes bis hin zur Tötung von arbeitsunfähigen Juden aus dem Reich im Mai 1942 integrieren als in eine einzige Entscheidung zum Holocaust im Herbst 1941.27 Fast scheint es so, als ob die 21 Musial, Zivilverwaltung, S. 207–208; ders., »Die Ursprünge der Aktion Reinhardt«, in: ders. (Hg.), »Aktion Reinhardt«. Der Völkermord an den Juden im Generalgouvernement 1941–1944, Osnabrück 2004, S. 79; Dieter Pohl, »Die Stellung des Distrikts Lublin in der ›Endlösung der Judenfrage‹«, in: Ebenda, S. 96–97. 22 Die Veröffentlichung von Sara Bergers detaillierter Rekonstruktion der Baugeschichten, Personalrochaden und des Know-How-Transfers zwischen den Lagern der »Aktion Reinhardt« in der Reihe »Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrunderts« vom Verlag Hamburger Edition ist angekündigt unter dem Titel: Das T-4-Reinhardt-Netzwerk und der Massenmord. 23 Musial, Zivilverwaltung, S. 220–221. 24 Robert Seidel, Deutsche Besatzungspolitik in Polen. Der Distrikt Radom 1939–1945, Paderborn, München u.a. 2006, S. 279–193. 25 Jacek Andrzej Młynarczyk, Judenmord in Zentralpolen. Der Distrikt Radom im Generalgouvernement 1939–1945, Darmstadt 2007, S. 246–251. 26 Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München u.a. 1998. 27 Michael Alberti, Die Verfolgung und Vernichtung der Juden im Reichsgau Wartheland 1939–1945, Wiesbaden 2006, S. 395–407.
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Regionalstudien Brownings und Longerichs Interpretationen eher stützen würden als diejenige von Christian Gerlach. Peter Longerich hat festgestellt, dass bei kritischer Lektüre keine der regionalen Arbeiten den eigentlichen Entscheidungsgang zur Endlösung präzise anhand von Dokumenten rekonstruieren kann.28 Doch der Schein trügt. Nachfolgend möchte ich anhand der für die Entscheidungsphase relevanten Ghettos zeigen, dass eine stufenweise Radikalisierung der Massenmordpläne hin zur unterschiedslosen Ermordung der Juden Europas auf der Wannsee-Konferenz beendet war. Als Himmler am 6. Juni 1941 in Litzmannstadt weilte, ließ er sich am Nachmittag das Ghetto zeigen und unterhielt sich mit dem Gauleiter und Reichsstatthalter Greiser sowie dem Regierungspräsidenten Friedrich Uebelhoer über die zukünftige Gestaltung der Innenstadt.29 Es hätte nahegelegen darüber zu reden, wann und wie das Ghetto hätte aufgelöst werden sollen, vor allem weil es im Süden sehr nahe an das Stadtzentrum grenzte. Und hinter den Kulissen hatte der Leiter der Haupttreuhandstelle Ost gerade eben seine Zusage aus dem April 1940 zurückgezogen, die Kreditsicherheit für dieses Ghetto in Höhe von bis zu 25 Millionen Reichsmark zu übernehmen. Seine Begründung gegenüber Göring und Staatssekretär Wilhelm Stuckart lautete unter anderem, Himmler habe seine damals ihm persönlich gegebene Versicherung nicht eingehalten, nämlich dass die Juden des Ghettos spätestens im Oktober 1940 abtransportiert sein sollten.30 Wenn Himmler sich bei seinem Besuch im Juni 1941 schriftlich überliefert geäußert hätte, so hätte er im Grunde genommen nur auf den bevorstehenden Angriff auf die Sowjetunion verweisen können, der eine territoriale »Endlösung« im Osten ermöglichen sollte, genauso wie dies Heydrich und Göring am 26. März 1941 vereinbart hatten.31 Hatte Himmler hier im Warthegau zum ersten Mal ein Großghetto von innen gesehen, so sollte er zweieinhalb Monate später ein offenes Ghetto kennenlernen, das im Gebiet des Befehlshabers des rückwärtigen Heeresgebiets Mitte eingerichtet worden war und im Grunde genommen erst aufgebaut wurde.32 Nachdem der Reichsführer-SS und Chef der deutschen Polizei am 15. August 1941 die Erschießung von »Juden und Partisa28 Peter Longerich, »Der Beginn des Holocaust in den eingegliederten polnischen Gebieten. Überlegungen zu Tendenzen der neueren Forschung.«, in: Młynarczyk/Böhler (Hg.), Der Judenmord in den eingegliederten polnischen Gebieten, S. 15–25, hier S. 18. 29 Michael Alberti, Die Verfolgung und Vernichtung, S. 351–352; Peter Klein, Die »Gettoverwaltung Litzmannstadt«, S. 272, 579, Anm. 25. 30 Peter Klein, Die »Gettoverwaltung Litzmannstadt«, S. 246. 31 Zur territorialen »Endlösung« im neu zu besetzenden Ostraum zuerst hierzu Götz Aly, »Endlösung«. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt am Main 1995, S. 268–272. Heydrichs Aktenvermerk über seinen Vortrag bei Göring liegt jetzt vollständig abgedruckt vor, in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 7: Sowjetunion mit annektierten Gebieten I, München 2011, Dok. 1, S. 113–117. 32 Zu den Judenräten und den Ghettos im besetzten Weißrussland im Sommer 1941 grundsätzlich: Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, 2. Aufl., Hamburg 2000, S.514–533. Mit Fokus auf die Stadt Minsk siehe
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nen« mitverfolgt hatte, fuhr er nach einem Mittagessen in Minsk durch das entstehende Großghetto, das knapp vier Wochen vorher von der Feldkommandantur 812 auf etwa zwei Quadratkilometern nordwestlich des Zentrums eingerichtet worden war. Mitte Juli hatte es die Einsatzgruppe B selbst als vordringlich erachtet, im Zusammenwirken mit Feld- und Ortskommandanturen Judenghettos in ihrem Gebiet einzurichten. Himmlers Ziel zusammen mit den beiden HSSPF Erich von dem Bach-Zelewski und Hans-Adolf Prützmann war das Arbeitskrankenhaus in Nowinki, wo er, nach Aussagen Bach-Zelewskis, die Anweisung gegeben hatte, die »Irrenanstalt« mit weniger grausamen Mitteln als der Massenerschießung zu räumen.33 Nachdem Himmler dann am 2. und 4. September im Gespräch mit den beiden HSSPF Krüger und Wilhelm Koppe die Möglichkeiten ausgelotet hatte, die Deportationen von Juden aus dem Reichsgebiet entweder in den Reichsgau Wartheland oder in das Generalgouvernement zu organisieren, schrieb er unter dem Datum 18. September 1941 den berühmten Brief an Arthur Greiser und kündigte die Ankunft von 60.000 Juden aus dem Altreich und dem Protektorat im Ghetto Litzmannstadt an. Die Hintergründe hierfür und die Folgen daraus sind eindrücklich beschrieben worden.34 Es genügt, darauf zu verweisen, dass Hitler dem Drängen einiger Gauleiter, dem Botschafter Otto Abetz und dem Ostminister Alfred Rosenberg nachgab und entgegen seiner ursprünglichen Konzeption noch während des Krieges die Deportationen absegnete.35 Noch am 18. September 1941 startete Himmler zu seiner zweiten Ostlandreise nach Libau, Riga, Mitau, Reval, Dorpat und Pleskau. In Riga war die Umsiedlung der Juden aus dem Stadtgebiet in die Moskauer Vorstadt in vollem Gange, und Himmler nahm die Parade des hierfür eingesetzten 20. Rigaer Ordnungsdienstbataillons ab.36 Anschließend ließ er sich von seinem HSSPF über den Stand von dessen Auseinandersetzungen mit dem Reichskommissar für das Ostland (RKO), Hinrich Lohse informieren. Am selben Tag noch sandte Prützmann ein Schreiben an den RKO ab, wo er sich massiv darüber beschwerte, er sei in fünf Fällen, in denen es um die polizeiliche Sicherung im neuen Ost-
Petra Rentrop, Tatorte der »Endlösung«. Das Ghetto Minsk und die Vernichtungsstätte von Maly Trostinez, Berlin 2011, S. 76–84. 33 Dienstkalender Heinrich Himmlers, S. 195; Zu den überlieferten Fotos von dieser Reise siehe Klaus Hesse, »…Gefangenenlager, Exekution,…Irrenanstalt…«. Walter Frentz’ Reise nach Minsk im Gefolge Heinrich Himmlers im August 1941«, in: Das Auge des Dritten Reiches. Hitlers Kameramann und Fotograf Walter Frentz, herausgegeben von Hans Georg Hiller von Gaertringen, München, Berlin 2007, S. 171–191. 34 Michael Alberti, Die Verfolgung und Vernichtung, S. 385–407; Peter Klein, Die »Gettoverwaltung Litzmannstadt«, S. 353–406. 35 Dienstkalender Heinrich Himmlers, S. 213, Anm. 57. 36 Ebenda, S. 214–215; Zur Parade des XX. Rigaer Ordnungsdienst-Batls, siehe Protokoll Nr. 7 v. 22.9.1941, in: LVVA Riga P 998-1-1, Bl. 8.
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raum ginge, übergangen worden.37 Einer dieser Fälle war die Anweisung des Generalkommissars Otto Drechsler über die »Behandlung von Juden im Gebiet des ehemaligen Freistaates Lettland« vom 31. August, von der einen Tag später in der »Deutschen Zeitung im Ostland« zu lesen war.38 Gleichzeitig sandte Heydrich in Berlin einen Entwurf für einen Führererlass »über die polizeiliche Sicherung des Generalgouvernements, des Protektorats Böhmen und Mähren sowie der von Reichskommissaren oder Chefs der Zivilverwaltung verwalteten Gebiete« an den Chef der Reichskanzlei, Hans Heinrich Lammers, ab. Die abgestimmte Aktion hatte den Zweck, die unendlichen Querelen zwischen Sicherheitspolizei und zivilen deutschen Besatzungsverwaltungen eindeutig und generell zu Gunsten Himmlers und Heydrichs zu entscheiden.39 Als Himmler von seiner Ostlandreise zurückkehrte, begab er sich direkt nach Rastenburg und traf mit Heydrich und dem HSSPF im Protektorat, Karl-Hermann Frank, zum gemeinsamen Abendessen bei Hitler ein. Hier wurde die Ernennung Heydrichs zum de facto Reichsprotektor in Böhmen und Mähren vorbereitet, was hinsichtlich der Dominanz über die polizeiliche Sicherung hin zu einer kompletten innenpolitischen Vorherrschaft im GG, Protektorat und den Reichskommissariaten schon einen beträchtlichen Teilerfolg für SS und Polizei bedeutete.40 In Litzmannstadt, Minsk und Riga hatte Himmler also drei Ghettos unter ganz besonderen Umständen kennen gelernt. Litzmannstadt existierte seit Mai 1940 und war ursprünglich auf drei bis vier Monate Existenz kalkuliert worden. Doch die Verschleppung der Lodzer Juden in das Generalgouvernement war schnell gescheitert, so dass die Führung des Ghettos ohne konzeptionelle Vorgabe lediglich als Reichsauftrag an die Stadt delegiert worden war mit der Maßgabe, möglichst billig zu wirtschaften. Die Gestapostelle Litzmannstadt spielte bisher nur eine untergeordnete Rolle.41 Himmlers Besuch mit der Nichterwähnung der zukünftigen Entwicklung verdeutlicht die völlige Konzeptionslosigkeit der sicherheitspolizeilichen Ghettopolitik vor dem Überfall auf die Sowjetunion. In Minsk hingegen war Himmlers Visite ein Spiegelbild nationalsozialistischer Vernich37 Der HSSPF beim RKO, an den Herrn Reichskommissar für das Ostland [ohne AZ, ohne Betr.] v. 18.9.1941, in: RGVA Moskau, 1358-1-30, Bl. 1–3. 38 Anordnung über die Behandlung von Juden im Gebiet des ehemaligen Freistaates Lettland, Riga, den 30. August 1941, gez. Drechsler, Generalkommissar, Preußischer Staatsrat, in: BA, R 90/146. 39 Das Schreiben ist gedruckt in: Deutsche Politik im »Protektorat Böhmen und Mähren« unter Reinhard Heydrich 1941–1942. Eine Dokumentation, herausgegeben von Miroslav Kárný, Jaroslava Milotová, Margita Kárná, Berlin 1997, Dok. 4, S. 82–85. 40 Dienstkalender Heinrich Himmlers, S. 217. Auf die Vorlage des Entwurf von Heydrich bei Hitler wurde am 23. Oktober 1941 verzichtet. Gesprächsvermerk zwischen Lammers und Himmler v. 23.10.1941, gedruckt in: Deutsche Politik im Protektorat, Dok. 26, S. 133. 41 Zur Gestapostelle Litzmannstadt siehe Klaus-Michael Mallmann, »›…Durch irgendein schnellwirkendes Mittel zu erledigen.‹ Die Stapo-Stelle Litzmannstadt und die Shoah im Warthegau«, in: Jacek Andrzej Młynarczyk/Jochen Böhler (Hg.), Der Judenmord, S. 143–166. Mit besonderer Berücksichtigung des Leiters Dr. Otto Bradfisch siehe Peter Klein, Die »Gettoverwaltung Litzmannstadt«, S. 541–568.
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tungsstrategien. Vom Besuch an der Erschießungsgrube über die Ghettobesichtigung, vom Gefangenenlager Drosdy mit geschätzten 140.000 Kriegs- und Zivilgefangenen zur Psychiatriestation Nowinki – an allen diesen Stationen agierte er als oberster Vertreter der rassenideologischen Seite des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion. Es schien im Glanz der schnellen Siege nicht so wichtig, ob das Ghetto bei Einführung der Zivilverwaltung nun dem Gebietskommissar oder der Sicherheitspolizei unterstehen würde. Und auch in Riga schien dies nur ein Detail zu sein;42 hier, wo bereits die Zivilverwaltung eingeführt war, schien sich die Sicherheitspolizei im täglichen Kleinkrieg gegen die Zivilverwaltung um jüdisches Vermögen, jüdische Arbeitskraft und Richtlinienhoheit über die Judenfrage durchzusetzen.43 Natürlich wäre es bequemer gewesen, alle diese Querelen mit einem Führererlass zu beenden – nun musste man den Kampf um die Handlungsdominanz gegen den Generalgouverneur Hans Frank und Alfred Rosenberg sowie dessen Reichskommissare einzeln aufnehmen. Andererseits eröffnete Heydrichs neue Position in Prag auch neue Möglichkeiten: Die Ghettoisierung der Juden in Böhmen und Mähren würde unter alleiniger Reißbrettplanung der Polizei stattfinden. Und schon die Suche nach einem geeigneten Ghettostandort im Protektorat war Heydrichs Chefsache. Seine Ausführungen zu dem Standort ohne Industrieansiedlungen, zur Ghettoaufteilung in eine Arbeits- und Versorgungszone und zum Charakter als Durchgangsghetto auf dem Weg der tschechischen Juden weiter in den Osten, waren geprägt von den Erfahrungen, die SS und Polizei bisher mit den Ghettos im besetzten Polen und der Sowjetunion gemacht hatten.44 Himmler und Heydrich diskutierten am 18. Oktober telefonisch über die Möglichkeit, den böhmischen Ort Alt-Tabor wie Theresienstadt als Ghettostandort zu konzipieren, was sich später allerdings nicht realisieren ließ.45 Und am 1. November besprachen beide telefonisch die Notwendigkeit, ein Ghetto für die über 60 Jahre alten Juden einzurichten – zu einem Zeitpunkt, als noch der 17. Transport in Litzmannstadt eintraf.46 So weit ich die Dokumentenlage übersehe, war es zuerst Joseph Goebbels, der von Theresienstadt als Altersghetto erfuhr, als er am 18. November 1941 mit Heydrich über die Deportationsplanungen sprach.47 42 Siehe etwa das FT von SS-Stubaf. Tschierschky an SS-Brif. Stahlecker vom 2. September 1941: » SSStubaf. Batz hat, nachdem seit gestern 12 Uhr der Generalkommissar für Lettland die Verwaltung übernommen hat, mit meinem Einverständnis an den SS- und Polizeiführer einen Bericht über die bisher von ihm veranlassten verwaltungspolizeilichen Massnahmen gegen die Juden gegeben, und gleichzeitig die Weiterführung aller derartiger Massnahmen wie z.B. die Einrichtung eines Ghettos usw. dem Generalkommissar überlassen.«, in: LVVA Riga, P 1026-1-17, Bl. 256. 43 Andrej Angrick/Peter Klein, Die »Endlösung« in Riga. Ausbeutung und Vernichtung 1941–1944, Darmstadt 2006, S. 106–111, S. 298–308. 44 Peter Klein, »Theresienstadt: Ghetto oder Konzentrationslager?«, in: Theresienstädter Studien und Dokumente 2005, S. 111–123. 45 Dienstkalender Heinrich Himmlers, S. 238–239. 46 Ebenda, S. 251. 47 Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Bd. 2, S. 309.
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Abbildung 3 Das Speisezimmer der Villa 1922, später der Konferenzraum von 1942 Quelle: Die Dame, Ullstein Verlag, Nr. 21/1922.
Alle vier hier erwähnten Ghettos waren diejenigen Konzentrationsorte für deportierte Juden aus dem Reich und dem Protektorat, die zusammen mit dem Ghetto in Kaunas in der wichtigen Phase der »Genesis der Endlösung« eine Rolle spielen sollten. Will man den Andeutungen von Hitlers Heeresadjutanten und den Nachrichten des Vizepräsidenten des Deutschen Gemeindetages glauben, dann hatte Hitler persönlich die Orte Litzmannstadt, Minsk und Riga ausgesucht, und dies konnte nur in den laufenden Gesprächen mit Himmler geschehen sein.48 Und ganz im Unterschied zu dem sich langsam füllenden 48 Der Wert der Aufzeichnungen ist fraglich. Heeresadjutant bei Hitler 1938–1943. Aufzeichnungen des Majors Engel, herausgegeben und kommentiert von Hildegard von Kotze, Stuttgart 1974, S. 111 (Eintrag v. 2.10.41). Zu Ralf Zeitlers Fernschreiben an den Präsidenten des Deutschen Gemeindetages, Karl Fiehler, vgl. Wolf Gruner, »Von der Kollektivausweisung zur Deportation der Juden aus Deutschland (1938–1945). Neue Perspektiven und Dokumente«, in: Birthe Kundrus/
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Theresienstadt, das konzeptionell völlig in der Hand der Prager Zentralstelle für jüdische Auswanderung lag, gab es in Litzmannstadt, in Minsk und in Riga die bekannten Proteste der regionalen Zivilverwaltung. Dabei fällt auf, dass Himmlers Argument in seinem Brief an Greiser, die Deportierten würden nur vorübergehend im Ghetto bleiben und im nächsten Frühjahr weiter ostwärts deportiert werden, im gesamten weiteren Verlauf um die Proteste Uebelhoers, des Oberbürgermeisters (OB) Werner Ventzki und der Wehrmacht nicht wiederholt wurde, weder von Himmler noch von Heydrich oder von Greiser. Hätten Himmler und Heydrich dem Streit nicht sofort die Spitze nehmen können, wenn sie wiederholt hätten, die Juden würden nur über den Winter einquartiert? Auch faktisch sind keine Initiativen innerhalb der Gettoverwaltung Litzmannstadt feststellbar, wonach die ankommenden Juden nur zeitweise im Ghetto bleiben sollten. Ganz im Gegenteil: Während der schriftliche Kampf um die Aufnahme tobte, erledigte der Judenrat eine ganz andere Anregung aus der Geheimen Staatspolizei. Chaim Rumkowski nämlich ließ prüfen, ob es nicht möglich sei, das Ghetto in eine Produktionszone und eine Versorgungszone zu teilen und kam zu einem negativen Ergebnis.49 Hätte dies funktioniert, so wäre dieselbe Ausgangsposition geschaffen worden, die als Vorstufe zur Vernichtung von Juden ohne Arbeit in den beiden Ghettos von Vilnius diente.50 Die Angabe allerdings, dass die deportierten Juden nach Ankunft noch weiter in Richtung Osten verschleppt würden, geisterte wenig später auch durch die konfliktreichen Korrespondenzen zwischen Reichskommissariat Ostland und Sicherheitspolizei. Ziemlich offen schrieb der Sachbearbeiter für Rassefragen im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, Erhard Wetzel, in seinen Briefentwurf an den RKO am 25. Oktober, Adolf Eichmann habe ihm erklärt, es bestünden keinerlei Bedenken, wenn in Minsk und Riga, wo Lager für zu deportierende Juden eingerichtet werden, Gaskammern – die »Brackschen Hilfsmittel« – gegen nicht arbeitsfähige Juden eingesetzt würden. Soweit Juden arbeitsfähig seien, würden sie noch weiter im Osten zum Arbeitseinsatz kommen.51 Und nachdem Rudolf Lange dem RKO Lohse am 8. November den voraussichtlichen Zeitplan für die Transporte nach Minsk und Riga zusammen mit dem Ausweichort Kaunas genannt hatte, forderte Lohses Abteilungsleiter Politik, Friedrich Trampedach, seinen Vorgesetzten und Reichsminister Rosenberg auf, zu intervenieren, da »Judenläger erheblich weiter
Beate Meyer, Die Deportation der Juden aus Deutschland. Pläne – Praxis – Reaktionen, Göttingen 2004, S. 51. 49 Peter Klein, Die »Gettoverwaltung Litzmannstadt«, S. 365–366. Ein zweiter diesbezüglicher Auftrag stammte vom Regierungspräsidenten und war am 16. Oktober 1941 an die Stadtverwaltung gerichtet, ebenda, S. 383–384. 50 Christoph Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944, Bd. II, Göttingen 2011, S. 981–1004. 51 Entwurf, betr. Lösung der Judenfrage, an den Reichskommissar für das Ostland, v. 25. Oktober 1941, Nürnberger Dokument NO-365.
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nach Osten verlegt werden müssen«.52 Georg Leibbrandt, Rosenbergs Hauptabteilungsleiter, beruhigte umgehend, Riga und Minsk seien ohnehin nur vorläufige Ziele: »Juden kommen weiter nach Osten. Daher hier keine Bedenken.«53 Doch jetzt protestierte die Wehrmacht; schon als zwei Deportationszüge von Minsk weiter östlich nach Borissow und nach Bobruisk weitergeleitet werden sollten, hatte der Befehlshaber des rückwärtigen Heeresgebietes Mitte (Max v. Schenckendorff) seine 339. Infanteriedivision angewiesen, das Überschreiten der Transporte in die Operationszone notfalls mit Waffengewalt zu verhindern, und der Wehrmachtsbefehlshaber Ostland (Walter Braemer) kündigte zehn Tage später beim Reichskommissariat an, er werde sogar gegen die Deportationen nach Minsk aus militärischen Gründen, wie es im Dokument heißt, protestieren.54 Leibbrandt, mittlerweile zur Wannsee-Konferenz am 9. Dezember von Heydrich eingeladen, beruhigte am 4. Dezember: »Wie SS-Obergruppenführer Heydrich bei einer Besprechung vor wenigen Tagen mitteilte, soll das Judenlager, dessen Errichtung in der Umgebung von Riga geplant war, in die Gegend von Pleskau kommen. Ich habe bereits mit Schreiben vom 13.11. das Reichssicherheitshauptamt gebeten, mich in Zukunft vor Einleitung von Maßnahmen zur Durchführung der Lösung der Judenfrage zu unterrichten, damit die Schwierigkeiten, die bisher durch die mangelnde oder zu späte Inkenntnissetzung meiner Stellen entstanden sind, vermieden werden.«55 Soweit ich sehe, blieb auch Pleskau Ende November/Anfang Dezember 1941 nur ein Gedankenspiel Heydrichs.56 Als Lange am 10. Dezember 1941 vom Gebietskom52 Der BdS, Einsatzgruppe A-II-Tgb. 126/41 geh., an den Herrn Reichskommissar für das Ostland, betr. Judentransporte aus dem Reich in das Ostland, i.A. SS-Stubaf. Lange, v. 8.11.1941, in: YIVO, Occ E 3-31. FS Trampedachs nach Berlin zum RmbO und den dort anwesenden RKO vom 9.11.1941, in: YIVO, Occ E 3-32. 53 FT HBZ 97759 an den RKO, betr. Telegramm 9.11.41, Dr. Leibbrandt v. 13.11.1941, in: Ebenda. 54 Zu Max v. Schenckendorffs Drohung mit Waffengewalt am 12. November 1941 vgl. Jörn Hasenclever, Wehrmacht und Besatzungspolitik in der Sowjetunion. Die Befehlshaber der rückwärtigen Heeresgebiete, Paderborn u.a. 2010, S. 513; Marginalie auf dem Protestschreiben des Generals Braemer an den RKO vom 20. November 1941 anlässlich eines Telefonats zwei Tage später, in: YIVO, Occ E 3-34. 55 RmbO an RKO Nr. I/293/41 g, betr. Lösung der Judenfrage, v. 4. Dezember 1941, in: YIVO, Occ E 3-35. 56 Jörn Hasenclever, Wehrmacht und Besatzungspolitik, konnte keine Verhandlungsversuche zwischen dem Befehlshaber des rückwärtigen Heeresgebiets Nord und Vertretern des HSSPF oder BdS rekonstruieren. Ebenso Jürgen Kilian, »Das Zusammenwirken deutscher Polizeiformationen im ›Osteinsatz‹ am Beispiel des rückwärtigen Gebietes der Heeresgruppe Nord.«, in: Wolfgang Schulte (Hg.), Die Polizei im NS-Staat, Frankfurt am Main 2009, S. 305–335; Ruth Bettina Birn, Die Sicherheitspolizei in Estland 1941–1944. Eine Studie zur Kollaboration im Osten, Paderborn u.a. 2006, S. 169, Anm. 70, macht in Pskov (Pleskau) ein Sammellager für Juden aus, die in der Gegend Torf stechen mussten; Anton Weiss-Wendt entlarvt eine Behauptung des Chefs des Sk 1a, Martin Sandberger, als Schutzbehauptung, wonach dieser estnische Juden in Pskov vergeblich vor der Vernichtung verber-
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missar Riga-Stadt, Hugo Wittrock, heftige Vorwürfe zu hören bekam, er quartiere ohne jede Fühlungnahme mit der örtlichen Zivilverwaltung deutsche Juden im Ghetto ein, da wehrte sich Lange nicht mit dem nahe liegenden Argument Heydrichs, dass die Juden ohnehin weiter in Richtung Pleskau kämen. Ganz im Gegenteil: »Herr Dr. Lange erklärte mir, dass in diesen Tagen voraussichtlich mit weiteren 10.000 Juden aus dem Reich zu rechnen sei, und dass er bitte, diese Juden in das Ghetto aufzunehmen.«57 Dieser Vorgang um Borissow/Bobruisk und Pleskau zeigt sehr deutlich, dass Himmler und Heydrich mit dem Projekt der immer weiter in den Osten hinein zu planenden Deportationstransporte auf einen militärischen Sieg zu warten hatten – wenn sie es nach den Erfahrungen mit der harsch protestierenden Wehrmacht überhaupt noch ernst damit meinten. Blickt man vor dem Hintergrund von Heydrichs Schwierigkeiten mit den Ankunftsorten und der Versicherung, Litzmannstadt, Minsk und Riga seien nur erste Stationen im Prozess einer Aussiedlung in den Osten, auf das Protektorat Böhmen und Mähren, so stellten sich solche Probleme gar nicht. Direkte Transporte aus Prag und Brünn hatte es nach Litzmannstadt und Minsk gegeben, und das Ghetto Theresienstadt wurde von den jüdischen Aufbaukommandos gerade eingerichtet. Heydrich hatte in einem Lagebericht an Hitler am 11. Oktober Theresienstadt als Auswanderungslager in den Osten angekündigt, und bis zum Vorabend der Konferenz waren zwei Transporte in Richtung Riga abgefahren.58 Ein Transport mit 1.005 Prager und Brünner Juden verließ am 9. Januar 1942 die böhmische Festungsstadt und wurde als elfter Transport nach Riga am 12. Januar auf dem Ghettogelände in der Moskauer Vorstadt einquartiert. Dieser Transport hatte ein Durchschnittsalter von 45,3 Jahren, und den Holocaust überlebten 110 Personen. Dies ist, neben dem Dortmunder Transport vom 27.1.1942, dem 19. ins Ghetto, die höchste Überlebendenzahl.59 Es ist bekannt, dass der erste Riga-Transport aus Berlin, der am 27. Dezember die Reichshauptstadt verlassen hatte, am 30. November am Bahnhof Skirotava in die Kolonnen der zu tötenden lettischen Juden eingereiht wurde, und wir wissen auch, dass der HSSPF Jeckeln dafür verantwortlich war. Am selben Tag um 13.30 telefonierte Himmler aus dem Bunker in Rastenburg mit Heydrich; Himmler notierte in seine Telefonnotizen: Berliner Juden keine Liquidierung – doch hierfür
gen wollte, was zwar auf das Vorhandensein eines Lagers hinweist, aber mehr nicht. Anton WeissWendt, Murder Without Hatred. Estonians and the Holocaust, Syracuse, 2009, S. 126–131. 57 Vermerk Wittrocks v. 11. Dezember 1941, in: BA, R 91/10, Bl. 29–30; Verschriftlichung der Unterhaltung Bl. 27–28 mit einer schriftlichen Empfangsbescheinigung Langes. 58 Elfter Lagebericht Heydrichs via Bormann an Hitler: Dokumentation zur Errichtung des Theresienstädter Ghettos 1941, in: Theresienstädter Studien und Dokumente 1996, S. 272. 59 Zum Transport am 9. Januar 1942 aus Theresienstadt vgl. Buch der Erinnerung. Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden, bearbeitet von Wolfgang Scheffler und Diana Schulle, Bd. I, München 2003, S. 474–495; zum Transport vom 27.1.1942 aus Dortmund vgl. ebenda, Bd. II, S. 837–861.
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war es zu spät.60 Tags darauf sandte Himmler an Jeckeln einen Fernspruch, in dem er drohte: »Die in das Gebiet Ostland ausgesiedelten Juden sind nur nach den von mir bzw vom Reichssicherheitshauptamt in meinem Auftrag gegebenen Richtlinien zu behandeln. Eigenmächtigkeiten, Zuwiederhandlungen [!] würde ich bestrafen.«61 Himmler wollte ganz offensichtlich eigeninitiative Massenmorde an den Deportierten verhindern, und die folgenden zwölf Transporte nach Riga blieben von größeren Massakern verschont. Doch Himmler rügte hier nicht nur Jeckelns Massenmord an deportierten Juden aus Berlin. Am 25. und am 29. November 1941 waren in Kaunas laut Meldung des Leiters des Einsatzkommandos 3 der Einsatzgruppe A, Karl Jäger, insgesamt 4.934 Verschleppte aus Berlin, München, Frankfurt am Main, aus Wien und Breslau erschossen worden.62 Christoph Dieckmann konnte rekonstruieren, dass dieser Mord zwar von der KdSDienststelle in Kaunas unter Leitung des SS-Standartenführers Jäger begangen wurde, allerdings auf Initiative des HSSPF Jeckeln, der deswegen vorher den Tatort, das Fort IX, besucht hatte. Auch der RKO Lohse war nach aller Wahrscheinlichkeit vorher vom Mord informiert. Erst als sich unmittelbar nach Abfassung des »Jäger-Berichts« herausstellen sollte, dass die Erschießungen von deportierten Juden ebenso wie kurz darauf in Riga von Himmler und Heydrich gar nicht sanktioniert gewesen waren, begann man mit der Vertuschung der eigenen Fehlleistung.63 In der Ereignismeldung UdSSR Nr. 140 vom 1. Dezember 1941, in der der Tätigkeit der Einsatzgruppe A viel Platz eingeräumt war, wird die Liquidierung ignoriert.64 Weder in der Ereignismeldung UdSSR Nr. 151 vom 5. Januar 1942 noch in der Nr. 155 vom 14. Januar 1942, wo auf die »Judenfrage« im Baltikum besonders eingegangen wurde, ist dieser Massenmord vermerkt.65 Im umfangreichen Bericht des Ek 3 vom Januar 1942, der die Grundlage für den sogenannten zweiten Stahlecker-Bericht bildete, war von der Erschießung von Juden aus dem Westen 60 Einen Erklärungsansatz über das zu spät geführte Telefonat liefert Peter Klein, »Die Erlaubnis zum grenzenlosen Massenmord – Das Schicksal der Berliner Juden und die Rolle der Einsatzgruppen bei dem Versuch, Juden als Partisanen ›auszurotten‹«, in: Rolf-Dieter Müller/Hans-Erich Volkmann, Die Wehrmacht. Mythos und Realität, München 1999. 61 Zuletzt und mit weiteren Literaturhinweisen Tobias Jersak, Entscheidung für Mord und Lüge, S. 337; Angrick/Klein, Die »Endlösung« in Riga, S. 160–169; Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen, S. 962. 62 Vgl. Gesamtaufstellung der im Bereich des EK. 3 bis zum 1. Dez. 1941 durchgeführten Exekutionen. Geheime Reichssache! Kauen, den 1. Dezember 1941, gedruckt in: Adalbert Rückerl (Hg.), NSProzesse. Nach 25 Jahren Strafverfolgung. Möglichkeiten – Grenzen – Ergebnisse, Karlsruhe 1971, Anhang. Wolfgang Scheffler und Diana Schulle rekonstruierten 4.716 Deportierte, vgl. Buch der Erinnerung, S. 85. 63 Beim »Jäger-Bericht« handelt es sich um die in Anm. 62 behandelte Gesamtaufstellung; zum Vorgang vgl. Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen, Bd. II, Göttingen 2011, S. 959–967. 64 Die Ereignismeldung UdSSR Nr. 140 liegt ediert und in dieser Hinsicht auch kommentiert vor, in: Klaus-Michael Mallmann u.a. (Hg.), Die »Ereignismeldungen UdSSR« 1941. Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion, Bd. 1, Darmstadt 2011, S. 843–848. 65 Ereignismeldungen UdSSR Nr. 151 u. Nr. 155, in: BA, R 58/220.
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mit keinem Wort die Rede.66 Der Unterschied im Berichtswesen zum Massaker an den Berliner Juden in Riga, wo der spätere KdS Rudolf Lange im Gegensatz zu Jäger seine Männer hierfür nicht zur Verfügung gestellt hatte, ist auffallend. Hier hatte sich Jeckeln mit eigenen Polizeikräften befehlswidrig verhalten: »Der Höhere SS- und Polizeiführer in Riga, SS-Obergruppenführer Jeckeln, hat inzwischen eine Erschiessungsaktion in Angriff genommen und am Sonntag, den 30.11.41 ca. 4.000 Juden des Rigaer Ghettos und eines Evakuierungstransports aus dem Reich beseitigt. Die Aktion sollte ursprünglich mit eigenen Kräften des Höheren SS- und Polizeiführers durchgeführt werden, nach einigen Stunden wurden jedoch die zu Sicherungszwecken abkommandierten 20 Mann des Ek 2 mit in der Aktion eingesetzt.«67 Unter dem Titel »Die Juden aus dem Reich« im zweiten Stahlecker-Bericht findet sich dann überhaupt kein Hinweis auf erschossene deportierte Juden mehr, außer dass Jeckeln Anfang Dezember 1941 eine Großaktion in Riga angeordnet und durchgeführt habe.68 Der zweite Theresienstadt-Transport vom 15. Januar 1942 kam am 19. Januar 1942 am Bahnhof Riga-Skirotava an. Offensichtlich wurden etwa 70 bis 80 junge Männer noch am Bahnhof von Langes KdS-Leuten selektiert und anschließend nach Salaspils gebracht, also in dasjenige Lager, das noch immer eher eine Baustelle darstellte und von Heydrich angeblich nach Pleskau verlegt werden sollte. Alle anderen Juden, es waren über 900 und unter ihnen befanden sich mindestens 450 Personen zwischen 16 und 50 Jahren als potentiell Arbeitsfähige, wurden erschossen.69 Anschließend flog Lange nach Berlin und nahm am nächsten Tag an der Wannsee-Konferenz teil. Es ist vor dem Hintergrund der beschriebenen Ereignisse auszuschließen, dass Lange Juden aus dem Ghetto seines Dienstvorgesetzten Heydrich ohne ausdrückliche vorherige Genehmigung ermordet haben könnte und ihn am nächsten Tag auf der WannseeKonferenz traf, wenn man bedenkt, dass seine Ernennung zum KdS Lettland durch seine Verweigerung am 30. November gefördert worden war.70 Auch irgendwelche organisatorischen Probleme vor Ort kann es nicht gegeben haben. Das leergeschossene Ghetto hätte genug Platz gehabt, etwa zwei Drittel des Geländes waren verwaist. Alle 18 Überlebenden aus diesem Transport gehörten zu den nach Salaspils verschleppten Männern. Lange ermordete die »evakuierten« Juden also im Gegensatz zu Jeckeln mit Erlaubnis.71
66 Einsatzkommando 3/A. Juden. Undat. Bericht [Monat Januar 1942, P.K.], in: Historisches Staatsarchiv Riga, P 1026-1-3, Bl. 265–275. Der Bericht ist benannt nach dem Leiter der Einsatzgruppe A, Walther Stahlecker. 67 Ereignismeldung UdSSR Nr. 151, Bl. 14 des Berichts. 68 Nürnberger Dokument PS-2273. Undatierter Geheimbericht über die von Einsatzgruppe A systematisch durchgeführte Massenermordung von Juden in West- und Weissrussland sowie in den baltischen Staaten, mit Angabe von Zahlen, gedruckt in: IMT, Bd. 30, S. 71–80, hier S. 79–80. 69 Die Rekonstruktion dieses Massenmordes in: Angrick/Klein, Die »Endlösung« in Riga, S. 239–242. 70 Ebenda, S. 169. 71 Ebenda, S. 271–275.
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Zwischen dem verbotenen Morden vom 30. November 1941 und dem erlaubten Massaker an den Theresienstädter Juden am 19. Januar 1942 lag Hitlers Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten am 11. Dezember und die geheime Reichs- und Gauleitersitzung in Hitlers alter Reichskanzleiwohnung. Joseph Goebbels und Hans Franks Bezugnahmen auf Hitlers Vernichtungsentschluss sind eindeutig. Zwischen den beiden Massenmorden lag aber auch das Gespräch zwischen dem Staatssekretär Stuckart und seinem Referenten für »Rassenfragen« Bernhard Lösener vom 19. Dezember. Als Lösener wegen des Mordes an den Berliner Juden seinen Posten zur Verfügung stellen wollte, da antwortete Stuckart nicht mehr mit dem naheliegenden Argument, dass dieses Massaker verbotenerweise begangen worden war. Der Staatssekretär dürfte sehr genau gewusst haben, was in Riga vorgefallen war. Am 1. Dezember 1941 hatte Stuckart einen mehrstündigen Arbeitstermin mit Heydrich in Prag gehabt, während dessen Heydrich und Himmler wegen der »Exekutionen in Riga« miteinander telefoniert hatten.72 Doch am 19. Dezember antwortete der Staatssekretär: »Das Verfahren gegen die evakuierten Juden beruht auf einer Entscheidung von höchster Stelle. Damit werden Sie sich abfinden müssen!« Kurz darauf bekannte er sich zu den Begründungen Hitlers: »Abschließend sagte Dr. Stuckart, man müsse die Endlösung der Judenfrage doch von einem höheren Standpunkt aus betrachten. ›Allein in den letzten Wochen sind 50.000 deutsche Soldaten an der Ostfront gefallen. Denken Sie daran, dass an jedem deutschen Toten die Juden schuldig sind, denn nur den Juden haben wir es zu verdanken, daß wir diesen Krieg führen müssen. Das Judentum hat ihn uns aufgezwungen. Wenn wir da mit Härte zurückschlagen, so muß man die weltgeschichtliche Notwendigkeit dieser Härte einsehen und darf nicht ängstlich fragen, ob nicht gerade dieser oder jener bestimmte evakuierte Jude, den sein Schicksal ereilt, persönlich daran schuldig ist.‹«73 Im Besprechungsprotokoll vom 20. Januar 1942 wird der Plan der Endlösung durch Massenmord an sämtlichen Juden in Europa zuerst als Endzweck vorgestellt, bevor das Reichsgebiet einschließlich Protektorat Böhmen und Mähren im Deportationssystem von West nach Ost vorweggenommen werden sollte. Und dann heißt es: »Die evakuierten Juden werden zunächst Zug um Zug in sogenannte Durchgangsghettos verbracht, um von dort aus weiter nach dem Osten transportiert zu werden«.74 Dies war schon damals eine durch die Anwesenheit des KdS Lange decouvrierte Metapher, auch wenn sie, ganz ähnlich wie der abgesagte Madagaskarplan, weiter verwendet wurde. Als Hitler sich zu den Eismeerlagern am 17. Februar 1942 und am 5. April 1942 äußerte, war 72 Eines der wenigen überlieferten Terminblätter Reinhard Heydrichs stammt vom 1. Dezember 1941. Von 11.30 Uhr bis 13.30 konferierte Heydrich mit Stuckart, dem HSSPF Karl Hermann Frank, dem BdS Böhme u.a. Besprechungsblatt Heydrich v. 1.12.1941, in: AMV Prag, 114-9-77, Bl. 31. Um 13.15 kam es zum Telefonat zwischen Himmler und Heydrich, in: Dienstkalender Heinrich Himmlers, S. 280. 73 Wilhelm Lenz, »Die Handakten von Bernhard Lösener, ›Rassereferent‹ im Reichsministerium des Innern«, in: Archiv und Geschichte 57 (2000), S. 684–699. 74 Besprechungsprotokoll, S. 8; vgl. Dok. 4.7 in diesem Band.
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jetzt nicht mehr von Juden, sondern von KZ-Insassen die Rede.75 Es ließe sich darüber diskutieren, ob Heydrich sich tatsächlich vorstellen wollte, irgendwann in einem kommenden »deutschen Siegfrieden« über Europa portugiesische Juden im Ost-Straßenbau einzusetzen, oder ob die Wendung »straßenbauend nach Osten« nicht eine kollektive, von vielen Teilnehmern beifällig aufgenommene Verschleierung der Realitäten darstellte. Immerhin waren Alfred Meyer, Georg Leibbrandt und Gerhard Klopfer am 30. Oktober 1941 bei der Chefbesprechung Rosenbergs über die Landesplanung im neuen »Ostraum« anwesend gewesen, wo Fritz Todt über die Straßenbauprojekte gesprochen und die Hoffnung geäußert hatte, für seine zukünftigen Baustellen sowjetische Kriegsgefangene zu erhalten.76 Wichtiger ist aber, dass man Langes Verhalten gegenüber den deportierten Juden nach der Konferenz weiter beobachtet, denn er kannte die Strategie seiner Chefs und er kannte die Gespräche am 20. Januar. Nach Rückkehr leitete er eine Massenerschießungsaktion an den gerade angekommenen Juden aus Berlin am 30. Januar oder an denjenigen aus Wien am 31. Januar. Darüber sind wir jedoch nur durch Zeugenaussagen aus dem Arajskommando informiert, weswegen nicht klar ist, welcher der beiden Transporte betroffen war. Am 5. Februar 1942 erfolgte eine größere Selektion der Wiener und Berliner Juden im Ghetto selbst, und letztlich steigerte sich dieser Massenmord zur sogenannten Aktion Dünamünde, wo im März und April 1942 etwa 4.800 Menschen im Wald von Bikernieki erschossen wurden.77 Im Litzmannstädter Getto setzte man auch darauf, dass eine Mordanweisung gegen die deportierten Juden nicht mehr lange auf sich warten würde. Auf eine Anfrage des Bürgermeisters Karl Marder beim OB Ventzki, ob man einen Antrag auf Reichsbezuschussung für nicht arbeitsfähige deportierte Juden stellen solle, antwortete jener am 9. März 1942: »Es wird sich ja alsbald herausstellen, ob die nicht arbeitseinsatzfähigen reichsdeutschen Juden uns verbleiben, und dann eventuell von reichswegen bezuschusst werden müssen, oder ob sie mit unter die ›Aktion‹ fallen. Ich persönlich glaube das letztere und damit wäre die Sache in der Tat erledigt.«78 Die Hälfte der deportierten Juden aus dem Altreich und dem Protektorat wurden Anfang Mai 1942 im Vernichtungslager Kulmhof umgebracht, nachdem Himmler am 16. April 1942 dies wohl mit Gauleiter Greiser persönlich abgesprochen hatte.79 Dieses Beispiel zeigt sehr gut, dass Hitlers Grundsatzbeschluss zum Mord an allen erreichbaren Juden immer wieder in der Form umgesetzt wurde, dass Himmler oder Heydrich hierzu ihre jeweiligen Mordbefehle herausgaben, oder dass Himmler in 75 Mit allen wichtigen weiteren Nachweisen vgl. Dienstkalender Heinrich Himmlers, S. 353, 392. 76 Niederschrift über die Chefbesprechung am 30.10.1941 im RmbO über die Landesplanung im Osten, Anl. II 1 c 92/41 (g.Rs), 15 Ausf., in: BA, R 6/17, Bl. 3–16. 77 Angrick/Klein, Die »Endlösung« in Riga, S. 242–245, 338–345. 78 Peter Klein, Die »Gettoverwaltung Litzmannstadt«, S. 450. 79 Peter Witte, »Zwei Entscheidungen in der ›Endlösung der Judenfrage‹. Deportationen nach Lodz und Vernichtung in Chelmno.«, in: Theresienstädter Studien und Dokumente 1995, S. 38–68, hier S. 55–59.; Peter Klein, Die »Gettoverwaltung Litzmannstadt«, S. 451–453.
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solchen Gesprächen wusste, dass ein auf Mord drängender Regionalvertreter grünes Licht bekommen konnte. Im Grunde muss man die oft als Radikalisierungsspirale interpretierten Aktivitäten Himmlers und Heydrichs als wiederholte Umsetzung der Grundsatzentscheidung Hitlers betrachten. Im Ghetto Minsk wurden die deutschen Juden noch verschont. Aber nach einem Besuch Heydrichs in Minsk während der ersten Aprilwoche 1942 änderte sich auch hier alles.80 Der KdS Eduard Strauch begann am 15. Mai 1942 mit den Vorbereitungen, sämtliche Arbeitsfähige zu registrieren, und schuf die Vorbedingungen für den Mord. Nachdem vom Sonderzug der Waffen-SS unter Gerhard Arlt zwischen dem 25. und 27. Juli 1942 neue Gruben ausgehoben wurden, verübten Arlts und Strauchs Leute ein Massaker. Unmittelbar darauf schrieb der Generalkommissar Weißruthenien an Lohse: »In MinskStadt sind am 28. und 29. Juli rund 10.000 Juden liquidiert worden, davon 6.500 russische Juden – überwiegend Alte, Frauen und Kinder – der Rest bestand aus nichteinsatzfähigen Juden, die überwiegend aus Wien, Brünn, Bremen und Berlin des vorigen Jahres nach Minsk auf Befehl des Führers geschickt worden sind. […] In Minsk-Stadt sind 2.600 Juden aus Deutschland übriggeblieben. Ausserdem sind noch sämtliche 6.000 russische Juden und Jüdinnen am Leben, die als Arbeitseinsatz während der Aktion bei den sie beschäftigenden Einheiten verblieben sind. Minsk wird auch in Zukunft noch immer den stärksten Judeneinsatz behalten, da die Zusammenballung der Rüstungsbetriebe und die Aufgaben der Eisenbahn das notwendig macht.«81 Ob nun arbeitsfähige Juden aus Theresienstadt im Frühjahr 1942 in die Durchgangsghettos im Distrikt Lublin verschleppt wurden oder im Sommer zur sofortigen Ermordung nach Maly Trostinez, ob Himmler nun im Mai 1942 die vorübergehende Einstellung von »Sondermassnahmen« gegen arbeitsfähige Juden im Alter von 16 bis 32 Jahren »bis auf weitere Weisung« anordnete, im Sommer 1942 den Mord an sämtlichen Juden im Generalgouvernement bis Jahresende 1942 befahl und sich im Januar 1943 über die Nichteinhaltung in Warschau beschwerte; ob er nun die Gründung von Konzentrationslagern im Ostland befahl oder die »Aktion Erntefest« – alle Initiativen und Interventionen fußten letztlich auf einer einmal verkündeten Grundsatzentscheidung Hitlers, die unter taktischer Berücksichtigung konkurrierender Interessen in den jeweiligen Regionen durchgesetzt werden musste. Dass Hitler bei der Umsetzung seines Grundsatzbeschlusses von Himmler immer wieder im Sinne von taktischen Richtungsentscheidungen mitbeteiligt wurde, lässt sich gut aus dem Dienstkalender ersehen, wenn Himmler etwa am 22. September 1942 bei Hitler nachfragte, wie hinsichtlich der »Judenauswanderung« weiter verfahren werden sollte, oder wenn er in einem Führervortrag am 10. Dezember 1942 die »Juden in Frankreich« ansprach und anschließend in einem Aktenvermerk festhielt: »Der Führer hat die Anweisung gegeben, 80 Christian Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 694–695. 81 Der Gen.Komm. für Weissruthenien, Abtl. Gauleiter/G.507/42 g. An den RKO Hinrich Lohse, Riga, betr. Partisanenbekämpfung und Judenaktion im Generalbezirk Weissruthenien, v. 31.7.1942, in: YIVO, Occ E 3–41. Zum Kontext Christian Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 683–709.
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daß die Juden und sonstigen Feinde des Reiches in Frankreich verhaftet und abtransportiert werden. Dies soll jedoch erst geschehen, wenn er mit Laval darüber gesprochen hat.«82 Mit Langes Erscheinen von den Erschießungsgruben in Rigas Wäldern, wo er mit Erlaubnis Himmlers und Heydrichs nur diejenigen tschechischen Männer verschont hatte, die er unbedingt zum Aufbau eines nicht mehr nach ostwärts verlegbaren Lagers brauchte, zur Besprechung im Gästehaus am Wannsee, ist die inzwischen eingetretene Befehlslage deutlich sichtbar dokumentiert. Bei der Besprechung Am Großen Wannsee war der Prozess bereits abgeschlossen, der als »Genesis der Endlösung« bezeichnet wird. Hitler hatte sich in der Reichs- und Gauleitersitzung am 12. Dezember 1941 mit der Verkündung seines Entschlusses zum Völkermord an den europäischen Juden an die Spitze einer seit dem Sommer 1941 radikalisierten Tendenz zum Judenmord durch Gas und Erschießungen gestellt. Das Massaker an über 450 potentiell Arbeitsfähigen aus Theresienstadt markierte den Beginn desjenigen Teils der deutschen Politik der Vernichtung, der von nun an alternativlos auf aktiven Mord an den Juden Europas angelegt war. Es war Hitler selbst, der dies am 30. Januar 1942 während einer Rede im Berliner Sportpalast bekannte: »Zum ersten Mal werden nicht andere Völker verbluten, sondern zum ersten Mal wird diesmal das echt altjüdische Gesetz angewendet: Aug’ um Aug‘, Zahn um Zahn«.83
82 Dienstkalender Heinrich Himmlers, S. 566, 637. 83 Rede Hitlers im Sportpalast am 30.1.1942, in: Archiv der Gegenwart, 30.1.1942, S. 5379.
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Die Rolle Heydrichs im Prozess der HolocaustEntscheidung und die Bedeutung der Wannsee-Konferenz Versuch einer Neuinterpretation Als die Zeit gegen Deutschland spielte In meiner 2008 erschienenen Studie über Reinhard Heydrichs Beitrag zum Aufbau des Vernichtungsapparates des NS-Regimes spielte die Interpretation der Wannsee-Konferenz eine wichtige Rolle, denn bei einer umfassenderen Fragestellung über die Ausweitung des Judenmordes in Europa im Winter 1941/42 kommt dieser Sitzung ganz besondere Bedeutung zu.1 Mein Beitrag zur Beantwortung dieser Frage ist sicher bescheiden, verglichen mit den grundlegenden Werken von Florent Brayard, Richard Breitman, Christopher Browning, Philippe Burrin, Saul Friedländer, Christian Gerlach, Peter Longerich und anderen.2 Mich hat die Forschung zu Reinhard Heydrich3 davon überzeugt, dass die Historiker nicht genug zwischen den drei Etappen des Entscheidungsprozesses, nämlich erstens der allmählichen Formulierung einer Absicht, zweitens der Entscheidung selbst und dann drittens der Verwirklichung der Entscheidung unterscheiden. Der Entwicklungsrhythmus der nationalsozialistischen Diktatur war so hektisch, dass die nächste Phase der Radikalisierung der Gewalt oft angefangen hatte, bevor sich alle im Regime dessen bewusst geworden waren. Dazu kam die Fähigkeit des Regimes, 1 Edouard Husson, Reinhard Heydrich et la »solution finale«, Paris 2008. 2 Florent Brayard, La »solution finale de la question juive«. La technique, le temps et les catégories de la décision, Paris 2004; Richard Breitman, The Architect of Genocide. Himmler and the Final Solution, New York 1991; Christopher Browning, The Origins of the Final Solution, Jerusalem 2003; Philippe Burrin, Hitler et les Juifs, Paris 1989; Saul Friedländer, Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939–1945, München 2006; Christian Gerlach, »Die Wannsee-Konferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers politische Grundsatzentscheidung, alle Juden Europas zu ermorden«, in: ders., Krieg, Ernährung, Völkermord. Forschungen zur deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1998, S. 85–165; Mark Roseman, Ordre du jour, Génocide. Le 20 janvier 1942, Paris 2002. 3 Ich arbeite derzeit an einer Heydrich-Biographie für den Schöningh Verlag. Über Heydrich siehe auch Robert Gerwarth, Hitler’s Hangman. The Life of Heydrich, New Haven 2011, der aber m. E. sehr traditionell in der Interpretation der Rolle Heydrichs im Jahre 1941 bleibt.
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zwischen zwei Entscheidungsebenen zu unterscheiden: Es handelte sich zwar um eine totalitäre Diktatur, in welcher die Autorität des Führers unanfechtbar war, der sich seinerseits auf die Formulierung von radikalen Prinzipien beschränkte, denen die Politik folgte. Die Erfindung der Mittel zur Verwirklichung seiner Absichten aber überließ er seinen Mitarbeitern und Untergeordneten mit Ausnahme des militärischen Bereichs. Das führt dazu, dass der Nationalsozialismus zwar als totalitär zu bezeichnen ist, das Regierungshandeln aber zum großen Teil dezentralisiert und mit erheblichen Spielräumen für die untergeordneten Behörden erfolgte.4 In meinem kurzen historischen Essay »Nous pouvons vivre sans les Juifs«, Novembre 1941 hatte ich mich hauptsächlich auf Hitler und seine nächste Umgebung konzentriert, um eine Neuinterpretation des Entscheidungsprozesses 1941–1942 vorzuschlagen5; in meiner Arbeit Heydrich et la »solution finale« habe ich versucht, die Dynamik der nationalsozialistischen Gewalt auf allen Ebenen des Regimes, angefangen von Hitlers Impulsen über Himmlers und Heydrichs Systematisierungsbestrebungen bis hin zu den lokalen Initiativen der Besatzungsbehörden in ein einheitliches Interpretationsmuster zu integrieren. Im Rahmen dieses Aufsatzes wird es nicht möglich sein, ins Detail zu gehen und ich werde mich auf die Frage beschränken: Was erfahren wir über den Entscheidungsprozess zum Genozid dank des uns überlieferten Protokolls der Wannsee-Konferenz? Am Beispiel von Heydrichs Arbeit in Richtung des Willens des Führers im Jahr 1941 findet man alle gerade erwähnten Aspekte der NS-Mordpolitik wieder: Erst mit der Planung des Russland-Feldzuges fand die mörderische Absicht des Regimes gegenüber allen europäischen Juden ihren definitiven Ausdruck, nämlich in der »Endlösung der Judenfrage in Europa«; es sollte hier kurz hervorgehoben werden, wie wichtig für die Konkretisierung der oft vage formulierten Mordabsichten Hitlers die unermüdliche Schreibtisch- und Feldarbeit von Himmler und Heydrich war, die aus der mörderischen Utopie eine Realität machte. Trotzdem sollte man zweitens darauf insistieren, dass Hitler stets am Anfang der Radikalisierungsphasen stand; zwischen Mitte Juli und Mitte November 1941 wurde vom Führer selbst darüber entschieden, mit der »Endlösung« noch im Krieg 4 MacGregor Knox, Common Destiny: Dictatorship, Foreign Policy and War in Fascist Italy and Nazi Germany, Cambridge 2000, hebt die Bedeutung des Prinzips der »preußischen Freiheit« innerhalb der deutschen militärischen Tradition des 19. Jahrhunderts hervor: Der Untergeordnete erfindet selber die Mittel zur Vollstreckung eines Befehls. In meiner Studie zu Heydrichs Rolle im Holocaust habe ich die These vertreten, dass der Begriff einleuchtend und passender als die Verwendung eines sogenannten Polykratie-Begriffs sei, um den Freiraum der Akteure im Entscheidungsprozess innerhalb des NS-Machtapparates zu beschreiben. 5 Details über meine Position in der Debatte über einen sogenannten Hitler-Befehl in: Edouard Husson, »Nous pouvons vivre sans les Juifs«. Novembre 1941. Quand et comment ils ont décidé la solution finale, Paris 2005. Siehe auch Edouard Husson, »Die Entscheidung zur Vernichtung aller europäischen Juden. Versuch einer Neuinterpretation«, in: Klaus Hildebrand u.a. (Hg.), Geschichtswissenschaft und Zeiterkenntnis. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Festschrift zum 65. Geburtstag von Horst Möller, München 2008, S.277–289.
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anzufangen.6 Und letztlich hatten Himmler und Heydrich noch vor dem Anfang des »Unternehmens Barbarossa« ihren Einfluss auf den Deportations- und Mordprozess so konsolidiert, dass sie sehr schnell in der Lage waren, das vor Juni 1941 formulierte Projekt eines mittelfristigen Genozides an den europäischen Juden, der nach der Niederlage der Sowjetunion in Gang gesetzt werden würde, in einen unmittelbaren Genozid zu verwandeln, der noch während des Krieges verwirklicht werden könnte. Meine These lautet: Die Wannsee-Konferenz ist deshalb wichtig, weil ihr Protokoll von diesem Übergang von einem »allmählichen Genozid«, der erst nach dem Sieg erfolgen würde, zu einem schnellen Massenmord, dem Holocaust, der mitten in einem Krieg mit unsicherem Ausgang in Gang gesetzt wurde, zeugt. Im Zentrum meiner Analyse von Heydrichs Rolle steht ein bisher nicht genug berücksichtigter Faktor, was die Verwandlung der Mordprojekte in einen realen Genozid im Jahre 1941 anbelangt: der Zeitfaktor in der psychologischen Radikalisierung der NS-Führung ab dem Spätsommer 1941 und dessen Einfluss auf die im engsten Machtkreis um Adolf Hitler getroffenen Entscheidungen. Der Diktator teilte mit seiner nächsten Umgebung die Überzeugung, dass die Zeit gegen Deutschland spielen würde. Diese Grundüberzeugung wurde zum Verhängnis des Reiches, als Hitler sich dafür entschied, die UdSSR anzugreifen, bevor Deutschland mindestens zu einem Waffenstillstand mit Großbritannien gekommen war. Hitler war der Überzeugung, dass er durch einen Vernichtungskrieg die Sowjetunion innerhalb von wenigen Monaten besiegen könne und die militärische Führung schloss sich zum großen Teil dieser Ansicht an oder ließ sich mindestens von dem unerwarteten schnellen Sieg über Frankreich blenden. Noch wichtiger für unsere Analyse ist aber, dass Hitler, Göring, Himmler und Heydrich ein und denselben Terminplan im Kopf hatten: Das Jahr 1941 würde die entscheidende Wende im Krieg bringen und die »Endlösung der Judenfrage in Europa« würde kurz nach dem Sieg auf dem europäischen Kontinent beginnen. Die Wende kam aber nicht wie erwartet. Die geostrategische Lage verschlechterte sich für Deutschland, anstatt sich zu verbessern. Und aus der »Endlösung der Judenfrage in Europa« wurde der Holocaust, wie wir ihn kennen. Die Beschleunigung der Judenvernichtung im Herbst 1941 ist meines Erachtens durch zwei Faktoren zu erklären: erstens, was die Intensivierung des Mordes an den sowjetischen Juden angeht, ging es um eine Radikalisierung des »rassenideologischen Vernichtungskrieges«, zweitens, hinsichtlich der im Herbst getroffenen Entscheidung zum Beginn der »Endlösung der Judenfrage in Europa« bereits vor dem Ende des Krieges anzufangen, wollte Hitler ganz klar Meister der Zeit bleiben. Schon am 30. Januar 1941 hatte er mit der Wiederholung und Präzisierung seiner »Prophezeiung« vom 30. Januar 1939 angekündigt, dass dieses Jahr eine vollständige Umgestaltung der Verhältnisse in Europa mit sich bringen werde. Das schloss eine Radikalisierung der Judenverfolgung ein.7 Es war 6 So meine These in: Edouard Husson, »Nous pouvons vivre sans les Juifs«. Novembre 1941. 7 Philipp Bouhler (Hg.), Reden des Führers. Der großdeutsche Freiheitskampf, München 1942, S. 406.
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entscheidend für die praktische Verwirklichung dieser Radikalisierung, dass Heydrich bei dem Terminplan blieb, den Göring, Himmler und er sich in den Monaten der Vorbereitungen des Vernichtungskrieges vorgestellt hatten. Der Diktator und seine nächsten Mitarbeiter wollten nicht nur aus persönlichem Hass oder Rachegefühl und nicht nur aus ideologischer Überzeugung alle europäischen Juden ab dem späten Herbst 1941 vernichten lassen, sondern sie waren der festen Überzeugung, dass der Übergang zur unmittelbaren Ermordung der »Drahtzieher der Weltgeschichte« Deutschland zum endgültigen und schnellem Sieg führen würde. Als der Krieg anders als geplant verlief, schien plötzlich der Judenmord umso notwendiger und dies bei strikter Einhaltung des vor dem 22. Juni 1941 festgesetzten Zeitplans. Hitler hatte sich schon Anfang 1939 vorstellen können, dass die Vereinigten Staaten und Großbritannien ihn daran hindern könnten, seine Herrschaft über (Ost)-Europa zu etablieren. Das zeigt seine sogenannte Prophezeiung am 30. Januar 1939 über die Folgen eines neuen Weltkrieges für die europäischen Juden. Schon in Mein Kampf können wir lesen, dass Großbritannien, wenn es seinen Interessen folgen würde, sich mit Deutschland verbünden sollte. Daher hatte Hitler eine Teilung der Herrschaftsgebiete vorgeschlagen: Kontinentaleuropa sollte an Deutschland fallen, Großbritannien als Kolonialreich erhalten bleiben. London sollte sich aber dessen bewusst werden, schrieb Hitler, dass die Vereinigten Staaten die größte Gefahr für die Erhaltung der britischen Seeherrschaft bedeuteten. Daraus leitete er die Notwendigkeit für Großbritannien ab, ein Bündnis mit Berlin anzustreben. Als er an die Macht gekommen war, musste Hitler trotz seiner spektakulären diplomatischen Erfolge konstatieren, dass London sich zu keinem Bündnis verpflichten wollte und vor allem die militärische Expansion des nationalsozialistischen Reiches mit immer größerer Sorge betrachtete. Spätestens ab 1938 musste er wahrnehmen, dass USPräsident Franklin D. Roosevelt ihm nicht besonders freundlich gesonnen war. Dafür hatte er aber eine Erklärung parat. London wie Washington seien zum Teil von Juden beeinflusst. Es sei der jüdische Einfluss, der London von einem selbstverständlichen Bündnis abhalte und Washington dazu bringen könnte, eine vorzeitige Kraftprobe zu suchen.8 Sollte Deutschland sein europäisches Schicksal nicht verwirklichen können, würden die europäischen Juden das erste Ziel der nationalsozialistischen Gewalt sein. Die europäischen Juden wurden von Hitler und der NS-Führung als Agenten des »Weltjudentums« betrachtet und sollten im Fall eines Konfliktes deshalb beseitigt werden: nicht nur die sowjetischen Juden als Träger des »jüdischen Bolschewismus«, sondern alle europäischen Juden als Träger aller gegen die »Volksgemeinschaft« gerichteten Ideologien – vom Liberalismus bis zum Marxismus über den Internationalismus, den Pazifismus und den Sozialismus.
8 Edouard Husson, »Hitler et la Grande-Bretagne (1933–1939): comment l’idéologie nationalsocialiste a rendu impossible un ›compromis révisioniste‹«, in: Revue d’Allemagne, 38/2, avril–juin 2006, S. 247–261.
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Heydrichs zunehmende Fähigkeit zur Beeinflussung der »Judenpolitik« Die ideologische Überzeugung, man habe es mit einer internationalen Verschwörung zu tun, besaß ein strukturelles Pendant im Machtapparat. Hitler spielte in seiner Rede am 30. Januar 1939 auf die Entwicklung einer geheimdienstlichen, antijüdischen Kampfmaschine innerhalb der SS unter der Führung von Reinhard Heydrich an. Schon ab 1935 hatte sich Heydrich bemüht, und dann immer zielstrebiger seit 1938, aus dem SD und der Gestapo die unersetzlichen Instrumente der antijüdischen Politik zu machen9. Genau wie Hitler und Himmler war Heydrich von Verschwörungstheorien besessen10, und wie bei seinen beiden Vorgesetzten implizierte die ab 1935 zentrale Rolle der Juden bei der Definition des Feindbildes eine ständige Radikalisierung der Verfolgung im Lauf von Expansion und Krieg. Man muss sogar feststellen, dass Hitler und die NS-Führung den Zeitpunkt der totalen Mobilisierung der deutschen Gesellschaft bis 1943 verschoben, weil sie noch 1941/42 glaubten, die totale Bekämpfung der Juden sei der schnellere Weg zum Sieg. Heydrich besaß die Fähigkeit, Gesamtkonzepte für die antijüdische Politik auszuarbeiten. Nach der »Reichskristallnacht« wurde die in Österreich erprobte Erfahrung der Zwangsauswanderung auf das gesamte vom Reich beherrschte Staatsgebiet ausgedehnt. Die Vergrößerung der Anzahl der unter deutscher Herrschaft lebenden Juden nach der Eroberung Polens brachte aber Himmler und Heydrich im Machtapparat Schwierigkeiten, weil sie nicht sofort in der Lage waren, ihre antijüdischen Pläne zu verwirklichen. Trotzdem verzichtete Heydrich nie auf die Vorstellung, dass es langfristig möglich sei, eine »Gesamtlösung der Judenfrage« in Polen und in Europa in Kraft zu setzen. Er schaffte es, das Reichssicherheitshauptamt als die treibende Kraft hinter dem Madagaskar-Plan, der eigentlich zuerst im Auswärtigen Amt ausgearbeitet worden war, zu installieren. Vor allem nutzte er wie kein anderer in der NS-Führung die Perspektive, die die Planung des Überfalls auf die Sowjetunion anbot. Den Aufstieg von Heydrichs Einfluss im Entscheidungsprozess über die »Entfernung« der Juden aus dem »Großdeutschen Reich« beobachtet man in der Reihenfolge der Treffen, die mit der Judenfrage zu tun hatten und die die lange Vorgeschichte der Wannsee-Konferenz zu rekonstruieren helfen. Am 20. August 1935 war Heydrich noch ein bescheidener Teilnehmer in einem von Hjalmar Schacht organisierten Treffen; am 12. November 1938 meldete er sich während der von Göring geleiteten und auf die »Reichskristallnacht« folgende Diskussion; am 11. Februar 1939, am 8. Januar 1941 und schließlich am 20. Januar 1942 war er im Auftrag von Göring der Diskussionsleiter.11
9 Michael Wildt, Die Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002. 10 Reinhard Heydrich, Wandlungen unseres Kampfes, München 1935. 11 Michael Wildt, Die Judenpolitik des SD 1935–1938, München 1998; Götz Aly, »Endlösung«. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt am Main 1995.
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Erst der Krieg gegen die Sowjetunion gab der NS-Führung die Möglichkeit, mit einer Planung der »Endlösung der Judenfrage in Europa« zu beginnen, die nach den eigenen Vorstellungen verwirklicht werden sollte. Oder präziser gesagt: Die Perspektive der Eroberung der Sowjetunion eröffnete die Möglichkeit einer »territorialen Lösung«, die sich ohne Druck der internationalen Öffentlichkeit verwirklichen lassen würde. In Polen hatte das Projekt eines »Reservats Lublin« keine Chance gehabt, nicht nur wegen der Opposition des Generalgouverneurs Hans Frank innerhalb des NS-Führungskreises, sondern auch wegen des kritischen Blickes von außen – Hitler hatte sich in die Kraftproben zwischen den NS-Besatzungsbehörden in Polen nicht eingemischt.12 Was den »Madagaskar-Plan« anbelangte, hatten Himmler und Heydrich mit der Einmischung des Auswärtigen Amtes rechnen müssen; aber vor allem der Krieg mit Großbritannien machte den Plan unausführbar. Und im Januar 1941 war Heydrich in der Lage, Hitler, Himmler und Göring einen Plan für die »Endlösung der Judenfrage in Europa« vorzuschlagen, der in der alleinigen Verantwortung von SS und Polizei liegen würde und nach der Eroberung des »Lebensraumes im Osten« ohne Hindernisse von außen realisierbar sein würde.
Das Protokoll der Wannsee-Konferenz und der Heydrich-Plan vom Januar 1941 In der wissenschaftlichen Literatur wird gemeinhin behauptet, der von Heydrich im Januar 1941 vorgestellte Plan sei verloren gegangen. Meine Auseinandersetzung mit der politischen Biographie von Heydrich hat mich zu einer anderen Hypothese geführt. Ich vertrete die Ansicht, dass dieser Plan überliefert ist – wenn nicht in der Originalfassung, so doch mindestens in überarbeiteter Fassung. Wenn man nämlich das Protokoll der Wannsee-Konferenz analysiert, enthält der Text zwei verschiedene Ebenen. Einerseits eine längere Debatte über die Einbeziehung der Mischlinge in den globalen Plan. Andererseits einen Plan, der den Kern des Textes bildet und die Skizze der künftigen »Endlösung der Judenfrage in Europa« bedeutet. Ich vertrete die Meinung, die Darstellung der »Endlösung«, wie sie der Text beinhaltet, ist eine Wiederverwendung des ein Jahr vorher formulierten Heydrich-Plans. Die angekündigte Deportation und »Vernichtung durch Arbeit« sind von der Realität des Genozids am Anfang des Jahres 1942 weit entfernt. Die ersten sechs Monate des Krieges gegen die Sowjetunion hatten schon zur Erschießung aller jüdischen Einwohner ganzer Ortschaften geführt; und die ständige Verschlechterung der Lebensverhältnisse in den Ghettos in Polen bedeutete, dass ein Massensterben der Juden außerhalb der Sowjetunion schon Realität war. Solche Tatsachen werden im Protokoll gar nicht erwähnt, während auf die ersten Experimente von Tötung durch Gas nur eine Anspielung gemacht wird. Denken wir auch an ein anderes Treffen von Staatssekretären, am 2. Mai 1941, unter die 12 Götz Aly, »Endlösung«.
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Führung von Göring, in welchem das Verhungernlassen von Millionen von sowjetischen Staatsbürgern kaltblütig besprochen wurde.13 Würde man also das Datum der im Kern des Protokolls besprochenen Planung nicht kennen, würde man ohne Zweifel an den Stand der Judenverfolgung vor dem Überfall am 22. Juni 1941 denken. Es ließe sich sogar präzisieren: Der Inhalt des Protokolltextes enthält einen Stand der Überlegungen innerhalb der NS-Führung, der genau in die Monate nach der Aufgabe des Madagaskar-Plans, das heißt ab November oder Dezember 1940, passt. Er stützt sich offensichtlich auf eine Notiz Adolf Eichmanns vom Dezember 1940, geht aber viel weiter, vor allem in der Absicht, elf Millionen Juden zu deportieren.14 Darüber hinaus: Der gut informierte Theodor Dannecker formulierte einen Bericht vom 21. Januar 1941 in einer solchen Art und Weise, dass man den Eindruck bekommt, es mit einer Zusammenfassung des Kernplans des Wannsee-Protokolls zu tun zu haben.15 Wir wissen weiterhin, dass Hitler im März 1941 dem Generalgouverneur Hans Frank versprochen hatte, dass die Juden aus seinem Gebiet bald »nach Osten« deportiert werden würden. Die entwickelte Perspektive einer allgemeinen Deportation nach dem Sieg über die Sowjetunion, einer Zwangsarbeit der Deportierten im Dienst der »Kolonisierung des Lebensraumes« und eine Erschießung der überlebenden Zwangsarbeiter ist also eine sehr plausible Planung für den Januar 1941 unter der Federführung von Heydrich. Vor allem enthält der Kern des Wannsee-Protokolls eine Abfolge von drei Stufen, die nur aus der Perspektive der Planung des Krieges gegen die Sowjetunion und der Überlegungen über die künftige »Endlösung« sinnvoll ist: Zuerst die Deportation der sowjetischen Juden nach Osten, dann der im erweiterten Reichsgebiet lebenden Juden und anschließend der Juden aus anderen europäischen Ländern. In der Euphorie der Planung des Vernichtungskriegs machte sich Heydrich weiter an die Arbeit. Er begann mit der Planung der ersten Etappe der »Vorbereitungen« zur »Endlösung«, nämlich der Identifizierung, Markierung und Ghettoisierung der sowjetischen Juden. Diese Elemente enthielten auch bereits die Perspektiven von Zwangsarbeit, Trennung der Geschlechter, Vernichtung durch Arbeit und Erschießung der »gefährlichsten Elemente«. Sie finden sich in den »Richtlinien für die Behandlung der Judenfrage«,16 13 Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941–1944, Hamburg 1999. 14 »Materialien zu Himmlers Vortrag über ›Siedlung‹ am 10.12.1940«, in: Bevölkerungsstruktur und Massenmord. Neue Dokumente zur deutschen Politik der Jahre 1938–1945, zusammengestellt und kommentiert von Susanne Heim und Götz Aly (= Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheitsund Sozialpolitik, Bd. 9), Berlin 1991, S. 26–27. 15 »Zentrales Judenamt« in Paris, 21.1.1941, gez. Dannecker, gedruckt in: Serge Klarsfeld, Vichy – Auschwitz. Die Zusammenarbeit der deutschen und französischen Behörden bei der »Endlösung der Judenfrage« in Frankreich, Nördlingen 1989, S. 361–363. 16 Nürnberger Dokument PS–212, gedruckt in: Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg (IMT), Bd. 25, S. 302–306. Die Historiker sind lange der Datierung von Uwe Dietrich Adam, Judenpolitik
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deren Neudatierung auf März 1941 ich in meiner Arbeit vorgeschlagen habe. Es handelt sich auch hierbei um eine einfache Hypothese. Aber der Inhalt des Dokuments entspricht meines Erachtens der knappen Beschreibung Heydrichs in einem Bericht an Himmler von seinem Treffen mit Göring am 26. März 1941, in welchem er dem Reichsmarschall ein neues Dokument vorstellte17; und er passt in die zielstrebige, stetige Radikalisierung der Planung der »Endlösung«, wie sie von Hitler suggeriert und von Heydrich in Gesamtskizzen aufgezeichnet wurde.
Es gab vor Juni 1941 keinen Befehl zur sofortigen Ermordung aller sowjetischen Juden Wenn man meine Datierung der »Richtlinien für die Behandlung der Judenfrage« auf März 1941 und das Wannsee-Protokoll als schriftliches Echo des Heydrich-Plans vom Januar 1941 als Arbeitshypothese anerkennt, dann wird viel klarer, was von den Einsatzgruppen vor dem Beginn der Russland-Offensive erwartet wurde. Zunächst einmal, wie schon in Polen, die Ermordung der Eliten des Landes, und da die Sowjetunion als »jüdisch-bolschewistisches System« gebrandmarkt war, betraf dies jüdische Männer noch mehr als Kommunisten. Zweitens die Vorbereitung der »Endlösung« – also Identifizierung, Markierung und Ghettoisierung, was oft in der Beschreibung der Tätigkeit der Einsatzgruppen im Jahre 1941 vergessen wird. Es gab vor dem 22. Juni 1941 keinen Befehl zur Ermordung aller sowjetischen Juden – noch weniger einen Befehl zur Vernichtung aller europäischen Juden in der Form des späteren Holocausts. Es gab aber die Planung einer »Endlösung der Judenfrage in Europa«, die nach dem Sieg über die Sowjetunion stattfinden würde, und es gab die feste Absicht, mit den »Vorbereitungen« schon während der militärischen Auseinandersetzung anzufangen. Wichtig ist hier die deutsche Perspektive, dass diese Planung auf der Überzeugung eines noch im Jahre 1941 besiegten sowjetischen Feindes beruhte. Das hieß, dass die sogenannte Endlösung der Judenfrage in Europa spätestens Anfang 1942 beginnen würde. Die Vorstellung, dass im Fall eines militärischen im Dritten Reich, Düsseldorf 1972, S. 306–307, gefolgt, der das Datum Juli 1941 vorschlug. Cornelia Essner schlägt in ihrer hervorragenden Studie zu den Nürnberger Gesetzen (Die »Nürnberger Gesetze« oder die Verwaltung des Rassenwahns 1933–1945, Paderborn u.a. 2002, S. 372.) und deren Folgen ein viel späteres Datum (Frühling 1942) im Rahmen der Bearbeitung des Generalplans Ost vor. Essners Analyse kann ich in diesem Fall nicht teilen, weil sie davon ausgeht, dass im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) ständig sich auf Konzepte und Gutachten des Auswärtigen Amtes und des Rosenberg Ministeriums stützend gearbeitet wurde. Ich vertrete im Gegenteil die Meinung, dass ab dem Spätsommer 1940 unter dem Impuls von Heydrich das RSHA in der Planung der Deportationspolitik federführend wurde. 17 Der Chef der Sicherheitspolitzei und des SD an den Reichsführer SS – Aktenvermerk des 26.3.1941, abgedruckt in: Peter Klein (Hg.), Die Tätigkeits- und Lageberichte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, Berlin 1997, S.368.
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Sieges über die Sowjetunion im Herbst eine geheime, von Heydrich geleitete Konferenz über den Anfang der »Endlösung« Ende 1941 oder Anfang 1942 stattgefunden hätte, ist keine Erfindung der »virtual history«: Die Geschichte des zweiten Halbjahrs 1941 ist die Geschichte einer Anpassung der Planung auf die veränderte geopolitische Lage. Und charakteristisch für den Nationalsozialismus ist die Tatsache, dass die Verwirklichung der Judenvernichtung umso mehr voran schritt, als die militärische Lage sich anders als erwartet entwickelte. Die Eroberung des Lebensraumes sollte über die Zerstörung des »jüdischen Regimes« in Moskau führen. Dass die sowjetischen Juden im Fall eines Krieges des nationalsozialistischen Deutschlands gegen die UdSSR furchtbar leiden würden, musste allen, die die NS-Ideologie ernst nahmen, klar gewesen sein. Die Planung für die Tätigkeit der Einsatzgruppen zusammen mit der des Feldzuges im Frühling 1941 ist in dieser Perspektive nicht besonders schwer zu verstehen, solange man nicht zu dem voreiligen Schluss kommt, der Befehl habe darin bestanden, alle sowjetischen Juden von vornherein zu vernichten. Es ging eher darum, die »Endlösung der Judenfrage«, die nach dem schnell erlangten Sieg stattfinden würde, vorzubereiten. Zwar mussten die Kader der kommunistischen Partei und die kämpfenden jüdischen Männer sofort beseitigt werden, in der Hauptsache ging es aber darum die Juden zu identifizieren, sie zu kennzeichnen und in Ghettos zu konzentrieren. Von dort aus würde eine spätere Deportation in Arbeitslager stattfinden. Das war die »Endlösung«, wie sie am Vorabend des Überfalls eigentlich geplant war. Dass die Einsatzgruppen bald mehr Menschen, jüdische Männer, Frauen und Kinder, sofort ermordeten, hatte mit drei eng verflochtenen Faktoren zu tun. Wider Erwarten brachen die sowjetischen Institutionen ungeachtet der Heftigkeit des deutschen Angriffs nicht zusammen, ganz im Gegenteil: Trotz immenser Verluste durch Tod und Gefangenschaft leistete die Rote Armee hinhaltenden Widerstand. Hinzu kam bald ein Partisanenkrieg, der es nicht nur der Wehrmacht schwer machte, sondern auch zu den Zwangsvorstellungen des deutschen Militärs seit dem preußisch-französischen Krieg gehörte, und der leicht mit der ideologischen Suche nach Volksfeinden des Nationalsozialismus zu verbinden war. So kann man erklären, dass schon in der zweiten Julihälfte eine Radikalisierung des Judenmordes stattfand: die erste Etappe einer Verwandlung der »Endlösung« in den Holocaust. Die Intensivierung der Judenmorde wurde von Hitler spätestens Mitte Juli angeregt. Und sie wurde von Himmler eher als von Heydrich direkt befohlen.18 Selbstverständlich durften sich »Heydrichs Männer« während der Phase der »kumulativen Radikalisierung der Gewalt« (Hans Mommsen) nicht übertreffen lassen und sie nahmen bald alle an dieser Radikalisierung teil. Noch wichtiger aus unserer Perspektive der Einordnung der Wannsee-Konferenz in die Entwicklung der Planung des Genozids ist es aber, dass parallel zu der Intensivierung der Morde durch die Einsatzgruppen Heydrich mit den »Vorbereitungen« der zweiten Etappe seines Planes anfing. Als die »Endlösung« in der Sowjetunion in der 18 Martin Cüppers, Wegbereiter der Shoah. Die Waffen-SS, der Kommandostab Reichsführer SS und die Judenvernichtung 1939–1945, Darmstadt 2005.
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Form der Erschießung der Bewohner ganzer Ghettos stattfand, gehörte es zu der Dynamik des totalitären Rassenkrieges, dass die folgenden Etappen der Endlösung bald einsetzten. Aus dieser Perspektive arbeitete Heydrich »dem Willen des Führers entgegen«, als er im August 1941 Druck ausübte, um die Genehmigung für die Deportation der Juden aus dem Reich zu bekommen.
Die Ursprünge des Holocausts: Den Zeitplan der »Endlösung der Judenfrage« einhalten, obwohl der Krieg im Jahre 1941 nicht beendet werden kann Die NS-Führung hatte sich selbst im ersten Halbjahr 1941 in die Überzeugung hinein gesteigert, dass der Sieg über die Sowjetunion innerhalb von etwa sechs bis acht Wochen erreicht werden könne. Nach dem Sieg würde die Deportation anfangen können, zuerst die Deportation aus dem Reich und dann aus ganz Europa von Westen nach Osten. Nach ungefähr drei Wochen wurden zwar erhebliche Erfolge erzielt; doch erschien die Widerstandsfähigkeit des sowjetischen Regimes viel stärker als erwartet. Hitler forcierte daraufhin seine Erwartungen hinsichtlich einer Erweiterung des Judenmordes und Himmler sah sich als der Beauftragte zur Umsetzung von Hitlers Wünschen. Die Intensivierung des Mordes sollte dem Einhalten des Zeitplanes dienen und es gab keinen Grund die Vorbereitungen der »Endlösung« zu verschieben. Nach circa sechs Wochen Russlandfeldzug ließ sich Heydrich am 31. Juli 1941 von Göring bestätigen, dass er die Oberhand über die »Endlösung der Judenfrage in Europa« habe. Ich habe in meiner Heydrich-Studie versucht, die Entstehungsgeschichte dieses oft erwähnten Dokumentes zu datieren, und bin der Meinung, dass der Text mehrere Monate früher verfasst wurde – wenn nicht sogar schon zur Zeit des Madagaskar-Plans.19 Als Heydrich die Bestätigung seiner Rolle als Beauftragter von Göring bei der Planung der »Endlösung« bekam, war die erste Phase des Holocaust schon im Gang: in der Sowjetunion. Sie bedeutete sogar in denselben Tagen eine Erweiterung der Zahl der Opfer – verglichen mit den für die Einsatzgruppen verfassten Richtlinien. Heydrich, der sich als der eifrigste Diener seines Herrn im Bereich der »Entfernung der Juden« profilieren wollte, musste also an den Übergang in die zweite Phase (die Deportation der Juden aus dem Reich) und die dritte (Deportation aus allen anderen europäischen Ländern) Etappe seines Januar-Plans herangehen. Schon Mitte August, circa zwei Monate nach dem Angriff auf die Sowjetunion, wollte Heydrich mit den Deportationen aus dem Reich anfangen. Er folgte derselben Neigung wie Hitler oder Himmler: Wenn die Sowjetunion noch nicht zusammengebrochen war, dann sollte man umso mehr die Verfolgung der Juden verstärken. Die Intensivierung der Erschießungen und die Entwicklung eines Genozides an den sowjetischen Juden lief par19 Edouard Husson, Heydrich et la solution finale, S.196–198.
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allel zur grundsätzlichen Entscheidung innerhalb der NS-Führung, die folgenden Etappen des Heydrich-Plans vom Januar 1941 in Kraft zu setzen, ohne auf den Zusammenbruch des Stalin-Regimes zu warten. In der zweiten September-Hälfte einigten sich Hitler, Himmler und Heydrich auf den Beginn der Deportationen. Die Treffen zwischen den drei Männern in der vorletzten September-Woche brachten die definitive Beantwortung der Frage nach der Verwirklichung des Heydrich-Plans trotz des unbeendeten Krieges. Heydrichs Ernennung zum faktischen Reichsprotektor in Prag war Teil der Verwirklichung der »Endlösung« – auch wenn sie noch andere Gründe hatte. Ab dem Spätsommer 1941 wurde immer offensichtlicher, dass der Raum zur Deportation und Zwangsarbeit der sowjetischen und europäischen Juden nicht sofort zur Verfügung stehen würde. Es wurde die Vorstellung einer vorläufigen Unterbringung der Deportierten im Generalgouvernement bzw. in den schon »judenreinen« baltischen Ländern bis zur zweiten Deportationsphase entwickelt. Um über provisorische »Aufnahmeräume« zu verfügen, mussten die dort lebenden Juden schon ermordet sein. Die Intensivierung der Morde in der Sowjetunion einerseits, die zur Verfügung stehenden Instrumente der unterbrochenen Aktion T4 andererseits, führten dazu, dass man auch in Polen von einem allmählichen zu einem unmittelbaren Genozid überging. Die Erschießungen nahmen in Ostgalizien zu. Parallel dazu wurden in den Orten Chełmno und Bełżec Vernichtungslager aufgebaut. In meiner Heydrich-Studie habe ich selbstverständlich insistiert, wie wichtig die »Initiativen von unten« waren, um diese Radikalisierung der Judenvernichtung in Gang zu setzen. Die Eroberung von Kiew Mitte September hatte eine letzte Euphoriewelle bei Hitler ausgelöst. Ab Mitte Oktober wurde aber klar, dass die Sowjetunion nicht im Jahr 1941 zusammenbrechen würde, wie man es erwartet hatte. Die zunehmende Wut, von der Hitler besessen war, wird in vielen Aufzeichnungen belegt. Zwischen Ende Oktober und Mitte November 1941 ist eine dritte grundsätzliche Entscheidung getroffen worden. Dabei wurde wie immer bei Hitler, wenn der Judenmord angesprochen wurde, nichts direkt ausgedrückt. Ich gehe aber davon aus, dass der 9. November der entscheidende, weil existenzielle Termin bei Hitler gewesen ist, und diese Arbeitshypothese passt nach meiner Einschätzung gut zu den Zitaten und Äußerungen, die uns überliefert sind.20 Anfang November 1941 wurde von Hitler gewünscht, ohne Verzögerung mit der dritten Etappe des Heydrich-Plans zu beginnen. Dieser plante sofort für den 9. Dezember eine Konferenz, in welcher die Vertreter des Staatsapparates, deren Hilfe gebraucht wurde, über die Gesamtorganisation der »Endlösung der Judenfrage in Europa« informiert werden sollten. Dass diese Konferenz erst am 20. Januar stattfand, hat mit den Folgen von Pearl Harbour zu tun. Wichtig ist aber meiner Meinung nach zu sehen, dass alles vor der Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten entschieden wurde. Christian Gerlach hat die These vertreten, der Kriegseintritt der USA habe die Verwirklichung der »Prophezeiung« Hitlers vom 30. Januar 1939 bedeutet. Gerlach legt des20 Ian Kershaw, Hitler’s Prophecy and the Final Solution. The Center for Holocaust Studies at the University of Vermont, Vermont 2002.
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halb die letzte Entscheidung, die zum Genozid geführt habe, in die erste Dezemberhälfte, also nach der Kriegserklärung an die USA.21 Diese entsprach aber keiner geopolitischen Notwendigkeit. Sehr auffallend ist, dass Hitler den Vereinigten Staaten den Krieg erklärte, und nicht umgekehrt. Aus seiner Perspektive war aber das Reich schon seit September im impliziten Kriegszustand mit Washington. Hitler scheint die Entscheidung zur sofortigen Ausweitung des Genozids deshalb im November getroffen zu haben, weil er davon überzeugt war, dass der sowjetische Widerstand nur durch das Handeln einer Weltverschwörung ermöglicht worden war. Die Kriegserklärung an die USA ist eine Legitimierung der einen Monat vorher getroffenen Entscheidung, alle europäischen Juden noch vor dem Ende des Krieges zu deportieren oder zu töten. Das zeugt von der Tatsache, dass die NS-Führung allmählich entschieden hatte, dem Zeitplan zu folgen, der vor dem Krieg gegen die Sowjetunion verabredet worden war. In der totalitären Weltanschauung der Nazis machten die militärischen Schwierigkeiten den Anfang der »Endlösung« umso dringender. Die Wannsee-Konferenz war eigentlich diejenige Konferenz, die nach dem Sieg über die SU stattfinden sollte, aber in einer veränderten Form.
Die Bedeutung der Wannsee-Konferenz Am 20. Januar 1942 bekamen die Teilnehmer der Diskussion in Berlin-Wannsee ein Gesamtkonzept zur Kenntnis, das dem Stand der Planung vor Beginn des »Unternehmens Barbarossa« entsprach. Heydrich berichtete in der Wannsee-Konferenz von seinen Planungen zur »Endlösung der Judenfrage in Europa«, wie er sie aus der Perspektive eines schnellen Sieges formuliert hatte. Der Inhalt des Protokolls der Wannsee-Konferenz fällt weit hinter die Realität des schon im Sommer 1941 in der Sowjetunion durch die Einsatzgruppen in Gang gesetzten und seit dem Herbst in Polen weitergehenden Genozids zurück. Das vorliegende Konzept hatte erstens den Vorteil, genozidale Züge zu beinhalten, ohne die anwesenden Staatssekretäre unnötig zu erschrecken. Hinzu kommt, dass die eingeladenen Vertreter eigentlich nur mit der Frage der Deportation zu tun haben sollten. Was mit den Juden »im Osten« vorgesehen war, betraf sie nicht – mit der Ausnahme der »Mischlinge« unter den deutschen Juden, über welche lange debattiert wurde. Man muss sich daran erinnern, dass die Mitglieder der NS-Führung vom kommenden »Endsieg« im Januar 1942 nach wie vor fest überzeugt waren – da sie die »absolute Waffe« besaßen, nämlich den Mord an den europäischen Juden. Aus der Perspek21 Christian Gerlach, »Die Wannsee-Konferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers politische Grundsatzentscheidung, alle Juden Europas zu ermorden«, in: ders., Krieg, Ernährung, Völkermord. Forschungen zur deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1998, S. 85–165.
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tive Himmlers und Heydrichs war es nicht unrealistisch, mit der Gesamtdeportation der europäischen Juden in die Sowjetunion ab Ende 1942 oder Anfang 1943 zu rechnen. Die im Herbst 1941 getroffene Entscheidung betraf die Ingangsetzung der »Endlösung« vor dem Ende des Krieges und nicht nach dem Krieg, wie ursprünglich gedacht. Auch wenn man feststellen muss, dass Hitler pessimistischer war als seine direkten Untergebenen und wahrscheinlich früher als andere mit einem langen Krieg rechnete, bedeutete die von Alfred Rosenberg am 18. November 1941 in einer geheimen Pressekonferenz verkündete Absicht, die »Endlösung« noch vor dem Ende des Krieges zu verwirklichen, dass man zwei Optionen in Sicht behielt: Solange der Krieg nicht beendet war, ging es um die unmittelbare Erschießung oder Vergasung von den Juden, die sich »im Osten« befanden oder dorthin deportiert wurden. Ab dem Ende des Krieges würde man zu dem älteren Plan einer Deportation der europäischen Juden in »Kolonisierungsgebiete« oder in Arbeitslager der ehemaligen Sowjetunion zurückkehren. Wie der Text des Protokolls zeigt, waren diese zwei Aspekte vorhanden. Es wurde ganz am Ende über »die verschiedenen Arten der Lösungsmöglichkeiten« gesprochen, aber Heydrich bekam auch Unterstützung für die Organisation und Inkraftsetzung des bereits Anfang 1941 geplanten Deportations-Gesamtprozesses der europäischen Juden nach Nord- oder Ost-Russland. Denn die Nationalsozialisten gingen weiterhin von einem schnellen Sieg aus, trotz des Widerstandes der Sowjetunion. Das typisch Nationalsozialistische besteht also darin, dass das Projekt des allmählichen Genozides von der Kriegsentwicklung überhaupt nicht in Frage gestellt, sondern sogar beschleunigt wurde. Der Massenmord wurde schon deshalb fortgesetzt, weil die »Bekämpfung der Juden« ein wesentlicher Teil der hitlerschen Strategie war. Das Verhalten von Heydrich entsprach völlig den Ansichten Hitlers. Je länger sich der Krieg mit seinen militärischen Schwierigkeiten hinzog, desto umfassender organisierte man den Judenmord, um genau diesen Krieg schneller siegreich zu beenden. Man kann die These vertreten, die Bedeutung der Wannsee-Konferenz sei lange überschätzt worden. Diese Konferenz wäre dann entscheidend gewesen, wenn das Dritte Reich die Sowjetunion im Herbst 1941 besiegt hätte. Für diesen Fall hatte die NS-Führung beabsichtigt, alle europäischen Juden ins eroberte Gebiet zu deportieren und dort einem mittel- oder langfristigen genozidalen Prozess auszusetzen. Da aber die militärischen Erwartungen Hitlers nicht erfüllt wurden, mussten die europäischen Juden noch schneller als geplant ermordet werden. Die erste Etappe der Radikalisierung war der von Himmler eingeführte Beginn des Genozids im Sinne einer systematischen Tötung nicht nur der Männer, sondern auch der Frauen und Kinder, in der Sowjetunion ab Ende Juli 1941. Die zweite Etappe begann mit der Entscheidung, nicht auf das Ende des Krieges zu warten, um mit der Stufe zwei des Heydrich-Planes – der Deportation der Juden aus dem Reich – anzufangen. Dies bedeutete aber, dass je schwieriger der Krieg gegen die Sowjetunion werden würde, desto mehr würde die Perspektive einer »Vernichtung durch Arbeit« zweitrangig werden. Das hatte zur Folge, dass so viele Juden wie möglich auch in Polen ermordet wurden. Schon vor der Wannsee-Konferenz ist an der Errichtung von Vernichtungslagern
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in Polen gearbeitet worden. In diesem Kontext bedeutete der von Hitler gegebene Impuls zur Ingangsetzung der »Endlösung« für ganz Europa die dritte Etappe der Radikalisierung. Nun konnte der unmittelbare Massenmord alle europäischen Juden treffen. Doch dazu brauchte das Regime keine solche Konferenz. Trotzdem kann umgekehrt die Bedeutung des Protokolls der Wannsee-Konferenz nicht überschätzt werden, wenn man versucht den Entscheidungsprozess zu rekonstruieren. Dank dieses Textes kennen wir ungefähr den Inhalt des Heydrich-Plans von 1941, der im Frühling und im Sommer von Göring und Heydrich immer weiter entwickelt wurde. Davon zeugen die »Richtlinien zur Behandlung der Judenfrage«, die für mich identisch sind mit dem zwischen Heydrich und Göring besprochenen Dokument am 26. März 1941. Aus dieser Perspektive ist es wichtig, weitere Entwicklungsetappen der Mordmaschinerie nach der Wannsee-Konferenz hervorzuheben, wie zum Beispiel die Beschleunigung des Mordrhythmus nach dem Attentat auf Heydrich Ende Mai 1942. Der Tod Heydrichs bestätigte für die Führung des Regimes die hohe Gefahr des »jüdischen Feindes«. Daher erging die Anregung Himmlers am 9. Juni 1942, den Judenmord noch mehr zu beschleunigen, und in diesem Zusammenhang ist auch sein Besuch in Auschwitz Mitte Juli 1942 zu sehen. Wir haben es aber hier weniger mit einer grundsätzlichen Entscheidung zu tun, als mit der Bestätigung der schon sieben Monate vorher getroffenen Entscheidung, mit der europäischen Endlösung voranzukommen, auch wenn der Krieg noch nicht vorbei war. Himmler bestätigte die Handlung Heydrichs – der noch Anfang Mai 1942 in Paris war, um die Deportation der französischen Juden zu beschleunigen – es ging um die Verwirklichung der dritten Etappe seines Planes.22 Himmler sprach am 9. Juni 1942 von der notwendigen »Völkerwanderung« der Juden innerhalb eines Jahres.23 Er meinte auch damit, dass innerhalb dieser Zeit der Krieg erfolgreich beendet werden sollte – dank der Judenvernichtung.
22 Serge Klarsfeld, Vichy-Auschwitz, S.54–56, sammelt alle Informationen zu diesem Aufenthalt Heydrichs in Paris. 23 Heinrich Himmler, Geheimreden 1933–1945 und andere Ansprachen. Herausgegeben von Bradley F. Smith und Agnes F. Peterson, Frankfurt am Main u.a. 1974, S. 146–161, hier S. 159.
Jan Erik Schulte
Die Wannsee-Konferenz und Auschwitz Rhetorik und Praxis der jüdischen Zwangsarbeit als Voraussetzung des Genozids* Am 24. Juni 1941, zwei Tage nach dem Beginn des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion, ließ Reichsführer-SS Heinrich Himmler seinen wichtigsten Siedlungsplaner, den Berliner Professor Konrad Meyer, zu sich kommen. In einem kurzen Gespräch beauftragte er ihn, eine »Neue Siedlungsplanung im Osten«1 vorzubereiten. Bereits am 15. Juli 1941 lag dieser Generalplan Ost vor, der die »Eindeutschung« großer Teile Polens vorsah.2 Fünf Tage später dehnte Himmler die Planungen geographisch weiter aus. Bei einem Besuch im südostpolnischen Lublin befahl er, vorbereitende Siedlungsmaßnahmen in den besetzten Gebieten Polens und der Sowjetunion einzuleiten. Auf den Tag genau ein Jahr danach, vom 18. bis zum 20. Juli 1942, hielt sich der Reichsführer-SS abermals in Lublin auf und gab unter anderem weitere Anordnungen zur deutschen Besiedlung der Region.3 Während dieser knapp dreizehn Monate hatten sich nicht nur die Siedlungs- und »Germanisierungs«-Projekte der SS weiterentwickelt und über alle Maßen hinaus ausgedehnt, sondern genau in diesem Zeitraum waren auch Entscheidungen getroffen worden, die auf eine systematische und umfassende Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas zielten. Beide Entwicklungen liefen dabei nicht nur zeitlich parallel ab, sondern waren auch miteinander verbunden.4 Im Umfeld der Siedlungspläne getroffene Maßnahmen schufen mentale und institutionelle Voraussetzungen für den Völkermord. Insbesondere *
Für Hinweise zum Manuskript sei Dr. Clemens Vollnhals und Dr. Francesca Weil, Dresden, sowie den Herausgebern dieses Bandes gedankt. 1 Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, herausgegeben von Peter Witte u.a., Hamburg 1999, S. 179 (Eintrag unter 24.6.1941). 2 Vgl. Meyer an Himmler, 15.7.1941, in: Czesław Madajczyk (Hg.), Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan, München u.a. 1994, S. 14 f.; zur geografischen Ausdehnung des Planes siehe die Rekonstruktion von Karl Heinz Roth, »›Generalplan Ost‹ – ›Gesamtplan Ost‹. Forschungsstand, Quellenprobleme, neue Ergebnisse«, in: Mechtild Rössler/Sabine Schleiermacher (Hg.), Der »Generalplan Ost«. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik, Berlin 1993, S. 25–117, hier S. 59 f. 3 Vgl. Dienstkalender Heinrich Himmlers, S. 186 (20.7.1941), S. 493–497 (18.–20.7.1942). 4 Vgl. Roth, »›Generalplan Ost‹«; Hans Mommsen, »Umvolkungspläne des Nationalsozialismus und der Holocaust«, in: Helge Grabitz u.a. (Hg.), Die Normalität des Verbrechens. Bilanz und Perspektiven der Forschung zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, Berlin 1994, S. 68–84; Götz
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die Überlegungen, bei den für die Siedlung notwendig werdenden Bauvorhaben Zwangsarbeiter einzusetzen, trugen dazu bei, die Judenverfolgung entscheidend zu radikalisieren. Eine wichtige Etappe in diesem Prozess stellte die Wannsee-Konferenz dar, die zeitlich fast genau in der Mitte der betrachteten Periode liegt. Während der Unterredung akzeptierten die Teilnehmer, die jüdische Arbeitskraft allein der SS zu unterstellen. Als Folge hiervon wurde der KZ-Komplex Auschwitz, der bereits als Zwangsarbeitslager für die SS-Ostsiedlung ausgebaut worden war, als wichtiger Zielort für die Deportationstransporte aus Westund Mitteleuropa festgelegt. Die Eskalation der genozidalen Politik kulminierte in den Entscheidungen, die Himmler traf oder sanktionierte, als er am 17. Juli 1942 Auschwitz besichtigte und tags darauf seinen dreitägigen Besuch in Lublin begann.5 Dieser Beitrag geht den Entwicklungen des genannten Zeitraumes vom Sommer 1941 bis zum Sommer 1942 nach. Insbesondere wird die Bedeutung der Wannsee-Konferenz für die Siedlungsplanungen der SS hervorgehoben und argumentiert, dass der dort sanktionierte Arbeitseinsatz jüdischer Deportationsopfer zum Katalysator für den europaweiten Völkermord wurde. In drei Schritten soll das Thema ausgeleuchtet werden. Zunächst ist es erforderlich, die SS-Siedlungsutopien in groben Zügen vorzustellen und nachzuzeichnen, wie die SS die hierfür als notwendig erachteten Arbeitskräfte beschaffen wollte. Dabei können zugleich erste Interdependenzen zwischen Völkermord und Siedlungsplänen herausgearbeitet werden. Zweitens steht die Wannsee-Konferenz im Mittelpunkt. Unter Berücksichtigung der Fragestellung wird vor allem die Reichweite der dort implizit akzeptierten Regelung zum Einsatz jüdischer Zwangsarbeiter analysiert, bevor drittens und abschließend die Folgen dieser Entscheidung für die Deportationen und die Vernichtung der europäischen Juden insbesondere am Beispiel von Auschwitz in den Fokus rücken.6
SS-Siedlungspläne Der Generalplan Ost wies bereits eine längere Vorgeschichte auf, als Himmler am 24. Juni 1941 Meyer zum Gespräch bat. Unmittelbar nach der Eroberung und Besetzung Polens hatte der Reichsführer-SS von seinem Siedlungsplaner einen ersten Generalplan erstellen lassen, der vorwiegend die »Eindeutschung« westpolnischer Gebiete vorsah. Während Meyers zweiter Plan vom 15. Juli 1941 nicht überliefert ist, sich aber vermutlich ebenfalls Aly, »Endlösung«. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt am Main 1995. 5 Vgl. Dienstkalender Heinrich Himmlers, S. 491–497 (Eintrag unter 17.–20.7.1942). 6 Siehe bereits Jan Erik Schulte, »Vom Arbeits- zum Vernichtungslager. Die Entstehungsgeschichte von Auschwitz-Birkenau 1941/42«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 50 (2002), S. 41–69; ders., »Die Wannsee-Konferenz und die Zwangsarbeit von Juden. Eine Fallstudie zur Judenverfolgung 1941/42«, in: Manfred Grieger u.a. (Hg.), Interessen, Strukturen und Entscheidungsprozesse! Für eine politische Kontextualisierung des Nationalsozialismus, Essen 2010, S. 57–90.
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auf die besetzten polnischen Territorien konzentrierte, stieß ein gleichfalls verschollener, um die Jahreswende 1941/42 vom Reichssicherheitshauptamt (RSHA) ausgearbeiteter Plan in neue Dimensionen vor. Er basierte darauf, zig Millionen Menschen zu vertreiben und zu ermorden. Meyers im Juni 1942 vorgelegter dritter und bekanntester Generalplan Ost griff die Überlegungen der RSHA-Projektion auf und ging damit geographisch weit über seine beiden Vorläuferpläne hinaus.7 Nun wurden auch große Gebiete in der besetzten Sowjetunion einbezogen. Es handelte sich dabei vor allem um zwei umfangreichere Territorien, die das gesamte Baltikum bis nach Leningrad sowie die südlichen Ukraine und die Krim umfassten. Zudem sollten an strategisch wichtigen Orten in der europäischen Sowjetunion insgesamt 36 so genannte Siedlungsstützpunkte entstehen. Innerhalb der nächsten 25 Jahre würden hier, so die Projektionen, fast zwei Millionen deutsche Siedler eine neue Heimat finden. Die Kosten waren gigantisch, ebenso der Bedarf an Arbeitskräften. Allein im ersten Jahrfünft der Planungen sollten rund 850.000 Personen beschäftigt werden. Da nicht nur die SS megalomane Bauprojekte umtrieb, würden auch nach Ende des Krieges die benötigten Bauarbeiter kaum über den freien Arbeitsmarkt beschafft werden können. Meyer und seine Mitarbeiter sahen daher in ihrem Generalplan vor, dass »vorwiegend fremdvölkische Kräfte in kolonnenmäßigem Einsatz« die Lücken füllen würden. Dabei sollte es sich nicht um eine freiwillige Mitarbeit handeln. Vielmehr würden Kriegsgefangene zwangsweise arbeiten müssen. Der Generalplan Ost des Jahres 1942 beruhte also auf einer entscheidenden Voraussetzung: dem Einsatz eines riesigen Zwangsarbeiterheeres.8 Wie sehr auch Himmler das selbst geschaffene Arbeitskräfteproblem beschäftigte und wie er es zu lösen trachtete, zeigte sich bereits bei seinem Besuch am 20. Juli 1941 in Lublin. Dort kommandierte der für den Distrikt Lublin des Generalgouvernements zuständige SS- und Polizeiführer Odilo Globocnik die regionalen SS- und Polizeieinheiten. Er hatte sich in der Vergangenheit schon durch sein besonders brutales Vorgehen gegenüber der polnischen Bevölkerung, einschließlich der jüdischen Minderheit, hervorgetan sowie bei Versuchen, SS-Siedlungsstützpunkte im Lubliner Raum anzulegen. Nun sollte er eine noch größere Aufgabe erhalten. Himmler hatte ihn bereits drei Tage zuvor zum »Beauftragten für die Errichtung der SS- und Polizeistützpunkte im neuen Ostraum«
7 Ein »Generalsiedlungsplan«, der im Sommer 1942 begonnen wurde, blieb vermutlich unvollendet. Vgl. insges. Roth, »›Generalplan Ost‹«; Rolf-Dieter Müller, Hitlers Ostkrieg und die deutsche Siedlungspolitik. Die Zusammenarbeit von Wehrmacht, Wirtschaft und SS, Frankfurt am Main 1991; Isabel Heinemann, »Rasse, Siedlung, deutsches Blut«. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, 2. Aufl., Göttingen 2003, S. 359–376. 8 Vgl. Denkschrift »Generalplan Ost«, Juni 1942, in: Madajczyk, Generalsiedlungsplan, S. 90–130, Zitat S. 118; Jan Erik Schulte, Zwangsarbeit und Vernichtung: Das Wirtschaftsimperium der SS. Oswald Pohl und das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt 1933–1945, Paderborn u.a. 2001, S. 348–351.
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ernannt.9 Er würde ein Netz von »Wehrburgen, Wehrplätzen und Wehrposten«10 schaffen müssen, die als eine der Voraussetzungen für die zukünftigen Ansiedlungen in der unterworfenen Sowjetunion galten.11 Um sicherzustellen, dass genügend Arbeitskräfte für die Maßnahmen Globocniks zur Verfügung stehen würden, ordnete Himmler während seines Besuchs an, in Lublin ein Konzentrationslager für 25.000 bis 50.000 Häftlinge zu errichten. Das neue KZ sollte also größer als die anderen zu diesem Zeitpunkt bestehenden Lager werden. Seine Aufgabe war es, Gefangene für einen »Einsatz in Werkstätten und Bauten der SS und Polizei« bereit zu stellen. Die Errichtung von Nebenlagern war ausdrücklich vorgesehen. Implizit wurde damit unterstellt, dass die KZ-Zwangsarbeiter auch außerhalb des engeren Lubliner Raumes eingesetzt werden sollten. Das KZ Lublin erscheint als Kern eines aufgefächerten Netzwerkes von Neben- bzw. Arbeitslagern. Wie eng die neue Terrorstätte mit der Ostsiedlung verknüpft war, wurde auch daran deutlich, dass der Befehl zur Errichtung des Lagers nicht dem Inspekteur der Konzentrationslager gegeben wurde, sondern Globocnik in seiner Funktion als »Beauftragter des RFSS für die Errichtung der SS- und Polizeistützpunkte«. Zwangsarbeit war somit für die Ostsiedlungsplanungen während des gesamten Zeitraums von Sommer 1941 bis Sommer 1942 konstitutiv.12 Als Arbeitskräfte für die Ostsiedlung spielten Juden erst einmal keine bedeutende Rolle. Globocnik hatte zwar seit dem Sommer 1940 zeitweise Zehntausende mehrheitlich in den Distrikt Lublin verschleppte Juden in großen Zwangsarbeitslagern zusammengefasst, doch führten sie dort überwiegend als militärisch wichtig erachtete Bauarbeiten durch. Bei seinem Besuch in Lublin bezog Himmler einzig das in der Lubliner Lipowastraße befindliche jüdische Zwangsarbeitslager in die Ostsiedlungsplanungen ein.13 Auch im eingegliederten Ostoberschlesien lag der Einsatz von jüdischen Zwangsarbeitern in den Händen eines Vertreters der SS. SS-Oberführer Albrecht Schmelt, der Polizeipräsident 9 Himmler an Globocnik, 17.7.1941, Bundesarchiv Berlin (Bestand ehemaliges Berlin Document Center) (künftig: BAB/BDC), Personalakte (PA) Globocnik. 10 Himmlers Vermerk vom 21.7.1941, in: ebenda. An diesem Tag wurden im Namen Himmlers zwei Vermerke aufgesetzt. Beide versah er mit seiner Marginalie. Um sie unterscheiden zu können, soll im Folgenden der zweite Vermerk, der sich mit der Errichtung des KZ Lublin beschäftigt, als »KLVermerk« bezeichnet werden. Siehe hierzu Schulte, »Vom Arbeits- zum Vernichtungslager«, S. 43, Anm. 14. 11 Vgl. Jan Erik Schulte, »Initiative der Peripherie. Globocniks Siedlungsstützpunkte und die Entscheidung zum Bau des Vernichtungslagers Belzec«, in: ders. (Hg.), Die SS, Himmler und die Wewelsburg, Paderborn u.a. 2009, S. 118–137. 12 Vgl. (einschließlich des Zitates) KL-Vermerk, 21.7.1941, BAB/BDC, PA Globocnik; Schulte, »Wannsee-Konferenz«, S. 63. 13 Vgl. Christopher R. Browning, »Nazi Germany’s Initial Attempt to Exploit Jewish Labor in the General Government: The Early Jewish Work Camps 1940–1941«, in: Grabitz u.a., Die Normalität des Verbrechens, S. 171–185; Dieter Pohl, »Die großen Zwangsarbeitslager der SS- und Polizeiführer im Generalgouvernement 1942–1945«, in: Ulrich Herbert u.a. (Hg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager – Entwicklung und Struktur, Göttingen 1998, Bd. I, S. 415–438, hier S. 416 f.
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von Breslau, hatte auf Anordnung Himmlers die Beschäftigung jüdischer Arbeitskräfte in seiner, als »Dienststelle Schmelt« bezeichneten Organisation monopolisiert. Im Herbst 1941 unterstanden ihr rund 17.000 Zwangsarbeiter in Ober- und Niederschlesien sowie im Sudetenland.14 Im besetzten Polen griff ansonsten vorwiegend die deutsche Zivilverwaltung auf die jüdischen Arbeitskräfte zu. Besonders in den beiden Großghettos in Łodz und Warschau unterstützten die dortigen deutschen Ghettoleitungen Bemühungen um eine weitgehende Beschäftigung der jüdischen Bewohner, um deren, wenn auch minimale Versorgung aufrechtzuerhalten.15 Da Juden zunächst kaum als Arbeitskräfte für die SS vorgesehen wurden, war zum Zeitpunkt des Besuchs Himmlers in Lublin noch keineswegs klar, woher die Zwangsarbeiter sowohl für die immer größer werdenden Pläne Meyers wie auch für die ersten vorbereitenden Projekte Globocniks kommen sollten. Präziser ausgedrückt: Es blieb völlig unsicher, wie das KZ Lublin mit Häftlingen gefüllt werden könnte. Denn als mit dem Bau begonnen wurde, saßen in allen Konzentrationslagern der SS keine 50.000 Gefangene ein. Erst anderthalb Monate später, im September 1941, schienen sich weitreichende Möglichkeiten zu eröffnen.16 Trotz Bedenken Himmlers und des Reichssicherheitshauptamtes, die aus rassistischen Gründen die Beschäftigung von sowjetischen Kriegsgefangenen ablehnten, setzten sich zunehmend die Rüstungsdienststellen, Arbeitsbehörden und Wirtschaftsvertreter durch, die einen »Russeneinsatz« befürworteten. Für wie notwendig eine Beschäftigung der Gefangenen erachtet wurde, zeigt sich daran, dass das Oberkommando des Heeres bereits am 23. September die Aufnahme von weiteren 500.000 sowjetischen Soldaten als Arbeitskräfte im Reichsgebiet genehmigte – über einen Monat bevor Hitler selbst dem umfassenden »Großeinsatz« der Gefangenen in der deutschen Kriegswirtschaft zustimmte.17 Auch Himmler erkannte nun die Möglichkeiten. So zögerte er nicht, sich alsbald einen Teil dieses neuen Arbeitskräftepotenzials zu sichern. Schon im September konferierte er mehr14 Vgl. Sybille Steinbacher, »Musterstadt« Auschwitz. Germanisierungspolitik und Judenmord in Ostoberschlesien, München 2000, S. 138–149; Andrea Rudorff, »Das Lagersystem der ›Organisationen Schmelt‹ in Schlesien«, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 9, München 2009, S. 155–160; Stephan Lehnstaedt, »Coercion and Incentive: Jewish Ghetto Labor in East Upper Silesia«, in: Holocaust and Genocide Studies 24 (2010), S. 400–430. 15 Vgl. Christopher Browning, Die Entfesslung der »Endlösung«. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939–1942, München 2003, S. 229–252; Peter Klein, Die »Gettoverwaltung Litzmannstadt« 1940 bis 1944. Eine Dienststelle im Spannungsfeld von Kommunalbürokratie und staatlicher Verfolgungspolitik, Hamburg 2009, S. 266 ff. 16 Vgl. Schulte, »Wannsee-Konferenz«, S. 63 f. 17 Vgl. Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des »Ausländer-Einsatzes« in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, 2. Aufl., Berlin u.a. 1986, S. 137–157; Rolf Keller, Sowjetische Kriegsgefangene im Deutschen Reich 1941/42. Behandlung und Arbeitseinsatz zwischen Vernichtungspolitik und kriegswirtschaftlichen Zwängen, Göttingen 2011, S. 152–172, 209–220.
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fach mit Untergebenen und offensichtlich auch mit der Wehrmachtführung, um die Einweisung von gefangenen sowjetischen Soldaten in die Konzentrationslager vorzubereiten. Am 22. September 1941 wurde Richard Glücks, der Inspekteur der Konzentrationslager, über die bevorstehende Aufnahme von 200.000 Kriegsgefangenen informiert. Drei Tage später ordnete die Abteilung Kriegsgefangenenwesen beim OKW an, 100.000 sowjetische Gefangene an den Reichsführer-SS »in die Gegend Lublin« zu überstellen.18 Die Gefangenen sollten also nicht irgendwohin oder an eine größere Zahl von Standorten verlegt werden, sondern genau dorthin, wo das KZ Lublin entstand. Die SS reagierte unverzüglich auf die Ankündigung der Wehrmacht. Zwei Tage später, am 27. September, befahl der Chef des SS-Bauwesens, SS-Oberführer Hans Kammler, in Lublin ein Kriegsgefangenenlager für 50.000 Insassen aufzubauen.19 Wie sehr die SS-Angehörigen Getriebene ihrer eigenen Politik waren, zeigte sich daran, dass sich das Lager Lublin erst im Aufbau befand und dass es auch in der größten, nun vorgesehenen Aufbaustufe, nur die Hälfte der zunächst avisierten sowjetischen Soldaten würde aufnehmen können. Aus diesem Grund wurde kurz entschlossen die Errichtung eines weiteren Kriegsgefangenenlagers bekannt gegeben. Es sollte in der Nähe eines bereits bestehenden Konzentrationslagers entstehen. In seinem Befehl vom 27. September ordnete Kammler daher zusätzlich den Bau eines Kriegsgefangenenlagers für 50.000 Mann in Auschwitz an.20 Innerhalb weniger Tage wurde der genaue Ort auf dem Gelände des ehemaligen polnischen Dorfes Brzezinska – Birkenau – festgelegt. Kammler ließ eine gemeinsame Bauzentralstelle einrichten, um beide Baumaßnahmen zu koordinieren. Sie wurde in die Organisation des »Beauftragten für die Errichtung der SS- und Polizeistützpunkte im neuen Ostraum« integriert. Neben Lublin war nun Auschwitz-Birkenau als zweites zentrales Zwangsarbeitslager für die riesigen Siedlungspläne der SS in Ostmittelund Osteuropa vorgesehen.21 So gigantisch die Zahlen waren, entsprachen sie doch nicht dem Bedarf, den Meyers Siedlungsexperten zumindest für den im Juni 1942 vorgelegten Generalplan Ost errechneten.22 Wie sich zeigte, erreichten die Planspiele Himmlers, der Inspektion der Konzentrationslager und der SS-Baufachleute jedoch im Herbst 1941 neue Größenordnungen. 18 Zit. nach Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945, Bonn 1991, S. 220; vgl. insgesamt Schulte, »Vom Arbeits- zum Vernichtungslager«, S. 48 f.; Schulte, »Wannsee-Konferenz«, S. 64. 19 Vgl. Schulte, »Vom Arbeits- zum Vernichtungslager«, S. 50. 20 Die entsprechende Anweisung war schon am Vortrag mündlich übermittelt worden. Vgl. Telefonnotizen v. SS-Oberscharführer Urbanczyk, 26.9.1941, Archiwum Państwowe Muzeum AuschwitzBirkenau w Oświęcimiu, Mikrofilm 1858/505; Schulte, »Wannsee-Konferenz«, S. 65. 21 Vgl. Steinbacher, »Musterstadt«, S. 239; Rainer Fröbe, »Bauen und Vernichten. Die Zentralbauleitung Auschwitz und die ›Endlösung‹«, in: Christian Gerlach (Hg.), Durchschnittstäter. Handeln und Motivation (= Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 16), Berlin 2000, S. 155–209, hier S. 162; Schulte, Zwangsarbeit und Vernichtung, S. 335. 22 Vgl. Schulte, Zwangsarbeit und Vernichtung, S. 350.
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Zum einen wurde das bisherige SS-Sonderlager Stutthof bei Danzig als Konzentrationslager übernommen und für die Aufnahme von 25.000 sowjetischen Kriegsgefangenen vorbereitet, sowie erwogen, auf dem SS-Truppenübungsplatz Debica ebenfalls ein »Sowjet-Kriegsgefangenenlager«23 zu errichten. Zum anderen dehnten sich die Planungen für Lublin und Auschwitz-Birkenau sukzessive aus. Schon im Oktober rechnete der SS-Bauleiter von Auschwitz, Karl Bischoff, mit nunmehr 150.000 Gefangenen. Die gleiche Zahl machte Kammler am 8. Dezember dann auch für Lublin verbindlich. Ende 1941 sah die SS mithin vor, mindestens 325.000 sowjetische Kriegsgefangene in drei bis vier Haftstätten für die Bauvorhaben im Rahmen der Ostsiedlung bereitzuhalten. Diese gigantische Zahl blieb zwar noch unterhalb der Vorgaben Meyers, stieß aber bereits in entsprechende Dimensionen vor.24 In der Realität scheiterten die Versuche der SS, sowjetische Kriegsgefangene einzusetzen und an den beiden Standorten zu konzentrieren, schon von Beginn an. Da Lublin und Auschwitz-Birkenau noch nicht einmal in Ansätzen fertig gestellt waren, wurden die zunächst etwa 25.000 Gefangenen, die tatsächlich von der Wehrmacht an die SS abgegeben wurden, auf verschiedene Konzentrationslager im besetzten Polen und im Deutschen Reich verteilt. 10.000 kamen nach Auschwitz, 5.000 nach Lublin. Aufgrund der miserablen Lebensbedingungen und infolge der brutalen Behandlung durch die KZ-Wachen, zum Teil auch durch gezielte Tötungen, überlebte nur weniger als ein Viertel den Winter 1941/42. Zugleich waren in den Lagern der Wehrmacht Hunderttausende sowjetischer Kriegsgefangener umgekommen. Neue Überstellungen an die SS waren daher kaum mehr möglich. Bis Anfang 1942 hatten sich die grausigen Utopien von einem riesigen SS-Zwangsarbeiterheer aus Kriegsgefangenen praktisch aufgelöst.25
Eskalation der Judenverfolgung Die Eskalation der Judenverfolgung in der zweiten Hälfte des Jahres 1941 stellt sich als ein komplexer Prozess mit einer Vielzahl von Beteiligten dar. An dieser Stelle können nur schlaglichtartig einige Entwicklungslinien aufgezeigt werden. Sie helfen jedoch, den historischen Kontext für die Entscheidungen zum Arbeitseinsatz von Juden zumindest ansatzweise auszuleuchten. Es zeigte sich, dass ausgehend sowohl von der Zentrale als auch 23 Rundschreiben v. Hans Jüttner, Chef des Stabes des SS-Führungshauptamtes, 25.10.1941, BAB, NS 19/3513, Bl. 103–105. 24 Vgl. Schulte, »Vom Arbeits- zum Vernichtungslager«, S. 52 f.; Schulte, »Wannsee-Konferenz«, S. 65 f. 25 Vgl. Rolf Keller/Reinhard Otto, »Sowjetische Kriegsgefangene in Konzentrationslagern der SS. Ein Überblick«, in: Johannes Ibel (Hg.), Einvernehmliche Zusammenarbeit? Wehrmacht, Gestapo, SS und sowjetische Kriegsgefangene, Berlin 2008, S. 15–43; Jan Erik Schulte, »Die KriegsgefangenenArbeitslager der SS 1941/42: Größenwahn und Massenmord«, in: ebenda., S. 71–90; jetzt insgesamt Keller,, Sowjetische Kriegsgefangene, bes. S. 406–423.
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von der Peripherie und forciert durch verschiedene Herrschaftsträger aus Partei, Wehrmacht, Besatzungsverwaltung sowie SS und Polizei die Überlegungen und Maßnahmen zur Verfolgung der Juden immer brutalere und mörderischere Ausmaße annahmen. Parallel zur Entwicklung der Siedlungsplanungen eskalierte die Judenverfolgung zunächst in der besetzten Sowjetunion. Unmittelbar bevor Himmler nach Lublin reiste, hatte Hitler am 16. Juli 1941 während einer seiner Monologe die Besatzungs- und Vernichtungspolitik in der Sowjetunion entscheidend radikalisiert. Im Anschluss hieran forcierten der Reichsführer-SS und seine Unterführer, allen voran die hinter der Front eingesetzten Höheren SS- und Polizeiführer, den schon begonnenen Mordfeldzug gegen die jüdische Bevölkerung. In den folgenden Tagen und Wochen gingen Einsatzgruppen, Brigaden des Kommandostabes Reichsführer-SS und Polizeibataillone dazu über nicht nur vorwiegend Männer, sondern auch systematisch Frauen und Kinder zu ermorden.26 Auch im Deutschen Reich schufen sich zunehmend radikalere Meinungen Gehör. Während der Euphorie eines scheinbar immer noch kurz bevorstehenden Sieges über die Sowjetunion, als Himmler Lager für hunderttausende Kriegsgefangene errichten ließ, begannen Deportationen von Juden aus dem Deutschen Reich an verschiedene Orte in den besetzten Gebieten Polens und der Sowjetunion, also in den imaginierten »Osten«. Wenn sich auch Hitler zunächst gegen Abschiebungen während des Krieges auszusprechen schien, so erlaubte er doch Mitte September, Deportationstransporte ins Ghetto von Łodz zu schicken. Die ersten der Verschleppten trafen dort am 16. Oktober ein. Seit dem Spätherbst erreichten dann Transporte aus Deutschland auch verschiedene Aufnahmeorte in der besetzten Sowjetunion. Hierzu gehörten Minsk, Kaunas und Riga. Pseudoutilitaristisch legitimiert, griff nun eine Mechanik, die dazu führte, dass einheimische Juden umgebracht wurden, um für die deutschen Neuankömmlinge Platz zu schaffen. Denn in den betreffenden Orten im Baltikum und in Weißrussland waren kurz zuvor die autochthonen Juden in großer Zahl umgebracht worden.27 26 Siehe z.B. Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München u.a. 1998; Browning, Entfesselung; Jürgen Matthäus, »Das ›Unternehmen Barbarossa‹ und der Beginn der Judenvernichtung, Juni–Dezember 1941«, in: Browning, Entfesselung, S. 360–448; Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, 2. Aufl., Hamburg 2000; Ralf Ogorreck, Die Einsatzgruppen und die »Genesis der Endlösung«, Berlin 1996; Peter Klein (Hg.), Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion 1941/42. Die Tätigkeits- und Lageberichte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, Berlin 1997; Andrej Angrick, Besatzungspolitik und Massenmord. Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941–1943, Hamburg 2003; Martin Cüppers, Wegbereiter der Shoa. Die Waffen-SS, der Kommandostab Reichsführer-SS und die Judenvernichtung 1939–1945, Darmstadt 2005. 27 Vgl. Longerich, Politik, S. 427–465; Wolf Gruner, »Von der Kollektivausweisung zur Deportation der Juden aus Deutschland (1938–1945). Neue Perspektiven und Dokumente«, in: Birthe Kundrus/Beate Meyer (Hg.), Die Deportation der Juden aus Deutschland. Pläne – Praxis – Reaktionen 1938–1945 (= Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 20), Göttingen 2004, S. 21–62, hier
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Doch führten nicht allein die Entscheidungen Berlins dazu, dass die regional Verantwortlichen aus deutscher Zivilverwaltung, SS und Polizei Mordpläne initiierten. Im Reichsgau Wartheland wurden nur bereits vorab angestellte Überlegungen in einem hierfür als günstig erachteten politischen Klima umgesetzt, das nach der Entscheidung, Juden aus dem Reich nach Łodz zu deportieren, gegeben schien. Auf Initiative des dortigen Gauleiters Arthur Greiser, der sich mit Himmler abstimmte, begann das von SS-Hauptsturmführer Herbert Lange geführte und vorher bei der Ermordung psychisch Kranker eingesetzte »SS-Sonderkommando Lange« Ende September/Anfang Oktober 1941 Juden aus wartheländischen Landkreisen zu ermorden. Explizit sollte es sich dabei um so genannte »Arbeitsunfähige« handeln. Erst nachdem die als mobile Mordstätten eingesetzten Gaswagen in Kulmhof (Chełmno) stationiert worden waren, setzten im Dezember auch die Vorbereitungen für die Ermordung von Łodzer Juden ein.28 Ebenfalls im Oktober ergriff ein weiterer regionaler Führer, Globocnik, die Initiative und schlug, gemeinsam mit seinem Vorgesetzten, dem Höheren SS- und Polizeiführer Friedrich-Wilhelm Krüger, Himmler vor, im Distrikt Lublin eine Vernichtungsstätte zu errichten. Nachdem sie das Plazet des Reichsführers-SS erhalten hatten, begann Globocnik ab dem 1. November 1941 mit dem Lagerbau in Belzec (Bełżec). Dort wurde am 16. März 1942 mit der systematischen Ermordung von Juden aus dem Distrikt Lublin begonnen. Auch hier, wie im Warthegau, erfolgte die Auswahl der Deportationsopfer in enger Abstimmung mit der Zivilverwaltung.29 Es ist bislang nicht geklärt, ob Globocnik zunächst vorwiegend die jüdische Bevölkerung seines eigenen Distriktes in den Gaskammern von Belzec ersticken wollte, oder ob schon im Oktober/November 1941 der Plan bestand, die im Generalgouvernement lebenden Juden insgesamt zu vernichten.30 S. 46–53; Klein, »Gettoverwaltung Litzmannstadt«, S. 353–376; Petra Rentrop, Tatorte der »Endlösung«. Das Ghetto Minsk und die Vernichtungsstätte Maly Trostinez, Berlin 2011, S. 139–142, 169–172; Christoph Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944, Bd. 2, Göttingen 2011, S. 942–967; Andrej Angrick/Peter Klein, Die »Endlösung« in Riga, Ausbeutung und Vernichtung 1941–1944, Darmstadt 2006, S. 138–184. 28 Vgl. Michael Alberti, Die Verfolgung und Vernichtung der Juden im Reichsgau Wartheland 1939– 1945, Wiesbaden 2006, S. 376–421; Peter Klein, »Massentötung durch Giftgas im Vernichtungslager Chełmno«, in: Günter Morsch/Bertrand Perz (Hg.), Neue Studien zu nationalsozialistischen Massentötungen durch Giftgas. Historische Bedeutung, technische Entwicklung, revisionistische Leugnung, Berlin 2011, S. 176–184. 29 Vgl. Dieter Pohl, Von der »Judenpolitik« zum Judenmord. Der Distrikt Lublin des Generalgouvernement 1939–1944, Frankfurt am Main 1993; Bogdan Musial, Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung im Generalgouvernement, Wiesbaden 1999; Schulte, »Initiative der Peripherie«; sowie insgesamt zur »Aktion Reinhard« siehe Bogdan Musial (Hg.), »Aktion Reinhardt«. Der Völkermord an den Juden im Generalgouvernement 1941–1944, Osnabrück 2004; jetzt auch Dieter Pohl, »Massentötungen durch Giftgas im Rahmen der ›Aktion Reinhardt‹, in: Morsch/Perz, Neue Studien zu nationalsozialistischen Massentötungen, S. 185–195. 30 Vgl. Dieter Pohl, »Die Stellung des Distrikt Lublin in der ›Endlösung der Judenfrage‹«, in: Musial, »Aktion Reinhardt«, S. 87–107, hier S. 96 f.
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Siedlungsplanungen und Judenvernichtung konnte Globocnik jedoch nicht parallel bewältigen. Der Aufbau von SS-Stützpunkten im europäischen Teil der Sowjetunion erwies sich als eine zu große Aufgabe für ihn und seinen personell unterbesetzten Stab. Im Frühjahr 1942 wurde diese endgültig vom SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt (WVHA) des SS-Gruppenführers Oswald Pohl übernommen. Auf diese Weise wurde das zunächst bei den Vorbereitungen für die SS-Stützpunkte gebundene Personal frei und konnte von Globocnik in sein Programm zur Judenvernichtung im Generalgouvernement, der »Aktion Reinhard«, eingebracht werden. Hierzu gehörten enge Mitarbeiter, die bislang Außenstellen des Stützpunktbeauftragten in der besetzten Sowjetunion geleitet hatten, aber auch am Standort Lublin eingesetzte SS-Führer sowie die Angehörigen einer überwiegend aus ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen zusammengesetzten Hilfstruppe, die im nahe Lublin gelegenen Lager »Trawniki« ausgebildet worden waren. Globocniks Versuche, eine Dienststelle und einen Personalpool für seine SS-Ostsiedlungsmaßnahmen zu bilden, trugen somit ganz erheblich dazu bei, die personellen Voraussetzungen für den Genozid an den polnischen Juden zu schaffen.31 Doch nicht nur in der Sowjetunion, im Warthegau und im Distrikt Lublin eskalierte im Herbst 1941 der Judenmord. Auch im Distrikt Galizien sowie, dort durchgeführt von Wehrmachteinheiten, in Serbien wurden die jüdischen Einwohner systematisch umgebracht. Ebenfalls in diesem Zeitraum scheinen Entscheidungen getroffen worden zu sein, in Riga wie vermutlich auch in Mogilew Vernichtungsstätten aufzubauen. Zwar kann noch nicht von einem umfassenden und planvoll strukturierten Mordprogramm gesprochen werden, doch sollten in den betroffenen Regionen alle jüdischen Einwohner getötet werden. Ausnahmen wurden nur bei so genannten Arbeitsfähigen gemacht. Zum ersten Mal wurden auch systematisch größere Gruppen von deutschen Juden aus dem Reich in den »Osten« verschleppt. Sie sollten zwar nicht ermordet werden, doch litten sie, wie die einheimischen Juden, an ihren Aufnahmeorten unter den unmenschlichen Lebensbedingungen, die schon bald zahlreiche Todesopfer forderten. Die kulturell gezogene Grenze zwischen deutschen und eingesessenen Juden, die eigentlich als Scheidelinie zwischen Leben und Tod dienen sollte, wurde immer brüchiger. Dies zeigte auch ein von Himmler gerügter und gegen seinen Befehl durchgeführter Massenmord an deutschen Juden in Riga.32
31 Vgl. Schulte, Zwangsarbeit und Vernichtung, S. 264–272, 308 f.; Dieter Pohl, »Die Trawniki-Männer im Vernichtungslager Belzec 1941–1943«, in: Alfred Gottwaldt u.a. (Hg.), NS-Gewaltherrschaft. Beiträge zur historischen Forschung und juristischen Aufarbeitung, Berlin 2005, S. 278–289, hier S. 278–281; Schulte, »Initiative der Peripherie«, S. 134 f. 32 Vgl. Walter Manoschek, »Serbien ist judenfrei«. Militärische Besatzungspolitik und Judenvernichtung in Serbien 1941/42, München 1995; Dieter Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien 1941–1944. Organisation und Durchführung eines staatlichen Massenverbrechens, München 1996; Thomas Sandkühler, »Endlösung« in Galizien. Der Judenmord in Ostpolen und die Rettungsinitiativen von Berthold Beitz 1941–1944, Bonn 1996; Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 583; Longerich,
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Es verwundert daher nicht, dass im Baltikum, in Weißrussland wie auch vor allem im besetzten Polen nicht mehr nur nach West- und Ostjuden unterschieden wurde, sondern zunehmend auch nach »Arbeitsfähigen« und »Arbeitsunfähigen«.33 Noch bevor die Vorbereitungen zur Vernichtung von wartheländischen Juden in Kulmhof anliefen, waren in Posen bereits Überlegungen angestellt worden, ob die als »arbeitsunfähig« angesehenen Juden nicht besser getötet werden sollten, um sie nicht weiterhin versorgen zu müssen.34 Diese Überlegungen griff der Leiter der Umwanderzentralstelle Posen, SS-Sturmbannführer Rolf-Heinz Höppner, auf, als er den Judenreferenten des Reichssicherheitshauptamtes, Adolf Eichmann, am 16. Juli 1941 über den berüchtigten Vorschlag informierte: »Es besteht in diesem Winter die Gefahr, daß die Juden nicht mehr sämtlich ernährt werden können. Es ist ernsthaft zu erwägen, ob es nicht die humanste Lösung ist, die Juden, soweit sie nicht arbeitseinsatzfähig sind, durch irgendein schnellwirkendes Mittel zu erledigen. Auf jeden Fall wäre dies angenehmer, als sie verhungern zu lassen.«35 Auch im Deutschen Reich spielte die Beschäftigung von Juden zunehmend eine größere Rolle. Da die Kriegslage immer schwieriger wurde und sich der Arbeitskräfteengpass in der deutschen Kriegswirtschaft deutlicher bemerkbar machte, wurden nach Intervention durch die Wehrmacht explizit jüdische Arbeitskräfte in der Kriegswirtschaft von den Deportationen aus dem Reich ausgenommen. Diese Vereinbarung wurde allerdings von der Gestapo häufig unterlaufen.36 Obwohl bei einigen zentralen Bauprojekten der SS, vor allem bei der Durchgangsstraße IV in der südlichen Ukraine, Juden eingesetzt wurden, und auch die Einsatzgruppe A in der Nähe von Riga ein Konzentrationslager für jüdische Zwangsarbeiter plante, zeigte die SS noch kein systematisches Interesse an den jüdischen Arbeitskräften.37 In den SS-Ostsiedlungsplanungen jedenfalls spielten jüdische Zwangsarbeiter weiterhin keine entscheidende Rolle. Erst im Umfeld der Wannsee-Konferenz sollten sich in dieser Frage entscheidende Änderungen ergeben.
Politik, S. 440–465; Browning, Entfesselung, S. 526–528; Peter Longerich, Heinrich Himmler. Biographie, Berlin 2008, S. 566 f.; Angrick/Klein, Riga, S. 160–169; Dieckmann, Litauen, Bd. 2, S. 959–967. 33 Vgl. Dieckmann, Litauen, Bd. 2, S. 1011. 34 Vgl. Alberti, Reichsgau Wartheland, S. 339–372. 35 Höppner an Eichmann, 16.7.1941, in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, herausgegeben v. Susanne Heim u.a., Bd. 4: Polen September 1939–Juli 1941, München 2011, S. 680 f. 36 Vgl. Wolf Gruner, Der Geschlossene Arbeitseinsatz deutscher Juden. Zur Zwangsarbeit als Element der Verfolgung 1938–1943, Berlin 1997, S. 276–282. 37 Vgl. Pohl, Ostgalizien, S. 165–175, 204; Pohl, »Judenpolitik«, S. 103 f.; Sandkühler, Galizien, S. 137–148; Hermann Kaienburg, Jüdische Arbeitslager an der »Straße der SS«, in: 1999 11 (1996), H. 1, S. 13–39; Angrick/Klein, Riga, S. 198 f.
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Wannsee-Konferenz und jüdische Zwangsarbeit Über den genauen historischen Ort der Wannsee-Konferenz wird weiter debattiert.38 Die regionalen Mordaktionen und der Beginn der Deportationen aus dem Deutschen Reich verweisen jedoch auf einen weit fortgeschrittenen Eskalationsprozess. Er bildet den Hintergrund für die Konferenz vom 20. Januar 1942, zu der Reinhard Heydrich, der Chef des RSHA und stellvertretende Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, eingeladen hatte. Ursprünglich wollte Heydrich mit den Eingeladenen, hierunter zahlreiche Staatssekretäre und Spitzenvertreter anderer Behörden, bereits am 9. Dezember 1941 zusammentreffen. Der Beginn des Krieges im Pazifik und die deutsche Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten vereitelten aber diesen Termin. Zweck der Tagung war es nicht, detaillierte Absprachen zu treffen, sondern es sollten, worauf der Historiker Mark Roseman verweist, Kompetenzstreitigkeiten gelöst und Verantwortlichkeiten geklärt werden.39 In Heydrichs Worten ging es um »die Erreichung einer gleichen Auffassung«. Mit Hinweis auf die ihm von Göring am 31. Juli 1941 gegebene Vollmacht, »alle erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht zu treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage [im] deutschen Einflußgebiet in Europa«40, wollte der RSHA-Chef seine und der SS Vorrangstellung in der »Judenfrage« akzeptiert wissen.41 Wie dem vermutlich von Heydrich selbst redigierten Ergebnisprotokoll42 der Versammlung zu entnehmen ist, führte der RSHA-Chef aber nicht nur die Bestallung Görings als Beleg für seine Kompetenzen an, sondern verwies auch auf eine Anordnung Hitlers: »Anstelle der Auswanderung ist nunmehr als weitere Lösungsmöglichkeit nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten.«43 Darüber hinausgehende Befehle Hitlers scheinen nicht vorgelegen zu haben. Jedenfalls wurden von Heydrich keine weiteren benannt, obwohl er sich ansonsten offensichtlich darum bemühte, seine »Federführung«44 von den höchsten Autoritäten herzuleiten. Auch ein klarer Mordauftrag findet sich im Protokoll nicht. Vielmehr 38 Vgl. hierzu den Beitrag von Peter Klein in diesem Band; siehe auch Christian Gerlach, »Die Wannsee-Konferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers politische Grundsatzentscheidung, alle Juden Europas zu ermorden«, in: WerkstattGeschichte 18 (1997), S. 7–44; Peter Longerich, »The Wannsee Conference in the Development of the ›Final Solution‹«, in: Holocaust Educational Trust Research Papers, vol. 1, no. 2, 1999–2000; Christopher R. Browning, Judenmord. NS-Politik, Zwangsarbeit und das Verhalten der Täter, Frankfurt am Main 2001, S. 55–77; Mark Roseman, Die Wannsee-Konferenz. Wie die NS-Bürokratie den Holocaust organisierte, München u.a. 2002, S. 107–111. 39 Vgl. Roseman, Wannsee-Konferenz, S. 86. 40 Faksimile des Schreibens Görings an Heydrich, 31.7.1941, Dokument 4.3 in diesem Band. 41 Vgl. Rosemann, Wannsee-Konferenz, S. 81–95 et passim. 42 Vgl. Dokument 4.7 in diesem Band. 43 Besprechungsprotokoll S. 5, vgl. Dokument 4.7 in diesem Band. 44 Besprechungsprotokoll S. 3, vgl. Dokument 4.7 in diesem Band.
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bleibt unbestimmt, wie die Planungen für eine »Endlösung« endgültig aussehen sollten. Im Anschluss an die Passage über die Führer-Genehmigung, findet sich daher nur die vage Angabe: »Diese Aktionen sind jedoch lediglich als Ausweichmöglichkeiten anzusprechen [...]«, bei denen »jene praktischen Erfahrungen gesammelt« werden würden, »die im Hinblick auf die kommende Endlösung der Judenfrage« wichtig seien.45 Über die drei Schwerpunkte der Konferenz konnte aber gesprochen werden, auch ohne dass abschließende Planungen vorlagen. Hierzu gehörten der Umfang der Deportationspläne, die Zwangsarbeit der Juden und die Abgrenzung der Opfergruppe. Wenn das Protokoll den Tagungsverlauf korrekt wiedergibt, dann wurde Heydrichs Ausführungen zum jüdischen Arbeitseinsatz nicht prinzipiell widersprochen. Zu diesem Themenkomplex finden sich zwar nur wenige, dafür aber relativ präzise Hinweise: »Unter entsprechender Leitung sollen nun im Zuge der Endlösung die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen. In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird.«46 Heydrich gab unumwunden zu, dass die Arbeit der jüdischen Deportierten menschenverachtend und mörderisch sein würde. Vor dem Hintergrund der bereits seit einem halben Jahr durchgeführten Massenexekutionen in der Sowjetunion und den andernorts angelaufenen Vernichtungsaktionen kann dies die Teilnehmer der Tagung nicht überrascht haben. Hinter dem Begriff des Arbeitseinsatzes im »Osten« versteckte sich dennoch nicht primär eine begriffliche Camouflage für die Ermordung der Juden. Denn tatsächlich beutete die SS bereits jüdische Zwangsarbeiter bei ihren Straßenbaumaßnahmen in der besetzten Sowjetunion aus – wenn auch unter mörderischen Bedingungen.47 Durch die schweigende Zustimmung der anwesenden Behördenvertreter gelang es Heydrich jedenfalls, sich der jüdischen Arbeitskraft in großem Ausmaß zu versichern. Denn wenn nach der Deportation die jüdische Zwangsarbeit als Teil der »Endlösung« unter die Kontrolle der SS fallen würde, dann erhielt jene den unumschränkten Zugriff auf das jüdische Arbeitskräftepotenzial.48 Im »Osten«, so das Ergebnis der Besprechung, würden jüdische Häftlinge nur noch für die SS arbeiten. Was danach mit den jüdischen Überlebenden passieren sollte, blieb schimärisch. Zwar würde »[d]er allfällig endlich verbleibende Restbestand […], da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da 45 Ebenda, vgl. auch Longerich, »Wannsee Conference«, S. 14; Schulte, »Wannsee-Konferenz«, S. 77– 79. 46 Besprechungsprotokoll S. 7, vgl. Dokument 4.7 in diesem Band. 47 Vgl. Anm. 37; auch Longerich, Politik, S. 470. 48 Vgl. Robert Jan van Pelt, The Case for Auschwitz. Evidence from the Irving Trial, Bloomington u.a. 2002, S. 72; Schulte, »Wannsee-Konferenz«, S. 78 f.
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dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaus anzusprechen ist«.49 Diese Passage aus dem Protokoll deutet zwar ein mörderisches Vorgehen an, bleibt aber ebenfalls vage. Jedenfalls scheint es, als ob die Dauer des Arbeitseinsatzes und die genaue Vorgehensweise danach noch nicht bestimmbar waren. Wie Entscheidungen belegen, die unmittelbar nach der Wannsee-Konferenz getroffen wurden, war die implizite Zustimmung der Teilnehmer in der Zwangsarbeiterfrage keineswegs marginal. Vielmehr schuf dieses Ergebnis der Konferenz die Grundlage für die hochfliegenden Zwangsarbeitspläne der SS und trug in der Folge indirekt zur Wahl von Auschwitz als zentralem Vernichtungslager für die westeuropäischen Juden bei.
Jüdische Zwangsarbeiter für die SS-Ostsiedlung Himmler beeilte sich, das Ergebnis in der Zwangsarbeiterfrage in praktische Politik umzusetzen. Nur fünf Tage nach der Wannsee-Konferenz erteilte er zweien seiner wichtigsten Mitarbeiter erste Anweisungen. Oswald Pohl wurde darüber informiert, dass »wirtschaftliche Neuaufgaben« anständen und er sich am 28. Januar bei Himmler einzufinden habe. Mit Heydrich sprach der Reichsführer-SS über »Juden in die Kl.s [Konzentrationslager]«, wie die entsprechende Telefonnotiz Himmlers lautete.50 Am folgenden Tag, den 26. Januar 1942, erhielt der Inspekteur der Konzentrationslager, Richard Glücks, ein Telegramm, in dem der Reichsführer-SS genauere Angaben über den Umfang und das Ziel der jüdischen Zwangsarbeit machte: »Nachdem russische Kriegsgefangene in der nächsten Zeit nicht zu erwarten sind, werde ich von den Juden und Jüdinnen, die aus Deutschland ausgewandert werden, eine große Anzahl in die Lager schicken. Richten Sie sich darauf ein, in den nächsten 4 Wochen 100 000 männliche Juden und bis zu 50 000 Jüdinnen in die KL aufzunehmen. Große wirtschaftliche Aufgaben und Aufträge werden in den nächsten Wochen an die Konzentrationslager herantreten. SS-Gruppenführer Pohl wird Sie im einzelnen unterrichten.« 51 Das Telegramm verfügte in kaltem Ton über das Schicksal von zigtausenden Menschen. Es legte aber auch zugleich offen, dass jüdische Zwangsarbeiter zumindest bis auf weiteres die sowjetischen Kriegsgefangenen als primäre Zwangsarbeiterkategorie für den Einsatz bei der Ostsiedlung ersetzen würden.52 Denn Anfang 1942 lebten nur noch 49 Besprechungsprotokoll S. 8, vgl. Dokument 4.7 in diesem Band. 50 Dienstkalender Heinrich Himmlers, S. 326 f. (Eintrag unter 25.1.1942). 51 Fernschreiben Himmlers an Glücks, 26.1.1942, BA, NS 19/1920, fol. 1 (NO-500), als Faksimile auch in: Johannes Tuchel, Die Inspektion der Konzentrationslager 1938–1945. Das System des Terrors, Berlin 1994, S. 87. Zur Datierung des Dokuments auf den 25. oder 26.1.1941 vgl. Schulte, Zwangsarbeit und Vernichtung, S. 360 f., Anm. 135. 52 Vgl. Robert Jan van Pelt/Debórah Dwork, Auschwitz. Von 1270 bis heute, Zürich 2000, S. 330 f.; Schulte, »Vom Arbeits- zum Vernichtungslager«, S. 59 f.; Schulte, »Wannsee-Konferenz«, S. 80.
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wenige Hundert dieser Soldaten in den Lagern der SS. Und auch von der Wehrmacht konnte die SS keine neuen Zuweisungen erwarten, denn in deren KriegsgefangenenStammlagern waren die sowjetischen Soldaten ebenfalls vernachlässigt und unmenschlich behandelt worden und daher massenweise gestorben.53 Da sowjetische Kriegsgefangene also nicht mehr zur Verfügung standen, erschien es als ein Ausweg, nun zur Deportation anstehende Juden als Zwangsarbeiter für die vorgesehene Ostsiedlung zu verpflichten. Zum Zeitpunkt des Befehls Himmlers gab es kein anderes SS-Projekt, das eine vergleichbare Zahl an Gefangenen einsetzen konnte. Weder die private noch staatliche Rüstungsindustrie und auch nicht der SS-Wirtschaftskonzern, dem Pohl vorstand, benötigten diese exorbitante Zahl von Arbeitskräften. In der Nähe von Auschwitz baute die IG Farbenindustrie AG zwar ein Werk der synthetischen Treibstoffindustrie auf, doch wurden für 1942 nicht mehr als 3.000 KZ-Häftlinge als Zwangsarbeiter eingeplant.54 Ebenfalls in dieser Größenordnung bewegte sich ein Kontingent, das Himmler kurz nach der Wannsee-Konferenz dem für die Luftrüstung zuständigen Generalluftzeugmeister, Generalfeldmarschall Erhard Milch, zugesagt hatte. Am 24. Januar hatten sich beide im Führerhauptquartier getroffen; drei Tage später erläuterte Milch seinen Amtschefs das Ergebnis der Besprechung. Der Reichsführer-SS habe »sich bereit erklärt, der Luftwaffe Arbeitskräfte in größerem Umfange zur Verfügung zu stellen«.55 Zunächst sollten 4.000 männliche KZ-Häftlinge bereitgestellt werden, bald darauf wurden noch 5.000 Frauen versprochen.56 Ob Himmler hierbei an die neu einzuweisenden jüdischen Deportationsopfer dachte, ist eher unwahrscheinlich, da sie nach Auschwitz, also an die Peripherie des Reiches, gebracht werden sollten, und gerade nicht für einen Arbeitseinsatz bei Rüstungsfirmen im Altreich zur Verfügung standen.57 Die Anfrage Milchs zeigte aber, wie der Druck auf Himmler und die SS stieg, KZ-Häftlinge für Rüstungsaufgaben bereitzustellen. In Zukunft würde die SS die Gefangenen nicht mehr nur bei ihren eigenen Projekten einsetzen können. Umso wichtiger wurde es, genügend Zwangsarbeiter für die aus der Sicht Himmlers zentralen Ostbaupläne bereitzustellen. Der Termin, zu dem Himmler Pohl am 28. Januar zitiert hatte, stand daher auch ganz im Zeichen des »vorläufige[n] Friedensbauprogramm[s]«, das die SS-Bauprojekte gerade auch in Ostmittel- und Osteuropa umfasste und wofür Pohl verantwortlich war. Eine im Dezember 1941 eingereichte Übersicht, die der SS-Bauchef Hans Kammler aufgestellt hatte, erschien Himmler als nicht ausreichend: »Ich glaube [,] daß dabei die ganz enormen Bauten, die wir für Waffen-SS, Allgemeine-SS und Polizei erstellen wollen, noch 53 Vgl. Anm. 25. 54 Vgl. Bernd C. Wagner, IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz 1941–1945, München 2000, S. 63. 55 Zit. nach Lutz Budraß, »Das Heinkel-Werk in Budzyn 1942–1944«, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2004/1, S. 41–64, hier S. 50. 56 Vgl. ebenda., S. 50 f. 57 Vgl. ebenda., S. 51.
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nicht mitgerechnet sind.«58 Zugleich wies er Pohl darauf hin, dass die SS ihre eigenen Bauhandwerker rekrutieren müsse, denn sonst könnten die umfangreichen Bauarbeiten nicht durchgeführt werden. Zwangsarbeiter für die Ostsiedlung zu beschaffen, hatte also weiterhin höchste Priorität.59 Kammler reagierte umgehend auf die Kritik des Reichsführers-SS und legte auf Befehl Pohls bereits am 10. Februar einen neuen Vorschlag vor. Insbesondere beschäftigt er sich mit der Organisation und dem Umfang der einzusetzenden Bau-Zwangsarbeiter. Indem er die Entwicklung der Zwangsarbeiterpläne seit Sommer 1941 nachvollzog, forderte er für das Jahr 1942 insgesamt 175.000 »Häftlinge, Kriegsgefangene, Juden usw.« für die SS-Bauprojekte.60 Da die Forderung Kammlers die aktuelle Belegstärke in den Konzentrationslagern um ein Vielfaches übertraf, machen seine Überlegungen selbst theoretisch nur Sinn, wenn er die von Himmler angekündigten 150.000 verschleppten Juden miteinbezog. Die für Auschwitz vorgesehenen und anstelle der sowjetischen Kriegsgefangenen einzuweisenden jüdischen Deportierten sollten also, dies machte Kammlers Bauprogramm nochmals deutlich, explizit bei dem Bauvorhaben im Rahmen der SS-Ostsiedlung eingesetzt werden. Im Licht dieser Überlegungen ist auch eine Einlassung in einer Rede Heydrichs am 4. Februar 1942 in Prag zu interpretieren. 14 Tage nach der Wannsee-Konferenz erläuterte er einer ausgewählten Gruppe leitender Angehörige der deutschen Protektoratsregierung, dass die »Konzentrationslager der Russen« im sogenannten Eismeer-Raum ihm als »ideales Heimatland« für die aus Europa zu deportierenden Juden galten.61 Wenn Heydrich hier auch keinen klaren Plan vorstellte, so zeigten seine Ausführungen doch, dass in dieser Phase Überlegungen angestellt wurden, hunderttausende, vielleicht Millionen jüdische Arbeitskräfte in Konzentrationslagern zusammenzufassen und im »Osten« für die SS arbeiten zu lassen.62 Dass die Pläne für die Ostsiedlung auch bis zum Sommer 1942 weiterhin virulent blieben, unterstrich nicht nur der Generalplan Ost, der in diesem Zeitraum vorgelegt wurde, sondern auch eine programmatische Rede Himmlers vom 9. Juni 1942. Er hielt sie anlässlich der Beerdigung Reinhard Heydrichs, der im Reichsprotektorat einem Attentat zum Opfer gefallen war. Vor den angereisten SS-Oberabschnittsführern und Hauptamtschefs betonte der Reichsführer-SS noch einmal, aber auch gleichzeitig zum letzten Mal
58 Himmler an Pohl, 31.1.1942, Institut für Zeitgeschichte, MA 1555/111, Bl. 588–589 (Nürnberger Dokument NID-13613). 59 Vgl. Schulte, Zwangsarbeit und Vernichtung, S. 344 f. 60 Vorschlag Kammlers, 10.2.1942, BAB, NS 19/2065. Vgl. Schulte, Zwangsarbeit und Vernichtung, S. 345–347. 61 Heydrichs Ansprache an die leitenden Funktionäre der Besatzungsbehörde im Protektorat, 4.2.1942, in: Deutsche Politik im »Protektorat Böhmen und Mähren« unter Reinhard Heydrich 1941–1942. Eine Dokumentation, herausgegeben von Miroslav Kárný u.a., Berlin 1997, S. 221–234, hier S. 229. 62 Vgl. Roth, »Generalplan Ost«, S. 40 f.; Schulte, »Wannsee-Konferenz«, S. 82 f.
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an prominenter Stelle, welche Bedeutung er einer genügenden Zahl von Zwangsarbeitern zumaß: »Das dritte große Problem für den Frieden ist die Siedlung. [...] Wenn wir nicht die Ziegelsteine hier schaffen, wenn wir nicht unsere Lager mit Sklaven vollfüllen – in diesem Raum sage ich die Dinge sehr deutlich und sehr klar –, mit Arbeitssklaven, die ohne Rücksicht auf irgendeinen Verlust unsere Städte, unsere Dörfer, unsere Bauernhöfe bauen, dann werden wir auch nach einem jahrelangen Krieg das Geld nicht haben, um die Siedlungen so auszustatten, daß wirklich germanische Menschen dort wohnen und in der ersten Generation verwurzeln können.«63 Hinsichtlich der Herkunft der Gefangenen blieb Himmler vage. Denn die von ihm im vergangenen Jahr immer wieder neu aufgelegten Pläne, bestimmte Zwangsarbeitergruppen in die Konzentrationslager einzuweisen und für die Ostsiedlung bereitzustellen, waren zum Zeitpunkt seiner Rede komplett gescheitert. Auch die jüdischen Deportationsopfer standen nicht mehr zur Verfügung. Himmler hatte sich im Kreis gedreht. Woher die Zwangsarbeiter kommen sollten, war im Juni 1942 genauso unklar wie im Jahr zuvor.
Zwangsarbeit und Vernichtung 1942: Auschwitz und Lublin Dabei waren Heydrich, Eichmann und das RSHA Anfang 1942 tatsächlich daran gegangen, jüdische Zwangsarbeiter nach Auschwitz-Birkenau und Lublin zu verschleppen. Allerdings kamen die ersten Gefangenen nicht aus dem Deutschen Reich oder den eingegliederten Gebieten, sondern aus der Slowakei und Frankreich. Sie wurden, wie in Himmlers Befehl an Glücks angekündigt, in die beiden Lager eingewiesen, die ursprünglich mit sowjetischen Kriegsgefangenen belegt werden sollten. Um jüdische Zwangsarbeiter aus der Slowakei zu erhalten, wandte sich das RSHA auf Weisung Himmlers zunächst an das Auswärtige Amt. Dieses sollte die slowakische Regierung bitten, »20.000 junge, kräftige slowakische Juden aus der Slowakei zur Abschiebung nach dem Osten zur Verfügung zu stellen«.64 13.000 dieser Personen sollten nach Lublin, die anderen nach Auschwitz deportiert werden. Nachdem die Regierung in Bratislava zugestimmt hatte, verließ in der Nacht vom 25. auf den 26. März 1942 der erste Zug mit 1.000 jüdischen Frauen die Slowakei in Richtung Auschwitz. Bis zum 5. April wurden mit acht Transporten, die je zur Hälfte nach Auschwitz und Lublin gingen, insgesamt 8.000 junge Männer und Frauen deportiert. Am 11. April allerdings verließ ein erster Familientransport Tyrnau (Trnava) in der Slowakei. Seit dieser Zeit trafen in Lublin und in Auschwitz neben jüngeren Juden auch immer mehr ältere Familienangehörige und Kin-
63 Rede Himmlers, 9.6.1942, in: Heinrich Himmler. Geheimreden 1933–1945, herausgegeben von Bradley F. Smith und Agnes F. Peterson, Frankfurt am Main 1974, S. 146–161, hier S. 158 f. 64 Zit. nach Dienstkalender Heinrich Himmlers, S. 349, Anm. 62.
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der ein.65 Die ursprünglichen Pläne Himmlers und des RSHA, nur arbeitsfähige Juden zu deportieren, wurden offensichtlich abgeändert. Von wem die Initiative ausging, ist dabei nicht eindeutig zu bestimmen. Aus ideologischen und wirtschaftlichen Gründen hatte die slowakische Regierung ein Interesse daran, nicht nur die leistungsstarken Jahrgänge, sondern mit ihnen die gesamte jüdische Bevölkerung auszuweisen. Wenn auch nicht zu Beginn der Deportationen, so deckte sich dieses Interesse wohl zunehmend mit Überlegungen des RSHA, die Juden aus der Slowakei in Gänze zu deportieren.66 Parallel zu den Verhandlungen mit der Slowakei hatte das RSHA am 4. März 1942 auch die Deportation von Juden aus Frankreich befohlen, bei denen es sich »zunächst um männliche, arbeitsfähige Juden, nicht über 55 Jahren« handeln sollte.67 Während aus der Slowakei seit dem 11. April auch Familientransporte in die Konzentrationslager rollten, wurden in sechs Transporten aus Frankreich zunächst am 27. März und dann vom 7. Juni bis 19. Juli 1942 fast ausschließlich arbeitsfähige jüdische Männer nach Auschwitz verschleppt.68 Wie die Transporte aus der Slowakei und Frankreich zeigen, war die Deportationspolitik seit dem April 1942 nicht mehr einheitlich. Zumindest partiell scheint eine Änderung vorgenommen worden zu sein: Von der Maßgabe, nur arbeitsfähige Juden nach Auschwitz und Lublin zu verschleppen, wurde jedenfalls bei den aus der Slowakei vertriebenen Juden massiv abgewichen. Da den SS-Dienststellen in Auschwitz und Lublin aber zunächst nur arbeitsfähige, jüngere Juden angekündigt worden waren,69 mussten die örtlich Verantwortlichen auf die neue Situation jeweils eigenständig reagieren. Sie lösten das Problem auf unterschiedliche, letztlich aber vergleichbare Weise. In Lublin wurden aus den eintreffenden Familientransporten die als »arbeitsfähig« klassifizierten jüdischen Männer ausgewählt. Sie kamen in das noch immer als Kriegsgefangenenlager bezeichnete und im Aufbau befindliche Lager. Die Auswahl übernahmen vermutlich Angehörige des Stabs des SS- und Polizeiführers Globocnik. Mit wahrscheinlich 20 von insgesamt 34 Familientransporten, die bis Mitte Juni im Distrikt Lublin eintrafen, verfuhr die SS auf diese Weise. Dass nicht alle Transporte überprüft wurden, verweist auf den improvisierten Charakter der Maßnahme. In Zusammenarbeit mit der 65 Vgl. Helmut Heiber, »Das Deutsch-slowakische Verhältnis 1941–1943 und seine Rückwirkung auf die slowakische Judenpolitik«, in: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1966, S. 61–92, hier S. 74 f.; Ladislav Lipscher, Die Juden im Slowakischen Staat 1939–1945, München u.a. 1980, S. 99–116; Yehoshua Büchler, »The Deportation of Slovakian Jews to the Lublin District of Poland in 1942«, in: Holocaust and Genocide Studies 6 (1991), H. 2, S. 151–166; Tatjana Tönsmeyer, Das Dritte Reich und die Slowakei 1939–1945. Politischer Alltag zwischen Kooperation und Eigensinn, Paderborn u.a. 2003, S. 147–152. 66 Vgl. Lipscher, Juden, S. 109; Büchler, Deportation, S. 152; Dienstkalender Heinrich Himmlers, S. 349, Anm. 62; Tönsmeyer, Slowakei, S. 148 f. 67 Zit. nach Schulte, Vom Arbeits- zum Vernichtungslager, S. 62. 68 Vgl. ebenda, S. 62 f. 69 Vgl. Büchler, Deportation, S. 153.
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Zivilverwaltung wurden die Familienangehörigen wie auch die Deportierten aus den nicht überprüften Transporten auf verschiedene Orte im Distrikt Lublin verteilt. Die dort lebenden Juden waren unmittelbar vorher umgebracht worden. Wie zuvor in Minsk und Riga nahmen die in den Distrikt Lublin Deportierten den Platz der ehemals dort lebenden autochthonen Juden ein, bis auch sie in die Vernichtungslager der »Aktion Reinhard« verschleppt wurden.70 In Auschwitz stellte sich die Situation anders dar. Hier trafen zugleich Transporte ein, die, wie die ersten vier aus der Slowakei und diejenigen aus Frankreich, zunächst nur arbeitsfähige Juden nach Auschwitz schafften, und andere, deren jüdische Insassen nur zur Vernichtung überstellt wurden. Zur letztgenannten Gruppe gehörten als »arbeitsunfähig« klassifizierte Juden aus den schlesischen Schmelt-Arbeitslagern und seit Mai Transporte von ostoberschlesischen Juden. Parallel hierzu wählte die Lager-SS »arbeitsunfähige« und kranke Auschwitz-Häftlinge aus und ermordete sie in den provisorischen Vergasungsanstalten.71 Der Mord durch das Giftgas Zyklon B war bereits im Herbst 1941 an sowjetischen Kriegsgefangenen ausprobiert worden.72 Auch in dieser Hinsicht folgten die Juden den Sowjetsoldaten. Die vermutlich ersten Gruppen von Juden, die in der provisorischen Gaskammer des Krematoriums im Stammlager Auschwitz umgebracht wurden, bestanden seit Anfang 194273 aus denjenigen Menschen, die in den Schmelt-Lagern als »arbeitsunfähig« aussortiert worden waren. Sybille Steinbacher hat darauf hingewiesen, dass die Organisation Schmelt als erste »das Unterscheidungsprinzip nach ›Arbeitsfähigen‹ und ›Arbeitsunfähigen‹ institutionalisierte«.74 Deren Vorgehen kann daher als Vorläufer der Selektionen in Auschwitz gelten. Vermutlich im Februar/März 1942 wurden Vorbereitungen getroffen, den Mord durch Giftgas auch in Birkenau durchzuführen. Jan-Robert 70 Vgl. Büchler, Deportation; Pohl, »Judenpolitik«, S. 118 f.; Schulte, »Wannsee-Konferenz«, S. 86. 71 Nach Danuta Czech, Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939–1945, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 206, fand in Birkenau zum ersten Mal am 4. Mai 1941 eine »Selektion« von kranken Häftlingen statt. 72 Vgl. Steinbacher, »Musterstadt«, S. 277, Anm. 127; dies., Auschwitz. Geschichte und Nachgeschichte, München 2004, S. 70 f. 73 Vgl. Jan-Robert van Pelt, »Auschwitz«, in: Morsch/Perz, Neue Studien zu nationalsozialistischen Massentötungen, S. 196–218, hier S. 204. Pelt/Dwork, Auschwitz, S. 334, verweisen auf einen Transport, der Mitte Februar 1942 in Auschwitz eintraf. Steinbacher, »Musterstadt«, S. 174 geht davon aus, dass Mitte November 1941 die Selektionen in Schmelt-Lagern und die Deportation nach Auschwitz begannen. Aleksandra Namysło/Martin Dean berichten, dass Anfang 1942 einige hundert Juden aus den Städten Ostoberschlesiens nach Auschwitz deportiert worden seien. Vgl. Aleksandra Namysło/ Martin Dean, »Eastern Upper Silesia Region« (Ost-Oberschlesien), in: The United States Holocaust Memorial Museum, Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933–1945, herausgegeben von Geoffrey P. Megargee und Martin Dean, vol. 2, part A, Bloomington u.a. 2012, S. 132–137, hier S. 135 (folgend zit. als Encyclopedia of Camps and Ghettos). Der Verfasser bedankt sich bei Geoffrey P. Megargee für die Erlaubnis, einige Druckmanuskripte vor der Veröffentlichung einzusehen. 74 Steinbacher, »Musterstadt«, S. 277.
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van Pelt nimmt an, dass Hans Kammler bei seinem Besuch in Auschwitz am 27. Februar nicht nur den Befehl gab, das zunächst für das Stammlager projektierte Krematorium nun in Birkenau zu errichten, sondern auch ein Bauernhaus in Birkenau in eine Gaskammer umzubauen. In diesem »roten Haus« oder »Bunker 1« wurden, wie Pelt schreibt, zum ersten Mal am 20. März Juden vergast. Sie stammten ebenfalls aus einem Transport »arbeitsunfähiger« Schmelt-Zwangsarbeiter.75 Die bis dato größte Mordaktion begann am 12. Mai 1942.76 Ihr fielen bis August 1942 fast 35.000 ostoberschlesische Juden zum Opfer.77 Hierbei handelte es sich überwiegend um alte, kranke und arbeitslose Menschen, um Frauen und Kinder – also um Personen, die nach den Maßstäben der SS nicht produktiv eingesetzt werden konnten. Sie erfüllten dieselben Kriterien wie die »arbeitsunfähigen« Zwangsarbeiter aus den SchmeltLagern, die in Auschwitz umgebracht wurden. Tatsächlich standen die neuen, in großem Maßstab durchgeführten Verschleppungen in engem Zusammenhang mit dieser Organisation. Nicht nur stammten die Deportierten aus den Ghettos und Wohnbezirken, aus denen auch die Dienststelle Schmelt ihre jüdischen Zwangsarbeiter rekrutierte. Sondern zumindest an einigen Orten entschieden auch Funktionäre der Organisation Schmelt, namentlich SS-Obersturmbannführer Friedrich Karl Kuczynski,78 über die Auswahl der 75 Vgl. Pelt/Dwork, Auschwitz, S. 334 f.; Pelt, »Auschwitz«, S. 206 f. 76 Bei der Angabe, ein Transport wäre bereits am 15.2.1942 aus Beuthen, abgegangen, die sich in Rudolf Höß, Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen, herausgegeben von Martin Broszat, 12. Aufl., München 1989, S. 127, Anm. 3 findet, handelt es sich um einen Schreiboder Übertragungsfehler. Tatsächlich verließ der erste Transport Beuthen erst am 14.5.1942. Vgl. Schulte, »Wannsee-Konferenz«, S. 87 f., Anm. 134. 77 Nach Franciszek Piper trafen schon am 5.5.1942 630 Juden aus Dąbrowa Górnicza (Dombrowa) im Lager ein. Möglicherweise ist ein präzises Datum aber nicht zu nennen. Die Encyclopedia of Camps and Ghettos gibt jedenfalls nur den Monat Mai an. Vermutlich begannen die umfangreichen Deportationen und Mordaktionen erst am 12.5.1942, als mehrere tausend Juden aus Sosnowitz und Bendzin (Będzin) nach Auschwitz-Birkenau transportiert wurden. Gemäß dem Auschwitz-Kalendarium wurden die 1.500 Personen aus Sosnowitz noch am selben Tag im Bunker 1 ermordet. Vgl. Czech, Kalendarium, S. 211; Fanciszek Piper, Die Zahl der Opfer von Auschwitz, Oświęcim 1993, S. 183; Steinbacher, »Musterstadt«, S. 286; Aleksandra Namysło, »Dąbrowa Górnicza«, in: Encyclopedia of Camps and Ghettos, vol. 2, part A, S. 149–152, hier S. 151; Namysło/Dean, »Eastern Upper Silesia Region«, S. 135. 78 Er führte zumindest fünf Selektionen durch: am 10.5.1942 in Sosnowitz, am 10.6.1942 in Olkusz, am 16./17.6.1942 in Zawiercie, Ende Juni in Sucha und am 12.8.1942 in Dąbrowa Górnicza. In Sucha und in einer weiteren Kleinstadt, Sławków, war vermutlich auch der stellvertretende Leiter der Dienststelle Schmelt, Heinrich Lindner, an der Selektion beteiligt. Vgl. Natan Eliasz Szternfinkiel, Zagłada Żydów Sosnowca, Katowice 1946, S. 33 (für die Übersetzung der entsprechenden Passagen aus dem Polnischen bedanke ich mich bei Tytus Jaskulowski, Dresden); Aleksandra Namysło/Martin Dean, »Olkusz«, in: Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933–1945, vol. 2, part A, S. 157–160, hier S. 158; dies., » Sławków«, in: ebenda, S. 160–162, hier S. 161; Samuel Fishman, »Sucha«, in: ebenda, S. 167–169, hier S. 168; Aleksandra Namysło, »Zawiercie«, in: ebenda, S. 174–176, hier S. 175; dies., »Dąbrowa Górnicza«, S. 151.
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Opfer. Wie bei den Schmelt-Arbeitern wurde die Unterscheidung in »Arbeitsfähige« und »Arbeitsunfähige« bereits vor der Deportation nach Auschwitz getroffen, weshalb die dort Ankommenden unterschiedslos ermordet wurden. Offensichtlich beeinflusst von frühen Deportationen aus den Schmelt-Lagern, schien der Versuch, die »Unproduktiven« loszuwerden und in Auschwitz(-Birkenau) ermorden zu lassen, in Ostoberschlesien Schule gemacht zu haben. Bei den Deportationen vom Mai bis August 1942 handelte es sich folglich um eine regionale Mordaktion, der die als »arbeitsunfähig« Klassifizierten zum Opfer fielen.79 Sie kann als Schrittmacher für Selektionsmaßnahmen großen Maßstabs gelten; eine umfassende Ermordung aller in der Region lebenden Juden war damit aber noch nicht verbunden. Erst ein Jahr später wurden auch die ostoberschlesischen Ghettos liquidiert.80 Ein erstes umfangreiches Vernichtungsprogramm begann in Auschwitz also bereits im Mai 1942. Ein Zwangsarbeiterpool für die Ostsiedlung konnte nicht gebildet werden. Zu wenige Häftlinge trafen in Auschwitz ein, und diese fielen innerhalb kürzester Zeit den menschenverachtenden Bedingungen und der Brutalität der Wachmannschaften zum Opfer. Gleichzeitig wurden die Tötungseinrichtungen ausgebaut und begannen erste systematische Mordaktionen, ohne dass allerdings klar erschien, in welchem Umfang diese fortgesetzt werden sollten. Die vorgesetzten Dienststellen der Konzentrationslager in Berlin und Oranienburg befanden sich ebenfalls in einer Übergangsphase. Am 16. März war die Inspektion der Konzentrationslager dem SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt unterstellt worden. Mit dieser Reorganisation verfolgten Himmler und Pohl das Ziel, mehr Häftlinge in Rüstungsfertigungen, vor allem unter SS-Kontrolle, einzusetzen. In den folgenden Wochen erließ Pohl hierzu grundlegende Befehle. Eine Zwangsarbeit der Gefangenen für Ostbauaufgaben rückt daher in immer weitere Ferne, wurde aber nicht offiziell ad acta gelegt.81 Für das SS-Personal in Auschwitz wurde die systematische Ermordung jüdischer Verschleppter schon in den ersten Monaten des Jahres 1942 zunehmend zur Routine. Zum größten Teil wurde bereits in dieser Phase die Ermordung unter Rückgriff auf deren vermeintliche »Arbeitsunfähigkeit« legitimiert. Es war also nur noch ein kleiner Schritt, den 79 Ähnlich der Massenmord des Herbstes 1941 in den wartheländischen Landkreisen. Vgl. Alberti, Reichsgau Wartheland, S. 412–419. 80 Vgl. Szternfinkiel, Zagłada Żydów Sosnowca, S. 32–36; Piper, Zahl, S. 183; Steinbacher, »Musterstadt«, S. 285 f.; Christopher Browning, »Introduction«, in: Encyclopedia of Camps and Gettos, vol. 2, part A, S. XXVII–XXXIX, hier S. XXXVII; Namysło/Dean, »Eastern Upper Silesia Region«, S. 135, sowie die Beiträge von dies. zu Bielsko-Biała und Olkusz, in: ebenda, S. 143–146, 157–160; sowie von Aleksandra Namysło zu Będzin, Chrzanów, Dąbrowa Górnicza, Sosnowiec, Zawiercie, in: ebenda, S. 140–143, 146–152, 162–166, 174–176. 81 Vgl. Schulte, Zwangsarbeit und Vernichtung, S. 197–216, 347–351, 365 f., 376–378, 386–389. Zu unterschiedlichen Interpretationen des historischen Ortes von Auschwitz in der Genesis des Völkermordes an den europäischen Juden siehe z.B. Dan Stone, Histories of the Holocaust, Oxford 2010, S. 154–157.
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es brauchte, um die Sprachregelung »arbeitsunfähig« auf die Familientransporte anzuwenden, die seit April 1942 aus der Slowakei und seit Juli 1942 aus den westeuropäischen Staaten kamen und deren Insassen gemäß den ursprünglichen Überlegungen nicht umgebracht werden sollten.82 Die schließlich für alle Deportationstransporte geltende Arbeitsfähigkeitsrhetorik gab der Lager-SS einen maximalen Ermessensspielraum und erlaubte es, die Transporte einem letztlich nur vordergründig utilitaristisch motivierten Selektionsprozess zu unterziehen.83 Als Himmler am 17. Juli 1942 den KZ-Komplex Auschwitz besuchte, nahm er auch an der ersten »Selektion« von verschleppten westeuropäischen Juden in »Arbeitsfähige« und »Arbeitsunfähige« teil.84 Es handelte sich dabei um zwei Transporte mit 2.000 Juden aus den Lagern Westerbork und Amersfoort in den Niederlanden. 1.251 Männer und 300 Frauen wurden ins Lager eingewiesen, die übrigen 449 Menschen in den Gaskammern ermordet.85 Durch seine Anwesenheit sanktionierte der Reichsführer-SS die vom Lagerkommandanten Rudolf Höß und dem SS-Lagerpersonal vorgeschlagene Methode. Diese »Zustimmung durch Anwesenheit« empfand auch Höß, wie seinen, allerdings häufig wenig zuverlässigen autobiografischen Nachkriegsaufzeichnungen zu entnehmen ist.86 Erst Himmlers Besuch legte fest, dass Auschwitz künftig auch als Vernichtungszentrum für die westeuropäischen Juden dienen würde. Am Mittag des 18. Juli flog der Chef der SS weiter nach Lublin. Sein dortiger Aufenthalt hatte zwei Ziele. Einerseits wünschte er die deutschen Ansiedlungen in der Region voranzutreiben, zum anderen gab er Krüger und Globocnik den Befehl, bis auf wenige Ausnahmen die Juden des Generalgouvernements bis Jahresende umzubringen. Ein zuvor vom WVHA und der zuständigen Rüstungsinspektion angedachter Arbeitseinsatz der jüdischen Bevölkerung spielte nun keine Rolle mehr.87 82 Am 29.4.1942 wurde ein erster Transport aus der Slowakei »selektiert«. Vgl. Piper, Zahl, S. 195; Franciszek Piper, »Vernichtung«, in: Wacław Długoborski/ders. (Hg.), Auschwitz 1940–1945. Studien zur Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, Bd. 3, Oświęcim 1999, S. 166. Das Auschwitz-Kalendarium verweist darauf, dass erst am 4. Juli eine erste Selektion eines slowakischen Transports durchgeführt worden sei. Vgl. Czech, Kalendarium, S. 241 f.; siehe auch Steinbacher, »Musterstadt«, S. 278. Pelt vermutet, dass erst nachdem die Errichtung der als Bunker 1 bezeichneten Gaskammer in Birkenau angeordnet worden war, die SS Familientransporte aus der Slowakei zuließ. Doch ging die Mehrzahl der Familientransporte nicht nach Auschwitz, sondern nach Lublin. Nach Pelt wären erst am 20.6.1942 341 Menschen aus einem slowakischen Transport im Bunker 1 vergast worden. Vgl. Pelt/Dwork, Auschwitz, S. 335 f.; Pelt, »Auschwitz«, S. 206 f. 83 Vgl. Schulte, »Wannsee-Konferenz«, S. 88. 84 Vgl. Dienstkalender Heinrich Himmlers, S. 491–493 (Eintrag unter 17.7.–18.7.1941). 85 Vgl. Czech, Kalendarium, S. 250. 86 Vgl. Höß, Kommandant, S. 161. 87 Vgl. Dienstkalender Heinrich Himmlers, S. 493–497 (18.–20.7.1942); Helge Grabitz/Wolfgang Scheffler, Letzte Spuren. Ghetto Warschau, SS-Arbeitslager Trawniki, Aktion Erntefest, Fotos und Dokumente über die Opfer des Endlösungswahns im Spiegel historischer Ereignisse, 2. Aufl., Berlin 1993, S. 306 f.
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Jan Erik Schulte
Fazit In den Jahren 1941/42 benötigten Himmler und seine Planungsexperten für ihre Ostsiedlungsutopien hunderttausende Zwangsarbeiter. Sie sollten unter anderem in den Konzentrations- bzw. Kriegsgefangenenlagern Lublin und Auschwitz-Birkenau untergebracht werden. Dabei blieb das entscheidende Problem ungelöst, woher die Gefangenen kommen sollten. Die Wannsee-Konferenz bestätigte am 20. Januar 1942, dass mit Beginn der Deportation der Juden deren Arbeitseinsatz unter die alleinige Kontrolle der SS fallen würde. Diese Festlegung ermöglichte es der SS, Juden als Arbeitskräfte für die Ostsiedlung einzuplanen und die hierfür aufgebauten Lager in Lublin und Auschwitz-Birkenau als Zielorte jüdischer Deportationstransporte vorzusehen. Die Deportationszahlen blieben allerdings zunächst hinter den Erwartungen zurück. Anders als geplant, wurden zudem bald nicht nur so genannte Arbeitsfähige in die beiden Lager verschleppt. Die örtliche SS stand daraufhin vor dem Problem, wie mit den aus ihrer Sicht überzähligen Personen zu verfahren sei. Durch einen Transfer von Praktiken, die in Ostoberschlesien eingeübt worden waren, und durch die Initiative von unten, also durch die Lager-SS, etablierte sich daraufhin in Auschwitz eine pseudoutilitaristische Arbeitsfähigkeitsrhetorik und darauf abgestimmte Praktiken, die die Ermordung von schließlich der Mehrzahl der Insassen aller ankommender Transporte erlaubten. Dabei scheint die zukünftige Entwicklung Auschwitz’ im Frühjahr 1942 noch in der Schwebe gehangen zu haben, denn das Lager sollte nach den ursprünglichen, niemals offiziell aufgegebenen Plänen als Arbeitskräftereservoir und nicht als Mordstätte dienen. Erst indem Himmler während seines Besuchs am 17. Juli 1942 die Methode der »Selektion« gerade bei einem Transport aus Westeuropa sanktionierte, legte er Auschwitz als zentrales Vernichtungslager für die Ermordung der europäischen Juden fest. Die Wannsee-Konferenz erwies sich als Schnittstelle zwischen den Ostsiedlungsplanungen, der hierfür vorgesehenen Ausbeutung jüdischer Arbeitskraft und dem Völkermord. Dabei schuf insbesondere der Arbeitseinsatz, der auf dem Treffen in die Verantwortung der SS übergeben worden war, in rhetorischer und praktischer Hinsicht wichtige Voraussetzungen für den Genozid an den europäischen Juden.
Andrej Angrick
Die inszenierte Selbstermächtigung? Motive und Strategie Heydrichs für die Wannsee-Konferenz1
In der Historiographie des Genozids an den europäischen Juden steht bis heute die Wannsee-Konferenz aus gutem Grund an herausragender Stelle. Das bewerten sowohl diejenigen Historiker so, die in ihr eine Etappe im Entscheidungsprozess sehen, alle Juden Europas schonungslos zu ermorden, als auch jene Historiker, denen sie als Endpunkt oder Echo des bereits stattgefundenen Entscheidungsprozesses gilt. Doch die Überlieferung von Quellen, die unmittelbar Informationen zu dieser Konferenz geben könnten, ist dürftig. Neben dem »Wannsee-Protokoll« – keinem Wortprotokoll, sondern einem redigierten Ergebnisprotokoll – gibt es an zeitgenössischem Material vor allem die mit der Festsetzung des Termins in Zusammenhang stehenden Einladungs-, Zusage- und Verschiebungsschreiben sowie die Ergebnisprotokolle der beiden Folgekonferenzen. 2 Über die Besprechung am Wannsee lassen uns die zeitgenössischen Quellen jedoch weitgehend allein. Erschwerend kommt hinzu, dass ein Großteil der Sitzungsteilnehmer am Ende des Dritten Reiches verstorben oder untergetaucht war oder es unterlassen wurde, sie wegen ihrer Teilnahme rechtzeitig zu befragen. Das Kriegsende hatten Reinhard Heydrich, Roland Freisler, Rudolf Lange, Martin Luther, Heinrich Müller und Alfred Meyer nicht überlebt. Freisler – bekannt geworden als blutrünstiger Präsident des Volksgerichtshofes3 – kam in dem auf Berlin niedergehenden Bombenhagel am 3. Februar 1945 ums Leben. Auch Heinrich Müller starb 1945 in Berlin, wenngleich sich noch jahrzehntelang Gerüchte hielten, er hätte sich ins Ausland abgesetzt.4 Lange beging, nachdem sowjetische Truppen die Verteidigungslinien durchbrochen hatten, in der Festung Posen am 23. Februar 1945 Selbstmord.5 Luther, als ehrgeiziger 1 Für Gespräche und Hinweise danke ich herzlich Christian Gerlach und Peter Klein. 2 Mark Roseman, Die Wannsee-Konferenz. Wie die NS-Bürokratie den Holocaust organisierte, München u.a. 2002. Die bisher beste Edition flankierender Dokumente und Aussagen ist enthalten in: Kurt Pätzold/Erika Schwarz, Tagesordnung: Judenmord. Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942, Berlin 1992, S. 79–200. Vgl. die Faksimiles hier im Dokumententeil. Das Protokoll wird nach der Nummerierung der 15 Seiten zitiert. 3 Walter Wagner, Der Volksgerichtshof im nationalsozialistischen Staat, erweiterte Neuausgabe, München 2011, S. 832–844. Pätzold/Schwarz, Tagesordnung, S. 217. 4 Andreas Seeger, »Gestapo-Müller«. Die Karriere eines Schreibtischtäters, Berlin 1996, S. 65–73, 173–180. 5 Andrej Angrick/Peter Klein, Die »Endlösung« in Riga. Ausbeutung und Vernichtung 1941–1944, Darmstadt 2006, S. 453–454.
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Andrej Angrick
Verschwörer gegen seinen Dienstherren Joachim von Ribbentrop im Februar 1943 entmachtet und seitdem Ehrengefangener im KZ Sachsenhausen, verstarb Anfang Mai 1945 in einem Berliner Krankenhaus.6 Gauleiter Meyer wollte auf keinen Fall in die Hände der Sowjets fallen und setzte im Mai 1945 seinem Leben ein Ende.7 Der ehemalige Befehlshaber der Sicherheitspolizei (BdS) in Krakau, Eberhard Schöngarth, überlebte zwar den Krieg, wurde aber 1946 wegen seines Einsatzes in den Niederlanden von einem britischen Militärgericht angeklagt und zum Tode verurteilt. Seine Hinrichtung erfolgte am 16. Mai 1946, also fast ein Jahr vor der Entdeckung des Protokolls.8 Andere, denen in Prozessen der Nachkriegszeit ihre Beteiligung an der WannseeKonferenz vorgehalten wurde, versuchten den eigenen Beitrag zu bagatellisieren. Dies trifft insbesondere auf den Staatssekretär Josef Bühler zu, der durch seine im Protokolltext festgehaltene Bitte, die »Judenfrage« im Generalgouvernement (GG)»so schnell wie möglich zu lösen«, stärker als andere belastet war. In seinem Prozess führte er aus, dass dieser Vorschlag im Interesse der Juden gelegen habe, da so ihre Umsiedlung, nicht aber die Ermordung forciert worden wäre. Eine plumpe Schutzbehauptung, die vom Höchsten Volksgerichtshof Polens zu Recht als unglaubhaft angesehen wurde.9 Gerhard Klopfer – Vertreter der Partei-Kanzlei – verhielt sich geschickt, gab allgemein nur das zu, was nicht zu leugnen war, und maß der Wannsee-Konferenz keine weitere Bedeutung bei. Er gab an, nicht einmal zu wissen, ob er bis zum Ende der Zusammenkunft geblieben sei. Klopfer wollte Glauben machen, dass es in Heydrichs Vortrag lediglich um die »Auswanderung der Juden« gegangen sei; ansonsten befiel ihn taktische Amnesie. Von dieser Linie wich er weder im Wilhelmstraßen-Prozess noch im Spruchkammerverfahren ab. Allein einzelne Kommentare zur Atmosphäre der Zusammenkunft – dass die Teilnehmer verteilt an einzelnen Tischen gesessen hätten und Heydrich auch beim Essen referiert habe – und zur sprachlichen Ausgestaltung des Protokolls ließ sich Klopfer noch entlocken.10 Ähnlich ist die Strategie Erich Neumanns zu bewerten. Er reklamierte für sich und seine Vierjahresplanbehörde, dass es für sie um den Erhalt der jüdischen Arbeitskräfte gegangen sei und er als Gegner der Vernichtungspolitik angesehen werden müsse.11 Tatsächlich stützte eine entsprechende Passage des Proto6 Pätzold/Schwarz, Tagesordnung, S. 229. 7 Die Leiche wurde am 15. Mai 1945 aufgefunden, die Identitätsklärung nahm fast ein Jahr in Anspruch. Siehe Heinz-Jürgen Priamus, Meyer. Zwischen Kaisertreue und NS-Täterschaft. Biographische Konturen eines deutschen Bürgers, Essen 2011, S. 427–434. 8 Pätzold/Schwarz, Tagesordnung, S. 240–241. 9 Vgl. das ins deutsche übertragene Typoskript: Sieben Urteile des Höchsten Volksgerichtshofes, herausgegeben von Tadeusz Cyprian und Jerzy Sawicki, Posen West-Institut 1962, in: 141 Js 192/60 der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Hamburg, Bd. 93, Bl. 19333–19418, hier Bl. 19411– 19412. 10 Markus Heckmann, NS-Täter und Bürger der Bundesrepublik. Das Beispiel des Dr. Gerhard Klopfer, Ulm 2010, S. 53, 58–59. 11 Pätzold/Schwarz, Tagesordnung, S. 237.
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kolls, die Neumann geschickt für seine Verteidigung zu nutzen vermochte, diese Einlassung.12 Die Nachfragen und Provokationen bei den Vernehmungen durch Robert M. W. Kempner im April 1947 prallten an ihm ab. Neumann verstarb, bevor sich die Justiz eingehender mit seiner Rolle beschäftigen konnte.13 Wilhelm Stuckarts Strategie passte sich geschmeidig der seiner Kollegen an, trotzdem wurde er im Wilhelmstraßen-Prozess auch wegen seiner Teilnahme an der Wannsee-Konferenz zu knapp vier Jahren Haft verurteilt.14 Diese galten durch die Untersuchungshaft als verbüßt. Es dürfte nachvollziehbar sein, warum Stuckart danach kein Interesse besaß, mit Details aufzuwarten. Eine Ausnahme bildete allein Friedrich Wilhelm Kritzinger, der sich nun seiner Dienste für das Regime schämte. Bei den von Kempner durchgeführten Vernehmungen erfuhr der schwerkranke Mann, dass er mit einer Anklage rechnen müsse. Dazu kam es jedoch nicht mehr; der einzige Sitzungsteilnehmer, der sich wahrscheinlich nicht nur rein taktisch verhalten hätte, verstarb im Oktober 1947.15 Von den überlebenden Teilnehmern kam somit kein erhellender Beitrag zu den Vorgängen am 20. Januar 1942. Schließlich überdeckten der Nürnberger Prozess und erste Deutungsdiskurse in der Nachkriegszeit – in denen Heydrich als potentieller Nachfolger Hitlers gehandelt wurde und Eichmann neben seinem Chef als »Herr der Endlösung« und als »persönlicher Beauftragter« Himmlers erschien – die Bedeutung der WannseeKonferenz.16 Lediglich Adolf Eichmann wurde viel später und als einziger Teilnehmer der
12 Besprechungsprotokoll S. 14, vgl. Dokument 4.7 in diesem Band. 13 Robert M. W. Kempner, Das Dritte Reich im Kreuzverhör. Aus den Vernehmungsprotokollen des Anklägers, Düsseldorf 1984, S. 188–193. 14 Das Urteil im Wilhelmstrassen-Prozess. Der amtliche Wortlaut der Entscheidung im Fall Nr. 11 des Nürnberger Militärtribunals gegen von Weizsäcker und andere mit abweichender Urteilsbegründung, Berichtigungsbeschlüssen, den grundlegenden Gesetzesbestimmungen, einem Verzeichnis der Gerichtspersonen und Zeugen und Einführungen von Robert M.W. Kempner und Carl Hansel, herausgegeben unter Mitwirkung von C.H. Tuerck, Schwäbisch Gmünd 1950, S. 162–169, Bezug im Urteilstext zur Wannsee-Konferenz S. 168. Hans-Christian Jasch, Staatssekretär Wilhelm Stuckart und die Judenpolitik. Der Mythos der sauberen Verwaltung, München 2012, S. 401–419; vgl. auch seinen Beitrag in diesem Band. 15 Pätzold/Schwarz, Tagesordnung, S. 222–223. 16 Siehe Günther Deschner, Reinhard Heydrich. Statthalter der totalen Macht, 3. Aufl., München 1986, S. 194–196. Zu Eichmann: IMT, Bd. 11, S. 286–287 (Protokoll vom 11.4.1946 – Ausführungen Oberst Amen), S. 307–308 (Protokoll vom 11.4.1946 – Aussage Kaltenbrunner), S. 451 (Protokoll vom 15.4.1946 – Aussage Höss) und S. 463–464 (Nachfragen Dr. Kaufmann an Höss). Wichtig ist, dass Höss Eichmann belastete, alle Befehle zu Massenhinrichtungen aus dem RSHA und von Himmler »persönlich damit beauftragten Eichmann« erhalten zu haben. Ausführlich: Bettina Stangneth, Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders, Hamburg 2011, S. 96–103; vgl. auch ihren Beitrag zur Glaubwürdigkeit von »Eichmanns Erzählungen« in diesem Band.
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Konferenz im Zuge seines Prozesses in Jerusalem 1960/61 intensiv zur Besprechung am Wannsee befragt.17 So gesehen fordert die Zusammenkunft vom 20. Januar die Analyse des Historikers besonders heraus, da er ihre Bedeutung im Machtgefüge des Regimes verorten und die tradierte Historiographie kritisch hinterfragen muss. Dies kann mit einigem Erfolg nur gelingen, wenn Heydrichs Rolle in dem seit 1939 changierenden Begriff der »Endlösung der Judenfrage« herausgearbeitet, die Zusammensetzung des Tagungsgremiums in der Sinnhaftigkeit des Ganzen analysiert, vor allem aber die Frage geklärt wird, wer, obwohl ebenfalls von Amtswegen mit dem Genozid betraut, nicht eingeladen war. Die Antwort dürfte zur Einordnung der Wannsee-Konferenz in Heydrichs Ambitionen im Machtgefüge der SS sowie in die Geschichte der Schoah hilfreich sein. Heydrich hatte am 24. Januar 1939 von Göring die Order erhalten, die »Judenfrage« durch verstärkte Auswanderung einer Lösung zuzuführen, was zu diesem Zeitpunkt noch nicht als Euphemismus für Massenmord zu interpretieren ist. Vielmehr legitimierte sich so die für den 11. Februar 1939 angesetzte Besprechung – mit anwesenden Vertretern der Sipo, des SD, des Auswärtigen Amtes, des Reichswirtschafts- wie des Reichsinnenministeriums, des Finanzministeriums und nicht zuletzt der Vierjahresplanbehörde – zur Etablierung der »Reichszentralstelle für jüdische Auswanderung«, mit den nach dem Muster von Wien geplanten Dependancen in Berlin, Breslau, Frankfurt am Main und Hamburg.18 Eine weitere, die Auswanderung bzw. den »Volkstumsaustausch« betreffende Besprechung erfolgte auf Einladung Heydrichs am 30. Januar 1940. Hier präsentierte er das RSHAReferat IV D 4 als treibende Kraft beim Abschub der Polen und Juden aus dem Warthegau in das Generalgouvernement bei gleichzeitiger »Platzschaffung« für die Balten- und Wolhyniendeutschen.19 Knapp ein Jahr später, am 8. Januar 1941, fand die hochkarätig besetzte Konferenz unter Heydrichs Vorsitz zur Aus- und Neuansiedlung der Polen und Juden statt. Bemerkenswert für unsere Fragestellung ist dabei, dass hier die Deportation von Juden aus dem Reichsgebiet, konkret von 60.000 Wienern, ein bedeutender Punkt der Tagungsordnung war. 20 Aus dieser Tradition der brutalen Verschiebung hunderttausender 17 Vgl. die Zusammenstellung aller seiner Aussagen zur Wannsee-Konferenz im Dokumententeil dieses Bandes. 18 Schreiben Heydrichs an das AA z.H. von Legationsrat Dr. Schumburg vom 14.2.1939 mit Anlage über die Arbeitsbesprechung vom 11.2.1939 im Geheimen Staatspolizeiamt zum Ausschuß über die Reichszentrale für die jüdische Auswanderung, gedruckt in: ADAP, Serie D, Bd. V, S. 786–788. Ebenda, S. 787, Fn. 1: Wiedergabe der Ermächtigung Heydrichs durch Göring vom 24.1.1939. 19 IV D 4 – III Es – Vermerk vom 30.1.1940, in: 141 Js 192/60 der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Hamburg, Bd. 11, Bl. 2092–2098. 20 So tagten unter Heydrichs Vorsitz der HSSPF im GG Krüger, zwei Mitglieder von der Regierung des GG, Vertreter des OKW, OKH, des Reichsverkehrsministeriums, des Reichswirtschaftsministeriums, des Reichsinnenministeriums, des RKF und des Gaues Wien im RSHA. Vgl. Bericht über die Besprechung betreffend Umsiedlung von Polen und Juden in das GG, in: IMT, Bd. 29, S. 487–491 (PS 2233).
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Familien speiste sich nämlich die später als selbstverständlich eingenommene Haltung des RSHA, die autorisierte Behörde für alle Verschleppungsprogramme zu sein. Gleichzeitig lässt sich an diesen Teilnehmerrunden auch zeigen, dass die Konferenz am Großen Wannsee nicht so einmalig in ihrer Zusammensetzung war. Von den Umsiedlungsplänen bis zur Aussiedlung in den Tod sollte es dann – logistisch betrachtet – nur ein kleiner Schritt sein. Es fehlte allein das radikalisierende Element zur Umwidmung bestehender Planungen. Einen Schritt zur Radikalisierung bewirkte das Treffen von Heydrich und Göring am 26. März 1941. Es erscheint als Vollzugsmeldung einer Allianz in Kompetenzfragen, da Heydrich einen Entwurf vorlegte, der mit einer »Änderung bezüglich der Zuständigkeit Rosenbergs« bei der »Lösung der Judenfrage« einherging, den Göring absegnete. Beide besprachen zudem, wen »die Truppe« beim Unternehmen Barbarossa »an die Wand zu stellen habe«.21 Neben den Amtschefs des RSHA ließ Heydrich das Besprechungspapier nur noch Eichmann zukommen, also demjenigen seiner Referenten, der später die Deportationen deutscher und westeuropäischer Juden sowie deren Aufnahme an den Zielorten zu organisieren hatte. Das Vertrauen zwischen dem Reichsmarschall und Heydrich war so gefestigt, dass Göring als zweiter Mann im Staat am 31.7.1941 Heydrich erneut beauftragte, »einen Gesamtentwurf über die organisatorischen, sachlichen und materiellen Vorausmaßnahmen zur Durchführung der angestrebten Endlösung der Judenfrage vorzulegen« – und zwar im »deutschen Einflussgebiet in Europa«.22 Werfen wir nun einen Blick auf die an den Wannsee geladenen Gäste bzw. die Behörden, die sie repräsentieren sollten: Obwohl das Propagandaministerium über die anstehende Konferenz informiert war, entsandte es keinen Repräsentanten. Auch der Höhere SS- und Polizeiführer (HSSPF) Ost im Generalgouvernement, SS-Obergruppenführer Friedrich-Wilhelm Krüger, erschien nicht. Heydrich und Krüger hatten jedoch bereits am 28. November 1941 in einer temporären Allianzbildung die Problematik »einer zentralen Bearbeitung der Judenangelegenheiten im Generalgouvernement« besprochen. Beide waren sich darin einig gewesen, dass der initiativfreudige Generalgouverneur und seine Verwaltung in die Schranken gewiesen werden mussten.23 Nach diesem Gespräch war es wohl für Krüger nicht mehr nötig, zur Sitzung eingeladen zu werden, da er die Auseinandersetzungen in Krakau zu führen gedachte.24 Für das projektierte Treffen bedeutete dies, dass Heydrich die Konflikte mit 21 RGVA Moskau, 500-3-795, Bl. 140–145: Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD vom 26.3.1941, Aktenvermerk, teilabgedruckt – auch die entsprechenden Passagen – in: Die Tätigkeits- und Lageberichte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, herausgegeben von Peter Klein, Berlin 1997, S. 367–368. 22 Vgl. im Dokumententeil Dok. 4.3 bzw. 5.1. 23 Vermerk Eichmanns vom 1.12.1941 über das Treffen Heydrich-Krüger am 28.11.1941 sowie die unterschiedlichen Entwürfe der Einladungen an Bühler und Krüger, in: Peter Klein, Die WannseeKonferenz vom 20. Januar 1942. Analyse und Dokumentation, Berlin 1995 S. 29–30. 24 Frank musste es später hinnehmen, dass Krüger zum Staatssekretär für das Sicherheitswesen im GG ernannt wurde und Himmlers Einfluss (nicht der des RSHA) somit stark an Bedeutung gewann. Das
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dem Vertreter der Zivilverwaltung aus dem GG nicht mit Hilfe des regionalen Stellvertreters Himmlers würde ausfechten müssen. Das lag genau auf der Linie von Heydrichs Konferenztaktik. Kein zweiter SS-Obergruppenführer und ihm gleichzeitig nicht unterstellter Entscheidungsträger aus der Exekutive von SS und Polizei würde neben ihm auf der Tagung eine Rolle spielen. Am 20. Januar sollte Heydrich dann bemerken, dass von Bühler ohnehin keine prinzipiellen Zweifel mehr an seine Federführung gerichtet waren. Auch andere Teilnehmer, wie etwa Freisler, passten von der Konferenzdramaturgie gut in Heydrichs Konzept, da Interessenidentitäten bestanden. Freisler stand als der für das Straf- und Erbrecht zuständige Staatssekretär im Reichsjustizministerium für eine eher ausgreifende Definition des Begriffs »Jude«, seine Stellungnahmen zu »Fremdrassigkeit«, »Rassenverrat« oder seine Vorstellungen von der harten Bestrafung von »Rasseschändern« deckten sich seit langem mit Heydrichs Vorstellungen.25 Das Gleiche gilt für Unterstaatssekretär Luther vom Auswärtigen Amt, der als Ansprechpartner seines Ministeriums über einen ständigen Draht zum RSHA verfügte und mit dessen Wünschen und Ideen Erwartungshaltungen an die Sitzung formuliert wurden, die keinen prinzipiellen Streit erwarten ließen.26 Auch Meyer und Leibbrandt vom Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, der Staatssekretär Stuckart vom Reichsministerium des Inneren, Gerhard Klopfer für die Partei- und Friedrich Wilhelm Kritzinger für die Reichskanzlei müssen zu denjenigen Personen gerechnet werden, die Heydrichs beanspruchte Federführung nicht grundsätzlich bestreiten würden. Ebenso von der Vierjahresplanbehörde Görings Staatssekretär Erich Neumann, der allgemein als dessen Zuträger wie Sprachrohr galt und dessen Ziel es war, das Tagungsthema nicht ohne Berücksichtigung wirtschaftlicher Fragen zu besprechen.27 Dieser Personenkreis stand für den Normenstaat, der die Verfolgungspolitik mittels Gesetzen, Verordnungen und Erlassen kanalisierte, der aber nicht mit dem außerhalb dieses Rahmens gewaltaufgeladenen Aktionismus der Sonderformationen in Verbindung gebracht werden konnte. Für die Vertreter des Normenstaats war die Behandlung der jüdischen »Mischlinge« im Deutschen Reich die zu diesem Zeitpunkt wohl umstrittenste Frage. Und vor allem hier traten – vertraut man dem Protokolltext – die Eingeladenen als betroffene Diskutanten aktiv in Erscheinung.28 Würde es Heydrich also gelingen, das seit Monaten schwelende »Mischlingsproblem« während der Sitzung im Konsens zu regeln, Diensttagebuch des deutschen Generalgouverneurs in Polen 1939–1945, herausgegeben von Werner Präg und Wolfgang Jacobmeyer, Stuttgart 1975, S. 467. 25 Cornelia Essner, Die »Nürnberger Gesetze« oder die Verwaltung des Rassenwahns 1933–1945, Paderborn 2002, S. 96–106 und 225–229. Pätzold/Schwarz, Tagesordnung, S. 214–217. 26 Nürnberger Dokument NG 2586: Aufzeichnung Rademachers an Unterstaatssekretär Luther: Referat D III Geheim, zu D III. 709g vom 8.12.1941. Vgl. Dok. 4.4 in diesem Band. 27 Richard Overy, Hermann Göring. Machtgier und Eitelkeit, 2. Aufl., München 1990, S. 220–221. 28 Dies hat Christian Gerlach völlig zu Recht herausgearbeitet: Christian Gerlach, Krieg, Ernährung Völkermord. Forschungen zur deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1998, S. 115–116.
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wenn auch nur im Sinne einer einvernehmlichen Verschiebung auf die Ebene der Fachreferate, so würde dies nur seiner eigenen, herausgehobenen Federführung nützen. Die Voraussetzungen für einen Erfolg Heydrichs hierbei schienen so schlecht nicht zu sein. Gauleiter Alfred Meyer und sein Mitarbeiter Leibbrandt waren zuvor in einer anderen Besprechung im Oktober 1941, in der es auch um die »Regelung der Judenfrage« ging, mit Heydrich zusammengetroffen. Dort hatten sie bereits – trotz einiger Differenzen – keinen prinzipiellen Widerspruch erhoben, dass »die Durchführung der Behandlung der Juden in jeder Beziehung sowieso in den Händen der Sicherheitspolizei« läge.29 Insofern dürfte deren Erwartungshaltung beim Januartreffen 1942 vor allem einer Konkretisierung der vom RSHA geplanten Maßnahmen zur Regelung der »Mischlingsfrage« gegolten haben; Widerstand gegen prinzipielle Zuständigkeiten war von beiden nicht mehr zu erwarten. Wenden wir uns nun den teilnehmenden SS- und Polizeimitgliedern zu. Heydrich referierte vor den Anwesenden in bewusster Erwähnung seiner Stellvertretung Himmlers, dem »die Federführung bei der Bearbeitung der Endlösung der Judenfrage« und zwar »ohne Rücksicht auf geographische Grenzen« oblag. Heydrich berief sich also hinsichtlich seiner Legitimation auf Göring und Himmler. Seine Ausführungen – so wie sie im Protokoll erscheinen, wobei er penibel darauf achtete, dass diese genau im Sinne seiner Strategie abgefasst wurden – verstellen dabei aber den Blick auf das Wesentliche.30 Denn die projektierte »Endlösung« bestand ja nicht allein im Zugriff auf sämtliche geschätzten elf Millionen europäische Juden und ihre abgestimmte Deportation von Westen nach dem Osten. Geschickt formuliert das Protokoll, dass Hitler zwar die »Evakuierung der Juden nach dem Osten« – hier nun wirklich als Synonym für Massenmord – anstelle der bisher vom RSHA betriebenen Auswanderung angeordnet habe, wer aber für den Massenmord zuständig war, darüber schweigt – bewusst – der Text. Heydrich gab als Detail lediglich bekannt, dass »unter entsprechender Leitung« im »Zuge der Endlösung« Juden »im Osten zum Arbeitseinsatz kommen«, wobei die »arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt« würden. Wer von diesen nicht »durch natürliche Verminderung« ausfalle, müsste »entsprechend behandelt« werden. Und genau hierin liegt die Anmaßung, wenn nicht sogar die gezielte Täuschung der Konferenzteilnehmer im machtpolitischen Ränkespiel.
29 Nürnberger Dokument NO 1020: III B El./Ma vom 4.10.1941. Niederschrift über Besprechung zwischen SS-Obergruppenführer Heydrich und Gauleiter Meyer, in Anwesenheit von Min.Dir. Schlotterer, Reichsamtsleiter Dr. Leibbrandt sowie SS-Obersturmbannführer Dr. Ehlich am 4. Oktober 1941 11 Uhr. Zitate ebenda. 30 Laut der in diesem Falle glaubhaften Einlassung von Eichmann, da sie keinen Wert als Schutzbehauptung besaß, »gab Heydrich bekannt, wie er das Protokoll aufgefaßt [gemeint ist wohl »abgefaßt«, der Verf.] zu wissen wünschte […] und ich stellte mich hin und machte die nötigen Weisungen Heydrichs für das Protokoll, so daß diese Worte in dem Protokoll meine Worte sind, mit Ausnahme jener Stellen, die Heydrich eben dann verbessert, ergänzt oder zu verbessern gewünscht hat«. Aussage Adolf Eichmann in seiner Hauptverhandlung am 21. Juli 1961; vgl. im Dokumententeil Dok. 13.
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Nirgends tritt im Protokoll in diesem Zusammenhang das RSHA als Akteur auf, und doch erscheint es bei unkritischer Lektüre so, als ob gerade Heydrichs Apparat auch hierfür autorisiert war. Diesen Teil in der Sitzungsdramaturgie verkörperte allein der Chef des Einsatzkommandos 2 und zugleich Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD Riga (KdS), Rudolf Lange. Lange war laut Anwesenheitsvermerk in Vertretung für den Einsatzgruppenchef Walther Stahlecker nach Berlin zitiert worden. Eigentlich wäre doch der Verfasser des berüchtigten, nach ihm benannten Berichts über die Mordmaßnahmen im Baltikum bestens geeignet gewesen, über den Massenmord zu referieren.31 Aber als frontnaher Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD (BdS) war Stahlecker am wenigsten mit den laufenden Deportationen in das Reichskommissariat Ostland vertraut.32 Hinzu kam, dass Stahlecker während seiner etwa sechs Monate dauernden Abordnung ins Auswärtige Amt von November 1940 bis Mai 1941 in Fehde mit dem Unterstaatssekretär Luther lag, der eifersüchtig über die Kompetenzen seiner Abteilung wachte. Stahlecker, Parteimitglied seit 1923 und erste Wahl Himmlers bei der Personalbesetzung der politischen Polizei Württembergs, dann Wiens, Prags und Oslos, war für die Sitzungsregie Heydrichs vielleicht doch zu selbstbewusst.33 Da schien Rudolf Lange von anderem Zuschnitt.34 Er war der Massenmörder der lettischen Juden, insbesondere der Juden Rigas; zugleich hatte er die Anweisung Heydrichs zur Aufnahme von Judentransporten aus dem Westen gegen die Zivilverwaltung durchgesetzt. An den Morden am 30. November 1941, dem Massaker an den Rigaer und Berliner Juden, war er – wenn auch nicht die ganze Zeit – beteiligt gewesen. 35 Außerdem war er es, der für die Ermordung der tschechischen Juden aus Theresienstadt am 19. Januar 1942 in Riga die Verantwortung trug.36 Lange verkörperte also den Mann der Praxis, der zugleich die Dynamik des Genozids – die Ermordung jetzt auch der Juden aus dem Großdeutschen Reich – bezeugen und der gegebenenfalls auch Details über die Ausführung der Tat als atmosphärische Schilderung beisteuern konnte. Überhaupt soll ja laut Eichmann in unverblümten Worten (»Töten, Eliminieren, Vernichten«)
31 Nürnberger Dokument L 180: Einsatzgruppe A, Gesamtbericht bis zum 15. Oktober 1941, gedruckt in: IMT, Bd. XXXVII, S. 670–717. Es handelte sich dabei um das persönliche »Stück des SS-Obergruppenführers«, also Heydrichs, der den Bericht Stahleckers zur Wiedervorlage am 31.1.1942 angeordnet hatte. Siehe ebenda, S. 670. 32 Angrick/Klein, »Endlösung«, S. 272. 33 Vgl. Jürgen Schuhladen-Krämer, »Die Exekutoren des Terrors. Hermann Mattheiß, Walther Stahlecker, Friedrich Mußgay, Leiter der Gestapo Stuttgart«, in: Michael Kißener/Joachim Scholtyseck (Hg.), Die Führer der Provinz. NS-Biographien aus Baden und Württemberg, Konstanz 1997, S. 405–443. 34 Peter Klein, »Dr. Rudolf Lange als Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD. Aspekte seines Dienstalltages«, in: Wolf Kaiser (Hg.), Täter im Vernichtungskrieg. Der Überfall auf die Sowjetunion und der Völkermord an den Juden, Berlin u.a. 2002, S. 125–136, hier 125–126 und 134. 35 Angrick/Klein, »Endlösung«, S. 239. 36 Siehe den Beitrag von Peter Klein in diesem Band.
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über das Morden gesprochen worden sein.37 Von seinem Charakter her galt Lange zudem als Typus des Intellektuellen, der – anders als sein Pendant in Litauen, der statistikverliebte aber grobschlächtige Karl Jäger – den richtigen Ton im Umgang mit den Anwesenden aus der traditionellen Ministerialbürokratie finden würde.38 Lange war also geladen, um Authentizität auszustrahlen und die Bedeutung des RSHA bei der Ausweitung der Morde zu bezeugen. In Heydrichs Vorstellung stand Lange für den Massenmord, während Eichmann – wie dieser in seinem Prozess eingestand – die Autorität in Sachen Deportation und Erfassung der Juden darstellte.39 Gestapochef Müller symbolisierte die institutionelle Klammer um beide Personen und deren Aufgaben und dürfte allein deswegen eingeladen worden sein. Die Anwesenheit des BdS Schöngarth erklärt sich aus der Bedeutung des GG als ein von vielen Juden bewohntes Territorium, als Kerngebiet der demnächst einzuleitenden Maßnahmen. SS-Gruppenführer Otto Hofmann vom Rasse- und Siedlungshauptamt steht als Parteigänger Heydrichs da, sein strategischer Nutzen – gemäß des protokollierten Beitrages – lag in der weitgehenden, wenn auch abgeschwächten Unterstützung der Zwangsterilisationskonzepte des RSHA.40 Heydrichs umfassende Legitimationen durch Göring und Himmler zugleich suggerieren schrankenlose Vollmachten zur Umsetzung der »Endlösung«. Gemessen an den Realitäten sah das aber anders aus. Überall, wo es nicht um das Entrechten und das Zuführen der Opfer ging, waren andere Personen die Herren des Geschehens; der Massenmord lag in letzter Konsequenz nicht beim RSHA und nicht bei den Organen der Ministerialbürokratie. In diesem Zusammenhang ist es doch bemerkenswert, wer eigentlich angesichts des europäischen Zuschnitts eines Genozids an elf Millionen Juden nicht eingeladen war. Zunächst sind die vier HSSPF (Höhere SS- und Polizeiführer) im Osten zu benennen, die Heydrich am 2. Juli 1941 über seine Grundsatzbefehle – auch welche Personengruppen seiner Vorstellung nach zu exekutieren wären – informiert hatte. Wie aus der Einleitung des Schreibens hervorgeht, war deren Einsatz eine Besprechung beim Chef der Ordnungspolizei (Orpo), SS-Obergruppenführer Kurt Daluege, vorausgegangen, von der Heydrich »nicht rechtzeitig unterrichtet« worden war. Deutlicher: Man hatte dessen Anwesenheit bei einer Besprechung, bei der es (auch) um den Massenmord im Osten ging, offensichtlich für unnötig gehalten. Daraufhin sah sich Heydrich gezwungen, die »grundsätzlichen Weisungen für den Geschäftsbereich der Sicherheitspolizei und des SD« in gedrängter
37 Aussagen von Adolf Eichmann zur Wannsee-Konferenz über die dort angeblich besprochenen Tötungsarten, Gerichtsverhandlung 106. Sitzung am 21. Juli 1961, vgl. im Dokumententeil Dok. 13. 38 Angrick/Klein, »Endlösung« in Riga, S. 272. 39 Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 634, insb. Fn. 85. 40 Isabel Heinemann, »Rasse, Siedlung, deutsches Blut«. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003, S. 546–547.
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Weise nachzureichen, obwohl diese offensichtlich niemand angefordert hatte.41 Hier wirkt er wie ein sich nachträglich einmischender Hauptamtschef. Ja, er kam nicht umhin, sein Erscheinen an der Front anzukündigen, um den HSSPF »persönlich« vorzutragen.42 Hinzu kommt, dass der Chef der Orpo bei der Vernachlässigung Heydrichs mitgespielt hatte und im Herbst 1941 grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Heydrich, und Daluege über Kompetenzfragen ausgefochten wurden. Am 20. Januar 1942 fehlte der SS-Obergruppenführer Daluege, obwohl gerade die uniformierte Polizei bei der Deportation und dem Massenmord eine entscheidende Rolle spielte. Wie ausgeführt, war Lange nach Berlin geholt worden, weil er für das Konferenzdesign als »authentischer Vollstrecker« gebraucht wurde. Dabei wurde verschwiegen, dass die Ermordung der Berliner Juden gar nicht von ihm ausgegangen war. Der tatsächliche Initiator einer Ausweitung des Massenmordes auch auf reichsdeutsche Juden war Friedrich Jeckeln, der sich hier eigenmächtig so weit vorgewagt hatte, dass er selbst von Himmler gemaßregelt wurde. Jeckeln hatte die Ermordung am 30. November 1941 mit seinen eigenen Polizeikräften durchgeführt, er benötigte die Unterstützung durch Lange bzw. durch das RSHA nicht.43 Langes Personal hatte nämlich bei der Hinrichtung der Berliner Juden nicht mitgewirkt; doch bei den anschließenden Morden an den Juden des Rigaer Ghettos beteiligte es sich.44 Eigentlich hätte also jemand wie Friedrich Jeckeln geladen werden müssen. Er war vor Ort die treibende Kraft bei der Dynamisierung des Mordens, sei es in Kamenez-Podolsk oder in Babij Jar. Jeckelns Verhältnis zu Heydrich war seit den 1930er Jahren belastet.45 Dagegen wurde er von Himmler gerade wegen seiner Kompromisslosigkeit geschätzt. Stärker noch als Friedrich-Wilhelm Krüger hätte Jeckeln schon durch bloße Präsenz Heydrichs Anspruch auf Federführung beim Völkermord relativieren können. Lange stand hingegen für den auf Heydrich verpflichteten Regelbefehlsweg, der sächsische Gestapoführer war ein loyaler Untergebener Heydrichs.
41 Schreiben Heydrichs an die vier HSSPF vom 2.7.1941, gedruckt in: Peter Klein (Hg.), Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion 1941/42, Berlin 1997, S. 323–328, Zitate S. 324. 42 BA DahlwitZ-Hoppegarten, ZR 920, Bl. 41: Funkspruch Heydrichs an die vier Einsatzgruppenchefs vom 27.6.1941. In diesen bat er die vier EG-Chefs, mit den HSSPF »Verbindung aufzunehmen« und diese persönlich über die »grundsätzlichen Weisungen bezüglich des Einsatzes der Sicherheitspolizei und des SD vorzutragen« sowie sein Kommen anzukündigen. Dieses Dokument ist als Vorausankündigung des Fernschreibens vom 2. Juli 1941 – siehe oben – zu verstehen. 43 Angrick/Klein, »Endlösung«, S. 153–161. 44 Vgl. Ereignismeldung UdSSR Nr. 151 v. 5.1.1942, in: BA, R 58/220. Peter Klein, »Die Erlaubnis zum grenzenlosen Massenmord – Das Schicksal der Berliner Juden und die Rolle der Einsatzgruppen bei dem Versuch, Juden als Partisanen ›auszurotten‹«, in: Rolf-Dieter Müller/Hans-Erich Volkmann (Hg.), Die Wehrmacht. Mythos und Realität, München 1999, S. 923–947. 45 George C. Browder, Foundations of the Nazi Police State. The Formation of Sipo and SD, Kentucky 2004, S. 112–113.
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Ähnlich wie bei Jeckeln verhält es sich im Fall Adolf Prützmann, dem SS-Granden aus Hamburg und seit November 1941 HSSPF im Süden der besetzten Sowjetunion. Dass die Juden »straßenbauend nach Osten« ziehen würden – wie es im Protokoll der WannseeKonferenz heißt – dürfte er besser als jeder andere gewusst haben. Immerhin handelte es sich bei ihm um den Herrn der Durchgangsstraße IV (DG IV), der bedeutendsten Nachschubstraße des Zweiten Weltkrieges, deren Ausbau mit jüdischen Arbeitskräften betrieben wurde. Das RSHA spielte in diesem Vorhaben überhaupt keine Rolle, weder im Bereich Russland Süd, noch in dem durch das GG/Galizien führenden Streckenabschnitt. In Galizien wurden die Arbeiten seit Oktober 1941 betrieben,46 im Abschnitt Russland Süd liefen sie zum Zeitpunkt der Wannsee-Konferenz gerade an.47 Hier hatten allein Himmlers Stellvertreter, die HSSPF Krüger im Generalgouvernement und Prützmann in Russland Süd und deren Apparate die alleinige Entscheidungshoheit, die sie auch mit Hilfe der ja dem RSHA unterstehenden nachgeordneten KdS- und BdS-Dienststellen durchsetzten. In der unkonkreten Formulierung des Wannsee-Protokolls taucht all dies nicht auf, vielmehr erscheint es, als wäre das RSHA Herr des Verfahrens. Eine Täuschung, denn es ist eindeutig, dass genau zu dieser Zeit Heydrich bestrebt war, gerade in dem Bereich der »Errichtung von Judenlagern« Kompetenzen zu erlangen oder vorzuspiegeln.48 Es ist zudem bemerkenswert, dass kein Vertreter des »Kommandostabs RFSS«, also Himmlers, geladen war, obwohl doch die SS-Infanterie- und SS-Kavalleriebrigaden maßgeblich für die Ausweitung des Massenmordes im Mittelabschnitt der Ostfront gesorgt hatten.49 Als persönlicher Emissär Himmlers tauchte SS-Hauptsturmführer Rudolf May bei den Einsatzgruppen auf und berichtete mittels des Kommandostabs, also unter bewusster Umgehung Heydrichs, dem RFSS Himmler über die gewünschte Radikalisierung im Kampfgebiet.50 Allein: ein gleichwertiger Abgesandter Himmlers wurde nicht zum Wannsee eingeladen. Wie verhält es sich mit Heydrichs Einfluss auf das erste Vernichtungszentrum im Rahmen der Endlösung – das Gaswagenlager Kulmhof? Das Vorantreiben der dortigen Entwicklung lief über die direkte Verbindung Himmlers zum Gauleiter Arthur Greiser. Greiser war derjenige, der die lokalen Gestapo-Beamten mit der Gründung des Son46 Hermann Kaienburg, »Jüdische Arbeitslager an der ›Straße der SS‹«, in: 1999. Zeitschrift für die Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 1 (1996), S. 13–39, hier S.13–14. 47 Andrej Angrick, »Annihilation and Labor: Jews and Thoroughfare IV in Central Ukraine«, in: Ray Brandon/Wendy Lower, The Shoah in Ukraine. History, Testimony, Memorialization, Bloomington 2008, S. 190–223, hier S. 190–194 und 197–199. 48 Zum Lager Salaspils vgl. Angrick/Klein, »Endlösung«, S. 207–270. 49 Unsere Ehre heisst Treue. Kriegstagebuch des Kommandostabes Reichsführer SS. Tätigkeitsberichte der 1. und 2. SS-Inf.-Brigade, der 1. SS-Kav.-Brigade und von Sonderkommandos der SS, herausgegeben von Fritz Baade u.a., Wien 1965. Zur Bedeutung der Einheiten des Kommandostabes RFSS siehe Martin Cüppers, Wegbereiter der Shoah. Die Waffen-SS, der Kommandostab Reichsführer-SS und die Judenvernichtung 1939–1945, Darmstadt 2005, S. 142–188. 50 Martin Cüppers, Wegbereiter der Shoah, S. 189–190.
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Führer und Reichskanzler Adolf Hitler Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei Heinrich Himmler
Rasse- und Siedlungshauptamt
Otto Hofmann
IV B 4: Judenangelegenheiten, Räumungsangelegenheiten
Reichskanzlei
Martin Bormann
Dr. Hans Heinrich Lammers
Reichssicherheitshauptamt
Ministerialdirektor (Abteilung III Staatliche Angelegenheiten)
Reinhard Heydrich
Dr. Gerhard Klopfer
Amt IV: Gegnererforschung und -bekämpfung (Gestapo) Heinrich Müller
Partei - Kanzlei
Regierung des Generalgouvernements Dr. Hans Frank
Ministerialdirektor (Abteilung B u.a. Judenund Mischlingsangelegenheiten) Wilhelm Kritzinger
Befehlshaber der Sicherheitspolizei im Generalgouvernement Kommandeur der Sicherheitspolizei in Lettland
Dr. Eberhard Schöngarth
Dr. Rudolf Lange
Adolf Eichmann
Abbildung 4 Die 15 Teilnehmer der Wannsee-Konferenz, Ämter und Hierarchie Quelle: Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee−Konferenz
derkommandos Lange, später Bothmann, geradezu usurpierte. Und mit SS-Oberführer Herbert Mehlhorn führte in Posen ein früherer Gestapo- und SD-Führer und Heydrich-Gegner die organisatorischen Geschäfte des Massenmordes.51 Es ist kaum bekannt, dass Mehlhorn bei der Staatspolizei zu den innerbehördlichen Konkurrenten Heydrichs während der Frühzeit des NS-Regimes gehörte.52 Ist es nicht bezeichnend, dass aus der Zivilverwaltung des Reichsgaues Wartheland kein Vertreter zur Konferenz eingeladen wurde, obwohl doch eben dort der standardisiert verübte Massenmord an den Sinti und Roma und den Juden bereits einige Wochen vor der Wannsee-Konferenz zur Routine geworden war? Ein Vertreter aus Posen hätte am Wannsee Heydrichs Zielen nur im Wege gestanden. 51 Peter Klein, Die »Gettoverwaltung Litzmannstadt« 1940–1944. Eine Dienststelle im Spannungsfeld von Kommunalbürokratie und staatlicher Verfolgungspolitik, Hamburg 2009, S. 148–151, 353– 357. 52 Shlomo Aronson, Reinhard Heydrich und die Frühgeschichte von Gestapo und SD, Stuttgart 1971, S. 58–59, 160–161 und insb. 163 und 202; Johannes Tuchel, Am Großen Wannsee 56–58. Von der Villa Minoux zum Haus der Wannsee-Konferenz, Berlin 1992, S. 96, 169–170.
Staatssekretär Dr. Josef Bühler
f
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Designierter Nachfolger Hitlers Vorsitzender des Ministerrats für die Reichsverteidigung
Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete
Beauftragter für den Vierjahresplan Hermann Göring
Alfred Rosenberg
Auswärtiges Amt
Reichsministerium des Innern
Reichsjustizministerium
Joachim von Ribbentrop
Dr. Wilhelm Frick
Dr. Dr. Franz Schlegelberger (amtierend)
Staatssekretär
Staatssekretär
Staatssekretär (Abteilung I Verfassung, Gesetzgebung und Verwaltung)
Dr. Alfred Meyer
Erich Neumann
Dr. Wilhelm Stuckart
Unterstaatssekretär (Abteilung Deutschland)
Staatssekretär Dr. Roland Freisler
Martin Luther Ministerialdirektor (Hauptabteilung Politik) Dr. Georg Leibbrandt
Gleiches gilt für das Amt Haushalt und Bauten bzw. das spätere Wirtschaftsverwaltungshauptamt (WVHA). Wurden nicht gerade Ende Januar die bisherigen Planungen zu Auschwitz-Birkenau und Majdanek modifiziert und die Aufnahme von hunderttausend Juden anstelle der erwarteten sowjetischen Kriegsgefangenen angedacht? Die Tötungsexperimente in Auschwitz und die Errichtung der beiden Lager waren ohne direktes Zutun des RSHA oder Heydrichs erfolgt. In der KZ-Verwaltung des WVHA unter Oswald Pohl muss eine weitere Konkurrenzbehörde gesehen werden, deren Repräsentanz am Wannsee kaum erwünscht war. Dies galt erst recht für die Lager der Aktion Reinhardt, wo nicht einmal eine politische Abteilung der Gestapo existierte. Himmler bediente sich des HSSPF Krüger und insbesondere des SSPF Odilo Globocnik, um ohne institutionelle Verankerung im RSHA ein Vernichtungszentrum in Bełżec zu installieren.53 Man griff auf das »Euthanasie-Personal« der T 4-Aktion zurück und umging somit auch personell Heydrichs Apparat. Dies dürfte erklären, wieso weder Vertreter der HSSPF/SSPF-Verwaltung 53 Zur Frühgeschichte des Lagers siehe Jan Erik Schulte, »Initiative der Peripherie. Globocniks Siedlungsstützpunkte und Entscheidung zum Bau des Vernichtungslagers Belzec«, in: ders. (Hg.), Die SS, Himmler und die Wewelsburg, Paderborn 2009, S. 118–137, insb. S. 132–135.
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eine Einladung erhalten hatten, noch die Kanzlei des Führers. All diese Organisationen trieben selbstständig den Massenmord voran, ohne auf das RSHA angewiesen zu sein. Während am Wannsee in der Sache vornehmlich die »Mischlingsfrage« diskutiert wurde, war an anderer Stelle der Rubikon längst überschritten worden. Himmler verwendete als Vollstrecker der Endlösung das WVHA und seinen Sonderbefehlsweg über den Apparat der (Höheren) SS- und Polizeiführer. An letzteren – und nicht über den Regelbefehlsweg – gingen bezeichnenderweise auch die Anordnungen Himmlers zur seelischen Betreuung der Mörder, deren Nervenkostüm es zu schonen galt.54 Heydrich hingegen blieb in diesem arbeitsteiligen Prozess der Endlösung das legalistische Feld der Abstimmung in Definitionsfragen mit der klassischen Ministerialverwaltung sowie die Vorbereitung und Durchführung der Deportationen überlassen. Die Nachfolgekonferenzen sollten sich solcher Probleme vermehrt und detailliert annehmen, während an den geheimen Orten kein Papier produziert, sondern die Gasanlagen erbaut wurden. All dies muss Heydrich bewusst gewesen sein. Im Lichte dieser Fakten diente die Wannsee-Konferenz der Selbstinszenierung gegenüber den geladenen Repräsentanten der Partei- und Zivilverwaltung. Zum einen, um sie über eigene Kompetenzgrenzen zu täuschen, zum anderen, um auf dem Feld des Politischen an Statur zu gewinnen. Am 21. Januar 1942 telefonierte Heydrich etwa zwanzig Minuten mit Himmler und berichtete über die »Judenfrage. Sitzung in Berlin«, aber auch über seine subalterne »neue Regierung Protektorat«.55 Denn Heydrich dachte gleichfalls in den politischen Kategorien des (stellvertretenden) Reichsprotektors in Böhmen und Mähren, der sich außerhalb des Ostens als Entscheidungsträger präsentieren konnte. Seine Strategie der kalkulierten Kompetenzanmaßung am 20. Januar 1942 setzte er fort, als er fünf Tage später dem HSSPF in Prag eine Kopie seiner Autorisierung durch Göring sandte und es nicht dabei beließ.56 Er versorgte flächendeckend den höheren Organisationsapparat des RSHA mit seinen Inspekteuren im Altreich, den Befehlshabern in den besetzten Gebieten einschließlich Frankreich, Serbien und Griechenland.57 Und als ob die Sitzung die Brauchbarkeit der Göring-Ermächtigung 54 Der Reichsführer-SS, Tgb.Nr. AB/509/70, Ref. V. Führer-Hauptquartier vom 12.12.1941. SS-Befehl, in: LVVA Riga, P 80-1-80, Bl. 3–4. Dessen Verteilung erfolgte über die HSSPF, SSPF und ausgewählte SS-Oberabschnitte. Bezeichnenderweise waren alle Hauptämter (Orpo wie RSHA), die sich aus der Staatsverwaltung heraus entwickelten, darin nicht aufgenommen worden. 55 Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, herausgegeben von Peter Witte u.a., Hamburg 1999, S. 321. Am 19. Januar 1942 war nach Heydrichs Vorstellungen die Regierung des Protektorats umgebildet und verkleinert worden, um so seine eigene Machtbasis zu stärken. 56 Miroslav Kárný, »Theresienstädter Dokumente, Teil 1«, in: Judaica Bohemiae XVII/1 (1981), S. 22– 23. 57 Der Vorgang ist dreifach überliefert in: LVVA Riga P 1026-1-3, Bl. 161–164 und 166–167: Chef der Sicherheitspolizei und des SD, IV B 4 a 847/41 vom 25. 1. 1942, An die Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD, die Inspekteure der Sicherheitspolizei und des SD, den Beauftragten des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD – Dienststellen Paris und Brüssel, die Einsatzgruppe der Sicherheitspolizei und des SD in Belgrad, die Dienststelle der Sicherheitspolizei in Athen, die
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erst nachgewiesen hätte, sandte er am selben Tag eine weitere Kopie an SS-Gruppenführer Walter Schmitt vom SS-Personalhauptamt, wo sie in seine Personalakte eingelegt wurde.58 Nachdem Heydrichs Ziel in der Sitzung erreicht worden war, delegierte er die Klärung der strittigen Details an seine Fachreferenten. Außerdem war eine »in Kürze« geplante Nachfolgesitzung der geladenen Behörden, »in der genauere Einzelheiten der Gesamtlösung besprochen werden sollten«, angedacht, zu der es aber nicht mehr kam. Von da an drängte es ihn nicht, das im Protokoll Festgeschriebene rasch in die Tat umzusetzen. Jedenfalls erschien ihm bei der Deportation der französischen Juden im März 1942 ein Kontingent von zunächst 5.000 Gefangenen als ausreichend. Die übrigen, »größeren« Transporte verschob Heydrich einfach auf das Jahr 1943.59 War der Chef des RSHA wirklich derjenige, dem es zukam, die »Endlösung im Westen« zu forcieren? Folgt man der Einschätzung des Auswärtigen Amtes, setzte die deutsche Militärverwaltung in Paris jedenfalls weniger auf ihn, sondern auf den neu ernannten HSSPF Carl Albrecht Oberg. Dessen Bestallung würde sich jedenfalls »besonders für die Endlösung der Judenfrage« bald »sehr günstig auswirken«.60 So gesehen zeigte sich die Macht von Himmlers Stellvertretern in den besetzten Gebieten nicht nur im Osten, sondern exportierte deren herausgehobene Stellung nun auch in den Westen. Eine weitere Staatssekretärs-Besprechung nach der Wannsee-Konferenz rutschte in der amtsinternen Agenda deutlich nach hinten und stand nach Heydrichs Tod – als Himmler die Führung des RSHA persönlich übernahm – nicht mehr zur Debatte. Dies wunderte Luther, der sich im Sommer 1942 für die von Heydrich angekündigte Nachfolgesitzung bereithielt. Er hatte es bis dahin versäumt, den Reichsaußenminister über das Treffen vom 20. Januar 1942 zu unterrichten, stattdessen hatte er nur den Staatsekretär Ernst Freiherr von Weizsäcker informiert. Wenn Luther sich erst ein halbes Jahr später des Konferenzgegenstands in einem internen Rapport annahm, so hatte die Sitzung wohl keine heraus-
Einsatzgruppen A–D, Betrifft: Endlösung der Judenfrage, Bezug: Ohne [!]. Weiterhin ließ man sich (zumindest bei der Einsatzgruppe A/dem BdS Ostland) viel Zeit, die Bestallung Heydrichs auf die Länderebene, also an die KdS weiterzureichen; es dauerte bis zum 21. März 1942, bis die Weitervermittlung erfolgte. Siehe ebenda, Bl. 165: Der Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD Ostland vom 2.3.1942, Betr. Endlösung der Judenfrage. Abgesandt am 21.3.1942. So wichtig kann der (ohne jeglichen Geheimvermerk gezeichnete) Vorgang nicht mehr gewesen sein. Er wurde einfach in der Registratur der Akten »Juden allgemein« abgelegt. Gedruckt in: Die Wannsee-Konferenz und der Völkermord an den europäischen Juden, Katalog der ständigen Ausstellung, herausgegeben von der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Berlin 2006, S. 102; vgl. im Dokumententeil Dok. 5.1. 58 Vgl. im Dokumententeil Dok. 5.2. 59 Aufzeichnung des Legationsrates Zeitschel vom 11.3.1942: Betrifft Judendeportierung, in: Serge Klarsfeld, Vichy-Auschwitz. Die »Endlösung der Judenfrage« in Frankreich, Darmstadt 2007, S. 402–403. 60 Nürnberger Dokument NG-4881; Aufzeichnung des Legationsrates Zeitschel vom 18.3.1942, in: Ebenda, S. 405.
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gehobene Bedeutung für ihn. Heydrich war offensichtlich überzeugend gewesen, und das RSHA hatte bisher in allen das »Ausland betreffenden Fragen« loyal kooperiert.61 Wenn die Zusammensetzung der Konferenzteilnehmer als Bestätigungsrunde geplant und die Niederschrift der gesprochenen Worte als Konsenspapier komponiert worden waren, so zeigt diese Erkenntnis Heydrichs Ambitionen, die weit über seine bereits erreichten Kompetenzen hinausreichten.62 Das bedeutet jedoch nicht, dass sich der Chef der Sicherheitspolizei und des SD mit einer nur angemaßten Rolle zufrieden gegeben hätte. Als Heydrich am 10. April 1942 beim slowakischen Premierminister Tuka vorsprach, versuchte er sich wieder an die Spitze der Entwicklung zu stellen und referierte in seiner Eigenschaft als Gesandter Himmlers und Görings über ein neues Deportationsprogramm.63 Doch einer Erweiterung seiner Kompetenzen stand vor allem der Reichsführer SS selbst im Wege. Himmler vollführte immer wieder neue, taktisch angelegte Wendungen, wie in seiner Entscheidung vom 25. Januar 1942, die eigentlich in den Osten zu verschleppenden Juden nun in die Konzentrationslager zu deportieren.64 Die deutsche Rüstungswirtschaft benötigte nach dem Massensterben sowjetischer Kriegsgefangener und der ungewissen Fortdauer des Krieges Arbeitskräfte, und Himmlers Bauprojekte in Auschwitz-Birkenau und Majdanek waren ohne deren Einsatz nicht durchzuführen. Mochte im Dezember 1941 auch der Entschluss zur völligen Vernichtung aller Juden gefasst worden sein, so wurde die zeitnahe Umsetzung dieser Entscheidung aus kriegswirtschaftlichen Gründen hinausgezögert. Gemäß Himmlers Richtungswechsel traten also weniger an Heydrich denn an Oswald Pohl große »Aufgaben« heran: »Aufträge«, die die in den Konzentrationslagern inhaftierten – und somit der Zuständigkeit des RSHA entzogenen – Juden erfüllen sollten.65 Doch Heydrich verfügte über eine geheime Trumpfkarte, die er aber weder bei der Wannsee-Konferenz noch danach öffentlich machte. Sie »stach« jedoch im internen Kompetenzgerangel des SS- und Polizeiapparates. Er war im Winter 1941/42 zum Organisator 61 [Antwort-]Telegramm Luthers vom 21.8.1942 – Geheime Reichssache Nr. 2230 – an Legationsrat Rademacher und den Gesandten v. Rintelen, in: ADAP, Serie E, Bd. III, S. 353–360. Zitate S. 355. Luther sah sich überhaupt erst genötigt – zum Verhältnis AA-RSHA und der Wannsee-Konferenz – ausführlicher Stellung zu beziehen, als die Vorbereitungen der Deportation der Juden Rumäniens in »politischer und technischer Hinsicht« vor dem Abschluss standen, dann aber Stockungen auftraten. Zur Anfrage, die Luthers Stellungnahme erforderlich machte, siehe Telegramm von Rintelen – Geheime Reichssache – an das AA, Ministerbüro Berlin für Unterstaatssekretär Luther vom 19.8.1942, in: Ebenda, S. 342–343. 62 Zum Konsenspapier vgl. Norbert Kampe, »›Besprechung über die Endlösung der Judenfrage‹. Das Protokoll der Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942«, in: Einsicht 07. Bulletin des Fritz Bauer Instituts (Frühjahr 2012), S. 16–24, hier S. 24. 63 Vgl. Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München 1998, S. 496. 64 Dienstkalender Heinrich Himmlers, S. 327. 65 FS Himmlers an SS-Brif. Glücks v. 26.1.1942, in: BA, NS 19/1920, Bl. 1.
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und Kontrolleur der »Aktion 1005« berufen worden. Er, bzw. das RSHA, sollten für die Vertuschung aller Spuren der Massenmorde, besonders der Massengräber, Sorge tragen. Für die Erfüllung dieses Auftrages hatte Himmler ihm weitreichende Sonderkompetenzen erteilt. Insbesondere jede SS- und Polizeidienststelle musste diesen Auftrag unterstützen und durfte sich Anweisungen zur Sache nicht verweigern. Über die »Aktion 1005« sollte es Heydrich bis zu seinem Tod gelingen, nun wirklich überall einzugreifen. Er konnte in Ausübung dieses Auftrags in Kulmhof sowie in den Lagern der Aktion Reinhardt, nach seinem Tod so benannt, Einfluss nehmen, sich die HSSPF und SSPF verpflichten, die Konzentrationslagerverwaltungen dienstbar machen und über das WVHA die Materialfragen in den Griff bekommen. Die Ordnungspolizei musste Personal abstellen und außerdem alle eigenen Massengräber an die »Aktion 1005« melden.66 Dieser Sonderauftrag, bis heute nur wenig in seinem organisatorischen Aufbau und den topographischen Einsatzregionen untersucht, verfügte über kein eigenes Stabsquartier in Berlin.67 Wenn der noch von Heydrich installierte 1005-Chef, Paul Blobel, in der Reichshauptstadt arbeitete, diente das SD-Gästehaus Am Großen Wannsee 56–58 als Unterkunft und Organisationszentrale. Die notwendigen Kurierfahrten von hier bis nach Kulmhof, nach Riga oder Kiew, nach Rowno und Shitomir wurden vom SS-Oberscharführer Ludwig Maurer geplant, dem Leiter der Fahrbereitschaft des angrenzenden »Havelinstituts« – einer der Spionage dienenden, getarnten Einrichtung des Auslands-SD. Maurer war vor dieser Tätigkeit ein Mitglied im Sonderkommando 4a der Einsatzgruppe C und Paul Blobel war dort bis Januar 1942 sein unmittelbarer Vorgesetzter gewesen. Beide kannten sich gut, und Maurer gab nach dem Krieg zu Protokoll, es sei schon damals ein offenes Geheimnis gewesen, dass Blobels Kommandos Massengräber aushoben und die Leichen verbrannten.68 Die Villa am Wannsee war also nicht nur der Ort, an dem in großer Offenheit über den langfristig projektierten Massenmord an etwa elf Millionen Juden gesprochen wurde; von der Villa aus wurde nur wenig später auch die Spurenbeseitigung ins Werk gesetzt. Da Heydrich an den Folgen des Attentats am 4. Juni 1942 in Prag verstarb, konnte er dieses Instrument seiner Machterweiterung nicht mehr ausschöpfen. Es blieben nur Heinrich Müller und Rudolf Lange mit der Vernichtung der Juden sowie der Angelegenheit 1005 zugleich betraut. Lange steuerte ab Winter 1944 die drei mobilen 1005-Kommandos (1005b, d und e) in Lettland, während Müller den Gesamtablauf überwachte. 66 Der Verfasser dieses Aufsatzes arbeitet zurzeit an einer umfangreichen Gesamtgeschichte zur »Operation 1005« sowie zum Kenntnisstand der Alliierten über das Ausmaß des Genozids. 67 Zur Operation 1005 bisher: Shumel Spector, »Aktion 1005 – Effacing the Murder of Millions«, in: Holocaust and Genocide Studies 5 (1990), S. 157–173. Jens Hoffmann, »Das kann man nicht erzählen«. »Aktion 1005« – Wie die Nazis die Spuren ihrer Massenmorde in Osteuropa beseitigten, Hamburg 2008. Aus der Sicht eines Überlebenden: Leon W. Wells, Ein Sohn Hiobs, München u.a. 1979. 68 141 Js 204/60 der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Hamburg, Bd. 25, Aussage Ludwig Maurer vom 4.10. 1963, Bl. 5072–5079.
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Andrej Angrick
Eine Analyse der Besprechung vom 20. Januar 1942 vor dem Hintergrund der Zusammensetzung der eingeladenen und nicht geladenen Exekutoren und eine Beurteilung der schriftlichen Konferenzergebnisse in ihrer Unklarheit in Bezug auf die Nichteingeladenen zeigt: Heydrich nutzte das Treffen, um sich und das RSHA als Herr über die Gesamtheit des europäisch angelegten Vernichtungsprozesses zu präsentieren. Die Präsenz Eichmanns, Müllers und Langes diente der Unterstreichung dieses Anspruches. Von den erschienenen Dienststellenvertretern, so des Ostministeriums und des AA, war dies bereits zuvor anerkannt worden, von anderen war kein wirklicher Widerstand gegen seine inszenierte Selbstermächtigung zu erwarten. Geschickt verstand es Heydrich, im Namen Himmlers zu sprechen, obwohl dieser die Zuständigkeiten beim Massenmord an die HSSPF/SSPF sowie das WVHA delegiert hatte und diese schon in der Vergangenheit die Verantwortung für alle Großaktionen im Osten getragen hatten. Nur mit der Steuerung der Operation 1005 gelang ihm noch kurzzeitig ein Sonderzugriffsrecht auf alle mit der Endlösung betrauten SS- und Polizeieinrichtungen. Sein Plan, mit Hilfe dieser ersten Besprechung als Chef der Sicherheitspolizei und des SD und mit der organisierten Spurenbeseitigung weitergehende Machtansprüche zu festigen, wäre wahrscheinlich aufgegangen. Heydrichs früher Tod verdeckt das Puzzle seiner Machtstrategie und stellt das besprochene Ereignis an sich in den Vordergrund. Aber die Bedeutung der Wannsee-Konferenz in der Gesamtgeschichte des Holocaust ist gering, was sich allein schon in den Nachfolgetreffen zeigt, die sich nunmehr in Definitionsfragen verlieren.
Eckart Conze
Neuigkeiten für das Auswärtige Amt? Völkermord als Problem der Diplomatie
Die Beteiligung des Auswärtigen Amts an der Wannsee-Konferenz kam weder überraschend, noch stellte sie ein Novum in der Mitwirkung des deutschen diplomatischen Apparats an der Organisation, Koordination und Implementierung der antijüdischen Politik des Dritten Reiches dar.1 Etwas mehr als drei Jahre vor dem 20. Januar 1942, am 12. November 1938, wenige Tage nach der »Kristallnacht«, hatte Hermann Göring etwa hundert Vertreter der wichtigsten nationalsozialistischen Behörden, Ministerien und Institutionen zu einer Konferenz in das Reichsluftfahrtministerium eingeladen, um die deutsche Judenpolitik unter seiner Führung zu zentralisieren.2 Das Auswärtige Amt war durch den Leiter seiner Politischen Abteilung, Unterstaatssekretär Ernst Woermann, und seinen »Judenreferenten« Emil Schumburg vertreten. Kaum hatte Göring seine Eröffnungstirade beendet, meldete sich Woermann zu Wort. Der Spitzenbeamte, ein 1918 in den auswärtigen Dienst eingetretener Karrierediplomat, ließ die Ausführungen Görings unkommentiert. Aber er meldete entschlossen und deutlich den Anspruch seines Ministeriums an, im Falle von Maßnahmen gegen Juden mit ausländischer Staatsangehörigkeit beteiligt zu werden. Nach der Sitzung berichtete der Unterstaatssekretär seinem Minister: »Habe Frage der Behandlung ausländischer Juden angemeldet und Beteiligung AA an allen Maß1 Die Beteiligung des Auswärtigen Amts an der nationalsozialistischen Judenpolitik und am Holocaust hat über die Jahre hinweg immer wieder, mit unterschiedlichen Perspektiven oder Akzentsetzungen, das Interesse der Forschung gefunden. An monographischen Studien siehe insbesondere Paul Seabury, The Wilhelmstrasse. A Study of German Diplomats under the Nazi Regime, Berkeley/ Los Angeles 1954; Eliahu Ben Elissar, La Diplomatie du IIIe Reich et les Juifs 1933–1939, Paris 1969; Christopher R. Browning, The Final Solution and the German Foreign Office. A Study of Referat D III of Abteilung Deutschland 1940–1943, New York 1978 (dt.: Die »Endlösung« und das Auswärtige Amt. Das Referat D III der Abteilung Deutschland 1940–1943, Darmstadt 2010); Hans-Jürgen Döscher, Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der »Endlösung«, Berlin 1987; Sebastian Weitkamp, Braune Diplomaten. Horst Wagner und Eberhard von Thadden als Funktionäre der »Endlösung«, Bonn 2008; sowie zuletzt Eckart Conze u.a., Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010. 2 Zu dieser Konferenz siehe beispielsweise Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933–1939, München 2000, S. 302–306; oder Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München 1998, S. 208–212.
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Eckart Conze
nahmen generell und im Einzelfall sichergestellt. Ausgangspunkt dabei, dass Rücksicht auf Ausland nur zu nehmen ist, wenn vorwiegendes Reichsinteresse dazu zwingt.«3 Gut drei Jahre später, auf der Wannsee-Konferenz, stellten sich die Dinge nicht wesentlich anders dar. Das Auswärtige Amt war nun durch Unterstaatssekretär Martin Luther vertreten, den Leiter der sogenannten Abteilung Deutschland, zu der auch das »Judenreferat« des Amtes, das Referat D III, gehörte. Luther selbst behauptete, er habe auf der Wannsee-Konferenz gefordert, alle das Ausland betreffende Fragen vorher mit dem Auswärtigen Amt abzustimmen, und Heydrich sei damit einverstanden gewesen.4 Auch wenn das Protokoll der Konferenz dies so nicht bestätigt, spricht dennoch wenig gegen diese Darstellung Luthers – zumindest was den Mitwirkungsanspruch des Außenamtes anbelangt. Immerhin aber hielt das Protokoll fest, dass sich »bezüglich der Behandlung der Endlösung in den von uns besetzten und beeinflussten europäischen Gebieten […] die in Betracht kommenden Sachbearbeiter des Auswärtigen Amts mit dem zuständigen Referenten der Sicherheitspolizei und des SD besprechen« sollten.5 An die Stelle Görings im November 1938 waren Anfang 1942 Heydrich und das Reichssicherheitshauptamt getreten. Anders als 1938 ging es 1942 nicht um Arisierung, Ausbürgerung und eine Vielzahl repressiver Maßnahmen gegen in Deutschland lebende Juden, sondern um Deportation und Mord des europäischen Judentums. Für das Auswärtige Amt machte das keinen großen Unterschied. Es stellte nicht nur seine Expertise zur Verfügung, sondern es kooperierte – in unterschiedlicher Weise – mit SS und Polizei und leistete damit seinen Beitrag zur »Endlösung der Judenfrage«. Acht Monate nach der Wannsee-Konferenz zeigte sich Unterstaatssekretär Luther bezüglich der Zusammenarbeit mit dem Reichssicherheitshauptamt jedenfalls zufrieden und konnte Ribbentrop berichten, dass »Gruppenführer Heydrich seine Zusage, alle das Ausland betreffenden Fragen mit dem Auswärtigen Amt abzustimmen, loyal gehalten hat, wie überhaupt die für Juden-
3 Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (PAAA), R 29989: Aufzeichnung Woermanns, 12.11.1938; vgl. auch Conze u.a., Das Amt, S. 172 f. 4 Siehe Browning, Die »Endlösung«, S. 105. 5 Siehe Dokument 4.7 in diesem Band. Besprechungsprotokoll (Besprechung über die Endlösung der Judenfrage); abgedruckt in: Akten zur deutschen auswärtigen Politik (ADAP) 1918-1945, Serie E: 1941–1945, Bd. 1: 12. Dezember 1941 bis 28. Februar 1942, Göttingen 1969, S. 267–275. Zur Überlieferungsgeschichte des Protokolls, das nach 1945 von Mitarbeitern des amerikanischen Hauptanklägers im Wilhelmstraßen-Prozess (1948/49) in den Akten des Auswärtigen Amtes gefunden wurde, siehe Norbert Kampe, »Überlieferungsgeschichte und Fälschungsvorwurf. Anmerkungen zum Faksimile–Anhang«, in: Mark Roseman, Die Wannsee-Konferenz. Wie die NS–Bürokratie den Holocaust organisierte, Berlin 2002, S. 157–164; sowie Christian Mentel, »Zwischen ›Jahrhundertfälschung‹ und nationalsozialistischer Version eines ›Jewish Revival‹. Das Protokoll der WannseeKonferenz in der revisionistischen Publizistik«, in: Gideon Botsch u.a. (Hg.), »Politik des Hasses. Antisemitismus und radikale Rechte in Europa«, Hildesheim u.a. 2010, S. 195–210.
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sachen zuständige Dienststelle des Reichssicherheitshauptamts von Anfang an alle Maßnahmen in reibungsloser Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt durchgeführt hat.«6 In der Tat war, wie es die Anklageschrift gegen die AA-»Judenreferenten« Rademacher und Klingenfuß im Jahr 1950 formulierte, insbesondere das Referat D III »wie ein Arbeitsstab zur Bearbeitung der diplomatischen Vorarbeiten eingeschaltet, um dadurch die Gesamtlösung herbeiführen zu können«.7 Die auf der Wannsee-Konferenz festgelegte Rollen- und Aufgabenverteilung zwischen den Behörden beruhte – wie der Hinweis auf die Göring-Konferenz von 1938 zeigt – auf einer schon lange vor 1942 existierenden und funktionierenden Einbindung des gesamten Staatsapparates in die Judenpolitik. Das Auswärtige Amt besaß einen routinierten und effizienten Apparat, der nicht nur in der Lage war, die für die Durchführung der »Endlösung« benötigten Informationen über die Lage der Juden in den betroffenen Staaten zu beschaffen, sondern der auch mit den zur Verfügung stehenden Mitteln von Diplomatie und Außenpolitik an der »Endlösung« mitwirkte. Die SS war auf die Ministerialbürokratie und damit auch auf das Auswärtige Amt angewiesen. Das relativiert die der SS zum Teil bis heute zugeschriebene Allmacht, deren Betonung nicht selten auch den Zweck hatte und hat, die Täterschaft oder Mittäterschaft anderer Institutionen zu bestreiten beziehungsweise diese zu exkulpieren.8 Vor diesem Hintergrund behandelt dieser Beitrag zunächst die institutionelle Beteiligung des Auswärtigen Amtes an der nationalsozialistischen Judenpolitik eingehend und betrachtet dabei auch die Rolle des berüchtigten »Judenreferats« (I). In einem zweiten Schritt soll der Kenntnisstand innerhalb des Amtes über die Entwicklung der »Endlösung« vor allem 1941/42 näher beleuchtet werden (II). Drittens geht es schließlich darum, den Charakter der dem Amt auf der Wannsee-Konferenz zugewiesenen Mitsprache- und Mitwirkungsformen zu bestimmen und dabei auch die Frage nach judenpolitischen Initiativen aus dem diplomatischen Apparat heraus zu thematisieren (III).
I. Die Teilnahme des Auswärtigen Amtes an der Wannsee-Konferenz und seine dort formalisierte Einbeziehung in die Ermordung der europäischen Juden lag in der Konsequenz und in der Logik der institutionellen Beteiligung des Außenministeriums an der nationalsozi6 PAAA, R 100857: Aufzeichnung Luthers, 21.8.1942. Mit der »für Judensachen zuständigen Stelle des Reichssicherheitshauptamts« ist das RSHA–Referat IV B 4 (Judenangelegenheiten) unter der Leitung von Adolf Eichmann gemeint. 7 Yad Vashem Archive Jerusalem (YV), P-13/180: Anklageschrift gegen Rademacher und Klingenfuß, 19.1.1950, S. 63; zit. nach: Conze u.a., Das Amt, S. 189. 8 Ulrich Herbert, »Vernichtungspolitik. Neue Antworten und Fragen zur Geschichte des Holocaust«, in: ders. (Hg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939–1945. Neue Forschungen und Kontroversen, Frankfurt am Main 1998, S. 9–65, hier 12 f.
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Eckart Conze
alistischen Judenpolitik, wie sie sich seit 1933 entwickelt hatte. Und so wie sich die deutsche Judenpolitik nach 1933 sukzessive intensivierte und radikalisierte, so intensivierte und radikalisierte sich auch die Beteiligung des Auswärtigen Amtes an dieser Politik. Man wird dieser Entwicklungsdynamik nicht gerecht, wenn man in ihr lediglich einen Prozess der jeweils nachholenden, der nachvollziehenden Anpassung und Kooperation sieht. Das verkennt die Eigendynamik, die Eigenmotivation und das Eigeninteresse institutionellen Handelns, die auch in der Geschichte des Auswärtigen Amts nach 1933 und in seiner Beteiligung an den nationalsozialistischen Verbrechen zutage treten. Der Kriegsbeginn 1939 war in dieser Entwicklung gerade für das Auswärtige Amt eine wichtige Etappe. Die klassischen Funktionen der Diplomatie verloren ihre Bedeutung. Anfang 1943 unterhielt das Reich weltweit gerade noch sechs Auslandsmissionen, die mit Botschaftern besetzt waren. Im deutsch besetzten oder deutsch kontrollierten Europa existierten zwar Gesandtschaften oder Vertretungen des Auswärtigen Amtes; diplomatische Aufgaben im traditionellen Sinne hatten diese aber nicht mehr.9 Das drohte, das institutionelle Gewicht des Auswärtigen Amtes innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftssystems spürbar zu reduzieren, eine Entwicklung, die nicht nur der Reichsaußenminister, sondern die gesamte Führung des Ministeriums erkannte und der man entgegenzuwirken suchte. Die sich mit Kriegsbeginn, also zeitgleich, radikalisierende Judenpolitik bot dafür eine Möglichkeit. Schien zunächst der ja nicht zufällig auf das Auswärtige Amt zurückgehende und von der Wilhelmstraße initiierte Madagaskar-Plan geeignet, dem Amt eine fortgesetzte Beteiligung an der deutschen Judenpolitik und damit zugleich eine starke Position im nationalsozialistischen Institutionengefüge zu sichern, so veränderte sich diese Wahrnehmung schon im Laufe des Jahres 1940, als die ungebrochene Seeherrschaft Großbritanniens die Deportation der Juden nach Madagaskar zunehmend unrealistisch werden ließ.10 Auch die Aufgabe des Madagaskar-Plans trug dazu bei, dass sich die Rolle von SS und Polizei in der Judenpolitik weiter verstärkte. Die Entwicklung und Durchführung von Maßnahmen zur »Endlösung der Judenfrage« lag nun federführend bei der Sicherheitspolizei. Allerdings barg dieser Primatsanspruch, wie er sich insbesondere in der zweiten Jahreshälfte 1941 klar manifestierte, auch eine Chance für das Auswärtige Amt in sich. Die ursprünglich für den 9. Dezember 1941 geplante Wannsee-Konferenz steht fraglos an zentraler Stelle jener Konstituierungs- und Vereinheitlichungsphase des Genozids, die mit
9 Zu diesen Entwicklungen siehe Conze u.a., Das Amt, S. 151–153. 10 Zum Madagaskar-Plan allgemein siehe Magnus Brechtken, Madagaskar für die Juden. Antisemitische Idee und politische Praxis 1885–1945, München 1997; sowie Hans Jansen, Der MadagaskarPlan. Die beabsichtigte Deportation der europäischen Juden nach Madagaskar, München 1997. Spezieller: Eric T. Jennings, »Writing Madagascar Back into the Madagascar Plan«, in: Holocaust and Genocide Studies 21 (2007), S. 187–217. Vgl. mit Fokus auf das Auswärtige Amt auch Döscher, Das Auswärtige Amt, S. 215–221, sowie Conze u.a., Das Amt, S. 184 f.
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dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion begann.11 Sowohl die Leitung des Auswärtigen Amts als insbesondere auch das »Judenreferat« der Abteilung Deutschland waren sehr genau über diese Entwicklung – einschließlich ihrer mörderischen Konsequenzen – informiert. Und weil die »Endlösung« sich nicht nur auf die deutschen Juden bezog, mit deren Deportation am 15. Oktober 1941 begonnen wurde, sondern erkennbar europäische Dimensionen haben würde, bot sich dem Auswärtigen Amt hier eine Möglichkeit, an der Judenpolitik längerfristig führend beteiligt zu bleiben. Dadurch ließ sich zwar nicht unbedingt der eigene Zuständigkeitsbereich erweitern, aber doch das institutionelle Gewicht des Amtes stabilisieren und eine weitere Schwächung der eigenen Position verhindern.12 Das im Vorfeld der Wannsee-Konferenz am 8. Dezember 1941 vom »Judenreferenten« Rademacher verfasste Memorandum über die »Wünsche und Ideen« des Auswärtigen Amts im Zusammenhang mit der »Endlösung der Judenfrage«13 ist vor diesem Hintergrund in dreifacher Hinsicht bedeutsam: Das Memorandum zeigt, erstens, sehr deutlich, dass das Auswärtige Amt eine Diskussion über die Aushebung und Deportation von Juden in ganz Europa erwartete; und es war zumindest im »Judenreferat« zu diesem Zeitpunkt völlig klar, dass sich insbesondere hinter dem Begriff »Abschiebung« nichts anderes verbarg als die systematische Ermordung der Juden. Die »Wunschliste« gibt, zweitens, Auskunft über konkrete Überlegungen und Vorstellungen des Auswärtigen Amtes hinsichtlich der Erfassung und Deportation der Juden aus verschiedenen europäischen Ländern (vor allem aus Südosteuropa) und der diplomatisch-außenpolitischen Unterstützung dieser Maßnahmen. Drittens aber artikuliert das Memorandum nicht nur die prinzipielle Bereitschaft des Auswärtigen Amtes, sondern seinen Anspruch, offiziell an der »Endlösung« beteiligt zu werden, und diese Bereitschaft und diesen Anspruch auf der Konferenz mit Heydrich auch zum Ausdruck zu bringen. So sehr also die Wannsee-Konferenz als Initiative der Interessenlage Himmlers und Heydrichs entstammte, die ihre Dominanz anerkannt und festgeschrieben wissen wollten, so sehr lag das Treffen auch im institutionellen Interesse des Auswärtigen Amtes. Die Kooperation zwischen Auswärtigem Amt und insbesondere seiner Abteilung Deutschland war so betrachtet keine Verschmelzung im Sinne Hilbergs, sondern, darauf hat schon Browning hingewiesen, eine Symbiose.14 Am Beispiel des Auswärtigen Amtes wird hier deutlich, wie sich seit den späten dreißiger Jahren die Grenzen zwischen allgemeiner Verwaltung, Parteistellen und dem von der SS kontrollierten Sicherheitsapparat aufzulösen begannen, auch wenn sich keine integrierte »SS-Weltanschauungsbürokratie« (Michael Wildt) herausbildete. 11 12 13 14
Vgl. Herbert, Vernichtungspolitik, S. 29. Vgl. Browning, Die »Endlösung«, S. 119 f. Siehe die »Wünsche und Ideen« in Dokument 4.4 in diesem Band. Vgl. Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden [1961, 1982], Frankfurt am Main 2010, S. 66; sowie Browning, Die »Endlösung«, S. 233.
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Es gehört zu dem nach 1945 entwickelten und über Jahrzehnte hinweg vertretenen Geschichtsbild des Auswärtigen Amtes, das freilich auch Eingang in die wissenschaftliche Literatur gefunden hat, dass die Abteilung Deutschland der Wilhelmstraße und insbesondere ihr »Judenreferat« einen Fremdkörper innerhalb des Auswärtigen Amtes gebildet hätten. Die »eher traditionell geprägten« Arbeitseinheiten des Amtes und ihre Mitarbeiter könne man nicht in Haftung nehmen für die Verbrechen des Referats Deutschland (bis 1940), der Abteilung Deutschland mit ihrem »Judenreferat« (1940–1943) und der Referatsgruppe Inland II (1943 bis 1945). Zwischen diesen, als »Sonderreferate« bezeichneten Einheiten habe es doch einen »grundlegenden Unterschied« gegeben.15 Das Referat Deutschland, aus dem 1940 zusammen mit dem Referat Partei die Abteilung Deutschland unter Luther gemacht wurde, war 1919 gebildet worden, 1931 wurde es aufgelöst, 1933 wiedererrichtet. An seine Spitze trat Vicco von Bülow-Schwante, DNVP-Mitglied und Leiter der Auslandsabteilung des »Stahlhelm«. Die Mitarbeiter des Referats, unter ihnen der für die »Judenfrage« zuständige Emil Schumburg, waren Laufbahndiplomaten. Auch Franz Rademacher, der Schumburg 1940 nachfolgte, war zwar als Seiteneinsteiger, aber doch noch in der Ära Neurath ins Auswärtige Amt gekommen. Das Referat Deutschland und später das »Judenreferat« der Abteilung Deutschland waren keine Sonderreferate – so wurden sie nur für wenige Monate 1939/40 bezeichnet –, sondern in die Arbeits- und Organisationsstrukturen des Auswärtigen Amtes integrierte Einheiten.16 Sie wegen ihrer spezifischen Zuständigkeit für »Judenfragen« aus den Strukturen des Amtes herauszulösen und den »traditionellen« Einheiten gegenüber zu stellen, ist aus den Entwicklungen der Jahre 1933 bis 1945 nicht zu begründen und macht nur geschichts- und vergangenheitspolitisch Sinn.17 15 An diese Sichtweise schloss jüngst an: Michael Mayer, »Akteure, Verbrechen und Kontinuitäten. Das Auswärtige Amt im Dritten Reich – Eine Binnendifferenzierung«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), S. 509–532 (Zitate auf 510 und 526). Der Autor wendet hier seine allgemeine Interpretation einer dichotomistischen Gegenüberstellung der traditionellen Eliten (mit ihrem »Segregationsantisemitismus«) und der NS-Funktionärsschicht (mit ihrem »rassistisch-biologistisch geprägten, auf Vernichtung ausgerichteten Antisemitismus«) auf das Auswärtige Amt an. Siehe ders., Staaten als Täter. Ministerialbürokratie und »Judenpolitik« in NS-Deutschland und Vichy-Frankreich. Ein Vergleich, München 2010. Der versuchte »Nachweis einer grundsätzlichen Inkompatibilität zwischen konservativen Ministerialbürokraten und aktionistischen NS-Fanatikern« ist in der Forschung zu Recht als »Ausdruck eines regressiven, von der empirischen Forschung der letzten zwanzig Jahre hinreichend infrage gestellten Verständnisses des NS-Systems und seiner Wirkungsdynamik« kritisiert worden. Siehe beispielsweise die Rezension des Buches durch Jürgen Matthäus, in: Historische Zeitschrift 294 (2012), S. 265–267 (dort auch die Zitate). 16 Siehe dazu Conze u.a., Das Amt, S. 45 f.; vgl. auch Döscher, Das Auswärtige Amt, S. 203–212. 17 Mayer, »Akteure«, S. 510, bezeichnet die primär mit der Judenpolitik befassten Einheiten im Auswärtigen Amt »der Einfachheit halber« als »Sonderreferate« und insinuiert damit eine Trennung zwischen diesen »Sonderreferaten« und den übrigen Einheiten des Amtes, ja eine Isolierung dieser Referate innerhalb des Amtes. Das ist durch die Quellen nicht gedeckt. In den Geschäftsverteilungsplänen des Auswärtigen Amtes (abgedruckt in: ADAP, Serien C, D und E, alle Bde.) ist zwischen
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Kein Mitarbeiter von Rademachers »Judenreferat« (ab 1940) gehörte der SS an.18 In der Existenz dieser Referate spiegelte sich vielmehr die Tatsache, dass die Leitung des Auswärtigen Amtes seit 1933 »Judenfragen« zum Aufgabenfeld des Ministeriums rechnete. 1941/42 waren Martin Luther und Franz Rademacher in der Wilhelmstraße für »Judenfragen« und damit auch für die Beteiligung des Amtes an der »Endlösung« schlicht zuständig – so wie wirtschaftliche Fragen in die Zuständigkeit der Wirtschaftsabteilung fielen, Rechtsfragen in die Zuständigkeit der Rechtsabteilung. Freilich waren die Abteilung Deutschland und ihr »Judenreferat« Querschnittsinstitutionen, weil die »Judenfrage« in ganz unterschiedliche Arbeitsbereiche des Amtes hinein reichte: in wirtschaftliche im Arisierungszusammenhang, in rechtliche im Zusammenhang mit Staatsangehörigkeitsfragen und in politische im Zusammenhang mit der europäischen Koordinierung der »Endlösung« und der Beteiligung anderer Staaten daran. Deswegen vertrat Luther das Amt auf der Wannsee-Konferenz, doch er beeilte sich, insbesondere Staatssekretär Weizsäcker unmittelbar nach der Einladung über das geplante Treffen und seinen Zweck zu unterrichten;19 und auch ansonsten war der Informationsaustausch zwischen dem »Judenreferat« beziehungsweise der Abteilung Deutschland und der Leitungsebene, insbesondere Staatssekretär Weizsäcker, sowie der Politischen Abteilung unter Woermann eng und gut. Die Judenpolitik war freilich ein Querschnittsthema von enormer politischer Bedeutung. Das führte gerade in den Kriegsjahren – und die Teilnahme Luthers an der WannseeKonferenz ist dafür ein Indiz – zu einem erheblichen intraministeriellen Bedeutungs-, ja Machtgewinn der Abteilung Deutschland und ihres Leiters, der schließlich, spätestens 1942/43, die Stellung des Außenministers selbst bedrohte. Der »Putschversuch« Luthers gegen Ribbentrop ist auch in diesem Licht zu sehen, und es war aus der Sicht Ribbentrops nach dessen Scheitern nur konsequent, nicht nur Luther individuell kalt zu stellen, sondern auch die Abteilung Deutschland aufzulösen und ihre Teileinheiten anderen Abteilungen zuzuordnen.
II. Seit Ende Oktober, Anfang November 1941 erreichten das Auswärtige Amt die ersten Berichte aus dem Reichssicherheitshauptamt über die Tätigkeit der Einsatzgruppen. Damit 1933 und 1945 nur für etwas mehr als ein Jahr (15.12.1938 bis 7.5.1940) von den beiden »Sonderreferaten« Partei und Deutschland die Rede (vgl. auch Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945, herausgegeben vom Auswärtigen Amt, Bd. 1, Paderborn u.a. 2000, S. XXVII f.). Es ist also unpräzise und unangemessen, durchgängig die Bezeichnung »Sonderreferat« oder »Sonderreferate« zu verwenden. Dass dies nach 1945 immer wieder geschehen ist und sich zum Teil bis heute fortsetzt, kann wohl auch als Teil des Versuchs erklärt werden, insbesondere dem »Judenreferat« der Kriegsjahre eine die anderen Einheiten entlastende Sündenbockfunktion zuzuweisen. 18 Browning, Die »Endlösung«, S. 53. 19 Ebenda., S. 103.
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setzte sich eine Entwicklung fort, die schon in der Frühphase des Krieges begonnen hatte. Das Auswärtige Amt war zwar zu diesem Zeitpunkt nur punktuell an den Überlegungen und Maßnahmen zur »Lösung der europäischen Judenfrage«, wie es zunächst noch hieß, beteiligt – Stichwort: Madagaskar-Plan –, es war aber doch informiert und wurde nicht müde, diese Information auch immer wieder aufs Neue einzufordern. Begründet wurde der Informationsanspruch des Amtes mit den diplomatischen, den außenpolitischen Verwicklungen, die sich aus den jeweiligen antijüdischen Maßnahmen ergeben könnten. Als beispielsweise im Februar 1940 Stettiner Juden deportiert wurden, verlangte Staatssekretär von Weizsäcker nähere Informationen. Gegenüber Gestapo-Chef Müller unterstrich »Judenreferent« Schumburg, «dass es im politischen Interesse wünschenswert sei, wenn Evakuierungsmaßnahmen rechtzeitig und sorgfältig vorbereitet und in geräuschloser und vorsichtiger Form durchgeführt würden, um die Aufmerksamkeit des böswilligen Auslands nicht zu erregen«.20 Ähnlich verhielt es sich, als im März 1940 Juden aus Schneidemühl nach Posen oder als im Oktober des gleichen Jahres über 6.500 Juden aus Baden und der Pfalz in den unbesetzten Teil Frankreichs deportiert wurden. 1940/41 war die Information des Auswärtigen Amtes durch das Reichssicherheitshauptamt über Deportationen und andere antijüdische Maßnahmen eine etablierte Praxis, auch wenn die Wilhelmstraße in der Regel erst nach den Aktionen in Kenntnis gesetzt wurde.21 Das gilt auch für die Einsatzgruppen-Berichte. In der Berliner Zentrale war man zwar schon vorher über den beginnenden Massenmord informiert: durch die Berichte deutscher Diplomaten aus dem Osten Europas – so berichtete beispielsweise der deutsche Konsul Fritz Schellhorn über den Pogrom von Jassy am 28. Juni 1941, an dem auch deutsche Soldaten beteiligt waren22 –; durch die Rapporte der Vertreter des Auswärtigen Amtes bei der Wehrmacht, von denen, soweit wir die Berichte kennen, nur einer, Werner Otto von Hentig, die Ermordung der Juden kritisierte, während seine Kollegen der Judenvernichtung, wenn sie sich überhaupt dazu äußerten, gleichgültig gegenüber standen oder ihr sogar zustimmten;23 durch Zuschriften, oftmals anonym, die verschiedentlich in Berlin eingingen und über die deutschen Verbrechen informierten, und schließlich auch durch die Berichterstattung ausländischer Medien, die oftmals auf Augenzeugenberichten basierten.24 Im Gegensatz zu diesen eher punktuellen Dokumenten lieferten die EinsatzgruppenBerichte, deren erster am 11. November 1941 im Ministerbüro einging und dann an die 20 PAAA, R 99355: Schumburg an Müller, Februar 1940, zit. nach Conze u.a., Das Amt, S. 180 f.; vgl. auch PAAA, R 99355: Schumburg an Weizsäcker, 17.2.1940. 21 Siehe dazu Conze u.a., Das Amt, S. 181 f. (mit entsprechenden Nachweisen). 22 Siehe Hartwig Cremers, »Generalkonsul Dr. Dr. Fritz Gebhard Schellhorn«, in: Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik 23 (2011), S. 129–141, hier S. 133. Auch der Deutsche Gesandte in Bukarest, SA-Obergruppenführer Manfred v. Killinger, berichtete der AAZentrale über den Pogrom von Jassy. Vgl. Döscher, Das Auswärtige Amt, S. 246. 23 Siehe dazu Conze u.a., Das Amt, S. 208–214. 24 Siehe dazu Browning, Die »Endlösung«, S. 112.
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Abteilung Deutschland weitergeleitet wurde, wo ihn Luther am 17. November mit seinen Initialen versah, systematische Informationen über die Tätigkeit der Einsatzgruppen und – in ihrem Zentrum – über den Judenmord.25 Die Sprache der Berichte war deutlich und offen. Keiner, der sie las, konnte behaupten, nicht den genozidalen Charakter der Massentötungen erkannt zu haben, die unter der Überschrift »Lösung der Judenfrage« abgehandelt wurden und in denen beispielsweise in einem Bericht über ein Massaker mit Tausenden von Toten nüchtern festgehalten wurde, dass die Gegend um Mogilew nun »judenfrei« sei.26 Aber wer las die Berichte, von denen zwischen November 1941 und Ende April 1942 insgesamt elf vom Reichssicherheitshauptamt an die Wilhelmstraße geschickt wurden?27 Aus dem Ministerbüro wurden sie in der Regel an die Abteilung Deutschland weitergegeben und dort vermutlich von Luther sowie den Mitarbeitern des »Judenreferats« gelesen. Von da aus wurden entweder die Berichte selbst oder aussagekräftige Zusammenfassungen vergleichsweise breit im Amt verteilt: Nicht nur Minister und Staatssekretär wurden informiert, sondern auch, zum Teil im Umlaufverfahren, die Mehrheit der Abteilungsleiter, vor allem Woermann als Leiter der Politischen Abteilung, sowie die geographisch zuständigen Referate der Politischen Abteilung (Russland, Balkan, Skandinavien). Browning hat ermittelt, dass die Berichte beziehungsweise Zusammenfassungen von 22 verschiedenen Personen in der AA-Zentrale abgezeichnet und mit größter Wahrscheinlichkeit von einer ungleich größeren Gruppe von Diplomaten gelesen worden sind.28 Zumindest Luther und Rademacher waren allerdings im Spätherbst 1941 bereits sehr viel direkter in die »Endlösung« involviert, und beide wussten auch schon zu diesem Zeitpunkt, dass sich hinter der Chiffre »Endlösung der Judenfrage« nun keine territoriale Lösung mehr verbarg (Vertreibung, Ghettoisierung), sondern die physische Vernichtung der Juden in eigens zu diesem Zweck errichteten Lagern. Beide versuchten, dem Auswärtigen Amt eine aktive Beteiligung auch an dieser neuen Form der »Endlösung« zu sichern. Längst ging es dabei nicht mehr vorwiegend um die außenpolitische Abschirmung der sich radikalisierenden deutschen Judenpolitik. Schon im Juni 1940 hatte Rademacher, damals noch mit Blick auf eine territoriale »Endlösung«, die gleichwohl Tausende von Toten einkalkulierte und billigend in Kauf nahm, konstatiert: »Durch den Krieg selbst und die dadurch heraufbeschworene endgültige Auseinandersetzung mit den westlichen Imperien ist die außenpolitische Bedeutung der jeweils zu entscheidenden Einzelfrage in Judensachen zurückgetreten. Dafür steht m. E. die Frage 25 Zur Information des AA durch die Einsatzgruppen-Berichte siehe ebenda, S. 98–102, oder auch Döscher, Das Auswärtige Amt, S. 246–250; sowie Conze u.a., Das Amt, S. 186–188. Hierauf stützen sich auch die folgenden Ausführungen. 26 Browning, Die »Endlösung«, S. 101. 27 Kritische Edition der Berichte: Peter Klein (Hg.), Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion. Die Tätigkeits- und Lageberichte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, Berlin 1997. 28 Vgl. Anmerkung 26.
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nach dem deutschen Kriegsziel in der Judenfrage zur Entscheidung. […] Der jetzige Krieg hat eben ein doppeltes Gesicht: ein imperialistisches – die Sicherung des für Deutschland als Weltmacht politisch, militärisch und wirtschaftlich notwendigen Raumes –, ein überstaatliches – Befreiung der Welt aus den Fesseln des Judentums und der Freimaurerei.«29 Aus Serbien, das unter deutscher Militärverwaltung stand, forderte Felix Benzler, der Bevollmächtigte des Auswärtigen Amtes in Belgrad, vor dem Hintergrund des jugoslawischen Partisanenkriegs im Sommer 1941 immer drängender eine Deportation männlicher Juden, die er für eine wichtige Stütze der kommunistischen Aufständischen hielt.30 Weil Heydrich und Eichmann im Reichssicherheitshauptamt eine Deportation serbischer Juden nach Russland oder ins Generalgouvernement ablehnten und die Politische Abteilung des Amtes eine Deportation nach Rumänien wegen negativer Auswirkungen auf die deutsch-rumänischen Beziehungen ausschloss, blieb schließlich aus Sicht Luthers und Rademachers nur mehr eine, wie sie es nannten, »klare Lösung dieser Frage« in Serbien selbst. Luther wandte sich daraufhin an Heydrich persönlich, um mit dem Reichssicherheitshauptamt zusammen die Wehrmacht zur Erschießung der serbischen Juden zu zwingen. Rademacher selbst wirkte vor Ort im Rahmen einer Dienstreise zusammen mit zwei Vertretern des Reichssicherheitshauptamts an dieser »Lösung« mit. Seine Reisekostenabrechnung mit der Zweckangabe »Liquidation von Juden in Belgrad« ist bekannt.31 Das Auswärtige Amt hatte aktiv kooperiert, wohl wissend, dass die SS- und Polizeieinheiten seit dem Sommer 1941 anderenorts Massenerschießungen von Juden durchführten. Wichtig ist aber im Hinblick auf das Thema dieses Beitrags im Zusammenhang mit der Entwicklung in Serbien noch ein weiterer Punkt: Rademachers Bericht über seine Dienstreise nach Belgrad vom 25. Oktober 1941 hielt nicht nur fest, dass die männlichen Juden in Serbien »bis Ende dieser Woche erschossen« seien und damit das in dem Bericht der Gesandtschaft angeschnittene Problem erledigt sei. Der Bericht ging auch auf die verbliebenen etwa 20.000 serbischen Juden ein, vor allem Frauen, Kinder und alte Menschen, die zunächst in Belgrad ghettoisiert werden sollten. Doch dann schrieb Rademacher weiter: »Sobald dann im Rahmen der Gesamtlösung der Judenfrage die technische Möglichkeit besteht, werden die Juden auf Wasserwegen in die Auffanglager im Osten 29 Notiz Rademacher, 3.6.1940, zit. nach Hans-Jürgen Döscher, SS und Auswärtiges Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der »Endlösung«, Frankfurt am Main u.a. 1991, S. 215. 30 Das Folgende nach Browning, Die »Endlösung«, S. 78–92. Die wichtigsten Dokumente der deutschen diplomatischen Vertretung in Belgrad sind abgedruckt in: Léon Poliakov/Joseph Wulf (Hg.), Das Dritte Reich und seine Diener. Dokumente [1956], Berlin 1975, S. 43–56. Zum Gesamtzusammenhang siehe auch Walter Manoschek, »Serbien ist judenfrei«. Militärische Besatzungspolitik und Judenvernichtung in Serbien 1941/42, München 1993. 31 Die aus Rademachers Personalakte stammende Reisekostenabrechnung fand bereits 1952 in dem Prozess gegen Rademacher als Mittel der Beweisführung Verwendung. Die deutsche Presse, beispielsweise die Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 18.3.1952, berichtete darüber. In seiner Ausgabe vom 29.3.1971 druckte der Spiegel ein Faksimile des Dokuments. Vgl. aber auch Browning, Die »Endlösung«, S. 87.
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abgeschoben.«32 Zwar hatte Eichmann gegenüber Luther und Rademacher schon Ende August 1941 die Wendung »im Hinblick auf die in Vorbereitung befindliche Endlösung« verwandt,33 doch klarere Konturen schien der Übergang zur systematischen Ermordung der europäischen Juden für die AA-Vertreter erst im Laufe des Oktober 1941 zu gewinnen. In diesem Monat nämlich hatte Luther mit Heydrich die Frage der spanischen Juden in Frankreich besprochen. War dabei zunächst noch von einer Abschiebung der Juden ins spanische Marokko die Rede, also einer territorialen Lösung, blockierte Heydrich kurz darauf ein solches Vorgehen. Zum einen sei die spanische Regierung zu einer Überwachung der Juden weder willens noch in der Lage. »Darüber hinaus wären diese Juden aber auch bei den nach Kriegsende zu ergreifenden Maßnahmen zur grundsätzlichen Lösung der Judenfrage dem unmittelbaren Zugriff allzu sehr entzogen«.34 Angesichts der Informationen über die Tätigkeit der Einsatzgruppen sowie über die Position Heydrichs im Hinblick auf die Erschießung der serbischen Juden konnte sich Luther sehr wohl einen klaren Reim auf Heydrichs Andeutung machen. Aber auch Rademacher hatte im Kontext seiner Serbien-Reise offensichtlich von den geplanten »Auffanglagern im Osten« gehört, in welche Frauen, Kinder und alte Menschen transportiert werden sollten. Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Belgrad erhielt Rademacher einen Brief von Paul Wurm, eines mit ihm befreundeten Auslandsredakteurs des »Stürmer«. Wurm berichtete in dem Brief über einen »alten Parteigenossen, der im Osten an der Regelung der Judenfrage arbeitet. In nächster Zeit wird von dem jüdischen Ungeziefer durch besondere Maßnahmen manches vernichtet werden«.35 Auch für Rademacher dürfte sich aus den Informationen über die »Auffanglager im Osten« und die für die Zukunft geplanten Vernichtungsmaßnahmen eine eindeutige Botschaft ergeben haben. Der Übergang der deutschen Judenpolitik zum Programm einer systematischen Vernichtung war den führenden Vertretern der Abteilung Deutschland also deutlich vor der Wannsee-Konferenz klar. Der besondere, sich aus ihren Zuständigkeiten ergebende Kenntnisstand Luthers und Rademachers ist noch keine Aussage über die fortgesetzte Beschäftigung des gesamten diplomatischen Apparats mit der deutschen Judenpolitik und ihren Folgen. Luther und das »Judenreferat« hatten einen Informationsvorsprung – nicht mehr. Dieser Informationsvorsprung dauerte bis zur Wannsee-Konferenz, und auch wenn das Wannsee-Protokoll in der Wilhelmstraße nicht so breit und freizügig verteilt wurde wie die Einsatzgruppenberichte, brach sich das Wissen doch Bahn. Wann genau beispielsweise Weizsäcker und Woermann Informationen über die Konferenz erhielten, ist aus den Akten nicht zu erhellen. Gleichwohl verbreitete sich das Wissen über die Deportationen und ihr Ziel auch im 32 Aufzeichnung Rademachers über seine Dienstreise nach Belgrad, 25.10.1941, zit. nach Poliakov/ Wulf (Hg.), Das Dritte Reich, S. 52–54. 33 Vgl. Browning, Die »Endlösung«, S. 90. 34 PAAA, R 103195: Mitteilung Luthers, 17.10.1941. 35 Siehe dazu Browning, Die »Endlösung«, S. 91 f. (dort auch das Zitat).
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Auswärtigen Amt, als beispielsweise Anfang Februar der Madagaskar-Plan offiziell ad acta gelegt wurde, weil, so hieß es in einem Vermerk Rademachers, der Führer entschieden habe, »dass die Juden nicht nach Madagaskar, sondern nach dem Osten abgeschoben werden sollen«.36 Sogar auf der Ebene von Mitarbeitern der Botschaften war die Kenntnis vom hauptsächlichen Inhalt der Wannsee-Konferenz angekommen. Am 23. März 1942 schrieb der Legationsrat Carltheo Zeitschel aus Paris an das Auswärtige Amt, die Botschaft benötige eine Abschrift der Besprechung, da deren Gegenstand für die Behandlung der Judenfrage seitens der Botschaft von grundsätzlicher Bedeutung sei. Eine vertrauliche Beschaffung des Protokolls sei gegebenenfalls über Unterstaatssekretär Woermann möglich.37
III. Sicher, das Auswärtige Amt hatte auf der Wannsee-Konferenz offiziell durch SS und Polizei eine aktive Rolle im Völkermord zugewiesen bekommen, und Luther hatte, womöglich auch aus amtsinternen Erwägungen und persönlichen Motiven darauf hingearbeitet. Strukturell jedoch änderte sich an der allgemeinen Aufgabe des Amtes und an seiner Beteiligung an der Judenpolitik nur wenig. Von der Sache her ging die im Konferenzprotokoll fixierte Einbeziehung des Amtes in die »Endlösung« nicht über die Position hinaus, die Staatssekretär Weizsäcker im Herbst 1941 bezüglich der serbischen Juden formuliert hatte: zwar keine Einmischung der deutschen Diplomatie in den Umgang mit den Juden innerhalb der Grenzen Serbiens, wohl aber ein Recht des Amtes und seiner Vertreter, sich mit Deportationen von Juden in andere Länder zu beschäftigen.38 Als die erste Wannsee-Folgekonferenz am 29. Januar 1942 die Anwendung der deutschen Mischlingskonzepte (Nürnberger Gesetze) auf die Juden in den östlichen Gebieten beriet, widersprach das Auswärtige Amt, vertreten durch Herbert Müller, den späteren Botschafter der Bundesrepublik in Portugal, nicht den geplanten Maßnahmen an sich, die letztlich auf eine undifferenzierte Einbeziehung aller nicht-deutschen »Halbjuden« in die Vernichtung hinausliefen; es riet aber davon ab, in der geplanten Verordnung ausländische Juden explizit zu erwähnen, da dies möglicherweise Propagandaangriffe und diplomatische Schritte des Auslands auslösen könnte.39 Im September 1942 bündelte Weizsäcker die Marschroute des Amtes. Aus dem »Judenreferat« auf die Position des Amtes zur Behandlung deutscher »Mischlinge« im Ausland angesprochen – es ging um die Alterna36 Mitteilung Rademachers an Bielfeld (Kolonialreferat), 10.2.1942; zit. nach ADAP, Serie E, Bd. 1, S. 403. Zur Information Weizsäckers am 8.12.1941 vgl. Dok. 4.2. 37 Nürnberger Dok. NG-3668; siehe Dokument 6.2 in diesem Band; abgedruckt auch bei Robert Kempner, Eichmann und Komplizen, Zürich u.a. 1961, S. 148 f. 38 Vgl. Browning, Die »Endlösung«, S. 87 f. und 106. 39 PAAA, R 100859: Protokoll der Konferenz vom 29.1.1942 sowie Bericht Herbert Müllers, 30.1.1942.
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tive Zwangssterilisierung oder Ermordung –, verwies der Staatssekretär auf mangelnde Informationen, um die Frage kompetent beurteilen zu können. Er formulierte stattdessen die »allgemeine Feststellung, dass die jeweils mildere der zur Diskussion stehenden Lösungen vom außenpolitischen Gesichtspunkt aus den Vorzug verdient«, um – und da war die Prämisse wieder – feindlicher Propaganda keinen Vorschub zu leisten und die Kooperation anderer europäischer Länder zu erleichtern.40 Dass Luther später Heydrich gegenüber de facto für die Deportation der »Halbjuden« eintrat, ändert nichts an dem Befund, dass es der Spitze des diplomatischen Apparats nicht um die Sache selbst ging, sondern um ihre außenpolitischen Folgen. Aber selbst mit dieser beschränkten Rolle war das Auswärtige Amt seit der Wannsee-Konferenz in die vom Reichssicherheitshauptamt gesteuerte interministerielle und interinstitutionelle Koordination des Judenmords integral eingebunden und verfügte über gleichsam von Himmler und Heydrich verbriefte Mitsprache- und Mitwirkungsrechte. Jenseits der Aktivitäten der Berliner Zentrale unterschied sich die Mitwirkung der einzelnen diplomatischen Vertretungen an den antijüdischen Maßnahmen in den Kriegsjahren von Land zu Land. Das hat die Forschung der letzten Jahrzehnte in einer Reihe von Einzelstudien präzise herausgearbeitet.41 In Osteuropa war das Auswärtige Amt lediglich für Angelegenheiten ausländischer Juden zuständig. In den von Deutschland besetzten Gebieten wurden die diplomatischen Vertreter, zum Teil auch die Berliner Zentrale, in der Regel konsultiert; das Amt verfügte dort de facto über ein außenpolitisch begründetes Vetorecht bei Deportationen. In den deutschen Satellitenstaaten kümmerten sich die Diplomaten um offizielle Deportationsgenehmigungen oder übten, wie beispielsweise im Sommer 1942 in der Slowakei, politischen Druck auf die Vasallenregierungen aus, wenn die Deportationen ins Stocken gerieten.42 Und in den mit Deutschland verbündeten Staaten in Europa, allen voran in Italien bis 1943, sahen die Diplomaten ihre Hauptaufgabe darin, die Regierungen nicht nachlassend zur Einführung antijüdischer Maßnahmen nach deutschem Vorbild zu ermuntern.43 Die Heterogenität der bilateralen Beziehungen hielt das Auswärtige Amt nicht davon ab, sich für judenpolitische Regelungen auf europäischer Ebene stark zu machen. Vermutlich bildete die Unübersichtlichkeit der verschiedenartigen bilateralen Beziehungsstrukturen sogar eine Begründung für den Versuch, zu europäischen Lösungen zu gelangen. Im Winter 1941/42 ergriff das Amt diesbezüglich die Initiative, nachdem der bulgarische Außenminister Popov in einem Gespräch mit Ribbentrop die europäische Anwendung der deutschen antijüdischen Gesetze vorgeschlagen hatte. Nachdem Ribbentrop dem 40 PAAA, R 100857: Aufzeichnung Weizsäckers für Luther, 16.9.1942. 41 Vgl. den Überblick (mit zahlreichen Literaturhinweisen) in: Conze u.a., Das Amt, S. 221–294. 42 Zur Slowakei siehe Tatjana Tönsmeyer, Das Dritte Reich und die Slowakei 1939–1945. Politischer Alltag zwischen Kooperation und Eigensinn, Paderborn u.a. 2003, u.a. S. 139 und 156. 43 Zu Italien siehe u.a. Lutz Klinkhammer, Zwischen Bündnis und Besatzung. Das nationalsozialistische Deutschland und die Republik von Salò 1943–1945, Tübingen 1993.
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zugestimmt hatte, wurde das Referat D III tätig. Die Gelegenheit des Krieges, so heißt es in einem von Rademacher verfassten und von Luther unterzeichneten Memorandum für Weizsäcker vom 17. Januar 1942 – drei Tage vor der Wannsee-Konferenz –, müsse »benutzt werden, in Europa die Judenfrage endgültig zu bereinigen. Die zweckmäßigste Lösung hierfür wäre, alle europäischen Staaten dazu zu bringen, die deutschen Judengesetze bei sich einzuführen und zuzustimmen, dass die Juden unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit den Maßnahmen des Aufenthaltslandes unterworfen werden«. Gleichsam als Auftakt in diese Richtung empfahl D III eine »Vereinbarung zwischen den im Antikomintern-Pakt zusammengeschlossenen Mächten darüber herbeizuführen, dass die Juden mit Staatsangehörigkeit dieser Länder in die Judenmaßnahmen des Aufenthaltslandes einbezogen werden könnten«. Weizsäcker reichte den Vorschlag an die Rechtsabteilung weiter, die erhebliche Komplikationen befürchtete und statt eines multilateralen Abkommens eine Reihe bilateraler Vereinbarungen vorschlug. Ob dies nun die Europäisierung der »Endlösung« verlangsamt und damit Luther gleichsam ausgebremst hätte, wie Browning den Vorgang interpretiert, oder ob nicht der Vorschlag der Rechtsabteilung beschleunigend wirken sollte, ist schwer zu beurteilen.44 Sichtbar wird in dem Vorgang allerdings, wie sehr die rassenideologische Logik das bürokratische Handeln und Argumentieren bestimmte. Dieser systembildenden Logik folgte auch die Beteiligung des Auswärtigen Amtes an der nationalsozialistischen Judenpolitik. Die bürokratische Praxis vollzog sich im Rahmen einer prinzipiell akzeptierten Logik. Innerhalb dieser Logik gab es Dissens und Konflikt, die jedoch die Grundakzeptanz der Systemlogik, nicht zuletzt in dem Konsens, es gebe eine »Judenfrage«, nicht in Frage stellten, sondern sie, im Gegenteil, verstärkten. Auch Ernst v. Weizsäcker mag in dieser Perspektive ein »Gesetzesonkel« gewesen sein, wie Eichmann während seines Jerusalemer Prozesses 1961 Innenstaatssekretär Wilhelm Stuckart nannte.45 Doch hinter dem Beharren auf der Rechtsförmigkeit und der Regelhaftigkeit judenpolitischer Maßnahmen standen gerade nicht grundsätzliche Bedenken, sondern das Bemühen, präzedenzlose Verbrechen als Normalität erscheinen zu lassen und sie in die Routine bürokratisch-administrativen Handelns zu integrieren. Die Beteiligung des Auswärtigen Amtes an der deutschen Judenpolitik entwickelte sich seit Kriegsbeginn immer stärker in einer Interdependenz von Zentrum und Peripherie. Lokale Repräsentanten ergriffen immer wieder die Initiative. Auf Felix Benzler in Belgrad wurde bereits hingewiesen. Aber auch Otto Abetz und seine Botschaft in Paris (mit Rudolf Schleier, Carltheo Zeitschel und Ernst Achenbach in judenpolitisch wichtigen und einflussreichen Funktionen) sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen, die schon im Sommer 1940 eine Reihe scharfer Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung im deutsch besetzten Frankreich nicht nur vorschlugen, sondern die SS überhaupt erst 44 Vgl. Browning, Die »Endlösung«, S. 97, sowie Conze u.a., Das Amt, S. 186 (dort auch die Zitate). 45 Hans-Christian Jasch, Staatssekretär Wilhelm Stuckart und die Judenpolitik. Der Mythos von der sauberen Verwaltung, München 2012, S. 324. Vgl. Eichmann am 24.7.1961, Dok. 13.
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zum Handeln in diesem Kontext veranlassten.46 Im Oktober 1940 wurde Abetz bezüglich der »Kollektivausbürgerung« in Frankreich lebender deutscher Juden initiativ.47 Und am 16. September 1941 traf Abetz, ausgestattet mit entsprechenden Aufzeichnungen seines »Judenreferenten« Zeitschel, in der »Wolfsschanze« zunächst mit Ribbentrop, Himmler und später auch mit Hitler zusammen.48 Während das eine Memorandum Zeitschels die Sterilisation aller sich in den besetzten Gebieten aufhaltenden Juden vorschlug, forderte das andere die Deportation der Juden in ein abgegrenztes Gebiet »irgendwo im Ostraum«. Die sofort umsetzbare Maßnahme sollte nicht nur das Problem der »Lagerknappheit« im besetzten Frankreich beheben, sondern letztlich Europa »judenfrei« machen.49 Über die Unterredungen von Abetz mit Ribbentrop, Himmler und Hitler sind wir nur bruchstückhaft informiert. Wir wissen aber immerhin, dass Himmler der Deportation der internierten französischen Juden zustimmte, in den Worten von Peter Witte »der erste konkrete Schritt zu einer ›Endlösung der Judenfrage‹ in einem von den Deutschen besetzten westeuropäischen Gebiet«.50 Das Thema »Deportationen in den Osten« war auch Gegenstand des Gesprächs zwischen Abetz und Hitler sowie vermutlich auch tags darauf, am 17. September, in Unterredungen zwischen Hitler und Ribbentrop sowie Ribbentrop und Himmler. Es spricht manches dafür, dass zusammen mit gleich gerichteten Initiativen anderer Instanzen, die ebenfalls Mitte September 1941 an Hitler und Himmler herangetragen wurden (nicht zuletzt der »Anregung« des Hamburger Gauleiters Kaufmann, Juden aus Hamburg zu deportieren, um Wohnraum für »deutsche« Bombengeschädigte zu schaffen, aber auch der aus dem Rosenberg-Ministerium stammenden Idee, als Reaktion auf die von der sowjetischen Führung befohlene Verbannung der Wolgadeutschen nach Sibirien die Juden Zentraleuropas in den Osten zu transportieren) auch die Initiative von Abetz bei Hitler und in seinem engsten Umfeld jene Deportationsentscheidung reifen ließ, die ab dem 15. Oktober 1941 mit der Deportation der deutschen Juden systematisch umgesetzt wurde, und ohne die wiederum der Übergang zur systematischen Vernichtung der europäischen Juden kaum zu erklären ist.51 46 Siehe dazu Barbara Lambauer, »Opportunistischer Antisemitismus. Der deutsche Botschafter Otto Abetz und die Judenverfolgung in Frankreich«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 53 (2005), S. 241–273, hier S. 244 f.; vgl. auch Conze u.a., Das Amt, S. 191 f. Ausführlicher zur Mitwirkung des Auswärtigen Amts an der Verfolgung und Deportation der Juden in Frankreich siehe Barbara Lambauer, Otto Abetz et les Français ou l’Envers de la Collaboration, Paris 2001; oder Ahlrich Meyer, Täter im Verhör. Die »Endlösung« der Judenfrage in Frankreich 1940–1944, Darmstadt 2005. 47 PAAA, R 29588: Abetz an Auswärtiges Amt, 1.10.1940; zit. nach Conze u.a., Das Amt, S. 179 f. 48 Siehe Peter Witte, »Zwei Entscheidungen in der »Endlösung der Judenfrage«. Deportationen nach Łodz und Vernichtung in Chelmno«, in: Theresienstädter Studien und Dokumente 2 (1995), S. 38–68, hier 47–49. 49 Die Aufzeichnungen Zeitschels für Abetz sind abgedruckt in: Serge Klarsfeld, Vichy – Auschwitz. Die »Endlösung der Judenfrage« in Frankreich, Darmstadt 2007, S. 390–392. 50 Witte, »Zwei Entscheidungen«, S. 49. 51 Ebenda, S. 39–55.
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IV. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die Beteiligung des Auswärtigen Amtes an der Wannsee-Konferenz lag in der Logik und in der Konsequenz der Beteiligung des Amtes an der deutschen Judenpolitik seit 1933. So wie sich die Judenpolitik sukzessive entwickelte und veränderte, so wie sich die antijüdischen Maßnahmen dynamisierten und radikalisierten, so veränderte und dynamisierte sich auch die Mitwirkung des diplomatischen Apparates. In diesem Prozess kam der Wannsee-Konferenz zwar eine wichtige Bedeutung zu, weil hier das Auswärtige Amt offiziell in die europaweite Durchführung des Judenmords eingebunden wurde. Aber schon Monate vor der Konferenz war das Amt, war seine Berliner Führungsebene über den beginnenden Massenmord informiert, offiziell seit November 1941. Der Übergang von der territorialen zur genozidalen »Endlösung« war in der Wilhelmstraße bekannt. Ingesamt bestätigte die Teilnahme von Unterstaatssekretär Luther im Grunde genommen lediglich die Kooperation des Auswärtigen Amtes mit dem Reichssicherheitshauptamt, so wie sie sich in den Kriegsjahren faktisch etabliert hatte. Je mehr Territorien in den Machtbereich des Dritten Reiches gerieten und je radikaler die deutsche Judenpolitik wurde, desto stärker war auch die deutsche Diplomatie mit der Planung und der Durchführung der »Endlösung« befasst. Diese Beteiligung bot dem Amt zugleich eine Chance, seine Position innerhalb des nationalsozialistischen Institutionengefüges zu stabilisieren, sein politisches Gewicht zu bewahren.52 Die Mitwirkung des Auswärtigen Amtes am Genozid hatte zwei zentrale Dimensionen: zum einen, ganz in der Kontinuität der seit 1933 geübten Praxis, die außenpolitische Absicherung des deutschen Vorgehens (beispielsweise mit Blick auf die Behandlung ausländischer Juden), und zum anderen die diplomatische Unterstützung der deutschen Judenpolitik in den ganz unterschiedlichen Ausformungen, die die Vielgestaltigkeit der deutschen Herrschaft über fast ganz Europa erforderte. Judenpolitische Initiativen des Amtes, sei es der Berliner Zentrale, sei es einzelner Auslandsvertretungen, sei es individueller Diplomaten, schloss das nicht aus. Solche Initiativen ergaben sich, im Gegenteil, aus den Imperativen institutioneller Selbstbehauptung, ideologischer Grundübereinstimmung oder auch individueller Profilierung. Die deutsche Judenpolitik in ihrer Entwicklung hin zum Völkermord war für das Auswärtige Amt kein »Sonderthema«, sondern – trotz der federführenden Rolle der Abteilung Deutschland und ihres »Judenreferats« – zentraler Bestandteil allgemeiner diplomatischer Aktivität. Routiniert und geschäftsmäßig versahen die deutschen Diplomaten ihre Aufgaben. Das zeigt nicht zuletzt die kommunikative Praxis des diplomatischen Apparats: die nüchterne, sachliche Sprache der Vermerke und Memoranden, die Paraphen und Unterschriften auf den Dokumenten, die Umläufe, Schnellbriefe und Drahtberichte. Diese verweisen freilich auch auf eine tief greifende moralische Verrohung, die vor den deutschen
52 So, neben Browning, Die »Endlösung«, auch Weitkamp, Diplomaten, S. 22 f.
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Eliten nicht Halt machte.53 Moralischer Druck konnte so letztlich gar nicht mehr entstehen; offene Entscheidungslagen, die eine Option für oder gegen den Völkermord verlangt oder ermöglicht hätten, gab es nicht.54 Dissens und Auseinandersetzungen gab es auch im Auswärtigen Amt im Hinblick auf das »Wie« der »Endlösung«. Das «Ob« stand nicht zur Diskussion. Der Judenmord war insofern durchaus ein Problem der Diplomatie. Aber er war ein Problem in einem technisch-administrativen und auch in einem politischen Sinne, er war – von wenigen Ausnahmen abgesehen – kein moralisches Problem. .
53 Vgl. Herbert, Vernichtungspolitik, S. 64. 54 Vgl. Alf Lüdtke, »Funktionseliten: Täter, Mit-Täter, Opfer? Zu den Bedingungen des deutschen Faschismus«, in: ders. (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, Göttingen 1991, S. 559–590, hier S. 590.
Hans-Christian Jasch
Behördliche Abstimmung zur Vorbereitung von Deportation und Völkermord Zur Rolle des Vertreters des Reichsministeriums des Innern Dr. Wilhelm Stuckart
Die Wannsee-Konferenz steht symbolhaft für den arbeitsteiligen und administrativen Charakter des Völkermordes an den Juden, insbesondere deren Entrechtung und Deportation aus Deutschland und den westeuropäischen Staaten. Glaubten die NS-Machthaber im »Osten« kaum Rücksicht auf die lokale Bevölkerung und örtliche Institutionen nehmen zu müssen, verhielt sich die Situation im Reich selbst und im besetzten Westen anders. Hier war man für die systematische Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung − deren soziale und ökonomische Marginalisierung, Entrechtung und schließlich Deportation mit dem Ziel der Zwangsarbeit und Ermordung im Osten − auf die Kooperation zahlreicher Institutionen angewiesen und zu politischen Rücksichtnahmen gezwungen. Entrechtung und Deportation sollten daher in einem geordneten Verfahren erfolgen, um wirtschaftliche oder soziale Störungen zu minimieren. Zahlreiche Verbrechen des Regimes fanden eben nicht in einem rechtlich-administrativem Vakuum statt, sondern wurden zumindest durch Rechtssetzung vorbereitet, begleitet und so in dieser modernen und industrialisierten Form wohl auch erst möglich gemacht.1 Nur aufgrund juristischer Definitionen wurde die arbeitsteilige und behördenmäßige Erfassung, Entrechtung, Enteignung und Ermordung praktisch umsetzbar. Ohne den legalistischen Definitions-, Ausgrenzungsund Entrechtungsprozess, der bereits durch die Erbgesundheits- und die Rassengesetzgebung maßgeblich von der Ministerialbürokratie initiiert und durchgeführt wurde,2 wären 1 Beispielhaft für die rechtliche Flankierung der Deportation und des Mordes der Juden ist die »Elfte Verordnung zum Reichsbürgergesetz« vom 25. Nov. 1941 (RGBl. I S. 722), die den Staatsangehörigkeits- und Vermögensverlust emigrierter und deportierter Juden festlegte und Ausgleichsansprüche gegen das Reich als deren Rechtsnachfolger regelte. 2 Zur Rolle der Ministerialbürokratie beim Genozid siehe Hans Mommsen, »The Civil Service and the Implementation of the Holocaust. From passive to active complicity«, in: M. Berenbaum/A. J. Peck (Hg.), The Holocaust and History. The Known, the Unknown, the Disputed and the Reexamined, Bloomington/Indianapolis 1998, S. 219–227; Christopher R. Browning, »›Referat Deutschland‹. Jewish Policy and the German Foreign Office, 1933–1940«, in: Yad Vashem Studies 12 (1977), S. 37–73; ders., The Final Solution and the German Foreign Office: A Study of Referat D III of Abteilung Deutschland 1940–1943, New York 1978; Browning überträgt, vergleicht und typisiert
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die Deportation aus dem Reich und den west- und mitteleuropäischen Ländern sowie der sich anschließende Mord in dieser Form weder denkbar noch durchführbar gewesen. Der eigentlich anomische »Maßnahmestaat« war für sein verbrecherisches Tun auf die mit juristischem Sachverstand entwickelten Definitionen des »Normenstaates« angewiesen,3 der bestimmte Bevölkerungsgruppen als »missgestaltet«, »artfremd« oder »fremdvölkisch« brandmarkte und von der Gemeinschaft der »Rechtsgenossen« separierte.4 Erst durch die Stigmatisierung von Gruppen zu einem gesellschaftlichen Problem, wie es im Hinblick auf sogenanntes lebensunwertes Leben und die »Juden-« oder auch die »Zigeunerfrage« geschehen war, konnte die nötige Akzeptanz und Entsolidarisierung seitens der Mehrheitsbevölkerung erreicht werden, um diese Menschen anschließend sozial, wirtschaftlich und physisch zu vernichten. Zugleich verschaffte die juristische Gewandung dem Unrecht auch in den Augen derjenigen ein gewisses Maß an Legitimität, die der NS-Ideologie nicht mit Überzeugung folgten, und erleichterte dadurch Mitwirkung durch Mitläufertum. Der Genozid an den europäischen Juden war eben nicht nur ein rassistisch motivierter Massenmord bei Gelegenheit eines Krieges, sondern auch Produkt einer riesigen Administration und ausgefeilter Logistik5. Er wurde bestimmt durch zum Teil rivalisierende Akteure, die auf funktionierende Befehlsketten und enge Abstimmung angewiesen waren, um ihr monströses Vernichtungsprojekt logistisch bewältigen zu können. Mit der Staffelung von Teilaufgaben und Zuständigkeiten in diesem »Gefüge administrativer Arbeitsteiligkeit« diese Darstellung unter Einbeziehung von Stuckart und seinen Mitarbeitern, in: ders., »The Government Experts«, in: Henry Friedländer/Sybil Milton (Hg.), The Holocaust: Ideology, Bureaucracy, and Genocide: the San José Papers, Millwood/New York 1980, S. 183–197; Michael Mayer, Staaten als Täter. Ministerialbürokratie und »Judenpolitik« in NS-Deutschland und Vichy-Frankreich, München 2010, S. 211−224; Hans Christian Jasch, Staatssekretär Wilhelm Stuckart und die Judenpolitik. Der Mythos von der sauberen Verwaltung, München 2012. 3 Zur Begriffs- und Kategorienbildung: Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat. Recht und Justiz im »Dritten Reich«, rückübersetzt aus dem Englischen von Manuela Schöps in Zusammenarbeit mit dem Verfasser, Frankfurt am Main 1984 (Original: The Dual State. A Contribution to the Theory of Dictatorship, New York 1941); Gerd Roellecke, »Rechtsstaat−Nichtrechtsstaat−Unrechtsstaat«, in: Rechtstheorie 28 (1997), S. 299 ff. 4 Der Zivilrechtler und Rechtsphilosoph Karl Larenz postulierte 1935 in einem Aufsatz mit dem Titel »Rechtsperson und subjektives Recht«, dass der Mensch nicht als Individuum, »als Mensch schlechthin [...] Rechte und Pflichten und die Möglichkeit, Rechtsverhältnisse zu gestalten (haben solle), sondern als Glied [...] der Volksgemeinschaft. Nur als Glied der Volksgemeinschaft habe er seine Ehre, genieße er Achtung als Rechtsgenosse«. Er schlug deshalb vor, die grundlegende Vorschrift des § 1 BGB, wonach die Rechtsfähigkeit des (also jedes) Menschen mit der Vollendung der Geburt beginnt, wie folgt zu ändern: »Rechtsgenosse ist nur, wer Volksgenosse ist; Volksgenosse ist, wer deutschen Blutes ist«. Sowie: »Volksgenosse ist, wer deutschen Blutes ist. Wer außerhalb der Volksgemeinschaft steht, steht auch nicht im Recht.« Vgl. Karl Larenz, »Rechtsperson und subjektives Recht«, in: ders. (Hg.), Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, 1935, S. 225 ff. 5 Michael Stolleis, Comprendere l‘incomprensibile. L‘Olocausto e la storia del diritto, Vortrag in Catania im März 2009, Typoskript, S. 10 f.
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ging notwendigerweise eine Schichtung der Verantwortlichkeiten einher. Die individuelle Verantwortung blieb auf die unmittelbare eigene Zuständigkeit beschränkt. Hier entfalteten moderne arbeitsteilige Strukturen ihre volle Wirksamkeit. Die sachliche und vielfach euphemisierende Sprache der Bürokratie verstärkte dies, weil sie die Erörterung auch der schlimmsten Themen in einem an Zweckrationalität und Routine orientierten Ton gestattete.6 Die Wannsee-Konferenz war in der langen Kette der behördlichen Abstimmungsprozesse, die die Entrechtung und Deportation der europäischen Juden begleiteten nur ein – allerdings besonders hervortretender – Markstein, der zudem durch das im Frühjahr 1947 aufgefundene und in den Nürnberger Nachfolgeprozessen als Beweismittel eingesetzte Protokoll dokumentiert und überliefert ist, während andere Akten auf ausdrücklichen Befehl von Reichsinnenminister Himmler in den letzten Kriegsmonaten vernichtet wurden.7 Da Hitler im Februar 1938 die letzte Kabinettssitzung mit den Reichsministern abhielt,8 gewannen Staatssekretärsbesprechungen als Koordinationsebene in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre zunehmend an Bedeutung und wurden bald zum einzigen Koordinierungsmechanismus für ressortübergreifende politische Vorhaben.9 Im Folgenden soll die Beteiligung eines Ressorts, des Reichsministeriums des Innern (RMdI) und seines Vertreters, Wilhelm Stuckart, bei der Vorbereitung und Durchführung des ressortübergreifenden Mordvorhabens − für dessen Koordinierung die Wannsee-Konferenz steht − näher skizziert werden.
Das Reichsministerium des Innern im Machtgefüge des NS-Staates Auch wenn das Verhältnis zwischen Partei- und Staatsinstitutionen ambivalent blieb, waren die Nationalsozialisten nach der Machtübernahme zur Festigung und Legitimierung ihrer Herrschaft und zur Einbindung der traditionellen Eliten auf einen funktionie6 Raul Hilberg, Die Quellen des Holocaust. Entschlüsseln und Interpretieren, Frankfurt am Main 2002, S. 123. 7 Das Protokoll fand als Beweismittel vor allem im Wilhelmstraßen-Prozess gegen Weizsäcker, Stuckart et al. Verwendung (s.u.), während es im Prozess gegen den Angeklagten Otto Hofmann, den ehem. Chef des SS-Rasse- und Siedlungshauptamtes keine zentrale Rolle spielte. Vgl. Donald Bloxham, Genocide on Trial. War Crimes Trials and the Formation of Holocaust History and Memory, Oxford/ New York 2001, S. 74. 8 Zur steigenden Irrelevanz der Kabinettsitzungen, vgl. Hans-Ulrich Wehler, Der Nationalsozialismus. Bewegung, Führerherrschaft, Verbrechen, München 2009, S. 65. 9 Mark Roseman, The Villa, the Lake and the Meeting, London 2002, S. 84. Vgl. die Aussagen des ehem. Chefs der Reichskanzlei, Hans Heinrich Lammers, in einer Vernehmung 1948 in Nürnberg, in: Kurt Pätzold/Erika Schwarz, Tagesordnung: Judenmord. Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942. Eine Dokumentation zur Organisation der »Endlösung«, 3. unveränd. Aufl., Berlin 1992, S. 154 f.
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renden Beamtenapparat angewiesen, der ihr Programm beflissen in Rechtsnormen goss und umsetzte.10 Dem RMdI, das 1934 mit dem Preußischen Ministerium des Innern zusammengefasst wurde, kam hierbei eine zentrale Funktion zu, die zunächst auch die Federführung in der Judenpolitik und -gesetzgebung umfasste. Von einem reinen Verfassungs- und Gesetzgebungsministerium in der Weimarer Republik wandelte sich das Ministerium in der Anfangszeit der NS-Herrschaft zu einem Machtapparat, der mit der Polizei- und Gesundheitsverwaltung sowie der Gemeindeaufsicht über einen leistungsfähigen Unterbau in der Fläche verfügte,11 und der gerade in den Anfangsjahren des Regimes eine zentrale Rolle für die Festigung der neuerlangten Macht spielte. Als »Beamten- und Verfassungsministerium« war das RMdI maßgeblich am personellen und verfassungsmäßigen Umbau des Reiches beteiligt, der der Machtübernahme folgte.12 Als »Minister für Volksgesundheit, Rassen- und Erbgesundheitspolitik« besaß der Reichsminister des Inneren zudem die Initiative und Federführung für eines der zentralen ideologischen Politikfelder des »Dritten Reiches«: Mit der Erb- und Ehegesundheitsgesetzgebung und den Nürnberger Gesetzen und ihren Ausführungsverordnungen wurden die juristischen Grundlagen für die NS-Ausgrenzungs-, Entrechtungs- und Vernichtungspolitik gegenüber als rassisch oder erblich minderwertig eingestuften Menschen geschaffen.13 Das RMdI war zudem die Spitze der inneren Verwaltung und hatte Aufsichts- und Weisungsbefugnisse gegenüber den mittleren und unteren Behörden, die die allgemeinen Gesetze vollzogen. Im Zuge der NS-Expansionspolitik, der »Wehrhaftmachung« und Rationalisierung der inneren Verwaltung in Vorbereitung auf den Eroberungskrieg wuchs der Aufgabenbereich des RMdI. Frick wurde am 27. September 1938 zum Generalbevollmächtigten für die Reichsverwaltung (GBV) ernannt,14 und die Kompetenzen des RMdI wurden um den Bereich der Zivilverteidigung erweitert. Der GBV sollte mit der Erklärung des Kriegszustandes die einheitliche Führung der nichtmilitärischen Verwaltung übernehmen und schon im Frieden entsprechende Maßnahmen vorbereiten.15 Eine zentrale Rolle 10 Wehler, Der Nationalsozialismus, S. 73, betont zu Recht auch die Eigeninitiative der Verwaltung. 11 Die tradierte Behördenorganisation der preußischen Verwaltung wurde Bestandteil des RMdI und gewann damit auch prägende Kraft für die dort entwickelten NS-Verwaltungsreformpläne; vgl. Jane Caplan, »The Politics of Administration. The Reich Interior Ministry and the German Civil Service 1933−1943«, in: Historical Journal 20 (1977), S. 707 ff.; Dieter Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwicklung und Verwaltungspolitik 1939−1945, Stuttgart 1989, S. 93. 12 Vgl. Günter Neliba, Frick. Ein Legalist des Unrechtstaates. Eine politische Biographie, Paderborn 1992, S. 73 ff. 13 Vgl. Cornelia Essner, Die »Nürnberger Gesetze« oder die Verwaltung des Rassenwahns 1933–1945, Paderborn 2002, S. 86 ff.; Henry Friedländer, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997. 14 Vgl. Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BAB) R 43 II/1293 a. 15 Vgl. §§ 3, 13 des Zweiten Reichsverteidigungsgesetzes vom 4. Sept. 1938. Das Gesetz blieb zunächst unveröffentlicht und ist im Wortlaut erst als Nürnberger Beweisdokument PS 2194 gedruckt, in:
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kam dem RMdI nach Kriegsbeginn schließlich auch bei der Auswahl und Gestellung des Verwaltungspersonals,16 der Errichtung von Zentralstellen für die besetzten Gebiete17 und bei der Eingliederung und Erfassung von »eindeutschungsfähigen« Bevölkerungsgruppen durch Anpassung des Staatsangehörigkeitsrechts zu.18 Auch personell spiegelte die Innenverwaltung die neuen Machtverhältnisse.19 Wie überall wurden die Führungspositionen vielfach mit NSDAP-Mitgliedern besetzt.20 Durch die Personalunion von Partei- und Staatsämtern bis in untere Verwaltungszweige sollte die viel beschworene strukturelle Einheit verwirklicht und eine Beherrschung des Staatsapparates durch die Partei erreicht werden.21 Die Entwicklung, die das RMdI nach 1933 nahm, wird von Historikern dennoch eher als schleichender Erosionsprozess beschrieben. Einem rapiden und schnellen Machtanstieg sei eine »lange Etappe der fortwährenden politischen Aushöhlung, Degradierung und Entmündigung« gefolgt.22 Von seinem Status als Gesetzgebungsministerium mit International Military Tribunal (IMT), Bd. 29, S. 319 ff. Zur Funktion des GBV, vgl. Rebentisch, Führerstaat, S. 144 f. 16 Vgl. hierzu Stephan Lehnstaedt, »›Ostnieten‹ oder Verwaltungsexperten? Die Auswahl deutscher Staatsdiener für den Einsatz im Generalgouvernement Polen 1939–1944«, in: Zeitschrift für Geschichte 55 (2007), S. 701–721. 17 Vgl. Hans Christian Jasch, »Die Gründung der Internationalen Akademie für Verwaltungswissenschaften im Jahr 1942 in Berlin – Verwaltungswissenschaften als Herrschaftsinstrument und ›Mittel der geistigen Kriegführung‹ im nationalsozialistischen Staat«, DÖV 33 (2005), S. 709–721 (S. 715 Fn. 56). 18 Vgl. auch Stuckarts programmatische Aufsätze: »Probleme des Staatsangehörigkeitsrecht«, in: Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht (ZSdAfDR) 1938, S. 401−403; »Die Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Gebieten«, in: ZSdAfDR 1941, S. 233−237 und »Staatsangehörigkeit und Reichsgestaltung«, in: Reich Volksordnung Lebensraum (RVL), V (1943), S. 57 ff. 19 Nach einem Überblick des Leiters der RMdI-Personalabteilung, Erwin Schütze, von 1937 (vgl. Diemut Majer, Grundlagen des nationalsozialistischen Rechtssystems. Führerprinzip, Sonderrecht, Einheitspartei, Stuttgart u.a. 1987, S. 221) wurden von den insgesamt 438 Stellen sog. politischer Beamter in der inneren Verwaltung außerhalb des Ministeriums (Oberpräsidenten, Regierungspräsidenten und Landräte) 356 (81%) mit NSDAP-Mitgliedern besetzt. 20 Zur Personalstruktur und Parteizugehörigkeit der Beamten im RMdI siehe Stephan Lehnstaedt, »Das Reichsministerium des Innern unter Heinrich Himmler 1943−1945«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 54 (2006), S. 639−672 (S. 659 f.) Lehnstaedt verweist auf eine Dienstaltersliste (in: BAB R 1501/P 4367, Bl. 98 ff.), in der Mitgliedschaft bzw. Nichtmitgliedschaft in der NSDAP verzeichnet sind. 21 Vgl. Wilhelm Stuckart/Harry v.Rosen-v.Hoewel/Rolf Schiedermair, Der Staatsaufbau des Deutschen Reiches in systematischer Darstellung, Leipzig 1943, S. 120. 22 Rebentisch, Führerstaat, S. 91; zum RMdI im Herrschaftsgefüge des »Dritten Reiches«: Jane Caplan »The Politics of Administration«, S. 707 ff.; Dieter Rebentisch, »Die Staatssekretäre im Reichsministerium des Inneren 1933–1945. Anmerkungen zu Struktur und Wandel der Ministerialbürokratie«, in: Wolfgang Michalka, Der Zweite Weltkrieg. Analysen-Grundzüge-Forschungsbilanz, München 1989, S. 260−274; Neliba, Frick; Mayer, Staaten als Täter, S. 211–224.
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wichtigen Querschnittsfunktionen habe sich das RMdI zusehends zu einem einfachen Fachressort mit enger umschriebenen Aufgaben gewandelt.23 Andauernde Auseinandersetzungen mit Parteidienststellen hätten immer mehr Ressourcen gebunden; die Aufgaben des Innenressorts hätten sich schließlich auf die Ordnung der laufenden Verwaltung und die technokratische Umsetzung der über andere Machtzentren übermittelten politischen Führerentscheidungen reduziert. An dieser Entwicklung hatte auch der Ressortchef Wilhelm Frick24 persönlichen Anteil. Zwar war das RMdI zunächst das einzige Reichsressort, an dessen Spitze mit Frick ein »Alter Kämpfer« (langjähriges Parteimitglied) trat, der seit 1924 dem Reichstag (seit 1928 als NSDAP-Fraktionsvorsitzender) angehörte.25 Dennoch gelang es ihm und seinem Staatssekretär Hans Pfundtner26 nicht, die gute Ausgangsposition und anfängliche Machtstellung des RMdI zu behaupten oder weiter auszubauen. Frick erwies sich vor allem als zu schwach, um die Reichsreformpläne seines Hauses zur Errichtung einer starken Zentralgewalt mit dem RMdI als unangefochtener Verwaltungsspitze durchzusetzen.27 Er verbrachte viel Zeit weitab von Berlin auf seinem Hofgut im bayerischen Kempfenhausen, von wo aus er die Geschäfte des RMdI per Telegramm und Fernschreiben zu führen versuchte; die Leitung des Ministeriums überließ er mitten im Kriege seinen beiden Staatssekretären. Nach seiner Ablösung durch Himmler im August 1943 sandte Hitler Frick als Reichsprotektor nach Prag. 23 Vgl. auch Stephan Lehnstaedt, »Der ›totale Krieg‹ im Reichsministerium des Innern«, in: Die Verwaltung 39 (2006), S. 393−420, der demgegenüber betont, dass Himmler 1943 eine Behörde übernommen hat, die trotz des schleichenden Machtverlustes in den Jahren davor »bei den meisten legislativen Aktivitäten immer noch federführend war und ein Mitspracherecht bei der Ernennung und Entlassung aller leitenden Beamten im Reich hatte«. 24 Zu Wilhelm Frick vgl. Neliba, Frick, sowie Kurzportrait in: Jeremy Noakes (Hg.), Government Party and People in Nazi Germany, University of Exeter 1980, S. 34 ff. (S. 43); Rebentisch, Führerstaat, S. 98 ff. 25 Bereits am 25. August 1924 forderte Frick in einer Reichstagsrede, dass alle Juden von ihren öffentlichen Ämtern entfernt werden sollten; zwei Tage später stellte er einen Antrag zur Einführung eines Sonderrechts für Juden. Siehe Nbg.-Dok. 3128-PS. 26 Zu Hans Pfundtner siehe Edward N. Peterson, The Limits of Hitler‘s Power, Princeton 1969, S. 81 f.; Karl Dietrich Bracher u.a., Die nationalsozialistische Machtergreifung, Köln u.a. 1960, S. 409–411; Browning, »The Government Experts«, S. 183 ff.; Caplan, in: Noakes, Government, S. 42; Rebentisch, Führerstaat, S. 102 ff.; ders., »Die Staatssekretäre«, S. 260–274. 27 Zu den Reichsreformplänen des RMdI siehe Stuckarts Vortrag »Partei und Staat«, in: NSRB (Hg.), Deutscher Juristentag 1936, S. 262 ff., oder »Die Zentralgewalt des Reiches. Ein Vortrag von Staatssekretär Stuckart in Frankfurt«, in: Frankfurter Zeitung, 2.11.1937; Rebentisch, Führerstaat, S. 190 ff.; Uwe Bachnick, Die Verfassungsreformvorstellungen im nationalsozialistischen Deutschen Reich und ihre Verwirklichung, Berlin 1995; Stephan Lehnstaedt, »Der ›totale Krieg‹«, S. 393–420 (396 ff.); Hans Christian Jasch, Das Ringen um die Verwaltungsgerichtsbarkeit – Verwaltungsgerichtsbarkeit als Instrument der Rechtsvereinheitlichung im Dritten Reich, in: Die Verwaltung (2005), Nr. 4, S. 546–576 (562 ff.).
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Die Ernennung Heinrich Himmlers zum »Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern« (RFSSuChdDtPol) im Sommer 1936, der damit nominell den Rang eines Staatssekretärs im RMdI bekleidete, führte ebenfalls nicht dazu, das RMdI zu stärken, da Himmler den Polizeiapparat aus der inneren Verwaltung herauslöste und ihn unter seiner Führung verselbständigte und mit der SS zu einem neuen Staatsschutzkorps verklammerte.28 Die Forschung hat zur Analyse von Verwaltungsrealität und Machtverteilung innerhalb des »Dritten Reiches« lange Zeit den Dualismus von Partei und Staat als Erklärungsmuster bemüht29 und folgte damit zum Teil auch der Apologie, die die ehemaligen Verwaltungsbeamten nach dem Krieg verbreiteten, um eigene Handlungsspielräume und Tatbeiträge zu den NS-Verbrechen herunterzuspielen. Die neuere Forschung hat daher damit begonnen, die Rolle der Beamtenschaft auf der Handlungsebene stärker in den Fokus zu nehmen und so deutlich gemacht, dass staatliche Akteure vielfach durchaus als Initiatoren oder proaktive Vollstrecker der NS-Politik in Erscheinung traten.30 Tatsächlich bestehende Gegensätze zwischen Partei und Staat traten demgegenüber zurück. So entstand ein Herrschaftsapparat, der auf einer engen Verflochtenheit und Verklammerung, einem Mit- und Gegeneinander von staatlichen und Parteistellen basierte. Franz Neumann hat dieses »Monstrum« in seiner Strukturanalyse des »Dritten Reiches« von 1942/44 anschaulich nach dem der jüdisch-christlichen Mythologie entstammenden Ungeheuer als »Behemoth« bezeichnet.31 Die Differenzen zwischen den Beamten des RMdI und den SS- und Parteiorganisationen waren selten politisch-ideologischer Natur. Keinesfalls vertraten die Beamten des RMdI gegenüber den Parteiorganisationen überwiegend hehre rechtsstaatliche oder gar humanitäre Ideale, wie Stuckart und seine Mitarbeiter nach dem Kriege glauben machen wollten. Bei den Konflikten ging es hauptsächlich um Kompetenzverteilungen und ihre konkrete Umsetzung für die NS-Politik. Man stritt 28 Zum Konflikt Frick/Himmler und dessen Projekt der Zentralisierung und Herauslösung der deutschen Polizei aus der inneren Verwaltung vgl. Hans Buchheim, »Die SS – Das Herrschaftsinstrument«, in: Martin Broszat u.a. (Hg.), Anatomie des SS-Staates, Bd. 1, München 1984 (4. Aufl.), S. 15–212. 29 Zum Dualismus von Partei und Staat vgl. u.a. Peter Diehl-Thiele, Partei und Staat im Dritten Reich. Untersuchungen zum Verhältnis von NSDAP und allgemeiner innerer Staatsverwaltung 1933–1945, München 1969; E.N. Peterson, »Die Bürokratie und die NSDAP«, in: Der Staat 6 (1967), S. 151– 173; Karl Teppe, »Die NSDAP und die Ministerialbürokratie. Zum Machtkampf zwischen dem Reichsministerium des Innern und der NSDAP um die Entscheidungsgewalt in den annektierten Gebieten am Beispiel der Kontroverse um die Einsetzung der Gauräte 1940/ 41«, in: Der Staat 15 (1976), S. 367 ff.; zum Forschungsstand: Rebentisch, Führerstaat S. 101. Auch Mayer, Staaten als Täter, betont diesen Dualismus in seiner vergleichenden Studie zu Vichy-Fankreich. 30 Vgl. Browning, »The Government Experts«, S. 183 ff.; Rüdiger Fleiter, »Kommunen und NS-Verfolgungspolitik«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 14−15 (2007), S. 35–47, hier S. 36. 31 Franz Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933−1944, Frankfurt am Main 1984 (erste engl. Aufl. 1942).
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über die »territoriale Neuordnung des Reiches«, die Personalpolitik,32 die Ausbildung im öffentlichen Dienst33 sowie die Definitionsmacht auf anderen Politikfeldern, wie der hier im Fokus stehenden »Rassenpolitik«. In der Praxis blieb das RMdI trotz seines schwachen Ministers und des schleichenden Kompetenzverlusts für zahlreiche der normalen staatlichen Aufgaben weiter zuständig und eröffnete damit seinen Mitarbeitern erhebliche Handlungs- und Verantwortungsspielräume. Dies gilt auch hinsichtlich der Rolle, die das Ministerium bei der Vorbereitung und Durchführung der »Endlösung der Judenfrage« spielte. Auch wenn Lücken in den überlieferten Akten klaffen und die beteiligten Mitarbeiter – allen voran Stuckarts »Judenreferent« Bernhard Lösener – nach dem Krieg betonten, seit Kriegsbeginn kaum noch etwas mit »Judenangelegenheiten« und gar nichts mehr mit der »Endlösung der Judenfrage« zu tun gehabt zu haben, so lässt sich doch verdeutlichen, dass zu den normalen Aufgaben des RMdI bis zur Ernennung Himmlers zum Innenminister im Sommer 1943 auch gerade die Diskriminierungs- und Verfolgungsmaßnahmen gegen die Juden und andere gesellschaftliche Gruppen und Minderheiten gehörten, die den Deportations- und Vernichtungsprozess begleiteten34.
Staatssekretär Wilhelm Stuckart und die »Judenpolitik« des RMdI Die Normierung der Rahmenbedingungen für den Mord erfolgte vor allem durch Juristen, die in ihrer überwiegenden Mehrheit den NS-Staat auch weiterhin als einen »völkischen Rechtsstaat« verstanden, wie sich am Beispiel des Staatssekretärs Stuckart illustrieren lässt. Dieser war nach Kriegsbeginn neben seinem schwachen Minister Frick und dem »Seniorstaatssekretär« Pfundtner gewissermaßen zum eigentlichen Innenminister 32 Zur Einflussnahme der NSDAP auf die Personalpolitik, etwa in der Justiz, siehe Diemut Majer, »Justiz und NS-Staat. Zum Einfluss der NSDAP auf die Organisation und Personalpolitik der Justiz 1933−1945«, in: Deutsche Richter Zeitung (1978), S. 47 ff. Zum Streit um die Personalhoheit zwischen Reichs- und Gauverwaltung vgl. Peter Klein, »Behördenbeamte oder Gefolgschaftsmitglieder? Arthur Greisers Personalpolitik in Posen«, in: Jochen Böhler/Stephan Lehnstaedt (Hg.), Gewalt und Alltag im besetzten Polen 1939−1945, Osnabrück 2012, S. 187−204. 33 Während Hitler und zahlreiche Führungskräfte der NSDAP aus politischen Gründen darauf drängten, Juristen nur noch in Ausnahmefällen zur Beamtenlaufbahn zuzulassen, war das RMdI aus fachlichen Gründen bestrebt, am traditionellen Juristenmonopol im höheren öffentlichen Dienst festzuhalten und ein eigenes Verwaltungsreferendariat für Juristen zu schaffen. Vgl. Stuckarts Denkschrift »Grundgedanken zur Neuordnung des Ausbildungsganges der höheren Verwaltungsbeamten« vom 5.8.1940, abgedr. bei Hans Mommsen, Beamtentum im Dritten Reich, Stuttgart 1966, S. 149 ff.; sowie Stuckarts Aufsatz, »Gedanken zur künftigen Ausbildung des Verwaltungsnachwuchses«, in: RVL IV (1943), S. 105 ff. 34 Am 21. Okt. 1943 wurde ein Großteil der Akten, die die »Lösung der Judenfrage« betrafen, an das RSHA abgegeben, vgl. Verzeichnis der an das RSHA abgegebenen Akten und Geschäftsbücher, in: BAB R 1501/125626/6, Bl. 4−10.
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avanciert35. Er personifizierte die Verklammerung von Staat und Partei: Seit (mindestens) 1930 Mitglied der NSDAP und seit 1936 SS-Mitglied, verkörperte er den Typus eines Bürokraten, der die Verwaltung einerseits bereitwillig in den Dienst der NS-Ideologie stellte, aber andererseits ihre Funktionsfähigkeit und damit seinen eigenen Machtbereich auch gegen die konkurrierenden Interessen der Parteiführung verteidigte. Seit 1936 mit einem gewissen Rückhalt in Himmlers SS ausgestattet, gelang es dem ehrgeizigen Stuckart durch Intelligenz, Fleiß, Beharrungsvermögen und politisches Gespür die Schwächen des RMdI zum Teil zu kompensieren und dem Ressort hierdurch Kompetenz- und Initiativräume zu erhalten. Er gehörte zur Riege der 1933 nachrückenden Generation junger Nazi-Staatssekretäre wie Herbert Backe (Ernährungsministerium), Albert Ganzenmüller (Verkehrsministerium), Leonardo Conti (Gesundheit), Werner Naumann (Propaganda), Roland Freisler (Justiz), Fritz Reinhard (Finanzen), Paul Körner (Vierjahresplan), Martin Luther (Auswärtiges Amt), die politisch agierten und die Apparate ihrer Ministerien im Sinne nationalsozialistischer Zielsetzungen dirigierten und die Behörde prägten.36 Am 16. November 1902 in Wiesbaden geboren, gehörte Stuckart der so genannten Kriegsjugendgeneration an37 und suchte wie viele andere schon als Heranwachsender Halt in der pseudo-wissenschaftlichen Rassenideologie der völkischen Rechten.38 1922 begann der aus einfachen Verhältnissen stammende Stuckart in München ein rechtswissenschaftliches Hochschulstudium. Seine spätere Angabe, sich 1923 dem Freikorps Epp und kurz35 Stuckarts »Rassenreferent«, Bernhard Lösener, sagte nach dem Krieg aus, dass mit Stuckarts Eintritt ins RMdI »allmählich eine merkliche Verschiebung der Machtverhältnisse im Ministerium« begonnen habe. Frick sei ein schwacher Mensch gewesen, der an seiner Tätigkeit nicht sehr interessiert gewesen sei. Stuckarts Vorgesetzter, der »leitende Staatssekretär«, Pfundtner, »war ein früherer Konservativer, der wohl aus Opportunitätsgründen in die Partei eingetreten war« und über keinen »Rückhalt in der Partei« verfügte. Es sei daher kein Wunder gewesen, »dass der begabte, tatkräftige und ehrgeizige Stuckart sehr rasch die Zügel im Ministerium an sich riss. Er wurde bald und in immer wachsendem Maße der tatsächliche Minister des Innern und ist es geblieben bis zu meinem Ausscheiden (im Frühjahr 1943, d. Verf.)«. Stuckart sei der Mann gewesen, »in dessen Händen die Fäden und Verantwortlichkeiten zusammenliefen«. Vgl. Eidesstattliche Erklärung für die Anklage vom 17. Okt. 1947, in: StA Nürnberg, Interrogations; Dok. NG 1944 A; Bernhard Lösener, »Als Rassereferent im Reichsministerium des Innern«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 9 (1961), S. 262−313, hier S. 266 f. und 272. 36 Vgl. Rebentisch, »Die Staatssekretäre«, S. 270. 37 Zu dieser Begriffsbildung, siehe Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903−1989, Bonn 1996; Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002. 38 Bereits als Gymnasiast engagierte er sich bei der deutsch-nationalen DNVP-Jugend. In seinem zum Eintritt in die SS verfassten Lebenslauf vom 10. Oktober 1936 erwähnte er zudem – möglicherweise verklärend – die Beteiligung seiner Familie an Widerstandshandlungen gegen die französische Okkupationsmacht und die schwere wirtschaftliche Not seiner Eltern im französisch besetzten Wiesbaden. BAB SSO Stuckart, Wilhelm, 16.11.1902 (ehem. Berlin Document Center, BDC)/ BAB, SSO 167B.
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zeitig auch Hitlers NSDAP angeschlossen zu haben, konnte er nicht beweisen. Obwohl er seine NSDAP-Mitgliedskarte bei Sabotageakten gegen die französischen Besatzer im Rheinland verloren haben wollte, blieben seine späteren Bemühungen um eine prestigeträchtigere niedrige Mitgliedsnummer weitgehend erfolglos.39 Bereits zum Wintersemester 1923 wechselte Stuckart nach Frankfurt am Main und legte am 30. Oktober 1926 ein glänzendes Referendarexamen beim Oberlandesgericht Frankfurt ab. 1928 promovierte er mit einer handelsrechtlichen Arbeit und bestand das Assessorexamen mit der Note »gut«. Zunächst Prozessrichter in Rüdesheim und Wiesbaden, schied er jedoch nach kurzer Zeit – wohl wegen seiner Kontakte zur NSDAP – aus dem Justizdienst aus und ging nach Stettin, wo er zunächst als Anwalt und Rechtsberater der NSDAP tätig war. Von Stettin aus begleitete Stuckart 1933 aktiv die Machtübernahme der Nationalsozialisten und wirkte kurze Zeit als kommissarischer Oberbürgermeister, Staatskommissar für Pommern und Mitglied im pommerschen Provinziallandtag. Nach der Machtübernahme wurde er mit nur 31 Jahren zunächst ins Preußische Kultusministerium berufen, wo er kurz darauf von Göring zum Staatssekretär und zum Mitglied des preußischen Staatsrates ernannt wurde. Nachdem im Mai 1934 aus dem Preußischen Kultusministerium das Reichserziehungsministerium (REM) geschaffen worden war, wurde Stuckart von Reichspräsident Hindenburg als Staatssekretär im REM bestätigt und nach dessen Tod am 27. August 1934 auf Hitler vereidigt. Bereits als Staatssekretär im Kultusministerium hatte er maßgeblichen Anteil an der »Säuberung« der preußischen Schulen und Hochschulen durch Anwendung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Dieses Gesetz ermöglichte die vereinfachte Entlassung von politisch oder »rassisch« missliebigen Beamten aus dem öffentlichen Dienst und war das erste Reichsgesetz, das in Abkehr vom Gleichheitsgrundsatz der Weimarer Reichsverfassung einen sogenannten Arierparagraphen (§ 3) enthielt. Er bestimmte, dass Beamte »nicht arischer Abstammung« kurzerhand in den Ruhestand versetzt werden konnten.40 Spannungen mit Volksbildungsminister Bernhard Rust führten im Herbst 1934 jedoch zu einem jähen Ende seiner Blitzkarriere.41 Stuckart hatte die Rechtmäßigkeit einer Organisationsverfügung des Ministers angezweifelt, durch die er sich auch persönlich zurückgesetzt fühlte und wurde in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Er strengte gegen sich ein Parteigerichtsverfahren an, um seine »Ehre« zu retten.42 Schließlich halfen ihm aber nur Interventionen bei Göring, Heß und dem Chef der Reichskanzlei Lammers sowie eine Audienz bei Hitler im Januar 1935. Stuckarts 19-seitige Denkschrift 39 Ebenda. 40 Vgl. Hans-Christian Jasch, »Das preußische Kultusministerium und die ›Ausschaltung‹ von ›nichtarischen‹ und politisch mißliebigen Professoren an der Berliner Universität in den Jahren 1933 bis 1934 aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933«, in: forum historiae iuris, URL: http://www.forhistiur.de/zitat/0508jasch.htm. 41 Vgl. hierzu den von der Reichskanzlei angelegten Vorgang, in: BAB R 43 II/1154, Bl. 20 ff. 42 Vgl. BAB OPG J0014/1961 (ehem. BDC).
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»Staat und Evangelische Kirche« sowie drei Gesetzesentwürfe zur Regelung von Kirchenfragen43 schienen Hitler beeindruckt zu haben und führten dazu, dass er am 11. März 1935 als Ministerialdirektor und Titularstaatssekretär zum Leiter der Verfassungsabteilung im RMdI ernannt wurde.44 Die von ihm übernommene Abteilung I war für die Gesetzgebung und die Rechtsförmlichkeitsprüfung zuständig und war daher bei sämtlichen Gesetzes- und Verordnungsentwürfen zu beteiligen.45 Die neue Aufgabenfülle hinderte den 33-Jährigen nicht daran, seinen Ruf als NSVerwaltungsexperte weiter zu vertiefen und zahlreiche Veröffentlichungen herauszugeben. Kurz nach seinem Eintritt ins RMdI avancierte er im Juni 1935 zum »Reichsgruppenwalter der Reichsgruppe Rechtswahrer der Verwaltung im NS-Rechtswahrerbund«, zum Vorsitzenden des »Ausschusses für Verwaltungsrecht« und zum Herausgeber der Fachzeitschrift »Deutsche Verwaltung«.46 Große Verbreitung erzielten auch die von Stuckart zunächst 1937 mit Walter Scheerbarth und später mit seinen Mitarbeitern Harry von Rosen-von Hoewel47 und Rolf Schiedermair48 in der Reihe »Neugestaltung von Recht und Wirtschaft« (»Schaeffers Reihe«) bei Kohlhammer in Leipzig herausgegebenen »Grundrisse«, die die jedem Juristen geläufigen Schlagwörter in einer der öffentlichen Sprache vollkommen angepassten Form darboten.49 Im Herbst 1941 gehörte Stuckart zu den Gründern der Vierteljahresschrift »Reich, Volksordnung und Lebensraum« (RVL), die in sechs buchartigen Bänden bis Herbst 1943 erschien und als Diskussionsforum für die geplante »völkische Neuordnung« Europas und als Brücke zwischen völkischer Wissenschaft und imperialistischer Praxis gedacht war. Denn Stuckart spielte auch bei der staatsund völkerrechtlichen Absicherung der deutschen Expansionspolitik eine zentrale Rolle.50 Er entwarf das »Gesetz zur Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich«,51 43 Schreiben vom 12. Januar 1935, in: BAB 43 II/163, Bl. 134 ff. Vgl. Gerhard Besier, Die Kirchen und das Dritte Reich. Spaltung und Abwehrkämpfe 1934−1937, Bd. 3, Berlin 2001, S. 58 f. 44 Schreiben Fricks an den »Führer und Reichskanzler« vom 18. März 1935, in: BAB R 2/11685; Rebentisch, Führerstaat, S. 106. 45 Vgl. hausinterne Anordnung Fricks vom 19. Mai 1941, in: BAB R 1501/358. Der neue Geschäftsverteilungsplan vom 15. Januar 1938 (BAB R 1501/7) wies in der Abt. I zudem eine neue Unterabteilung, »Reichsverteidigung und Wehrrecht«, aus, die ebenfalls von Stuckart geleitet wurde. 46 Vgl. u.a. Stuckarts Beiträge, in: den Zeitschriften Deutsches Recht (1936), S. 234, und Deutsche Verwaltung (1938), S. 62 f., sowie sein Beitrag zur Tagung der Reichsgruppe Hochschullehrer des NSRB zum Thema »Demokratie und Diktatur« (vgl. Deutsche Verwaltung (1938), S. 153). 47 Zu Harry von Rzycki (Name 1940 »eingedeutscht« zu »von Rosen-von Hoewel«) siehe Philipp Mützel, »Schaeffers Grundrisse überdauern die Zeiten«, in: forum historiae iuris, URL: http://fhi.rg.mpg. de/debatte/0202muetzel.htm. 48 Rudolf Schiedermair siehe BAB R 2/11687 f., 11688, Bl. 125 ff. und BAB 99 US 7 Fall XI, S. 12113– 12403, dort auch Angaben zu Schiedermairs Laufbahn. 49 Zu Schaeffers Grundrissen siehe Philipp Mützel, »Schaeffers Grundrisse«. 50 Zur NS-Expansions- und Besatzungspolitik siehe Mark Mazower, Hitler’s Empire. How the Nazis ruled Europe, London 2008, mit zahlreichen Verweisen auf Stuckarts Tätigkeit. 51 RGBl. I 1938, S. 237–238.
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was ihm am 19. März 1938 die erneute Ernennung zum vollwertigen Staatssekretär einbrachte.52 Mit der Ernennung Fricks zum GBV53 am 27. September 1938 wurde er zu dessen Stabsleiter bestellt.54 Am 16. März 1939 reiste Stuckart mit Hitler nach Prag; als die »Rest-Tschechei« zum »Reichsprotektorat Böhmen und Mähren« bestimmt wurde, schuf er hierfür mit dem »Reichsprotektoratserlass« die entsprechende gesetzliche Grundlage.55 Die Zerstörung des polnischen Staatswesens im Herbst 1939 begleitete er juristisch mit der Ausarbeitung des »Erlass’ über die Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete vom 8. Oktober 1939«56 und mit dem »Erlass über die Verwaltung der besetzten polnischen Gebiete vom 12. Oktober 1939«, der das sogenannte Generalgouvernement schuf.57 Am 17. Oktober 1939 wurde er bei einer Besprechung in der Reichskanzlei Zeuge, wie Hitler in kleinem Kreise sein radikales und verbrecherisches Programm für den Umgang mit den unterjochten Polen entwickelte.58 Auch später entwarf Stuckart Verwaltungskonzepte für die besetzten europäischen Staaten, deren Zivilverwaltungen − zumindest formal − durch sogenannte Zentralstellen, deren Vorsitzender Stuckart war, aus dem RMdI koordiniert wurden.59 Auf einer Reihe von Dienstreisen informierte er sich über die Besatzungsver52 Vgl. Schreiben Pfundtners vom 18. März 1938, in: BAB R 2/11687; R 43 II/1126b. 53 Vgl. Rebentisch, Führerstaat, S. 144 f., mit Verweis auf BAB R 43 II/1293 a. 54 Vgl. undatierten Vermerk betr. »Die Vertretung des Generalbevollmächtigten für die Reichsverteidigung«, in: BAB R 43 II/1293 a, Bl. 5 ff. Die »offizielle« Ernennung Stuckarts zum Stabsleiter GBV durch Göring erfolgte hingegen erst nach dem Überfall auf Polen. Vgl. hierzu die am 5. Sept. 1939 vollzogene Ernennungsurkunde mit den Unterschriften von Göring und Lammers, in: BAB R 43 II/1293 a, Bl. 10 ff. 55 RGBl. I, S. 485 ff. Vgl. Wilhelm Stuckart, »Das Protektorat Böhmen und Mähren im Großdeutschen Reich. Vortrag«, in: Tag des Deutschen Rechts 1939, herausgegeben vom Deutschen Rechtswahrerbund (1939), S. 143–162. 56 RGBl. 1939 I, S. 2042 f; 2057; 2135. Vgl. hierzu auch eine Übersicht des zuständigen Unterabteilungsleiters in Stuckarts Abteilung, G. Hubrich, »Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete«, in: Deutsche Verwaltung (1939), S. 605 ff. 57 RGBl. 1939 I, S. 2077; mit weiteren Nachweisen: Rebentisch, Führerstaat, S. 172 ff. 58 Vgl. Rebentisch, Führerstatt, FN 33, S. 172, mit Verweis auf Bleistiftnotizen Keitels, abgedruckt als Dok. PS-864, in: IMT Bd. 26, S. 382. Nur wenige Tage später, am 23. Okt. 1939, unterrichtete Stuckart auf einer Staatssekretärsbesprechung »streng vertraulich« die anderen Spitzenbeamten des Reiches über die »nach dem Willen des Führers« bei der Behandlung der polnischen Bevölkerung anzuwendende Grundsätze, vgl. Vermerk von Ministerialrat Hubrich für die »StS-Besprechung am 23.10.1939«, in: BAB R 1501/5401. 59 Nach der Niederlage Frankreichs wurde Stuckart von Hitler am 9. August 1940 zum Leiter der »Zentralstelle für das Elsass, Lothringen u. Luxemburg« bestellt. Vgl. Schreiben Fricks vom 9. August 1940, in: BAB R 43 II/ 1136b; Peter Schöttler, »Eine Art ›Generalplan West‹. Die StuckartDenkschrift vom 14. Juni 1940 und die Planungen für eine neue deutsch-französische Grenze im Zweiten Weltkrieg«, in: Sozial. Geschichte. Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts 18 (2003), Nr. 3, S. 83–13; nach der Besetzung Jugoslawiens wurde er am 22. April 1941 zum »Leiter der Zentralstelle für die besetzten Südostgebiete« ernannt und verfasste eine »Denkschrift zur Lage des Deutschtums im ehemaligen Jugoslawien« (in: Institut für Zeitgeschichte, München, Az.
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waltungen und die Möglichkeiten einer größeren Einbindung der örtlichen nationalen Verwaltungen.60 Darüber hinaus spielte Stuckart eine zentrale Rolle bei der Auswahl des Verwaltungspersonals für die besetzten Gebiete.61 Seine Zuständigkeit für Staatsangehörigkeitsfragen ließ ihn an zahlreichen Maßnahmen teilnehmen, die im Zusammenhang mit der »Umvolkungspolitik« und nicht zuletzt mit der im Genozid gipfelnden »Judenpolitik« des NS-Regimes standen.62 Die historische Deutung der Rolle, die Stuckart und seine Mitarbeiter auf diesem ideologisch bedeutsamen und prestigeträchtigen Feld, insbesondere bei der Ausarbeitung und Anwendung der Nürnberger Gesetze63 spielten, die grundlegend für die »rassische« Definition als Jude waren, wurde lange Zeit durch eine Erinnerungsschrift des Judenreferenten im RMdI, Bernhard Lösener64 geprägt. Dieses Lösener-Memorandum wurde 1961 knapp zehn Jahre nach dessen Tod vom damaligen Staatssekretär im Bundesjustizministerium, Walter Strauss,65 zur Entlastung von Stuckarts ehemaligem Mitarbeiter und Löseners Kollegen, Hans Globke,66 im Hinblick auf den Eichmann-Prozess und aufgrund 2948/62, Bestand F 6 83); am 12. Dez. 1941 folgte seine Ernennung zum »Leiter der Zentralstelle für Norwegen«. Vgl. hierzu »VO über die Errichtung einer Zentralstelle für die besetzten norwegischen Gebiete« (RGBl. I, S. 765). 60 Vgl. Herbert, Best, S. 330, 610, u.a. mit Verweis auf Stuckarts Bericht an Ernst v. Weizsäcker. 61 Vgl. Lehnstaedt, »›Ostnieten‹«. 62 Vgl. hierzu auch Stuckarts programmatischen Aufsatz: »Staatsangehörigkeit und Reichsgestaltung«, in: RVL, V (1943), S. 57 ff. (S. 81 f.). Stuckart gehörte zu den Schöpfern der »VO über die deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten« vom 4. März 1941 (RGBl. I., S. 118). Durch diese von Frick, Hess und Himmler unterzeichnete VO wurde die Feststellung der »deutschen Volkszugehörigkeit« als Voraussetzung für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit vereinheitlicht. Zum Erwerb der Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten, siehe Wilhelm Stuckart/Rudolf Schiedermair, Neues Staatsrecht, 18. Aufl., Leipzig 1943, S. 73 ff. Zur Volksliste und den unterschiedlichen Konzepten: Gerhard Wolf, Ideologie und Herrschaftsrationalität. Nationalsozialistische Germanisierungspolitik in Polen, Hamburg 2012, S. 165– 189, 266–342. 63 Vgl. hierzu vor allem: das »Reichsbürgergesetz« (RBG) vom 15. Sept. 1935 (RGBl. I S. 1146), die »Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz« vom 14. Nov. 1935 (RGBl. I S. 1333), das »Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« (BlutSchG) vom 15. Sept.1935 (RGBl. I, S. 1146) sowie die »Erste Verordnung zum Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« vom 14. Nov. 1935 (RGBl. I S. 1146, geändert durch VO vom 16. Februar 1940 [RGBl. I. S. 394] und Erlaß vom 29. Mai 1941 [RGBl. I. S. 295]). Die vorgenannten Gesetze wurden alle aufgehoben durch das »Kontrollratsgesetz Nr. 1« vom 20. Sept. 1945 (ABl. S. 3). 64 Zu Bernhard Lösener siehe Essner, Nürnberger Gesetze, S. 119 ff.; Wilhelm Lenz, »Die Handakten von Bernhard Lösener, ›Rassereferent‹ im Reichsministerium des Innern«, in: Archiv und Geschichte (=Schriften des Bundesarchivs) 57 (2000), S. 684–699. 65 Zu Walter Strauss siehe Friedemann Utz, Preuße, Protestant, Pragmatiker. Der Staatssekretär Walter Strauß und sein Staat, Tübingen 2003. 66 Zu Hans Globke vgl. die sehr gegensätzlichen biographischen Darstellungen von Erik Lommatzsch, Hans Globke (1898–1973). Beamter im Dritten Reich und Staatssekretär Adenauers, Frankfurt am
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neuer Anfeindungen aus der DDR herausgegeben.67 Die Historikerin Cornelia Essner hat in ihrer Monographie zu den Nürnberger Rassengesetzen darauf hingewiesen, dass es sich bei dieser Schrift um eine »bemerkenswerte Selbstentnazifizierungsaktion« zur Verschleierung der eigenen Beteiligung am Völkermord handelte. Aus einer angeblichen Haltung des inneren Widerstandes suchte der »alte Kämpfer« Lösener, der tatsächlich im Winter 1941 Stuckart um Entbindung von seiner Funktion als »Judenreferent« ersucht hatte, seinen mildernden Einfluss auf die antisemitische Gesetzgebung zu belegen und exkulpierte damit auch seine Kollegen.68 In dem Dokument unterstrich er, dass »an der Judenfrage im engeren Sinn, also der der Volljuden, ebenso wenig gerüttelt werden konnte wie an einem Berge«. Diese Position erlaubte es Lösener, das Entrechtungs- und später das Mordprogramm als unbeeinflussbar darzustellen und seine Beteiligung an dessen Vorbereitung auszublenden, wohingegen er die auch auf der Wannsee-Konferenz dokumentierte Auseinandersetzung um die »Mischlingsfrage« post festum als Rettungsbeitrag ausgeben konnte. Seine Schilderung der von ihm maßgeblich mitformulierten Nürnberger Gesetze gipfelte in einer absonderlichen Eloge auf sein Werk: »Es ist eine rein sachliche Aussage, wenn ich […] darauf hinweise, dass die vollends teuflische Form der Judenverfolgung der späteren Jahre nicht infolge, sondern trotz der Nürnberger Gesetze zur schaurigen Wirklichkeit geworden ist. Wer es anders sieht, weiß nicht, wie die Wirklichkeit gewesen ist. Alle jene Gräuel sind […] veranlasst und verübt worden unter völliger Ausschaltung des Ministeriums des Inneren und unter Nichtachtung aller Rechtsfaktoren.« Löseners spektakulärer Bericht komplettierte die schon zuvor von Stuckart und seinen Mitarbeitern in Main u.a. 2009, und Jürgen Bevers, Der Mann hinter Adenauer. Hans Globkes Aufstieg vom NSJuristen zur Grauen Eminenz der Bonner Republik, Berlin 2009. Teile von Globkes Personalakte sind in: BAB R 1501 PA/6649, überliefert. Der »Fall Globke« ist zudem in den Stasiunterlagen umfassend in 91 Bänden dokumentiert, vgl. BStU, MfS, Ast I-7/63; vgl. auch: Urteil des Obersten Gerichts der DDR gegen Hans Josef Maria Globke vom 23.7.1963, bearb. von C. F. Rüter, URL: www.expostfacto.nl/junsvpdf/Globke.pdf (eingesehen am 16. Mai 2011). 67 Bernhard Lösener, »Als Rassereferent im Reichsministerium des Innern«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 9 (1961), S. 262–313. Der Wahrheitsgehalt von Löseners Erinnerungsbericht wurde vor allem von Otto Dov Kulka, »Die Nürnberger Rassengesetze und die deutsche Bevölkerung im Lichte geheimer NS-Lage- und Stimmungsberichte«, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 32 (1984), S. 582–624 und Essner, Nürnberger Gesetze, S. 76 ff., mit überzeugenden Argumenten in Frage gestellt. 68 Als Koreferent des Rassenreferates im RMdI, Referat I A 6, figurierte neben Lösener 1936 dessen Kollege Globke. Löseners Sachgebiet war in folgende Rubriken unterteilt: »Allgemeine Rassefragen sowie Judenfragen allgemein«, aufgeteilt in »Stellung der Juden und jüdischen Mischlinge a) im Staate b) in der Wirtschaft, Blutschutzgesetz«, wozu insbesondere die Ehegenehmigungsanträge der »Halbjuden« zählten, sowie in zwei weitere Gebiete »Sippenamtsgesetz« und »Angelegenheiten der Reichsstelle für Sippenforschung«. 1938 wurden die beiden Sachbereiche I A 5 und 6 zum Sachbereich »Staatsangehörigkeit und Rasse« zusammengefasst, der von MinDirig. Georg Hubrich mit Lösener als Koreferent geleitet wurde. Lösener bearbeitete nach dem Geschäftsverteilungsplan nunmehr die Bereiche »Anträge auf Feststellung der Rassenzugehörigkeit (Sippenamtsgesetz)« und »Abstammungsnachweise« (mit weiteren Nachweisen: Essner, Nürnberger Gesetze, S.123 f.).
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Nürnberg erfolgreich kreierte Legende, wonach sie ihre Tätigkeit nur ausgeübt hätten, um Schlimmeres zu verhindern, und trug gleichzeitig zur Legitimation des Integrationsprozesses großer Teile der NS-Funktionseliten einschließlich der für den Genozid Mitverantwortlichen in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft bei. Tatsächlich waren Stuckart und seine Mitarbeiter 1935 die Schöpfer und Interpreten der Nürnberger Rassengesetzgebung und entwickelten die Entrechtungspolitik zum Nachteil der jüdischen Deutschen in der Folgezeit dynamisch fort. Stets ging es ihnen darum, die Federführung des RMdI und damit ihren Machtbereich zu verteidigen. Wenige Wochen nach Erlass der Gesetze wurde der personelle Anwendungsbereich durch Ausführungsbestimmungen entsprechend der Ermächtigung in § 3 des RBG »im Einvernehmen« mit der Parteibehörde, dem »Stellvertreter des Führers«, festgelegt.69 Es gelang Stuckart, sich mit einem für die Verwaltung eindeutigen und damit praktikablen Judenbegriff durchzusetzen, der die deutsche Bevölkerung per Gesetz klassifizierte und damit Rechtssicherheit in der Definitionsfrage – wer soll als Jude gelten? – versprach. Forderungen aus der Partei, Menschen nach Körper- oder Verhaltensmerkmalen durch Einzelentscheidung willkürlich zu sortieren, wurde somit im Hinblick auf den drohenden Verwaltungsaufwand und die zu befürchtende Unruhe in der Bevölkerung eine Absage erteilt.70 Im selben Zeitraum schrieb Stuckart das Vorwort für einen gemeinsamen 287-seitigen Kommentar mit Globke, der 1936 beim C.H.Beck-Verlag erschien71 und der Rechtsprechung als eine wichtige Orientierung bei der Interpretation des neuen Rassenrechts diente. Seit März 1936 wachte er als Vorsitzender des »Reichsausschusses zum Schutze des deutschen Blutes« über die Genehmigung von Ehen zwischen sogenannten Mischlingen und Deutschblütigen72 und nahm in der Folgezeit an einer Reihe von interministeriellen Sitzungen teil, bei denen die Entrechtung der Juden fortgeführt wurde, und von denen die Wannsee-Konferenz mutmaßlich den traurigen Höhepunkt bildete. Dass die Vertreter des RMdI keineswegs immer eine auf »Milderung« gerichtete Rolle spielten, legen folgende 69 Zu dieser Entwicklung, vgl. im Einzelnen: Mayer, Staaten als Täter; Jasch, Staatssekretär Wilhelm Stuckart, S. 110–372. 70 Unmittelbar nach dem Abschluss der schwierigen Verhandlungen mit der Parteibehörde verfasste Stuckart einen umfangreichen Artikel, »Die völkische Grundordnung des deutschen Volkes«, der im Dezember 1935 in der rechtspolitischen Wochenzeitschrift Deutsches Recht (DR 5 [1935], S. 557– 564) erschien. Stuckart feierte die Rassengesetze als »das sichernde und tragende Fundament der gesamten Lebens- und Staatsordnung des Dritten Reiches«. Schließlich ginge es »um nicht mehr und nicht weniger als um die Abwendung des Rassen- und Volkstodes vom deutschen Volk«. »Das Rasseproblem« sei durch die Gesetze einer »großzügigen und klaren Lösung entgegengeführt worden«. Sie bildeten den »Rahmen und Richtschnur« für »alle die Judenfrage betreffenden Maßnahmen und Bestimmungen« und ließen für »Sonderlösungen auf diesem Gebiet« »keinen Raum mehr«. 71 Wilhelm Stuckart/Hans Globke, Reichsbürgergesetz vom 15. Sept. 1935; nebst allen Ausführungsvorschriften und den einschlägigen Gesetzen und Verordnungen, München 1936. 72 Vgl. Runderlass in: MBliV 1936, S. 11; BAB R 1501/5514, Bl. 153. Protokolle der Ausschusssitzungen sind erhalten in: BAB R 1501/125483. Siehe Essner, Nürnberger Gesetze, S. 174 ff.
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Beispiele nahe: Am 29. September 1936 fand im RMdI eine interministerielle Sitzung über die »grundsätzliche Richtung der gesamten Judenpolitik« statt, auf der die ökonomischen Konsequenzen der forcierten Auswanderung der Juden erörtert und eine geplante »Chefbesprechung in der Judenpolitik« vorbereitet werden sollte.73 Stuckart, der während der Besprechung den Vorsitz führte und den Vermerk unterzeichnete, hatte eingangs darauf hingewiesen, dass die »wirtschaftliche Stellung der Juden« geklärt werden müsse, um der Gefahr vorzubeugen, »dass die Juden in wirtschaftlicher Beziehung in Deutschland neue Positionen« gewönnen.74 Er äußerte, dass über das »endgültige Ziel der Judenpolitik« zwischen staatlichen und Parteidienststellen keine Meinungsverschiedenheiten bestünden: »Es sei restlose Auswanderung, denn für den Staat sei ebenfalls das Parteiprogramm maßgeblich.« Die Auswanderung müsse zum größtmöglichen Nutzen für das deutsche Volk sein, und »letzten Endes müsse in Betracht gezogen werden, die Auswanderung auch zwangsweise durchzuführen«. Obschon Einvernehmen darüber bestand, »jüdische Mischlinge« und »jüdisch versippte Personen« in wirtschaftlicher Beziehung den »Deutschblütigen« gleichzustellen, so macht Stuckarts Darlegung hinsichtlich der »zwangsweisen Auswanderung« deutlich, dass man auch im RMdI zu diesem Zeitpunkt keinesfalls vor radikalen Forderungen und Maßnahmen zurückschreckte. Am 28. Februar 1939 fand eine interministerielle Sitzung zur Erfassung der Juden in Lagern und dem geschlossenen Arbeitseinsatz im Kriegsfalle unter dem Vorsitz Löseners im RMdI statt,75 an der Vertreter des OKW, des Hauptamtes der Sicherheitspolizei, des Hauptamtes Ordnungspolizei und der Inspekteur der Konzentrationslager teilnahmen. Hier bestand Übereinstimmung, die »friedensmäßige Gesamterfassung« der Juden im Hinblick auf einen kommenden Krieg weiter zu verwenden, einmal als sicherheitspolizeiliches Überwachungsmaterial, zweitens als Ausgangspunkt für einen kolonnenartigen Einsatz in Steinbrüchen und beim Straßenbau. Für diese Ausbeutung plädierte Lösener 73 BAB R 1501/5514, Bl. 199−211. Ziel der Besprechung war die Abstimmung einer gemeinsamen Linie in der »Judenpolitik«, welche nach der Olympiade und infolge des Vierjahresplans auf dem Reichsparteitag neu in Bewegung geraten war. Die geplante Chefbesprechung hat nicht stattgefunden. Wolf Gruner, »Die NS-Judenverfolgung und die Kommunen«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 48 (2000), S. 75–126, hier S. 93, betont, dass man sich einigte, die gesamte »Judenpolitik« künftig dem Vertreibungsziel unterzuordnen. 74 Ebenda. Der RJM hatte am 14. März 1936 in einem Schreiben an den OLG-Präsidenten von Köln, welches Stuckart den nachgeordneten Behörden des RPrMdI am 21. April 1936 zur Kenntnisnahme übermittelt hatte, nachdrücklich darauf hingewiesen, dass das »Wirtschaftsrecht der Juden« vorläufig gesetzlich noch nicht geregelt sei und daher auch keine Sonderbestimmungen für Juden gelten würden, vgl. BAB R 1501/3746 b. Dort auch die folgenden Zitate. 75 Ein als »Geheim« eingestufter Vermerk von Werner Best, der laut Verteiler auch an Stuckarts Abteilung, z.Hd. von MinDir. Dr. Dankwerts, gesandt wurde, befindet sich im Sonderarchiv Moskau RGVA, 504-2-2, Bl. 50–52. Für den Hinweis danke ich Peter Klein. Zum »geschlossenen Arbeitseinsatz«, siehe Wolf Gruner, Der geschlossene Arbeitseinsatz deutscher Juden. Zur Zwangsarbeit als Element der Verfolgung 1938 bis 1943, Berlin 1997.
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expressis verbis. Im Weiteren wurde die Frage der Errichtung von Lagern für die Juden erörtert, die für zweckmäßig angesehen wurde. Ausnahmen für »Mischlinge und Mischehepartner« scheinen hierbei gar nicht erörtert worden zu sein. Das RMdI begleitete den dynamischen Entrechtungsprozess auch in der Folgezeit, wie aus einer Einladung Stuckarts zu einer Besprechung für den 8. Januar 1941 deutlich wird, auf der die durch »den Arbeitseinsatz der Juden notwendig gewordenen Sonderbestimmungen« auf arbeitrechtlichem Gebiet beraten werden sollten.76 Am 3. Oktober 1941 erging schließlich die »Verordnung über Beschäftigungsverhältnisse mit Juden«.77 Im Hinblick auf bereits laufende und geplante »Abschiebungen« von Juden,78 deren Umstände auf rechtliche Gestaltung drängten, stellte sich für Stuckarts Abteilung im Winter 1940 die Frage, wie die jüdischen Deutschen staatsrechtlich behandelt werden sollten. In einem ersten Entwurf für eine Verordnung (VO) zum Reichsbürgergesetz (RBG), die Stuckart den beteiligten Behörden am 11. Dezember 1940 übersandte, schlug das RMdI vor, jüdische Deutsche im Ausland für staatenlos zu erklären und die im Reichsgebiet lebenden jüdischen Deutschen zu einer dem Kolonialrecht entlehnten Kategorie, zu »Schutzangehörigen« herabzustufen.79 Da nach damaligem Recht die Staatsangehörigkeit des weiblichen Ehepartners der des Mannes folgte und dementsprechend auch ein Staatsangehörigkeitsverlust des Gatten auf die Partnerin und gegebenenfalls die Kinder durchgeschlagen wäre, war es aus seiner Sicht unumgänglich, auch spezifische Regelungen für »Mischehen« zu treffen. Die Interessen der »deutschblütigen« Ehefrau sollten angesichts der Maßnahmen gegen den Ehemann gewahrt bleiben, da sie sonst selbst »von der Abschiebung mitbetroffen würde«.80 Die Reichskanzlei lehnte Stuckarts Vorschlag jedoch
76 Einladungsschreiben des RMdI vom 23. Dez. 1940, in: BAB R 1501/5519. 77 RGBl. 1941 I, S. 675; DVO v. 31.10.1941 (RGBl. 1941 I, S. 681). 78 Nach einem undatierten Vermerk Löseners über ein Gespräch mit Eichmann am 3. Dez. 1940 (»Pläne des Reichssicherheitshauptamtes zur abschließenden Lösung der Judenfrage im Deutschen Reich«), in: BAB R 1501/3746a, Bl. 40, prüfte Heydrich seinerzeit von Eichmann vorbereitetes »Material« zur »Abschiebung« der Juden und beabsichtigte die Abt. 1 und die übrigen Beteiligten später zu beteiligen, vgl. Mayer, Staaten als Täter, S. 219 und S. 276. Zudem konnte man im Dezember 1940 bereits auf andere »Abschiebungsaktionen« zurückblicken: Im Oktober 1940 waren 6.500 saarpfälzischen Juden nach Frankreich »abgeschoben worden«. Im Frühjahr 1940 waren pommersche Juden nach Polen deportiert worden, worüber sogar die Neue Zürcher Zeitung berichtet hatte, vgl. Vermerk Weizsäckers vom 16. Februar 1940, in: PAAA R 29989, Bl. 642. Mayer, Staaten als Täter, S. 275 f., hat unter Verweis auf die Hassel-Tagebücher angemerkt, dass die Deportationsanordnung an den Stettiner Regierungspräsidenten über Heydrich ohne Beteiligung der anderen Abteilungen des RMdI erging. 79 Nbg.-Dok. NG 2610, in: Institut für Zeitgeschichte, Nürnberger Dokumente. Vgl. Hans Mommsen, »Aufgabenkreis und Verantwortlichkeit«, in: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, Bd. 2, S. 381 f.; Diemut Majer, »Fremdvölkische« im Dritten Reich, München 1996, S. 210; Essner, Die Nürnberger Gesetze, S. 292−295. 80 Vgl. hierzu Nbg.-Dok. 2610, in: Institut für Zeitgeschichte, Nürnberger Dokumente.
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ab. Eine besondere Rechtstellung für Juden, die bald »aus Deutschland verschwunden sein werden«, schien dort unnütz.81 In den weiteren Entwurfsberatungen ging es vor allem um die Behandlung der »privilegierten Mischehen«. Um das Vorgehen zu beschleunigen, lud Stuckart am 15. März 1941 zu einer neuen Besprechung ein,82 wobei er hinsichtlich der »privilegierten Mischehen« die Notwendigkeit betonte, »die Nachteile, die sich aus der Staatenlosigkeit der Juden ergeben, für diesen Personenkreis auszuschließen«. Dies sollte besonders für die »Frage der Abschiebung von jüdischen Familien« gelten, da ohne eine solche Ausnahmebehandlung – und hier brachte Stuckart eines der Kernargumente, die auch seine Haltung auf der Wannsee-Konferenz einige Monate später bestimmen sollten – »voraussichtlich in die deutschblütigen Verwandtenkreise eine Beunruhigung hineingetragen werde, deren Nachteile die in der Einbeziehung der Mischehen liegenden Vorteile überwiegen würden«. Mit Schreiben vom 8. April 194183 nannte Stuckart dann die eigentlichen Gründe, die dafür sprechen sollten, auch den im Inland befindlichen Juden die Staatsangehörigkeit zu entziehen: »Auch für die im Inlande lebenden Juden tritt eine dringend notwendige Klärung dadurch ein, dass sie nunmehr als Staatenlose dem Ausländerrecht unterliegen. Es wird dadurch der vom innenpolitischen Standpunkt missliche Umstand vermieden, dass die gegen die Juden zu ergreifenden Maßnahmen wie Abschiebungen usw. gegen Staatsangehörige durchzuführen sind.«84 Wie Mommsen herausgearbeitet hat, kam es Stuckart demnach offenbar auch auf folgenden Gesichtspunkt an: Solange die jüdischen Deutschen deutsche Staatsangehörige waren, war ihre Deportation über die Reichsgrenzen – wie der Vorfall der saar-pfälzischen Juden im Oktober 1940 demonstriert hatte – rechtlich problematisch.85 Als deutsche Staatsangehörige hätte das Deutsche Reich sie theoretisch wieder aufnehmen müssen. Anders verhielt sich die Situation, wenn den jüdischen Deutschen ihre Staatsangehörigkeit vor oder zumindest während der Deportation entzogen werden konnte. Durch den Verlust der Staatsangehörigkeit würden aus jüdischen Deutschen Staatenlose, ohne rechtliche Bindung ans Reich. Da Staatenlose und Ausländer 81 Zit. nach Mommsen, »Aufgabenkreis und Verantwortlichkeit«, S. 382. Hitler, dem Stuckarts Entwurf gemeinsam mit dem Entwurf der o.a. »VO zur Deutschen Volksliste« (s.o.) vorlagen, sprach sich – wie Lammers am 20. Dez. 1940 vermerkte – dann auch »ganz entschieden« dagegen aus, dass die Juden in einem Gesetz oder einer Verordnung als »Schutzangehörige« bezeichnet würden. Vgl. Essner, Die Nürnberger Gesetze, S. 294 f. 82 Schnellbrief des RMdI – unterzeichnet »in Vertretung« Stuckart, in: BAB R 1501/5519, Bl. 433 ff. Dort auch die folgenden Zitate. 83 Nbg.-Dok. NG 299, Bl. 17, in: Institut für Zeitgeschichte, Nürnberger Dokumente. Vgl. Mommsen, »Aufgabenkreis und Verantwortlichkeit«, S. 384 f. 84 Ebenda. 85 Ebenda, S. 385, geht davon aus, dass das Bestreben des RMdI darauf gerichtet war, »durch die Aberkennung der Staatsangehörigkeit für die im Altreich und in den angegliederten Ostgebieten ansässigen Juden die formelle Verantwortlichkeit für die Deportation mit den durchaus bekannten Folgen von sich abzuschieben«.
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unter die Ausländerpolizeiverordnung vom 22. August 1938 (APVO) fielen, hätte ihre Inhaftierung und »Abschiebung« aus dem Reichsgebiet unter Anwendung unmittelbaren Zwanges rechtlich auf § 7 Abs. 5 APVO gestützt werden können.86 Hiermit hätte die Innenverwaltung für die »Evakuierungen« der Juden aus dem Reich im Rahmen der seinerzeit propagierten »territorialen Endlösung« eine haltbare und damit auch innerhalb der Verwaltung kommunizierbare »Rechtsgrundlage« erlangt. Stuckart konnte sich mit seinem Vorschlag aus dem Frühjahr 1941 aber nur teilweise durchsetzen. Der Verlust der Staatsangehörigkeit und der Vermögensentzug waren nach der »Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz« (RGBl. I S. 722), die schließlich am 25. November 1941, wenige Wochen nach dem Beginn einer neuen Deportationswelle aus dem Reich, in Kraft trat, an den Aufenthalt im Ausland bzw. den Grenzübertritt gekoppelt, so dass die jüdischen Deutschen bis zur Reichsgrenze weiterhin als deutsche Staatsangehörige galten und nicht als Staatenlose nach einer ausländerrechtlichen Ermächtigungsgrundlage unter Anwendung unmittelbaren Zwanges inhaftiert und deportiert werden konnten. Den Hintergrund für diesen − aus Sicht Stuckarts − misslichen Umstand bildete eine Entscheidung Hitlers, der es im Sommer 1941 offenbar für ausreichend erachtet hatte, den außerhalb des Reichsgebiet befindlichen Juden ihre Staatsangehörigkeit zu entziehen, da er die vom RMdI vorgeschlagene weiterreichende Regelung für »zu kompliziert und praktisch unanwendbar« gehalten habe.87 Die hier nur kurz skizzierte Entstehungsgeschichte der 11. VO macht deutlich, dass Stuckart und seine Mitarbeiter bei der juristischen Absicherung der Deportationen eine zentrale Rolle spielten und im Hinblick auf die von ihnen angestrebte Neuordnung der Staatsangehörigkeitsverhältnisse zum Teil besonders radikale Vorschläge entwickelten, um eine Rechtsgrundlage für die Deportationen und die geordnete »Herauslösung« der jüdischen Deutschen aus der deutschen Gesellschaft zu schaffen. Ausnahmen für »Mischlinge und Mischehen« sollten nicht etwa mildernd wirken, sondern 86 RGBl. 1938 I, S. 1053 und 1067. Die im Oktober 1938 über die polnische Grenze abgeschobenen polnischen Juden fielen hierunter. § 7 Abs. 5 APVO: »Der Ausländer ist unter den Voraussetzungen des Abs. 1 durch Anwendung unmittelbaren Zwanges aus dem Reichsgebiet abzuschieben, wenn er das Reichsgebiet nicht freiwillig verlässt oder wenn die Anwendung unmittelbaren Zwanges aus anderen Gründen geboten erscheint. Zur Sicherung der Abschiebung kann der Ausländer in Abschiebungshaft genommen werden.« Nach § 7 Abs. 1 hatte ein Ausländer oder Staatenloser das Reichsgebiet unverzüglich zu verlassen, sofern die Voraussetzungen, nach denen er einer besonderen Aufenthaltserlaubnis nicht bedurfte, weggefallen waren. Zit. nach Mommsen, »Aufgabenkreis und Verantwortlichkeit«, S. 385. 87 Vgl. das Schreiben der RK an das RMdI vom 7.6.1941 als Nbg-Dok. NG-1123, in: Institut für Zeitgeschichte, Nürnberger Dokumente. Die 12. VO zum RBG vom 25. April 1943 (RGBl. I, S. 268) implementierte schließlich Stuckarts Vorschlag von 1938. Den noch im Reichsgebiet lebenden jüdischen Deutschen und »Zigeunern« wurde zwar ihre Staatsangehörigkeit belassen; ihren nach dem 30.4.1943 (dem Tag des Inkrafttretens der VO) geborenen Kindern wurde der Erwerb derselben jedoch versagt. Vgl. hierzu Joachim Neander, »Das Staatsangehörigkeitsrecht des ›Dritten Reiches‹«, in: theologie.geschichte, URL: http://aps.sulb.uni-saarland.de/theologie.geschichte/inhalt/2008/59. html#fuss2 (eingesehen am 26.6.2008).
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das Gesamtvorhaben befördern, indem sie einer befürchteten Beunruhigung der Bevölkerung entgegen wirkten. Zwar galt Stuckarts Abteilung I im Sommer 1941 offiziell als »federführend für die Behandlung der gesamten Judenfrage«88 soweit es um die Gesetzgebung ging. Die realen Machtverhältnisse aber hatten sich verändert, seitdem Göring unter Umgehung der bisher geltenden Zuständigkeiten des RMdI und des dem Ministerium nachgeordneten Reichswanderungsamtes Heydrich am 24. Januar 1939 mit der Durchführung der Auswanderung der Juden und der Schaffung einer entsprechenden Zentralstelle betraut hatte. Exekutivmaßnahmen gegen Juden lagen zusehends direkt bei Sicherheitspolizei und SD.89 Hinsichtlich der Ausgestaltung des Judenbegriffs, der im November 1935 in § 5 der 1. VO zum RBG festgelegt worden war, bestand im Zuge der Ausweitung der Verfolgung auf andere europäische Staaten zwischen den beteiligten Behörden kein Einvernehmen mehr. In einem Vermerk zu einer Besprechung im RSHA am 13. August 1941 unter dem Vorsitz Eichmanns informierte Lösener seinen Vorgesetzten, RSHA und Partei-Kanzlei verfolgten das Ziel, eine »Verschärfung des geltenden Judenbegriffs durch Einbeziehung der Halbjuden und ferner die Zerschlagung des Begriffs der privilegierten Mischehe herbeizuführen«.90 Anlässlich dieser Besprechung erlangten Stuckarts Mitarbeiter zum ersten Mal Kenntnis von Görings Bestallungsschreiben für Heydrich vom 31. Juli 1941, mit dem letzterer beauftragt worden war, »alle erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht zu treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflußgebiet in Europa«.91 Eichmann hatte dieses Schreiben eingangs vorgelesen. Im Hinblick auf die Unstimmigkeiten informierte Lösener am 4. Dezember 1941 den Staatssekretär Pfundtner über die von Stuckart abgezeichnete Verhandlungsposition für die Sitzung am Großen Wannsee.92 Der erste Teil dieser Aufzeichnung trägt handschrift88 Vgl. Schreiben des ChRK vom 20. Juli 1941 an Karl Herrmann Frank als Nbg.-Dok. NG 1111, in: Institut für Zeitgeschichte, Nürnberger Dokumente. 89 Dies wird auch an der Entstehungsgeschichte der »Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden« vom 1. September 1941 (RGBl. I, S. 547) deutlich, bei der Stuckarts Abteilung – nach Darstellung Löseners – erst Mitte August einbezogen wurde. Vgl. hierzu Mayer, Staaten als Täter, S. 263 ff. 90 Vermerke Feldschers vom 13. August und Löseners vom 14. August 1941, in: BAB R 1501/3746a, Bl. 80 ff. Dazu Mayer, Staaten als Täter, S. 219 f. 91 Vgl. im Dokumententeil Dok. 4.3. 92 BAB R 1501/5519, Bl. 238 ff.: »Inzwischen hat der SS-Obergruppenführer Heydrich einen größeren Kreis von Vertretern der Dienststellen, die an der Endlösung der Judenfrage beteiligt sind, darunter Herr Staatssekretär Dr. Stuckart als Vertreter des RMdI., auf Dienstag den 9.12.1941 nach Wannsee zu einer Besprechung über die in [der] anliegenden Aufzeichnung erörterten Fragen eingeladen.« Außer dieser Vorlage sind in den eingesehenen Akten der Abt. I keine weiteren Dokumente zur Vorbereitung oder Teilnahme an der Wannsee-Konferenz nachweisbar. Stuckart scheint auch keinen Vermerk über die Besprechung angelegt zu haben, was angesichts des von ihm herausgestellten Konfliktes mit Heydrich oder der angeblich notwendigen Rücksprache mit Conti nahegelegen hätte.
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lich die Nummer »I.« und ist in Löseners Handschrift mit »(Auffassung der Partei und des Reichssicherheitshauptamtes über die künftige Behandlung der Mischlinge 1. Grades)« überschrieben. Darunter steht maschinenschriftlich als Überschrift: »Ergebnis der Besprechung im Hauptamt Sicherheitspolizei über die Lösung der europäischen Judenfrage«.93 Der zweite Teil (»II.«) der Aufzeichnung ist ein fünfseitiges, unter demselben Tage von Lösener unterzeichnetes Schreiben mit dem Titel: »Aufzeichnung betr. Gründe gegen eine weitere Verschärfung der Maßnahmen in der Frage der Halbjuden und der privilegierten Mischehen«.94 In dem ersten zweiseitigen, undatierten und nicht unterzeichneten Vermerk95 zur »Besprechung im Hauptamt Sicherheitspolizei« fasste ein Mitarbeiter des RMdI (wahrscheinlich Werner Feldscher) die Haltung der zuständigen Referenten des RSHA, der Behörde des Vierjahresplans und der Partei-Kanzlei auf der Grundlage der in den Monaten August und September 1941 durchgeführten Besprechungen zur Stellung der »jüdischen Mischlinge« und der »Mischehen« zusammen. Er referierte Heydrichs Planungen zur »Lösung der Mischlingsfrage«, wie sie später auch im Wannsee-Protokoll dargelegt wurden: Die »Mischlinge 1. Grades« sollten grundsätzlich wie Juden behandelt und »abgeschoben werden«. Die zurückbleibenden ca. 10.000 Ausnahmefälle sollten »ausnahmslos sterilisiert« werden. Die »Jüdischen Mischlinge 2. Grades« sollten »grundsätzlich mit deutschblütigen Personen gleichgestellt werden«, wobei jedoch – wie später auch im Wannseeprotokoll vermerkt – eine »rassische Musterung« stattfinden sollte: »Zu erwägen ist jedoch die Zurechnung zu den Juden, falls der Mischling nicht mit einem Deutschblütigen verheiratet ist, 1. wenn der Mischling aus einer Bastardehe stammt (beide Eltern Mischlinge), 2. wenn der Mischling ein besonders ungünstiges Erscheinungsbild hat, 3. wenn eine besonders schlechte polizeiliche und politische Beurteilung vorliegt, die erkennen lässt, dass der Mischling sich wie ein Jude fühlt und benimmt.« Hinsichtlich der »Mischeheproblematik« wurde vermerkt, dass sich der »Führer« bisher dagegen ausgesprochen habe, »dass diesen Ehen über die Rechtsprechung hinaus noch ein besonderes Scheidungsrecht gegeben wird«.96 Diese Frage sei jedoch »im Zuge der Endlösung noch einmal zu prüfen«. Folgende Gesichtspunkte seien beurteilungsrelevant: »1. Wertung des deutschen Ehepartners, 2. Wirkung auf die deutschen Verwandten, 3. kein deutsches Blut dem Judenreservoir zuführen.« Daher sei folgender Vorschlag unterbreitet worden: »Nur der jüdische Teil wird verschickt. Die Ehe bleibt bestehen. Der deutschblütige Teil kann verschickt werden: 1. Beim 93 BAB R 1501/5519, Bl. 241−242 bzw. Bl. 483−484 (doppelte Paginierung). 94 Ebenda, Bl. 242−247 bzw. Bl. 487−495 (doppelte Paginierung). 95 BAB R 1501/5519, Bl. 241−242. Dort auch die weiteren Zitate. Die Unterstreichungen im Original. 96 Die Rechtsprechung gestattete im Fall der Rassenmischehe beispielsweise die gegenüber der Ehescheidung einfachere »Eheanfechtung« gemäß dem damaligen § 1333 BGB und gestattete hierbei auch Abweichungen von dem eigentlich geltenden Fristerfordernis des § 1339 BGB; siehe hierzu Marius Hetzel, Die Anfechtung der Rassenmischehe 1933−1939, Tübingen 1997.
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deutschblütigen Mann jedoch Wertung nach den genannten Gesichtspunkten. 2. Falls die Frau der deutschblütige Teil ist, soll sie mit dem Mann und den Kindern regelmäßig verschickt werden.« In dem zweiten Teil der Vorlage stellte Lösener den Gegenvorschlag des RMdI vor. Unter Bezugnahme auf die Volkszählung von 1939 betonte er, dass die Zahl der »Mischlinge 1. Grades« »weniger als ein Tausendstel der gesamten Wohnbevölkerung« des Reiches darstelle und zudem jeder »Mischling 1. Grades« »nur zur Hälfte jüdische Erbmasse« habe, weshalb die Frage angesichts des bestehenden Eheverbotes mit »Deutschblütigen« »biologisch ohne nennenswerte Bedeutung« sei. Hiermit knüpfte Lösener an die Argumentation an, die im Rahmen der Beratungen der Ausführungsbestimmungen zu den Nürnberger Rassengesetzen im Herbst 1935 entwickelt wurden, und legte dar, dass »jede weitere Sortierung innerhalb der Mischlinge 1. Grades«, die »gesetzlich zwischen Juden und Ariern« stünden, »unerträgliche Zustände« schaffe. »Die mit Deutschblütigen Verheirateten sind, wenn Kinder vorhanden sind – auch nach Ansicht der Partei und SS – unter allen Umständen nicht zu den Juden zu schlagen.« Dies würde sonst zur »Zerreißung der Familien« führen: »Unverheiratete Geschwister der Verheirateten gelten als Juden und werden deportiert; die Verheirateten bleiben im Reich.« Im Übrigen fühlten sich »die Mischlinge 1. Grades« »dem Deutschtum zugehörig« und lehnten »das Judentum innerlich ab«. »Ihre seelische Belastung, wenn sie zu den Juden geschlagen würden, wäre daher besonders folgenschwer.« Als Feind sei der »Halbjude« aufgrund seiner zum Teil »germanischen Erbmasse«, »durchschnittlich guter Intelligenz und sorgfältiger Erziehung« jedoch gefährlicher als der Jude, da er »zum geborenen Führer« prädestiniert sei. Darüber hinaus gab Lösener die »psychologisch-politischen Rückwirkungen« bei den »vollarischen« Verwandten und Bekannten – im Falle einer »Verschärfung der Maßnahmen gegen Halbjuden« – zu bedenken. Diese würden im Falle solcher Maßnahmen »mitbetroffen und stimmungsmäßig schwer belastet«. Schließlich dürfe die Bedeutung der »Mischlinge« als Arbeitskräfte für die Kriegswirtschaft nicht unterschätzt werden: »Sie sollten hier weiter verwertet und nicht dem Feinde zugebracht oder durch dauernde Gefährdung ihrer Existenz in der Leistungsfähigkeit gemindert werden.« Zudem hätten sich die bei der Wehrmacht verbliebenen »Mischlinge« bewährt, so dass der »Führer« »einem großen Teil von ihnen ausdrücklich ihre Gleichstellung mit den Deutschblütigen nach dem Kriege in Aussicht gestellt« habe. Zahlreiche »Mischlinge« seien bereits gleichgestellt worden. Auch bei den »Geltungsjuden« gebe es bisher 263 Fälle, in denen »der Führer« den Betroffenen die Rechtsstellung von »Mischlingen 1. Grades« gewährt habe. Lösener merkte hierzu an, dass es angesichts der Bedeutung einer »Führerentscheidung« nicht angehe, »wenn diese Personen nun wieder durch eine generelle Regelung zu Juden gestempelt würden«. Er wies darauf hin, dass die geplante Gleichstellung der »Mischlinge 2. Grades« »nach der Endlösung« problematisch würde, wenn man deren halbjüdische Elternteile entsprechenden »verschärften Maßnahmen« unterziehen würde: »Menschen, die man wie Deutschblütige behandeln will, darf man nicht den Vater oder die Mutter
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sterilisieren oder sonst diffamieren oder die Verwandten deportieren. Sonst schafft man eine neue staatsfeindliche Schicht.« Hinsichtlich der »privilegierten Mischehen« bemerkte Lösener: »Sind aus einer Mischehe Kinder hervorgegangen, die nicht als Juden gelten, so ist der jüdische Elternteil privilegiert, d.h. befreit von einer Anzahl von Maßnahmen gegen Juden.« Dasselbe gelte bei kinderlosen »Mischehen«, in denen lediglich die Ehefrau Jüdin sei. Sinn dieser − im Rahmen der Einführung des »Gesetzes über Mietverhältnisse mit Juden« vom 30. April 193997 durch »Führerentscheidung« geschaffenen Kategorie − war nach Lösener der »Schutz der nichtjüdischen Kinder und des arischen Elternteils«. Auch diese »Schutzkategorie« müsse aus den bereits genannten Gründen aufrechterhalten werden. Gerade hier müsse Rücksicht auf Elternteile von an der Front stehenden Soldaten genommen werden, die nicht »in der Heimat verfolgt oder deportiert« werden dürften, während der Sohn an der Front kämpfe.98 Es ist naheliegend anzunehmen, dass sich Stuckarts Argumentation auf der WannseeKonferenz an dieser Vorlage orientierte, zumal er sich auch noch einmal nach der Konferenz und der ersten Folgekonferenz, am 16. März 1942, mit einem Schreiben ähnlichen Inhaltes an Heydrich und die anderen Wannsee-Konferenzteilnehmer wandte, um dieser Auffassung Nachdruck zu verleihen.99 Die Zuständigkeit und das juristische Definitionsmonopol für den Personenkreis der »Mischlinge und Versippten«,100 der nach damaligen 97 RGBl. I S. 364, § 7: »Hängt die Anwendung dieses Gesetzes davon ab, dass der Vermieter oder der Mieter Jude ist, so gilt für den Fall einer Mischehe des Vermieters oder Mieters folgendes: 1. Die Vorschriften sind nicht anzuwenden, wenn die Frau Jüdin ist. Das gleiche gilt, wenn Abkömmlinge aus der Ehe vorhanden sind, auch wenn die Ehe nicht mehr besteht. 2. Ist der Mann Jude und sind Abkömmlinge aus der Ehe nicht vorhanden, so sind die Vorschriften ohne Rücksicht darauf anzuwenden, ob der Mann oder die Frau Vermieter oder Mieter ist. Abkömmlinge, die als Juden gelten, bleiben außer Betracht.« 98 Abschließend referierte Lösener den Fall eines gewissen Oberleutnants Prager, der als »Mischling I. Grades« durch »Führerentscheidung« vom 30. Okt. 1941 Deutschblütigen gleichgestellt und als Oberleutnant reaktiviert worden sei und dessen 66-jähriger Vater, Träger des EK. I., »nach der Führerentscheidung« von der Polizei bedroht und gedemütigt und zur schweren Arbeit in einem Gärtnereibetrieb gezwungen wurde. In: BAB R 1501/5519, Bl. 241 f. 99 PAAA R 100857, Bl. 82 ff., als Nbg.-Dok. NG-2586, in: Institut für Zeitgeschichte, Nürnberger Dokumente. Teilabdruck in: Pätzold/Schwarz, Tagesordnung, S. 121 f. Stuckart wandte sich zudem am 10. Sept. 1942 mit einem wiederum von Lösener entworfenen 12-seitigen »Privatdienstschreiben« an Himmler persönlich, um seine Auffassung über die »künftige Behandlung der Mischlinge 1. Grades zusammenfassend vorzutragen«. Vgl. Nbg.-Dok. NG 2982, in: BAB 99 US 7 Fall XI, 871, Bl. 101 ff. 100 Zum Schicksal der »Mischlinge« siehe Uwe D. Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, Düsseldorf 1979; Jeremy Noakes, »›Wohin gehören die ›Judenmischlinge‹‹? Die Entstehung der ersten Durchführungsverordnung zu den Nürnberger Gesetzen«, in: Ursula Büttner, Das Unrechtsregime. Verfolgung/Exil/Belasteter Neubeginn, Bd. 2, Hamburg 1986, S. 69–89; dies., »The Development of Nazi Policy towards the German Jewish ›Mischlinge‹ 1933–1945«, in: Leo Baeck Institute Yearbook
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Vorstellungen ca. 70.000 bis 100.000 Menschen im Deutschen Reich101 umfasste, sollte demnach gegenüber Heydrichs Planungen verteidigt werden, die »die Lösung der Mischehen- und Mischlingsfrage« als »Voraussetzung für die restlose Bereinigung des Problems« (Zitate aus dem Protokoll der Wannsee-Konferenz) ansahen. Während Heydrich nach dem Protokoll – wie in Löseners Vorlage prognostiziert – forderte, dass »Mischlinge 1. Grades« – mit einigen Ausnahmen – »im Hinblick auf die Endlösung der Judenfrage den Juden gleichgestellt« werden sollten und dass über das Schicksal jüdischer Ehepartner in »Mischehen« »von Einzelfall zu Einzelfall« entschieden werden sollte, wandte Stuckart laut Protokoll hiergegen ein, »dass die praktische Durchführung« dieser »Lösungsmöglichkeiten zur Bereinigung der Mischehen- und Mischlingsfragen in dieser Form eine unendliche Verwaltungsarbeit« mit sich brächte. Aus Sicht Stuckarts, der als Stabsleiter des GBV für bürokratische Rationalisierungsmaßnahmen in Kriegszeiten einzutreten hatte, war die Ausweitung des Kreises der Betroffenen nicht nur verwaltungstechnisch kompliziert und ökonomisch unsinnig, sondern er befürchtete wohl auch, wie von Lösener in der Vorlage betont, dass eine derartige »Entgrenzung des Opferkreises« unnötige Unruhe in die Bevölkerung tragen würde. Stuckart schlug daher laut Protokoll vor, dass man zur »Lösung der Mischehen- und Mischlingsfrage« »zur Zwangssterilisierung« »schreiten« solle: »Zur Vereinfachung des Mischehenproblems müßten ferner Möglichkeiten überlegt werden mit dem Ziel, daß der Gesetzgeber etwa sagt: ›Diese Ehen sind geschieden‹«. Mit diesen ungeheuerlichen Vorschlägen hätte Stuckart erreicht, dass hinsichtlich der Deportierten und derjenigen, die im Reich verbleiben sollten, eine klare personenrechtliche Zuordnung eingeführt, mithin Verwaltungsaufwand minimiert worden wäre. Dieses Anliegen hatte ihn bereits bei den Beratungen um die 11.VO umgetrieben. Zudem hätten die sterilisierten »Mischlinge« als Arbeitskräfte im Reich bleiben können, ohne eine »rassische Bedrohung« darzustellen. Das Beunruhigungspotential in der Mehrheitsbevölkerung wäre verringert worden. Als er 1961 vor Gericht in Israel auf die Stimmung angesprochen wurde, die auf der Wannsee-Konferenz geherrscht habe, zeichnete Eichmann ein besonders schwarzes Bild von Stuckart: »Ich weiß, dass die Herren beisammen gestanden und beisammen gesessen sind und da haben sie eben in sehr unverblümten Worten die Sache genannt – ohne sie zu kleiden. Ich könnte mich dessen auch bestimmt nicht mehr erinnern, wenn ich nicht wüsste, dass ich mir damals gesagt hatte: schau, schau der Stuckart, den man immer als einen sehr genauen und sehr heiklen Gesetzesonkel betrachtete, und da hier war’s eben der Ton 34 (1989), S. 291–354; John Steiner/Jobst Freiherr v. Cornberg, Willkür in der Willkür. Hitler und die Befreiungen von den antisemitischen Nürnberger Gesetzen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 46 (1998), S. 144–187; Wolf Gruner, Widerstand in der Rosenstrasse. Die Fabrik-Aktion und die Verfolgung der »Mischehen« 1943, Frankfurt am Main 2005, S. 85 ff., 178 ff. 101 Schreiben des RMdI zur »Erfassung der Juden und jüdischen Mischlinge bei der Volkszählung 1939« nebst Anlagen, in: BAB R 1501/5519, Bl. 203−208.
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und die ganzen Formulierungen waren hier sehr unparagraphenmäßig gewesen... (auf Nachfrage, worum es dabei ging) Es wurde von Töten und Eliminieren und Vernichten gesprochen.«102 Auch wenn Eichmanns Aussage über die Konferenz primär seiner Selbstentlastung dienen sollte, indem er gewissermaßen Heydrichs Gegenspieler besudelte, bleiben die Motive für Stuckarts Verhalten auf der Konferenz ambivalent. Es bleibt zweifelhaft, ob der zehn Tage später von Himmler turnusmäßig zum SS-Gruppenführer (Generalleutnant) beförderte Stuckart mit seinem Vorschlag zur Behandlung der »Mischlinge« tatsächlich Schlimmeres verhindern wollte. Immerhin blieben die meisten »Mischlinge« und Partner von »Mischehen« zumindest im Gebiet des Deutschen Reiches von der Deportation verschont. Das von Stuckart vorgeschlagene »Gesetz zur Zwangsscheidung von Mischehen« wurde zwischen RJM und RMdI noch bis in das Jahr 1943 hinein verhandelt, kam jedoch, aufgrund befürchteter Widerstände der Kirchen und offenbar auf Hitlers ausdrücklichen Wunsch hin, nicht mehr zustande.103 Für Stuckarts ambivalente Haltung in der Judenfrage aufschlussreich ist auch ein am 26. Dezember 1941 verfasster Vermerk Löseners über ein Personalgespräch. Am 19. Dezember 1941 beschwerte sich Lösener bei Stuckart über den stetigen Verlust von Kompetenzen seines Referates an das RSHA und über die Entwicklungen im Bereich der sogenannten Judenfrage.104 Ihm sei sogar zu Ohren gekommenen, dass Berliner Juden in der Nähe von Riga kurz nach ihrer Ankunft auf bestialische Weise ermordet würden.105 Lösener bat daher um Entbindung von seinen Aufgaben und Versetzung aus dem RMdI zum Reichsverwaltungsgericht. Stuckart warf Lösener vor, in der Vergangenheit nicht »dynamisch« genug agiert und »keine Fühlung zu SS und Partei gehalten« zu haben, so dass dem RMdI die Judenfrage entglitten sei. Eigentlich sei er darüber »nicht unglücklich«. Ferner betonte Stuckart, dass das »Verfahren gegen die evakuierten Juden« auf einer »Entschei102 Eichmann vor dem Bezirksgericht Jerusalem am 24. Juli 1961, vgl. Dokument 13 in diesem Band. 103 Vgl. hierzu die Entwürfe zu einem »Gesetz über die Scheidung von deutsch-jüdischen Mischehen«, die das RMdI mit dem RJM im Frühjahr 1943 abstimmte, BAB R 1501/5519, Bl. 513 ff. (256 ff.). Siehe Gruner, Widerstand in der Rosenstrasse S. 178 ff. 104 Vgl. BAB R 1501/3746a, abgedruckt in: Wilhelm Lenz, »Die Handakten von Bernhard Lösener. ›Rassereferent‹ im Reichsministerium des Innern«, in: Archiv und Geschichte (=Schriften des Bundesarchivs) 57 (2000), S. 684–699 (695 ff.). Vgl. auch das Protokoll der Vernehmung Löseners am 13. Okt. 1947 durch Robert Kempner, S. 3 f., in: StA Nürnberg, Interrogations. Im Nürnberger Urteil (Robert M. W. Kempner/Carl Hänsel, Das Urteil im Wilhelmstrassenprozess, Schwäbisch Gmünd 1950, S. 166), finden sich die Äußerungen Löseners nur in Auszügen. Lösener hatte im Prozess gegen Stuckart seine eidesstattliche ursprüngliche Erklärung nicht ausdrücklich widerrufen, aber laut Urteil Schilderungen bezüglich der Unterredung zur Behandlung der Juden abgegeben, die mit seiner ursprünglichen Erklärung nicht in Übereinstimmung zu bringen waren, was die Richter damit erklärten, dass der Zeuge unter Druck gesetzt worden sei. 105 Es handelte sich hierbei um die Erschießung der Juden aus dem ersten Berliner Transport nach Riga am 30. November 1941.
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dung von höchster Stelle« beruhe und Lösener sich damit abfinden müsse. Daraufhin habe Lösener entgegnet: »Ich habe in mir innen einen Richter, der mir sagt, was ich tun muß.«106 Stuckart soll abschließend bemerkt haben: »(Man müsse) die Endlösung der Judenfrage doch von einem höheren Standpunkt aus betrachten. Allein in den letzten Wochen sind 50.000 deutsche Soldaten an der Ostfront gefallen; Millionen werden noch fallen, denn, Herr Lösener, der Krieg wird noch sehr lange dauern. Denken Sie daran, daß an jedem deutschen Toten die Juden schuldig sind, denn nur den Juden haben wir es zu verdanken, daß wir diesen Krieg führen müssen. Das Judentum hat ihn uns aufgezwungen. Wenn wir da mit Härte zurückschlagen, so muß man die weltgeschichtliche Notwendigkeit dieser Härte einsehen und darf nicht ängstlich fragen, ob denn gerade dieser oder jener bestimmte Jude, den sein Schicksal ereilt, persönlich, daran schuldig ist.«107 Der Inhalt dieses an Weihnachten 1941 aufgezeichneten Vermerkes macht deutlich, dass Stuckart auch schon vor der Wannsee-Konferenz Kenntnis von Judenmorden hatte, obgleich ihm möglicherweise deren systematischer Charakter noch nicht bekannt war.108 Im dienstlichen Gespräch mit einem engen Mitarbeiter rechtfertigte er den Massenmord »sachlich«, schien aber froh, mit der Angelegenheit nichts mehr zu tun zu haben. Dass Stuckart die Bedeutung seiner eigenen Rolle an der gesetzlichen Entrechtung nicht übersehen konnte, suggeriert eine Textstelle, die sich in der vierten Auflage seines zu Ausbildungszwecken gemeinsam mit Rolf Schiedermair herausgegebenen Lehrbuches Rassen- und Erbpflege in der Gesetzgebung des Reiches von 1943 befindet. Zur Zielsetzung der von ihm so entscheidend mitgeprägten Rassengesetzgebung heißt es dort: »Das Ziel der Rassengesetzgebung kann als bereits erreicht und die Rassengesetzgebung daher im wesentlichen als abgeschlossen angesehen werden. Sie hat [...] zu einer vorläufigen Lösung der Judenfrage geführt und gleichzeitig die endgültige Lösung wesentlich vorbereitet. Viele Bestimmungen werden in dem gleichen Maße, in dem sich Deutschland der Erreichung des endgültigen Ziels in der Judenfrage nähert an praktischer Bedeutung verlieren.«109 106 BAB R 1501/3746a. 107 Ebenda. 108 Hans Mommsen/Dieter Obst, »Die Reaktion der deutschen Bevölkerung auf die Verfolgung der Juden 1933−1943«, in: Hans Mommsen/Susanne Willems (Hg.), Herrschaftsalltag im Dritten Reich: Studien und Texte, Düsseldorf 1988, S. 374 ff., hier S. 414 f., betonen in ihrer Untersuchung, dass die Zusammenhänge von Deportation, Selektion und Vernichtung selbst in Berliner Regierungskreisen in Folge der »systematischen Nichtkommunikation zwischen den Ressorts und den übrigen Machtapparaten des Regimes« nicht hinreichend klar gewesen seien. 109 Nach Majer, Grundlagen des nationalsozialistischen Rechtssystems, S. 142 f., sprachen die Autoren in der vorherigen Auflage von 1942, die der Autor jedoch nicht überprüfen konnte, sogar ausdrücklich von der »Judenvernichtung«: »Es handelt sich bei dieser Rasse, wie der Führer auf dem Parteitag der Arbeit betont hat, um eine ... durch und durch minderwertige Rasse. Die Judenvernichtung findet ihre Rechtfertigung daher nicht nur in der Andersartigkeit, sondern auch in der Anderswertigkeit des Judentums«. In der 2. und 4. Aufl. von 1940 und 1943 fehlt diese
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Das Geschehen in Wannsee macht besonders deutlich, dass Stuckart und seinen Kollegen in der Ministerialbürokratie als »juristischen Legitimatoren« eine zentrale Bedeutung und eine besondere Verantwortung zukam.110 Sie waren Schöpfer und Interpreten des NS-Rechts, legten dessen Grenzen fest und verantworteten dessen richtige Anwendung.
Passage. 1938 hatte Stuckart die »Lösung« der »Judenfrage« in der ersten Auflage seines Grundrisses noch als »ein Gebot der völkischen Selbsterhaltung und Notwehr« bezeichnet und nur erwähnt, dass der NS-Staat die Juden auf »deutschem Boden dulde«, ihnen »aber die weitere Vermischung mit den deutschen Volksgenossen« verbiete. Auch in dem gemeinsam mit v. Rosen-v. Hoewel und Schiedermair verfassten Leitfaden für die Ausbildung, »Der Staatsaufbau des Deutschen Reiches in systematischer Darstellung« (Neues Staatsrecht III, Leipzig 1943), war allerdings von der »restlosen Entfernung« der Juden im Zuge der »Neuordnung des europäischen Kontinents« die Rede (S. 24 ff. [S. 27]). 110 Zur Legitimationsmacht der Juristen, siehe Bernd Rüthers, Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, 2. Aufl., München 1989; sowie ders., Carl Schmitt im Dritten Reich: Wissenschaft als Zeitgeist-Verstärkung?, 2. erw. Aufl., München 1990; ders., Geschönte Geschichten − Geschönte Biographien. Sozialisationskohorten in Wendeliteraturen. Ein Essay, Tübingen 2001.
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Gerhard Klopfer, die Abteilung III in der ParteiKanzlei und deren »Judenpolitik« 1941/42 Robert M. W. Kempner, beim Wilhelmstraßen-Prozess 1947 bis 1949 in Nürnberg amerikanischer Ankläger, wirkte entschlossen. Am Vormittag des 21. Mai 1947 ließ er Gerhard Klopfer, den ehemaligen Leiter der Abteilung III in der Partei-Kanzlei (PK) der NSDAP, aus der Haft vorführen. Dessen anschließende Vernehmung begann er wie folgt: »F.: Ich war etwas bestürzt das letzte Mal. Sie haben an der Sitzung teilgenommen über die Endlösung der Judenfrage. Sie wussten ganz genau die Dinge, die dort besprochen worden sind. Sie haben sie uns verschwiegen.«1 Kempner knüpfte an sein Verhör Klopfers vom 23. April 1947 an, in dem es um eine Konferenz bei Reinhard Heydrich, dem Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA),2 und um den Begriff »Endlösung der Judenfrage« gegangen war. Klopfer hatte bei dieser Gelegenheit den Eindruck zu erwecken versucht, an der fraglichen Konferenz überhaupt nicht teilgenommen zu haben und mit den dort erörterten Angelegenheiten nur am Rande befasst gewesen zu sein.3 Auch jetzt, fast vier Wochen später, spielte er seine Beteiligung an der »Endlösung der Judenfrage« herunter. Klopfer wollte sich nur daran erinnern, im Rahmen seiner Dienstaufgaben an »Fragen der Ehescheidung, der Mischlinge« mitgewirkt zu haben. Doch Kempner setzte sofort nach:
1 Das Zitat nach »Vernehmung des Gerhard KLOPFER durch Dr. R. M. W. KEMPNER, anwesend: Mrs. Renteln am 21.5.1947 vormittags. Stenografin: Irmtrud Maurer«, in: Institut für Zeitgeschichte (IfZ) München, ZS 352-2 (Gerhard Klopfer), fol. 00001-00009, hier fol. 00001 [nicht unterschriebener Durchschlag]. Zu Kempner: Dirk Pöppmann, »Robert Kempner und Ernst von Weizsäcker im Wilhelmstraßenprozeß. Zur Diskussion über die Beteiligung der deutschen Funktionselite an den NS-Verbrechen«, in: Irmtrud Wojak/Susanne Meinl (Hg.), Im Labyrinth der Schuld. Täter – Opfer – Ankläger, Frankfurt am Main u.a. 2003, S. 163−197. F. = Frage. 2 Vgl. Robert Gerwarth, Reinhard Heydrich. Biographie, München 2011, dessen historiografischer Ansatz einer »kalten Empathie« im Fall Heydrichs äußerst problematisch ist, weil er der Selbststilisierung dieses NS-Täters beim Judenmord entspricht. 3 Die Vernehmung vom 23.4.1947 ist in kurzen Auszügen gedruckt in: Robert M. W. Kempner, SS im Kreuzverhör. Die Elite, die Europa in Scherben brach, 2. Aufl., Köln 1991, S. 293 ff., hier S. 294 f., allerdings mit falscher Datierung. Zu den insgesamt zehn Vernehmungen Klopfers, die vom 24.3.1947 bis zum 12.1.1948 von der Nürnberger Anklagebehörde durchgeführt wurden, siehe Markus Heckmann, NS-Täter und Bürger der Bundesrepublik. Das Beispiel des Dr. Gerhard Klopfer, Ulm 2010, S. 50–53.
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»F.: Sie haben voriges Mal bestritten, dass Sie in der Staatssekretärbesprechung waren. A.: Ich bin nicht danach gefragt worden. F.: Erinnern Sie sich jetzt? Sie haben an der Besprechung in Wannsee teilgenommen. A.: Es ist möglich, dass ich an einer solchen Besprechung in Wannsee teilgenommen habe. F.: In welchem Haus fand die statt? A.: Das weiß ich nicht mehr. Keinesfalls ist mir mehr in Erinnerung als was ich gesagt habe. Es ist unter keinen Umständen mehr besprochen worden, als was ich gesagt habe.«4 Klopfer ahnte offenbar bereits, dass Kempner mehr über jene ominöse Konferenz zur »Endlösung der Judenfrage« wusste, die am 20. Januar 1942 in Berlin-Wannsee stattgefunden hatte. Nach einem längeren Wortwechsel über Klopfers angebliche Ablehnung der Lynchmorde an alliierten Piloten und Fallschirmspringern, die im »Dritten Reich« 1943/44 nicht zuletzt auf Initiative der Partei-Kanzlei stattfanden, platzte es dann unvermittelt aus Kempner heraus: »F.: Warum hatten Sie eine furchtbare Angst, mir mitzuteilen, dass Sie an der Staatssekretärbesprechung in Wannsee teilgenommen haben? A.: Ich bin konkret nicht danach gefragt worden. Ich hatte keine Angst. F.: Im Protokoll steht, dass Sie dabei waren. Furchtbare Sachen sind bei dieser Besprechung vorgetragen worden. A.: Was ich davon weiß, habe ich gesagt. F.: Sie haben alles gehört. HEYDRICH hat es Ihnen erzählt. A.: Es war nicht von Ausrottung die Rede. F.: Von was war denn die Rede? A.: Von Aussiedlung.« 5 Kempner offenbarte Klopfer hier erstmals, dass er ein Protokoll der Wannsee-Konferenz besaß. Sein Ermittlungsteam hatte es erst wenige Wochen zuvor in den Akten des Auswärtigen Amtes entdeckt und konfrontierte die früheren NS-Amtsträger seitdem in unzähligen Verhören mit den darin enthaltenen Aussagen.6 . Kempner hielt auch Klopfer vor, er habe doch gewusst, dass es bei der Wannsee-Konferenz um die Ermordung der europäischen Juden gegangen sei. Dieser jedoch versuchte sich herauszuwinden und argumentierte, er sei gar nicht bis zum Schluss der Sitzung geblieben. Kempner wischte diese Schutzbehauptung beiseite und ermahnte ihn: »F.: Gehen Sie mit sich zu Herzen. Ihre Vergesslichkeit ist nicht so günstig für Sie. Sie wissen es ganz genau. Sie waren Staatsekretär an einer ganz gefährlichen Stelle. A.: Ich weiß es.«7 4 »Vernehmung des Gerhard KLOPFER […]«, hier fol. 00002. A. = Antwort. 5 Ebenda, fol. 00005-00006, auszugsweise gedruckt in: Kempner, SS im Kreuzverhör, S. 295. 6 Robert M. W. Kempner, Ankläger einer Epoche. Lebenserinnerungen, Frankfurt am Main u.a. 1983, S. 310−313. 7 »Vernehmung des Gerhard KLOPFER […]«, hier fol. 00007.
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Als Kempner dann den Namen Martin Bormanns, des Leiters der Partei-Kanzlei erwähnte, ergriff Klopfer die Gelegenheit, den Hauptteil der Verantwortung für die verbrecherischen Maßnahmen seiner Dienststelle auf seinen ehemaligen Vorgesetzten abzuschieben.8 Ohnedies gab er in seinen Verhören nur das zu, was ihm direkt nachgewiesen werden konnte, und nutzte jede sich bietende Möglichkeit, vom Thema abzuschweifen und sich zum unerbittlichen Gegenspieler Bormanns zu stilisieren. Klopfer schien unter einer Amnesie zu leiden, die ihn sogar Offenkundiges, die eigene Teilnahme an der Wannsee-Konferenz, »vergessen« ließ, bevor er sich im Verhör dann dunkel an die Geschehnisse erinnern konnte, immer haarscharf neben der Wahrheit. In der Historiografie zu Vorgeschichte, Verlauf und Folgen der Wannsee-Konferenz findet diese Amnesie eine Parallele, denn diese ist im Großen und Ganzen durch eine eigentümliche Vernachlässigung der Person Klopfers und auch der Partei-Kanzlei gekennzeichnet.9 Bei der Erforschung des Holocausts spielt jene Behörde auch nur eine eher marginale Rolle.10 Die folgenden Ausführungen zielen darauf ab, diese Perspektive zurechtzurücken. Sie gehen von der Annahme aus, dass die Partei-Kanzlei und ihre Mitarbeiter in den Jahren 1941/42 immer wieder entscheidende Anstöße gaben, um die antijüdische Politik des NS-Regimes weiter voranzutreiben. Um diese Hypothese zu belegen, schildere ich zuerst einmal Klopfers Lebensweg und dessen Karriere in der Dienststelle des Stellvertreters des Führers, der Vorgängerbehörde der Partei-Kanzlei. Danach analysiere ich die Rolle, die seine Abteilung 1941/42 in der »Judenpolitik« spielte. Zum Abschluss fasse ich die Ergebnisse zusammen und stelle einige Überlegungen zu der individuellen Verantwortlichkeit Klopfers an.
Stationen einer Blitzkarriere Wer war dieser Mann, dessen Erinnerungsvermögen nach dem Kriege so getrübt war, dass er sich seiner Teilnahme an der Wannsee-Konferenz nicht mehr entsann? Hugo Otto Gerhard Klopfer, so sein vollständiger Name, wurde am 18. Februar 1905 als Sohn des Gutsinspektors Otto und seiner Ehefrau Ida Klopfer in Schreibersdorf (heute: Pisarzo-
8 Zu Bormann die Biografie von Jochen von Lang, Der Sekretär. Martin Bormann: Der Mann, der Hitler beherrschte, Stuttgart 1977. 9 Kurt Pätzold/Erika Schwarz, Tagesordnung: Judenmord. Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942. Eine Dokumentation zur Organisation der »Endlösung«, 2. Aufl., Berlin 1992; Peter Klein (Hg.), Die Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942. Analyse und Dokumentation, Berlin 1995, sowie Mark Roseman, Die Wannsee-Konferenz. Wie die NS-Bürokratie den Holocaust organisierte, München u.a. 2002. 10 Dazu die Gesamtdarstellungen von Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust, 3 Bde., Frankfurt am Main 1990; Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München u.a. 1998, sowie Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, 2 Bde., München 1998−2006.
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wice) in der Provinz Schlesien geboren.11 Hier besuchte er die örtliche Dorfschule, bevor er kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs aufs Gymnasium der mehr als 250 Kilometer weiter westlich gelegenen Industriestadt Lauban (heute: Lubań) überwechselte. In diesem Zentrum der Textilindustrie erlebte Klopfer als Gymnasiast im November 1918 den Zusammenbruch des Deutschen Kaiserreichs. Nach den Bestimmungen des Versailler Friedensvertrags musste in Oberschlesien, wo Klopfer geboren worden war, eine Volksabstimmung über den künftigen Verbleib beim Deutschen Reich abgehalten werden.12 Seit August 1919 avancierte das Gebiet zum Schauplatz gewaltsamer Auseinandersetzungen, als sich polnische Militäreinheiten erhoben hatten, um es der neugegründeten Polnischen Republik einzuverleiben. Seither tummelten sich in Oberschlesien eine Vielzahl deutscher Freikorps und paramilitärischer Verbände, die brutal gegen alle Bestrebungen vorgingen, Teile dieses Gebiets an Polen anzugliedern. Bei der Volksabstimmung vom 20. März 1921 entschieden sich dann 59,6 Prozent der Wahlberechtigten für die Zugehörigkeit zum Deutschen Reich, immerhin 40,4 Prozent optierten für Polen. Aufgrund dieses knappen Ergebnisses entschloss sich die alliierte Botschafterkonferenz in Paris im Oktober 1921 zu einer Teilung Oberschlesiens. Der Ostteil mit dem Industriegebiet um Kattowitz wurde Polen zugeschlagen. Der deutsche Bevölkerungsteil war empört; der »Abwehrkampf« gegen den polnischen Nationalismus radikalisierte sich. Klopfer verfolgte diese Auseinandersetzungen aus der Distanz, denn im Unterschied zu seinem Geburtsort Schreibersdorf lag Lauban nicht im Abstimmungsgebiet, sondern in Niederschlesien. Dennoch hatte ihn der »Volkstumskampf« in Oberschlesien offensichtlich stark bewegt, wie er in vielen Verhören nach 1945 bekundete, als er sich immer noch als »Schlesier« fühlte. 1923, mitten in der Hyperinflation, legte Klopfer sein Abitur ab. Für das Sommersemester 1923 schrieb er sich in Breslau zum Studium der Rechts- und Staatswissenschaften ein, wechselte aber wenig später nach Jena, wo er 1927 die Erste Staatsprüfung mit der Note »gut« bestand. Dort war Klopfer im Deutschen Hochschulring aktiv, einer radikalen »völkischen« Studentengruppierung, und lernte einige spätere Weggefährten kennen. Im September 1929 promovierte Klopfer mit einer Arbeit über »Die Treuepflicht des Arbeitnehmers im Arbeitsverhältnis« zum Doktor der Rechte, ging ins Referendariat nach Breslau und meldete sich nach Beendigung der dortigen Vorbereitungszeit zur Zweiten Juristischen Staatsprüfung an, die er im Mai 1931 in Berlin mit 11 Das Folgende nach Klopfer: »Lebenslauf« [handschriftlich, undatiert], in: Akten der Parteikanzlei der NSDAP, herausgegeben vom Institut für Zeitgeschichte München, 2 Teile, München u.a. 1983−1992, hier Teil I, Bd. 1, Fiches 306 00631−34, Regest 10794, Provenienz Bundesarchiv Berlin (BAB), SS-Offizier Klopfer, sowie »Vernehmung des Gerhard KLOPFER vom 24. Maerz 1947 von 15 Uhr 15 bis 17 Uhr durch Hr. BEAUVAIS. Frl. Bergmann, Stenografin.«, in: IfZ ZS 352−2 (Gerhard Klopfer), fol. 00015−00042, hier fol. 00016−00017 [nicht unterschriebener Durchschlag]. Die Geburtsurkunde Klopfers ist faksimiliert bei Heckmann, NS-Täter, S. 20. 12 Zum Folgenden ausführlich T. Hunt Tooley, National Identity and Weimar Germany: Upper Silesia and the Eastern Border, 1918−1922, Lincoln 1997, sowie Waldemar Grosch, Deutsche und polnische Propaganda während der Volksabstimmung in Oberschlesien 1919−1921, Dortmund 2002.
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»gut« bestand. Seit dem Sommer 1931 war Klopfer als Assessor am Amtsgericht, später am Landgericht Düsseldorf tätig. Am 1. April 1933 trat er unter der Mitgliedsnummer 1.706.842 in die NSDAP ein.13 Damit zählte Klopfer zu den »Märzgefallenen«, also jenen Personen, die sich erst nach der »Machtergreifung« zum Parteieintritt hatten entschließen können und daher unter den »Alten Kämpfern« der NSDAP als Karrieristen galten.14 Im August 1933 wurde Klopfer kurzzeitig Staatsanwalt, bevor er wenige Wochen später als Justitiar ins Preußische Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten überwechselte. In der neuen Stellung brachte er es im August 1934 zum Regierungsrat. Seitdem scheint er als ehrenamtlicher Mitarbeiter für den Sicherheitsdienst (SD) von Heinrich Himmlers Schutzstaffeln (SS) tätig gewesen zu sein.15 Offenbar hielt er diesen NSDAP-Nachrichtendienst über die Vorgänge innerhalb seines Dienstbereichs auf dem Laufenden. Ende 1934 veranlasste ihn Werner Best, der Stellvertretende Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes in Berlin, dazu, in dessen Hauptabteilung I für Recht, Personal, Verwaltung einzutreten.16 Seit Januar 1935 arbeitete Klopfer also im Zentrum des NSRepressionsapparates. Bis dahin entsprach seine Karriere exakt der Laufbahn jener »Generation des Unbedingten«, die Michael Wildt als Kern des Führungskorps des späteren Reichssicherheitshauptamtes ausgemacht hat. Geboren zwischen 1900 und 1910, keine Weltkriegsteilnahme, Studium der Rechts- und/oder Staatswissenschaften, intensives Engagement in rechtsradikalen Studentenzirkeln, Staatsexamen, Promotion und nach 1933 sofort Eintritt in NSDAP und SD: das waren auch Klopfers Stationen gewesen.17 Wäre er beim Geheimen Staatspolizeiamt geblieben, hätte ihn der weitere Lebensweg über die Polizeilaufbahn ins Zentrum der NS-Vernichtungspolitik geführt. Es kam jedoch (zuerst einmal) alles anders. Der Stellvertreter des Führers, Rudolf Heß, der gerade dabei war, 13 Zur Geschichte der NSDAP die beiden Gesamtdarstellungen von Dietrich Orlow, The History of the Nazi Party, 2 Bde., Pittsburgh 1969−1973, sowie von Kurt Pätzold/Manfred Weißbecker, Geschichte der NSDAP 1920 bis 1945, 3. verb. und erg. Aufl., Köln 2009. 14 Zu den Spannungen zwischen diesen beiden Gruppen in der NSDAP siehe Christoph Schmidt, »Zu den Motiven ›alter Kämpfer‹ in der NSDAP«, in: Detlev Peukert/Jürgen Reulecke (Hg.), Die Reihen fast geschlossen. Beiträge zur Geschichte des Alltags unterm Nationalsozialismus, Wuppertal 1981, S. 21–43. 15 »Beförderungsantrag« (12.1.1939), in: Akten der Parteikanzlei, Teil I, Bd. 1, Fiche 306 00651, Regest 10794, Provenienz BAB, ehemaliges BDC, SS-Offiziere Klopfer, sowie »Personal-Bericht« (30.1.1939), faksimiliert in: Heckmann, NS-Täter, S. 35. Zur Rekrutierung ehrenamtlicher Mitarbeiter durch den SD siehe Carsten Schreiber, Elite im Verborgenen. Ideologie und regionale Herrschaftspraxis des Sicherheitsdienstes der SS und seines Netzwerks am Beispiel Sachsens, München 2008, S. 85−89. 16 Zu Bests exponierter Rolle im SS- und Polizeiapparat nach 1933 siehe Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Weltanschauung, Radikalismus und Vernunft (1903−1989), Bonn 1996, S. 133−249. 17 Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, 3. Aufl., Hamburg 2008, S. 39−206.
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eine eigene Dienststelle aufzubauen und zu diesem Zweck einen fähigen Verwaltungsjuristen suchte, wurde auf Klopfer aufmerksam.18 Dieser entschied sich für eine neuerliche Veränderung und wechselte ins »Braune Haus« nach München. Seit dem 17. April 1935 war Klopfer im Stab Heß tätig, und zwar zunächst als persönlicher Referent von Stabsleiter Bormann. Seine Aufgaben waren jedoch von Beginn an weit umfangreicher, als er beispielsweise Kempner nach 1945 immer weismachen wollte. Hierzu muss man sich verdeutlichen, dass die Dienststelle des Stellvertreters des Führers, die im Frühjahr 1933 gebildet worden war, einen doppelten Kompetenzbereich besaß: Zum einen war sie das unumstrittene Führungsorgan der NSDAP mit einem weitgehenden Weisungsrecht nach unten, zum anderen bildete sie die einzige Parteibehörde, die in die staatliche Gesetzgebung und die Ernennung von Reichs- und Landesbeamten eingeschaltet war.19 Generell zeichnete sich die institutionelle Entwicklung der Dienststelle des Stellvertreters des Führers zwischen 1933/34 und 1938/39 durch die Übernahme immer neuer Kompetenzen und die Ausdifferenzierung immer neuer Ämter aus. Beide Prozesse bedingten einander. Klopfer war in der späteren Abteilung III der Dienststelle des Stellvertreters des Führers tätig, die alle Angelegenheiten des Staates bearbeitete. Er vertrat abwechselnd Walther Sommer, den Leiter der Abteilung, und dessen Stellvertreter Johannes Müller.20 Dabei scheint Klopfer keine leitenden Aufgaben wahrgenommen zu haben, sondern fungierte als Verbindungsglied zwischen Bormann, der im »Braunen Haus« in München residierte, und der Abteilung III, deren Mitarbeiter teilweise in der Berliner Wilhelmstraße ansässig waren. Auf diese Weise kam er mit allen nur erdenklichen legislativen Materien in Kontakt. 1934/35 war die Mitwirkung des Stellvertreters des Führers an der staatlichen Gesetzgebung und der Beamtenpolitik nämlich immer weiter ausgedehnt worden. Nach einer Anordnung Hitlers vom 27. Juli 1934 musste der Stellvertreter des Führers prinzipiell an allen Angelegenheiten der Gesetzgebung beteiligt werden, und zwar unabhängig davon, ob sie sich inhaltlich überhaupt auf die NSDAP bezogen, für die er eigentlich zuständig sein sollte. Bei der Bearbeitung von Gesetzentwürfen und Verordnungen (VO) der Reichsministerien fungierte Heß insofern als »beteiligter Reichsminister«. Diese Bestimmung, die alle im »Reichsgesetzblatt« veröffentlichten Durchführungsbestimmungen einschloss, bedeutete, dass er in jedem Fall in die Gesetzgebung eingeschaltet
18 Zu Heß Kurt Pätzold/Manfred Weißbecker, Rudolf Heß. Der Mann an Hitlers Seite, Leipzig 1999. Manfred Görtemaker (Potsdam) bereitet eine neue Biografie vor. 19 Peter Longerich, Hitlers Stellvertreter. Führung der Partei und Kontrolle des Staatsapparates durch den Stab Heß und die Partei-Kanzlei Bormann, München u.a. 1992, S. 40−89. 20 Heß an das Reichsfinanzministerium (27.4.1935), in: Akten der Parteikanzlei, Teil I, Bd. 2, Fiches 103 06164 f., Regest 20996, Provenienz BAB R 2/11903. Zu Sommer siehe Dieter Marek, »Walther Sommer (1893−1946). Die Karriere eines Thüringer Juristen im Dritten Reich«, in: »Ältestes bewahrt mit Treue, freundlich aufgefasstes Neue«. Festschrift für Volker Wahl zum 65. Geburtstag, herausgegeben von Katrin Beger u.a., Rudolstadt 2008, S. 505−522.
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werden musste.21 Dies geschah bereits dann, wenn sich ein Gesetz im Beratungsstadium befand, also lediglich ein erster Referentenentwurf vorlag. Auch war Heß von der für die anderen Reichsminister geltenden Bestimmung ausgenommen, dass nach Ablauf einer Frist zur Stellungnahme automatisch Zustimmung zum Gesetzentwurf angenommen wurde. Dadurch konnte er die Verabschiedung eines Gesetzes beliebig verzögern, ohne sich konkret zu dessen Inhalt zu äußern. Zudem durfte Bormann als Stabsleiter des Stellvertreters des Führers im Gesetzgebungsverfahren »verbindliche Stellungnahmen« an die übrigen Reichsminister abgeben. Die Kompetenzen der Dienststelle des Stellvertreters des Führers bei der Gesetzgebung waren also viel umfassender als die anderer Reichsministerien. Klopfers Tätigkeiten im Stab Heß bis 1939/40 haben in den erhaltenen Akten kaum Niederschlag gefunden. Offenbar kümmerte er sich vordringlich um Fragen des Zivil-, Polizei- und Strafrechts, für die er als Jurist ja besonders prädestiniert war. Zwar waren seine Dienstvorgesetzten Sommer und Müller mit der inhaltlichen Ausgestaltung der antisemitischen »Nürnberger Gesetze« befasst, deren Durchführungsverordnungen der Stellvertreter des Führers mitzeichnete.22 Demgegenüber ist eine Mitarbeit Klopfers an der antijüdischen Gesetzgebung bis 1937/38 nicht nachzuweisen.23 Gelegentlich schaltete er sich jedoch in Fragen der NS-Kirchenpolitik ein.24 Besser dokumentiert ist Klopfers Karriere im Stab Heß. Dort hatte er als Hauptstellenleiter begonnen; ein Parteirang auf der dritten Hierarchiestufe nach Hauptamts- und Amtsleiter. Am 1. Juni 1936 erhielt er eine Planstelle als Oberregierungsrat, am 21. Juli 1938 wurde er zum Ministerialrat ernannt.25 Damit war Klopfer nach Ministerialdirektor Sommer und Ministerialdirigent Müller rangmäßig bereits der drittwichtigste Reichsbeamte im Stab Heß. Im Frühjahr 1939 wandte sich Sommer schließlich an Fritz Reinhardt, den Staatssekretär im Reichsfinanzministerium, und bat ihn um eine erneute Beförderung Klop21 Dazu ausführlich Armin Nolzen, »Die Dienststelle des Stellvertreters des Führers/Partei-Kanzlei als Verwaltungsbehörde der NSDAP: Struktur, Organisationskultur und Entscheidungspraxis«, in: Stefan Haas/Mark Hengerer (Hg.), Im Schatten der Macht. Kommunikationskulturen in Politik und Verwaltung 1600–1950, Frankfurt am Main u.a. 2008, S. 221−251, hier S. 228 ff. 22 Und zwar gemäß § 3 des »Reichsbürgergesetzes« (15.9.1935), in: Reichsgesetzblatt (RGBl.) I (1935), S. 1146, wie beispielsweise die Vorgänge in: Akten der Parteikanzlei, Teil I, Bd. 1, Fiches 101 13864−83, Regest 12091, Provenienz BAB R 43 II/733, anlässlich der 4. VO zeigen. Longerich, Stellvertreter, S. 210−219, erwähnt diesen wichtigen Sachverhalt nicht. 23 Siehe etwa die Vorgänge in: Akten der Parteikanzlei, Teil I, Bd. 1, Fiches 101 07537−63, Regest 12945, Provenienz BAB R 43 II/598, zur 5. VO zum »Reichsbürgergesetz«, die Heckmann, NSTäter, S. 36, fälschlicherweise so interpretiert, als sei Klopfer daran beteiligt gewesen. 24 Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches, bearb. v. Carsten Nicolaisen u. Gertraud Grünzinger, 5 Bde., München u.a. 1971−2008, hier Bd. IV, S. 141−147 (= Dok. 63), hier S. 145. Zur Kirchenpolitik des Stabes Heß siehe Longerich, Stellvertreter, S. 234−255. 25 Reichsministerium des Innern (RMindI) an das Reichsfinanzministerium (23.5.1938), in: Akten der Parteikanzlei, Teil I, Bd. 2, Fiches 103 06237 f., Regest 23036, Provenienz BAB R 2/11903. Generell Heckmann, NS-Täter, S. 28 f.
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fers zum Ministerialdirigenten. Die Begründung war aufschlussreich: Klopfer sollte ihn in den Sitzungen der Staatssekretäre und in Chefbesprechungen vertreten können.26 Die ins Auge gefasste Ernennung erfolgte am 14. August 1939. Mit seinen gerade einmal 34 Jahren war Klopfer einer der jüngsten Ministerialdirigenten im Deutschen Reich.27 Seine Beförderungen geschahen allesamt außerhalb der geltenden »Reichsgrundsätze« für die Anstellung von Beamten, denn Klopfer fehlten die notwendigen Dienstjahre. In ihren Anträgen rekurrierten Heß, Bormann und Sommer immer wieder auf die »besondere Bedeutung« Klopfers; eine Standardformulierung zur Rechtfertigung außerplanmäßiger Beförderungen. Klopfers Blitzkarriere in der Dienststelle des Stellvertreters des Führers ging zudem mit privaten Veränderungen einher. Am 23. Oktober 1937 heiratete er seine Freundin Hildegard Müller. Beide zogen in die neu errichtete »Reichssiedlung Rudolf Heß«, die in Pullach bei München lag.28 Dort lebten viele weitere Mitarbeiter der Dienststelle des Stellvertreters des Führers. Diese zeichnete sich ohnehin durch einen besonderen »Gemeinschaftsgeist« unter ihren Angehörigen aus, wie er sich in regelmäßigen Feierlichkeiten und in außerdienstlichen Zusammenkünften manifestierte. Die für Verwaltungsbehörden gängige Trennung der dienstlichen Tätigkeit von der Privatsphäre war in der Dienststelle des Stellvertreters des Führers tendenziell suspendiert, wodurch sich kurze Dienstwege ergeben konnten. Die Mitarbeiter der Abteilung III waren ebenso radikale Verfechter der Interessen der NSDAP wie ihre Kollegen in der Abteilung II, die für Parteiangelegenheiten zuständig waren. In einem Exemplar der internen »Hausnachrichten« des Stabes Heß vom Juni 1940 berichtete das Amt III A über die Entwicklung des eigenen Tätigkeitsbereichs. Am Beginn der maschinenschriftlichen Ausführungen befindet sich eine »Stürmer«-ähnliche Zeichnung eines Juden, dessen Kopf gerade mit einer Schieblehre vermessen wird. Auf dieser ist gut sichtbar das Wort »Volljude« zu erkennen, unterschrieben ist der Bericht mit »Eure III A – rier«.29 Ähnliche antisemitische Invektiven finden sich in vielen anderen Korrespondenzen von Angehörigen des Stabes Heß. Diese waren in aller Regel fanatische Parteigänger der »nationalsozialistischen Idee«. Auch Klopfers ideologischer Purismus steht außer Frage und äußerte sich unter anderem in einem Austritt aus der evangelischen Kirche, der Anfang 1937 erfolgte und offenbar in Zusammenhang mit seiner SS-Karriere stand. Am 30. Januar 1939 wurde Klopfer, der
26 Sommer an Reinhardt (24.4.1939), in: Akten der Parteikanzlei, Teil I, Bd. 2, Fiches 103 06286−89, Regest 23808, Provenienz BAB R 2/11903. 27 RMindI: »Vorschlag zur Ernennung« [undatiert, ca. 8/1939], in: Akten der Parteikanzlei, Teil I, Bd. 1, Fiches 101 20630−33, Regest 13738, Provenienz BAB R 43 II/1213a. 28 Winfried Nerdinger/Michael Howells, Bauen im Nationalsozialismus. Bayern 1933−1945, München 1993, S. 293. 29 Dieses Blatt, das ich im Bestand der PK nicht nachweisen konnte, findet sich in: BAB, Film Nr. 5580, Provenienz National Archives Washington, Alexandria Microfilms, T-81, roll 641, fol. 443765. Zum kulturellen Hintergrund ausführlich Alexandra Przyrembel, »Rassenschande«. Reinheitsmythos und Vernichtungslegitimation im Nationalsozialismus, Göttingen 2003, S. 24−30.
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die SS-Mitgliedsnummer 272.227 besaß, zum Obersturmbannführer befördert.30 Unter »allgemeine Charaktereigenschaften« führte der SS-interne Bericht die beiden Adjektive »fleißig und strebsam« an, »Lebensauffassung und Urteilsvermögen« galten als »gefestigt«. Die Gesamtbeurteilung lautete: »einsatzbereiter und strebsamer SS-Führer mit sehr guten Kenntnissen auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts«. In der Sacharbeit konnten sich Himmler und Heydrich auf Klopfer und dessen Behörde verlassen. Dies lässt sich etwa anhand der heftigen interministeriellen Diskussionen zeigen, die seit Sommer 1940 um die Veränderung einer Verordnung über die »Einführung des deutschen bürgerlichen Rechts« in den »Reichsgauen« Danzig-Westpreußen und Wartheland geführt wurden.31 Das Reichsministerium der Justiz hatte diese Verordnung eigentlich schon lange in Kraft gesetzt. Klopfer brachte nachträglich die Bedenken der Dienststelle des Stellvertreters des Führers zum Ausdruck, wozu er sich zuvor mit Heydrich abgestimmt hatte. Er forderte stattdessen ein an die »Judengesetzgebung« angelehntes Sonderrecht für Polen, das sie auf den Status von Sklaven herabdrückte. Bei anderer Gelegenheit verlangte der Stab Heß die »Prügelstrafe« für Polen.32 Letztlich setzten sich dessen Vorstellungen eines Sonderrechts für Polen in den beiden »Reichsgauen« durch. Die Kooperation zwischen der Dienststelle des Stellvertreters des Führers und dem Reichssicherheitshauptamt war geboren.
Die Abteilung III der Partei-Kanzlei und die Debatte um den »Judenbegriff« 1941/42 Das erste Halbjahr 1941 erwies sich für die Dienststelle des Stellvertreters des Führers als äußerst turbulent. Zunächst einmal wechselte Sommer, der Leiter der Abteilung III und damit Klopfers unmittelbarer Dienstvorgesetzter, als Präsident ans neu gebildete Reichsverwaltungsgericht, wo er am 24. April 1941 seinen Dienst aufnahm.33 Zu seinem Nachfolger war Klopfer ausersehen. Dieser wurde am 5. Mai 1941 in die freiwerdende 30 Das Folgende nach Klopfers SS-Personalakten in: Akten Parteikanzlei, Teil I, Bd. 1 Fiches 306 00629−78, Regest 10794, Provenienz BAB, ehemaliges BDC, SS-Offiziere Klopfer. Vgl. dagegen die mildere Bewertung Klopfers bei Dieter Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwicklung und Verwaltungspolitik 1939−1945, Stuttgart 1989, S. 68−91, hier S. 88 f. 31 Zum Folgenden die Vorgänge in: Akten der Parteikanzlei, Teil I, Bd. 1, Fiches 101 27328−88, Regest 14225, Provenienz BAB R 43 II/1520, sowie Heckmann, NS-Täter, S. 36 f. 32 Vermerk eines Mitarbeiters der Reichskanzlei (22.4.1941), in: Akten der Parteikanzlei, Teil I, Bd. 1, Fiches 101 28413/13−14, Regest 14652, Provenienz BAB R 43 II/1549. Zum Sachverhalt generell Diemut Majer, »Fremdvölkische« im Dritten Reich. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Rechtssetzung und Rechtspraxis in Verwaltung und Justiz unter besonderer Berücksichtigung der eingegliederten Ostgebiete und des Generalgouvernements, Boppard am Rhein 1981, S. 734−774. 33 Marek, »Walther Sommer«, S. 505−522, hier S. 514 f.
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B5-Stelle als Ministerialdirektor eingewiesen und stand nunmehr formal der Abteilung III der Dienststelle des Stellvertreters des Führers vor.34 Wenige Tage später folgte ein weiterer Paukenschlag. Heß, der Stellvertreter des Führers, flog am 10. Mai 1941 aus eigener Initiative mit einer Messerschmidt Bf 110 nach Großbritannien, um den Kriegsgegner von der angeblichen Notwendigkeit eines Separatfriedens mit dem Deutschen Reich zu überzeugen.35 Hitler erklärte ihn daraufhin zur Persona non grata und wandelte die Dienststelle des Stellvertreters des Führers in die Partei-Kanzlei um. Leiter dieser Behörde wurde Bormann, der in den darauffolgenden Wochen und Monaten erst einmal sicherstellte, dass seine neue Dienststelle dieselben umfassenden Kompetenzen wie der ehemalige Stab Heß besaß.36 Für Klopfer, den frisch ernannten Leiter der Abteilung III, ergaben sich mithin keinerlei Änderungen. Er koordinierte die Stellungnahmen der Partei-Kanzlei in allen Fragen der Gesetzgebung und der Beamtenpolitik, wie dies auch schon Walther Sommer getan hatte. Im Sommer 1941 wurde Klopfer noch in den illustren Herausgeberkreis von Reich, Volksordnung, Lebensraum aufgenommen, einer der renommiertesten Rechtszeitschriften des NS-Regimes. Seitdem versuchte er, die »völkische Verfassung und Verwaltung« innerhalb des »Großdeutschen Reiches« zu profilieren.37 Aus den wenigen erhaltenen Aktensplittern der Abteilung III der Partei-Kanzlei wissen wir, dass die Sachbearbeitung in Fragen der Gesetzgebung stets dezentral erfolgte. Deshalb waren immer mehrere ihrer Ämter, Hauptstellen und Stellen gleichzeitig mit demselben Gesetzvorschlag oder Verordnungsentwurf befasst. Die Gesetzgebungstätigkeit des NS-Staates war mit dem Übergang zur militärischen Expansion seit 1937/38 ohnedies exorbitant angestiegen. Daher hatte sich auch die Abteilung III in der Dienststelle des Stellvertreters des Führers immer weiter ausdifferenziert. Als Klopfer deren Leitung übernahm, bestand sie im Großen und Ganzen aus den Ämtern III A (Innere Verwaltung und Volkstum), III B (Wirtschaft, Arbeit, Ernährung, Verkehr), III C (Justiz), III D (Kirche, Schule, Jugendführer des Deutschen Reiches, Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda), III E (Finanzen), III P (Beamtenpolitik) und III V (Sicherheitspolizei und SD). In der Abteilung III arbeiteten zu diesem Zeitpunkt fünfzig höhere Beamte, die samt und sonders auf Planstellen anderer Ministerien saßen.38 Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte Klopfer, deren Aufgaben herunterzuspielen und sie als bloße Sammelstelle für Gesetzvorschläge zu bezeichnen, die aus der NSDAP an ihn herangetragen wurden. 34 Dazu die Vorgänge in: Akten der Parteikanzlei, Teil I, Bd. 1, Fiches 101 20666−71, Regest 14940, Provenienz BAB R 43 II/1213a. 35 Dazu grundlegend Rainer F. Schmidt, Rudolf Heß. »Botengang eines Toren?« Der Flug nach Großbritannien vom 10. Mai 1941, Düsseldorf 1997, S. 91−126. 36 Zum Übergang zur PK siehe Longerich, Hitlers Stellvertreter, S. 146−154. 37 Reich, Volksordnung, Lebensraum. Zeitschrift für völkische Verfassung und Verwaltung, herausgegeben von Wilhelm Stuckart, Werner Best, Gerhard Klopfer, Rudolf Lehmann u. Reinhard Höhn, Darmstadt 1941−1944. Zu dieser Zeitschrift, die zweimal jährlich erschien, siehe Herbert, Best, S. 284−298. 38 Rebentisch, Führerstaat, S. 454, Fußnote 259.
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Faktisch entschied seine Abteilung III jedoch alle Stellungnahmen zur Gesetzgebung, die aus der Partei-Kanzlei ergingen, selbsttätig. Klopfer persönlich entwarf sie, indem er auf die Vorarbeiten seiner Referenten zurückgriff, und legte sie Bormann zur Unterzeichnung vor. Regelmäßig pendelte er mit einem Schlafwagenzug zwischen München und Berlin, so dass er seine Arbeitszeit entweder im »Braunen Haus« in München oder in der Dependance der Partei-Kanzlei in der Berliner Wilhelmstraße verbrachte.39 Angesichts der weitgehenden Kompetenzen der Partei-Kanzlei in der Gesetzgebung war es für die anderen Obersten Reichsbehörden unabdingbar, diese Parteibehörde in alle Angelegenheiten einzuschalten, die man auf legislativem Wege zu regeln gedachte. Eine dieser Materien war die »Judenpolitik«, die mit der Vorbereitung eines Angriffs auf die Sowjetunion in ein neues Stadium eintrat. Zu diesem Zeitpunkt ging es dem NS-Regime um drei Problemkreise: die Kennzeichnung der Juden im »Großdeutschen Reich«, die Frage, wer in den besetzten Gebieten beziehungsweise den befreundeten Staaten als Jude zu gelten hatte, sowie den Versuch, den »Judenbegriff« der 1. Verordnung zum »Reichsbürgergesetz« vom 14. November 1935 auf die so genannten jüdischen Mischlinge ersten und zweiten Grades und die in »privilegierter Mischehe« lebenden »Nichtarier« zu erweitern. Eine gesetzliche Regelung dieser Aspekte wurde als unabdingbare Voraussetzung für die Deportation sämtlicher Juden aus dem deutschen Machtbereich erachtet. Die zuständigen Ämter der Abteilung III der Partei-Kanzlei waren an den Erörterungen dieser drei Problemfelder stets direkt beteiligt. Schon zu Kriegsbeginn war das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda an den damaligen Stab Heß mit dem Vorschlag herangetreten, mit den Behörden des Reichführers-SS zur »Kenntlichmachung der Juden durch Ansteck-Abzeichen Verhandlungen aufzunehmen«.40 Weil sich Hitler und einige Ministerien gegen ein derartiges Vorgehen gesperrt hatten, dauerte es allerdings bis zum Frühjahr 1941, bis wieder Bewegung in diese Angelegenheit kam. Es war Herbert Reischauer, der Leiter der Hauptstelle III A 4 der Partei-Kanzlei, der das weitere Vorgehen zwischen dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, dem Reichssicherheitshauptamt und der Vierjahresplan-Behörde koordinierte, damit Hitler dieses Mal der gewünschten Kennzeichnungspflicht zustimmte.41 Bei einer Sitzung, die am 15. August 1941 im Reichs39 »Vernehmung des Dr. Arno HILLEBRECHT vom 3. Juni 1947 von 15 Uhr 30 bis 16 Uhr 15 durch Hr. BEAUVAIS. Frl. Bergmann Stenografin«, in: IfZ ZS 929 (Arno Hillebrecht), fol. 00011−00018, hier fol. 00012−00013 [nicht unterschriebener Durchschlag]. 40 Das Zitat nach: »Zur Vorlage an den Stabsleiter« (5.12.1939) [ungezeichnet], in: Akten de Parteikanzlei, Teil II, Bd. 1, Fiches 76064, Regest 33179, Provenienz NS 18alt/842. Diese Vorlage stammte offenbar aus dem Amt II B des Stabes Heß, das für das innerparteiliche Berichts- und Informationswesen zuständig war; siehe Louis Eugene Schmier, Martin Bormann and the Nazi Party 1941−1945, Ph. D. Thesis, Chapel Hill 1968, S. 67−74. Zum Folgenden Michael Meyer, Staaten als Täter. Ministerialbürokratie und »Judenpolitik« in NS-Deutschland und Vichy-Frankreich, München 2010, S. 263−274. 41 Fernschreiben Reischauers an Walter Tießler (24.5.1941), in: Akten der Parteikanzlei, Teil II, Bd. 2, Fiches 76069, Regest 41006, Provenienz NS 18alt/842. Reischauer, geboren am 13.5.1909 in Erfurt,
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propagandaministerium stattfand und an der mehr als vierzig Personen teilnahmen, kamen die Anwesenden darin überein, einen »Führerentscheid« in dieser Frage herbeizuführen.42 Es war dann Bormann, der Hitlers Zustimmung erreichte. Am 1. September 1941 wurde schließlich im »Reichsgesetzblatt« die von Heydrich gezeichnete »Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden« verkündet.43 Sie war zuvor von der Partei-Kanzlei gebilligt worden. Eine ähnliche Koalition aus Reichssicherheitshauptamt und Partei-Kanzlei lässt sich auch bei der Diskussion um die 11. Verordnung zum »Reichsbürgergesetz« beobachten, die sich zunächst um die neue Rechtsfigur der »Schutzangehörigkeit« drehte, welche mit der »Deutschen Volksliste« in Danzig-Westpreußen, im Wartheland und im annektierten Ost-Oberschlesien eingeführt worden war.44 Wilhelm Stuckart, der Staatssekretär im Reichsministerium des Innern, versuchte, diesen aus dem Kolonialrecht stammenden Begriff nunmehr auf alle Juden im »Großdeutschen Reich« zu übertragen, um deren Rechtsstatus zu vereinheitlichen und die anstehenden weiteren Schritte der antijüdischen NS-Politik, also Vermögensentzug und Deportation, zu erleichtern.45 Zu diesem Zweck hatten seine Beamten eine neue Verordnung zum »Reichsbürgergesetz« entworfen, die für deutsche Juden, die im Inland lebten, den Status der »Schutzangehörigkeit« vorsah, wohingegen allen, die mittlerweile im Ausland »ansässig« waren (im Klartext: die deportiert worden waren) die Staatsangehörigkeit entzogen werden sollte. Bei einer interministeriellen Besprechung, die am 15. Januar 1941 stattfand, lehnte Reischauer für den Stab Heß diesen Vorschlag ab, optierte stattdessen gemeinsam mit den Vertretern des
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legte am 10.7.1931 die Erste Juristische Staatsprüfung mit der Note »gut« ab. Am 5.12.1934 folgte die Zweite Juristische Staatsprüfung mit derselben Note, wonach Reischauer Gerichtsassessor wurde. Als Mitglied Nummer 1.215.231 war er am 1.8.1932 in die NSDAP eingetreten. Das Datum seines Dienstbeginns beim Stab Heß muss vor Mai 1937 gelegen haben; siehe die Vorgänge in: Akten der Parteikanzlei, Teil I, Bd. 1, Fiches 143 00001−15, Regest 11963, Provenienz BAB NS 14/15 I. Seit Herbst 1940 leitete Reischauer die Hauptstelle III A 4 für Rassefragen und Bevölkerungspolitik. Ende 1943 wurde er zum Oberregierungsrat befördert und avancierte zum Leiter der Abteilung I des Reichstatthalters Wartheland; siehe die Vorgänge in: Akten der Parteikanzlei, Teil I, Bd. 2, Fiches 103 06314−20, Regest 24415, Provenienz BAB R 2/11903; ebd., Fiches 103 06619/14−19, Regest 28107, Provenienz BAB R 2/11995. Zu dieser wichtigen Sitzung gibt es bislang nur einen Vermerk aus der Feder Bernhard Löseners, eines Mitarbeiters des RMindI, die auf dessen stenografischen Mitschriften beruht und den er einige Tage später am 18.8.1941 abschloss; siehe Bernhard Lösener, »Als Rassereferent im Reichsministerium des Innern«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 9 (1961), S. 262−313, hier S. 302−305. Zu den quellenkritischen Problemen der Lösener-Aufzeichnungen Cornelia Essner, Die »Nürnberger Gesetze« oder Die Verwaltung des Rassenwahns 1933−1945, Paderborn u.a. 2002, S. 113−134. RGBl. I (1941), S. 547. Dazu ausführlich Gerhard Wolf, Ideologie und Herrschaftsrationalität. Nationalsozialistische Germanisierungspolitik in Polen, Hamburg 2012, S. 165–342. Hans-Christian Jasch, Staatssekretär Wilhelm Stuckart und die Judenpolitik. Der Mythos von der sauberen Verwaltung, München 2012, S. 297−312.
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Reichssicherheitshauptamtes für den Entzug der Staatsangehörigkeit aller Juden und wollte zudem auch noch alle »jüdischen Mischlinge ersten Grades« und in »privilegierter Mischehe« lebenden Juden in die Maßnahme einbezogen wissen.46 In derselben Sitzung wurde noch ein weiterer Verordnungsentwurf zum Vermögensentzug von Juden diskutiert, welcher direkt auf die 11. Verordnung zum »Reichsbürgergesetz« folgen sollte. Man entschloss sich dazu, beide Verordnungsentwürfe noch einmal zu überarbeiten. Schließlich wurden beide Problemkreise, also die Staatsangehörigkeitsfragen und die Enteignung von Juden, systematisch miteinander verbunden. Nun jedoch sperrten sich Hitler und das Auswärtige Amt dagegen, allen deutschen Juden die Staatsangehörigkeit zu entziehen; eine Maßnahme, über die sich die Partei-Kanzlei, das Reichssicherheitshauptamt und das Reichsministerium des Innern schon verständigt hatten. Aus diesem Grund musste auch die Anwendung der 11. Verordnung zum »Reichsbürgergesetz« auf »jüdische Mischlinge ersten Grades« sowie alle »Nichtarier« in »privilegierter Mischehe« unterbleiben, die Reischauer ursprünglich gefordert hatte. Damit waren die Maximalpositionen der ParteiKanzlei gegenstandlos geworden, und es war Hitler gewesen, der sie vereitelt hatte. Die beteiligten Ministerien einigten sich schließlich auf eine reduzierte Version dieser 11. Verordnung, die am 25. November 1941 im »Reichsgesetzblatt« veröffentlicht wurde und die die gesetzliche Grundlage dafür schuf, die aus dem Deutschen Reich deportierten Juden zu enteignen. Deren Vermögen wurde durch das Reichsfinanzministerium eingezogen.47 Parallel zu den Diskussionen über die 11.Verordnung zum »Reichsbürgergesetz« ergab sich für die Abteilung III der Partei-Kanzlei bald noch eine weitere Möglichkeit, ihre radikalen Positionen in der »Judenpolitik« zur Geltung zu bringen. Am 6. August 1941 wandte sich Hinrich Lohse, der neue Reichskommissar Ostland, an das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete und bat zu prüfen, inwieweit die gerade eingeleiteten radikalen antijüdischen Maßnahmen sich nicht bloß auf die deutschen und sowjetischen, sondern auf sämtliche Juden beziehen sollten, die in seinem Verwaltungsgebiet lebten.48 Damit schnitt Lohse die Frage einer Vereinheitlichung des »Judenbegriffs« an, der im NS-Herrschaftsbereich zu diesem Zeitpunkt ganz unterschiedlich ausgelegt wurde. Bereits eine Woche später fand im Amt IV B 4 des RSHA in der Berliner Kurfürstenstraße eine interministerielle Sitzung statt, die Adolf Eichmann leitete und »Fragen des europäischen
46 Dazu die ungezeichnete und undatierte »Niederschrift über die Besprechung vom 15. Januar 1941 betr. Ordnung der Staatsangehörigkeitsverhältnisse im Großdeutschen Reich«, in: Akten der Parteikanzlei, Teil I, Bd. 1, Fiches 101 00402−07, Regest 14605, Provenienz R 43 II/136a. Zum Folgenden ist grundlegend Essner, Die »Nürnberger Gesetze«, S. 292−326. 47 RGBl. I (1941), S. 722. Dazu allgemein Christiane Kuller, Finanzverwaltung und Judenverfolgung. Die Entziehung jüdischen Vermögens in Bayern während der NS-Zeit, München 2008, S. 24−93. 48 Hinrich Lohse, »Vorläufige Richtlinien für die Behandlung der Juden im Gebiet des Reichskommissariats Ostland« (2.8.1941), in: Wolfgang Benz u.a. (Hg.), Einsatz im Reichskommissariat Ostland. Dokumente zum Völkermord im Baltikum und in Weißrußland, 1941−1944, Berlin 1998, S. 38−42. Dazu Essner, Die »Nürnberger Gesetze«, S. 341−368.
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Blutschutzes« zum Gegenstand hatte.49 Die Partei-Kanzlei war wieder einmal durch Reischauer vertreten. Zu Beginn der Unterredung verlas Eichmann das Ermächtigungsschreiben, das Hermann Göring am 31. Juli 1941 für Heydrich ausgestellt hatte, damit er die »Endlösung der Judenfrage« vorantriebe. Danach präsentierten sich Eichmann und Reischauer als ein eingespieltes Team, dem es unter dem Vorwand einer »Vereinheitlichung des Judenbegriffs in Europa« darum ging, die »jüdischen Mischlinge ersten Grades« in die anstehenden Deportationen einzubeziehen. Man einigte sich dann auf die Bildung einer Arbeitsgemeinschaft, die alle »mit dem Blutschutz in Europa zusammenhängenden Fragen prüfen« solle. Die erste Sitzung dieser Arbeitsgemeinschaft fand am 21. August 1941 im Hauptamt Sicherheitspolizei statt. Es folgte mindestens ein weiteres Treffen im September 1941. Am Ende einigten sich Reichssicherheitshauptamt, Partei-Kanzlei sowie Vierjahresplan-Behörde auf eine Position, die direkt in Heydrichs Ausführungen über die »jüdischen Mischlinge« bei der Wannsee-Konferenz einfloss.50 Die Verordnung über die Kennzeichnungspflicht, die 11. Verordnung zum »Reichsbürgergesetz« und die Debatte über den »europäischen Blutschutz« gehören in die unmittelbare Vorgeschichte der Wannsee-Konferenz, die ja ursprünglich für den 9. Dezember 1941 anberaumt, aufgrund des japanischen Angriffs auf Pearl Harbor und des darauffolgenden Kriegseintritts der USA jedoch auf den 20. Januar 1942 verschoben worden war.51 Hatte Reischauer bisher für die Abteilung III der Partei-Kanzlei die administrative Arbeit erledigt, so wurde zur Wannsee-Konferenz natürlich deren höchster Repräsentant eingeladen, nämlich Ministerialdirektor Klopfer. Dessen Rolle bei der Konferenz war, wie wir aus dem von Eichmann verfassten Protokoll wissen, offenbar eher marginal, denn eine Wortmeldung Klopfers ist darin nicht überliefert. Auffällig ist, dass bei der Nennung der Anwesenden, die hierarchisch nach Diensträngen erfolgte, bei Klopfer einzig und allein »SS-Oberführer« angegeben ist. Sein Dienstrang als Ministerialdirektor fand ebenso wenig Erwähnung wie der Doktortitel. Die Besprechung selbst, 49 Zum Folgenden den Vermerk Werner Feldschers, eines Mitarbeiters Löseners (13.8.1941), in: IfZ F 71/3, Bl. 282−284, sowie Uwe Dietrich Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, m. einem Vorw. v. Günther B. Ginzel vers. Nachdruck der erstmals 1972 erschienenen Originalausgabe, Düsseldorf 2003, S. 222−234, hier S. 224−228. Zu Eichmann siehe Hans Safrian, Die Eichmann-Männer, Wien u.a. 1993. 50 Dies ergibt sich aus einem ungezeichneten und undatierten Vermerk: »Ergebnis der Besprechung im Hauptamt Sicherheitspolizei über die Lösung der europäischen Judenfrage«, der aus dem Umfeld Löseners stammte und Anfang Dezember 1941 verfasst wurde, in: BAB R 1501/5519, Bl. 241−242, interpretiert bei Jasch, Stuckart, S. 326 f. Schon Jeremy Noakes, The Development of Nazi Policy towards the German-Jewish »Mischlinge«, in: Leo Baeck Institute Yearbook 34 (1989), S. 291−354, hier S. 339 u. 342, hat den Zusammenhang zur Wannsee-Konferenz erkannt. 51 Dazu grundlegend Christian Gerlach, Die Wannsee-Konferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers politische Grundsatzentscheidung, alle Juden Europas zu ermorden, in: ders., Krieg, Ernährung, Völkermord. Deutsche Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Zürich u.a. 2001, S. 79−152.
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die eineinhalb bis zwei Stunden dauerte, lässt sich in zwei thematische Blöcke unterteilen.52 Zunächst trug Heydrich, nachdem er sich mit der durch Göring am 31. Juli 1941 erfolgten »Bestellung zum Beauftragten für die Vorbereitung der Endlösung der europäischen Judenfrage« legitimiert hatte, die Grundzüge der »Judenpolitik« seit 1939 vor und skizzierte ein gigantisches Deportationsprogramm für mehr als elf Millionen europäischer Juden, das nach dem Stopp der Politik der forcierten Auswanderung jetzt in Angriff zu nehmen sei. Der zweite Teil dieser Besprechung befasste sich mit der komplexen Materie des »Judenbegriffs«, der bei den Deportationen zugrundezulegen war. Zu diesem Zweck bezog sich Heydrich auf ein Schreiben des Chefs der Reichskanzlei, das offenbar in engem Zusammenhang mit jenen Ergebnissen stand, zu denen die Arbeitsgemeinschaft über »Fragen des europäischen Blutschutzes« inzwischen gekommen war. Darunter fand sich auch jener weitgehende Vorschlag, der in Eichmanns Protokoll wie folgt formuliert wird: »Mischlinge 1. Grades sind im Hinblick auf die Endlösung der Judenfrage den Juden gleichgestellt«. Diese Bestimmung, die ja auch das Reichssicherheitshauptamt und die Partei-Kanzlei immer gefordert hatten, wurde allerdings noch durch einige Ausnahmeregelungen ergänzt. So sollten alle »Mischlinge ersten Grades«, die mit »Deutschblütigen« verheiratet waren und mit diesen noch gemeinsame Kinder hatten, von den Deportationen ausgenommen und auf freiwilliger Basis sterilisiert werden. Für Stuckart waren diese und andere Einzelfallregelungen allerdings kaum praktikabel, weil sie eine »unendliche Verwaltungsarbeit« mit sich brächten. Er schlug vor, »zur Zwangssterilisierung zu schreiten«. Es ist nicht einfach, die Ergebnisse der Wannsee-Konferenz im Einzelnen zu bestimmen. Jedoch ist sich die Forschung mittlerweile darin einig, dass die Anwesenden mit Heydrichs Federführung bei der »Endlösung der Judenfrage« und mit dessen Deportationsprogramm einverstanden waren. Dass diese Planungen auf Massenmord hinausliefen, war den Teilnehmern ebenfalls bekannt, wie sich weniger den camouflierenden Formulierungen des Eichmann-Protokolls entnehmen lässt als vielmehr jenem Wissen über die Ermordung der sowjetischen Juden, das zu diesem Zeitpunkt in der NS-Ministerialbürokratie verbreitet war.53 In der Frage des »Judenbegriffs« jedoch hatte man keinerlei Einigung erzielt, und zwar weder im Hinblick auf die »jüdischen Mischlinge ersten und zweiten Grades« noch auf die Behandlung jener Juden, die in »privilegierter Mischehe« lebten. Hier bestand weiter Regelungsbedarf, wie nur wenige Tage nach der WannseeKonferenz erneut deutlich wurde. Anlässlich einer Sitzung im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, an der für die Partei-Kanzlei Reischauer teilnahm, wurde am 29. Januar 1942 eine Verordnung über den »Judenbegriff« für die Reichskommissariate
52 Vgl. das Faksimile im Dokumententeil, Dok. 4.7. Zum Ablauf der Konferenz die Schilderung bei Essner, Die »Nürnberger Gesetze«, S. 384−410. 53 Dazu die verstreuten Bemerkungen bei Bernward Dörner, Die Deutschen und der Holocaust. Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte, Berlin 2007, S. 162, 373 f. u. 380.
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Ostland und Ukraine beraten.54 In deren Entwurf war eine nach Staatsangehörigkeit differenzierende Behandlung der in den besetzten Ostgebieten ansässigen Juden vorgesehen, die sowohl auf den Widerspruch des Reichssicherheitshauptamtes als auch des Reichsministeriums des Innern stieß. Die Anwesenden einigten sich schließlich auf eine Verordnung, die nur aus einem einzigen Paragrafen bestand und nicht zwischen »Volljuden« und »Mischlingen ersten Grades« unterschied. Dieser verschärfte »Judenbegriff«, den Reischauer für die Partei-Kanzlei billigte, trat jedoch nie in Kraft, weil sich Alfred Rosenberg und Himmler nicht darüber einigen konnten, welche Besatzungsbehörde die formalen Entscheidungsbefugnisse in der »Judenfrage« besitzen sollte. Für die zweite Welle des Massenmordes an den Juden in der Sowjetunion, die im Sommer 1942 begann, war dies ohnehin gegenstandlos. Unterdessen debattierte die Ministerialbürokratie Stuckarts Vorschlag einer Zwangssterilisation, der sich, wie das Reichsministerium des Innern bei einer Sitzung im Reichssicherheitshauptamt am 6. März 1942 klarstellte, nur auf »Mischlinge ersten Grades« beziehen sollte. Der Vertreter der Partei-Kanzlei, Edinger Ancker, der Leiter des Amtes III A, äußerte laut Protokoll, dass »von höchster Stelle anlässlich der Erörterung von Mischlingsfragen in der Wehrmacht zum Ausdruck gebracht« worden sei, die »Mischlinge auf Juden und Deutsche aufzuteilen, und daß es keineswegs tragbar sei, die Mischlinge als dritte kleine Rasse auf Dauer am Leben zu erhalten«.55 Die Partei-Kanzlei favorisierte offenbar eine Einzelfallüberprüfung der »Mischlinge ersten Grades«, die entweder deren Deportation oder deren Zwangssterilisation nach sich ziehen würde. Die beiden konkurrierenden Pläne, Einzelfallprüfung oder generelle Zwangssterilisation, sollten, so lautete der Beschluss der Sitzung vom 6. März 1942, Hitler zur endgültigen Entscheidung unterbreitet werden. Unterdessen versuchte Bormann, Hitlers kompromisslose Haltung in Fragen der Behandlung von »Mischlingen« in der Wehrmacht dazu zu instrumentalisieren, 54 Aufzeichnung eines Referenten aus dem Ostministerium (30.1.1942), in: Akten Parteikanzlei, Teil I, Bd. 2, Fiches 801 00008−13, Regest 26141, Provenienz Centre de Documentation Juive Contemporaine Paris, Dienststelle Rosenberg CXXXIX−43, sowie Essner, Die »Nürnberger Gesetze«, S. 368−383. 55 Undatierte und ungezeichnete »Besprechungsniederschrift«, in: Akten der Parteikanzlei, Teil I, Bd. 2, Fiches 207 00272−80, Regest 26131, Provenienz Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Berlin (PA/AA), Inland IIg/177, hier Fiches 207 00278 f. (Zitat), um diese Äußerungen gekürzt gedruckt in: Pätzold/Schwarz, Tagesordnung, S. 116−119 (= Dok. 31). Ancker, am 22.2.1909 in Kiel geboren, studierte Rechts- und Staatswissenschaften an den Universitäten Hamburg, Wien und Berlin und trat bereits am 1.1.1931 in die NSDAP ein. Im Mai 1933 legte er die Erste Juristische Staatsprüfung am Kammergericht Berlin (»voll befriedigend«) ab und arbeitete als Gerichtsreferendar im Bezirk des Oberlandesgerichts Kiel. Im Dezember 1936 bestand Ancker die Große Staatsprüfung für den höheren Verwaltungsdienst. Zwischen Januar und Dezember 1939 war er Hilfsreferent im RMindI, von Juni 1940 bis Dezember 1941 Personalreferent beim Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete in Den Haag. Seit Januar 1942 war Ancker zur PK abgeordnet; siehe die Vorgänge in: IfZ ZS 812 (Edinger Ancker). Zur Frage der Zwangssterilisation jetzt erschöpfend Jasch, Stuckart, S. 316−372.
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dem Vorschlag der Partei-Kanzlei zum Durchbruch zu verhelfen.56 Am 27. Oktober 1942 fand eine letzte Besprechung über die »Endlösung der Judenfrage« im Reichssicherheitshauptamt statt, bei der sich die Anwesenden darauf einigten, »Mischlinge ersten Grades« vor die Wahl Deportation oder Sterilisation zu stellen.57 »Mischlinge zweiten Grades« sollten demgegenüber ausnahmslos als »deutschblütig« gelten. Beide Beschlüsse wurden nicht mehr in die Tat umgesetzt. Stattdessen wurden die so genannten Mischlinge seit 1943/44 zur Zwangsarbeit herangezogen. Die Beteiligung der Abteilung III der Partei-Kanzlei an der »Judenpolitik« in den Jahren 1941/42 vollzog sich vor dem Hintergrund einer Entwicklung, bei der das NS-Regime zum systematischen Massenmord an den europäischen Juden überging. Die Massenerschießungen der Einsatzgruppen und der Polizeibataillone in der besetzten Sowjetunion, die Ghettoisierung der sowjetischen Juden, die so genannte Partisanenbekämpfung und der Aufbau von Vernichtungslagern wie Auschwitz waren in der Partei-Kanzlei nun wahrlich kein Geheimnis. Ihre Mitarbeiter wussten, was mit den Juden geschah, sei es durch Referenten, die im »Osteinsatz« waren und davon berichteten,58 sei es durch Anweisungen, die Gerüchtebildung zum Judenmord in der Bevölkerung zu unterbinden.59 Unterdessen trieb die Abteilung III gemeinsam mit der Ministerialbürokratie die Diskriminierung der noch nicht deportierten Juden weiter voran, indem sie deren Lebensmittelrationen kürzten.60 Klopfer beteiligte sich an der Ausarbeitung der 13. Verordnung zum »Reichsbürgergesetz«, die Strafverfahren gegen Juden von den Gerichten auf die Polizei übertrug und das Vermögen von »verstorbenen Juden« für das Deutsche Reich beanspruchte.61 Zu diesem 56 Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, unveränd. Neuausg., Frankfurt am Main u.a. 1989 [ursprgl. erschienen: Stuttgart 1951], S. 397−400 (= Eintrag vom 1.7.1942, mittags), hier S. 400 (= Dok. 162). Zur Behandlung der »Mischlinge« seit 1941/42 grundlegend Beate Meyer, »Jüdische Mischlinge«. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933−1945, Hamburg 1999, hier S. 230−247. 57 Undatierte und ungezeichnete »Besprechungsniederschrift«, in: Akten der Parteikanzlei, Teil I, Bd. 2, Fiches 207 00263−67, Regest 26131, Provenienz PA/AA, Inland IIg/177, sowie Essner, Die »Nürnberger Gesetze«, S. 434−442. 58 Dazu das Beispiel bei Christian Gerlach, »Die Bedeutung der deutschen Ernährungspolitik für die Beschleunigung des Mordes an den Juden 1942. Das Generalgouvernement und die Westukraine«, in: ders., Krieg, S. 153−234, hier S. 213 ff. 59 PK: »Vertrauliche Informationen« 66/881 (9.10.1942), in: Verfügungen, Anordnungen, Bekanntgaben, herausgegeben von der Partei-Kanzlei der NSDAP, 7 Bde., München 1942−1945, hier Bd. II (1942), S. 131 f., gedruckt bei Peter Longerich (Hg.), Die Ermordung der europäischen Juden. Eine umfassende Dokumentation des Holocaust 1941−1945, München 1989, S. 433 f. (= Dok. 200), interpretiert bei Dörner, Die Deutschen, S. 320 f. 60 Siehe die Vorgänge in: Akten der Parteikanzlei, Teil I, Bd. 1, Fiches 101 07996−8003, Regest 15898, Provenienz BAB R 43 II/614. Vgl. dagegen Heckmann, NS-Täter, S. 45, der irrigerweise eine direkte Befassung Klopfers mit dieser Angelegenheit annimmt. 61 Dazu die Vorgänge in: Akten der Parteikanzlei, Teil I, Bd. 1, Fiches 101 26595−626, Regest 16019, Provenienz BAB R 43 II/1508a, sowie Heckmann, NS-Täter, S. 45 f.
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Zeitpunkt war Klopfers Karriere auf ihrem Höhepunkt angelangt. Am 22. November 1942 stieg er zum Staatssekretär der Partei-Kanzlei auf.62 Am 30. Januar 1943 erhielt Klopfer das Goldene Ehrenzeichen der NSDAP als zweihöchste Parteiauszeichnung nach dem so genannten Blutorden.63 Am 9. November 1944 erreichte er schließlich den Dienstrang eines SS-Obergruppenführers.
Klopfers individuelle Verantwortlichkeit Klopfer, dies dürfte unzweifelhaft sein, war als persönlicher Referent Bormanns und als späterer Leiter der Abteilung III der Dienststelle des Stellvertreters des Führers/ParteiKanzlei mehr und mehr ins administrative Zentrum des NS-Regimes eingerückt. Seine individuelle Karriere vollzog sich parallel zum institutionellen Aufstieg dieser Parteibehörde im NS-Verwaltungsapparat. Mit der Übernahme der Leitung der Abteilung III im Frühjahr 1941 und nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion avancierten Klopfer und seine Mitarbeiter zu wichtigen Protagonisten des eskalierenden Terrors. Ihre Funktion lag in erster Linie darin, die administrative Diskriminierung von Juden, »Fremdvölkischen« und anderen »objektiven Gegnern« des NS-Regimes zu forcieren. Dabei wurde das Reichssicherheitshauptamt zu ihrem wichtigsten Bündnispartner, wie es sich im April 1941 schließlich in der Bildung eines Verbindungsbüros zu dieser Dienststelle und dessen späterer Institutionalisierung als Amt III V in der Partei-Kanzlei manifestierte. Als ein integraler Bestandteil des NS-Terrors war die »Judenpolitik« ein arbeitsteiliger Prozess, an dem in der einen oder anderen Form alle Obersten Reichsbehörden mitwirkten. Dieser Sachverhalt spiegelte sich in der internen Sachbearbeitung in der Partei-Kanzlei wider, denn es gab wohl kaum ein Amt der Abteilung III, das nicht mit der »Judenpolitik« befasst gewesen war. Es nimmt also nicht weiter wunder, dass Klopfers persönliche Beteiligung an der »Endlösung der Judenfrage« in den Akten nur wenige Spuren hinterlassen hat.64 Dies war im Wesentlichen ein Effekt jener Art und Weise, wie eine moderne Verwaltungsbehörde wie die Partei-Kanzlei funktionierte. Sachfragen wurden durch spezialisierte Sachbearbeiter faktisch vorentschieden. Diese hielten Kontakt zu Referenten anderer Dienststellen, 62 Die Ernennungsurkunde findet sich in: Akten der Parteikanzlei, Teil I, Bd. 1, Fiche 101 17547, Regest 16337, Provenienz BAB R 43 II/1036. Dazu auch Heckmann, NS-Täter, S. 28 f., mit einem Foto Klopfers, das anlässlich seiner Ernennung aufgenommen wurde. 63 Bormann an Klopfer (5.3.1943), in: Akten der Parteikanzlei, Teil I, Bd. 2, Fiche 307 02609, Regest 27143, Provenienz BAB, ehemaliges BDC, Bestand Partei-Correspondance Klopfer, Gerhard. 64 Zweifelsohne resultiert dies auch aus umfänglichen Aktenverlusten, von denen die Abteilung III der PK in besonderem Maße betroffen ist. Josef Henke (Bearb.), Partei-Kanzlei der NSDAP. Bestand NS 6, Teil 1: Bestandsverzeichnis; Teil 2: Parteiverlautbarungen, Koblenz 1984−1991, hier Teil 1, S. IX−L, bes. S. XLI, schätzt, dass überhaupt nur fünf Prozent des ursprünglichen Aktenbestandes des Stabes Heß bzw. der PK erhalten geblieben sind. Überlieferungen über interne Arbeitsabläufe existieren kaum.
Zur Rolle von Gerhard Klopfer
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die von der Spitze nicht kontrolliert werden konnten. Klopfers Referenten bearbeiteten ihre Aufgaben relativ selbstständig, was ihnen inhaltliche Spielräume eröffnete. In vielerlei Hinsicht repräsentierte die Dienststelle des Stellvertreters des Führers/Partei-Kanzlei einen Behördentypus, der als deutsche Normalverwaltung zu bezeichnen ist.65 Ihre Arbeitsweise näherte sich derjenigen der traditionellen Ressorts an und diese übernahmen die Prinzipien der NSDAP, etwa den Antisemitismus. Beide Entwicklungen waren interdependent. Als Verwaltungsbehörde eher klassischen Zuschnitts ist die Partei-Kanzlei unter dem generellen soziologischen Typus einer formalen Organisation zu subsummieren.66 Hauptkennzeichen einer formalen Organisation ist es, dass sie Entscheidungen treffen muss, die an Fristen gebunden sind. Diese Entscheidungen werden gemeinhin Einzelpersonen an der Behördenspitze zugerechnet, obwohl sie in der Realität durch ein wesentlich komplexeres Verfahren generiert werden. Oft ist der eigentliche Entscheider dabei nicht über alle Umstände informiert, die seine Sachbearbeiter in ihre Vorlagen einfließen lassen, und schon gar nicht ist er an jenen Außenverhandlungen, die sie vorher geführt haben, beteiligt gewesen. Die inhaltliche Verantwortung für Entscheidungen liegt in modernen Verwaltungsbehörden deshalb im Wesentlichen auf den unteren Ebenen. Dies trifft auch auf die Abteilung III der Partei-Kanzlei zu. Dennoch kann keinerlei Zweifel daran bestehen, dass Klopfer für alle von seinen Referenten erarbeiteten Stellungnahmen in Gesetzesfragen und bei Beamtenernennungen verantwortlich war. In modernen Verwaltungsbehörden, zu denen auch die Partei-Kanzlei zu zählen ist, fallen hierarchische Befugnis und Verantwortlichkeit in eins, da die Rechenschaftspflicht für Fehler stets an der Spitze liegt. Klopfer war Bormann als Leiter der Partei-Kanzlei rechenschaftspflichtig. Klagen adressierte dieser eben immer an den Leiter der Abteilung III und nicht an dessen Sachbearbeiter.67 Klopfer war für die Mitwirkung der Partei-Kanzlei an der NS-»Judenpolitik«, insoweit sie auf dem Wege der Gesetzgebung erfolgte, der formal Verantwortliche. Seine Referenten hingegen trugen für die inhaltliche Ausgestaltung dieser Regelungen die Verantwortung. Weil Akten über interne Vorgänge in der Abteilung III der Partei-Kanzlei fast vollständig fehlen, sind Klopfer in der »Judenpolitik« aber kaum individuelle Initiativen nachzuweisen. Festzustellen ist jedoch, dass seine inhaltliche Position nicht von der des Reichssicherheitshauptamtes abwich. Klopfer war ein radikaler Antisemit, und als solcher billigte er alles, was mit den Juden geschah.
65 Dazu anhand eines anderen Beispiels Sven Jüngerkes, Deutsche Besatzungsverwaltung in Lettland 1941−1945. Eine Kommunikations- und Kulturgeschichte nationalsozialistischer Organisationen, Konstanz 2010. Ebenfalls wichtig die Beiträge in: Sven Reichardt/Wolfgang Seibel (Hg.), Der prekäre Staat. Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main u.a. 2011. 66 Zum Folgenden die Ausführungen bei Niklas Luhmann, Funktion und Folgen formaler Organisationen, 3. Aufl., Berlin 1976, S. 172−190. Zu Luhmanns Ansatz siehe Emil Walter-Busch, Organisationstheorien von Weber bis Weick, Amsterdam 1996, S. 212−217. 67 Zu Bormanns Führungsstil, allerdings ohne Berücksichtigung seines Verhältnisses zu Klopfer, siehe Longerich, Stellvertreter, S. 154−179.
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Zurück zu Kempner und seinen Mitarbeitern, die Klopfer im April und Mai 1947 verhörten. Sie wussten zu diesem Zeitpunkt bereits, dass die Partei-Kanzlei eine maßgebliche Rolle bei der so genannten Endlösung der Judenfrage gespielt hatte.68 Dennoch war außer Bormann, der als Hauptkriegsverbrecher galt, keiner ihrer Referenten von den Alliierten angeklagt worden. Die Mitarbeiter der Abteilung III der Partei-Kanzlei zählten weder zum Korps der Politischen Leiter, das in Nürnberg zur verbrecherischen Organisation erklärt worden war, noch fielen sie unter die Gruppe, die im Wilhelmstraßenprozess zur Rechenschaft gezogen wurde. Stattdessen traten sie dort, wie Klopfer, als Zeugen auf und stellten sich vor die Angeklagten! Jene selbst verordnete Amnesie, von der eingangs die Rede war, bot ihnen den notwendigen Schutz. Aufgrund der schlechten Quellenlage war Klopfer und anderen Verantwortlichen in der PK auch nichts weiter nachzuweisen. Mit der Leugnung individueller Verantwortlichkeit, die sein Verhalten nach dem Zweiten Weltkrieg kennzeichnete, stand Klopfer nicht allein. Sie stellte im Gegenteil geradezu ein Paradebeispiel für die allgemeine Tendenz der NS-Ministerialbürokratie dar, sich zum Opfer einer verbrecherischen Politik zu stilisieren, die sie doch in Wahrheit selbst exekutiert hatte. Diese Strategie erwies sich als sehr erfolgreich. Klopfer wurde im Nürnberger Spruchkammerverfahren vom 28. März 1949 in die Kategorie III »minderbelastet« eingestuft und übersiedelte daraufhin nach Ulm.69 Nachdem er diverse Hilfstätigkeiten ausgeübt hatte, wurde er am 29. Februar 1956 wieder als Rechtsanwalt zugelassen. Zudem überstand Klopfer ein Ermittlungsverfahren, das die Staatsanwaltschaft Ulm am 8. November 1960 wegen Beihilfe zum Mord gegen ihn anstrengt hatte und das Anfang 1962 mangels Beweisen eingestellt wurde. Danach praktizierte er noch fast zwanzig Jahre als Rechtsanwalt in Ulm. Am 29. Januar 1987 verstarb Klopfer »nach einem erfüllten Leben zum Wohle aller, die in seinem Einflußbereich waren«, wie es in der Todesanzeige der Familie hieß.70 Die Lügen des deutschen Bürgertums, die sich nach dem 8. und 9. Mai 1945 allenthalben Bahn brachen, wurden darin bruchlos tradiert. Im bürgerlichen Familiengedächtnis haben Leute wie Klopfer heute noch, 70 Jahre nach der Wannsee-Konferenz, angeblich nur Schlimmeres verhüten wollen.
68 »Vernehmung des Justus BEYER vom 22. Mai 1947 von 14 Uhr bis 15 Uhr 20 durch Hr. Beauvais. Frl. Bergman, Stenografin« [nicht unterschriebener Durchschlag], in: IfZ ZS 1013 (Justus Beyer), fol. 00022−00030, hier fol. 00027. Zu Beyer Wildt, Generation, S. 669. 69 Zum Folgenden Heckmann, NS-Täter, S. 53−85. 70 Faksimile der Todesanzeige, die überregionales Aufsehen erregte, findet sich ebenda, S. 13.
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Otto Hofmann und das Rasse- und Siedlungshauptamt Die »Lösung der Judenfrage« als Element der rassenpolitischen Neuordnung Europas
SS-Gruppenführer Otto Hofmann, Chef des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS (RuSHA) und Teilnehmer der Wannsee-Konferenz, hatte eine klare Vorstellung vom Zusammenhang zwischen Judenmord und nationalsozialistischer Germanisierungs- und Umsiedlungspolitik im besetzten Europa. So erklärte er im September 1942 vor SS-Landwirten in der Ukraine, es seien »zuerst polnische Gebiete erschlossen und durch die Rückgliederung der volksdeutschen Gruppen im Ausland besiedelt worden. Die klare Erkenntnis der Schuld des Judentums und der Einfluß der letzteren im Generalgouvernement führte dazu, diesen vollkommen auszuschalten«. Mittlerweile stünden bereits »russische Gebiete« für eine deutsche Besiedlung und die Ernährung von Wehrmacht und Heimat zur Verfügung – selbstverständlich ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung und nach vorheriger Ermordung der jüdischen Bewohner.1 Man wird weder die Genese der »Endlösung« sowie die Durchführung des Massenmords an den europäischen Juden, noch die Zielsetzung der Wannsee-Konferenz und die Zusammensetzung ihrer Teilnehmer wirklich verstehen können, ohne sich klar zu machen, dass der Judenmord und die angestrebte rassenpolitische Neuordnung Europas ursächlich und argumentativ aufs Engste verklammert waren. Alle entsprechenden Pläne und Zwangsmaßnahmen beruhten auf der Grundlage eines aggressiven Rassismus, dessen radikalste Spielart ein biologischer Antisemitismus war. Möglich wurde deren Umsetzung jedoch erst unter den Bedingungen eines verbrecherischen Krieges. Ziel des Beitrags ist es erstens, am Beispiel der Initiativen des Rasse- und Siedlungshauptamtes zur »Endlösung der Judenmischlingsfrage« im Umfeld der Wannsee-Konferenz genau diesen Zusammenhang von Judenverfolgung, Judenmord und Germanisierungspolitik zu erklären. Zweitens soll untersucht werden, warum Otto Hofmanns Teilnahme an der Wannsee-Konferenz und die Mitverantwortung des von ihm geleiteten SS-Hauptamtes für die Ermordung der europäischen Juden nicht zu einer aus heutiger Sicht befriedigenden rechtlichen Ahndung führten. Vier kurze Abschnitte analysieren ers1 Otto Hofmann vor den SS-Bauern des SS-Bauernheimes Kriwin am 20.9.1942. Bericht über die »Besichtigungsfahrt nach der Ukraine (Rußland-Süd)«, SS-HStuf. Dörhöfer. BA NS 2/82. Bl. 224.
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tens den Kontext der NS-Germanisierungspolitik, zweitens die Kompetenzen des RuSHA bis 1941, drittens seine Initiativen zur Lösung der »Mischlingsfrage« 1942/43 und viertens die Strafverfolgung Otto Hofmanns nach 1945.
Der Judenmord als Grundlage der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik Als SS-Sturmbannführer Rolf-Heinz Höppner am 16. Juli 1941 an Adolf Eichmann mit der Frage herantrat, ob es nicht »die humanste Lösung [sei], die Juden, soweit sie nicht arbeitseinsatzfähig sind, durch irgendein schnellwirkendes Mittel zu erledigen« anstatt sie im nächsten Winter verhungern zu lassen, artikulierte er damit das auf lokaler Ebene zu diesem Zeitpunkt bereits vorhandene Einverständnis zum Massenmord.2 Höppners Vermerk trug den Betreff »Lösung der Judenfrage im Warthegau« und fasste den Diskussionsstand in der Dienstelle des Reichsstatthalters zusammen: Das Ghetto in Litzmannstadt und die anderen Ghettos des Warthegaus sollten aufgelöst und die Juden in ein einziges, neu zu errichtendes Konzentrationslager deportiert werden. Die Arbeitsfähigen sollten als Zwangsarbeiter ausgebeutet und alle anderen umgebracht werden. Die arbeitsfähigen Frauen seien darüber hinaus zu sterilisieren, »damit mit dieser Generation tatsächlich das Judenproblem restlos gelöst wird«. Wichtig an diesem Vermerk ist zunächst die Tatsache, dass hier die massenhafte Vernichtung von Menschen bereits vorgedacht und eine »Gesamtlösung« für den Warthegau angestrebt wurde. Aufschlussreich ist ferner der Zeitpunkt: Noch vor der Beauftragung Heydrichs mit den Vorbereitungen zur »Gesamtlösung der Judenfrage« am 31.7.1941 und der Wannsee-Konferenz planten hier lokale Stellen – in diesem Fall die Verwaltungsbeamten des Reichsstatthalters im Verein mit der SS – Maßnahmen zur Beseitigung der »untragbaren Zustände« in ihrem Bereich durch Ermordung der nicht arbeitsfähigen Juden – unter Verweis auf die kritische Ernährungslage.3 Gleichzeitig reagierte Höppner damit aber auch auf Schwierigkeiten in der von 2 Gedruckt bei Peter, Longerich (Hg.), Die Ermordung der europäischen Juden. Eine umfassende Dokumentation des Holocaust 1941–1945, München u.a. 1989, S. 74–75. Dazu vgl. auch Götz Aly, »Endlösung«. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt am Main 1995, S. 327–329 und Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 613 f. 3 Schreiben Hermann Görings an den Chef der Sipo und des SD, SS-Gruppenführer Heydrich, 31.7.1941, United States Holocaust Memorial Museum, Center of Advanced Holocaust Studies (USHMM) RG 48.005, abgedruckt bei Peter Klein (Hg.), Die Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942. Analyse und Dokumentation, Berlin 1995, S.28. Vgl. auch den Erlass Görings zur »Einrichtung einer Reichszentrale für die jüdische Auswanderung an den Reichsminister des Inneren vom 24.1.1939, abgedruckt ebenda, S. 25. Zu Reinhard Heydrich vgl. die Biographie von Robert Gerwarth, Reinhard Heydrich. Biographie, München 2011. Zu den Details im Höppner-Vermerk und den Auswirkungen auf Heydrichs Vorgehen siehe Peter Klein, Die »Gettoverwaltung Litzmann-
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Himmler verordneten »Germanisierung« der eroberten Gebiete.4 Höppner war Leiter der Umwandererzentralstelle der Sicherheitspolizei und des SD (UWZ) in Posen und damit zuständig für die Aussiedlung der Polen und Juden im Warthegau. Sein Zuständigkeitsbereich wiederum sollte zum nationalsozialistischen Mustergau werden, in welchem die Eindeutschung durch die Ansiedlung von Volks- und Reichsdeutschen in beispielhafter Weise verwirklicht werden sollte. Hierfür essentiell war die Vertreibung der Unerwünschten, zu allererst der Juden und eines relevanten Teils der polnischen Bevölkerung. Der mörderische Konsens innerhalb der Zivilverwaltung und Höppners Befürwortung zeigten Wirkung. Nachdem im Dezember 1941 zunächst Zigeuner und Juden aus dem Ghetto in Litzmannstadt im Vernichtungslager Chełmno getötet worden waren, wurden dort zwischen Januar und Mai 1942 über 55.000 Juden durch Motorenabgase ermordet.5 Gleichzeitig erwiesen sich schon früh auch im Warthegau die Aporien der »Germanisierungspolitik«: Entgegen aller Anstrengung zur Aussiedlung von Juden und Polen blieben die Ansiedlungszahlen der Volksdeutschen doch generell weit hinter den erhofften Größenordnungen zurück und das Gros der potentiellen volksdeutschen Siedler musste während des Krieges in Umsiedlerlagern ausharren.6 Den Zusammenhang zwischen Judenmord, Vertreibung und Germanisierung der von Deutschland eroberten Gebiete – auf den in den letzten Jahren insbesondere Götz Aly, Michael Wildt und Peter Longerich hingewiesen haben – hatte Adolf Hitler bereits in seiner Reichstagsrede vom 6.10.1939 hergestellt, als er eine umfangreiche ethnische Neuordnung ankündigte. Die sich aus dem Sieg über Polen ergebende Aufgabe sei nun, so Hitler:
stadt« 1940–1944. Eine Dienststelle im Spannungsfeld von Kommunalbürokratie und staatlicher Verfolgungspolitik, Hamburg 2009, S. 336–352. Donald Bloxham hat kürzlich vorgeschlagen, auch die Wannsee-Konferenz als Versuch Heydrichs zu lesen, die diversen regionalen und subjektiven Interessen der Teilnehmer am Judenmord zu koordinieren. Donald Bloxham, The Final Solution. A Genocide, Oxford u.a 2009. S. 224–230. 4 Zur »Germanisierungs«- und Umsiedlungspolitik der SS vgl. Isabel Heinemann, »Rasse, Siedlung, deutsches Blut«. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003. Zur UWZ vgl. Philipp T. Rutherford, Prelude to the Final Solution. The Nazi Program for Deporting Ethnic Poles, 1939–1941, Lawrence 2007. Zur EWZ vgl. neuerdings Andreas Strippel, NS-Volkstumspolitik und die Neuordnung Europas. Rassenpolitische Selektion der Einwandererzentralstelle des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD (1939–1945), Paderborn 2011; Markus Leniger, Nationalsozialistische »Volkstumsarbeit« und Umsiedlungspolitik 1933– 1945. Von der Minderheitenbetreuung zur Siedlerauslese, Berlin 2006. 5 Zum Judenmord im Warthegau vgl. Michael Alberti, Die Verfolgung und Vernichtung der Juden im Reichsgau Wartheland 1939–1945, Wiesbaden 2006. 6 Aly, Endlösung. S. 163–203, 317–324. Vgl. auch den Bericht des SS-Führers im Rasse- und Siedlungswesen bei der EWZ in Litzmannstadt, SS-Obersturmführer Otto Dietrich, an den Chef des RuSHA über die Schwierigkeiten bei der Ansiedlung der Wolhyniendeutschen vom 23.2.1940. BA NS 2/61; Bericht des RuSHA-Chef Günther Pancke an den RFSS über die Probleme bei der Ansetzung der Wolhyniendeutschen im Warthegau vom 3.7.1940, BA NS 2/56, Bl. 119–125.
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»1. Die Schaffung einer Reichsgrenze, die […] den historischen, ethnographischen und wirtschaftlichen Bedingungen entspricht, 2. die Ordnung des gesamten Lebensraumes nach Nationalitäten, 3. in diesem Zusammenhang der Versuch einer Ordnung und Regelung des jüdischen Problems, […]«.7 Die Zuständigkeit hierfür erhielt SS-Chef Heinrich Himmler, der sich dieser Aufgabe als »Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums« – kurz RKF – annahm.8 Zur Umsetzung dieses Auftrags erstellten von Himmler berufene Umsiedlungsexperten unter dem Berliner Agrarwissenschaftler Konrad Meyer eine sich stetig radikalisierende Abfolge von Neuordnungsplänen – erst für das besetzte Polen, dann für Osteuropa und schließlich Gesamteuropa unter deutscher Herrschaft.9 Diese Planungen hatten neben ihrer menschenverachtenden Gigantomanie – kalkulierten sie doch mit Millionen Opfern unter der Zivilbevölkerung – und den extrem kurzen Planungszeiträumen von 25 respektive 20 Jahren zwei gemeinsame, entscheidende Merkmale: Sie basierten erstens auf der Annahme, dass die jüdische Bevölkerung aus den beplanten Gebieten restlos entfernt sei.10 7 URL: http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_n4_bsb00000613_00052.html. Vgl. auch den Kommentar der Rede von Michael Wildt, »Eine neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse«. Hitlers Reichstagsrede vom 6. Oktober 1939, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 3 (2006), H. 1, URL: http://www.zeithistorische-forschungen. de/16126041-Wildt-1-2006. 8 Zum RKF existiert bislang nur die auf den Akten des 8. Nürnberger Nachfolgeprozesses basierende Arbeit von Robert L. Koehl, RKFDV. German Settlement and Population Policy. A History of the Reich Commission for the Strengthening of Germandom, Cambridge, Mass. 1957. In Peter Longerichs Himmler-Biographie wird Himmlers Verantwortung für die »völkische Neuordnung« der besetzten Gebiete schwerpunktmäßig in zwei Kapiteln behandelt. Peter Longerich, Heinrich Himmler. Biographie, München 2008, S. 453–484, 595–620. Die Berner Historikerin Alexa Stiller arbeitet derzeit an einer Studie zum RKF. Alexa Stiller, »Gewalt und Alltag der Volkstumspolitik: Der Apparat des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums und andere gesellschaftliche Akteure der veralltäglichten Gewalt«, in: Jochen Böhler/Stephan Lehnstaedt (Hg.), Gewalt und Alltag im besetzten Polen 1939–1945, Osnabrück 2012, S. 45–66. 9 Isabel Heinemann, »Wissenschaft und Homogenisierungsplanungen für Osteuropa: Konrad Meyer, der ›Generalplan Ost‹ und die DFG«, in: Patrick Wagner/Isabel Heinemann (Hg.), Wissenschaft, Planung, Vertreibung: Neuordnungskonzepte und Umsiedlungspolitik im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006, S. 45–72; Mechthild Rössler/Sabine Schleiermacher, Der »Generalplan Ost«. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik, Berlin 1993; Czesław Madajczyk, (Hg.), Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan, München u.a. 1994. 10 Lediglich die erste Denkschrift des RKF vom Jahresbeginn 1940, die eine »Eindeutschung« der annektierten westpolnischen Gebiete vorsah, erwähnte die bevorstehende Vertreibung der Juden noch explizit – wobei es zu diesem Zeitpunkt tatsächlich noch um »Aussiedlung« und nicht um Massenmord ging: »Es wird im folgenden vorausgesetzt, dass die gesamte jüdische Bevölkerung dieses Gebietes von rund 560.000 bereits evakuiert ist bzw. noch im Laufe dieses Winters das Gebiet verläßt.« Die folgenden, stets weiter ausgreifenden Planungen erwähnten das den Juden (Ost)Europas
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Zweitens fußten alle Umsiedlungspläne auf den Ergebnissen ausgedehnter rassenanthropologischer Musterungen: Nur wer »guten Blutes« war, sollte in einem Europa unter deutscher Führung seinen Platz haben dürfen.11 Den Rassenwert von Menschen mit nichtdeutscher oder gemischt-nationaler Herkunft zu ermitteln war Aufgabe der Rasseexperten aus dem Rasse- und Siedlungshauptamt der SS, der Institution, welcher Otto Hofmann im Januar 1942 vorstand.
Rassenselektion, Umsiedlung und Judenmord bis 1941 Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS, welches Otto Hofmann am Großen Wannsee vertrat, war eine Schlüsselinstitution der nationalsozialistischen Volkstumspolitik.12 Seine Mitarbeiter, die sich selbst als »SS-Rasseexperten« bezeichneten, erhoben im Einverständnis mit dem RKF Heinrich Himmler den »Rassewert« von Menschen zur Grundlage der ethnischen Neuordnung der besetzten Gebiete. Während des Zweiten Weltkrieges waren die SS-Rasseexperten zuständig für die rassenanthropologische Erfassung von insgesamt mehreren Millionen Menschen (SS-Angehörige und deren Ehefrauen, Volksdeutsche, Nichtdeutsche). Sie spielten eine entscheidende Rolle bei den gewaltsamen Umsiedlungen im besetzten Europa und trugen zur Ingangsetzung des Massenmordes an den europäischen Juden bei. So entschieden sie in den annektierten polnischen Gebieten als Leiter von SS-Ansiedlungs- und SS-Arbeitsstäben über die Vertreibung unerwünschter Polen, deren Betriebe »Volksdeutsche« erhalten sollten und kontrollierten die Durchführung der »Aussiedlung« vor Ort. Zugleich wählten SS-Eignungsprüfer die »rassisch Hochwertigen« aus der Masse der Vertriebenen zur »Wiedereindeutschung« aus. In den besetzten Regionen Europas unterhielt das Rasse- und Siedlungshauptamt Außenstellen, so in Litzmannzugedachte Schicksal jedoch mit keinem Wort mehr. »Der RFSS, RKF, Planungshauptabteilung: Planungsgrundlagen für den Aufbau der Ostgebiete«, abgedruckt in Rolf-Dieter Müller, Hitlers Ostkrieg und die deutsche Siedlungspolitik. Die Zusammenarbeit von Wehrmacht, Wirtschaft und SS, Frankfurt am Main 1991, S. 130–138. Vgl. Madajczyk, Generalplan Ost, S. 3–14; Karl-Heinz Roth, »›Generalplan Ost‹ – ›Gesamtplan Ost‹. Forschungsstand, Quellenprobleme, neue Ergebnisse«, in: Mechthild Rössler/Sabine Schleiermacher (Hg.), Der »Generalplan Ost«, S. 25–117. Roth und Müller datieren die Schrift auf Januar beziehungsweise Februar 1940, was mir angesichts der Argumentation des Planes selbst zutreffender erscheint. Madajczyk hingegen geht davon aus, dass der Plan im April oder Mai 1940 entstand. 11 Die Denkfigur von rassisch ausgelesenen deutschen (und wenigen nichtdeutschen) Menschen als Träger »guten Blutes« ist zentral im Denken Heinrich Himmlers. Hierfür vgl. u.a. seine Rede vor den SS-Gruppenführern in Posen am 4.10.1943. 1919-PS, in: International Military Tribunal (IMT), Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Nürnberg 14. November 1945–1. Oktober 1946 (IMT), Bd. 29, Nürnberg 1948, S. 110–173. Vgl. auch seine Reden am 16.9.1942 in seinem Feldhauptquartier »Hegewald«, am 14.10.1943 in Bad Schachen und am 24.10.1943 in Posen. 12 Hierzu vgl. ausführlich Heinemann, Rasse.
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stadt, Prag und Slowenien, desgleichen bestanden eigene Dienststellen bei den Organen der Sicherheitspolizei, welche die Ansiedlung der Volksdeutschen koordinierten (Einwandererzentralstelle, EWZ) und die Vertreibung der Unerwünschten, insbesondere von Polen und Juden, durchführten (Umwandererzentralstelle, UWZ). Schließlich verfügte das Rasse- und Siedlungshauptamt über SS-Führer im Rasse- und Siedlungswesen, die bei den Höheren SS- und Polizeiführern (HSSPF) im Reich und den besetzten Gebieten für die regionale Umsetzung der Rassen- und Siedlungspolitik sorgten. Während des Krieges überprüften etwa 500 Rasseexperten der SS in mobilen Kommissionen und Außenstellen den vermeintlichen »Rassewert« von Zivilisten in einem eigens entwickelten Ausleseverfahren. Nach dem Beispiel der Rassemusterung der SS-Kandidaten wurden auf einer sogenannten Rassenkarte insgesamt 21 anthropologische Merkmale erhoben, zu einer »Rassenformel« verdichtet und mit moderner Hollerith-Technologie verwaltet.13 Vier Rassengruppen (RuS I bis RuS IV) bezeichneten den »rassischen Wert« der Menschen. Nur die kleine Minderheit der als »rassisch hochwertig« Eingestuften sollte helfen, die besetzten und annektierten Regionen »dauerhaft dem Deutschtum zu sichern«. Alle anderen waren, abhängig von ihrer »rassischen Eignung«, zur »Wiedereindeutschung«, zur Ausbeutung als Arbeitskräfte oder zur Ermordung vorgesehen. Die europäischen Juden gehörten ausnahmslos zur letzten Gruppe. Gegen Ende des Krieges verschärften die Rasseexperten den Druck auf sogenannte Judenmischlinge, um sie ebenfalls aus der deutschen Volksgemeinschaft auszuschließen. Zugleich intensivierten sie die von Himmler verordnete »Jagd auf gutes Blut«: Sie raubten »gutrassige« Kinder aus den besetzten Gebieten Osteuropas zur zwangsweisen »Eindeutschung« und entschieden durch Rassegutachten über Leben und Tod ausländischer Zwangsarbeiter, die sich des »verbotenen Geschlechtsverkehrs« mit Deutschen schuldig gemacht hatten. SS-Gruppenführer Otto Hofmann gehörte der Gründergeneration dieses Amtes und allgemein des NS-Staates an. Geboren 1896 in Innsbruck hatte er sich 1914 in München als Kriegsfreiwilliger gemeldet und zunächst beim 8. Bayerischen Reserve-FeldartillerieRegiment gedient, dann als Verbindungsoffizier in einer österreichischen Fliegerkompanie. Durch einen Flugzeugabschuss geriet er 1917 in russische Kriegsgefangenschaft, konnte jedoch nach einigen Wochen fliehen. Im März 1919 wurde Hofmann im Rahmen der Demobilmachung aus dem Heeresdienst entlassen, er setzte den Kampf jedoch bis Jahresende im Freikorps »Batterie von Axthelm« fort. Nach einer glücklosen Karriere als Weinhändler trat er 1931 in die SS ein (seit 1939 hauptamtlich), der NSDAP gehörte er seit 1929 an. Seit 1937 im Rasse- und Siedlungshauptamt leitete er zunächst das für Abstammungsnachweise der SS-Angehörigen und SS-Sippenpflege zuständige Sippenamt und organisierte 1939 als Chef des Rassenamtes die rassischen Musterungen im besetzten Polen. Ab 1940 war er Chef des Rasse- und Siedlungshauptamtes und sorgte ganz entscheidend für dessen Aufgabenentfaltung im Krieg. Himmler, mit dem Hofmann sich im Mai 1943 überwarf, entband ihn schließlich von seinen Aufgaben als RuSHA-Chef und 13 Ein Muster einer solchen Rassenkarte findet sich in: BA NS 2/152. Bl. 108.
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setzte ihn als Höheren SS- und Polizeiführer Südwest ein, um ihm die Chance zur »praktischen Bewährung« zu geben.14 Otto Hofmann selbst war ein überzeugter Antisemit und Rassist, der im Laufe seiner sechsjährigen Tätigkeit im Rasse- und Siedlungshauptamt (davon vier Jahre als Chef ) das Hauptamt ganz entscheidend prägte, insbesondere was seine Tätigkeit in den besetzten Gebieten anging. Seine Mitarbeiter lieferten nicht nur die scheinbar wissenschaftliche Legitimation der »Germanisierungspolitik«, sondern trugen aktiv zur Ingangsetzung und Durchführung von Umsiedlung, Deportation und Massenmord bei. Sie entwickelten eine auf Auslese und Ausmerze gegründete Rassenideologie und unterteilten die Bevölkerung der besetzten Gebiete durch ihre Rassenselektionen in verschiedene Gruppen, was die Umsetzung von Zwangsmaßnahmen wesentlich erleichterte. Diese spezifischen Kompetenzen des RuSHA und seiner Mitarbeiter auf dem Gebiet der Rassenpolitik und der rassischen Musterung dürften – neben der Tatsache, dass Hofmann ein zentral mit der nationalsozialistischen Umsiedlungspolitik befasstes SS-Hauptamt führte und damit die Seite der SS auf der Konferenz stärkte – ausschlaggebend für seine Einladung zur Wannsee-Konferenz gewesen sein.15 Hofmann hatte bereits Heydrichs erste Einladung vom 29.11.1942 erhalten und angenommen, als ihn nach dem Kriegseintritt der USA und der Verschiebung der Konferenz die revidierte Einladung erreichte.16
Die Wannsee-Konferenz und die Initiativen zur »Endlösung der Judenmischlingsfrage« 1942–1943 Wichtiger Bestandteil einer angestrebten »Gesamtlösung der Judenfrage« war für Otto Hofmann und das Rasse- und Siedlungshauptamt auch die sogenannte Endlösung der 14 Lebenslauf Otto Hofmann, undat., Personalnachweis; Briefentwurf Himmlers an Otto Hofmann vom 12.3.1943, Niederschrift Himmlers über eine Besprechung mit Otto Hofmann, 13.3.1943. Alle Angaben aus der Personalakte Hofmanns im Berlin Document Center (BDC) im Bundesarchiv Berlin. 15 Außer dem einladenden RSHA und dem RuSHA hätte mit dem Stabshauptamt RKF ein weiteres SS-Hauptamt vertreten sein sollen, dessen Chef, SS-Gruppenführer Ulrich Greifelt, sagte jedoch ab. 16 Erste Einladung Heydrichs an Hofmann vom 29.11.1941, Antwortschreiben Hofmanns vom 4.12.1941, Zweite Einladung Heydrichs an Hofmann vom 8.1.1942. Alle abgedruckt bei Klein, Wannsee-Konferenz, S. 33–35, 39. Absage Heydrichs an Hofmann »in Anbetracht besonderer plötzlich bekanntgegebener Ereignisse am 9. und 10. Dezember« vom 9.12.1941, BA NS 2/68, Bl. 2. Christian Gerlach deutet die Erklärung Hitlers vom 12.12.1941, der Kriegseintritt der USA werde die »Vernichtung des Judentums« zur Folge haben, als offizielle Entscheidung zum Judenmord, welche dann auf der Wannsee-Konferenz kommuniziert worden sei. Christian Gerlach, »Die WannseeKonferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers politische Grundsatzentscheidung, alle Juden Europas zu ermorden«, in: WerkstattGeschichte 18 (1997), S. 7–44. Eine gegenläufige Einschätzung u.a. bei Peter Longerich, Der ungeschriebene Befehl. Hitler und der Weg zur »Endlösung«, München u.a. 2001.
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Judenmischlingsfrage auf Reichsgebiet.17 Vom Standpunkt der SS-Rasseexperten aus stellten die jüdischen Mischlinge eine besondere »blutliche Gefahr« für das deutsche Volk dar, bestand doch die Gefahr ihres dauerhaften »Aufgehens im deutschen Volkskörper«.18 Auf der Wannsee-Konferenz forderte Otto Hofmann folglich für die Mischlinge ersten Grades, »daß von der Sterilisierung weitgehend Gebrauch gemacht werden muß; zumal der Mischling, vor die Wahl gestellt, ob er evakuiert oder sterilisiert werden soll, sich lieber der Sterilisation unterziehen würde«.19 Mit diesem Vorschlag signalisierte Otto Hofmann erstens, dass ihm bewusst war, dass eine »Evakuierung« der »Mischlinge ersten Grades« aus dem deutschen Reich ihre Ermordung bedeutet hätte. Dieser Satz nimmt im gesamten Protokoll folglich eine Schlüsselstellung ein, das erkannten auch später die Richter im Prozess gegen die Angehörigen des Auswärtigen Amtes, dem sogenannten WilhelmstraßenProzess.20 Zweitens setzte sich Hofmann deutlich von der Vorlage Reinhard Heydrichs ab, hatte dieser doch angeregt, die »jüdischen Mischlinge« ersten und zweiten Grades prinzipiell nach den Richtlinien der Nürnberger Gesetze zu behandeln. Ein solches Verfahren hätte bedeutet, die »Mischlinge ersten Grades« grundsätzlich den Juden gleichzustellen und sie in die Deportationen, d.h. in den Mordplan, einzubeziehen. Für mögliche Ausnahmen (besondere Verdienste, Mischehen) war eine »freiwillige Sterilisierung« als »Voraussetzung des Verbleibens im Reich« vorgesehen, »um jede Nachkommenschaft zu verhindern und das Mischlingsproblem endgültig zu beseitigen«.21 Die »Mischlinge zweiten Grades« sollten, so Heydrich, hingegen als Deutsche gelten, ebenfalls mit einigen Ausnahmen (wie ein rassisch besonders ungünstiges Erscheinungsbild oder eine schlechte polizeiliche Beurteilung). Möglichst umfassende Sterilisierungen hatten dagegen vom Standpunkt Otto Hofmanns und seiner Rasseexperten den Vorteil, dass es weniger aufwendig erschien, die Menschen zu sterilisieren als sie zu deportieren. Zum anderen waren Sterilisierungen auch unter dem Gesichtspunkt der »Rassenhygiene« hinreichend. Es ging den Rasseexperten darum, alle »biologisch gefährlichen Elemente« von der Fortpflanzung auszuschließen, um 17 Zu diesem Abschnitt vgl. die Ausführungen in Heinemann, Rasse, S. 544–558. 18 Nach der Volkszählung vom 17.5.1939 lebten 71.126 »Mischlinge ersten Grades« und 41.456 »Mischlinge zweiten Grades« im Deutschen Reich, ihre Zahl war damit vergleichsweise gering. Statistik des Deutschen Reiches, Band 552, Die Bevölkerung des Deutschen Reiches nach den Ergebnissen der Volkszählung von 1939, Heft 4: Die Juden und jüdischen Mischlinge im Deutschen Reich, Berlin 1944, zit. nach Beate Meyer, »Jüdische Mischlinge«. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933–1945, Hamburg 1999, S. 162. 19 Protokoll der Besprechung vgl. Dok. 4.7 in diesem Band. 20 Urteil im Fall XI der Nürnberger Nachfolgeprozesse. Bundesarchiv Koblenz (BAK) All. Proz. 1, LVI Z/2, S. 515, zitiert bei Mark Roseman, der ebenfalls das Hofmann-Zitat zu den geplanten Sterilisationen als Indiz für das Einverständnis unter den Konferenzteilnehmern interpretiert, dass auch im Fall der »Mischlinge«, »Deportation« mit »Ermordung« gleichzusetzen war. Mark Roseman, Die Wannsee-Konferenz. Wie die NS-Bürokratie den Holocaust organisierte, München u.a. 2002. S. 106. 21 Protokoll der Besprechung vgl. Dok. 4.7 in diesem Band.
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so der Gefahr einer »rassischen Zersetzung« zu begegnen – und dies war durch Sterilisation ebenso erreichbar wie durch Vernichtung.22 Problematisch erschien den Rasseexperten der SS dagegen die Gleichstellung von Mischlingen zweiten Grades mit Deutschen, da hier die Gefahr bestand, »unerwünschten Blutzuwachs« aufzunehmen. Auf den sogenannten Folgekonferenzen im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) vom 6.3.1942 und 24.10.1942, die sich speziell den »Mischlingen« widmeten, plädierten sie erstens für eine flexible Handhabe der Sterilisations- und Deportationspolitik gegenüber »Mischlingen ersten Grades«. So sollte eine Mehrheit deportiert und eine kleinere Anzahl als »Gegenleistung für ihre gnadenweise Belassung im Reich« sterilisiert werden. Dieser Vorschlag zog den vehementen Widerstand Wilhelm Stuckarts aus dem Reichsministerium des Innern (RMI) nach sich, der pauschale Zwangsterilisationen favorisierte.23 Zweitens traten die Rasseexperten der SS im Verein mit dem RSHA und der Partei-Kanzlei für rassenanthropologische Musterungen der Mischlinge zweiten Grades ein.24 Diese Überlegungen wurden begründet in einem Gutachten »zur rassebiologischen Beurteilung der ›jüdischen Mischlinge‹ II. Grades«, welches der Chef des Rassenamtes im RuSHA, Bruno Kurt Schultz, Anfang 1943 verfasste. Hierin mühte er sich nachzuweisen, dass »Mischlinge zweiten Grades« »mehr jüdische Erbanlagen« besitzen könnten, »als es zunächst nach der einfachen Teilung ½, ¼ usw. den Anschein hat«. Deswegen schlug Schultz vor, »die jüdischen Mischlinge II. Grades nicht [wie vom RSHA angestrebt, I.H.] ausnahmslos den Deutschblütigen zuzuschlagen, sondern dieselben einer rassischen Sichtung zu unterziehen«. Jene »Mischlinge zweiten Grades«, »bei denen die jüdischen Rassemerkmale im äußeren Erscheinungsbild deutlich her-
22 Dieser Standpunkt stellte eine Mäßigung gegenüber der noch während der Vorbereitung der Nürnberger Gesetze vom RuSHA erhobenen Forderung, auch die »Mischlinge zweiten Grades« ebenfalls als Juden einzustufen, dar. Zur Genese der Nürnberger Gesetze vgl. Cornelia Essner, Die »Nürnberger Gesetze« oder die Verwaltung des Rassenwahns 1933–1945, Paderborn 2002. Zur Position des RuSHA vgl. Heinemann, Rasse, S. 77–87. 23 Für das RuSHA nahmen zwei SS-Führer aus dem Rassenamt teil, SS-Hauptsturmführer Preusch und SS-Obersturmführer Hans Georg Grohmann. Besprechungsniederschrift über die am 6.3.1942 im RSHA, Referat IV B 4, stattgefundene Besprechung über die Endlösung der Judenfrage. Robert M.W. Kempner, Eichmann und Komplizen, Zürich u.a. 1961, unpag.; Schreiben Stuckarts an Freisler, Klopfer, Neumann, Luther, Meyer, Heydrich und Hofmann vom 16.3.1942, Dok. Nr. NG2586-I. Zu den auch nach der Wannsee-Konferenz fortgesetzten Diskussionen um »Mischlinge« vgl. Gisela Bock, Zwangssterilisationen im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986, S. 359–360; Meyer, »Jüdische Mischlinge«, S. 96–104. Jeremy Noakes, »The Development of Nazi Policy towards the German-Jewish ›Mischlinge‹ 1933–1945«, in: Leo Baeck Institute Yearbook 34 (1989), S. 291–354, dort S. 340–343. 24 Das RuSHA wurde erneut von zwei Führern aus dem Rasseamt vertreten, dem Amtschef SS-Obersturmführer Georg Harders und erneut SS-Hauptsturmführer Preusch. Zusammenfassung der Konferenz vom 27.10.1942, Dok. Nr. NG-2586-M. Sitzungsprotokoll mit einem Schreiben des Referats IV B 4, geh. Rs., an den Gesandschaftsrat Dr. Klingenfuß im AA vom 3.11.1942 abgedruckt bei Kempner, Eichmann, unpag.
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vortreten«, wären demnach als Juden zu behandeln.25 Otto Hofmann legte das Gutachten im März 1943 dem Reichsführer SS vor, der es grundsätzlich billigte und es an Reichsleiter Martin Bormann weitergab.26 Es war typisch für das Denken Heinrich Himmlers, dass er eine Analogie zur Tier- und Pflanzenzucht bildete und lange Zeiträume reflektierte: »Mindestens einige Generationen hindurch (3 oder 4 Generationen) müssen von unabhängigen Institutionen die Abkömmlinge von derartigen Mischlingsfamilien rassisch überprüft und im Falle der rassischen Minderwertigkeit sterilisiert und damit aus dem weiteren Erbgang ausgeschaltet werden.«27 Bormann seinerseits verdichtete die Anregung aus dem RuSHA zu einer Anweisung an die Gauleiter und Kreisleiter zur »Bewertung der Erbanlagen von jüdischen Mischlingen 2. Grades bei ihrer politischen Beurteilung durch die Partei«.28 Mit Himmler und Bormann schlossen sich die beiden zu jenem Zeitpunkt neben Hitler wichtigsten Entscheidungsträger des NS-Regimes der Initiative Otto Hofmanns an, ohne dass dies unmittelbar zur massenhaften Ermordung oder Zwangsterilisation der »jüdischen Mischlinge« geführt hätte. So wurden während des Zweiten Weltkrieges – mit Rücksicht auf die Kriegsanstrengung und die Moral der »Heimatfront« – die »Mischlinge« vorerst lediglich mit neuen diskriminierenden Bestimmungen wie Zulassungsbeschränkungen zu Schulen, Verpflichtungen zur Zwangsarbeit usw. konfrontiert.29 Raul Hilberg hat die spezielle Bedeutung der »Mischlingsfrage« im Kontext des Holocaust hervorgehoben und argumentiert, dass es den Beteiligten darum ging, »die ›Endlösung‹ wirklich endgültig sein zu lassen«.30 Dem ist mit Blick auf das RuSHA uneingeschränkt zuzustimmen, demonstrierte doch aus Sicht Otto Hofmanns und seiner Mitarbeiter gerade die Existenz der »jüdischen Mischlinge« in Deutschland, dass die Aufgabe der »Reinigung des deutschen Volkskörpers« noch nicht vollständig gelöst worden war. Neben den »jüdischen Mischlingen« standen auch die »Mischehen« im Fokus der Beratungen auf der Wannsee-Konferenz. Die Position des Reichssicherheitshauptamtes 25 Gutachten Schultz‘ vom 18.1.1943 »zur rassenbiologischen Beurteilung der ›jüdischen Mischlinge II. Grades‹«. Unterstreichung im Original. Bundesarchiv Berlin (BA) NS 19/1047, Bl. 3–4. 26 Schreiben des RuSHA-Chefs, gez. SS-Gruf. Otto Hofmann, an den RFSS vom 17.3.1943 über die »Endlösung der Judenmischlingsfrage«, BA NS 19/1049, Bl. 2. 27 Schreiben des RFSS, geh. Rs., gez. Himmler, an den Reichsleiter Martin Bormann vom 22.5.1943, BA NS 19/1047, Bl. 10. 28 Rundschreiben Nr. 117/43 des Leiters der Partei-Kanzlei vom 22.8.1943 über die Bewertung der Erbanlagen von jüdischen Mischlingen 2. Grades bei ihrer politischen Beurteilung durch die Partei, NA NS 19/1047, Bl. 16. Gleiches Schreiben ging am 3.9.1943 an das RuSHA und das RSHA. 29 Noakes, »Development«, S. 348–352. Vgl. auch Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, 3 Bde., Frankfurt am Main 1997 (Englisch zuerst 1961), Bd. 2, S. 444 f. 30 Vgl. Hilberg, Vernichtung, Bd. 2, S. 445. Die jüdischen Insassen der Konzentrationslager (darunter auch »Mischlinge«), die »Mischlingskinder« aus »Heil- und Pflegeanstalten« und eine nicht näher bestimmbare Zahl an jüdischen »Mischlingen« aus den besetzten Gebieten wurden ermordet. In der besetzten Sowjetunion galten auch »Mischlinge« ersten Grades ohnehin als Juden. Vgl. z.B. die Richtlinien des RSHA für die Behandlung der Judenfrage in den besetzten Gebieten vom Sommer 1941, Noakes, »Development«, S. 348.
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war, bei Ehen zwischen Juden und »Deutschblütigen« von Fall zu Fall darüber zu entscheiden, ob der jüdische Teil »evakuiert« oder in ein »Altersghetto« eingewiesen werden sollte.31 Waren Kinder vorhanden (»Mischlinge zweiten Grades«), so konnte die gesamte Familie auch in Deutschland belassen werden. Staatssekretär Stuckart aus dem Innenministerium schlug dagegen vor, die »Mischehenproblematik« durch ein Gesetz zu vereinfachen, worin festgelegt werden sollte: »Diese Ehen sind geschieden!«32 Die Position Otto Hofmanns und des Rasse- und Siedlungshauptamt dagegen war radikaler als diejenige des RSHA und differenzierter als die Überlegung Stuckarts. Dies zeigte sich an den Maßnahmen, die das RuSHA in den besetzten Gebieten, im Reichsgau Wartheland und im Protektorat ergriff. Im Warthegau hatte beispielsweise der Leiter der Außenstelle Litzmannstadt des Rasse- und Siedlungshauptamtes vorgeschlagen, »arische« Ehepartner aus »Mischehen« zu befragen, ob sie sich trennen oder die Ehe aufrecht erhalten wollten: »Bei Wunsch auf Trennung sind der jüdische Teil und die halbjüdischen Kinder in das Ghetto einzuweisen. Mit dem arischen Teil ist je nach seiner Wertigkeit [die wiederum das Rasse- und Siedlungshauptamt zu ermitteln hatte, I.H.] zu verfahren. Besteht der Wunsch, daß die Ehe bestehen bleibt, so ist auch der arische Ehepartner mit in das Ghetto einzuweisen.«33 Noch besser als im Warthegau gelang es den Vertretern des RuSHA im Protektorat Böhmen und Mähren, wo Reinhard Heydrich von Oktober 1941 bis zu seiner Ermordung im Juni 1942 als Reichsprotektor wirkte, ihre Vorstellungen durchzusetzen: Dort wurde Ehegatten, die Juden heirateten oder sich weigerten, ihre Ehe aufzulösen, ohne weiteres ihre »deutsche Volkszugehörigkeit« aberkannt. Ausnahmen wurden nur gemacht, wenn der »arische« Ehepartner »einen volkstumspolitisch erwünschten Bevölkerungszuwachs darstellt«. Dies herauszufinden war Aufgabe der örtlichen RuS-Dienststelle, welche ihr Votum dem örtlichen SD-Dienststellenleiter mitteilte.34 Noch zufriedener konnten die Rasseexperten mit den Maßnahmen der Protektoratsverwaltung gegenüber »jüdischen Mischlingen ersten Grades« sein:35 Antragsteller, die sich 31 Protokoll der Besprechung Dok. 4.7 in diesem Band. 32 Ebenda. 33 Aktennotiz des Leiters der RuSHA–Außenstelle Litzmannstadt, gez. Fritz Schwalm, vom 15.6.1941 über die Behandlung arisch jüdischer Mischehen und die Einweisung Judenverdächtiger in das Ghetto. Instytut Pamięci Narodowej, Warszawa, ehemals Archiwum Glównej Komisji Badania Zbrodni przeciwko Narodowi Polskiemu, (AGK) 167/41, Bl. 17. 34 Erlass des deutschen Staatsministers für Böhmen und Mähren vom 13.12.1943 an die Herren Landespräsidenten in Böhmen und Mähren, Reichsauftragsverwaltung, über die Feststellung der Volkszugehörigkeit deutschstämmiger Ehegatten von Juden. Vgl. auch das Schreiben des Reichsprotektors in Böhmen und Mähren, Hauptabteilung, vom 28.4.1943 an den Leiter des Bodenamtes, SS-Ostubaf. Fischer, betreffend der Feststellung der Volkszugehörigkeit deutschstämmiger Ehegatten von Juden, USHMM RG-48005 M. 35 Laut dem entsprechenden Erlass RMdI konnten »Mischlinge ersten und zweiten Grades« ab 1939 als »deutsche Volkszugehörige« anerkannt werden, wenn sie sich »vor dem 1. Oktober 1938 aktiv
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neu um die deutsche Staatsangehörigkeit bewarben, wurden ab Mai 1941 auf ihren »Rassewert« hin untersucht und einem psychologischen Gutachten unterworfen.36 Ab April 1942 wurden auch die bereits anerkannten »Mischlinge« nachträglich rassisch gemustert und wenn nicht wenigstens »rassisch tragbar«, rückwirkend von der »deutschen Volkszugehörigkeit« ausgeschlossen.37 Das RuSHA begrüßte diese »erstmalige Verwirklichung der rassischen Grundsätze bei Staatsangehörigkeitsfragen«.38 Die ultimative Versinnbildlichung des Bestrebens, alle Juden und »Mischlinge« aus dem deutschen Einflussbereich und – in den Augen der Rasseexperten – aus dem »deutschen Blut« auszuschließen, stellt die »Juden- und Judenmischlingskartei« dar, welche das RuSHA seit 1938 in Berlin führte und durch Recherchen seiner SS-Führer im Rasse und Siedlungswesen in den besetzten Gebieten stetig erweitern ließ.39 Sie diente dazu, Juden und »Mischlinge« unter SS-Bewerbern ausfindig zu machen, lieferte aber im Einzelfall auch die Grundlage für Verfolgungsmaßnahmen.40 Die Initiativen des RuSHA zur »Lösung der Judenmischlingsfrage« und zur Behandlung der in »Mischehe« lebenden Menschen erhielten ihre Bedeutung (neben den persönlichen Schicksalen der Menschen) durch das Projekt eines »rassisch gesäuberten« und hierarchisierten Europa, welches Himmler und die Rasseexperten für die Zeit nach einem siegreichen Friedensschluss verfolgten. Hierfür sollte nicht nur die vollständige »Ausscheidung der Juden aus dem deutschen Volkskörper« sondern auch eine möglichst eindeutige, unter besonderen Opfern für die deutsche Sache eingesetzt haben«. Erlass des RMI vom 29.3.1939, USHMM RG-48.005 M. Reel 2. Verordnung des Reichsprotektors in Böhmen und Mähren über den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit, RGBl. I. S. 815. 36 Vertraulicher Erlass des Reichsprotektors in Böhmen und Mähren vom 7.5.1941 über die Erfassung der Volkszugehörigen im Protektorat Böhmen und Mähren; Behandlung der jüdischen Mischlinge 1. und 2. Grades. USHMM RG-48.005 M. Reel 2. 37 Erlass des Reichsprotektors vom 28.3.1942, Schreiben des Reichsprotektors in Böhmen und Mähren, gez. i.A. Dr. Fuchs, vom 28.3.1942 über den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit auf Grund der Verordnung vom 20. April 1939 durch jüdische Mischlinge, USHMM RG-48005 M. Reel 2. 38 Bericht des Rassenamtschefs vom 25.1.1944 über die Tätigkeit des RuS-Hauptamtes-SS auf dem Gebiet des Staatsangehörigkeitswesens in Böhmen und Mähren, BA NS 2/153. Bl. 33–41. 39 Die »Mischlings- und Judentaufenkartei« wurde 1938 erstellt und im Sippenamt des RuSHA geführt. Erhalten sind zwei Nachträge aus den Jahren 1941 und 1943 sowie Berichte über entsprechende Aktivitäten der Mitarbeiter des RuSHA in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Norwegen, BA NS 2/219, Bl. 1–114. Bericht über die Dienstreise vom 29. Juni bis 4. Juli 1943 nach Oslo, gez. SS-Stubaf. Osiander (der Chef des RuSHA-Ahnentafelamtes),vom 5.7.1943, BA NS 2/195, Bl. 98– 100, NO-4040. Schreiben des RuS-Führers in Belgien, gez. SS-Stubaf. Aust, vom 27.5.1944 an das Ahnentafelamt betreffend der Einbürgerungs-Überprüfung der Margarete Gertrude Sydower, BDC Herbert Aust. Schreiben des SS-Gruf. Hans Rauter vom 20.12.1941 an Otto Hofmann über Juden und Judenmischlinge in den Niederlanden, BA NS 2/83. Bl. 81. Die »Juden(mischlings)kartei« war auch Gegenstand der Ermittlungen des achten Nürnberger Nachfolgeprozesses. 40 Hierzu siehe die Aussage Erich von dem Bach-Zelewskis weiter unten.
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rassenanthropologisch informierte Politik gegenüber »Mischlingen« und »Mischehen« die Voraussetzungen schaffen. Gleichzeitig sind die Vorschläge des Rasse- und Siedlungshauptamtes zur Behandlung der »Mischlinge« und »Mischehen« auch als praktische Beiträge zur »Gesamtlösung der Judenfrage« bereits während des Krieges zu verstehen.
Verteidigungsstrategie in Nürnberg 1946 bis 1949 und in der Bundesrepublik Nach dem Krieg ergab sich Otto Hofmann den Amerikanern, geriet in Kriegsgefangenschaft und wurde in das Gefängnis in Landsberg überstellt, wo er gemeinsam mit den 13 anderen Angeklagten aus RuSHA, RKF, Volksdeutscher Mittelstelle und dem SS-Verein »Lebensborn« die Eröffnung des 8. Nürnberger Nachfolgeprozesses erwartete. Das Verfahren sollte den Verbrechenscharakter der nationalsozialistischen Volkstumspolitik klären, es wird jedoch fälschlicherweise oft lediglich als »RuSHA-Case« bezeichnet.41 Die Hofmann zur Last gelegten Anklagepunkte umfassten neben der Mitgliedschaft in der SS als verbrecherischer Vereinigung auch Kriegsverbrechen und »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Den Genozid-Vorwurf begründete die Anklage unter anderem durch Hofmanns Beteiligung an verschiedenen Zwangsmaßnahmen im Rahmen der NS-»Germanisierungspolitik« (Zwangsgermanisierung, Zwangsumsiedlung, Konfiskation öffentlichen und privaten Eigentums, Judenverfolgung, Kindeswegnahme, Zwangsabtreibungen, Behinderung der Reproduktion feindlicher Ausländer, Bestrafung für verbotenen Geschlechtsverkehr mit Deutschen).42 Für den Anklagepunkt »Beteiligung an der Verfolgung und Vernichtung von Juden« waren insbesondere Hofmanns Teilnahme an der Wannsee-Konferenz und die Existenz einer »Judenmischlingskartei« im RuSHA relevant.43 Angesichts der Tragweite der Anklage versuchte sein Verteidiger Otto Schwarz die Kompetenzen des RuSHA auf rein »positive« Aufgaben zu reduzieren und die Verantwortung des Angeklagten für europaweite Zwangsumsiedlungen, Rassenselektionen und die Ingangsetzung des Massenmords an den europäischen Juden geschickt auszublenden. Hierbei konnte er sich auch auf den von Hofmann und den drei weiteren Angeklagten aus
41 Die Akten zu diesem Prozess sind u.a. überliefert im Staatsarchiv Nürnberg und im Bundesarchiv Koblenz (BAK All Proz. 1, XXXXIV, Rep. 501). Eine englische Druckfassung bietet Auszüge aus dem Verfahren, unter anderem Anklage, Urteile, Auszüge aus Beweisdokumenten und Zeugenvernehmungen. Trials of War Criminals before the Nuernberg Military Tribunals under Control Council Law No. 10. Nürnberg, October 1946–April 1949. Bd. IV, 2. Bd. V, 1. (VIII: The RuSHA-Case). Xerographed Edition, München 1979 (TWC). 42 Opening Statement of the Prosecution. BAK All Proz. 1, XXXXIV, Rep. 501, Be 3. Gedruckt in TWC, Band IV, 2, S. 609–617, 622–627. 43 Opening Statement of the Prosecution. BAK All Proz. 1, XXXXIV, Rep. 501, Be 3, S. 69–81. Indictment: Count One – Crimes Against Humanity, TWC, Band IV, 2, S. 669–670.
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dem RuSHA gemeinsam verfassten »Leitfaden für unsere Verteidiger« stützen.44 Schwarz erklärte zum Vorwurf der Beteiligung an der Judenverfolgung, dies stelle den »größte[n] Irrtum der Anklage« dar, da Hofmann »ohne sein Zutun und ohne sachlichen Zusammenhang, offenbar auf Grund einer persönlichen Laune Heydrichs zu der Besprechung über die Endlösung der Judenfrage eingeladen worden« sei. Bei der Aussprache selbst habe Hofmann »im Gegensatz zu Heydrich selbst in einem für die jüdischen Mischlinge ersten Grades günstigen Sinn Stellung genommen«. Durch seinen Einwand [den Vorschlag, die Sterilisation von Mischlingen ersten Grades als »Gegenleistung« für ihren Verbleib im Altreich zu erzwingen, I. H.] sei die »Frage auf die lange Bank geschoben« worden. Dies habe schließlich dazu geführt, dass die »Sterilisierung der Mischlinge« unterblieben sei.45 Des Weiteren habe das RuSHA lediglich intern eine »Judenmischlingskartei« zur Überprüfung der SS-Rekruten geführt, diese sei nicht an das RSHA zur Durchführung der Judenverfolgung weitergegeben worden.46 Letzteres war eine bewusste Falschaussage, was zahlreiche Dokumente und Zeugenaussagen belegen. Insbesondere der ehemalige Höhere SS- und Polizeiführer Rußland Mitte, Erich von dem Bach-Zelewski, hatte als Zeuge der Anklage betont, »dass in Berlin im Rasse- und Siedlungshauptamt eine Judenkartei bestand, die über die rassische Zusammensetzung einer jeden Familie Auskunft geben konnte bis weit in die früheren Jahrhunderte hinein«. Dies sei in der SS-Führung allgemein bekannt gewesen. Gefragt nach der praktischen Anwendung im Vernichtungsprogramm stellte er fest, dass »aufgrund dieser Kartei, dieser Judenkartei, die Vorarbeiten von der Sicherheitspolizei geleistet wurden vor dem Einmarsch in fremde Gebiete […] um schlagartig zugreifen zu können«.47 Grundsätzlich sei die Beteiligung des RuSHA am Judenmord vor allem indirekt gewesen, denn »ohne eine derartige weltanschauliche jahrelange Schulung hätte sich kein Mann bereitgefunden, diese Vernichtung durchzuführen.«48 Otto Hofmann selbst versuchte in Nürnberg, jeden Anschein seiner Mitverantwortung für den Holocaust auf das Reichssicherheitshauptamt und den toten Heinrich Himmler abzuwälzen.49 Besonders scharf distanzierte er sich von der Zeugenaussage Erich von dem Bach-Zelewski, die er in einer Randnotiz auf den Prozessunterlagen seines Verteidigers und vor allem in seinem Schlussplädoyer als »Verrat« am »Orden« der SS bezeichnete. 50 44 Geschichte und Aufgaben des Rasse- und Siedlungshauptamtes SS. Ein Leitfaden für unsere Verteidiger, BA All Proz. 1, XXXXIV, Rep. 501, C 5, S. 1–20. 45 Eröffnungsrede für den Angeklagten Otto Hofmann, BA All Proz. 1, XXXXIV, Rep. 501, J 1. S. 23– 24. 46 Eröffnungsrede für den Angeklagten Otto Hofmann, BA All Proz. 1, XXXXIV, Rep. 501, J 1. S. 24– 25. 47 Vernehmung Erich von dem Bach-Zelewskis vom 24.10.1947, BA All Proz. 1, XXXXIV, Rep. 501, A 6, S. 396–397. 48 Vernehmung Erich von dem Bach–Zelewskis vom 24.10.1947, BA All Proz. 1, XXXXIV, Rep. 501, A 6, S. 394. 49 Vgl. seine Zeugenaussagen im Verfahren: BA All Proz. 1, XXXXIV, Rep. 501. R-3271, R-3274. 50 Final Statement Otto Hofmann, TWC, Band V, S. 79–81.
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Obgleich die Anklage mit zahlreichen Dokumenten aufwarten konnte, die sowohl die Existenz der Judenmischlingskartei als auch die Initiativen des RuSHA zur »Endlösung der Judenmischlingsfrage« belegten, setzte sich schließlich die relativierende Linie der Verteidigung durch.51 Zwar wurde Otto Hofmann 1948 in allen drei Hauptpunkten (Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Mitgliedschaft in der SS) schuldig gesprochen, doch sein Strafmaß fiel mit 25 Jahren Zuchthaus vergleichsweise milde aus. Unter Punkt eins (Genozid/»Verbrechen gegen die Menschlichkeit«) legten ihm die Nürnberger Richter Kindswegnahme, Zwangsabtreibungen, Bestrafung von Geschlechtsverkehr mit Deutschen, Behinderung der Reproduktion feindlicher Staatsangehöriger, Zwangsvertreibung und Umsiedlung, Zwangsgermanisierung und Zwangsarbeit zur Last. Lediglich vom Vorwurf der Konfiskation fremden Eigentums wurde er freigesprochen.52 Den Anklagepunkt »Beteiligung des RuSHA an der Verfolgung und Vernichtung der Juden« hatten die Richter aus Mangel an Beweisen fallen gelassen und durch den Hinweis ersetzt, dass sich die Verfolgungsmaßnahmen auf Polen und Juden gleichermaßen bezogen hätten, ersichtlich in den Anklagepunkten »Bestrafung für Geschlechtsverkehr mit Deutschen«, »Konfiskation öffentlichen und privaten Besitzes« sowie »Vertreibung fremder Staatsangehöriger«.53 Die Argumentation der Richter, der Judenmord sei Teil des gesamten Umsiedlungsund Zwangsgermanisierungsprogramms gewesen, erscheint aus heutiger Sicht unbedingt zutreffend. 1948 hatte diese Akzentuierung jedoch zur Folge, dass genau dieser Zusammenhang bis Mitte der 1990er Jahre in den Hintergrund trat.54 Vielmehr wurden das RuSHA und mit ihm die anderen Institutionen der SS-Umsiedlungspolitik – der Linie der Angeklagten und der Verteidigung folgend – zunächst lediglich als vergleichsweise bedeutungslose Instanzen im polykratischen Ämterchaos und als Träger positiver »Fürsorge«Aufgaben gesehen.55 51 Vgl. den guten Überblick über die Anklagedokumente im Abschlussplädoyer der Anklage: Closing Brief of the Prosecution on the Organization of the Race- and Settlement Main Office, BAK All Proz. 1, Rep. 501, XXXIV, Be 47, S. 124–128. So lagen der Anklage unter anderem die Beauftragung Heydrichs von 31.7.1941 [NG 2585] vor, das Wannsee-Protokoll [NG-2586], ebenso Belege für die Teilnahme weiterer RuSHA-Mitarbeiter an den sogenannten Folgekonferenzen von 6.3.1942 und 27.10.1942 [NG-2586] sowie ein Bericht über eine Besichtigungsreise des SS-Führers im Rasse- und Siedlungswesen Herbert Hübner und des Stabsführers des RuSHA Fritz Schwalm ins Ghetto Lodz von Mai 1944 [NO-1402]. 52 Urteil gegen den Angeklagten Otto Hofmann, BA All Proz. 1, XXXXIV, Rep. 501, S 1, S. 141. 53 »Verfolgungen aus rassischen Gründen richteten sich besonders gegen die Polen und Juden, und die Polen sowohl wie die Juden waren Opfer derartiger Maßnahmen, wie an früherer Stelle dieses Urteils dargelegt worden ist.« Urteil. BA All Proz. 1, XXXXIV, Rep. 501, S 1, S. 130. Opinion and Judgement, TWC, Band V, S. 152. 54 Hierzu vgl. u.a. Aly, »Endlösung«; Wildt, Generation; Heinemann, Rasse; Longerich, Himmler; Strippel, NS-Volkstumspolitik. 55 Diese Fehleinschätzung findet sich auch in zahlreichen frühen historischen Publikationen zur nationalsozialistischen Volkstumspolitik, vgl. unter anderem Robert L. Koehl, RKFDV. German Settlement
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Wie viele hochrangige NS-Täter verbüßte Hofmann schließlich nur einen Bruchteil seiner Strafe und kam 1954 in den Genuss der Amnestie.56 In den Folgejahren war seine Tätigkeit als RuSHA-Chef, als HSSPF und als Teilnehmer der Wannsee-Konferenz Gegenstand zahlreicher weiterer Vorermittlungen der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg.57 Es ist davon auszugehen, dass es speziell der Prozess gegen Adolf Eichmann von April bis Oktober 1961 war, der Hofmann als Teilnehmer der Wannsee-Konferenz erneut ins Blickfeld der Strafverfolgungsbehörden treten ließ.58 Insgesamt kam es zu vier Ermittlungsverfahren gegen Hofmann wegen der Beteiligung an nationalsozialistischen Gewaltverbrechen bei den Staatsanwaltschaften der Bundesländer, die jedoch sämtlich mit Einstellungsvermerken endeten.59 Zwei Verfahren thematisierten dezidiert seine Teilnahme an der Wannsee-Konferen: dasjenige wegen Beteiligung an Tötungsverbrechen im Konzentrationslager Natzweiler in seiner Eigenschaft als HSSPF Südwest (Staatsanwaltschaft Heilbronn) und dasjenige gegen die Teilnehmer der Wannsee-Konferenz (Staatsanwaltschaft Stuttgart). Die Staatsanwälte standen dabei vor einer doppelten Schwierigkeit. Zum einen war Hofmann bereits in Nürnberg für seine Tätigand Population Policy. A History of the Reich Commission for the Strengthening of Germandom, Cambridge, Mass. 1957; Hans Buchheim, »Rechtsstellung und Organisation des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums«, in: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, Bd. 1, München 1958, S. 239–278. Michael H. Kater, Das »Ahnenerbe« der SS 1935–1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, Darmstadt 1974; Georg Lilienthal, Der »Lebensborn e.V.« Ein Instrument nationalsozialistischer Rassenpolitik, Stuttgart u.a. 1985. 56 Hierzu detailliert Isabel Heinemann, »Rasse, Lebensraum, Genozid: Die nationalsozialistische Volkstumspolitik im Fokus von Fall 8 der Nürnberger Nachfolgeprozesse«, in: Kim Priemel/Alexa Stiller, (Hg.), N M T. Die Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtsschöpfung, Hamburg, erscheint 2013. 57 Vorermittlungsverfahren gegen Angehörige der SS wegen Mordes im Konzentrationslager Natzweiler: AR -Z 33/61; Vorermittlungsverfahren gegen die Angehörigen des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS: AR 122/65; Vorermittlungsverfahren gegen die ehemaligen Höheren SS- und Polizeiführer der SS: AR 1501/65; Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Berlin gegen Teilnehmer der Wannsee-Konferenz: AR 72/82. 58 Nach Hannah Arendts kanonischer Prozessreportage »Eichmann in Jerusalem«, die lange Zeit das Bild des Verfahrens und des Angeklagten prägte, ist der Eichmann-Prozess in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der historischen Forschung getreten. Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964; David Cesarani, Adolf Eichmann. Bürokrat und Massenmörder. Biografie, Berlin 2004; Der Prozess – Adolf Eichmann vor Gericht, Katalog zur Ausstellung, herausgegeben von der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, der Stiftung Topographie des Terrors, der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin 2011; Fritz Bauer Institut (Hg.), Adolf Eichmann vor Gericht. Der Prozess in Jerusalem. Mit Beiträgen von Bettina Stangneth, Ruth Bettina Birn, Willi Winkler, u.a., in: Einsicht. Bulletin des Fritz Bauer Instituts, Frühjahr 2011, Nr. 05. S. 18–61. 59 1 Js 4288/59 und 1 Js 6069/60 bei der Staatsanwaltschaft Hechingen; 1 Js 6247/59 bei der Staatsanwaltschaft Heilbronn, Einstellungsvermerk vom 27.9.1961; 7 Js 497/82 bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart, Einstellungsverfügung vom 30.9.1982.
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keit als Chef des RuSHA verurteilt worden, konnte nach deutschem Recht nicht erneut in derselben Sache belangt werden.60 Gleichzeitig ließen sich keine neuen Beweise für weitergehende Straftaten feststellen. So stellte der ermittelnde Staatsanwalt in Heilbronn in seinem Einstellungsvermerk zur Teilnahme Hofmanns an der Wannsee-Konferenz fest: »Er machte nach dem vorliegenden Protokoll [der Wannsee-Konferenz, I.H.] auch einige Bemerkungen dazu, aber weder die Teilnahme an der Besprechung, noch seine Bemerkungen lassen sich bereits als Teilnahme an den späteren Judenmorden werten. Dafür, dass er oder die von ihm geleitete Dienststelle dabei irgendwie tätig wurden oder auch nur werden sollten, fehlt der Beweis.«61 Otto Hofmann konnte sein Leben als unbescholtener Bürger im baden-württembergischen Künzelsau beschließen und starb am 31.12.1982 in Bad Mergentheim.62
Zusammenfassung Die Anwesenheit des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS, also des für Rassenmusterungen im Zuge der Germanisierungspolitik zuständigen Fachamtes auf der WannseeKonferenz unterstreicht den Führungsanspruch, den die SS in der »Endlösung der Judenfrage« wie auch hinsichtlich der längerfristigen rassenpolitischen Neuordnung Europas erhob. Die Vorschläge, die Hofmann und seine Mitarbeiter auf der Wannsee-Konferenz und den Folgekonferenzen zur »Endlösung der Judenmischlingsfrage« machten, demonstrierten Selbstbewusstsein, gespeist durch die Erfahrungen der Rasseexperten im Rahmen der Umsiedlungspolitik. Sie zeichneten sich – gegenüber den Interessen ziviler Stellen wie beispielsweise des Reichsinnenministeriums – durch besondere weltanschauliche Radikalität aus. Obwohl die Experten sich zu koordinierenden Konferenzen in Berlin trafen, kamen radikalisierende Impulse oft aus den besetzten Gebieten. Dies zeigen die Initiativen des Rasse- und Siedlungshauptamtes zur Behandlung der »jüdischen Mischlinge« und »Mischehen« im Warthegau und im Protektorat, wie die eingangs erwähnten Zitate Otto Hofmanns und Rolf-Heinz Höppners zeigen. In den eroberten Regionen behauptete die SS die Federführung in der Umsiedlungs- und Germanisierungspolitik, wobei sich jegliche
60 Woraus resultierte, dass er – ohne Anhaltspunkte für das Vorliegen weiterer Straftaten – lediglich als Zeuge vernommen werden konnte. Vgl. die Vernehmungen Hofmanns vom 17.4.1962, AR-Z 33/61, vom 27.4.1965, AR 1501/65, 10.11.1966, AR 1501/65 und AR 122/65. 61 Einstellungsvermerk der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Heilbronn vom 27.9.1961, gez. Dr. Lorenz, 1 JS 6 247 /59. 62 Auskunft des Einwohnermeldeamtes Künzelsau an die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg vom 6.8.1984, Eintrag im Sterberegister Bad Mergentheim Reg. Nr. 623/1982, ZSt. Personenkartei Otto Hofmann.
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Rücksichtnahme auf die Zivilbevölkerung erübrigte und Widerstände leichter überwunden werden konnten. Aus Sicht Otto Hofmanns stellte die Wannsee-Konferenz keinen Abschluss eines Prozesses zur »Gesamtlösung der Judenfrage« dar, sondern war vielmehr als Auftakt zur in seinen Augen zentralen Lösung des »Mischlingsproblems« und zur Beseitigung der damit für das »deutsche Blut« verbundenen Gefahr zu verstehen. Der sich ab Spätsommer/Herbst 1941 entwickelnde Massenmord an den europäischen Juden war damit nicht nur ein Produkt des aggressiven deutschen Antisemitismus, möglich geworden und durchgeführt unter den Bedingungen des Krieges gegen die Sowjetunion, sondern stellte in den Augen der Rasseexperten der SS wie auch insgesamt der am Wannsee versammelten Funktionäre die Grundvoraussetzung für die Germanisierungspläne und rassenpolitischen Neuordnungsszenarien dar. Die Einschätzung der Nürnberger Richter, dass Judenmord und Polenumsiedlung zwei Seiten der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik darstellten, ist aus Sicht der aktuellen historischen Forschung zutreffend. Das Fallenlassen des Vorwurfs der »Judenverfolgung und Judenvernichtung« als eigenen Anklagepunkt im Fall 8 erschwerte aber paradoxerweise die Aufarbeitung gerade der genozidalen Seite der Umsiedlungs- und Eindeutschungsmaßnahmen. Dies wiederum legte den Grundstein für die aus heutiger Sicht unbefriedigende juristische Ahndung der Verantwortung des RuSHA für die NSVolkstumspolitik im Allgemeinen und seiner Beteiligung an Konzeption und Durchführung des Judenmords im Besonderen, wie das Beispiel Otto Hofmanns demonstriert.
Alfred Gottwaldt
Warum war die Reichsbahn nicht auf der Wannsee-Konferenz vertreten? Immer wieder stellen Laien und Fachleute die Frage, ob die Transporte der todgeweihten Juden nicht in übergroßem Umfang das Rollmaterial der deutschen Eisenbahn banden, welches schließlich der Wehrmacht und der Rüstung in der letzten Phase des Dritten Reiches essentiell fehlen musste. Übersehen wird dabei zumeist, dass die Reichsbahn und die von ihr kontrollierten Eisenbahnen Europas während des gesamten Krieges ein gigantisches Verkehrssystem von nahezu unbegrenzter Kapazität bildeten, das stets nur vorübergehend an seine Grenzen gelangte. Schwankungen der Auslastung gehörten systemimmanent dazu und konnten ungeachtet zeitweilig auftretender Krisen im Lauf der folgenden Zeit bald ausgeglichen werden.1 Etwa die Hälfte der zwischen 1941 und 1945 ermordeten Juden wurde vor ihrem Tod mit der Eisenbahn »in den Osten« verschleppt, die andere Hälfte musste in der Nähe ihrer Wohnorte sterben. Minimal war der Anteil von Schiffen und Straßenfahrzeugen an solchen Transporten. Das hat der Historiker Wolfgang Scheffler schon 1972 in einem Gutachten zum Strafverfahren gegen den einstigen Staatssekretär Albert Ganzenmüller im Reichsverkehrsministerium berechnet.2
Über die »Logistik des Holocaust« Bei Heydrichs Staatssekretärs-Konferenz am Berliner Wannsee vom 20. Januar 1942 stand die Chiffre der »Evakuierung nach dem Osten« in erster Linie für den tatsächlichen Massenmord an den europäischen Juden. Der Begriff sollte aber auch den Transport vieler Opfer von ihren Wohnorten im Süden, Westen und Norden des Kontinents zu den Tötungsstätten »im Osten« umfassen, wie das Protokoll Adolf Eichmanns zeigt, das Reinhardt Heydrich am 26. Februar 1942 an die Teilnehmer versandte: »Die evakuierten Juden werden zunächst Zug um Zug in sogenannte Durchgangsghettos verbracht, um
1 Alfred Gottwaldt, »Die ›Logistik des Holocaust‹ als mörderische Aufgabe der Deutschen Reichsbahn im europäischen Raum«, in: Ralf Roth/Karl Schlögel (Hg.), Neue Wege in ein neues Europa. Geschichte und Verkehr im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2009, S. 261–280. 2 Alfred Gottwaldt/Diana Schulle, Die »Judendeportationen« aus dem Deutschen Reich. Eine kommentierte Chronologie, Wiesbaden 2005.
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von dort weiter nach dem Osten transportiert zu werden.«3 Das war seit dem 15. Oktober 1941 gängige Praxis mit den rund fünfzig bereits vor der Konferenz durchgeführten Transporten nach Litzmannstadt (etwa 20.000 Menschen), Minsk (7.000), Kowno (5.000) und Riga (15.000). Der Ausdruck »Zug um Zug« meinte nicht die Benutzung der Eisenbahn, sondern bedeutete in der Sprache des ehemaligen Handelsvertreters Eichmann eher »Schritt für Schritt«. Auch vermerkte er gegen Ende den Redebeitrag des Krakauer Staatssekretärs Josef Bühler, dass »dieser es begrüßen würde, wenn mit der Endlösung dieser Frage im Generalgouvernement begonnen würde, weil einmal hier das Transportproblem keine übergeordnete Rolle spielt und arbeitseinsatzmäßige Gründe den Lauf dieser Aktion nicht behindern würden.«4 Nur ganz weit »im Osten« schien den staatlich beauftragten Mördern die erforderliche Abgeschiedenheit gegeben und die totale Kontrolle der Tatorte möglich zu sein. Damit waren zahlreiche Transporte vorzunehmen, die den komplexen Gesetzen der Logistik unterlagen. Diesen Begriff kannte man zwar 1941/42 in Deutschland noch nicht, doch seine Gesetze galten durchaus. Auch wenn es bei den Regeln der Logistik in erster Linie um die Beförderung von Sachen ging, waren auch im Völkermord sinngemäß die differenzierten Schritte von »Transport, Lagerung und Umschlag zwischen Verkehrsträgern oder zwischen einem Verkehrsträger und einem Lagerhaus oder einem Bedarfsträger und einem Lagerhaus oder einem Bedarfspunkt (Fabrik, Laden)« zu beachten. Dazu gehörte und gehört der rationale Ansatz, auf kurzen Wegen und zu geringen Kosten zu transportieren.5 Das war beim Judenmord mitunter nicht der Fall. Ein denkbarer Teilnehmer an der Besprechung vom 20. Januar 1942 wäre der Staatssekretär im Reichsverkehrsministerium und Stellvertretende Generaldirektor der Deutschen Reichsbahn Wilhelm Kleinmann gewesen. Er war ein »Alter Kämpfer« der NSDAP von 1931 und gehörte 1936/37 auch dem »Freundeskreis Himmler« an. Kleinmann war aber weder zur ursprünglich geplanten Sitzung der Spitzenbeamten am 9. Dezember 1941 noch zu dem Treffen am 20. Januar 1942 eingeladen. Deshalb steht hier die Frage: Warum war das Reichsverkehrsministerium nicht auf Heydrichs Staatssekretärsbesprechung vertreten? Staatssekretär Kleinmann fiel übrigens bald in Ungnade. Während der Verkehrskrise des Winters 1941/42 sowie wiederholt danach hatte er das Missfallen Hitlers, Speers wie auch Himmlers auf sich gezogen. Kleinmann trat deshalb Ende Mai 1942 von seinem Amt zurück – für die Öffentlichkeit hochgeehrt.6 Ihm folgte als neuer Staatssekretär der junge Ingenieur Albert Ganzenmüller, der als Teilnehmer am Hitlerputsch 1923 den Ehrentitel 3 4 5 6
S. 8 des Protokolls, vgl. Dok. 4.7 im Dokumententeil. S. 14 des Protokolls, vgl. Dok. 4.7 im Dokumententeil. Richard Vahrenkamp, Logistik – Management und Strategien, 6. Aufl., München 2007, S. 1–9. Biografische Einzelheiten in: Alfred Gottwaldt/Diana Schulle, »Juden ist die Benutzung von Speisewagen untersagt«. Die antijüdische Politik des Reichsverkehrsministeriums zwischen 1933 und 1945, Teetz 2007, S. 85–112.
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eines »Blutordensträgers« trug. Das Verkehrsministerium leitete zu dieser Zeit der bereits 72 Jahre alte Minister Julius Dorpmüller.
Transportkrise im Winter 1941/42 Stellt man die Frage nach der Ursache der Abwesenheit eines Vertreters der Reichsbahn, ist zunächst zu berücksichtigen, dass auch andere wichtige Behörden nicht nach Wannsee eingeladen wurden, wie etwa der Chef der Ordnungspolizei, Kurt Daluege,7 oder ein ranghoher Vertreter der Wehrmacht. Übrigens waren trotz Einladung nicht in Wannsee erschienen: für das Reichspropagandaministerium Staatssekretär Leopold Gutterer, der Leiter der Dienststelle Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums Ulrich Greifelt sowie der Höhere SS- und Polizeiführer im Generalgouvernement, Obergruppenführer Friedrich-Wilhelm Krüger. Angesichts der besonderen Rolle der Reichsbahn bei den bereits ab Oktober 1941 stattfindenden Deportationen erscheint es nicht besonders plausibel anzunehmen, dass die Reichsbahn durch Staatssekretär Erich Neumann vom Amt des Beauftragten für den Vierjahresplan mittelbar repräsentiert wurde. Spekulation bleibt die Annahme, dass Heydrich einem – wenn auch noch so hochrangigen – Eisenbahner die offenen Worte im Verlauf der Konferenz am Wannsee nicht zu Ohren kommen lassen wollte und deshalb für eine Besprechung mit der Reichsbahn vielleicht einen anderen Termin vorsah. Mit größerer Plausibilität wird daher hier im Folgenden die These vertreten, dass Heydrich die Transportlogistik durch das Ressort Eichmanns als grundsätzlich geklärt ansah und auch von Seiten der Reichsbahn keine seine Autorität infrage stellenden Einsprüche zu erwarten waren. Die Spitze der deutschen Bahnverwaltung war seit dem Jahresanfang 1942 selbst extrem beansprucht, denn Hitler hatte durch den Führererlass Nr. 6/42 vom 4. Januar 1942 den Bahnbetrieb in der besetzten Sowjetunion von dem überforderten Transportchef der Wehrmacht, Generalleutnant Rudolf Gercke, mit Wirkung vom 15. Januar 1942 auf die Deutsche Reichsbahn übertragen, um letztere stärker zu verpflichten. Sein zweiter Verkehrsminister Julius Dorpmüller befand sich deshalb persönlich seit dem 14. Januar 1942 auf einer Inspektionsreise im Osten und verbrachte noch den 25. Januar 1942 in Minsk.8 Transportkrisen des deutschen Eisenbahnwesens gab es im Zweiten Weltkrieg immer wieder. Doch bedeutete der Begriff nicht den vollständigen Zusammenbruch des Eisenbahnsystems, sondern einen mehr oder weniger deutlichen Mangel an verfügbarer Logistikleistung. Wie aber sind solche Krisen zu bewerten? Wichtig ist die Feststellung, dass bei der 7 Siehe den Beitrag von Andrej Angrick in diesem Band. 8 Alfred Gottwaldt, Dorpmüllers Reichsbahn. Die Ära des Reichsverkehrsministers Julius Dorpmüller 1920–1945, Freiburg 2009, S. 185–191.
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Alfred Gottwaldt
Reichsbahn die militärischen Transporte der Wehrmacht und von Truppen der Waffen-SS im Krieg stets Vorrang vor sämtlichen anderen Bedarfsträgern besaßen. Wie sich aus Berichten von Überlebenden der Deportationen ergibt, wurden die Sonderzüge mit verschleppten Juden immer wieder auf Nebengleisen abgestellt und von Militärtransporten überholt. Als Sonderzüge hat man bei der Eisenbahn solche Züge bezeichnet, die nicht regelmäßig für den öffentlichen Verkehr gefahren wurden, sondern auf »Bestellung eines Kunden« in den Fahrplan eingelegt wurden. Wenn man die Reisegeschwindigkeit solcher Züge einschließlich sämtlicher Zwischenhalte errechnet, ergibt sich ein für heutige Maßstäbe überraschend niedriger Wert: Wie die Truppentransporte der Wehrmacht, so wiesen die »Judentransporte« kaum jemals ein Durchschnittstempo von mehr als 15 bis 20 Kilometern pro Stunde auf. Bereits seit Kriegsbeginn im September 1939 hatte die Reichsbahn ihr zuvor sehr umfangreiches Angebot an zivilen Sonderzügen begrenzt, um das Militär uneingeschränkt bedienen zu können. Zu bestimmten Zeiten während des Krieges nahm sie wegen des Vorrangs der Wehrmacht in ihrem Betrieb keinerlei Bestellungen über »zivile« Sonderzüge an: etwa in den Wochen vor und nach Weihnachten 1941 und ebenso zu Weihnachten 1942 wegen der großen Urlaubertransporte, außerdem ab 15. Juni 1942 wegen des Vormarschs der Truppen im Süden der Sowjetunion (»Fall Blau«). Diese Annahmesperren sollten selbst für solche Aufträge des Reichsführers-SS gelten, die nicht als Truppentransporte anzusehen waren.9 Die Beteiligung der Deutschen Reichsbahn am organisierten Judenmord ist eine historische Tatsache. Schon Ende 1939 waren bei Umsiedlungen im besetzten Warthegau bei Posen und in Westpolen chaotische Transportverhältnisse aufgetreten, doch hatte man die vor allem kältebedingten Todesopfer unter den deportierten Polen und Juden hingenommen.10 Bald darauf wurde Abhilfe geschaffen, und die SS-Führung sowie die Staatsbahn hatten sich auf eine zentrale Bündelung aller Transportanfragen der SS und Polizei durch das Eichmann-Referat IV B 4 (»Judenangelegenheiten, Räumungsangelegenheiten«) des Reichssicherheitshauptamts (RSHA) geeinigt. Fast sämtliche Bestellungen des Reichsführers-SS auf Sonderzüge, ausgenommen die Truppentransporte, wurden fortan beim Reichsverkehrsministerium in einem seit Anfang 1940 erprobten Verfahren erledigt, das Eichmann während seines Prozesses in Jerusalem beschrieben hat. Die beiderseitigen Sachbearbeiter, SS-Hauptsturmführer Franz Novak für den Besteller und Amtsrat Otto Stange aus dem Referat 21 »Massenbeförderungen« im Reichsministerium für den Produzenten, trafen seitdem und noch bis Anfang 1945 zur Übergabe der Transportaufträge für die Völkerverschiebungen fast monatlich zusammen.11 Dieses Referat 21 9 Eugen Kreidler, Die Eisenbahnen im Machtbereich der Achsenmächte während des zweiten Weltkrieges. Einsatz und Leistung für die Wehrmacht und Kriegswirtschaft, Göttingen 1975, S. 297– 315. 10 Götz Aly, »Endlösung«. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt am Main 1995, S. 29–225. 11 Kurt Pätzold/Erika Schwarz, »Auschwitz war für mich nur ein Bahnhof«. Franz Novak – der Transportoffizier Adolf Eichmanns, Berlin 1994.
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Abbildung 5 Die 195 Judentransporte mit mehr als 400 Insassen aus dem »Großdeutschen Reich« zwischen Oktober 1941 und Juni 1943 Quelle: Nach Gottwaldt und Schulle, Die Judendeportationen.
im Verkehrsministerium stand unter der Leitung des Ministerialrats Paul Schnell und ordnete sodann per Geheimerlass jeweils die konkrete Durchführung der Sonderzüge bei den nachgeordneten Generalbetriebsleitungen und den 30 regionalen Reichsbahndirektionen an. Ernstzunehmende Schwierigkeiten, ausgenommen die allgegenwärtigen Zugverspätungen oder heftigen Störungen durch schlechte Witterungsbedingungen, traten dabei kaum auf.12 Besonders angespannt war jedoch die Transportlage im November 1941 bei dem schließlich erfolglosen deutschen Angriff auf Moskau im Mittelabschnitt der Ostfront. Durch starken Frost sowie strategische und logistische Defizite des Militärs ging die Zahl der bis nach Minsk und Smolensk technisch möglichen Fahrten drastisch zurück.13 Die Truppe sah daher ihre Versorgung als extrem bedroht an, sobald auch nur eine dieser 12 Andreas Engwert/Susanne Kill (Hg.), Sonderzüge in den Tod. Die Deportationen mit der Deutschen Reichsbahn, Köln 2009, S. 40–54. 13 Klaus A. F. Schüler, Logistik im Rußlandfeldzug. Die Rolle der Eisenbahn bei Planung, Vorbereitung und Durchführung des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion bis zur Krise vor Moskau im Winter 1941/42, Frankfurt am Main 1987.
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wenigen »Fahrplantrassen« für Züge nach Weißrussland zu Judentransporten aus dem Reich verwendet werden sollte. Auf Intervention des Militärs musste das RSHA die Deportationen mit dem Ziel Minsk nach sieben Zügen aus dem Reich um die Mitte des Monats November 1941 abbrechen. Weitere für Minsk geplante Transporte wurden bis zum 15. Dezember 1941 nach Kowno/Kaunas in Litauen und Riga in Lettland im Norden des Reichskommissariats Ostland umgeleitet. Die Deportationen nach Riga wurden anschließend nochmals vom 9. Januar 1942 bis zum 6. Februar 1942 fortgesetzt.14
Kooperation und Konflikte Immer wieder fällt auf, dass Himmler, Heydrich und Eichmann nicht in dem Sinn »logistisch« modern dachten, um bei ihren »Aktionen« etwa weite Wege und hohe Kosten zu vermeiden. So mussten die Massentransporte von der Geheimen Staatspolizei stets nach dem Tarif – zum halben Preis einer Fahrkarte 3. Klasse, also für 2 Pfennig pro Person und pro Kilometer – bezahlt werden. Umgerechnet auf einen Transport von zumeist 1.000 jüdischen Insassen ergab sich ein Gesamtfahrpreis von mindestens 20 Reichsmark pro Kilometer, also bis 20.000 Reichsmark je Sonderzugfahrt. Im weiteren Verlauf ging man zu einem pauschalierten Verfahren über; teilweise wurden – wie bei der »Ungarnaktion« von 1944 – auch Wehrmachtfrachtbriefe benutzt. Die Frage, ob die gemeinwirtschaftlich operierende Staatsbahn an diesen Transporten viel Geld verdient hat, ist bis heute heftig umstritten, stand jedoch weder für die Reichsbahn noch für die SS im Vordergrund ihres Tuns.15 Viel eher zu beklagen ist die Tatsache, dass der staatlich angeordnete Massenmord auch bei den Beamten der Reichsbahn in ein ziviles System des Verwaltungshandelns integriert war, das seit 1933 den Zwecken Hitlers und seiner Partei diente: Die Züge wurden bestellt, gefahren, berechnet und rabattiert wie gewöhnliche »Gesellschaftssonderzüge« der Staatsbahn auch. Überraschende Mängel der Zusammenarbeit zwischen dem Besteller und dem Produzenten der Transportleistung spiegelten sich in »ungünstig« erscheinenden Bahnverbindungen, deren Wahl auf Inkompetenz und Ignoranz beruhte. Das Vernichtungslager bei dem Dorf Kulmhof (Chełmno) im Warthegau, in dem die Juden aus dem Ghetto Litzmannstadt seit Ende 1941 ermordet wurden, lag abseits der Hauptbahn an einer schmalspurigen Kleinbahn von begrenzter Kapazität. Die Standortwahl hatte ein Kraftfahrer beeinflusst, der diese Details nicht erkannte: Im Oktober 1941 waren der Kriminalkommissar Herbert Lange und sein Chauffeur Walter Burmeister durch den Warthegau gefah14 Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 1999, S. 747–754. 15 Thomas Kuczynski, »Dem Regime dienen – nicht Geld verdienen. Zur Beteiligung der Deutschen Reichsbahn an Deportationen und Zwangsarbeit während der NS-Diktatur. Eine Überlegung aus ökonomischer Sicht«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 57 (2009), S. 510–528.
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ren, um den geeigneten Platz für eine Gaswagenstation zu finden. Logistische Kompetenz besaßen sie nicht. So mussten die Opfer unterwegs auf dem Bahnhof von Warthbrücken (Koło) täglich mit Gewalt aus dem einen Zug in den anderen getrieben und weitertransportiert werden.16 Die Routen der Deportationszüge muten teilweise oder sogar stets irrational weit an und waren offenkundig anderen als nur logistischen Kriterien untergeordnet: Wie ein Blick auf die europäische Streckenkarte zeigt, rollten die Judentransporte des Sommers 1942 auf ihren mehr als 1.200 km langen Routen von Wien/Theresienstadt nach Minsk/ Maly Trostinez unweit der Mordstätten von Auschwitz und Treblinka vorüber. Diese Lager galten jedoch nach Auffassung der Täter als überlastet, während es in Minsk noch »unausgenutzte Vernichtungskapazitäten« gab. Kurzzeitig wurden aber selbst diese Transporte nach Minsk wegen einer neuerlichen Verkehrssperre ab dem 15. Juni 1942 unterbrochen, also nochmals um drei Wochen verschoben.17 Andererseits berichtete der Krakauer Polizeichef Friedrich-Wilhelm Krüger schon am 18. Juni 1942 während einer »Polizeisitzung« im Generalgouvernement über die Brüchigkeit der Transportsperre gegenüber Anforderungen von SS und Polizei: »Für die Durchführung einer solchen Aktion sei die Gestellung von ausreichenden Transportzügen notwendig. Trotzdem für die nächsten 14 Tage eine restlose Zugsperre verordnet sei, habe er in Verhandlungen mit Präsident [der Ostbahn Adolf ] Gerteis erreicht, daß für den Abtransport von Juden ab und zu Züge bereitgestellt würden. Nach Ablauf der Sperrfrist müsse die Judenaktion verstärkt durchgeführt werden.«18 Ein ebenso zwiespältiges Licht auf die nicht immer reibungslose Zusammenarbeit sowie auf Friktionen zwischen Sicherheitspolizei und Eisenbahn beim Judenmord wirft die Tatsache, dass die »Ostbahn« beim Bau des Vernichtungslagers Sobibór im Distrikt Lublin zwar ihr Bahngelände mit dem Ausladegleis vor den primitiven Gaskammern zur Verfügung stellte. Aber wenige Tage nach dem Beginn der Massenmorde im Juli 1942 schloss sie – vielleicht sogar eilfertig – das in schlechtem Zustand befindliche Gleis vom Bahnhof Cholm nach Sobibór vollständig für den Verkehr, um es baulich verstärken zu können. Himmler war deshalb völlig außer sich.19 In der Folgezeit entstand der Brief des Staatssekretärs Ganzenmüller vom 28. Juli 1942 an Himmlers Adjutanten Karl Wolff mit dem Rapport: »Seit dem 22. 7. fährt täglich ein Zug mit je 5000 Juden von Warschau über Malkinia nach Treblinka. [...] Transporte von Warschau über Lublin nach Sobibor 16 Hanno Loewy (Hg.), »Unser einziger Weg ist Arbeit«. Das Getto in Łódź 1940–1944 (Ausstellungskatalog), Frankfurt am Main 1990. 17 Alfred Gottwaldt, »Deportiert von Wien nach Minsk und Maly Trostinec. Logik und Logistik von 1200 Eisenbahnkilometern«, in: Waltraud Barton u.a. (Hg.), Maly Trostinec erinnern, Wien 2012. 18 Werner Präg/Wolfgang Jaobmeyer (Hg.), Das Diensttagebuch des deutschen Generalgouverneurs in Polen 1939–1945, Stuttgart 1975, S. 511. 19 Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, herausgegeben von Peter Witte u.a., Hamburg 1999, S. 490.
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(bei Lublin) ruhen solange, wie die Umbauarbeiten auf dieser Strecke diese Transporte unmöglich machen (ungefähr Oktober 1942).«20 Der Vorfall zeigt abermals, wie sorglos die Sicherheitspolizei bezüglich einer Verfügbarkeit der Eisenbahn disponierte, obwohl sie von ihr zutiefst abhängig war. Kooperation und Konflikte zur selben Zeit sind ein typisches Kennzeichen für den polykratischen Staat Hitlers. Eine radikale Sperrung der Strecke für fast drei Monate bildete die Ausnahme; sie brachte den organisierten Judenmord gleichwohl nicht zum Stillstand. Ungeachtet aller Krisen lösten Beamte und Funktionäre von Polizei und Eisenbahn gemeinsam die Aufgaben des NS-Staates. Am 23. Januar 1943, also ein Jahr nach der Wannsee-Konferenz und nach dem Ablauf einer zuvor abermals verhängten weihnachtlichen Verkehrssperre der Reichsbahn, schrieb Himmler zum bevorstehenden Beginn der Deportationen aus dem Bezirk Białystok an Ganzenmüller: »Hier brauche ich Ihre Hilfe und Ihre Unterstützung. Ich muss, wenn ich die Dinge rasch erledigen will, mehr Transportzüge bekommen. Ich weiß sehr wohl, wie angespannt die Lage für die Bahn ist und welche Forderungen an Sie immer gestellt werden. Trotzdem muß ich an Sie die Bitte richten: Helfen Sie mir und verschaffen Sie mir mehr Züge.«21
Vielfalt der Fahrtziele Zur späteren Verteidigungsstrategie des ehemaligen Staatssekretärs Ganzenmüller in seinem Düsseldorfer Strafprozess von 1972 gehörte der Hinweis auf die beträchtliche Anzahl von bis zu 30.000 täglichen Zugbewegungen bei der Reichsbahn. Er behauptete, deshalb habe er sich nicht persönlich um die »wenigen Sonderzüge mit Juden« kümmern können. Sein Brief an Karl Wolff vom 28. Juli 1942 beweist das Gegenteil. In der Tat ist aber die Zahl der umfangreichen Transporte zur Vernichtung der Juden innerhalb der besetzten Länder Europas selten größer als zwei oder drei Züge am Tag gewesen. Ein Wochenbericht der Generalbetriebsleitung Ost der Reichsbahn in Berlin (R 5/3640) an den Reichsverkehrsminister vom 12. Dezember 1942 nennt die Gesamtzahl der im Monat Oktober 1942 gefahrenen Sonderzüge mit 755 Stück. Davon waren 91 DaZüge (Sonderzüge für Juden) und ähnliche mit zusammen 312.326 Personen. Im Monat November 1942 wurden insgesamt 817 Sonderzüge gefahren. Davon waren 72 Da-Züge und ähnliche mit zusammen 173.239 Personen.
20 Geheimschreiben Ganzenmüller an Wolff, ohne Betreff und Az., vom 28. Juli 1942, Nürnberger Dokument 2207-NO; faksimilierter Abdruck bei Raul Hilberg, Sonderzüge nach Auschwitz, Mainz 1981, S. 177. 21 Geheimschreiben Himmler an Ganzenmüller, ohne Betreff, Az. I 195/43 A, vom 23. Januar 1943; faksimilierter Abdruck bei Hilberg, Sonderzüge, S. 213–214; Dienstkalender Heinrich Himmlers, S. 628.
Die Rolle der Reichsbahn
Abbildung 6 Laufwege der Sonderzüge für Juden ab Zugnummer »Da 201« von Wien nach Minsk über 1200 Streckenkilometer zwischen Mai und Oktober 1942 Quelle: Deutsches Kursbuch vom Sommer 1942, mit Markierung von Alfred Gottwaldt
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Die folgende Übersicht nennt für die Periode von Oktober 1941 bis Juni 1943 zunächst die Ziele der 111 größeren Transporte allein aus dem »Altreich« in die Lager des Ostens. Adolf Eichmanns Auftrag erstreckte sich aber bereits von Anfang an auf das »Großdeutsche Reich« mit Wien und Prag. Diese 111 Züge sind daher auch in der Summe von insgesamt 195 umfangreicheren Transporten aus dem »Großdeutschen Reich« enthalten, also einschließlich der Züge aus der »Ostmark« und aus dem »Protektorat«. Nicht aufgenommen in diese Berechnung sind die hier rund 80 Transporte innerhalb des »Protektorats«, die vor allem zunächst nach Theresienstadt rollten, sowie die Transporte aus anderen europäischen Ländern in die Vernichtungslager.22
Ziele und Zahlen der »größeren« Transporte aus dem Deutschen Reich von Oktober 1941 bis Juni 1943 Zeitabschnitt
Fahrtziel
»Altreich«
»Großdeutschland«
Okt.–Nov. 1941 Nov. 1941 Nov. 1941 Nov. 1941–Feb. 1942 März–Juni 1942 Mai–Okt. 1942 Aug.–Okt. 1942 Mai 1942–Juni 1943 Sept.–Okt. 1942 Juni–Juni 1943
Litzmannstadt Minsk Kauen (Kowno) Riga* Lublin/Warschau* Maly Trostinec* Riga und Raasiku* Auschwitz* Treblinka* Theresienstadt
10 Züge 5 Züge 4 Züge 14 Züge 22 Züge 2 Züge 5 Züge 21 Züge 1 Zuge 27 Züge
20 Züge 7 Züge 5 Züge 20 Züge 43 Züge 17 Züge 7 Züge 27 Züge 11 Züge 38 Züge
111 Züge
195 Züge
Summe von Oktober 1941 bis Juni 1943
Mit einem Stern (*) sind in der Tabelle diejenigen Ziele markiert, an denen bereits Züge aus dem »Durchgangsghetto« Theresienstadt eintrafen. Die Deportierten dürfen nur einmal gezählt werden. Auschwitz wurde Schritt für Schritt zwischen Anfang 1942 und Ende 1944 zum Ziel von Transporten mit nahezu einer Million Menschen aus fast sämtlichen Orten Europas, darunter noch viele aus dem Westen des Generalgouvernements und sogar aus besetzten sowjetischen Gebieten. Transporte aus dem Deutschen Reich trafen in Auschwitz im Mai 1942 ein, doch erst seit Oktober 1942 in größerer Zahl.23 Für die frühen Judentransporte aus dem Reich im Herbst und Winter 1941/42 wurden überwiegend ältere Personenwagen 3. Klasse aus der verfügbaren »Sonderzugreserve« 22 Nach Gottwaldt/Schulle, Judendeportationen, S. 443–467. 23 Danuta Czech, Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939– 1945, Reinbek bei Hamburg 1989.
Die Rolle der Reichsbahn
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verwendet, weil die Wehrmacht fast sämtliche Güterwagen für sich beanspruchte und überhaupt weniger Sonderzüge gefahren wurden.24 Diese Feststellung widerspricht der kollektiven Erinnerung, die auf Bilder vom Eintreffen der »Ungarntransporte« in Auschwitz im Frühsommer 1944 rekurriert. Die Deutsche Reichsbahn besaß am Jahresende 1942 nicht weniger als 270.000 gedeckte Güterwagen. Bei Wagenmangel konnte sie zudem auf Güterwagenbestände benachbarter Eisenbahnverwaltungen zurückgreifen. Viele Wagen waren zu ruinösen Bedingungen in Frankreich »angemietet« worden.25 Innerhalb des Generalgouvernements wurden 1942 vom Fahrplanbüro der »Ostbahn« in Krakau für die Judentransporte der »Aktion Reinhard« dauerhaft 200 bis 300 gedeckte Güterwagen bereitgehalten. Daraus konnten täglich bis zu vier Sonderzüge über die dort relativ kurzen Strecken in die Mordfabriken von Bełżec, Sobibór und Treblinka gebildet werden. Wenn man den geeigneten Fahrzeugbestand der Ostbahn nur mit 10.000 Waggons annimmt, entspricht dieser Wert lediglich zwei bis drei Prozent der verfügbaren Kapazitäten. Seit dem 22. Juli 1942 wurden, wie in Ganzenmüllers Brief zu lesen stand, an jedem Tag 5.000 bis 6.000 Menschen in einem Zug von 60 Güterwagen aus Warschau nach Treblinka deportiert und dort ermordet. Ab dem 6. August 1942 kam zeitweilig täglich noch ein weiterer solcher Zug nach Treblinka hinzu, bis diese Mordstätte bald darauf wegen Überfüllung zusammenbrach.26 Nach einer erst im Jahre 2001 veröffentlichten deutschen Funkmeldung aus Krakau waren bis zum Jahresende 1942 bereits 1.274.166 Juden in den Gaskammern der »Aktion Reinhard« getötet worden, nämlich 434.508 Menschen in Bełżec, 24.733 in Lublin-Majdanek, 101.370 in Sobibór und 713.555 Menschen in Treblinka.27 Die scheinbare Präzision der Zahlen ist eine oberflächliche Fälschung, gibt aber die zuvor von Wolfgang Scheffler berechneten Größenordnungen zutreffend wieder. Viele andere Juden Polens wurden an ihren Wohnorten getötet.28
Anzahl der Transporte Niemand außer Wolfgang Scheffler in seinem Gutachten für das Strafverfahren gegen Albert Ganzenmüller von 1972 mochte sich bislang der Aufgabe stellen, die innerhalb Europas durchgeführten »Judentransporte« während des Zweiten Weltkriegs unter dem Gesichtspunkt der jeweils zurückgelegten Verkehrsrelationen auf der Eisenbahn als 24 Alfred Gottwaldt, »Der Güterwagen als ›Raum der Gewalt‹ und als Symbol der Vernichtung«, in: Gerhard Botz u.a. (Hg.), Räume extremer Gewalt im Europa des 20. Jahrhunderts, Wien 2012. 25 Deutsche Reichsbahn (Hg.), Statistische Angaben über die Deutsche Reichsbahn für das Geschäftsjahr 1942, Berlin 1943, S. 162. 26 Hilberg, Sonderzüge nach Auschwitz, S. 178. 27 Peter Witte/Stephen Tyas, »A New Document on the Deportation and Murder of Jews during ›Einsatz Reinhardt‹ 1942«, in: Holocaust and Genocide Studies 15 (2001) S. 468–486. 28 Dieter Pohl, Von der »Judenpolitik« zum Judenmord. Der Distrikt Lublin des Generalgouvernements 1939–1944, München 1993.
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komplexes Zahlenwerk zusammenzustellen. Bei der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem nahm ab 2005 der bereits verstorbene israelische Historiker David Bankier ein Kalendarium sämtlicher Transporte in Angriff, das nicht abgeschlossen ist. Der Versuch birgt ähnlich wie die Berechnungen der zahlenmäßigen »Dimension des Völkermords« beträchtliche Schwierigkeiten, denn die Dunkelziffer an Transporten ist noch immer zu hoch für eine gesicherte Zählung. Erhebliche Probleme der Darstellung resultieren zudem aus unterschiedlichen Grenzziehungen der europäischen Länder während des Krieges und danach.29 Kaum verlässliche Angaben sind auch über die Transporte jüdischer und nichtjüdischer Häftlinge aus einem deutschen Lager zum nächsten vorhanden, die sich als »Häftlingsströme« bezeichnen lassen. Viele jüngere Juden wurden dabei im Verlauf der geplanten »Vernichtung durch Arbeit« nach kürzerer oder längerer Zeit von dem einen an einen anderen Ort zur Zwangsarbeit verschleppt, zumeist schließlich doch noch in ein Tötungszentrum. Als Beispiel sei auf einen Transport mit vermutlich 2.216 Insassen in rund vierzig Güterwagen hingewiesen, der am 2. November 1943 von Riga über Königsberg und Warschau bis zum Lager Auschwitz geleitet wurde. Nach einem Fahrweg von rund 1.170 km traf er am Morgen des 5. November 1943 in Birkenau ein. Nur etwa 150 Menschen daraus wurden ins Lager aufgenommen, die anderen sogleich zu den Gaskammern geführt und ermordet.30
Versuche der Zählung Elemente einer Berechnung der Transporte sollen hier skizziert werden. Nimmt man aus Deutschland (»Altreich«) mit Luxemburg allein etwa 110 Massentransporte von jeweils mehr als 400 Insassen – das ist die Zahl, ab der die Reichsbahn den fünfzigprozentigen Rabatt auf den Fahrpreis gab – sowie aus Österreich weitere 50 solcher Transporte an, so wäre hier zunächst an etwa 160 größere Transporte zu denken. Daneben wurden etwa 385 bis 400 kleine Transporte mit jeweils bis zu 400 Menschen aus dem »Altreich« in die Lager sowie zahllose Zuführungsfahrten zu den größeren Transporten durchgeführt. Hinzu kommen bis zu 120 Transporte mit böhmischen und mährischen Juden innerhalb des »Protektorats« vorwiegend nach Theresienstadt, darunter fast 80 größere Transporte. Die Zwischensumme für das »Großdeutsche Reich« läge damit schon bei rund 600 Transporten. Die mehr als 50 Transporte der Juden von Litzmannstadt nach Kulmhof 29 Wolfgang Benz, Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1991. 30 Czech, Kalendarium, S. 645; Wolfgang Scheffler/Diana Schulle (Hg.), Buch der Erinnerung. Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden, München 2003, S. 39; Andrej Angrick/Peter Klein, Die »Endlösung« in Riga. Ausbeutung und Vernichtung 1941–1944, Darmstadt 2006, S. 401.
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(Chełmno) im Reichsgau Wartheland sowie die 65 größeren Transporte von Theresienstadt zu Vernichtungsstätten im Osten wären dagegen gesondert auszuweisen, um eine doppelte Zählung dieser Opfer zu vermeiden. Gleiches gilt für die als »Häftlingsströme« bezeichneten Bewegungen, deren Zahl unbekannt ist. Die eher wenigen Transporte aus Norwegen und Dänemark im Norden Europas waren zumeist mit anderen Deportationen aus dem Reich verbunden und sind hier deshalb nicht gezählt. Für die westeuropäischen Länder lässt sich mit etwa 79 größeren Transporten von Juden aus Frankreich, mit etwa 26 Transporten aus Belgien und mit etwa 100 Transporten aus den Niederlanden rechnen. Bereits ohne die vorangegangenen Verschleppungen auf der Eisenbahn im Binnenverkehr dieser drei Länder zu den Sammellagern von Drancy, Malines und Westerbork ergäbe sich eine weitere Zwischensumme von mehr als 200 Zügen. Aus dem Süden und Südosten Europas wären in die Berechnung etwa 22 Transporte von Juden aus Griechenland, ungefähr 10 größere Transporte aus Italien, ferner 1 Transport aus Albanien, etwa 5 bis 8 Transporte aus neubulgarischen Gebieten sowie etwa 5 bis 8 Transporte aus den damaligen Nachfolgestaaten Jugoslawiens einzubeziehen. Die eigenständigen Deportationen von Juden innerhalb Rumäniens aus seinen damals neueroberten Gebieten Bessarabien und Nordbukowina nach dem östlich gelegenen Transnistrien sind hier nicht berücksichtigt. Die gleichfalls außerordentlich zahlreichen 437.400 Juden aus ungarischen Gebieten wurden in etwa 147 dramatisch überfüllten Güterzügen im Frühsommer 1944 deportiert. Bei der nächsten Zwischensumme wäre also für Süd- und Südosteuropa nochmals von mindestens 200 Zugfahrten zu sprechen. Im Osten Mitteleuropas lassen sich zunächst für die Slowakei 57 Transporte von Juden im Jahre 1942 sowie 11 Transporte zum Jahresende 1944 nachweisen. Die Massentransporte der »Aktion Reinhard« innerhalb des Generalgouvernements Polen erfassten ungefähr 1,5 bis 1,8 Millionen Menschen; sie bedürfen weiterhin präziser Aufklärung und können nur oberflächlich auf 300 bis 400 Zugfahrten geschätzt werden. Diese Zahl erscheint niedrig, erklärt sich aber aus der hohen Zahl der mit jedem einzelnen Zug deportierten Menschen. Bis zu 200 Menschen wurden in jeden dieser Güterwagen gepresst. Hinzu kommen Transporte aus den besetzten vormals sowjetischen Gebieten wie Białystok und Grodno in deutsche Vernichtungslager mit etwa 10 bis 15 Transporten. In der Zwischensumme wäre für Ostmittel- und Osteuropa hier nochmals an mindestens 500 Zugfahrten zu denken. Grobe Berechnungen ergeben also weit mehr als 1.500 »größere« Zugfahrten mit etwa drei Millionen Menschen in die Vernichtungslager; wenigstens 2.000 Zugbewegungen können es unter Einbeziehung der »kleinen« Transporte durchaus gewesen sein. Während des Zweiten Weltkriegs waren demnach vom Herbst 1941 bis zum Frühjahr 1945 rechnerisch an jedem einzelnen Kalendertag durchschnittlich ein oder zwei umfangreiche »Judentransporte« auf den Schienen Europas zu den Vernichtungsstätten unterwegs.
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Ergebnis Nach den Wünschen von Sicherheitspolizei und SS schrieben die Beamten der Deutschen Reichsbahn täglich Fahrpläne in die Vernichtungslager aus, kontrollierten den Zustand der dortigen Anschlussbahnen, heizten Lokomotiven an, bildeten die Züge und stellten die Weichen. Am Ende der Gleise der Reichsbahn standen damals, um es mit den Worten Wolfgang Schefflers direkt zu formulieren, allenthalben »tödliche Fabriken, die ihren Rohstoff auf der Schiene bezogen«. Waffenproduktion, Nachschubversorgung und Judenmord konnten als Transportaufgaben stets nebeneinander und bis zum November 1944 nahezu unbehelligt von Luftangriffen auf den Bahnstrecken vonstattengehen.31 Im August 1944 hatte Rüstungsminister Speer die Produktion auf einen Höchststand getrieben, der eine unglaubliche Vielzahl von Bewegungen auf der Schiene erforderte. Einige Verschiebebahnhöfe von Berlin wurden jedoch erst im Frühjahr 1945 aus der Luft angegriffen, andere bis zum Kriegsende nicht beschädigt.32 Kurz gesagt: Der Jahreszyklus oder aber die Zeit lösten – zusammen mit kräftiger Anstrengung des Bahnpersonals – jede Transportkrise der Reichsbahn, auch in ihrem Beitrag zum Judenmord. Der Vormarsch der deutschen Armeen auf Moskau im Herbst 1941 mochte an der Temperatur, an der ungenügenden Versorgung der Truppe und aus strategischen Gründen ein für alle Mal gescheitert zu sein: Die Transporte für den Judenmord bildeten gleichzeitig eine völlig andere logistische Aufgabe, die sich ohne erhebliche Schwierigkeiten immer wieder um einige Wochen verschieben und umlenken ließ. Wenn Heydrich und Eichmann über logistische Kompetenz verfügten, so bestand diese offenbar darin, jede Veränderung der Transportlage und der »Vernichtungskapazitäten« schnell analysieren und sofort umdenken zu können. So war die regionale Transportkrise des Winters 1941/42 bei Minsk zwar zeitweilig unübersehbar, sie brachte aber für das RSHA keine schwerwiegenden Defizite mit sich. Eichmanns Züge wurden umgeleitet oder kurz vertagt. Es scheint, als sei die Nachricht von der katastrophalen Verkehrslage im November 1941 nicht einmal bis zu Heydrich durchgedrungen oder von ihm schlicht ignoriert worden. Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD vertraute weiterhin auf die Omnipotenz des Dienstleistungsunternehmens Deutsche Reichsbahn und hielt deshalb die Anwesenhweit eines ihrer Vertreter für nicht erforderlich. Heydrich dürfte während der Wannsee-Konferenz alle Fragen einer »Logistik der Endlösung« vernachlässigt haben, weil er sie für lösbar hielt.
31 Heiner Lichtenstein, Warum Auschwitz nicht bombardiert wurde, Köln 1980. 32 Richard Vahrenkamp, Die logistische Revolution. Der Aufstieg der Logistik in der Massenkonsumgesellschaft, Frankfurt am Main 2011, S. 71–73.
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Eichmanns Zahlen für die Niederlande Zu Adolf Eichmanns Vorbereitungen für die Wannsee-Konferenz gehörte die Erstellung einer Übersicht über die Anzahl der Juden in den europäischen Staaten und Regionen, die in Form einer Tabelle in die Seite sechs des Protokolls einging. Eichmann hatte die unter Gestapo-Befehl stehende »Reichsvereinigung der Juden in Deutschland« gezwungen, ihm diese Zahlen zu liefern.1 Nach statistischen Handbüchern hatte die Reichsvereinigung für die Niederlande eine Zahl von 135.000 Juden (nach Religion) ermittelt. Eichmann wich jedoch dort von diesen Zahlen ab, wo ihm eigene, aktuelle Quellen zur Verfügung standen. Für die Niederlande trug er deshalb die Zahl 160.800 in seine Tabelle ein. Wie kam Eichmann zu dieser und wie zutreffend war diese? Die Quellen- und Forschungslage erlaubt es, diese Frage umfassend zu beantworten. Die besondere Struktur der Verwaltung der besetzten Niederlande als »Reichskommissariat« mit dem Fortbestand von niederländischen Behörden unter deutscher Aufsicht erleichterte die Zuarbeit von niederländischen Beamten. Wie waren die beteiligten niederländischen Behörden organisiert und wie kooperierten sie mit den deutschen Besatzungsinstanzen? Diese Interaktion sowie der Übermittlungsweg der Daten an Eichmann sind der Gegenstand der folgenden Untersuchung. Da in Amsterdam als einziger Stadt in Westeuropa der Versuch unternommen wurde, ein Ghetto zu errichteten, soll zudem die Frage gestellt werden, welche Auswirkungen die gleichzeitig durchgeführte statistische Erfassung auf die Ghetto-Pläne hatte. Schließlich liefert die Untersuchung die Erkenntnis, dass die Frage, wer eigentlich als »Jude« gelten sollte, im Januar 1942 noch nicht abschließend geklärt worden war. Offensichtlich verfolgte die SS konsequent das Ziel der Überwindung der Definition der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz, die ihr nicht weit genug ging. In diesem Kontext stand auch Heydrichs Versuch, während der Wannsee-Konferenz den Judenbegriff und damit der Zahl der zu Deportierenden auszuweiten − das mit fast vier Seiten längste behandelte Einzelthema im Protokoll.
1 Vgl. Dokumententeil, Dok. 1.1 in diesem Band.
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Christoph Kreutzmüller
»Staatliche Inspektion der Bevölkerungsregister« und deutsche »Aufsichtsverwaltung« Nach dem Ersten Weltkrieg erlebte der niederländische Staatsapparat eine umfassende Modernisierung.2 Dabei wurde auch die Aufsicht der Einwohnermeldeämter umstrukturiert und im Statistischen Zentralamt (Centraal Bureau voor Statistiek) 1928 die Staatliche Inspektion der Bevölkerungsregister (Rijksinspektie der Bevolkingsregister) eingerichtet. Vier Jahre später wurde diese Inspektion zum eigenständigen Referat im Innenministerium (Ministerium voor Binnenlandse Zaken) erhoben.3 Nach einem erfolgreichen Großversuch stellte sie 1936 die »Bevölkerungsbuchhaltung« auf das sogenannte HollerithSystem um.4 Hierbei wurden Informationen auf Lochkarten übertragen. Entsprechende Sortiermaschinen, die von der Hollerith–Maschinen Gesellschaft – einer Tochter der IBM mit Sitz in Berlin – hergestellt wurden, erlaubten einen schnellen Zugriff auf jene Karten, die an bestimmten Stellen gelocht waren, und somit auf Personen, die einem bestimmten Charakteristikum oder Profil entsprachen. Erfasst wurde auch die Religionszugehörigkeit.5 Das niederländische System wurde im Jahr 1937 auf einer Fachtagung in Paris von der deutschen Delegation wegen seiner Perfektion und Verwendbarkeit für die Eugenik besonders gelobt.6 Worauf die deutsche Delegation abzielte, machte ihr stellvertretender Leiter Friedrich Zahn bald darauf deutlich: In einem Aufsatz in der von ihm herausgegebenen Fachzeitschrift sprach er ganz offen davon, dass die Statistik einen Beitrag zur »Ausmerze erbbiologisch unerwünschter Volksteile« leisten könne.7 Zum Lob von außen gesellte sich bald Anerkennung im Inland: 1938 wurde der Organisator der erfolgreichen Reorganisation der »Bevölkerungsbuchhaltung«, Jakobus Lambertus Lentz, der seine Karriere als einfacher Schreiber begonnen hatte, zum Leiter der Staatlichen Inspektion ernannt.8 2 Peter G. van Ijsselmuiden, Binnenlandse Zaken en het onstaan van de moderne overheidsbureaucratie in Nederland 1813–1940, Groningen 1988, S. 205–207. 3 G. H. J. Seegers/M. C. Wens, Persoonlijk gegeven. Grepen uit de geschiedenis van bevolkingsregistratie in Nederland, Amersfoort 1993, S. 85; Louis De Jong, Het Koninkrijk der Nederlanden der Tweede Wereldoorlog, 14 Bde., Bd. V. 1, Den Haag 1969–1991, S. 445–448. 4 H. W. Methorst/J. L. Lentz, »Die Volksregistrierung und das neue in den Niederlanden eingeführte einheitliche System«, in: Allgemeines Statistisches Archiv (ASA) 26 (1936/37), Heft 1, S. 61–84, hier S. 77–82. 5 Joseph Buck, »Die Religion in den Volkszählungen des In- und Auslandes«, in: ASA 27 (1937/38), Heft 1, S. 23–29, hier S. 26 f. Vgl. Edwin Black, IBM und der Holocaust. Die Verstrickung des Weltkonzerns in die Verbrechen der Nazis, München u.a. 2001, S. 386. 6 Vgl. Anmerkung von Jan Rogier, in: De Jong, Koninkrijk, Bd. XIV. 1, S. 435. 7 Friedrich Zahn, »Fortbildung der deutschen Bevölkerungsstatistik durch erbbiologische Bestandsaufnahme«, in: ASA 27 (1937/38), Heft 2, S. 180–195, Zitat: S. 181. Vgl. Götz Aly/Karl-Heinz Roth, Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2000 (Berlin 1984), S. 35 f. 8 J. T. Veldkamp, Het Amsterdamse Bevolkingsregister in Oorlogstijd, Assen 1954, S. 7.
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Nach der Besetzung der Niederlande im Mai 1940 wurde dort das »Reichskommissariat für die besetzten niederländischen Gebiete« als »Aufsichtsverwaltung«9 etabliert.10 Der Erfolg des Reichskommissars Arthur Seyß-Inquart und seines relativ kleinen Verwaltungsapparates hing von der Kooperation der niederländischen Behörden ab.11 Dabei war Seyß-Inquarts Ausgangsposition denkbar fragil: Der Reichskommissar verfügte weder über eine Hausmacht, noch über die uneingeschränkte Herrschaft in den Niederlanden. Denn einerseits waren dem Beauftragten für den Vierjahresplan, Hermann Göring, von Adolf Hitler weitreichende Interventionsbefugnisse auf dem Gebiet der Wirtschaftssteuerung eingeräumt worden.12 Andererseits entzog sich auch der Höhere SS- und Polizeiführer (HSSPF), Hanns Albin Rauter, wenigstens teilweise der Kontrolle des Reichskommissars, zumal die Niederlande als »Oberabschnitt Nordwest« auf der Verwaltungsebene der SS dem Deutschen Reich angegliedert wurden.13 Mit großer Erleichterung muss Seyß-Inquart demzufolge aufgenommen haben, dass die verbeamteten niederländischen Staatssekretäre (Secretarissen Generaal), die nach der Flucht des Kabinetts die Ministerien führten, ihm versicherten, sie würden loyal weiterarbeiten.14 Wenn auch offensichtlich war, dass seine Ernennung »schlicht völkerrechtswidrig« war,15 so akzeptierten die Beamten wie auch weite Teile der Bevölkerung Seyß-Inquart zunächst, weil er in ein Machtvakuum gestoßen war. Einige Beamte hofften zudem, unter einem Reichskommissar effektiver als unter parlamentarischer Kontrolle arbeiten zu können.16 Dies galt wohl auch für den seit 1931 amtierenden Staatssekretär des Innenministeriums. Karel J. Frederiks, einer von drei Staatssekretären, die bis in 9 Dieser Begriff wurde so von Werner Best gebraucht, um eine Besatzungsverwaltung zu charakterisieren, in der die bestehenden Behörden »wohlfeil« unter die Kontrolle des »Führungsvolkes« gestellt werden. Vgl. Werner Best, »Grundfragen der deutschen Großraumverwaltung«, in: Festgabe für Heinrich Himmler, Darmstadt 1941, S. 33–60, hier S. 40 und S. 56. 10 Gerhard Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration. Die Niederlande unter deutscher Besatzung 1940–1945, München 1984, S. 18; Peter Romijn, Burgemeesters in Oorlogstijd. Besturen onder Duitse bezetting, Amsterdam 2006, S. 130–133. 11 Vgl. Arthur Seyß-Inquart, »Erster Bericht über den Zustand und die Entwicklung in den besetzten Niederlanden, Juli 1940«, in: IMT, Bd. 26, Doc. PS 997, S. 413–429. Vgl. Hirschfeld, Fremdherrschaft, S. 87. 12 Christoph Kreutzmüller, Händler und Handlungsgehilfen. Der Finanzplatz Amsterdam und die deutschen Großbanken (1918–1945), Stuttgart 2005, S. 103–112. 13 N. K. C. A. in’t Veld (Hg.), »Inleiding«, in: ders. (Hg.), SS en Nederland. Dokumenten uit SSArchieven, 1933−1945, 2 Bde., Den Haag 1976, hier Bd. 1, S. 71–77. 14 Konrad Kwiet, Reichskommissariat Niederlande. Versuch und Scheitern nationalsozialistischer Neuordnung, Stuttgart 1968, S. 69–72; Benjamin A. Sijes, De Februari-staking. 25–26 februari 1941, Amsterdam 1978 (Den Haag 1954), S. 3. 15 Andreas Toppe, »Besatzungspolitik ohne Völkerrecht?«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 50 (2002), S. 99–110, Zitat: S. 103. 16 Chris van der Heijden, Grijs verleden. Nederland en de Tweede Wereldoorlog, Amsterdam u.a. 2002, S. 132–138; Hirschfeld, Fremdherrschaft, S. 49 f.
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die Endphase der Besatzung im Amt blieben, sah seine Hauptaufgabe darin, Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten und darüber hinaus eine direkte Nazifizierung des Verwaltungsapparates zu verhindern. Um dies zu erreichen, war er inhaltlich zu weitreichenden Zugeständnissen bereit.17 So legte Frederiks eine distanzierte Haltung gegenüber der Judenverfolgung an den Tag. Selbst als die Deportationen anliefen, betonte er, dass es sich dabei »um ein europäisches Problem handele, an dessen Durchführung nichts zu ändern sei«. Damit wurde nach Meinung des Auswärtigen Amts »der Abtransport der Juden auch von Seiten der niederländischen Behörden wenn nicht gedeckt, so doch ohne offiziellen Einspruch zu erheben gutgeheissen [sic]«.18 Das Entgegenkommen der niederländischen Beamten wich erst seit Frühjahr 1943 – als sich die deutsche Niederlage immer deutlicher abzeichnete – einer eher konfrontativen Haltung. Bis dahin war die Besatzungsverwaltung aus deutscher Sicht eine »Erfolgsgeschichte«.19 Die Einführung der Ausweispflicht fiel in diese Periode der nachgerade harmonischen Zusammenarbeit zwischen Besatzungsinstanzen und niederländischen Behörden: Im Juni 1940 trug der HSSPF den Staatssekretären das Anliegen vor, nach deutschem Vorbild in den Niederlanden Kennkarten, das heißt Personalausweise, einzuführen. Obwohl die Regierung erst wenige Monate zuvor die Einführung einer solchen Kennkarte aus grundsätzlichen Erwägungen abgelehnt hatte, kamen die Staatssekretäre nun überein, dem deutschen Wunsch zu entsprechen.20 Von Frederiks mit der Durchführung beauftragt, arbeitete Lentz innerhalb weniger Wochen ein ausgeklügeltes Kennkartensystem aus, das er bereits Mitte August Fachleuten des Reichsicherheitshauptamtes (RSHA) vorstellte. Diese zeigten sich – wie sich Lentz nach dem Krieg in naivem Stolz erinnerte – beeindruckt und mussten konstatierten, dass das niederländische System dem deutschen überlegen war.21 Die erforderlichen Vorbereitungen waren so umfang17 Romijn, Burgemeesters, S. 44–48 und S. 114 f; ders., »Kein Raum für Ambivalenzen. Der Chef der niederländischen Inneren Verwaltung K. J. Frederiks«, in: Gerhard Hirschfeld/Tobias Jersak (Hg.), Karrieren im Nationalsozialismus. Funktionseliten zwischen Mitwirkung und Distanz, Frankfurt am Main u.a., S. 147–173, hier S. 147 f. und S. 153–162. Vgl. Hirschfeld, Fremdherrschaft, S. 31. 18 Bericht Otto Benes an das Auswärtige Amt, 31.7.1942, in: PA AA, R 100876, Bl. 12 u. 12r, Zitate: Bl. 12r. 19 Johannes Houwink ten Cate, »Der Befehlshaber der Sipo und des SD in den besetzten niederländischen Gebieten und die Deportation der Juden 1942−1943«, in: ders. u.a. (Hg.), Die Bürokratie der Okkupation. Strukturen der Herrschaft und Verwaltung im besetzten Europa, Berlin 1998, S. 197–222, hier S. 197. 20 Vgl. Karel J. Frederiks, Op de Bres 1940–1944. Overzicht van de werkzaamheden aan het Departement van Binnenlandse Zaken gedurende de Oorlogsjaren, Den Haag 1945, S. 59. Vgl. auch Peter Romijn, »Frederiks’ Op de bres. Een ambtelijke apologie«, in: Jaarboek van het Nederlands Instituut voor Oorlogsdocumentatie (JbNIOD) 10 (1999), S. 140–164, hier S. 147–151. 21 Jacobus L. Lentz, Ambtelike Herinneringen. Hektographierter Bericht, S. 9, in: Nederlands Instituut voor Oorlogsdocumentatie (NIOD), Doc. I, 1045, Map A, o.Bl. Vgl. auch Black, IBM; S. 403 f.; De Jong, Koninkrijk, Bd. V. 1, S. 448–455. Zur deutschen Kennkarte: Aly/Roth, Erfassung, S. 64–66.
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reich, dass mit der Ausgabe der Kennkarten erst im Frühjahr 1941 begonnen werden konnte.22 Doch der Aufwand sollte sich »lohnen«, denn jetzt verfügten nicht nur die niederländischen, sondern auch die deutschen Instanzen über ein technisch ausgereiftes Kontrollinstrument und damit über ein nachgerade ideales Mittel zur Personenkontrolle.23 Zum Vergleich: Im Protektorat Böhmen und Mähren, das mehr als ein Jahr vor dem Reichskommissariat etabliert worden war und diesem hinsichtlich seiner Besatzungsstruktur und seiner wirtschaftlichen Anbindung an das Reich viel näherstand als beispielsweise Belgien oder Frankreich,24 wurde ein Ausweiszwang erst unter Reinhard Heydrichs Ägide im November 1941 eingeführt.25
Das Amsterdamer Ghetto Die Pläne zur Etablierung eines Ghettos in der Stadt Amsterdam, wo fast zwei Drittel der Juden in den Niederlanden lebten, lassen sich bis in den Januar 1941 zurückverfolgen. Am 13. Januar 1941 forderte der Beauftragte des Reichskommissars für die Stadt Amsterdam, Hans Böhmcker, die Gemeindeverwaltung auf, ihn so schnell wie möglich über die Verteilung der Juden in der Stadt in Kenntnis zu setzen: »Dazu bitte ich eine Karte in vierfacher Ausfertigung beizufügen, aus der sich die Grenzen der Judenviertel genau ergeben.« Ferner sollte gezählt werden »wie viele Wohnungen und Haushaltungen in den Judenvierteln Juden haben (sic!)« und »wie viele öffentliche Verkehrseinrichtungen die jüdischen Viertel durchkreuzten«.26 Während jedoch die Vorarbeiten anliefen, eskalierte die Lage in der Stadt. Von Generalkommissar Fritz Schmidt unterstützt, dessen Politik sich ganz offenbar an der Periode der sogenannten Machtergreifung im Deutschen Reich orientierte, verübte die niederländische SA, Weerafdeeling genannt, zahlreiche Gewalttaten gegen Juden.27 Als sich diese zur Wehr setzten und dabei ein NSB-er zu Tode kam, wies Böhmcker, nach Rücksprache mit Schmidt und Seyß-Inquart, den Polizeipräsidenten von Amsterdam an, den alten jüdischen Wohnbezirk rund um den Waterlooplein vom 12. Februar an abzu-
22 Jaques Presser, Ashes in the Wind. The Destruction of the Dutch Jews, New York 1969 (Amsterdam 1965), S. 39 f. 23 Seegers/Wens, Gegeven, S. 86. 24 Christoph Kreutzmüller/Jaroslav Kučera, »Die Commerzbank in den böhmischen Ländern und den Niederlanden«, in: Ludolf Herbst/Thomas Weihe (Hg.), Die Commerzbank und die Juden 1933– 1945, München 2004, S. 173–222, hier S. 176–183. 25 Aly/Roth, Erfassung, S. 67. 26 Abschrift Brief von Böhmcker an die Gemeinde Amsterdam, in: NIOD, Frederiks 3 b. 27 Vgl. Christoph Kreutzmüller, »Fritz Schmidt. Vom NSDAP-Kreisleiter in Minden zum Generalkommissar in den Niederlanden«, in: Mitteilungen des Mindener Geschichtsvereins 81 (2009), S. 13–28; Friso Roest/Jos Scheren, Oorlog in de stad. Amsterdam 1939–1941, Amsterdam 1998, S. 214–245.
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riegeln.28 Die Zwischenergebnisse der Gemeindeverwaltung, die diese am 15. Februar präsentierte, waren damit von der Wirklichkeit überholt worden. Die Vorkommnisse im und um das geplante Ghetto bildeten den Hintergrund einer weiteren dramatischen Entwicklung. Denn die Maßnahmen steigerten die allgemeine Unzufriedenheit der Bevölkerung in den Städten in Folge der Rationierung von Heiz-, Lebens- und Genussmitteln. Schließlich sorgte die Anordnung, dass 3.000 Werftarbeiter aus Amsterdam sich »freiwillig« zum Rüstungsproduktionseinsatz in Bremen melden sollten, für erhebliche Unruhe. Als sich nur eine ungenügende Anzahl von Metallarbeitern meldete, begann man von deutscher Seite damit, willkürlich Kräfte einzuteilen. Gegen diese Maßnahme organisierten die Werftarbeiter in Amsterdam am 17. und 18. Februar 1941 einen ersten Streik. Nach weiteren gewaltsamen Auseinandersetzungen, die in einem Angriff auf Sicherheitspolizisten durch Juden gipfelten, erfolgte am 22. und 23. Februar 1941 eine groß angelegte Razzia von Ordnungs- und Sicherheitspolizei im Ghetto. Bei dieser Razzia wurden Juden öffentlich gedemütigt und drangsaliert sowie 389 jüdische Männer willkürlich verhaftet. Als gerüchteweise bekannt wurde, dass die festgenommenen Juden in ein deutsches Konzentrationslager gebracht werden sollten, wuchs die Empörung der Bevölkerung. Am 25. und 26. Februar 1941 entwickelte sich so ein breitgefächerter Streik in Amsterdam und der umliegenden Provinz Noord Holland. So wurden z.B. die Werften (weiter) bestreikt, der Straßenbahnverkehr lahm gelegt und öffentliche Einrichtungen geschlossen.29 Obgleich die frühe Nachkriegsgeschichtsschreibung den Februarstreik als Fanal in einem Prozess einer sich stetig steigernden Unterstützung der nichtjüdischen Niederländer für ihre jüdischen Nachbarn wertete, geht die neuere Forschung davon aus, dass der Streik eher ein einmaliges Aufbegehren war und »den Auftakt für eine Zeit der Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Juden« bildete.30 Während der Streik niedergeschlagen wurde, wurde die Isolierung des Ghettos Ende Februar 1941 aufgegeben, die Schilder und Stacheldrahtbarrieren an seiner Grenze jedoch nicht vollständig abgebaut. Dadurch entstand ein, wie Joseph Michman es genannt hat,
28 Presser, Ashes, S. 45–49. Vgl. Rundbrief von Böhmcker, 17. Februar 1941, in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945 (VeJ), Bd 5, West- und Nordeuropa 1940–Juni 1942, bearbeitet von Katja Happe, Michael Mayer und Maja Peers, München 2012, Dok. 58. 29 Bericht von Otto Bene an das Auswärtige Amt vom 16. Januar 1941, in: Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918–1945, Serie D: 1937–1945, Band XI.2 Die Kriegsjahre, 4/2, 13. November 1940 bis 31. Januar 1941, Bonn 1964, S. 931–934. Vgl. Bob Moore, Slachtoffers en overlevenden. De nazi-vervolging van de Joden in Nederland, Amsterdam 1998 (London 1997), S. 86 f.; Seegers/ Wens, Gegeven, S. 91 f. 30 Guus Meershoek, »Der Widerstand in Amsterdam während der deutschen Besatzung«, in: Beiträge zur Nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik 14 (1997), S. 13–24, hier: S. 14. Einen Überblick über die unterschiedlichen Interpretationen des Februarstreiks gibt Annet Mooij, De Strijd om de Februaristaking, Amsterdam 2006.
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Abbildung 7 Verteilung der Juden über die Gemeinde Amsterdam, Mai 1941 Für zehn jüdische Bewohner wurde jeweils ein Punkt eingetragen. Die Karte des Statistischen Büros der Gemeinde Amsterdam zeigt deutlich, dass Juden im gesamten Stadtgebiet zu Hause waren, wenn auch eine deutliche Konzentration östlich der Amstel klar erkennbar ist. Quelle: Nederlands Instituut voor Oorlogsdocumentatie (NIOD)
»optisches Ghetto«.31 Offenbar konnte Seyß-Inquart seine – offensichtlich von persönlichen Erfahrungen als Stellvertreter von Hans Frank im Generalgouvernement inspi31 Joseph Michman, »The Controversial Stand of the Joodse Raad in the Netherlands«, in: Yad Vashem Studies 10 (1974), S. 9–68, hier S. 15.
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rierten – Ghettopläne weder ad hoc durchsetzen, noch wollte er sie ganz aufgeben. Die Planungsarbeiten jedenfalls wurden nicht gestoppt. So legte das Statistische Büro der Gemeinde Amsterdam im Mai eine mit großer Akkuratesse gefertigte Karte der »Verteilung der Juden in der Gemeinde« vor. 32 Parallel hierzu fertigen zwei Mitarbeiter des neu errichteten Judenrats (Joodsche Raad) ein umfangreiches Gutachten über ein mögliches Ghetto an, das im Juli 1941 abgeschlossen wurde.33 Im November 1941 entschied der Reichskommissar, dass die Ghettopläne vorläufig zurückgestellt werden sollten.34 Hintergrund dieses bemerkenswerten Schwebezustands war wohl einerseits, dass sich herausgestellt hatte, dass die Ghettoisierung aufwendig und die politischen Folgekosten hoch sein würden. Zweitens aber schien die physische Trennung wegen der zeitgleich durchgeführten Erfassung der Juden wohl auch nicht mehr erforderlich.
Die Erfassung der Juden Die Vorbereitungen für die Erfassung der Juden begannen im Sommer 1940, noch bevor die Etablierung eines Ghettos geplant wurde. Sehr unklare Vorstellungen bestanden anfangs, wie hoch die Zahl der betroffenen Menschen sein würde. Während beispielsweise im Stürmer im Juni 1940 gemutmaßt worden war, dass allein in Amsterdam rund 300.000 Juden lebten,35 führte das von Reichsorganisationsleiter Robert Ley herausgegebene »Nationalsozialistische Jahrbuch« gar an, dass 11,20 Prozent der Bevölkerung in den Niederlanden jüdisch seien, also insgesamt mehr als 800.000 Menschen!36 Diese Zahlen verrieten zwar ein hohes Maß an Unkenntnis und rassistischer Paranoia, beeinflussten aber wohl den Erwartungshorizont der beteiligten Besatzungsbeamten. Selbst einzelne niederländische Beamte gingen zunächst davon aus, dass zwischen 200.000 und 250.000 Menschen als Juden erfasst werden würden.37 Die Zahl der Registrierten hing auch von den Kategorien ab, die der Erfassung zugrunde lagen. Hierüber herrschte zu Beginn der Planungen im August 1940 noch Unklarheit. Kurt Rabl, rechte Hand Seyß-Inquarts in der Abteilung Rechtssetzung und Staatsrecht der Präsidialabteilung, der die Federführung der Ausarbeitung einer Erfassungsverord32 Vgl. Abb. 7. 33 Bericht über die Möglichkeiten für ein jüdisches Ghetto, Juli 1941, in: Joods Historisch Museum, Inv. Nr. 4254. 34 Joseph Michman, »Planning for the Final Solution Against the Background of Developments in Holland in 1941«, in: Yad Vashem Studies 17 (1986), S. 145–180, hier S. 165, Fußnote 53. Hervorhebung C. K. 35 »In Amsterdam«, in: Der Stürmer, 18. Jg., Nr. 23 (Juni 1940). 36 Robert Ley (Hg.), Nationalsozialistisches Jahrbuch 15 (1941), S. 393. 37 Jakobus L. Lentz, Memoires I, Registratie van Joden, handschriftliches Manuskript, S. 9, o. D. [1945/46], in: NIOD, Doc. I, 1045, Map B, o. Bl. Vgl. Michman, »Planning«, S. 159.
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nung übernommen hatte, wollte sich noch nicht festlegen. In seinem Verordnungsentwurf nahm er deshalb die rassistische Kategorisierung des Begriffs »Jude« nur vorschlagsweise auf: »Als ganz oder teilweise jüdischen Blutes ist eine Person anzusehen, wenn alle oder ein Teil (drei, zwei, ein) ihrer Großelternteile jüdischen Blutes sind.«38 Der Leiter der Hauptabteilung Inneres beim Generalkommissar für Verwaltung und Justiz, RegierungsVizepräsident Carl Stüler, hingegen vertrat eine klare Linie. Er glaubte, dass es unnötig sei, »bei den niederländischen Juden [...] über das Maß hinauszugehen, das bei den in Deutschland ansässigen Juden zur Anwendung kommt«, und empfahl eine Definition von Juden analog zum »Reichsbürgergesetz«.39 Diese Sichtweise schien sich zunächst durchzusetzen, denn die »Verordnung zur Anmeldung von Unternehmen«, die Ende Oktober 1940 erschien, basierte auf den Kategorien der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz.40 Der Anfang November 1940 erarbeitete fünfte Entwurf der geplanten Verordnung lehnte sich, wie Stüler befriedigt festhielt, »noch enger an das Reichsbürgergesetz an, als es bisher der Fall war«.41 Freilich beharrte der Befehlshaber der Sicherheitspolizei (BdS) »nach wie vor auf dem Standpunkt, dass auch Vierteljuden erfasst werden müssen«.42 Dem schloss sich offenbar der Reichskommissar an und entschied, dass alle Menschen mit auch nur einem jüdischen Großelternteil erfasst werden sollten. Dies hatte sich bereits im November 1940 angedeutet, als Seyß-Inquart bei der anlaufenden Suspendierung der Beamten den Begriff Jude auf alle Menschen mit einem jüdischen Großelternteil ausgedehnt hatte, auch wenn sich der Reichskommissar hierbei natürlich am »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« orientierte.43 Neben der Definition der von der Erfassung Betroffenen war noch ein weiteres grundlegendes Problem zu klären, auf das Stüler am 3. September hingewiesen hatte: Wenn die Verordnung, wie geplant, zeitnah nach ihrer Verkündung in Kraft treten sollte, mussten die niederländischen Beamten mit in die Planungen einbezogen werden. Sonst könne es, so Stüler, geschehen, dass die »Juden auf einmal zu vielen Tausenden sich vor dem Rathaus sammeln, um ihrer Meldepflicht zu genügen, sodann wieder weggeschickt werden, weil noch nichts vorbereitet ist«.44 Dieses »Schreckensszenario« veranlasste den Generalkommissar für Verwaltung und Justiz, Friedrich Wimmer, Frederiks über den Plan zu informieren, die Juden zu erfassen. In der nun folgenden intensiven Zusammenarbeit 38 Zweiter Entwurf für die Verordnung zur Anmeldung Personen jüdischen Blutes, o. D. [August 1940], in: NIOD, 20, 1545, o. Bl. 39 Brief von Stüler an Rabl, 3.9.1940, in: NIOD, 20, 1545, o. Bl. Da das Reichsbürgergesetz eine Definition des Begriffs Juden bekanntlich gar nicht leistete, bezog sich Stüler ganz offenbar auf die Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz. 40 Verordnung über die Anmeldung von Unternehmen, in: VOBl. Niederlande, Nr. 189/1940, 22.10.1940. Die Verordnung ist auch abgedruckt in: VeJ, Bd. 5, Dok. 42. 41 Brief von Stüler an Schlüter, 7.11.1940, in: NIOD, 20, 1545, o. Bl. 42 Vorlage von Stüler für Wimmer, 8.11.1940, in: NIOD, 20, 1545, o. Bl. 43 Brief von Seyß-Inquart an die Generalsekretäre, 4.11.1940, in: NIOD, 101a, 3d, o. Bl. 44 Brief von Stüler an Rabl, 3.9.1940, in: NIOD, 20, 1545, o. Bl.
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äußerte Frederiks zwar immer wieder grundsätzliche Bedenken, fand sich aber bereit, diese zurückzustellen, wenn es an die praktische Umsetzung der deutschen Forderungen ging. So kommentierte der Staatssekretär des Innenministeriums am 21. Oktober 1940 den dritten Entwurf der Erfassungsverordnung. Dabei wies er insbesondere darauf hin, dass eine schriftliche Anmeldung genügen müsse. Eine persönliche Anmeldung sei für die Juden »peinlich«. Er schloss seinen Brief, indem er sich »der Hoffnung hin[gab], dass die deutschen Behörden die Verordnung noch zurücknehmen. Sollte dies jedoch nicht der Fall sein, so bin ich selbstverständlich gern bereit [...] nötigenfalls in concreto anzugeben, wie die von mir erwähnten praktischen Schwierigkeiten sich beheben ließen.«45 Der Linie seines Chefs schloss sich auch der Leiter der Abteilung für Staats- und Verwaltungsrecht des Innenministeriums an. Dieser verwies am 6. November zunächst auf »grundsätzliche [...] Bedenken, [...] die berücksichtigt werden können«, regte aber an, die Erfassung der Juden zusammen mit der Einführung der Kennkarte durchzuführen, um »zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen«.46 Entsprechend freie Hand hatte die Staatliche Inspektion, welche die Durchführung der Erfassung übernahm. Das Ausmaß der selbstvergessen Distanz, mit der die Mitarbeiter dabei zu Werke gingen, erschließt sich aus einem Artikel des von Lentz herausgegebenen Monatsblatts De Bevolkings-Boekhouding (Die Bevölkerungsbuchhaltung) aus dem März 1942: Darin schrieb ein Mitarbeiter der Inspektion, dass es ihm »in den Fingern kitzle« die »Lösungen für die mit der fortschreitenden Entwicklung der Bevölkerungsbuchhaltung entstehenden unvorhergesehene Fragen zu finden«.47 Die »Verordnung über die Meldepflicht von Personen, die ganz oder teilweise jüdischen Blutes sind« wurde nach immerhin neuen Entwürfen am 10. Januar 1941 veröffentlicht, drei Tage bevor Böhmcker die Amsterdamer Gemeindeverwaltung mit den statistischen Vorarbeiten zur Etablierung eines Ghettos beauftragte. Alle Menschen, die wenigstens einen jüdischen Großelternteil hatten, wurden durch die Verordnung zur Anmeldung verpflichtet. Ein Großelternteil sollte »ohne weiteres« als jüdisch gelten, wenn es der jüdischen Gemeinde angehörte oder angehört hatte. Die Anmeldung hatte bei den örtlichen Einwohnermeldeämtern zu erfolgen. Diese wurden angehalten, die zur Meldung verpflichteten Personen auch im eigenen Melde- oder Aufenthaltsregister entsprechend zu markieren und jedwede Veränderung umgehend der Staatlichen Inspektion mitzuteilen.48
45 Brief von Frederiks an Stüler, 21.10.1940, in: NIOD, 20, 1545, o. Bl. Vgl. Romijn, Burgemeesters, S. 230 f. 46 Brief des Leiters der Abteilung Staats- und Verwaltungsrecht im niederländischen Innenministerium an Stüler, 6.11.1940, in: NIOD, 20, 1545, o. Bl. (Hervorhebung C. K.). 47 J. de Bliek, »Het Bevolingsregister en de Wetenschap«, in: De Bevolkings-Boekhouding, Nr. 51 (März 1942), S. 569. 48 Verordnung zur Anmeldung von Personen, die ganz oder teilweise jüdischen Blutes sind, in: VOBl., Nr. 6/41, 10.1.1941. Die Verordnung ist auch abgedruckt in: VeJ, Bd. 5, Dok. 54.
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Zwar sollte die Verordnung vierzehn Tage nach ihrer Verkündung am Freitag, den 24. Januar 1941 in Kraft treten, doch wurden die entsprechenden Arbeitsanweisungen erst am Montag, den 27. Januar 1941 von Frederiks im Niederländischen Staatsanzeiger (Nederlandsche Staatscourant) veröffentlicht.49 Die Verordnung war also schon drei Tage in Kraft, bevor den ausführenden Beamten überhaupt mitgeteilt wurde, wie sie diese umsetzen sollten. Wiederum mit einiger Verzögerung, am 3. Februar 1941, veröffentlichte Frederiks im Staatsanzeiger nähere Erläuterungen, nach denen die Differenzierung zwischen »Juden« und »Mischlingen« analog zur »Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz« erfolgen sollte.50 Die Einwohnermeldeämter wurden ferner angewiesen, die Anmeldungen mit den bei ihnen geführten Personenstammkarten abzugleichen und die Stammkarten der Juden und der so genannten Mischlinge mit Karteireitern zu kennzeichnen. Sodann sollten die Anmeldeformulare an die Staatliche Inspektion gesandt werden, die von Frederiks als zentrale Aufsichtsstelle benannt worden war.51 Während die Anmeldebescheinigungen in der Regel durch die Einwohnermeldeämter ausgegeben wurden, übernahm in Amsterdam der Joodsche Raad diese Aufgabe. Dabei wurden all jene Personen nochmals in einer gesonderten Registratur erfasst, die nach der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz als jüdisch galten. Damit war die Erfassung bei der weit überwiegenden Mehrheit der Betroffenen in Amsterdam eine dreifache. 52 Der organisatorische Aufwand der Erfassung war enorm. Auch deshalb ist es bemerkenswert, dass die meisten Beamten klaglos mit den Arbeiten begannen, obwohl die endgültigen Arbeitsanweisungen zu spät an die ausführenden Instanzen gesendet worden waren. Da auch die Anmeldungsformulare erst am 31. Januar gedruckt wurden, kann dies nur bedeutet haben, dass die Beamten während der ersten Tage der Anmeldefrist Personen abweisen mussten, die versuchten, sich frühzeitig anzumelden und Stülers »Schreckensszenario« Realität geworden war. Gleichwohl würdigte der zuständige Referent Wimmers die Organisation der Erfassung am 24. März 1941 als »mustergültig«.53 Am 30. April hatten dann von 1.050 niederländischen Gemeinden 1.019 ihre Daten an die Staatliche Inspektion geliefert. Nur zwei Tage später meldete auch Amsterdam Vollzug und sendete der Staatlichen Inspektion 85.516 Anmeldeformulare. Danach waren nur noch zehn klei49 Besluit van den SecretariS-Generaal van het Departement van Binnenlansche Zaken ingevolge de verordening betreffende den aanmeldingsplicht van personen van geheel of gedeeltelijk joodschen bloede, Nederlandsche Staatscourant (NSC), 18/41 (27.1.1941), S. 1–3. Vgl. Lentz, Memoires I, S. 6 f.; ders., Herinneringen, S. 9; beide in: NIOD, Doc. I, 1045, Map A, o. Bl, 50 Besluit van den Secretaris-Generaal van het Departement van Binnenlansche Zaken ingevolge de verordening betreffende den aanmeldingsplicht van personen van geheel of gedeeltelijk joodschen bloede, NSC, 23/41 (3.2.1941), S. 1. 51 Ebenda, vgl. Presser, Ashes, S. 36. 52 Bericht von Böhmcker, 2.10.1941, in: NIOD, 20, 1260, o. Bl. Vgl. Veldkamp, Bevolkingsregister, S. 15. 53 Rechenschaftsbericht über die Handhabung der Verordnung 6/41, 24.3.1941, in: NIOD, 77, 1261, Bl. 127-131, Zitat: S. 130. Vgl. Black, IBM, S. 406 f.
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nere Gemeinden in Verzug. Deren Anmeldungen sowie einzelne Nachträge erreichten die Inspektion bis Anfang Oktober 1941.54 Da die Erfassung von der niederländischen Verwaltung organisiert und ausgeführt wurde, trug der niederländische Staatshaushalt die anfallenden Kosten.55 Wahrscheinlich haben sich fast alle Betroffenen angemeldet.56 Die Menschen hatten Angst vor den angekündigten Strafen und wussten, dass ihre Religionszugehörigkeit ohnehin in öffentlichen Registern vermerkt und von Nachbarn oft auch bemerkt worden war. Überdies war ein nicht unerheblicher Teil der Juden bereits im Zuge der Implementierung vorangegangener Maßnahmen erfasst worden. Letztendlich meldeten sich die Menschen auch an, weil sie dies als gesetzestreue Staatsbürger für ihre Pflicht hielten. Schließlich wurde die Anmeldung nicht von den Besatzungsinstanzen, sondern von niederländischen Behörden durchgeführt.57
Ein »Zentralregister der Juden und jüdischen Mischlinge« Die eintreffenden Formulare wurden in der Staatlichen Inspektion fortlaufend bearbeitet und in das Hollerith-Lochkarten-System eingelesen, obwohl dies anfangs gar nicht von den Besatzungsinstanzen angeordnet worden war.58 Trotz des damit verbundenen beachtlichen Mehraufwandes und obgleich sich einzelne Beamte prinzipiell geweigert hatten, an der Erfassung mitzuarbeiten,59 wurde die Bearbeitung der Erfassungsdaten im Spätsommer 1941 abgeschlossen.60 Am 5. September 1941 konnte der Generalkommissar für Verwaltung und Justiz eine erste Bilanz ziehen: »Die Durchführung der Verordnung Nr. 6/41 des Herrn Reichskommissars ist so gut wie abgeschlossen. Das bei der Rijksinspectie van de Bevolkingsregisters [...] eingerichtete Zentralregister aller Personen jüdischen Blutes und gemischt jüdischen Blutes in den Niederlanden zählte zum Stichtag des 27.8.41 160.820 Einzeleintragungen. Davon sind Juden 140 552 [–] Halbjuden (G I) 14 549 [–] Vierteljuden (G II) 5719. [...] Das hervorstechendste und bemerkenswerteste Ergebnis der mit der Verordnung Nr. 6/41 vorgenommenen Zählung und registermäßigen Erfassung der Juden und der jüdischen Mischlinge ist ohne Zweifel neben der zunächst unerwarteten, verhältnismäßig niedrigen Gesamtzahl die geringe Zahl der Mischlinge [...]. Mit dem Zentralregister der Juden und 54 Tammes, Belang, S. 54 f. 55 Presser, Ashes, S. 38 f. 56 Vgl. Romijn, Burgemeesters, S. 231 f. Romijn weist auch auf einige wenige Ausnahmen hin: ders., »The War 1940-1945«, in: J. C. H. Blom u.a. (Hg.), History of the Jews in the Netherlands, Oxford u.a. 2002, (Meppel 1995), S. 296–335, hier S. 305 (Anm. 36). 57 Romijn, »War«, S. 305; Moore, Slachtoffers, S. 83–85; Presser, Ashes, S. 36 f. 58 Brief von Lentz an Calmeyer, 27.5.41, in: NIOD, Doc. I, 1045, o. Bl. 59 De Jong, Koninkrijk, Bd. V. 1, S. 531 f. 60 Brief von Stüler an Wimmer, 1.9.1941, in: NIOD, 20, 1497, o. Bl.
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jüdischen Mischlinge bei der Rijksinspectie van de Bevolkingsregister in Den Haag ist nunmehr ein Instrument und eine zentrale Auskunftsstelle für alle Zweige der Verwaltung, Polizei und Rechtsprechung geschaffen, dessen Benutzung ich in allen einschlägigen Fällen empfehlen, aber auch erbitten darf. [...] Die Registereintragungen dieser niederländischen Dienststelle beruhen durchaus nicht nur auf den Angaben der meldepflichtigen Personen, sondern verarbeiten auch alle über das Ministerialreferat Innere Verwaltung getroffenen Entscheidungen in Zweifelsfällen. [...] Der enge organisatorische Anschluß des Zentralregisters an die Bevolkingsboekhouding (Bevölkerungsbuchhaltung) in den Niederlanden sichert eine schnelle Erfassung aller eingetretenen Änderungen (z. B. Wohnungsänderungen) und verbürgt so, dass die Registereintragungen laufend ein aktuelles Bild im Einzelfall und für statistische Zwecke vermitteln.«61
In seinem Resümee betrachtete Wimmer das Register also nicht nur als Auskunftsstelle, sondern auch als Instrument und gleichsam Waffe gegen die Juden. Dabei betonte er den aktiven Nutzen des »zentralen Judenregisters« durch die Möglichkeit des direkten Zugriffs auf Individuen, die sich aus der engen Zusammenarbeit zwischen der Inspektion und den Einwohnermeldeämtern ergeben hatte. Im Januar 1942 äußerte der HSSPF Rauter gleichwohl Zweifel an der Vollständigkeit der Erfassung. Es sei aufgefallen, dass sich nicht alle Träger jüdisch klingender Namen angemeldet hätten. Deshalb schlug er vor, dass die Einwohnermeldeämter ihre Registraturen noch einmal nach »jüdischen Namen« durchkämmten.62 Offenbar zu diesem Zweck gab der Leiter der Staatlichen Inspektion behände ein entsprechendes »Handbuch« heraus, in welchem alle Nachnamen von Juden in den Niederlanden mit der Zahl der Häufigkeit ihres Auftretens aufgelistet waren. Die im Zuge der Erfassung gewonnenen Daten bildeten hierfür die Grundlage.63 Ferner veröffentlichte Lentz Anfang 1942 zwei Handbücher: die Statistik der Bevölkerung jüdischen Blutes in den Niederlanden und die Statistik der Immigration von Personen jüdischen Blutes in die Niederlande.64 In diesen wurden die durch die Erfassung erhaltenen Daten nach dem Stand vom 1. Oktober 1941 in allen erdenklichen Kombinationen ausgewertet. Auffällig ist, dass die Zahl der erfassten Menschen »jüdischen Blutes« in der veröffentlichten Statistik mit 160.886 etwas höher ist, als noch Anfang September 1941 vermeldet. Insgesamt wurden zwar 500 weniger »Juden«; aber 346 mehr »Halbjuden« und 266 mehr »Vierteljuden« aufgeführt.65 Es ist davon auszugehen, dass sich hier jene »Fälle« niederschlugen, die zuvor als zweifelhaft angesehen und 61 Brief von Wimmer an Rabl, 5.9.1941, in: NIOD, 20, 279, o. Bl. Der Brief ist auch abgedruckt in: VeJ, Bd. 5, Dok. 90. 62 De Jong, Koninkrijk, Bd. V. 1, S. 534. 63 Rijksinspectie van de Bevolkingsregister (Hg.), Lijst van Geslachtnamen van Personen van Joodsche Bloede, s’Gravenhage 1942. 64 Rijksinspectie van de Bevolkingsregister (Hg.), Statistiek der Bevolking van joodschen Bloede in Nederland, und Statistiek der Immigratie van Personen van joodschen Bloede in Nederland, beide: s’Gravenhage 1942. 65 Rijksinspectie, Statistiek der Bevolking, S. 6–18 und S. 24 f.
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nun entschieden worden waren. Die Zahlen bezeugen, dass der Referent Wimmers, Hans Georg Calmeyer, der die Zweifelsfragen bearbeitete, des Öfteren im Sinne der Betroffenen entschied, dass deren Abstammung nicht-jüdisch sei.66 Die Handbücher der Staatlichen Inspektion wurden von der staatlichen Druckerei jeweils in einer Auflage von zweihundert Exemplaren gedruckt. Offenbar sandte Wimmer diese Handbücher auch an »ausgewählte« Instanzen im Reich. Die »Hohe Schule« der NSDAP jedenfalls bedankte sich artig für das ihr zugesandte Exemplar und vergaß nicht Lob zu zollen: »Von den durch das deutsche Reich besetzten Gebieten dürfte in den Niederlanden erstmalig eine derartig gründliche, amtliche statistische Erfassung des jüdischen Bevölkerungsteiles durchgeführt [worden] sein.«67 Nachdem die Staatliche Inspektion auch noch die Namen der Personen, deren Status überprüft wurde, in einer Liste zusammengefasst hatte,68 ließ auch der Joodsche Raad die Daten auswerten und unter dem Titel Statistische Unterlagen der Juden in den Niederlanden veröffentlichen.69
Die Deportation der niederländischen Juden Schon bevor die Erfassung durchgeführt wurde, waren Juden aus verschiedenen Bereichen verdrängt worden70 und die Vernichtung ihrer wirtschaftlichen Existenz eingeleitet worden.71 Die Erfassung war eine zentrale Voraussetzung dafür, dass Juden ab dem Sommer 66 Vgl. Brief von Wimmer an Rauter, 21.11.1941, in: NIOD, 77, 1260, Bl. 164 f. Vgl. Aktennotiz von Gertrud Slottke, 27.5.1943, LG München II, vom 24.2.1967, 12 Ks 1/66, veröffentlicht in: Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1999, bislang 34 Bde., Amsterdam u.a. 1968–2005 (Bde. 1–23: nur Amsterdam), hier: Bd. 25, lfd. Nr. 645, S. 581; Mathias Middelberg, Judenrecht, Judenpolitik und der Jurist Hans Calmeyer in den besetzten Niederlanden 1940–1945, Göttingen 2005; Geraldien van Frijtag, »Hans Georg Calmeyer und die Judenverfolgung«, in: Hirschfeld/Jersak, Karrieren, S. 127–146, passim. 67 Brief der Hohen Schule an Wimmer, 23.9.1942, in: NIOD, Doc. I, 1045, Lentz, Memoires I. Vgl. auch De Jong, Koninkrijk, Bd. V. 1, S. 533. 68 Rijksinspectie van de Bevolkingsregister (Hg.), Liste der Personen jüdischen Blutes, deren genealogische Abstammung auf Grund von eigenen Anträgen oder auf Grund Vorstellungen amtlicher deutscher Stellen bei der Abt. Innere Verwaltung des Generalkommissars für Verwaltung und Justiz sich noch in Prüfung befinden, Den Haag 1942. Die Broschüre sowie vier Ergänzungen finden sich in: NIOD, 20, 1507. 69 A. Veffer (Hg.), Statistische Gegevens van de Joden in Nederland, Deel 1. Statistische gegevens van de Joden in Amsterdam, waarin reeds opgenomen enkele voorlopige cijfers van de Joden in Nederland, Amsterdam 1942. 70 Brief von Wimmers an die Staatssekretäre, 21.2.1941, in: Joods Historisch Museum Amsterdam (Hg.), Documenten der Jodenvervolging in Nederland, Amsterdam 1979, S. 41. Vgl. Hirschfeld, Fremdherrschaft, S. 93 f.; Presser, Ashes, S. 31. 71 Kreutzmüller, Händler, S. 134–149. Vgl. Gerard Aalders, Geraubt. Die Enteignung jüdischen Besitzes im Zweiten Weltkrieg, Köln 2000, S. 196–203.
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1941 nicht mehr »nur« aus bestimmten Bereichen, sondern aus der gesamten öffentlichen Sphäre verdrängt werden konnten. Hierzu bedurfte es allerdings eines weiteren Zwischenschrittes, denn noch war es mit großem Aufwand verbunden, im öffentlichen Raum auch zu überprüfen, ob sich eine Person als Jude angemeldet hatte. Deshalb ordnete Rauter im Juli 1941 an, die Kennkarten der als Juden registrierten Personen mit einem schwarzen »J« zu kennzeichnen.72 Kaum hatten die Einwohnermeldeämter diesen Befehl umgesetzt, ging es Schlag auf Schlag: Im August 1941 begann der Entzug des Vermögens der Juden73 und im September wurde Juden der Zutritt zu einer Vielzahl von öffentlichen Orten und Institutionen verboten,74 wurden eine Ausgangssperre sowie Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen erlassen.75 Die Maßnahmen waren so umfassend, dass sich auch Hitler während einer Besprechung mit Seyß-Inquart am 26. September 1941 mit ihnen zufrieden zeigte. Während der Besprechung wurde zudem einvernehmlich festgestellt, dass die »Abschiebung« der in den Niederlanden lebenden ausgebürgerten – das heißt ehemals deutschen – Juden bald beginnen sollte. 76 Allerdings wurde dieser Plan nicht realisiert, obgleich die Erfassung hierzu die nötigen Voraussetzungen geliefert hätte und der Joodsche Raad im Herbst 1941 beauftragt wurde, ein separates Register aller ausländischen Juden anzulegen.77 Die Entscheidung gegen eine sofortige Verschleppung fiel offenbar am 8. Oktober 1941, wenige Tage bevor die Deportationen aus dem Deutschen Reich begannen. Denn nachdem im Reich Anfang September der »Gelbe Stern« eingeführt worden war, wurde während einer turnusmäßigen »Judenkonferenz« auch in Den Haag diskutiert, ob eine äußerliche Kennzeichnungspflicht eingeführt werden könne. Dabei hatte Seyß-Inquart entschieden, dass dies noch »verfrüht« sei. Die Niederländer seien psychologisch nicht vorbereitet.78 Da die äußerliche Kennzeichnung aber als Voraussetzung der Deportation betrachtet wurde, bedeutete dies wohl auch das Ende der frühzeitigen Deportationspläne, zumal es im Herbst 1941 bekanntlich durchaus noch Unstimmigkeiten gab, wohin die Juden aus Deutschland verschleppt werden sollten und was dann mit ihnen zu geschehen habe. Erst nachdem dem Reichskommissar im Gefolge der Wannsee-Konferenz mitgeteilt worden war, dass im Frühsommer 1942 definitiv mit den Deportationen begonnen wer72 De Jong, Koninkrijk, Bd. V. 1, S. 534 f. Vgl. Presser, Ashes, S. 39. Der Brief ist auch abgedruckt in: VeJ, Bd. 5, Dok. 82. 73 Kreutzmüller, Händler, S. 149–155. 74 Werner Warmbrunn, The Dutch under German Occupation, 1940−1945, Stanford u.a. 1963, S. 65 f. 75 Hilberg, Vernichtung, S. 612; Veldkamp, Bevolkingsregister, S. 9. 76 Aufzeichnungen von Otto Bene über eine Besprechung zwischen Seyß-Inquart und Hitler am 26.9.1941, in: Ludwig Nestler (Hg.), Die faschistische Okkupationspolitik in Belgien, Luxemburg und den Niederlanden (1940–1945), Berlin 1990, Dok. 70, S. 162–164. 77 Johannes Houwink ten Cate, »›Het jongere deel‹. Demografische en sociale kenmerken van het jodendom in Nederland tijdens de vervolging«, in: JbNIOD 3 (1989), S. 9–51, hier S. 25 f. 78 Aktennotiz des Reichskommissars, 8.10.1941, in: NIOD, 20, 1545, o. Bl.
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den sollte, ließ er die Kennzeichnungspflicht für »Personen jüdischen Blutes« einführen.79 Der Joodsche Raad, der unterdes zu einem Vollstreckungsorgan der Besatzungsinstanzen geworden war, musste bei der äußerlichen Kennzeichnung helfen.80 Im Vorfeld der Deportationen, die in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 1942 begannen, fertigte eine Expositur genannte Abteilung des Joodsche Raad auf der Grundlage seines Registers Listen der Personen an, die (vorläufig) zurückgestellt werden sollten.81 Im Zuge der Deportation wurden die Juden dann im Durchgangslager Westerbork ein letztes Mal registriert, bevor sie nach Auschwitz, Sobibor oder nach Theresienstadt und Bergen-Belsen verschleppt wurden.82 Bemerkenswert ist, dass über das Ziel und den Umfang der Deportationen in den Niederlanden zumindest im Kreis der Besatzungsinstanzen öffentlich gesprochen wurde. Am 10. und 11. Mai 1942 hatte Ley anlässlich der Gründung der Nederlandsche Arbeitsfront, in drei ähnlich lautenden Reden in Amsterdam, Den Haag und Heerlen ganz offen – und unter Beifall – gesagt, dass »die Juden vernichtet [werden], wie man Ungeziefer vernichtet«.83 Wenige Wochen später hatte ein Vertreter der mit der Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit befassten Wirtschaftsprüfstelle auf einer Vollversammlung aller Treuhänder jüdischer Unternehmen in einem Hotel in Amsterdam preisgegeben, dass »die Juden sämtlich in den nächsten Monaten aus den Niederlanden verschwinden würden«.84 Infolge der ersten Deportationen machte sich – wie der Vertreter des Auswärtigen Amts im Reichskommissariat festhielt – in der niederländischen Bevölkerung eine »gewisse Aufregung« bemerkbar.85 Davon unbeeindruckt schrieben die Beamten der Einwohnermeldeämter die Deportierten jeweils fortlaufend aus dem Melderegister ab und sendeten dann die Personenstammkarten an die Staatliche Inspektion.86 Zusätzliche Aufgaben 79 Rundbrief Harsters, 1.4.1942, in: NIOD, 77, 335; Brief von Harster an Wimmer, 29.4.1942, in: NIOD, 20, 1507, o. Bl. Der Brief ist auch abgedruckt in: VeJ, Bd. 5, Dok. 131. 80 Dan Michman, »De Oprichting van de ›Joodsche Raad voor Amsterdam‹ vannuit een vergelijkend perspectief«, in: JbNIOD 3 (1989), S. 75–100, hier: S. 86–92; Houwink ten Cate, Deel, S. 26; Warmbrunn, Dutch, S. 182–184. 81 Houwink ten Cate, Deel, S. 27 f. Vgl. Mirjam Bolle, Briefe vom 1.2.1943 und vom 23./24.5.1943, in: dies., »Ich weiß, dieser Brief wird dich nie erreichen«. Tagebuchbriefe aus Amsterdam, Westerbork und Bergen-Belsen, Berlin 2006, S. 40 und S. 144 f. 82 Coenrad J. Stuhldreher, »Deutsche Konzentrationslager in den Niederlanden«, in: Dachauer Hefte 5 (1989), S. 141–173, hier: S. 162–164. Vgl. Gerhard Hirschfeld, »Niederlande«, in: Wolfgang Benz (Hg.), Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1991, S. 137–165, hier S. 137. 83 Transkription der Reden Robert Leys in Amsterdam und Den Haag am 10.5.1942, sowie in Heerlen am 11.5.1942, in: Walter Roller/Susanne Höschel, Judenverfolgung und jüdisches Leben unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur, Tondokumente und Rundfunksendungen, Bd. 1, Potsdam 1996, Nr. 126–128, S. 209–212, Zitat: S. 211 (Rede vom 10.5.1942 in Amsterdam). 84 Aktennotiz des Wirtschaftsreferenten des BdS, 30.6.1942, in: NIOD, 77, 979, o. Bl. 85 Bericht Otto Benes an das Auswärtige Amt, 31.7.1942, in: PA AA, R 100876, Bl. 12 u. 12r. 86 Veldkamp, Bevolkingsregister, S. 9.
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erhielten die Beamten, als im September 1942 verkündet wurde, dass die Freistellung von Personen, die als jüdische Ehepartner in sogenannten Mischehen lebten, allgemein nur für Frauen gelte. Jüdische Männer mussten sich innerhalb von 14 Tagen bei den Einwohnermeldeämtern melden und beweisen, dass aus der Ehe noch lebende Kinder hervorgegangen waren, die selbst nicht als Juden galten. Die Einwohnermeldeämter leiteten die Anträge an die Staatliche Inspektion weiter, die dann entsprechende Listen anlegte. Von den rund 19.000 Juden, die laut der Statistik der Staatlichen Inspektion mit Nicht-Juden verheiratet waren, bekam weniger als ein Drittel einen Freistellungsvermerk.87
Ein Kompetenzstreit um die Verfügung über die Daten Bei der Auseinandersetzung um die Richtlinienkompetenz bei der Verfolgung der Juden spielte auch der Zugriff auf die Daten der Erfassung eine nicht zu unterschätzende Rolle. Noch während der Erfassung sandte Rauter einen beim BdS ausgearbeiteten Entwurf für eine Verordnung zur Gründung einer »Zentralstelle für jüdische Auswanderung« an den Generalkommissar für Verwaltung und Justiz. In dem Begleitschreiben verwies er am 18. April 1941 darauf, dass diese »beispielgebend für die Lösung der Judenfrage in sämtlichen europäischen Gebieten sein soll[e]«.88 Die »Zentralstelle« sollte alle Befugnisse der Judengesetzgebung auf sich vereinigen und die Aufgabe haben, »das gesamte Leben der in den besetzten niederländischen Gebieten wohnhaften Juden zu beaufsichtigen und ihnen die erforderlichen Anweisungen zu erteilen«.89 Zur Vorbereitung und Betreuung der geplanten neuen »Zentralstelle« wurde Erich Rajakowitsch, der unter anderem die »Zentralstelle für jüdische Auswanderung« in Prag aufgebaut hatte, nach Amsterdam entsandt.90 Diesen Verlust der eigenen Kompetenz wollte der Reichskommissar aber nicht hinnehmen und beauftragte seinen Adlatus Rabl einen Gegenentwurf anzufertigen. Diesem Entwurf zufolge sollte die »Zentralstelle« direkt dem Reichskommissar unterstellt werden.91 Hiermit konnte sich Seyß-Inquart zwar nicht durchsetzen, doch gelang es ihm, die Macht der »Zentralstelle« an zwei wesentlichen Punkten auszuhebeln: Zum einen blieb die Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz der Juden in der Kompetenz des General87 Presser, Ashes, S. 38. 88 Brief von Rauter an Wimmer, 18.4.1941, in: NIOD, 20, 1461. Der Brief ist auch abgedruckt in: VeJ, Bd. 5, Dok. 70. Vgl. auch A. J. van der Leeuw, »Reichskommissariat und Judenvermögen in den Niederlanden«, in: A. H. Paape (Hg.), Studies over Nederland in Oorlogstijd, Bd. 1, s’Gravenhage 1972 S. 237–249, hier S. 238. 89 Entwurf einer Verordnung über die Errichtung einer Zentralstelle für jüdische Auswanderung o. D. [Mai 1941], in: NIOD, 20, 1461, o. Bl. 90 B. A. Sijes, Studies over Jodenvervolging, Assen 1974, S. 66–88. Vgl. Anna Hájková, »The Making of a Zentralstelle. Die Eichmann-Männer in Amsterdam«, in: Theresienstädter Studien und Dokumente 2003, S. 353–381. 91 Michman, »Oprichting«, S. 88–90.
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kommissars für Finanz und Wirtschaft,92 zum anderen konnte Seyß-Inquart verhindern, dass die »Zentralstelle« direkt auf das Zentralregister der als Juden erfassten Personen zugreifen konnte. Der Generalkommissar für Verwaltung und Justiz behielt außerdem wenigstens formell seine Entscheidungsbefugnisse hinsichtlich der Klärung von Zweifelsfällen.93 Im Zusammenhang mit dem Plan, die ausgebürgerten deutschen Juden aus den Niederlanden so bald wie möglich zu deportieren, versuchte der HSSPF im November 1941 erneut, einen direkten Zugriff auf das niederländische »Judenregister« zu bekommen. Dieses sah er als »Rückgrat für die Auswanderungssache« an und wollte es unter »zumindest mitbeteiligte Führung der Sicherheitspolizei« stellen.94 Dies gelang ihm wiederum nur teilweise. Bis zum Kriegsende verblieb das Register bei der Staatlichen Inspektion und war damit letztlich dem Generalkommissar für Verwaltung und Justiz unterstellt. Die »Zentralstelle für jüdische Auswanderung« konnte jedoch eine Abschrift anfertigen.95 Dies alles hinderte Rauter aber nicht, gegenüber anderen SS-Dienststellen so zu tun, als ob die Erfassung unter seiner Leitung erfolgt sei. In einem Brief an den Chef des Rasse- und Siedlungshauptamts und Teilnehmer an der Wannsee-Konferenz, Otto Hofmann, sprach er von der »Kartei [...], die wir in diesem Jahr aufgestellt haben«.96 Neben der Zentralstelle für jüdische Auswanderung erstellte auch der Zentrale Dienst für Sippenkunde eine Kopie des Registers.97 Nachdem Hofmann dies bekannt geworden war, wandte er sich am 8. Dezember 1941 an Rauter und fragte, ob sein Amt gleichfalls eine Abschrift der »Judenkartei« bekommen könne, um in Zukunft die niederländischen »Bräute« der SS-Männer effektiver überprüfen zu können. Dagegen hatte Rauter keine Bedenken.98 Damit gab es Ende 1941 neben den drei Registern, in denen Juden erfasst waren (Staatliche Inspektion, Einwohnermeldeämter und Joodsche Raad), auch noch drei Abschriften der zentralen Kartei der Juden und »Mischlinge«.
Der Datentransfer zu Eichmann Wie war nun das Amt IV B 4 des RSHA, das für die inhaltliche Vorbereitung der Wannsee-Konferenz zuständig war, auf die am 20. Januar 1942 präsentierte Zahl gekommen? 92 93 94 95
Kreutzmüller, Händler, S. 142 f. Van Frijtag, »Calmeyer«, 135 f. Aktenvermerk des HSSPF, 4.11.1941, in: NIOD, 77, 1261, Bl. 119. Brief von Rauter an Hofmann, 20.12.1941, in: In’t Veld (Hg.), SS, Bd. 1, Dok. 101, S. 618 f. Vgl. Houwink ten Cate, »Befehlshaber«, S. 208. 96 Brief von Rauter an Otto Hofmann, 20.12.1941, in: In’t Veld (Hg.), SS, Bd. 1, Dok. 101, S. 618 f., Zitat: S. 618 [Hervorhebung C. K.]. 97 Aktennotiz von F. W. Osiander, 20.2.1942, in: In’t Veld (Hg.), SS, Bd. 1, Dok. 119, S. 645–648. 98 Brief von Rauter an Hofmann, 20.12.1941, in: In’t Veld (Hg.), SS, Bd. 1, Dok. 101, S. 618 f., Zitat: S. 618.
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Im Verhör sprach der Leiter dieses Amts, Adolf Eichmann, zwar nur vage von »verschiedenen Quellen«.99 Ganz offenbar diente Eichmann noch im Sommer 1941 nur eine Liste der Reichsvertretung zur Vorbereitung jener Sitzung, die auf seine Einladung ebenfalls am 13. August 1941 stattfand. Auf dieser Sitzung trafen sich auf Referentenebene Vertreter der Partei, von Reichskanzlei, Justizministerium und Innenministerium sowie des Instituts zur Erforschung der Judenfragen. Offiziell sollte über die antijüdischen Maßnahmen gesprochen werden, die Seyß-Inquart im Reichskommissariat plante. Tatsächlich aber wurde auf der Konferenz die Gründung einer Arbeitsgemeinschaft beschlossen, deren Ziel es war, die »Mischlingsfrage« im Licht der Expansion neu zu diskutieren und dabei die Definition des Begriffs Jude über die Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz hinaus auszudehnen.100 Es ist nicht unwahrscheinlich, dass das Amt IV B 4 die von der Reichsvereinigung erstellte Liste dann auch zur Vorbereitung der Wannsee-Konferenz heranzog. Schon weil die Zahlen der Reichsvereinigung, wie diese selbst ausdrücklich festgehalten hatte, »sich in der Regel auf Glaubensjuden [... bezogen] und daher Mindestzahlen darstell[t]en«,101 fühlte sich Eichmann bemüßigt, die Angaben wenigstens hinsichtlich der von Deutschland besetzten und mit Deutschland verbündeten Staaten zu verifizieren – dies umso mehr, da er sich im Kreis der gut informierten Staatssekretäre keine Blöße geben wollte.102 Nach eigener Aussage erledigte Eichmann seine Vorbereitungen im November 1941. Der im Protokoll genannte »Stichtag 31.10.1941« bezüglich der Sammlung statistischer Daten bezieht sich nur auf das Deutsche Reich bzw. das Protektorat.103 Dass in der Liste dennoch ein für alle Zeitgenossen eklatanter Flüchtigkeitsfehler zu finden ist – Serbien wird unter den nicht besetzten Ländern aufgeführt – spricht aber wohl eher dafür, dass Eichmann die Liste erst kurz vor der Konferenz, also Anfang 1942, in Eile anfertigte bzw. anfertigen ließ. Dies kann als Indiz dafür gelten, dass sich die Reichweite der geplanten Konferenz zwischen dem ursprünglich geplanten Termin, dem 9. Dezember 1941, und dem 20. Januar 1942 verändert hatte, und stützt die These, dass die Ermordung der Juden in ganz Europa frühestens Mitte Dezember 1941 beschlossen wurde. 99 Vernehmung Eichmanns durch Hauptmann Less, 5.7.1960; Vernehmung Eichmanns durch Richter Raveh, 21.7.1961, beide in: Kurt Pätzold/Erika Schwarz, Tagesordnung: Judenmord. Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942, Berlin 1992, S. 168–181, hier S. 172 f., bzw. S. 196–198, hier S. 196. 100 Michael Wildt, Die Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 610 f. Vgl. Cornelia Essner, Die »Nürnberger Gesetzte«. Oder die Verwaltung des Rassenwahns 1933–1945, Paderborn u.a. 2002, S. 335 f. 101 Brief der Reichsvereinigung an die »Zentralstelle für jüdische Auswanderung«, 7.8.1941, in: BArch, R 8150, 25, Bl. 3. 102 Vernehmung Eichmanns durch Hauptmann Less, 5.7.1960, in: Pätzold/Schwarz, Tagesordnung, S. 172 f. 103 Vernehmung Eichmanns durch Richter Raveh, 21.7.1961, in: Pätzold/Schwarz, Tagesordnung, S. 196–198, hier S. 196.
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Nach eigenen Angaben bediente Eichmann sich zur Verifizierung des statistischen Materials der Kanäle des RSHA und arbeitete so unter anderem die Berichte der Einsatzgruppen und des BdS in Litauen in seine Statistik ein.104 Gleiches galt offenbar auch für die Niederlande. Unter Verweis auf ein statistisches Jahrbuch (Hübners Weltstatistik) der Vorkriegszeit hatte die Reichsvereinigung für dieses Land eine Zahl von 135.000 Juden angegeben,105 also 25.800 weniger als im Protokoll der WannseeKonferenz. Im Zuge der Vorbereitung der Wannsee-Konferenz muss Eichmann vom Ergebnis der Anfang September abgeschlossenen Erfassung der Juden in den Niederlanden erfahren haben. Die offensichtliche Kongruenz der im Protokoll genannten Zahl (160.800) mit dem im September 1941 von Wimmer präsentierten vorläufigen Gesamtergebnis der Erfassung (160.820 einschließlich der »Mischlinge«) lässt keinen anderen Schluss zu. Da Eichmann sein Zahlenmaterial wahrscheinlich vier Monate nach der Bekanntgabe des Ergebnisses der Erfassung in den Niederlanden zusammengestellte, dürfte es ihm keine Schwierigkeiten bereitet haben, an diese Daten zu gelangen. Freilich hätte Eichmann dann auch bemerken müssen, dass »nur« 140.552 Juden erfasst worden waren. Dies führt zu einer weiteren Frage: Wie war es dazu gekommen, dass Eichmann die Gesamtzahl der Erfassung aufführte und damit auch 20.268 als »Mischlinge« qualifizierte Menschen in seine Statistik einbezog? Möglich ist, dass Eichmann die Zahlen vorausschauend »aktualisierte«, weil er erwartete, dass es Heydrich auf der WannseeKonferenz gelingen werde, den Kreis der zu Ermordenden über die Definition der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz hinaus auszuweiten. Möglich ist aber auch, dass Eichmann gleichsam unwillkürlich von der gesamten Zahl der Erfassten ausging, weil dies seiner eigenen rassistischen Definition entsprach. Eines steht jedoch fest: Die Erfassung der »Mischlinge« in den Niederlanden, überhaupt die Verquickung der Zahlen belegt, dass auch diese Gruppe bereits ins Fadenkreuz der rassistischen Mordpläne gekommen war. Schließlich erreichte die »Gefährdung der ›Mischlinge‹«, wie Beate Meyer festgestellt hat, genau zu dieser Zeit »ihren Höhepunkt«.106 Dank des Umstandes, dass sich die nationalsozialistischen Spitzenfunktionäre bekanntlich weder auf der Wannsee-Konferenz noch auf den zwei Folgekonferenzen auf ein einheitliches Vorgehen gegen die »Mischlinge« einigen konnten, wurden diese allerdings auch in den Niederlanden nicht ermordet.107
104 Vernehmung Eichmanns durch Hauptmann Less, 5.7.1960, in: Pätzold/Schwarz, Tagesordnung, S. 172 f. 105 Aufstellung der Reichsvereinigung der »Anzahl der Juden absolut und im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung in den einzelnen Ländern nach Erdteilen«, 7.8.1941, in: BArch, R 8150, Bl. 25. 106 Beate Meyer, »Jüdische Mischlinge«. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933–1945, Hamburg 1999, S. 97. 107 Meyer, Mischlinge, S. 96–100.
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Fazit Um die äußerlich weitgehend in die Gesellschaft integrierten Juden West- und Zentraleuropas verfolgen zu können, mussten sie im öffentlichen Raum sichtbar gemacht und dafür definiert werden.108 Diese Logik hat Abel Herzberg, der selbst nach Bergen-Belsen deportiert worden war, schon vor mehr als sechzig Jahren zugespitzt: Die Deutschen »mussten, wollten sie das jüdische Blut treffen, auch wissen, wo es war«.109 Der Begriff des »jüdischen Blutes« klingt zwar anachronistisch, trifft aber wohl den Punkt: Die Täter hielten ihn nicht für eine Metapher, sondern für eine Tatsache. Dass in den Niederlanden auch die »Mischlinge« erfasst und im Protokoll der Wannsee-Konferenz als »Juden« aufgeführt wurden, zeugt von der potentiellen Gefährdung aller Menschen »jüdischen Blutes«. Die im Zuge der Erfassung gesammelten Daten wurden von den beteiligten niederländischen Beamten so aufgearbeitet, dass ein direkter, unumschränkter Zugriff auf die als Juden erfassten Personen möglich wurde. Danach war es unnötig, Juden auch physisch zu konzentrieren, so dass die Erfassung auch das Ende für die von Seyß-Inquart beharrlich verfolgten Ghettopläne bedeutete. Überdies schien die Erfassung wesentlich moderner als ein symbolisch aufgeladenes Ghetto, eröffnete den nicht-jüdischen Niederländern die Möglichkeit wegzuschauen und senkte so gleichsam die politischen Folgekosten der Verfolgung. Da die parallel zur Erfassung ausgeteilten und entsprechend gekennzeichneten Ausweise sich als sehr fälschungssicher erwiesen, war es unmöglich, sich allein mittels gefälschter Papiere den Deportationen zu entziehen. Damit bildete die Erfassung der Juden die administrative Grundlage für die Deportationen. Ihre Perfektion und fast hundertprozentige Vollständigkeit ist als eine wesentliche Grundlage für das erschreckende Ausmaß der Ermordung zu betrachten. Das von Louis de Jong gezeichnete Bild, wonach die perfide Präzision der Erfassung auf das Engagement des Leiters der Staatliche Inspektion zurückzuführen ist, muss allerdings ergänzt werden: Auf der Grundlage der Vorgaben der Besatzungsinstanzen und mit stillschweigender Billigung des niederländischen Innenministeriums plante Lentz zwar die Details der Erfassung, die Ausführung übernahmen aber die lokalen Einwohnermeldeämter und nicht zuletzt seine Untergebenen. Letztere bemühten sich nach dem Krieg, Lentz die alleinige Schuld zuzuweisen. Diese Anschuldigungen scheint Louis de Jong fast dankbar aufgenommen zu haben, weil sie in das von ihm vermittelte – identitätsstiftende – Bild passten, dass die Mehrzahl der Niederländer sich während der Besatzung einwandfrei verhalten habe und Kollaboration das Fehlverhalten Einzelner gewesen sei.110 Diese 108 Tammes, Belang, S. 35. 109 Abel J. Herzberg, Kroniek der Jodenvervolging, 1940–1945, in: J. J. Bolhuis u.a. (Hg.), Onderdrukking en Verzet. Nederland in Oorlogstijd, 3 Bde., Amsterdam u.a. 1950, S. 49. 110 Vgl. Ellen Tops, »Niederlande. Lebendige Vergangenheit«, in: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerung (Begleitband zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums 1), Berlin 2004, S. 427–452, hier S. 428 f. Vgl. J. H. C. Blom, »In de ban van goed of
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Argumentation verkennt grundlegend, dass Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung der Juden als bürokratischer Prozess arbeitsteilig betrieben wurden. Dies trifft natürlich nicht nur für den Gesamtprozess, sondern auch für alle Teilprozesse zu – und gilt mithin auch für die Erfassung der Juden in den Niederlanden. Dies deckt sich durchaus mit den Erkenntnissen der Pilotstudie über Verfolgungsnetzwerke von Wolfgang Seibel und Jörg Raab, auch wenn diese allzu sehr auf Befehlswege abhebt und daher zu dem Schluss kommt, die niederländischen Instanzen seien von nachgeordneter Bedeutung gewesen.111 Die Analyse der Erfassung der Juden in den Niederlanden verweist aber noch auf ein anderes Problem: Weil die Erfassung den Eindruck großer Akkuratesse vermittelt, fanden die Ergebnisse Eingang in die Forschung. Dabei sind die Daten schon deshalb nicht überprüfbar, weil beispielsweise jene Personen hierin nicht auftauchen, die sich gar nicht angemeldet hatten. Viel schwerwiegender ist aber, dass die Statistik offenbar allzu schnell vergessen macht, dass sich hinter ihr reale Menschen und wirkliche Katastrophen verbergen. So werden sich unter den 85.516 Anmeldebögen aus Amsterdam sicherlich auch jene der Familie Frank befunden haben.
fout? Wetenschappelijke geschiedschrijving over de bezettingstijd in Nederland«, in: ders., Crisis, bezetting en herstel. Tien studies over Nederland 1930–1950, Den Haag 1989, S. 102–120. 111 Wolfgang Seibel/Jörg Raab, »Verfolgungsnetzwerke. Zur Messung von Arbeitsteilung und Machtdifferenzierung in den Verfolgungsapparaten des Holocaust«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 55 (2003), Heft 2, S. 197–230, hier S. 199.
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Waren die Juden Nordafrikas im Visier der Planer der »Endlösung«? Die »Schoah« und die Zahl 700.000 in Eichmanns Tabelle am 20. Januar 19421
Dieser Artikel behandelt die Frage, ob das Schicksal der Juden Nordafrikas während des Zweiten Weltkrieges als wesentlicher Bestandteil des historischen Ereignisses anzusehen ist, das gemeinhin als »Schoah« bezeichnet wird. Diese Frage verdient Beachtung, da sie im Rahmen einer öffentlichen Debatte über Inklusion und Exklusion unterschiedlicher Gruppen in die Erinnerung an die Schoah aufgekommen ist, vor allem, aber nicht nur in Israel.2 In letzter Zeit war sie auch Gegenstand lebhafter Kontroversen in Blogs.3 Sie beinhaltet zwei Aspekte: 1. Einen begrifflichen, betreffend die Semantik des Ausdrucks »Schoah«, dessen inhaltlich Füllung und die Folgen für die Historiographie wie auch die öffentliche, insbesondere die jüdisch-öffentliche Debatte. 2. Einen ereignisgeschichtlichen Aspekt, betreffend die Frage der Einbeziehung der Juden Nordafrikas in die nationalsozialistischen Planungen zur »Endlösung der Judenfrage«, der im Lichte der zahlreich vorhandenen Dokumente betrachtet werden soll.
Zum Begriff »Schoah« und dessen Gebrauch Bereits die Tatsache, dass ein spezifischer Begriff genutzt wird, um über das Schicksal der Juden im NS-Regime zu sprechen, verdient unsere Aufmerksamkeit. Sie grenzt einerseits die Behandlung dieser Gruppe von der Gesamtheit der von nationalsozialistischen Verbrechen Betroffenen ab, andererseits von sonstigen antijüdischen Verfolgungen im Lauf der Geschichte. Ein historisches Ereignis, das mit einem eigenen Namen versehen wird, setzt sich dadurch von anderen ab. Die erfolgte Zuweisung erfordert, dass man diese Verbrechen im öffentlichen Gedächtnis wie auch in der Historiographie auf spezifische 1 Ich bedanke mich bei Frau Kerstin Stubenvoll in Berlin für die Übersetzung aus dem Französischen. 2 Vgl. das Buch von Hanna Yablonka, Off the Beaten Track. The Mizrahim and the Shoah, Israel 2008. Ich stimme einigen ihrer Analysen nicht zu, aber das Buch liefert eine gute Schilderung der gegenwärtigen Situation. 3 Siehe die Seite amit4u, URL: http://www.amit4u.net/ (zuletzt aufgerufen am 24. Februar 2012).
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Weise betrachtet. Unter den Juden herrschte während des Dritten Reichs und stärker noch unmittelbar nach seinem Fall 1945 das Gefühl vor, es handele sich hierbei um ein Ereignis ganz eigener Art. Das führte zur Herausbildung verschiedener Bezeichnungen, ohne dass etwa eine offiziell »von oben« gelenkte Entscheidung stattgefunden hätte: »Schoah« (Hebräisch für Katastrophe), »Churban/Churbn« (Vernichtung oder Zerstörung; auf Hebräisch bzw. auf Jiddisch), »Kataklysmus« (Katastrophe, plötzliche Zerstörung), »Katastrophe« (in der Sowjetunion) oder auch »jüdische Katastrophe«, »Genozid« (Rafaël Lemkin) und kurz darauf »Holocaust« und viel später auch »Judeozid«. Diese Vielfalt unterschiedlicher Bezeichnungen zeugt bereits vom fehlenden Konsens und den fortwährenden Wandlungen im Hinblick auf die konkurrierenden Begriffe, die zudem nicht alle dem Gehalt des historischen Ereignisses gerecht werden. Das hebräische Wort »Schoah« ist biblischen Ursprungs und bezeichnet unerwartetes großes Unglück oder Verderben (»Was wollt ihr nur tun am Tage der Heimsuchung und bei dem Sturm, der von fern heranzieht?«4). In diesem Sinn wurde das Wort im wiederauflebenden Hebräischen des Jischuw in Palästina zur Zeit des britischen Mandats gebraucht. Später findet es sich in der Presse und in Berichten verschiedener Institutionen zur Beschreibung des Schicksals der Juden in Deutschland nach dem Machtantritt des nationalsozialistischen Regimes am 30. Januar 1933. Je zahlreicher die Informationen über Unterdrückung und Verfolgung wurden, und je mehr eben diese Informationen von Gräueln zeugten, desto mehr wuchs der semantische Gehalt des Begriffs, der sich schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg, zu ha-Schoah – der (ultimativen) Schoah – hin entwickelte.5 Zum Ende der 1950er Jahre tauchte im Französischen und Englischen der Begriff »Holocaust« auf, von Griechisch »holókauston« (»gänzlich verbranntes Opfer«) kommend.6 In der Septuaginta-Übersetzung der Bibel bezeichnet der Begriff eine Opfergabe. In den 1970er und 1980er Jahren setzte er sich dann aufgrund des Einflusses des Englischen auch in anderen Sprachen durch, insbesondere nach der TV-Ausstrahlung der Serie gleichen Namens 1978, die auf dem Werk von Gerald Green beruht.7 Nach dem Film »Shoah« von Claude Lanzmann von 19858 verbreitete sich der hebräische Begriff weltweit, vor allem in der französischen und deutschen Kultur (geschrieben »Shoah« bzw. »Schoah«), aber auch darüber hinaus.
4 Jesaja 10, 3. 5 Haya Lipski, The Term »SHOAH«. Meaning and Modification in the Hebrew Language from its Beginnings and to this Day in the Israeli Society, Magisterarbeit, Tel Aviv University, Department of Jewish History, April 1998; Dalia Ofer, »Linguistic Conceptualization of the Holocaust in Palestine and Israel. 1942–1953«, in: Journal of Contemporary History 31: 3 (1996), S. 567–595. 6 François Mauriac, »Préface«, in: Elie Wiesel, La Nuit, Paris 1958, S. 12–13; François Mauriac, »Foreword«, in: Elie Wiesel, Night, New York 1960, S. 9. 7 Gerald Green, Holocaust, New York 1976. 8 Claude Lanzmann, Shoah, Paris 1985.
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Die Vielzahl an konkurrierenden Begriffen, ihr Bedeutungswandel und ihre unterschiedlich weite Verbreitung im Lauf der Zeit sind kein Zufall, sondern vielmehr Ergebnis unterschiedlicher Prozesse der Herausbildung und Strukturierung der Erinnerung an die Schoah, welche dem Einfluss unterschiedlicher Strömungen der öffentlichen Meinung ebenso wie der Fortschreibung von Deutungen und Auffassungen historischer Ereignisse unterliegen. Dabei setzte sich keiner der erwähnten Begriffe durch das Wirken eines Historikers oder aus Forschungsnotwendigkeiten durch. Die unterschiedlichen Begriffe entstanden an verschiedenen Orten aus dem öffentlichen Sprachgebrauch heraus. Zudem zeigen diese Begriffe, dass es nicht immer möglich ist, über Charakter und Gehalt des historischen Ereignisses Aufschluss zu geben, das sie beschreiben. Der Redner impliziert stillschweigend, dass der Zuhörer bereits weiß, worum es sich bei dem jeweiligen Begriff handelt. Neben dem Problem der Benennung gibt es zwischen Historikern und Vertretern jüdischer Gruppen Kontroversen um den Wesenskern des historischen Ereignisses und daher auch um seine zeitliche Eingrenzung. Für einige ist die »Epoche« Schoah identisch mit dem nationalsozialistischen Regime (1933–1945) und beinhaltet alle antijüdischen Verfolgungsmaßnahmen (so Saul Friedländer) oder zumindest die im NS-Regime bürokratisch organisierte und umgesetzte Unterdrückung (Raul Hilberg). Andere ziehen die Grenzen der Schoah entlang der Jahre des Zweiten Weltkriegs (1939–1945). Für sie ergibt sich als Grundlage einer Definition nicht nur der Weltkrieg als notwendiger Kontext der zunehmenden Verschlimmerung der Situation der Juden, sondern auch der Beginn der deutsch-nationalsozialistischen Besatzung des Gebiets mit der größten jüdischen Gemeinschaft, der polnischen. Diese beiden letzten Definitionen sind unter Historikern am geläufigsten. Darüber hinaus nutzen manche verschiedene Datierungen innerhalb des Nationalsozialismus (1935–1945, 1938–1945, 1941–1945 oder sogar 1942–1945), wieder andere lassen die Periode der Schoah zu Zeitpunkten vor 1933 beginnen (1919, 1870 und sogar 1789) und nach 1945 enden (1948 zum Beispiel). Das Setzen solcher Grenzen hängt dabei von der Definition der historischen Ereignisse ab: Handelt es sich »nur« um die systematische und umfassende Ermordung der Juden, die 1941/42 begann, oder auch um die Unterdrückung und Verfolgung, die letzterer vorausging und die wirtschaftliche und kulturelle Existenz der Juden gefährdete? Liegen der Ermordung der Juden antijudaistische oder rassistische Motive zu Grunde, moderne oder traditionelle? Auch in geographischer Hinsicht kommt der Frage nach dem Wesen der Schoah Bedeutung zu: Eine Definition, die aus ihr ein deutsches systematisches Vorhaben macht, schließt die Verfolgung jüdischer Gemeinden außerhalb der Grenzen der »Endlösung« aus, die beispielsweise im Fall der Juden Rumäniens im gleichen Zeitraum geschah. Behält man diese beiden Aspekte im Auge – den Begriff, der das historische Ereignis definiert, und den Inhalt, den der Begriff definiert – lässt sich festhalten, dass die Juden nicht in allen Ländern eine spezifische Bezeichnung forderten. In der Sowjetunion zum Beispiel war die »Katastrophe« inhärenter Bestandteil der Geschichte des »Großen Vaterländischen Krieges« (1941 bis 1945). In den Niederlanden sprach man bis in die
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1990er Jahre (und teilweise noch heute) vom Schicksal der Juden während »Des Krieges« (»de oorlog«). Die deutsche Besatzung stellte für die Niederländer tatsächlich den einzigen Krieg dar, da das Land während des Ersten Weltkrieges nicht in Kriegshandlungen involviert gewesen und auf seinem Gebiet seit dem 16. Jahrhundert kein Krieg mehr ausgetragen worden war. In Frankreich und Belgien (französisch- wie niederländischsprachig), die beide am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatten, ließ sich nach diesem Krieg die Etablierung auch des Begriffs »Zweiter Weltkrieg« beobachten. Juden verwendeten also denselben Begriff wie Nichtjuden, um von dieser Zeitspanne der deutschen Besatzung zu sprechen. Die Begriffe »Holocaust« und »Schoah« tauchten in diesen Ländern dann erst in den 1980er Jahren auf und setzten sich schließlich in den 1990ern durch.
Anwendung des Begriffs »Schoah« für Nordafrika: Selbstwahrnehmung und Forschung Es erstaunt zunächst nicht, dass sowohl die Erinnerungen von Juden Nordafrikas als auch die Forschung, verfasst zum großen Teil auf Französisch und zum geringeren auf Italienisch, anstelle von »Schoah« die in diesen Sprachen gebräuchlichen Begriffe verwendeten: »Zweiter Weltkrieg« oder Begriffe wie »botte« (wörtlich Stiefel, Gewaltherrschaft im übertragenen Sinn) als Symbol für die Besatzung,9 spezifischer auch »Hakenkreuz« für das nationalsozialistischen Deutschland10 oder für die Besatzung.11 Hinzu kommt, dass viele der aus diesen Ländern stammenden Autoren einräumten, dass sich das Schicksal der Juden Nordafrikas im Zweiten Weltkrieg trotz der deutschen Besatzung von demjenigen der Juden Europas unterschied, das als schlimmer bewertet wurde. Maßgebend als Bezugspunkt für die Juden Nordafrikas war allein der Zweite Weltkrieg. Bestimmte Informationen über die Ereignisse in Europa erreichten sie durch Kommunikationsmittel und Familienmitglieder, welche schon vor dem Krieg in Europa gelebt hatten und nun die Leiden der europäischen Juden teilten. Diese Sichtweise kommt auch in der akademischen Historiographie zum Ausdruck. Bestes Beispiel ist das sehr umfassende Standardwerk Les Juifs d’Afrique du Nord sous Vichy (Geschichte der Juden Nordafrikas unter Vichy) von Michel Abitbol, einem israelischen Historiker, der den in Israel gebräuchlichen Begriff »Schoah« sehr wohl kennt. Er zog dennoch vor, ihn nicht zu benutzen, nicht im Titel seines Buches und nicht in dessen Text, auch nicht in der 1983 veröffentlichten französischen Ausgabe (damit noch vor dem Erscheinen des Films »Shoah« von Claude Lanzmann, der diesen zum auf Französisch vorherrschenden Begriff machte) und ebenso wenig in der erweiterten hebräischen, 1986 publizierten Edition. Auf Französisch benutzte er den Ausdruck »unter 9 Paul Ghez, Six mois sous la botte, Tunis 1943. 10 Robert Borgel, Etoile jaune et croix gammé. Récit d’une servitude, Tunis 1944. 11 Jacques Sabille, Les juifs de Tunisie sous Vichy et l’occupation, Paris 1954.
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Vichy«, obwohl das Kapitel VII vom deutschen Regime handelt, und auf Hebräisch den Ausdruck »Zweiter Weltkrieg«. Für die französische Neuausgabe von 2008 behielt Abitbol den Titel Les Juifs d’Afrique du Nord sous Vichy bei.12 Er geht sogar so weit, hinsichtlich des Schicksals der tunesischen Juden unter deutscher Besatzung festzustellen: »Das Schicksal der tunesischen Juden sollte tatsächlich in keiner oder fast keiner Weise den verachtenswerten Praktiken gleichen, zu deren Opfer die Juden Europas im Rahmen der Endlösung wurden.«13 Doch mit der Entwicklung und Ausweitung der Arbeiten über die Schoah in der westlichen Welt und ihrer Transformation in ein kulturelles Thema ersten Ranges vor allem seit den 1980er Jahren, ebenso wie mit der Zunahme der Verwendung des Begriffs »Schoah« vor allem in der frankophonen Welt nach dem Erscheinen von Lanzmanns Film wurde begonnen, die Einbeziehung der Juden Französisch-Nordafrikas – und zwar aller Juden Nordafrikas, ohne Unterscheidung einzelner Länder – in die Schoah einzufordern. Hervorgehoben werden muss, dass aus öffentlicher, vor allem jüdisch-öffentlicher Sicht in Israel, die Tatsache der Einbeziehung einer bestimmten jüdischen Gemeinde in das vielleicht wichtigste Ereignis der neueren jüdischen Geschichte auch zur Einbeziehung dieser Gemeinde in das dominierende kollektive Narrativ führt. Auch die Definition des »Überlebenden« ist hier wichtig, da sie das Recht auf Entschädigungen und Rentenansprüche festsetzt. Hier handelt es sich also um einen praktischen Aspekt, der den Diskurs auch beeinflusst. Die Antwort auf die Frage, ob diese Argumentation wirklich schlüssig ist, führt uns zur vorhergehenden Erörterung zurück, der Definition des Wesens der Schoah. Ist dieser Begriff mehr oder minder gleichbedeutend mit dem nationalsozialistischen Ausdruck »Endlösung der Judenfrage« oder schließt er den gesamten Prozess der Verfolgung und Unterdrückung von Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Kollaborateure mit ein, vor allem das faschistische Italien vor der Besetzung durch die Deutschen 1943 und das Vichy-Regime? Es ist zu beachten, dass das Wort »Schoah« in- und außerhalb Israels unterschiedlich gebraucht wird. In Israel versteht man die Schoah als mit dem Machtantritt des NS-Regimes 1933 beginnend, noch bevor die Idee der physischen Vernichtung aufkam. Die antijüdische Politik der 1930er Jahre wird also als wesentlicher Bestandteil der Schoah begriffen. Hinsichtlich der Problematik Nordafrikas lässt sich in Yad Vashem über die Jahre folgende Entwicklung ausmachen: Einerseits hat Yad Vashem im Rahmen des größten Gedenkprojekts zu zerstörten jüdischen Gemeinden, Pinkas Hakehillot (Enzyklopädie der Gemeinden), das umfassendste bisherige Werk zu Tunesien und Libyen zur Zeit des Zweiten Weltkriegs publiziert. Es handelt sich hier um das erste 12 Michel Abitbol, Les Juifs d’Afrique du Nord sous Vichy, Paris 1983; ders., Les Juifs d’Afrique du Nord sous Vichy, Paris 2008. 13 »A l’évidence, le sort des juifs Tunisiens n’allait ressembler en rien ou presque aux traitements odieux dont furent victimes les Juifs d’Europe à l’heure de la Solution finale.«, zit. nach Abitbol, Les Juifs d’Afrique du Nord, S. 16.
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Forschungsprojekt Yad Vashems, welches in den 1950er Jahren begann.14 Andererseits wird das Schicksal der jüdischen Gemeinden Algeriens und Marokkos wenig beachtet. Dies ist sicherlich der deutschen Kriegführung in Tunesien und Libyen geschuldet, aufgrund der man die dortigen jüdischen Gemeinden im Zusammenhang mit der Schoah betrachtet. Der öffentliche Diskurs über die Schoah weist in eine ähnliche Richtung.15 Außerhalb Israels stellte sich die Schoah zumeist als enger gefasstes Ereignis dar, und man betrachtete die Juden Nordafrikas nicht als von ihr betroffen. Vor allem im Rahmen der Aktivitäten des Mémorial de la Shoah lässt sich jedoch in Frankreich in den letzten Jahrzehnten eine wachsende Tendenz beobachten, die Geschichte nordafrikanischer und vor allem tunesischer Juden zu berücksichtigen. Frankreich tendiert somit dazu, ihre Erfahrungen als Teil des Begriffs »Schoah« zu definieren.16 Zusammenfassend lässt sich hinsichtlich des ersten Abschnitts dieses Artikels festhalten, dass die Frage, welche Erfahrungen bestimmter Gruppen mit dem Begriff »Schoah« bezeichnet werden sollen, von dessen Definition abhängt und dass zahlreiche Definitionen existieren. Dies wirkt sich nicht nur hinsichtlich der Berücksichtigung der Gemeinden Nordafrikas, sondern auch hinsichtlich derjenigen der deutschen Juden der 1930er Jahre aus.17
Die Juden Nordafrikas und die Planungen zur »Endlösung« ab 1941 Die Erforschung der Prinzipien, Entwicklungsstufen und Handlungsstrategien zur Vernichtung der Juden hat im Lauf der letzten zehn Jahre trotz aller Differenzen im Detail zu einem Konsens hinsichtlich bestimmter Grundannahmen geführt. Der Vorgang der Vernichtung fand nicht auf einen einzigen Befehl hin gemäß einem klaren Plan statt, sondern
14 Irit Abramsky-Bligh (Hg.), Pinkas Hakehillot. Encyclopedia of Jewish Communities. Lybia and Tunesia, Jerusalem 1997 (2. Auflage 1998, dritte durchgesehene und korrigierte Auflage 2008). Im Vorwort des Buches, verfasst von der Herausgeberin sowie Maurice Roumani und Itshak Avrahami, die zum Werk beigetragen haben, kommen institutionelle und praktische Zweifel hinsichtlich der Einbeziehung der Juden Tunesiens und Libyens in dieses wichtige Forschungsvorhaben über die Schoah zum Ausdruck. 15 Zur Debatte in Israel vgl. Yablonka, Off the Beaten Track. 16 Vgl. die Programme des Mémorial de la Shoah im letzten Jahrzehnt. 17 Die aus Deutschland stammenden Personen, die in Israel leben, haben den Gebetstext des Yizkor zur Schoah stark kritisiert, den man in den in religiös-zionistischen Kreisen sehr verbreiteten Gebetsbüchern Rinat Israel findet. Dort kann man lesen: »Alle während der Schoah zwischen 5700 und 5705 gequälten Seelen der jüdischen Exilgemeinden in Europa« (i.e. zwischen September 1939 und Mai 1945). Die Qualen in Deutschland vor Beginn des Zweiten Weltkrieges bleiben somit unberücksichtigt, vgl. Feiertagsrituale Rinat Israel. Sephardischer Ritus, herausgegeben und kommentiert von Shlomo Tal, Jerusalem 1981, S. 191.
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schrittweise, als Prozess, dessen Ausmaße stetig wuchsen.18 Zunächst nahm im Hinblick auf den geplanten Überfall auf die Sowjetunion allmählich eine Einstellung Gestalt an, die auf verschiedenen Elementen der völkischen Ideologie aus der Zeit zum Ende des Ersten Weltkriegs beruhte. Nicht nur Gebiete, Rohstoffe oder Einfluss waren die zentrale Legitimation für den Überfall, sondern dessen ideologische Dimension als Vernichtungskrieg: Die Sowjetunion war das Symbol der »jüdisch-bolschewistischen« Gegenwelt. Hierin liegt der Grund für die Aufstellung der Einsatzgruppen. Die Strategie der massenweisen Ausschaltung wirklicher und vermeintlicher »politischer Gegner« zeichnete sich seit den ersten Wochen des »Unternehmen Barbarossa« ab. Auch gegen zunächst überwiegend jüdische Männer wurde vorgegangen. Mitte Juli 1941 scheint Hitler, während sich die deutschen militärischen Siege häuften, seinen engen Vertrauten, allen voran Himmler, befohlen zu haben, den Kampf gegen die Juden auszuweiten und die Möglichkeit eines umfassenden Vorgehens zu prüfen. Diese Weisung führte im Ergebnis zu einem Dokument, datiert auf den 31. Juli 1941, in dem Göring offiziell Heydrich ermächtigte, die Möglichkeit der Umsetzung einer »Gesamtlösung der Judenfrage in Europa« zu untersuchen – das Dokument wurde von Heydrich oder seinen Referenten aufgesetzt und Göring zur Unterschrift vorgelegt.19 Die von den Einsatzgruppen erstellten Berichte und andere Quellen lassen ab Mitte August 1941 eine Weiterentwicklung bezüglich der Dichte der Morde und ihrer Systematisierung erkennen: Ab diesem Zeitpunkt werden jüdische Männer, Frauen und Kinder in Massen getötet, in manchen Gebieten komplett alle Juden ermordet. Auch die in den Berichten der Einsatzgruppen aufgeführten Zahlen ermordeter Juden steigen. Einer der Höhepunkte dieses mörderischen Unterfangens ist das Massaker von Babi Yar, nahe Kiew gelegen, am 29. und 30. September 1941, wo 33.771 Juden ermordet wurden. Die ersten Pläne zur Schaffung des Vernichtungslagers Chełmno stammen aus demselben Monat, ebenso wie die Planungen zur Deportation der Juden aus Deutschland, die teils mit einer Verschärfung der gegen sie gerichteten Maßnahmen einhergingen. Am 18. November 1941 traf Hitler den Mufti von Jerusalem, Haj Amin al-Husseini, und gab ihm zu verstehen, dass im Fall eines Vorstoßes der deutschen Truppen in den Kaukasus auch gegen die Juden der dortigen Regionen vorgegangen werde. Während eines Treffens Hitlers mit den Gauleitern am 12. Dezember 1941 hatte dieser bereits laut Goebbels Tagebucheintrag vom Folgetag vor einem wichtigen Zuhörerkreis erklärt, »bezüglich
18 Synthesen der Ansätze, die derzeit die Forschung bestimmen, finden sich bei Christopher R. Browning, Die Entfesselung der »Endlösung«. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939–1942, mit einem Beitrag von Jürgen Matthäus, Berlin 2003; Ian Kershaw, Hitler. 1936–1945, Darmstadt 2000; Saul Friedländer, Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939–1945, München 2006; Dan Michman, »The ›Final Solution of the Jewish Question‹, its Emergence and Implementation. The State of Research and its Implications for Other Issues in Holocaust Research«, in: ders., Holocaust Historiography. A Jewish Perspective. Conceptualizations, Terminology, Approaches and Fundamental Issues, London 2003, S. 91–126. 19 Vgl. Dokument 4.3
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der Judenfrage […] reinen Tisch zu machen«.20 Der Gedanke der Ausweitung der Vernichtung der Juden, die beginnend in Polen und Osteuropa, gefolgt von der Ausdehnung auf weitere Gebiete, auf andere Teile Europas angewandt werden sollte, nimmt in den ersten sechs Monaten des Jahres 1942 Gestalt an.
Die Wannsee-Konferenz und die Tabelle der in die »Endlösung« einzubeziehenden Juden Die Besprechung vom 20. Januar 1942 brachte eine Gruppe von Beamten aus Ministerien, der Partei-Kanzlei und der SS zusammen, die mit der »Lösung der Judenfrage« befasst waren. Deren Dienstbesprechung ist im Kontext der Entwicklung der im vorherigen Abschnitt erörterten Ereignisse zu sehen.21 Diese Besprechung wurde erst nach 1945 als »Konferenz« bezeichnet,22 wodurch in der Folge eine überzogene Vorstellung von ihrer Bedeutung entstand. Ein Bericht über diese Sitzung, verfasst von Adolf Eichmann, wurde als »Protokoll der Wannsee-Konferenz« betitelt, obwohl es sich nicht um ein wortgetreues, den Ablauf des Treffens wiedergebendes Protokoll handelt:23 Während seines Prozesses in Jerusalem äußerte sich Eichmann zu dem Treffen und berichtete ausführlich über Aspekte, die von den im Protokoll aufgeführten abwichen. In den ersten Jahrzehnten der Forschung diente das Dokument als Beweis für eine systematische Planung der Endlösung. Der in nicht-wissenschaftlichen Kreisen weit verbreitete Irrtum bestand fort, eine Entscheidung zur Endlösung sei während dieser Besprechung gefallen, In den letzten zwanzig Jahren hat der beschriebene Wandel im Hinblick auf die wissenschaftlichen Zugänge zur Entwicklung der nationalsozialistischen Politik gegenüber Juden allgemein wie für die »Endlösung« im Besonderen stattgefunden. Dieser hing insbe20 Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Diktate 1941–1945, Bd. 2, Oktober- Dezember 1941, herausgegeben von Elke Fröhlich, München 1996, S. 498. 21 Die deutsche bürokratische Terminologie ist in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung: »Besprechung« kommt dem englischen »meeting« nahe und dient zur Beschreibung einer Zusammenkunft, während der man auf informelle Weise administrative Angelegenheiten »bespricht« und nach deren Ende in einer Zusammenfassung die Ergebnisse zur weiteren Verwendung schriftlich festgehalten werden können (ohne dass zwangsläufig stenographische Notizen angefertigt werden müssen). Ich danke Dr. Wolf Kaiser, Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, dafür, mit mir über die Semantik der Begriffe »Besprechung«, »Dienstbesprechung« und »Konferenz« diskutiert zu haben. 22 In einem Brief vom 19. Januar 1992 an die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz beschreibt Robert M. W. Kempner die Entdeckung des Protokolls im Zuge der Vorbereitung der Prozesse gegen die Ministerien des nationalsozialistischen Regimes im Jahr 1947: »Wir waren aufgeregt, als wir ein Protokoll über die später als Wannseekonferenz weltbekannt gewordenen Sitzung über die Endlösung der Judenfrage vom 20. Januar 1942 entdeckten«, vgl. den Brief auf der Webseite des Hauses der Wannsee-Konferenz, URL: http://www.ghwk.de/kempner.pdf. 23 Vgl. Dokumententeil, Dok. 4.7.
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sondere damit zusammen, dass es möglich wurde, im zuvor kommunistischen Osteuropa zu forschen, war aber auch einer Neuorientierungen der Forschung geschuldet. So wurde auch die Besprechung am Wannsee neu gedeutet. Heute ist klar, dass die Organisation der »Endlösung« nicht als Vorgang betrachtet werden kann, welcher mittels von Hitler gesteuerter Entscheidungen organisiert gewesen wäre – wobei allerdings feststeht, dass Hitler die Vernichtung der Juden angeordnet hat. Auch Heydrich betont während der Besprechung am Wannsee: »nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer«. Zu Fragen und Debatten führt die Tatsache, dass im Protokoll – einem internen, nicht öffentlichem Dokument – keine Begriffe wie »Vernichtung« oder »Erschießung« benutzt werden – im Gegensatz zum drastischen Sprachgebrauch in den Berichten der Chefs der Einsatzgruppen und -kommandos aus der Sowjetunion.24 Es herrscht in der Forschung zumindest Einigkeit darüber, dass Heydrich mit der Einladung dieses Teilnehmerkreises, der mit der in Gang gesetzten »Endlösung« befasst war, das Ziel verfolgte, sich selbst die maßgebliche Rolle in der Umsetzung des Vorhabens zu sichern, wie es auch in seinen Ausführungen zu Beginn der Sitzung erkennbar ist. Dieses Ziel machte es notwendig, die Aktivitäten der Teilnehmer zu koordinieren. Einer der bekanntesten Auszüge dieses Dokuments, gleichzeitig der wichtigste für die vorliegende Fragestellung nach den Juden Nordafrikas, ist die Auflistung der Anzahl der in verschiedenen Gebieten lebenden Juden, also derjenigen Juden, die in die »Endlösung der Judenfrage in Europa« einbezogen werden sollten. Diese Liste ist in zwei Abschnitte unterteilt, Abschnitt A mit deutschen und unmittelbar deutsch besetzten Gebieten und Abschnitt B mit alliierten oder Satellitenstaaten ebenso wie mit noch nicht eroberten Ländern (wie Großbritannien, Portugal, Schweden und der Schweiz). Was Frankreich betrifft, sind beide Zonen – die besetzte mit 165.000 Juden und die unbesetzte (des Vichy-Regimes) mit 700.000 Juden 25 – unter Abschnitt A subsumiert. Die Zahl 700.000 ist eine viel zu hohe Zahl für die unbesetzte Zone. Es erstaunt, dass manche Historiker sie damit zu erklären versuchten, sie beinhalte auch die Juden Französisch-Nordafrikas. Peter Longerich bekräftigt, dass »in der Zahl von 700.000 Juden aus dem unbesetzten Frankreich […] die Juden in den nordafrikanischen Kolonien eingeschlossen« gewesen seien.26 Dieser Behauptung folgen aber weder eine Begründung noch eine Aufschlüsselung der Zahlen. Zudem erwähnt Longerich in seinem umfangreichen Buch die Juden Nordafrikas zuvor nur in zwei Absätzen und verweist auf einige 24 Vgl. zu einem Überblick und zum Verständnis verschiedener Erklärungsansätze, zur Rolle der Sitzung und des Ortes, an dem sie stattfand (sowie zu bibliographischen Angaben) vor allem Mark Roseman, The Villa, the Lake, the Meeting. Wannsee and the Final Solution, London 2002, S. 1–6, 55–96. 25 Vgl. das Protokoll S. 6, im Dokumententeil Dok. 4.7. 26 Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München u.a. 1998, S. 469. Er wiederholt dieses Argument in: ders., The Unwritten Order. Hitler’s Role in the Final Solution, London 2002, S. 96: »Included in the 700.000 Jews for unoccupied France are those of the North African colonies.«
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Daten; aber weder Wannsee noch die Frage der Einbeziehung der Juden dieser Gebiete in die »Endlösung der Judenfrage« werden in diesem Zusammenhang erwähnt.27 Letztere waren also nach seiner Darstellung nicht wirklich in den Plan einbezogen. Auch Saul Friedländer schreibt, wenn auch weniger bestimmt, im zweiten Band seines Werkes zu den Jahren 1939 bis 1945, Heydrich habe »in seiner anfänglichen Aufzählung von 700.000 Juden für die Vichy-Zone gesprochen, was wahrscheinlich bedeutete, daß die Juden Französisch-Nordafrikas mitgerechnet waren.«28 In seinem Buch spricht er aber nicht von Tunesien oder Algerien und die Juden Marokkos werden nur an einer Stelle erwähnt. Dort wird Heydrich mit einer Bemerkung aus dem Oktober 1941 zitiert, in der er ausführt, dass »diese Juden« – es handelte sich um Juden spanischer Nationalität, die im Verlauf der vorangegangenen Monate in Paris festgenommen worden waren und deren Überführung nach Marokko von Spanien vorgeschlagen wurde – »auch bei den nach Kriegsende zu ergreifenden Maßnahmen zur grundsätzlichen Lösung der Judenfrage dem unmittelbaren Zugriff allzu sehr entzogen« wären – die (nach dem Krieg umzusetzende!) Endlösung war also nur als eine europäische definiert.29 Diejenigen, die die Gesamtzahl durch die Einbeziehung der Juden Französisch-Nordafrikas erklären (die zuvor erwähnten Autoren sind nicht die Einzigen, zu ihnen zählt allerdings nicht Michel Abitbol), bringen keinerlei Nachweis für ihre Behauptung aus der Zeit vor Wannsee.30 Dem gegenüber steht eine andere Gruppe von Forschern. Raul Hilberg weist in der ersten Ausgabe seines Werkes The Destruction of the European Jews – »europäisch« ist hier bezeichnenderweise Teil des Titels – im Abschnitt zur deutschen Präsenz in Tunesien 1942/43 darauf hin, dass »Tunisia […] Africa« gewesen sei, »and the ›final solution‹ by its very definition […] applicable only to the European continent«.31 In seinen Ausführungen zur Wannsee-Konferenz spricht er hiervon gar nicht.32 Auch Leni Yahil erwähnt die Juden Nordafrikas in ihren Ausführungen zur Wannsee-Konferenz nicht, charakterisiert
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Ebenda, S. 545. Friedländer, Die Jahre der Vernichtung, S. 368. Ebenda, S. 313. Edith Shaked bringt als Hauptnachweis ihrer Thesen einen Eintrag aus dem Dienstkalender Himmlers, datierend vom 10. Dezember 1942: »Juden in Frankreich 600–700.000 abschaffen«. Der Eintrag ist abgehakt, was bedeutet, dass Hitler im Gespräch mit Himmler den Vorgang autorisiert hat. Dies stellt in keiner Weise einen Nachweis dar, denn das Datum liegt elf Monate nach der WannseeKonferenz. Vgl. Edith Shaked, »The Holocaust. Reexamining the Wannsee Conference; Himmler’s Appointment Book and Tunisian Jews«, in: The Nizkor Project, URL: http://www.nizkor.org/hweb/ people/s/shaked-edith/re-examining-wannsee.html. Shaked widmet sich allerdings hauptsächlich dem Schicksal der Juden Tunesiens und spricht weder von Algerien noch Marokko, noch von Unterschieden zwischen diesen Ländern. Vgl. zum Dienstkalender Himmlers: Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, herausgegeben von Peter Witte u.a., Hamburg 1999. 31 Raul Hilberg, The Destruction of the European Jews, Chicago 1961, S. 411. 32 Ebenda, S. 264 f.
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aber Heydrichs Angaben »über die in Europa lebenden Juden« als »dubiose Zahlen«.33 In ihrer Monographie erwähnt sie die Juden Nordafrikas nur am Rande.34 Selbst bedeutende französische Historiker der Schoah lehnen eine Berücksichtigung der Juden Nordafrikas in der für Vichy gegebenen Auflistung ab. Michael Marrus und Robert Paxton belassen es dabei, in ihrer bahnbrechenden Studie Vichy et les Juifs im Abschnitt über das Wannsee-Protokoll die Zahl von »700.000 [für die unbesetzte Zone]« als »offensichtlich absurd« zu qualifizieren.35 Asher Cohen in seinem sehr umfangreichen Werk über die Schoah in Frankreich und Daniel Carpi in seiner Studie zu den italienischen Befehlshabern und den Juden Frankreichs und Tunesiens während des Zweiten Weltkrieges haben der Frage nach den Zahlen jeweils eine Vielzahl von Seiten gewidmet. Ihnen zufolge ist die im Protokoll angegebene Zahl anscheinend – das Wort »anscheinend« überrascht bei Carpi – den stark übertriebenen Schätzungen der Zahl der Juden in Vichy-Frankreich in den ersten Monaten des Jahres 1941 seitens des Commissariat général aux questions juives (Generalkommissariat für Judenfragen) geschuldet. Ihnen zufolge erwähnte weiterhin Theodor Dannecker, Mitarbeiter Eichmanns in Frankreich, in seinem Bericht vom 1. Juli 1941, »die Schätzungen« würden »zwischen 400.000 und 800.000 Juden« schwanken.36 Eine ausführliche Diskussion der Statistiken Danneckers findet sich bei Ahlrich Meyer in seinem Werk über die »Endlösung« in Frankreich. Auch er gelangt zu dem Schluss, dass sich die Zahl 700.000 nur auf die Juden Südfrankreichs bezieht und die Juden Nordafrikas nicht mit einschließt. Die Zahl stelle eine Art Mittelwert aus den Berechnungen Danneckers dar. Er präzisiert, dass letztere dann in die Hände Franz Rademachers gelangt seien, Leiter des Referats III der Abteilung Deutschland im Auswärtigen Amt und dort befasst mit »Judenangelegenheiten«; dies allerdings, »ohne daß sich der weitere Übermittlungsweg oder eine direkte Weitergabe der Statistik von Dannecker an Eichmann nachweisen ließe«.37
33 Leni Yahil, Die Shoah. Überlebenskampf und Vernichtung der europäischen Juden, München 1998, S. 436. 34 vgl. ebenda das Inhaltsverzeichnis. 35 Michael R. Marrus/Robert O. Paxton, Vichy France and the Jews, New York 1983, S. 222; zuerst frz.: Vichy et les Juifs, Paris 1981, S. 208. 36 Asher Cohen, Persécutions et sauvetages. Juifs et Français sous l’Occupation et sous Vichy, Paris 1993, S. 132–133; Daniel Carpi, Bein Schewet le-Chessed. Ha-Schiltonot ha-Italkiyim v-Ihudei Tzarefat ve-Tunisiya be-Milchemet ha-Olam ha-Scheniya [Zwischen Tribut und Barmherzigkeit. Italienische Behörden und die Juden Frankreichs und Tunesiens während des Zweiten Weltkrieges] Jerusalem 1993, S. 23 Anmerkung 31. 37 Ahlrich Meyer, Täter im Verhör. Die »Endlösung der Judenfrage« in Frankreich 1940–1944, Darmstadt 2005, S. 86–88.
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Wie kamen die Zahlen im Vorfeld der Wannsee-Konferenz zustande? Ungeachtet des überragenden Interesses an der Rolle der Besprechung im Rahmen des Entwurfs einer »Endlösung« hat sich erstaunlicherweise bisher kaum ein Historiker zum Erwerb der Daten in den verschiedenen Gebieten durch Eichmann und seine Mitarbeiter geäußert. Tatsächlich müsste diese Frage unsere Erklärungsbemühungen leiten, anstatt umgekehrt aus den Zahlen in der Tabelle Schlüsse auf Intentionen zu ziehen. Der Artikel von Christoph Kreutzmüller zur Zahl der Juden in den Niederlanden hebt sich in dieser Hinsicht positiv von anderen ab.38 Versucht man also, die Gültigkeit der vorgebrachten Zahlen zu überprüfen, wird beispielsweise gleich zu Beginn klar, dass die Zahlen auf einige Gebiete recht präzise zutreffen, wie für das Deutsche Reich, das vormalige Österreich, die Niederlande – hier beinhaltete die Zahl auch die sogenannten Mischlinge – und für Estland, das als »judenfrei« eingestuft war. Für andere, vor allem für die in der Sowjetunion noch nicht eroberten Gebiete, liegt die Zahl mit fünf Millionen Juden übertrieben hoch. (Für die in der Sowjetunion schon besetzten Gebiete, wo zehntausende Juden bereits getötet worden waren, hatten die Einsatzgruppen die Zahl 857.000 Juden berichtet, eine Zahl, die Eichmann geläufig war. Diese Zahl berücksichtigt auch, dass Estland wie oben erwähnt keine Juden mehr zählte).39 Jede Angabe muss somit überprüft werden. Christoph Kreutzmüller hat zudem bereits darauf hingewiesen, dass die am Wannsee präsentierte Auflistung einen groben Fehler enthält, der den Teilnehmern nicht entgangen sein kann: Serbien wird im Abschnitt der nicht eroberten Gebiete geführt, obwohl es tatsächlich neun Monate zuvor erobert worden war.40 Wie also wurden die Zahlen im Vorfeld der Sitzung zusammengestellt? Am 6. August 1941 erhielten die Leiter der »Reichsvereinigung der Juden in Deutschland«, in der alle Personen zwangsweise organisiert waren, die laut den Kriterien der »Nürnberger Gesetze« von 1935 der »jüdischen Rasse« angehörten, von der Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Berlin – eines der Instrumente des von Adolf Eichmann geleiteten Referats IV B 4 – den Befehl, schnell präzise Angaben über die Größe der jüdischen Gemeinden zu
38 Christoph Kreutzmüller, »Die Erfassung der Juden im Reichskommissariat der besetzten niederländischen Gebiete«, in: Johannes Hürter/Jürgen Zarusky (Hg.), Besatzung, Kollaboration und Holocaust. Neue Studien zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, München 2008, S. 21–44. Vgl. den überarbeiteten Beitrag in diesem Band. 39 Die sowjetische Volkszählung von 1937 wies für die gesamte Sowjetunion 2.175.108 Juden aus, vgl. Mordechai Altshuler, Soviet Jewry on the Eve of the Holocaust, Jerusalem 1998. Das Buch von PeterHeinz Seraphim über die Juden Osteuropas, veröffentlicht 1938, ist zum Standardwerk für mit den Juden und der SS beschäftigten Forschern geworden, und nennt für 1926 die Zahl von 2.476.700 Juden im europäischen Teil der Sowjetunion, vgl. Peter-Heinz Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum, Essen 1938, S. 290. 40 Kreutzmüller, »Die Erfassung der Juden«, S. 41.
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liefern.41 Drei Wochen zuvor, am 16. Juli 1941, hatte ein Treffen zwischen Hitler und einigen hohen Vertretern des Regimes (Hermann Göring, Alfred Rosenberg, Hans Lammers, Martin Bormann, Wilhelm Keitel) stattgefunden, also gerade zu dem Zeitpunkt, zu dem sich die Endlösungsplanung zu konkretisieren begann,42 sowie wenige Tage nach dem Schreiben Görings für Reinhard Heydrich, welches sehr wahrscheinlich von Heydrich und Eichmann verfasst worden und Göring zur Unterschrift vorgelegt worden war. Es ermächtigte Heydrich mit Datum vom 31. Juli 1941, die Möglichkeit einer »Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflussgebiet in Europa« zu prüfen.43 Die Anweisungen der Zentralstelle für jüdische Auswanderung an die »Reichsvereinigung der Juden in Deutschland« vom 6. August 1941 gingen offensichtlich über die Forderung nach einer bloßen Auflistung der Anzahl jüdischer Menschen hinaus. Da auch nach der Feststellung des »Judenbegriffs« entsprechend den Gesetzen in anderen Ländern gefragt wurde, zielte das Interesse des SD wohl auf eine künftige Vereinheitlichung der Politik gegenüber den Juden. Das »Aufoktroyieren« von Judenberatern war dann auch explizit ein Thema bei der Besprechung am 20. Januar 1942.44 Es ist bemerkenswert, dass als Betreff der Antwort der Reichsvereinigung vom 7. August zu lesen ist: »Betrifft: Begriffsbestimmung des ›Juden‹ in Ländern mit Judengesetzen«. Der Anhang zu diesem Schreiben, der die zentralen Aussagen enthält, ist dagegen überschrieben mit: »Anzahl der Juden, absolut und im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung der einzelnen Länder nach Erdteilen alphabetisch, mit Anhang über die Begriffsbestimmung der ›Juden‹, in Ländern mit Judengesetzen anhand der bekannt gewordenen Verordnungen«. Dies zeigt, dass in erster Linie die Statistiken und Zahlen interessierten und dass die übermittelten Daten sich auf die gesamte Welt und nicht allein Europa bezogen! Es gab also sich zeitlich überschneidende Anforderungen. Das lässt sich durch gleichzeitige mündliche Anfragen erklären, die die schriftliche Anfrage begleitet hätten, wie es im NS-Regime gängige Praxis war. All dies zeugt von Eifer und dem Willen, schnellstmöglich zu handeln, ebenso wie davon, 41 Schreiben der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland an die Zentralstelle für jüdische Auswanderung, 7. August 1941, BArch R 8150/25, S. 1, vgl. Dok. 1.1. Ich möchte Dr. Wolf Kaiser von der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz danken, der mir dieses Dokument überlassen hat. Der Anhang zum Schreiben findet sich auf den Seiten 2–20. 42 Jürgen Matthäus, in: Browning, Die Entfesselung der »Endlösung«, S. 388–391; Browning, in: Ebenda, S. 449 f.; Gerhard L. Weinberg, Germany’s War for World Conquest and the Extermination of Jews, Washington, D.C. 1995, S. 10. 43 Dieses berühmte Schreiben wurde zahlreiche Male veröffentlicht, seit es als Dokument PS 710 in den Nürnberger Prozessen eingeführt worden war. Vgl. Dokumententeil, Dok. 4.3. 44 Vgl. Dokumententeil, Dok 4.7. Sowie Cornelia Essner, Die »Nürnberger Gesetze« oder die Verwaltung des Rassenwahns 1933–1945, Paderborn 2000, S. 335–341; Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 607–617; Gideon Botsch, »Der Weg zum Massenmord an den Juden Europas«, in: Die Wannsee-Konferenz und der Völkermord an den europäischen Juden. Katalog der ständigen Ausstellung, herausgegeben von der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Berlin 2008, S. 72–86.
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dass sich Zukunftsvorstellungen nicht auf das momentane Ziel Europa beschränkten. Die unter massivem Druck stehenden jüdischen Funktionäre der RV wollten erst einmal schnell liefern – dann eben auch in mehreren Nachlieferungen. Sechs Tage nach ihrer ersten Antwort sandte die Reichsvereinigung ein zweites Schreiben an die Zentralstelle für jüdische Auswanderung, ebenfalls mit einem umfangreichen und wichtigen Anhang, der statistische Informationen und Quellen enthielt. Somit existieren zwei Auflistungen mit sehr detaillierten Statistiken vom 7. und vom 13. August 1941, die einzelne Länder und Kontinente aufführen (Neuseeland fehlt, aber nicht als einziges Land), ebenso wie eine ausführliche, nach Städten geordnete Liste für die Vereinigten Staaten und eine nach Regionen geordnete für Palästina (darunter der Negev).45
Erhobene Daten und weiterführende Fragen bezüglich Nordafrikas Die in der ersten Auflistung für die Juden Nordafrikas angegebenen Zahlen lauten wie folgt: Ägypten: 70.000, Äthiopien: 80.000, Algier: 115.000, Marokko: 181.000, Tunis 66.000. Libyen wird nicht erwähnt, ohne dass dies erklärt würde, und es wird die Zahl 1.000 für das »sonst.[ige] Afrika« angegeben, exklusive der Südafrikanischen Union, für die 95.000 Juden aufgeführt sind.46 Die zweite Auflistung übernimmt diese Zahlenangaben, schlüsselt aber »sonstige« afrikanische Länder detaillierter auf: »Sonst.[ige] britische Besitzungen 3 [000]«, »sonst.[ige] italienische Besitzungen 43 [000] (hier scheint es sich um Libyen zu handeln), Tanger 12 [000]«, »Übrige Länder 1 [000]«.47 Hinsichtlich der Gebiete, die Gegenstand dieses Artikels sind, sind die beiden Auflistungen identisch. Fügt man der für die Juden Algeriens, Marokkos und Tunesiens angegebenen Zahl die für das besetzte Frankreich und für die »freie Zone« (die unbesetzte Zone im Süden) aufgelistete Zahl von 280.000 hinzu (auch hier stimmen beide Auflistungen überein), erhält man 643.000, eine Zahl, die von derjenigen des Besprechungsprotokolls abweicht (165.000 + 700.000 = 865.000). Die Tatsache, dass die Auflistung nicht zwischen der besetzten und der unbesetzten Zone unterscheidet, ist von großer Bedeutung, wie später noch deutlich werden wird. Eichmann sammelte und aktualisierte indessen weiterhin Daten. Laut seiner Aussagen im Prozess in Jerusalem schloss er die Vorbereitungen Ende November oder Anfang Dezember 1941 ab,48 wobei die Besprechung ursprünglich für den 9. Dezember angesetzt war. Da sie aber aufgrund des japanischen Angriffs auf Pearl Harbor und der folgen45 Schreiben der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland an die Zentralstelle für jüdische Auswanderung, 13. August 1941, BArch R 8150/25, S. 21–65. 46 Schreiben vom 7. August 1941, BArch R 8150/25, S. 8. 47 Schreiben vom 13. August 1941, BArch, R 8150/25, S. 25. 48 Aussage Eichmanns gegenüber dem Richter Yitzhak Raveh, 106. Sitzung, 21. Juli 1961. vgl. Dokument 13.
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den deutschen Kriegserklärung an die USA verschoben wurde, hatte Eichmann Zeit, die Daten zu aktualisieren. Einen Tag später erhielt die Reichsvereinigung die »Anforderung«, zusätzliche Daten zu liefern. Am 11. Dezember 1941 traf in Folge der Einrichtung der UGIF (Union Générale des Israélites de France, einer Zwangsvereinigung, der alle Juden beitreten mussten) eine Berichtigung der Anzahl der Juden in Frankreich ein, gestützt auf Ausführungen des Generalkommissars für Judenfragen, Xavier Vallat. Diese korrigierten amtlichen Zahlen erschienen auch in einer Meldung der Frankfurter Zeitung vom 4. Dezember 1941. Eichmann erhielt durch eine Abschrift davon in der Mitteilung der Reichsvereinigung Kenntnis von diesem Zeitungstext: »Nach einer Aeusserung des Generalkommissars für die Judenfrage, Vallat, werden von dem neuen Gesetz (Zusammenfassung im ›Verband der Juden in Frankreich‹) im französischen Mutterlande 335.000 Juden betroffen und zwar fast zu gleichen Teilen im besetzten Gebiet 165.000 im unbesetzten Gebiet 170.000 – In den nordafrikanischen Besitzungen Frankreichs leben etwa 360.000 Juden und zwar in Marokko 160.000 in Algier 150.000 in Tunis 50.000.«49 Sowohl die Zahlen als auch der Text haben ihre Bedeutung. Addiert man zur Zahl der Juden in der unbesetzten Zone diejenigen der Gebiete Französisch-Nordafrikas, erhält man 530.000, eine von der sechs Wochen später während der Besprechung am Wannsee angegebenen Zahl von 700.000 weit entfernte Angabe, die allerdings nahe an derjenigen der Auflistung aus dem August liegt, wenn man die Zahl der Juden im besetzen Frankreich abzieht. Der Text selbst weist dieselbe Unterteilung Frankreichs in eine besetzte und eine unbesetzte Zone auf wie auch das Protokoll. Ebenso verhält es sich mit der Zahl der Juden in der unbesetzten Zone. Der einzige Unterschied liegt hier in der Zahlenangabe von 170.000 im genannten Dokument gegenüber 700.000 im Protokoll, welche laut den Daten, die Eichmann vorlagen, nicht das Ergebnis der Berücksichtigung der Juden Französisch-Nordafrikas darstellten. Was also war geschehen? Um das Rätsel der umstrittenen Zahlen zu lösen, müssen zuallererst Text und größerer Kontext berücksichtigt werden. Im gesamten Protokoll ist von der »Endlösung der europäischen Judenfrage« die Rede. Heydrich erwähnt dies in seiner Einführung sowie an weiteren vier Stellen. In den Ausführungen zur Umsetzung der Endlösungspolitik werden nur 49 BArch R 8150/28, S. 11; vgl. die Kopie in Dokument 1.2.
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die europäischen Staaten und Gebiete erwähnt, und im Hinblick auf die Sowjetunion ist zu lesen: »Der Einfluß der Juden auf alle Gebiete in der UdSSR ist bekannt. Im europäischen Gebiet leben etwa 5 Millionen, im asiatischen Raum knapp 1/4 Million Juden.«50 In der Auflistung wird im Hinblick auf Europa stets präzisiert, wenn ein Sachverhalt mehrdeutig ist. So steht dort beispielsweise »Türkei (europäischer Teil)«. Andererseits gibt es auch für all diejenigen Länder ausführliche Daten, die sich auf ein größeres als ihr ursprüngliches Territorium erstreckten. Sardinien und Albanien werden unter Italien aufgelistet. Für die Zahl der Juden in Rumänien wird präzisiert, dass sie die Juden Bessarabiens beinhaltet. Es tauchen also keine Angaben zu außerhalb Europas gelegenen Gebieten auf und diejenigen Gebiete, die nicht selbstverständlich einem bestimmten Land zuzuordnen sind, werden differenziert aufgeschlüsselt. Das Argument, die französischen Kolonien in Nordafrika seien damals als Bestandteil Frankreichs betrachtet und automatisch in die Zahl für Frankreich einbezogen worden, lässt sich durch das Beispiel der Niederlande und seiner Kolonien, so Niederländisch-Ostindien (Indonesien), Surinam und die niederländischen Antillen, leicht widerlegen, oder auch durch das Beispiel Großbritanniens, Portugals und Spaniens (vor allem in Nordafrika). Die angegebene Zahl bezieht sich in diesen Fällen immer nur auf Europa. Auch darf man nicht vergessen, dass nicht alle französischen Kolonien den gleichen Status hatten: Die algerischen Departments wurden als eng zu Frankreich gehörig betrachtet, Marokko und Tunesien dagegen waren Protektorate. Die Begrenzung auf Europa sollte nicht überraschen. Alle Wannsee vorausgehenden Dokumente betonen, dass es sich um eine Lösung, ob nun »grundsätzliche Lösung«, »Gesamtlösung« oder »Endlösung« der Judenfrage, in Europa handelte. Die große Wende in der zweiten Jahreshälfte 1941 bestand darin, dass die Idee der systematischen Ermordung in ganz Europa infolge des Genozids in der Sowjetunion Gestalt annahm. Diese Idee wurde organisatorisch wie technologisch weiter systematisiert. In diesem Zeitraum begann die Umsetzung der Zukunftsvision, die Hitler in seiner bekannten Rede vor dem Reichstag am 30. Januar 1939 geäußert hatte: »Ich will heute wieder ein Prophet sein. Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.«51 »Die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa« war 1941/42 zeitgenössisch die unter den Amtsträgern des NS-Regimes verbreitete und vorherrschende Vorstellung. Die zitierte Vernichtungsphantasie hatte Hitler nicht nur am 30. Januar 1939 verkündet, sondern in den folgenden Jahren auch mehrmals wiederholt. In der zweiten Septemberwoche
50 Vgl. im Dokumententeil, Dok. 4.7. 51 Zit. nach Max Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, München 1965, Bd. 2, S. 1057.
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1941 war dieses Zitat der Wochenspruch der NSDAP, der in den Parteilokalen aushing.52 Zudem schrieb Theodor Dannecker, Leiter des Judenreferats und Mitarbeiter Eichmanns in Frankreich schon am 21. Januar 1941 in einer Denkschrift, die an alle Abteilungen des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) adressiert war: »Gemäß dem Willen des Führers soll nach dem Kriege die Judenfrage innerhalb des von Deutschland beherrschten oder kontrollierten Teiles Europas einer endgültigen Lösung zugeführt werden.«53 SS-Sturmbannführer Paul Zapp schrieb in einem Redenmanuskript für Heinrich Himmler: »Die politische und diplomatische Führung Adolf Hitlers hat die Grundlagen für die europäische Lösung der Judenfrage geschaffen.«54 Ende 1941, fünf Tage vor dem ursprünglichen Datum der Besprechung am Wannsee, verfasste Franz Rademacher in der mit »Judenangelegenheiten« betrauten Abteilung Deutschland im Auswärtigen Amt eine von Unterstaatssekretär Martin Luther unterzeichnete Vortragsnotiz für Staatssekretär Ernst von Weizsäcker. Darin ist zu lesen: »Die Gelegenheit des Krieges muss benutzt werden, in Europa die Judenfrage endgültig zu bereinigen.«55 Wenn das Besprechungsprotokoll nur von der »Endlösung der Judenfrage in Europa« handelt, wäre es inkonsequent, die für das unbesetzte Frankreich dort vorgebrachte, überraschende Zahl gegen die Grundaussage des Dokuments zu lesen. Kann die Zahl einem Tippfehler geschuldet sein? Diese Möglichkeit wird von Historikern oft ausgeschlossen – ein Fehler in einem Dokument der nationalsozialistischen Führungsebene? Im »Protokoll« einer so wichtigen »Konferenz«, von der die Planung der »Endlösung« abhängt? Tatsächlich gibt es durchaus häufig Fehler in deutschen Dokumenten, so wie in allen persönlichen oder administrativen Dokumenten. Für den vorliegenden speziellen Fall wurden bereits Fehler und Unstimmigkeiten erwähnt (Serbien). Da es sich einerseits nicht um eine »Konferenz« im eigentlichen Sinn handelte und andererseits die Teilnehmer dort nicht den Beginn der »Endlösung« beschlossen, stellt dies auch kein Problem dar. Das Ziel dieser Besprechung war ein ganz anderes, nämlich die Autorität Heydrichs zu stärken und für die Kooperation zwischen den verschiedenen beteiligten Stellen zu sorgen. Es ist bemerkenswert, dass wir über persönliche Aussagen des Autors selbst zu diesem Dokument verfügen, auch wenn dessen Abfassung zum Zeitpunkt der Stellungnahme 19 Jahre zurücklag. Er bestätigte uns, dass es Irrtümer beinhaltet, vor allem im Hinblick auf den 52 Peter Witte, »Zwei Entscheidungen in der ›Endlösung der Judenfrage‹. Deportationen nach Łodz und Vernichtung in Chełmno«, in: Theresienstädter Studien und Dokumente 1995, S. 38–69, hier S. 46. 53 Zit. nach Browning, Die Entfesselung der »Endlösung«, S. 162. Serge Klarsfeld, Vichy–Auschwitz. Die Zusammenarbeit der deutschen und französischen Behörden bei der »Endlösung der Judenfrage« in Frankreich, Nördlingen 1989, S. 361–363. 54 Wolfram Meyer zu Uptrup, Kampf gegen die »jüdische Weltverschwörung«. Propaganda und Antisemitismus der Nationalsozialisten 1919 bis 1945, Berlin 2003, S. 449, Anmerkung 120. 55 Luther an Weizsäcker, 4.12.1941, YVA, 051.463, zit. nach Eckart Conze u.a., Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010, S. 186.
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Untersuchungsgegenstand dieses Artikels. Während des Prozesses gegen Adolf Eichmann stellten der Staatsanwalt Gideon Hausner und das Gericht dem Angeklagten zahlreiche Fragen zum Protokoll. Als Hausner nach den Zahlenangaben fragte, antwortete Eichmann: »Bei den Zahlen bin ich erst jetzt – in der neueren Zeit – daraufgekommen, daß bei den Zahlen etwas nicht stimmt. Bei Frankreich z.B. – aber ich weiß nicht, vielleicht ist es auch möglich, daß ich schon damals die Zahlen falsch geschrieben habe.«56 Hierin besteht tatsächlich die wahrscheinlich plausibelste und logischste Erklärung, um so mehr, als dass bei genauer Betrachtung des bereits zitierten Dokuments aus dem berichtigenden Schreiben der »Reichsvereinigung der Juden in Deutschland« vom 11. Dezember hinsichtlich der Juden Frankreichs auffällt, dass nach der Zahl 170.000 sowohl ein Strich als auch ein Punkt stehen, was zunächst für eine zusätzliche Zahl, für eine Null gehalten worden sein könnte. Man kann vermuten, dass die Person, die die Zahlen von Hand abgeschrieben hat, diese vermeintliche zusätzliche Null zunächst hinzufügte, dann aber dachte, es handele sich sicher um einen Fehler im Originaldokument, da die Zahl 1.700.000 unmöglich korrekt sein konnte. Sie korrigierte also die 1.700.000, indem sie die voranstehende Ziffer 1 wegstrich, wodurch die Zahl 700.000 verblieb. Dies ist freilich eine Hypothese, die zwar plausibel aber letztlich nicht zu verifizieren ist. Als Tatsache steht jedoch durch den Vergleich mit Eichmanns Quelle fest, dass an dieser Stelle ein Fehler Eingang in das »Protokoll« gefunden hat.
Wären die Juden Nordafrikas in die »Endlösung« einbezogen worden, wenn die deutsche Besatzung länger gedauert hätte? Oder anders gefragt: Wäre die »Endlösung« nicht auf die Juden Nordafrikas angewandt worden, selbst wenn dies möglich gewesen wäre? Historiker können kontrafaktische Fragen kaum seriös beantworten. Gestützt auf die wenigen zur Verfügung stehenden Daten kann man aber versuchen, eine Antwort zu wagen. Klaus-Michael Mallmann und Martin Cüppers wiesen vor einigen Jahren auf das Einsatzkommando »Ägypten« hin, das unter der Leitung von Walter Rauff stand und aufgestellt worden war, um nach dem Vorstoß der Truppen Rommels erst in Ägypten und dann in Palästina zu operieren. Da das Unternehmen fehlschlug, wurde Rauff in Tunesien eingesetzt.57 Gebhardt von Walther vom deutschen Konsulat in Tripolis, Libyen, wies in einem Bericht vom 12. Mai 1942 darauf
56 Sitzung vom 18. Juli 1961, vgl. im Dokumententeil, Dok. 13. 57 Klaus-Michael Mallmann/Martin Cüppers, »Beseitigung der jüdisch-nationalen Heimstätte in Palästina. Das Einsatzkommando bei der Panzerarmee Afrika 1942«, in: Jürgen Matthäus/Klaus-Michael Mallmann (Hg.), Deutsche, Juden, Völkermord. Der Holocaust als Geschichte und Gegenwart, Darmstadt 2006, S. 153–176; Klaus-Michael Mallmann/Martin Cüppers, Halbmond und Hakenkreuz, Darmstadt 2006.
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hin, dass auch dort Pläne zur Vernichtung der Juden umgesetzt werden sollten.58 Tausende Juden in Tunesien wurden auf Druck der deutschen Besatzer zeitweilig zur Zwangsarbeit getrieben und jüdische Gemeinden zu Tributzahlungen gezwungen. Zwanzig jüdische Aktivisten wurden aus Tunesien nach Europa deportiert und kamen dort in Vernichtungslagern ums Leben. Die große jüdische Gemeinde Tunesiens überlebte jedoch die deutsche Besatzung. Heute wissen wir, dass die Planungen der »Endlösung« nicht strukturiert und organisiert waren, und dass sie sich gemäß einer internen Dynamik entwickelten, sobald Hitler grünes Licht gegeben hatte und die Räume, in denen gemordet wurde, sich weiteten. Die ersten, bereits erwähnten Maßnahmen deuten also darauf hin, dass es durchaus als wahrscheinlich anzusehen ist, dass das nationalsozialistische Regime die in Europa entwickelte Politik auch außerhalb europäischer Grenzen angewandt hätte, wäre ihm dies möglich gewesen. Letzten Endes kämpfte Hitler gegen das »Weltjudentum« und nicht nur gegen die Juden Europas.59 Die Besprechung am Wannsee fand laut Ian Kershaw »in einer Übergangsphase statt, aber die Entscheidung, die europäischen Juden zu ermorden, war definitiv gefallen, auch wenn die Vereinbarungen vom Januar 1942 noch nicht ausgereift waren.«60 Diese Entscheidung betraf zu diesem Zeitpunkt ausschließlich die Juden in Europa. Daher kann, aus der Perspektive der umfassenden antijüdischen Politik von Nazi-Deutschland und dessen Verbündeten, das Schicksal der nordafrikanischen Juden in den Begriff »Schoah« aufgenommen werden. Allerdings waren die nordafrikanischen Juden nicht in die Planung der europaweiten »Endlösung« einbezogen, die am Wannsee im Januar 1942 diskutiert wurde.
58 Vgl. Wortlaut des Berichts vom 12. Mai 1942, in: Archiv Yad Vashem JM/2213. Dieses Schreiben ist im Aufsatz von Esther Haran, »Verfolgung der Juden Libyens, wie sie sich in den Berichten des deutschen Konsulats in Tripolis darstellt« [hebräisch], in: Yalkut Moreshet 33 (Juni 1982), S. 156. 59 In den oben zitierten Ausführungen des Redemanuskripts Paul Zapps für Himmler (vgl. S. 395 und Anmerkung 54) wird in der Folge beschrieben, dass nach der Lösung der Judenfrage in Europa die »Lösung der Weltjudenfrage« beginnen werde. Theodor Scheffer organisierte später während des Sommersemesters 1943 eine wissenschaftliche Konferenz im Rahmen eines politisch-pädagogischen Seminars an der Universität Jena, dessen Gegenstand »Die Judenfrage« war. Er erklärte: »Es ist für uns nicht damit abgetan, daß wir die Judenfrage im Reich weitgehend gelöst haben. Sie ist eine Weltfrage, mit der dieser Krieg und seine immer heftiger werdenden Kämpfe zusammenhängen.« Siehe Uwe Hoßfeld u.a. (Hg.), Kämpferische Wissenschaft. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln 2003, S. 530 f. Die Vorstellung, die Endlösung über die Grenzen Europas hinaus auszuweiten, haben mehrere ideologische Vordenker schon propagiert, als ihre Umsetzung noch nicht möglich war. 60 Ian Kershaw, Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg, München 2008, S. 585.
Mark Roseman
»Wannsee« als Herausforderung Die Historiker und die Konferenz
I. Seit der Entdeckung des Protokolls im Jahr 1947 hat die Wannsee-Konferenz sowohl auf Historiker als auch auf eine größere Öffentlichkeit eine ambivalente Faszination ausgeübt und ist zum Gegenstand von Romanen, Filmen, mehreren spezialisierten Artikeln und Büchern geworden. Das Nebeneinander von kultivierter Unterhaltung und äußerst kaltherzigem Inhalt liefert ein prägnantes Bild von der modernen Barbarei des Holocausts.1 Das Protokoll der Wannsee-Konferenz hat in der Nachkriegszeit aber auch wegen der ungewöhnlichen Klarheit, mit der die Pläne der Nazis hinsichtlich des europäischen Judentums ausgeführt wurden, die Fantasie beflügelt. Nirgendwo sonst findet man eine derart unverblümte Aufstellung einer achtstelligen »Ermordungsliste« von nationalen jüdischen Bevölkerungsgruppen. Und obwohl das Protokoll mit den üblichen Euphemismen garniert ist (»Evakuierungen«, »Möglichkeiten im Osten«), wird in den überlieferten Quellen selten so unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass das gewünschte Ergebnis für alle der Tod sei. Angesichts der ausladenden Art und Weise, mit der Heydrich von der Notwendigkeit einer umfassenden Lösung für die Judenfrage spricht, erstaunt es wenig, dass zunächst viele dieses Treffen als das entscheidende ansahen, an dem der Plan, die Endlösung durchzuführen, ausgebrütet worden sei. Für Robert Kempner, den amerikanischen Ankläger, dessen Team das Protokoll entdeckte, ebenso wie für den im Jahre 2001 gestarteten Film Conspiracy, bestand die Bedeutung und die dunkle Faszination der Konferenz in der Vorstellung, dass hier das Programm des Massenmords beschlossen worden sei. Seit der Entdeckung des Protokolls waren Fachleute jedoch generell der Auffassung, dass das Treffen nicht der Moment der Entscheidung gewesen sein konnte. Deren Meinung basiert zum Teil darauf, dass die ranghöchsten Exponenten des Regimes (Hitler, Himmler und Göring) an der Konferenz nicht teilnahmen. Vor allem aber waren zum Zeitpunkt des Treffens bereits mehr als eine halbe Million Juden ermordet worden und die Deportation deutscher Juden schon in vollem Gange. Der Ausgangspunkt für die Experten war also oft die Bestrebung, die allgemeine Bewertung der Konferenz zu widerlegen. So Yehuda Bauer 1980: »Die Konferenz ist als das Forum dargestellt worden, auf dem 1 Aus dem Englischen von Katharina Böhmer. Für ihre intensive Arbeit am Manuskript und viele Anregungen und Verbesserungen möchte ich Roberta Pergher herzlich danken.
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die Vernichtung der europäischen Juden beschlossen wurde. Nichts dieser Art geschah.« 2 Doch trotz wiederholter Feststellungen ist die öffentliche Sichtweise hiervon unbeeinflusst geblieben – und wurde zudem von Romanen, Zeitungen und sogar von einigen Autoren, die sich als Experten ausgaben, bestätigt.3 Angesichts dieser weitverbreiteten Ansicht sah sich der deutsche Bundespräsident in seiner Rede zum 70. Jahrestag der Konferenz wohl veranlasst, das gängige Missverständnis weiterhin aufrechtzuerhalten. Die anhaltende Diskrepanz zwischen dem fachwissenschaftlichen Standpunkt und dem Bild in der Öffentlichkeit liefert den Fachhistorikern zwar die heilsame Erkenntnis, dass sie nicht allein über die Geschichte des Holocaust verfügen, sie zeigt aber auch, dass Fakten eine publikumswirksame Erzählung kaum berichtigen. Auf einer tieferen Ebene ist jedoch ersichtlich, dass beide Seiten Schwierigkeiten haben, Wannsee im Entscheidungsprozess richtig zu verorten. Einerseits herrscht in der Öffentlichkeit generell ein Bild des Dritten Reiches, das extrem auf Hitler fokussiert ist. Die Vorstellung, eine kleine Sitzungsrunde ohne Hitler hätte über die »Endlösung« entscheiden können, passt eigentlich nicht in dieses Bild und zeigt also, dass die gängige Vorstellung von der WannseeKonferenz dem öffentlichen Hitlerbild so gar nicht entspricht. So erklärt sich, dass sich die Macher des Films Conspiracy verpflichtet fühlten, im Hintergrundkommentar am Anfang des Films einen Hitlerbefehl zu suggerieren, ohne die eindeutig falsche Aussage zu riskieren, Hitler habe die Sitzung anberaumt. Andererseits ist es Fachhistorikern ebenfalls bis vor kurzem schwergefallen, den programmatischen und deklaratorischen Charakter des Wannsee-Protokolls in ihre eigenen Interpretationen des Holocausts zu integrieren, wobei sie dem Treffen meistens eine nur nebensächliche Rolle zuwiesen. Die Diskussion über die Wannsee-Konferenz hat natürlich im Rahmen größerer Debatten über die Genesis der Endlösung stattgefunden, und viele der Texte, die hier diskutiert werden, behandeln die »Schwarze Konferenz«4 nur als kleinen Ausschnitt in einer breiteren Analyse. Die Schwierigkeit, die Rolle der Wannsee-Konferenz richtig einzuschätzen, entspricht zum guten Teil der Komplexität des Holocausts. Allem voran ist die Tatsache zu nennen, dass der »Pfad nach Auschwitz«5 nur holprig dokumentiert ist. Hitler selbst scheint sich nicht schriftlich über jüdische Angelegenheiten geäußert zu haben, und grundlegende Entscheidungen sind voraussichtlich nur mündlich mit sehr engen Mitarbeitern getroffen worden. Darüber hinaus ist Hitlers Rhetorik so blutrünstig, dass die Annahme leicht fällt, er habe den Genozid bereits in den 1920er Jahren ins Auge 2 Yehuda Bauer, »Genocide: Was It the Nazis’ Original Plan?«, in: The Annals Of The American Academy Of Political And Social Science 450 (1980), S. 35–45. 3 Siehe z.B. den Abschnitt »The Wannsee Decision« in Rita S. Botwinick, A history of the Holocaust: from ideology to annihilation, 3rd ed., Upper Saddle River, N.J., 2004, S. 182. 4 So die Bezeichnung im Wilhelmstraßen–Prozess. Siehe Cornelia Essner, Die »Nürnberger Gesetze« oder Die Verwaltung des Rassenwahns 1933–1945, Paderborn 2002, S. 384. 5 Karl A. Schleunes, The twisted road to Auschwitz. Nazi policy toward German Jews, 1933–1939, Urbana 1970.
»Wannsee« als Herausforderung
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gefasst. Es deutet jedoch wenig darauf hin, dass sich das Regime vor 1940/41 einem solchen verschrieben hatte. Die eigentlichen Weichenstellungen hin zum Massenmord sind nicht leicht auszumachen. Es mag trotzdem verwundern, wie schwer sich Historiker getan haben, die Funktion der Wannsee-Konferenz zu definieren. Dieses Kapitel zeigt, dass die Antworten, die die einflussreichsten Aufsätze zur Konferenz noch Anfang der 1990er Jahre anboten, kaum schlüssiger oder überzeugender waren als die ersten Versuche früher Holocaust-Forscher Anfang der 1950er Jahre. Weil viele der Einsichten der frühen Forschung zum Holocaust in den folgenden Jahrzehnten verloren gingen, ist es tatsächlich so, dass Historiker der ersten Stunde wie Léon Poliakov ein besseres Gespür für die Ideenwelt der Konferenzteilnehmer hatten, als das Gros der Autoren, die zu den Debatten der späten 1970er und 1980er Jahre zur Entstehung der Endlösung beitrugen. Das größte Hindernis zur Aufschlüsselung des Wannsee-Rätsels war aber die an sich verständliche Annahme, Hitler hätte spätestens zum Zeitpunkt des Massenmords in der Sowjetunion eine Entscheidung gefällt haben müssen, das europäische Judentum zu vernichten. Wenn das zutraf, ist es schwer erklärbar, warum sechs Monate später eine Sitzung nötig war, um die Grundlagen für eine zukünftige »Endlösung« vorzubereiten, und vor allem, was es mit den vielen Bemerkungen im Protokoll über den provisorischen und noch zu definierenden Charakter des Ermordungsprogramms auf sich hatte. Dass die Ereignisse in einem neuen Licht gesehen werden, ist nur der intensiveren Forschung der vergangenen zwei Jahrzehnte zu verdanken, die sich auf die inzwischen zugänglichen deutschen Quellen in der ehemaligen Sowjetunion stützt. Sie hat dazu beigetragen, unsere Gesamtinterpretation über die Herauskristallisierung der »Endlösung« zu revidieren und dem Treffen vom 20. Januar größeren »Sinn« zuzuschreiben. In der Zusammenfassung dieses Aufsatzes wird allerdings angedeutet, dass die jüngsten Forschungen von Cornelia Essner den Schluss nahelegen, dass wir möglicherweise immer noch keine definitive Erklärung gefunden haben.
II. Im Laufe der letzten zehn Jahre hat man begonnen wiederzuentdecken, wie viel eigentlich bereits in der frühen Nachkriegszeit über den Holocaust geschrieben worden ist – vieles davon ist sachverständig und aufschlussreich.6 In erster Linie wurden diese Forschungen in Osteuropa durchgeführt, aber auch eine geringe Anzahl westeuropäischer, jüdischer Wissenschaftler war daran beteiligt. Léon Poliakov veröffentlichte seine bemerkenswerte Überblicksstudie zum Holocaust, sein Bréviaire de la Haine, bereits 1951 und Gerald Reitlingers verdienstvolle und umfangreiche Darstellung The final solution; the attempt 6 Hasia R. Diner, We remember with reverence and love: American Jews and the myth of silence after the Holocaust, 1945–1962, New York 2009; David Cesarani/Eric J. Sundquist, After the Holocaust: challenging the myth of silence, London u.a. 2012.
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to exterminate the Jews of Europe, 1939–1945 erschien gerade einmal zwei Jahre später, 1953. Besonders Poliakovs Arbeit liefert ein exzellentes Rahmenwerk zum Verständnis der »Endlösung«. Viele der Themen, die er hervorhob – z. B. die Bedeutung der wirtschaftlichen Ausbeutung und die Funktion der Propaganda – sind erst sehr viel später von anderen Historikern wieder aufgenommen worden. Poliakovs These, dass Hitler bereits Anfang 1941 die Entscheidung zur Ermordung der Juden gefällt haben müsse, ist, auch wenn heutzutage nicht unbedingt die dominierende Sichtweise, immer noch nicht widerlegt und entspricht der Darstellung von Richard Breitman, die dieser vier Jahrzehnte später formulierte.7 Die frühe Forschung war deswegen so ergiebig, weil das Quellenmaterial rasch zugänglich war. Ein Blick auf Tenenbaums Werk Race and Reich macht deutlich, dass sich der Autor gerade einmal zehn Jahre nach Kriegsende auf ungefähr 20 jeweils mehrbändige Reihen zu den verschiedenen Nachkriegsprozessen sowie 15 weitere Quelleneditionen stützen konnte.8 Diese Quellenfülle wurde noch weiter aufgewertet durch den Ordner zur »Endlösung«, der kurz vor Beginn des Wilhelmstraßen-Prozesses unter den Akten des Auswärtigen Amtes gefunden wurde und der auch das Wannsee-Protokoll enthält. Bis in die frühen 1990er Jahre hinein arbeiteten die Historiker zum größten Teil mit demselben Quellenmaterial wie Léon Poliakov 1950, obwohl sie aus den deutschen Gerichtsakten, die in den Prozessen der späten 1950er und 1960er Jahre entstanden waren, großen Nutzen hätten ziehen können. Natürlich bleibt die Quellenlage zur Judenpolitik auf höchster Entscheidungsebene dürftig und Poliakovs eloquente Zusammenfassung der Lücken in der schriftlichen Überlieferung lohnt noch immer die Lektüre. Poliakovs Darstellung der Wannsee-Konferenz zeigt allerdings auch deutlich die Schwächen eines so frühen Versuchs. So erlag er beispielsweise der irrtümlichen Vorstellung, dass das Treffen am Hauptsitz des Reichssicherheitshauptamts (Prinz-AlbrechtPalais) stattfand, wenngleich die Unsicherheit hinsichtlich des Ortes bis in die 1980er Jahre andauerte. In stilistischer Hinsicht war Poliakov der Begriff »die Wannsee-Konferenz«, der schon bald zum in der Nachkriegszeit gebräuchlichen Namen für das Treffen werden sollte, noch nicht geläufig.9 Aber vielleicht gerade weil die Konferenz sich noch nicht als derart bedeutsame Instanz in der Vorstellung der Nachkriegszeit etabliert hatte, bestand für ihn nicht die Gefahr, ihre Bedeutung zu überbewerten. Er behandelte sie einfach als das erste in einer Reihe von Treffen, die alle dem Ziel gedient hatten, die administrativen Kompetenzen auszuhandeln und festzulegen, welche Kategorien von Juden vom sich abzeichnenden Deportationsprogramm betroffen sein sollten. So gesehen hatte Poliakov sicherlich einige der wesentlichen Ziele der Wannsee-Konferenz erkannt. In 7 Richard Breitman, The architect of genocide: Himmler and the final solution, 1st ed., New York 1991. 8 Joseph Tenenbaum, Race and Reich; the story of an epoch, New York 1956. 9 Léon Poliakov, Harvest of hate: the Nazi program for the destruction of the Jews of Europe, rev. and expanded ed., New York 1979, S.140ff.
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Reitlingers kenntnisreicher Darstellung wurde dem Treffen am Wannsee mehr Bedeutung zugemessen und doch bleibt sie ein Stück weit spekulativer. Seine Annahme, Absicht des Treffens sei es gewesen, die Deportationen zwischen Deutschland, Ungarn und Rumänien abzustimmen, würde heute kaum mehr Zustimmung finden. Auch wenn deutlich ist, dass das Treffen unter anderem dazu diente, einige wichtige diplomatische Fragen hinsichtlich der ausländischen Juden wenigstens anzusprechen, so stand diese Frage nicht im Mittelpunkt der Agenda.10 Reitlinger griff jedoch eine Problematik auf, die noch viele Historiker nach ihm beschäftigen sollte, nämlich Himmlers Verhältnis zu dem Treffen, dem er ja nicht beiwohnte. Schließlich bezog sich Heydrich als Himmlers Untergebener für seinen Handlungsauftrag auf einen direkten Befehl Görings, der Himmler übergangen zu haben schien. Bis in die 1970er Jahre hinein hatten sich Historiker, darunter eben auch Reitlinger, von Himmlers physischem Aussehen zur Annahme verleiten lassen, der bebrillte und pausbäckige Reichsführer-SS sei eine wirkungslose Gestalt gewesen, die sein gutaussehender Untergebener nervös gemacht habe. So war für Joseph Tenenbaum Heydrich »die finsterste Gestalt in einer Gesellschaft von Halsabschneidern und Gangstern«. »Er hatte dazu beigetragen, Himmler von einem zweitrangigen bayrischen Polizeihäuptling zum allmächtigen Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei aufzubauen.« Das RSHA war das Werk seines »bösen Genius’«, und mit Eichmann wählte sich Heydrich »einen ebenso fanatischen und skrupellosen Vollstrecker«.11 Reitlinger war sogar der Auffassung, Himmler hätte einen geheimen Plan um Auschwitz ausgeheckt (den »Auschwitz-Plan«), sich aber erst nach Heydrichs Tod getraut, Müller und Eichmann einzuweihen. Wolfgang Scheffler revidierte später Reitlingers Erkenntnis und argumentierte im Gegenzug, Heydrich hätte befürchtet, sein Einfluss könnte schwinden, weil Himmler tatsächlich sein KZ-Imperium ohne Heydrichs Beteiligung ausgebaut hatte.12 Im Folgenden wird gezeigt, dass dies einer von vielen Bereichen ist, in dem jüngere Quellenfunde unser Verständnis verändert haben. Trotz all ihrer Erkenntnisse hinsichtlich politischer Strategien und Ideen ist keiner dieser frühen Autoren wirklich mit den Herausforderungen zurechtgekommen, die die Wannsee-Konferenz stellte und die ihre Verortung in den Gesamtdarstellungen zur Endlösung erschwerten. Alle glaubten verständlicherweise, dass Hitler eine vorhergehende Entscheidung getroffen habe, den Genozid an den europäischen Juden in Angriff zu nehmen. Was also konnten Heydrichs Bemerkungen, es sei nötig, die Grundlage für eine zukünftige Lösung zu schaffen, tatsächlich bedeuten? Joseph Tenenbaum stolperte über den absonderlichen Wortlaut des Protokolls, ohne dieses Rätsel anscheinend zu bemerken. Er stellte zunächst fest, dass mehr als sieben Monate vergangen waren, seit 10 Gerald Reitlinger, The final solution: the attempt to exterminate the Jews of Europe, 1939–1945 London 1953, S. 95. 11 Tenenbaum, Race and Reich; S. 251. 12 Wolfgang Scheffler, »Die Wannsee-Konferenz und ihre historische Bedeutung«, in: Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz (Hg.), Erinnern für die Zukunft, Broschüre, Berlin 1992.
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Heydrich seine Tötungsbefehle den Mordkommandos in der Sowjetunion erteilt hatte. Tenenbaums Sicht zufolge waren diese Anweisungen die letzten in einer Reihe von Zwischenstufen, bevor die Endlösung vollständig umgesetzt wurde. Doch das alles lag in der Vergangenheit. Tenenbaum fuhr fort: »Jetzt war die Endlösung in vollem Gange. Um Heydrich zu zitieren: ›Diese Aktionen sind jedoch lediglich als Ausweichmöglichkeiten anzusprechen; nichtsdestotrotz ist hier bereits die kommende Endlösung der Judenfrage von wichtiger Bedeutung‹.«13 Einmal abgesehen von der Art und Weise, wie Tenenbaum die zweite Satzhälfte verstümmelte,14 was konnte mit »Ausweichmöglichkeiten« gemeint sein, wenn die Endlösung tatsächlich schon in vollem Gange sein sollte? Hatte sie schon begonnen oder stand sie noch bevor? Der Theresienstadt-Überlebende H.G. Adler hatte ähnliche Schwierigkeiten. Vielen Historikern bereitete Heydrichs vermutlich absichtlich ambivalent formulierter Satz Kopfzerbrechen: »Anstelle der Auswanderung ist nunmehr als weitere Lösungsmöglichkeit nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten.« Unklar ist hier, ob Hitlers Zustimmung bereits vorlag oder ob diese noch eingeholt werden musste. Adler, der überzeugt war, dass ein eindeutiger Befehl bereits lange zuvor erhalten worden war, zitierte den Satz zwar, ersetzte jedoch das »entsprechender vorheriger« durch Auslassungspunkte!15 Bemerkenswert ist, dass viele englische Übersetzungen des Satzes versuchen, die Uneindeutigkeit des Satzes aus dem Weg zu räumen, oftmals, indem sie unberechtigterweise Satzteile einfügen oder auslassen.
III. Die Auswirkung des Eichmann-Prozesses auf die weltweite Wahrnehmung des Holocaust ist bekannt. Nachdem in den Jahren 1961/62 in Israel, Europa und Nordamerika ausführlich darüber berichtet worden war, wurde seine Resonanz durch die darauf folgende Veröffentlichung von Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem noch verstärkt. Während der Gerichtsverhandlung bezog sich die Staatsanwaltschaft mehrfach auf die WannseeKonferenz, und auch Eichmann hob ihre Bedeutung hervor. Die New York Times, die 1947 die Entdeckung des Wannsee-Protokolls keiner Meldung für wert befunden hatte, berichtete jetzt erstmals über dieses Treffen. Die Anzahl der englischen und deutschsprachigen Bücher, die sich auf die eine oder andere Weise mit der Wannsee-Konferenz befassten, stieg rasant an und erreichte einen ersten Höhepunkt in den Jahren 1965/66. 13 Tenenbaum, Race and Reich, S. 255. 14 Im Protokoll heißt es »...doch werden hier bereits jene praktischen Erfahrungen gesammelt, die im Hinblick auf die kommende Endlösung der Judenfrage von wichtiger Bedeutung sind.«, siehe Dokumententeil, Dok. 4.7. 15 H.G. Adler, Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland, Tübingen 1974, S. 83, 89.
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Was das Verständnis der Wannsee-Konferenz anging, war die Auswirkung des Prozesses kurzfristig gesehen vermutlich eher irreführend als erhellend. Um sich zu entlasten, lenkte Eichmann nicht nur die Aufmerksamkeit auf das Treffen, sondern richtete auch den Blick auf bestimmte Inhalte. Vor allem stellte er geschickt die Rolle der Konferenz als Ort der Vernichtungsentscheidung dar und unterstellte zusätzlich, dass dort konkrete Tötungsformen diskutiert worden seien. Er wollte damit seine Behauptung untermauern, alle Beteiligten hätten sich bereitwillig am Vernichtungsprojekt beteiligt, um seine eigene Rolle als rangniedriger Befehlsempfänger herunterzuspielen, oder vielleicht auch, wie Essner meint, um die Aufmerksamkeit vom zweiten Teil des Protokolls wegzulenken, in dem die Mischlingsfrage behandelt wurde.16 Denn sowohl vor der Wannsee-Konferenz also auch in den Nachfolgekonferenzen spielte Eichmann in den Auseinandersetzungen um die Mischlinge eine sehr zentrale Rolle. Auf der Wannsee-Konferenz selbst war er tatsächlich fast der rangniedrigste Teilnehmer. Paradoxerweise hat sich diese Darstellung des Treffens nicht zu seinen Gunsten ausgewirkt – im Gegenteil. Eichmanns Bedeutung auf der Wannsee-Konferenz wurde von mehreren Nachkriegsbeobachtern eher überschätzt. In einem Artikel in der Zeitschrift Life von 1961 beschrieb Tuviah Friedman die Wannsee-Konferenz als den Moment, »an dem Eichmann und andere führende Nazis übereinkamen, Millionen von Juden in Europa zu ermorden«. Robert Kempner trug sicher ebenfalls in seiner in vielerlei Hinsicht irreführenden Schrift Eichmann und Komplizen von 1961 dazu bei, indem er Eichmann zur Schlüsselfigur der Konferenz erklärte.17 Es verblüfft, wie viele von Eichmanns Behauptungen in Jerusalem unkritisch in unser Bild des Treffens integriert worden sind. In späteren Editionen seines bahnbrechenden Werkes zum Holocaust übernahm Raul Hilberg, der sonst nachträglichen Zeugnissen sehr skeptisch gegenüberstand, Eichmanns Angaben zur Konferenz, ohne zum Beispiel anzumerken, dass die Zuverlässigkeit dieser Angaben einen anderen Rang als das Protokoll selbst haben müssten.18 Ein Historiker nach dem anderen nahm an, dass auf dem Treffen offen über Tötungsarten gesprochen wurde. Doch wir haben allen Grund, skeptisch zu sein, denn diese Behauptungen gehörten zu Eichmanns Bemühen, die ungehemmte Begeisterung der anderen nachzuweisen. Trotzdem halten wir daran fest. Auch wenn dies nicht direkt mit dem Eichmann-Prozess zusammenhängt, wurde 1961 von einem cleveren Zeitzeugen ein weiteres Hindernis zum Verständnis der Wannsee-Konferenz vorgebracht, wenngleich erst posthum. In den 1940er und 1950er Jahren, als sich Adolf Eichmann noch auf der Flucht befand, hatte Wilhelm Stuckarts ehemaliger »Rassereferent« im Innenministerium, Bernhard Lösener, bei Zeugenaussagen vor Gericht und anderswo seine Sicht des öffentlichen Dienstes und insbesondere des Innenministeriums unter Hitler dargelegt. Löseners Erinnerungen wurden 1961 in den einflussreichen 16 Essner, Die »Nürnberger Gesetze», S. 385–389. 17 Robert M. W. Kempner, Eichmann und Komplizen, Zürich 1961. 18 Raul Hilberg, The destruction of the European Jews, Student ed., New York 1985, S. 166 ff.
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Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte veröffentlicht, im selben Jahr, in dem Eichmann seine Aussage machte.19 Während Eichmann sich große Mühe gab, den Enthusiasmus aller am Treffen Beteiligten zu beweisen, stellte Lösener das Innenministerium, das auf der Wannsee-Konferenz von Wilhelm Stuckart vertreten worden war, als weitaus defensiver dar: Es sei bestrebt gewesen, angesichts des ideologischen Angriffs durch die SS das Schlimmste zu verhindern. Während Löseners Bericht von Konflikten zwischen den verschiedenen Ministerien sicherlich korrekt war, trug seine sorgfältig ausgewogene Mischung von Wahrheit und Fiktion dazu bei, das Engagement aus dem Blick verschwinden zu lassen, mit dem die meisten, darunter ganz gewiss auch Stuckart, an der Konferenz teilgenommen hatten.20 Löseners Sicht blieb jahrzehntelang in Deutschland einflussreich, fand sie doch bei einer ganzen Generation von Historikern Anklang, welche bestrebt waren, aus den Trümmern des Dritten Reichs ein Stückchen Integrität für den deutschen Staat zu retten.21
IV. Im Unterschied zu den oben genannten Forschern, darunter vielen Juden, die zumeist nicht zur akademischen Geschichtswissenschaft gehörten, hat die Historikerzunft sowohl in Deutschland als auch in englischsprachigen Ländern lange gebraucht, sich überhaupt mit dem Holocaust zu befassen. Gordon Craig beendete seine klassische, 1978 in Nordamerika veröffentlichte Geschichte des modernen Deutschlands mit dem Jahr 1945, ohne den Begriff Holocaust überhaupt zu verwenden. 22 Was Deutschland selbst betrifft, hat Nicolas Berg dargelegt, wie die frühen jüdischen Historiker der »Endlösung« ignoriert oder übergangen wurden, selbst von den fortschrittlichen Geistern im neugeschaffenen Institut für Zeitgeschichte.23 Der Auschwitz-Überlebende und Historiker Joseph Wulf beschwerte sich bitterlich: »Ich habe hier 18 Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht, und das alles hatte keine Wirkung.«24 Das erste Anzeichen für einen Wandel in Nordamerika stellte Raul Hilbergs Studie zur Vernichtung des europäischen Judentums dar. 1961 erstmals veröffentlicht, erreichte sie einen neuen Standard hinsichtlich enzyklopädischen Wissens und sorgfältiger Lek19 Bernhard Lösener, »Als Rassereferent im Reichsministerium des Innern«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 9 (1961), S. 262–313. 20 Zu Lösener siehe Hans-Christian Jasch, Staatssekretär Wilhelm Stuckart und die Judenpolitik. Der Mythos von der sauberen Verwaltung, München 2012; sowie sein Beitrag in diesem Sammelband. 21 Vergl. hierzu den ansonsten ausgezeichneten Film »Die Wannseekonferenz« (1984) von Heinz Schirk nach dem Drehbuch von Paul Mommertz. 22 Gordon Alexander Craig, Germany 1866–1945, New York 1978. 23 Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003. 24 Zit. nach Wolfgang Benz, »Die Wannsee–Konferenz: vor 65 Jahren«, in: Tribüne 45 (2006), Heft 180, S. 164–170.
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türe der deutschen Quellen. 25 Hilberg vermutete, Hitler hätte die zentrale Entscheidung zur Ausweitung der Ermordungen in der Sowjetunion hin zu einem europaweiten Programm im Juli 1941 getroffen. Seine Darstellung der Wannsee-Konferenz liest sich wie eine detaillierte Version derjenigen Poliakovs insofern, als sie die Rolle des Treffens bei der Koordinierung hervorhebt und auch Sondergruppen wie Mischlinge und Mischehen in den Blick nimmt. Wie frühere Autoren befasste sich Hilberg allerdings nicht zufriedenstellend mit dem Duktus des Vorläufigen, den der Wortlaut des Protokolls aufweist. Hilbergs Hauptziel war es, in seinem Opus Magnum die Raffinesse, die Komplexität und die Tragweite von Entscheidungen und Zwischenstadien sichtbar zu machen, die die Umsetzung eines Programmes dieses Ausmaßes ermöglichten. Folglich behandelte er die Wannsee-Konferenz als Gemeinschaftsunternehmung, bei der eine Gruppe intelligenter, motivierter Teilnehmer bemüht war, die Hindernisse auf dem Weg zur Vernichtung zu beseitigen. Obwohl damit kurzerhand der Unterschied zwischen verschiedenen Behörden übergangen wurde, was einige deutsche Forscher mit Bestürzung registrierten, stellte seine Darstellung ein wirksames Gegenmittel zu Löseners Apologie dar.26 Auch in Deutschland entstanden in den 1960er Jahren einige wichtige Werke außerhalb der universitären Forschung, insbesondere am Institut für Zeitgeschichte. Am meisten Beachtung verdienen hier der ausführliche Expertenbericht, der für die Auschwitzprozesse 1963 zusammengestellt und 1965 unter dem Titel Anatomie des SS-Staates veröffentlicht wurde, sowie das Werk Wolfgang Schefflers, Judenverfolgung im Dritten Reich (1960), das von seiner Beteiligung als Gutachter an einer Reihe von NS-Prozessen profitierte. 27 Helmut Krausnicks Kapitel in Anatomie des SS-Staates war wegweisend, was die umfassende Darstellung der Judenpolitik betraf. Wie die bereits erwähnten Autoren mühte sich auch Krausnick mit der Frage ab, wie er das Protokoll der Konferenz mit seiner Ansicht in Übereinstimmung bringen konnte, Hitler hätte den klaren Befehl für den europäischen Genozid an den Juden bereits im zurückliegenden Sommer gegeben. Krausnick spekulierte, Heydrichs Verweis auf »Ausweichmöglichkeiten« könnte sich auf die laufenden Experimente zu Tötungsmethoden beziehen, die noch nicht abgeschlossen waren. Sein abschließendes »wie dem auch sei« verwies allerdings darauf, dass er mit seiner eigenen Erklärung offensichtlich nicht ganz zufrieden war. 28 Bemerkenswert an Krausnicks Darstellung (im Unterschied beispielsweise zu Hilbergs) ist auch, dass sie sich fast ausschließlich auf die Machenschaften und Manöver von Heydrich und seinen Unter-
25 Raul Hilberg, The destruction of the European Jews, Chicago 1961, S. 263 ff. 26 Für die deutsche Reaktion auf Hilberg siehe Dieter Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwicklung und Verwaltungspolitik 1939–1945, Stuttgart 1989, S. 437 und Fußnote 207. 27 Martin Broszat u.a., Anatomie des SS-Staates. Konzentrationslager, Kommissarbefehl, Judenverfolgung, Olten u.a. 1965. 28 Ebenda, S. 393.
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gebenen konzentrierte. Von einer oder zwei Ausnahmen abgesehen treten die übrigen Konferenzteilnehmer kaum auf. In der deutschen Geschichtsschreibung der späten 1970er Jahre entstand durch den beginnenden Konflikt zwischen Intentionalisten und Funktionalisten eine zunehmend differenzierte Wahrnehmung für die komplexe Beziehung zwischen Hitlers zentraler Stellung innerhalb des Systems und den inzwischen deutlich erkennbaren Evolutionen und Improvisationen in vielen Bereichen der NS-Politik. Während eine Reihe von Autoren an der Vorstellung von Hitlers Schlüsselrolle festhielt, war den meisten klar, dass sich die politischen Leitlinien durchwegs veränderten und dass es aus der Vorkriegszeit kaum Belege für einen ausgereiften Plan zur Ermordung der Juden gab. Beeinflusst von diesen Debatten wurden innerhalb und außerhalb Deutschlands eine Reihe von scharfsinnigen Stellungnahmen formuliert, die versuchten, einen Entschluss Hitlers an jene Momente zu koppeln, wo entscheidende Schwellen überschritten wurden – dazu gehören der Beginn des Massenmords an männlichen Juden nach dem Angriff auf die Sowjetunion oder die Ausweitung des Mordens auf Frauen, Kinder und ganze Gemeinden im Juli/August 1941. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzungen war, dass zentrale Entscheidungen in den Herbst vor der Wannsee-Konferenz verlegt wurden, aber die Absicht des Treffens nach wie vor mysteriös blieb. So wird im Sammelband Der Mord an den Juden, der die Ergebnisse einer wichtigen Konferenz zu den Ursprüngen der Endlösung zusammenfasst, die Wannsee-Konferenz kaum erwähnt. 29 Eine Ausnahme hiervon stellen einige wenige Historiker wie Hans Mommsen dar, die glaubten, es hätte keinen klaren Führerentscheid gegeben, sondern einen ausgedehnten Radikalisierungsprozess. In Mommsens bemerkenswertem Essay über die Realisierung des Utopischen bleibt jedoch unklar, was für eine Art Übergang die Wannsee-Konferenz dargestellt haben soll. Stellenweise scheint Mommsen zu glauben, es sei eine wie auch immer geartete geographische Lösung besprochen worden, dann wieder erweckt er den Eindruck, als handelte es sich beim Verweisen auf »Evakuierungen« lediglich um ein moralisches und psychologisches Alibi, währenddessen tatsächlich Ermordung gemeint war. 30 Wohl am nächsten an eine kohärente Schilderung der Konferenz kam Uwe Dietrich Adam, dessen Judenpolitik im Dritten Reich (erschienen 1972) heute noch eine unverzichtbare Lektüre darstellt.31 Adams Einsicht, Hitler habe die Vernichtung nach seiner Zustimmung zur Deportation der deutschen Juden beschlossen, rückte die Konferenz mitten in den breiteren politischen Prozess und lieferte damit eine bessere Erklärung, warum Heydrich sich erst jetzt bemühte, die anderen Regierungsstellen mit einzubeziehen. So gesehen waren Adams Schlussfolgerungen denjenigen der neueren Forschung seit den 1990er Jahren viel 29 Eberhard Jäckel u.a., Der Mord an den Juden im Zweiten Weltkrieg. Entschlussbildung und Verwirklichung, Stuttgart 1985. 30 Hans Mommsen, »Die Realisierung des Utopischen. Die ›Endlösung der Judenfrage‹ im ›Dritten Reich‹«, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), Heft 3, S. 381–420, hier 412. 31 Uwe Dietrich Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, Düsseldorf 1972, S. 303 ff.
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näher. Für Adam benötigte Heydrich die Zustimmung der Konferenzteilnehmer lediglich in Bezug auf die Mischlingsfrage, andere Spezialkategorien und die ausländischen Juden, da seine Befugnis bezüglich der generellen Deportationen bereits feststand. Adam charakterisierte die Sprache des Protokolls zwar als »verschleiert«, problematisierte jedoch die Tatsache nicht weiter, dass laut Protokoll die »Endlösung« nach wie vor noch zu planen wäre. Angesichts des allgemeinen Kenntnisstandes überrascht es nicht, dass viele Historiker davon ausgingen, die Wannsee-Konferenz könne keine zentrale Funktion für die »Endlösung« gehabt haben, und dass dort nur zweitrangige Machtfragen geklärt wurden. Wie bereits erwähnt betrachtete Wolfgang Scheffler die Wannsee-Konferenz als Versuch Heydrichs, seine angeblich gefährdete Machtstellung zu behaupten. 32 Im Gegensatz dazu stellte Eberhard Jäckel die Wannsee-Konferenz als quasi-zeremonielles Ereignis dar, das dazu dienen sollte, Heydrichs Heraustreten aus Himmlers Schatten abzuzeichnen.33 Aber alle diese Interpretationen ließen Heydrichs eigene Ausführungen zur Entwicklung der »Endlösung« fast zu rhetorischen Schnörkeln werden. Ein weiteres Manko der Forschung der 1970er Jahre war, dass zu viel Augenmerk auf den engen Entscheidungsprozess an der Spitze gelegt wurde, während die Rolle anderer Stellen im System unterbelichtet blieb. Auch hier stellt Adam wiederum die Ausnahme dar. Sein Interesse für die Beziehung zwischen Normen- und Maßnahmenstaat bewog ihn, sich die Rolle der verschiedenen Akteure im Detail anzusehen, einschließlich der Ministerien. Die Wannsee-Konferenz wurde somit als Teil einer langen Reihe institutioneller Interaktionen dargestellt. Darüber hinaus nahm eine begrenzte Anzahl anderer Arbeiten einzelne Institutionen oder Akteure in den Blick, die an der Konferenz beteiligt waren. Dazu gehören Hans Mommsens Studie über den Ministerialdirektor in der Reichskanzlei, Wilhelm Kritzinger, Christopher Brownings Werk über Martin Luther vom Auswärtigen Amt sowie Dieter Rebentischs Darstellung des öffentlichen Dienstes während des Zweiten Weltkriegs, in der dieser seine Aufmerksamkeit besonderes auf die Reichskanzlei richtete.34 Zutreffender Weise wurden alle diese Institutionen dargestellt, als hätten sie sich äußerem Zwang gebeugt und mehr oder weniger dem Druck von radikalen SS-Angehörigen nachgegeben. Doch während Browning das Porträt eines dynamischen, ehrgeizigen, äußerst opportunistischen Martin Luther zeichnete, der die Gelegenheit mit beiden Händen ergriff, auf den Zug der SS aufzuspringen, tendierten die deutschen Autoren dazu, ihre Akteure als weitaus unwilliger darzustellen, der Judenpolitik der Nazis zuzustimmen. So hätten sie beispielsweise den zur Verfügung stehenden Spielraum genutzt und den Pro32 Scheffler, »Wannseekonferenz«, S.18; Reitlinger, Final Solution, S.102. 33 Eberhard Jäckel, »Die Konferenz am Wannsee«, in: Die Zeit, 17. Januar 1992. 34 Hans Mommsen, »Aufgabenkreis und Verantwortlichkeit des Staatssekretärs der Reichskanzlei Dr.Wilhem Kritzinger«, in: Institut für Zeitgeschichte (Hg.), Gutachten, Stuttgart 1966, S. 369– 398; Christopher R. Browning, The final solution and the German Foreign Office, New York 1978; Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung.
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zess verlangsamt und gelegentlich sogar zu Rückzugsgefechten gegriffen – insbesondere in Bezug auf die Mischlinge und Mischehen. Unterschiede bestanden hinsichtlich konkreter Bewertungen: Während Adam dem Innenministerium Verständnis entgegenbrachte, was nicht zuletzt auf Löseners Aussagen beruhte, kritisierte Rebentisch Stuckart vom Innenministerium, bewertete aber die Anstrengungen von Hans Heinrich Lammers und seinem Stab in der Reichskanzlei wohlwollend. Die Arbeiten auf deutscher Seite lieferten zweifelsohne wichtige Einsichten in Handeln und Haltung der Ministerien und es steht außer Frage, dass Heydrichs und Himmlers Übergriffe auf die ministerielle amour propre Widerstand und Verstimmung hervorriefen. Dennoch ist auffallend, wie bereitwillig viele der Autoren die Nachkriegsaussagen der Beamten für bare Münze nahmen. Das ging bis zu dem Punkt, an dem Rebentisch auf Grundlage der Leugnungen der Beamten in der Nachkriegszeit die Vorstellung vertrat, das Wannsee-Protokoll sei ein internes Dokument Eichmanns gewesen, das nicht als das offizielle Protokoll des Treffens in Umlauf gebracht worden sei. Die teilnehmenden Beamten der alten Reichsministerien seien somit erst nach dem Krieg mit seinen Inhalten konfrontiert worden. In mancherlei Hinsicht hatten also die frühen jüdischen Historiker wie Poliakov, Tenenbaum, Wulf und andere viel deutlicher erkannt, wie weit die Ideen der Nazis in die breite Schicht der gebildeten Eliten eingedrungen waren.
V. Seit Eberhard Jäckels Essay von 1992 hat sich unsere Sicht auf die Wannsee-Konferenz grundlegend verändert, sowohl durch die Entdeckung neuer Quellen in sowjetischen Archiven als auch durch die Bereitschaft jüngerer Historiker, den Holocaust ins Zentrum ihrer Forschungen zu stellen. Viele dieser Autoren sind in diesem Band versammelt, insofern genügen an dieser Stelle einige wenige Bemerkungen. Zunächst wird nun die Entwicklungsgeschichte des Genozids von den Ermordungen in der Sowjetunion hin zu einer europaweiten Lösung als ein sehr bruchstückhafter und improvisierter Prozess anerkannt. Heydrichs »Ermächtigung« durch Göring im Sommer 1941 ist inzwischen als Wiedervorlage eines Entwurfs identifiziert worden, den Heydrich selber im März desselben Jahres vorgelegt hatte. Sie muss daher im Kontext eines weit gesteckten, brutalen Deportationsprogramms in den eroberten ehemaligen sowjetischen Gebieten gesehen werden und nicht als Anweisung für ein neues Ermordungsprogramm.35 Christian Gerlach und Peter Longerich sind sich uneins in der Frage, wann und ob überhaupt eine zentrale Entscheidung getroffen wurde. Aber beide stimmen überein, dass es eine ausgedehnte Periode der
35 Götz Aly, »Final solution«. Nazi population policy and the murder of the European Jews, London u.a. 1999, S. 171–172.
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Ausreifung und Herauskristallisierung gegeben hat.36 Im Herbst 1941 wurden aufgrund regionaler Initiativen verschiedener Art die Ermordungsexperimente auf Serbien, Galizien und Lublin ausgeweitet.37 Donald Bloxham hat kürzlich eine Darstellung geliefert, wie sich in dieser Zeit die Ambitionen der SS vom »deutschen Einflussbereich in Europa« zu paneuropäischen Zielen jenseits des momentanen deutschen Besatzungsgebietes weiterentwickelten. 38 Folglich sind, wie ich in meinem eigenen Buch zur Konferenz hervorgehoben habe, die Einladungen zur Wannsee-Konferenz in einer Phase verschickt worden, in der sich ein kohärentes Ermordungsprogramm abzeichnete.39 Heydrichs Sprache und seine Vorschläge – beispielsweise die Verwendung von Juden »in großen Arbeitskolonnen« passen in diese Phase des Experimentierens.40 Die Entdeckung von Himmlers Terminkalender ließ ebenfalls erkennen, dass es sich nicht um einen Alleingang Heydrichs handelte, sondern dieser sich in Himmlers Terminen mit relevanten Ministerien und Beamten wiederspiegelte, und dass beide bestrebt waren, Kompetenzfragen zu klären und ihren Machtbereich auszudehnen.41 Neben der Integration der Wannsee-Konferenz in das sich entwickelnde Genozidprogramm hat eine Fülle von neuen Arbeiten zum Holocaust auch gezeigt, in welch großem Umfang die Eliten – von Demographen bis Ärzten, von Verwaltungsspezialisten bis Theologen – sich das Vernichtungsprojekt zu eigen gemacht hatten.42 Die Studien von Herbert und Wildt lassen erkennen, wie viele ehrgeizige junge Männer an die Ideologie von Rasse und Raum glaubten und sich dem »heroischen Realismus« im Interesse des Volkes verschrieben.43 Herbert hat die engen intellektuellen Verbindungen enthüllt, die Männer wie Stuckart, Klopfer und Best und damit auch Institutionen verbanden, die in der Vergangenheit lediglich als Rivalen auf der Wannsee-Konferenz beschrieben worden waren, nämlich das
36 Christian Gerlach, »Die Wannsee-Konferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers Politische Grundsatzentscheidung, alle Juden Europas zu ermorden«, in: WerkstattGeschichte 6 (1997), S. 7–45; Peter Longerich, Die Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942, Berlin 1998. 37 Peter Witte, »Two decisions concerning the ›Final Solution to the Jewish Question‹. Deportations to Łódź and Mass murder in Chelmno«, Holocaust and Genocide Studies Volume 9 (1995), no. 3, S. 318–345. 38 Donald Bloxham, The final solution: a genocide, New York 2009, S.224. 39 Mark Roseman, The villa, the lake, the meeting: Wannsee and the Final Solution, London u.a. 2002. 40 Dieter Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien 1941–1944. Organisation und Durchführung eines staatlichen Massenverbrechens, München 1996, S. 165 ff. 41 Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, herausgegeben von Peter Witte u.a. Hamburg 1999. 42 Götz Aly/Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991; Claudia Koonz, The Nazi conscience, Cambridge, Mass. 2003. 43 Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903–1989, Bonn 1996; Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002.
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RSHA, die Partei und das Innenministerium.44 Das heißt nicht, dass auf der Konferenz keine Unterschiede hinsichtlich der Interessen und Absichten einzelner Institutionen bestanden, sondern, dass es den früheren deutschen Arbeiten nicht gelungen war, die Energie und das Einvernehmen zu erfassen, die viele der Teilnehmer teilten. Die Arbeiten der letzten Jahre haben somit die Wannsee-Konferenz mitten ins Geschehen gerückt. Auf ihr wurden im Laufe eines langwierigen politischen Entwicklungsprozesses Schlüsselfragen bezüglich Machtbefugnis und Grenzlinien verhandelt. Es ist allerdings gut möglich, dass Forscher bisher den Grad an Diplomatie im Wannsee-Protokoll unterschätzt haben. Interpretationen des Dokuments haben dazu tendiert, zwischen den Euphemismen, die die schreckliche Realität verschleiern sollten und denjenigen Passagen, die den politischen Prozess nachvollzogen, zu unterscheiden. Doch Cornelia Essners kürzlich erschienene Arbeit hat auf die Möglichkeit hingewiesen, dass ein Großteil des Protokolls weder ein Täuschungsmanöver noch eine genaue Beschreibung der realen Begebenheiten war, sondern eine gewollt konstruierte Sprache aufweist – an manchen Stellen auch eine gewollt vage -, um bei seinen Lesern, insbesondere bei Hitler, spezifische Ziele zu erreichen. Eine solche diplomatische Finesse war wegen der seltsamen Bedingungen erforderlich, unter denen die Judenpolitik zustande kam. Einerseits war Hitler extrem widerwillig, sich auf jüdische Angelegenheiten festnageln zu lassen. Sein zustimmendes Nicken reichte zwar oft aus, um Himmler und Heydrich Rückendeckung zu verschaffen, während sie im Ausland den Truppen freie Hand im Töten ließen, doch die Ministerien zuhause waren immer noch irgendeiner Vorstellung von Gesetz verbunden und suchten nach wie vor nach klaren und legitimen Machtkompetenzen und Abgrenzungslinien. Wie Essner zeigt, war im Verlauf des Jahres 1941 mit vorsichtigen Worten hinter den Kulissen ein Krieg in Gestalt interministerieller Diskussionen über die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz geführt worden, die den Verlust der Staatsbürgerschaft für Juden des Reichs und auch die Handhabung ihres Vermögens regeln sollte. Die Wannsee-Konferenz und vor allem das Protokoll, das als sorgfältig und raffiniert formulierte Zusammenfassung Einstimmigkeit in Bezug auf viele von Heydrichs Vorschlägen suggerierte, diente laut Essner dem Ziel, Hitler zu unterbreiten, dass Himmlers und Heydrichs Machtbefugnisse als oberste Koordinatoren der Judenfrage Bestätigung gefunden hatten.45 Während man hierüber lange diskutieren könnte, ist Essners Aufforderung faszinierend und verdient weitere Beachtung: die Konferenz und das Protokoll als Teile eines diplomatischen Manövers, das nicht nur zu Ergebnissen am Tag des Treffens selbst, sondern auch zu Nachwirkungen jenseits des Treffens führen sollte.
44 Zu Stuckart siehe Jasch, Staatssekretär Wilhelm Stuckart. 45 Essner, Die »Nürnberger Gesetze«, S. 390–391.
Gerd Kühling
Streit um das »Haus der Endlösung« Joseph Wulf und die Initiative für ein Dokumentationszentrum im Haus der Wannsee-Konferenz Es waren namhafte Historiker und Museumsexperten aus Deutschland, Israel, Österreich, Polen, den Niederlanden und den USA, die im November 1987 nach West-Berlin kamen, um auf einer internationalen Tagung über die Umwandlung der Villa Am Großen Wannsee 56–58 in einen »Ort des Gedenkens und des Lernens« zu beraten.1 In seiner Begrüßungsansprache bekräftigte der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU), die Deutschen seien »durch die historisch einmalige Schandtat des Holocaust in die Verantwortung genommen, auch für diese schlimmste Tat ihrer Geschichte Gedenkstätten zu errichten, wie wir es im Haus der Wannsee-Konferenz tun«. Am besagten Ort hatten sich 15 hochrangige Vertreter der NS-Ministerialbürokratie und der SS am 20. Januar 1942 getroffen, um die organisatorische Durchführung der Entscheidung zu besprechen, die Juden Europas in den Osten zu deportieren und zu ermorden. Erst »44 Jahre nach der Tat« hatte sich der Senat 1986 entschlossen, das Haus der Wannsee-Konferenz »in einen Ort des Gedenkens an die Opfer« umzuwandeln. Zu Beginn der Expertentagung am symbolträchtigen 9. November 1987 gab sich Diepgen überzeugt, die Wannsee-Villa werde nun ihrer »geschichtlich vorgezeichneten Bestimmung« übergeben. Auch erinnerte er »mit Respekt an Joseph Wulf, der als erster diese Forderung gestellt und sich unermüdlich dafür eingesetzt hat«.2 Wulfs Name sollte in diesen Tagen des Öfteren fallen, war es doch genau 20 Jahre her, seitdem der Berliner Senat die Bitte des jüdischen Historikers und Schriftstellers ablehnte, in dem Gebäude ein »Internationales Dokumentationszentrum zur Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Folgeerscheinungen« zu etablieren.3 Bereits in den 1960er Jahren hatten Wulf und einige Mitstreiter die Errichtung des Internationalen Dokumentationszentrums (IDZ) angestrebt. Wulf schwebte vor, in dem historischen Gebäude einen Ort für Forschung und Erinnerung zu etablieren. Doch trotz 1 Peter Ambros, »Ehrung der Toten und Aufklärung der Lebenden – Die Wannsee-Villa: Vom Ort des unscheinbaren Grauens zum Lehrhaus der Demokratie«, in: Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland, 4.12.1987. 2 Eberhard Diepgen, »Es ist sehr spät – aber nicht zu spät«. Eröffnungsansprache des Regierenden Bürgermeisters vom 9.11.1987, herausgegeben vom Presse- und Informationsamt des Landes Berlin, in: Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz (GHWK), Hausarchiv. 3 Marianne Heuwagen, »Künftig ein Lehrhaus für die Demokratie«, in: Süddeutsche Zeitung, 14.11.1987.
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prominenter Unterstützung aus dem In- und Ausland scheiterte das Vorhaben. Anders als in den späten 1980er Jahren war der Symbolcharakter der Villa umstritten, die in der Presse gerne als »Haus der Endlösung« bezeichnet wurde. Der SPD-geführte Berliner Senat weigerte sich, das Gebäude zur Verfügung zu stellen, in dem sich seit 1952 ein Schullandheim des Bezirks Neukölln befand. Um die Standortfrage war zuvor eine heftige Diskussion entbrannt, die sich vor allem in der West-Berliner Presse niederschlug. Die Reaktionen reichten von Wohlwollen bis zu offener Ablehnung, die sich nicht nur gegen das Projekt an sich, sondern auch gegen die Person Joseph Wulf richtete. »Die Fronten in der Debatte verliefen quer zum politischen Spektrum«, berichtet ein damaliger Weggefährte Wulfs, Gerhard Schoenberner.4 Selbst NS-Verfolgtenorganisationen und ehemalige Gegner des NS-Regimes sprachen sich vehement gegen den Standort des Forschungsinstitutes am Wannsee aus – so etwa der »Bund der Verfolgten des Naziregimes« (BVN) oder der Berliner Propst Heinrich Grüber. Zwischen ihm und Wulf kam es in dieser Angelegenheit zu einem heftigen Streit und schließlich zum Zerwürfnis. Der Konflikt zwischen Heinrich Grüber und Joseph Wulf scheint auf den ersten Blick überraschend, standen auf Seiten der Unterstützer des Projektes mit Robert M. W. Kempner, Jerzy Sawicki oder Gideon Hausner doch Persönlichkeiten, die sich – ebenso wie Grüber – in den Jahren zuvor mit der Wannsee-Konferenz und ihren Teilnehmern befasst hatten.5 Auch ein Blick auf die Liste derer, die seit 1962 von der »Internationalen Liga für Menschenrechte« mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille ausgezeichnet wurden, lässt ebenso eher Gemeinsames, denn Trennendes zwischen ihnen vermuten: Wulf erhielt die Medaille 1964, Grüber im Jahr darauf.6 Wulf schätzte den Kirchenmann aufgrund seiner mutigen Haltung im Dritten Reich sehr. Wegen seines Widerstands gegen das NS-Regime hatte Grüber einige Jahre im KZ verbringen müssen. Unter anderem hatte das »Büro Pfarrer Grüber« zwischen 1938 und 1940 zahlreichen konvertierten Juden zur Emigration verholfen und dadurch das Missfallen des Regimes erregt. Grüber wurde im Dezember 1940 von der Gestapo verhaftet, sein Büro geschlossen.7 Als er 1965 mit der Medaille der Liga ausgezeichnet werden sollte, kam Wulf gern der Verpflichtung nach, die Laudatio auf ihn zu halten. »Die publizistische Form, die Carl von Ossietzky in seinem Kampf benutzte, war die Polemik. […] Ihre Form des Kampfes und der Abwehr war die Pre4 Gerhard Schoenberner, »Der lange Weg nach Wannsee. Von der Gründerzeitvilla zur Gedenkstätte«, in: Dachauer Hefte 8 (1992), S. 150–163, hier S. 157. 5 Kempners Mitarbeiterstab hatte im Frühjahr 1947 in Berlin das Protokoll der Besprechung der »Endlösung der Judenfrage« entdeckt. Das Dokument hatte im Krakauer Prozess gegen den Konferenz-Teilnehmer Josef Bühler eine erhebliche Rolle gespielt, der im Sommer 1948 unter Leitung des polnischen Staatsanwaltes Sawicki stattfand. Gleiches galt für das Verfahren von 1961 gegen Adolf Eichmann in Jerusalem, in dem Gideon Hausner Chefankläger und Grüber Zeuge der Anklage war. 6 Mit Robert M. W. Kempner (1969), Helmut Gollwitzer (1973), Heinrich Albertz (1975) und Axel Eggebrecht (1979) gab es unter den späteren Preisträgern weitere Persönlichkeiten, die Wulf in der Debatte um das IDZ unterstützten. 7 Günther Wirth, Dona nobis pacem! Rettet das Leben! Heinrich Grüber, Berlin 1987, S. 8 ff.
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digt«, lobte Wulf den Theologen in seiner Rede.8 Zwei Jahre später schien er diese Worte zu bereuen. Die abschließende Forderung eines Briefes an Grüber vom November 1967 lautete: »Ich bitte Sie, sehr verehrter Probst Grüber, die Laudatio, die ich für Sie anläßlich der Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille gehalten habe, niemals abdrucken zu lassen.«9 Das Zitat entstammt einem Briefwechsel, den Wulf und Grüber während der Debatte um die Errichtung des IDZ in der Villa am Wannsee führten, und bildete den Auftakt einer scharfen und emotionalen Auseinandersetzung. Nachdem für lange Zeit ausschließlich die Arbeiten des Publizisten Henryk M. Broder einen Einblick in das Leben und Wirken des polnisch-jüdischen Historikers Joseph Wulf gaben,10 ist in den letzten Jahren ausführlicher über ihn geschrieben und diskutiert worden. Vor allem die Untersuchungen von Nicolas Berg brachten Wulf wieder in das öffentliche Bewusstsein.11 Ebenso gingen Radiofeatures12 und Zeitschriftenartikel13 auf den »Außenseiter der Holocaustforschung« ein; selbst eine Biographie ist in Vorbereitung.14 Nichtsdestotrotz nahm der Konflikt um das IDZ in bisherigen Untersuchungen verhältnismäßig geringen Raum ein,15 und gerade der besonderen politischen Situation West-
8 Joseph Wulf, Laudatio für Heinrich Grüber, 9.12.1965, in: Hausarchiv Internationale Liga für Menschenrechte Berlin, »Kuratorium I, 63–65«. 9 Ders., Brief an Heinrich Grüber, 24.11.1967, in: Landesarchiv Berlin (LAB), B Rep. 002 (Der Regierende Bürgermeister von Berlin/Senatskanzlei), Nr. 6354. 10 Vgl. den 90-minütigen Film von Henryk M. Broder, »Joseph Wulf – ein Schriftsteller aus Deutschland«, Regie: Franz van der Meulen, eine Produktion des WDR, 1981; Henryk M. Broder, »Wer war Joseph Wulf? Eine Reportage«, Sender Freies Berlin, Studio III, Sendung vom 15.4.1980; Henryk M. Broder, »›... in den Wind gesprochen‹. Das Leben und Sterben des jüdischen Historikers Joseph Wulf, in: Journal für Geschichte 3 (1981) H. 6, S. 41–48. 11 Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003; ders., »Ein Außenseiter der Holocaustforschung. Joseph Wulf (1912–1974) im Historikerdiskurs der Bundesrepublik«, in: Dan Diner (Hg.), Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur, Bd. I, Leipzig 2003, S. 311–346. 12 Peter Moritz Pickshaus, »Joseph Wulf – Außenseiter der Holocaustforschung«, ein Radiofeature des SWR/NDR vom 26.1.2005; Jens Brüning, »›Sie lügen alle!‹ – Joseph Wulf, Pionier der Dokumentation von NS-Verbrechen«, Sendung des rbb Kulturradio vom 27.10.2010. 13 Eberhard Rondholz, »Und die Massenmörder züchten Blumen«, in: Konkret 1/2011, S. 38–39. 14 Die Arbeit von Klaus Kempter erscheint 2012/2013; siehe vorab: ders., »Joseph Wulf: Ein ChurbanHistoriker«, in: Simon-Dubnow-Institute Yearbook 10 (2011), S. 407–430. 15 Siehe die Hinweise in: Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste (Hg.), Sachor – Nicht vergessen. Erinnerungen an Joseph Wulf, Berlin 1989; Johannes Tuchel, Am Großen Wannsee 56–58. Von der Villa Minoux zum Haus der Wannsee-Konferenz, Berlin 1992; Schoenberner, »Der lange Weg nach Wannsee«; ders., »Joseph Wulf – Die Dokumentation des Verbrechens«, in: Claudia Fröhlich/Michael Kohlstruck (Hg.), Engagierte Demokraten. Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht, Münster 1999, S. 132–142; ders., Joseph Wulf, Aufklärer über den NS-Staat – Initiator der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Berlin 2006.
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Berlins in den sechziger Jahren schenkten sie wenig Beachtung. Ziel dieses Aufsatzes16 ist es, einen detaillierten Einblick in die Vorgänge um Wulfs Pläne zu geben. Im Folgenden wird zunächst die Auseinandersetzung der Protagonisten Wulf und Grüber untersucht. Im zweiten Teil sollen die äußeren Bedingungen verdeutlicht werden, unter denen sich der Streit um das Dokumentationszentrum vollzog. Dabei gilt es vor allem, die Widerstände und Angriffe darzustellen, mit denen Wulf und seine Mitstreiter konfrontiert waren. Dieser Einblick in den bundesrepublikanischen Umgang mit der NS-Vergangenheit während der 1960er Jahre macht das Scheitern Wulfs nachvollziehbar. Anhand des gewandelten Umgangs mit der NS-Vergangenheit und historischen Orten soll schließlich die erfolgreiche Etablierung der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz erklärt werden.
Der Konflikt mit Heinrich Grüber Über Joseph Wulfs Schreibtisch stand in hebräischen Lettern: »Erinnere dich an die 6 Millionen!!!« Als Auschwitz-Überlebender hatte sich Wulf dieses Motto zu seinem Lebensinhalt gemacht. Mitte der 1960er Jahre, nachdem er durch Bücher und zahllose kleinere Veröffentlichungen in Zeitschriften und im Rundfunk einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt hatte, unternahm er den Versuch, seine Arbeit zu institutionalisieren. Zusammen mit einigen Freunden und Kollegen wurde im Spätsommer 1966 der Verein »Internationales Dokumentationszentrum« ins Leben gerufen, der sich die Errichtung eines Forschungsinstituts in West-Berlin zum Ziel setzte. Die Hauptanliegen waren die Sammlung der in vielen Ländern verstreuten und zum Teil schwer zugänglichen Dokumente zur NS-Zeit auf Mikrofilm sowie des Materials der NS-Prozesse, die in der Bundesrepublik der 1960er Jahre für Aufsehen sorgten. Ehrenvorsitzender eines eigens gegründeten Kuratoriums war der Philosoph Karl Jaspers, sein Direktor der Rektor der Freien Universität Berlin Hans-Joachim Lieber. Der Verein – ihm gehörten ebenfalls zahlreiche prominente Unterstützer aus dem In- und Ausland an – wählte Joseph Wulf zum Vorstandsvorsitzenden; seine Stellvertreter waren Friedrich Zipfel und Peter Heilmann.17 Als passenden Standort sahen sie die Villa Am Großen Wannsee 56–58, wo am 20. Januar 1942 die so genannte Wannsee-Konferenz stattgefunden hatte. Das Gebäude wurde seit Juni 1952 – einen Monat nach Schließung der Berliner Außengrenzen – vom West-Berliner Bezirk Neukölln als Schullandheim genutzt, ohne dass an die Geschichte des Orts erinnert worden wäre. Für die Familien Neuköllns hatte das Heim insbesondere nach der Errichtung 16 Der vorliegende Aufsatz wurde mit Erkenntnissen aus dem laufenden Forschungsvorhaben des Autors (»NS-Verfolgte und Erinnerung in Berlin. Gedenkpolitik im Zeichen des Ost-West-Konflikts«) überarbeitet. Das Original findet sich unter: Gerd Kühling, »Schullandheim oder Forschungsstätte? Die Auseinandersetzung um ein Dokumentationszentrum im Haus der Wannsee-Konferenz (1966/67)«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 5 (2008), S. 211–235. 17 Vgl. Schoenberner, »Der lange Weg nach Wannsee«, S. 154 ff.
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der Berliner Mauer im August 1961 besondere Bedeutung: Ihr Bezirk grenzte auf 25 Kilometern an die DDR; Erholungsgebiete im Berliner Umland oder auch der Ost-Berliner Treptower Park, den sie seit Jahrzehnten genutzt hatten, standen nicht mehr zu Verfügung.18 Die belastende Insellage West-Berlins, das Gefühl in einer eingezäunten Stadt zu leben, konnte am Wannsee einfacher verdrängt werden. Aufgrund der hohen Symbolkraft war das Gebäude für Wulf und seine Mitstreiter ein unabdingbares Element des gesamten Vorhabens, für das sie unter anderem den Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Nahum Goldmann, hatten gewinnen können. Dieser wollte selbst nach Berlin kommen, um mit Willy Brandt (SPD), dem Regierenden Bürgermeister, über das Projekt zu sprechen,19 der zu diesem Zeitpunkt erste zaghafte Schritte zu einer »Neuen Ostpolitik« unternahm. Die ersten Gespräche, die ausschließlich mit Brandts Vertrautem Egon Bahr geführt wurden, dem Sprecher des Presse- und Informationsamts des Berliner Senats, schienen positiv zu verlaufen. Während des Besuchs von Goldmann bei Brandt Anfang Oktober 1966 wurde die angestrebte Nutzung der Wannsee-Villa in der Öffentlichkeit bekannt – mehr oder weniger ungeplant. Dies führte dazu, dass – wie Wulf es ausdrückte – »nunmehr in sehr unglücklicher Weise das Vorhaben in der Berliner Presse diskutiert wurde«.20 West-Berliner Zeitungen griffen das Thema ausgiebig auf, wobei die inhaltliche Berichterstattung zum Forschungszentrum im »Haus der Endlösung« jedoch nicht den Schwerpunkt bildete. Nur selten fand Beachtung, dass das IDZ auch Wissenschaftler aus Ländern jenseits des Eisernen Vorhanges in seine Arbeit einbinden21 und schwer zugängliches Archivmaterial aus aller Welt, darunter Ostblockstaaten, nach West-Berlin holen wollte.22 Vielmehr erregte die Standortfrage Interesse: Was würde nun mit dem Schullandheim geschehen, welches den Neuköllner Kindern zur Erholung diente? Der Verein um Wulf betonte, das Dokumentationszentrum werde erst in die Wannsee-Villa einziehen, wenn zuvor ein geeigneter Ersatz für das Schullandheim gefunden sei.23 Doch das Versprechen wurde kaum wahrgenommen. Auch der Berliner Propst Heinrich Grüber wandte sich in diesen Tagen an Willy Brandt, um eine persönliche Stellungnahme zur Debatte abzugeben. Gewiss habe das Haus am Wannsee in der NS-Geschichte »einen traurigen Namen bekommen, […] weil es der – mehr zufällige – Tagungsort der zwar kurzen, aber berüchtigten WannseeKonferenz« gewesen sei. Grüber hielt jedoch fest: »Ich glaube, der Senat kann es nicht verantworten, daß eines der wenigen mit Grünanlagen versehenen Kinderheime einem 18 Thomas Scholze/Falk Blask, Halt! Grenzgebiet! Leben im Schatten der Mauer, Berlin 1997, S. 8. 19 Joseph Wulf, IDZ-Bericht des Vorstandes über die Zeit vom 29.8.1966 bis 20.10.1967, in: Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland, Heidelberg (ZAGJD), Bestand B. 2/1, Zg. 02/06, Nr. 1. 20 Ebenda. 21 »Forschungszentrum für NS-Geschichte«, in: Der Abend, 5.10.1966. 22 Günther Matthes, »Der Plan für das ›Haus der Endlösung‹«, in: Tagesspiegel, 16.10.1966. 23 »Nicht auf Kosten der Schulkinder«, in: Berliner Kurier, 11.10.1966.
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anderen – vielleicht noch so idealen Zweck zugeführt wird.«24 Mit der von vielen Seiten angeführten Sorge um das Wohl der Neuköllner Kinder reihte sich Grüber in die lange Liste derer ein, die sich gegen den Standort des Forschungszentrums aussprachen. Und die Stimme des Kirchenmannes hatte Gewicht: Spätestens seit seiner Zeugenschaft im Eichmann-Prozess von 1961 war Grüber ein international bekannter und angesehener Mann, dessen Wirken weltweite Aufmerksamkeit erregte.25 Der BVN, die maßgebliche West-Berliner NS-Verfolgtenorganisation, hatte ihn noch im selben Jahr zu seinem Ehrenmitglied ernannt.26 Die Antwort aus der Senatskanzlei auf Grübers intervenierenden Brief fiel kurz aus. Bahr teilte ihm mit, man sei sich der Schwierigkeiten wohl bewusst. Wenn es zur Verwirklichung des Projektes komme, werde Grübers Wort gewiss mit gewogen.27 Von einer Verwirklichung war man allerdings noch weit entfernt. Mit Bildung der Großen Koalition gingen die bisherigen Befürworter des Vorhabens, Brandt und Bahr, im Dezember 1966 nach Bonn. Ihre Nachfolger im Amt des Regierenden Bürgermeisters und des Leiters des Presse- und Informationsamts wurden Heinrich Albertz und Peter Herz. Der in der Berliner SPD höchst umstrittene Albertz brachte dem Projekt eine wohlwollende Haltung entgegen. Doch nach nur 285 Tagen im Amt trat er im September 1967 nach parteiinternen Machtkämpfen zurück. Neuer Regierender Bürgermeister wurde Klaus Schütz. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Standortfrage des IDZ seit mehr als einem Jahr diskutiert, ohne dass das unermüdliche Einwirken Wulfs und seiner Vorstandskollegen auf den Senat und den Bezirk Neukölln von absehbarem Erfolg gekrönt war. In Bezug auf potenzielle Geldgeber machte ihre Arbeit zwar Fortschritte; diese waren jedoch an die Freigabe der Wannsee-Villa geknüpft. Der Vorstand des IDZ drängte deshalb auf eine Entscheidung. Den Argumenten für das Dokumentationszentrum wurde von Neuköllner Seite entgegengehalten, im dicht besiedelten Bezirk selbst würden keine annähernd vergleichbaren Erholungsstätten für die heranwachsende Jugend bereitstehen. Seit 1952 hatten mehr als 14.000 Neuköllner Kinder das Schullandheim zur Erholung genutzt28 und es spielte eine wichtige Rolle in der Sozialpolitik des Bezirks. Die Bevölkerung werde kein Verständnis dafür haben, wenn im Haus am Wannsee nun ein Forschungszentrum eingerichtet würde. Nahum Goldmann kam am 9. November 1967 erneut nach Berlin, um Bürgermeister Schütz den Standpunkt seiner Organisation darzulegen. Ein Kompromiss schien in Aussicht: Die Aktion Sühnezeichen hatte vorgeschlagen, auf dem 30.000 qm großen 24 Heinrich Grüber, Brief an Willy Brandt, 17.10.1966, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 6354. 25 Vgl. Günther Wirth, »Ein Partner der Vernunft. Heinrich Grübers Dienst und Brückenbau im Nachkriegsdeutschland«, in: Jörg Hildebrandt (Hg.), Bevollmächtigt zum Brückenbau – Heinrich Grüber. Judenfreund und Trümmerpropst. Erinnerungen, Predigten, Berichte, Briefe, Leipzig 1991, S. 180–275, hier S. 251 ff. 26 Heinz Elsberg, »Wir und der Eichmann-Prozeß«, in: Die Mahnung, 15.07.1961. 27 Egon Bahr, Brief an Heinrich Grüber, 18.10.1966, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 6354. 28 Gerhard Lasson (Bezirksbürgermeister Neukölln), Brief an Willy Brandt, 5.10.1966, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 6354.
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Gelände rund um die Villa ein modernes Bungalow-Dorf zu errichten. Dieses sollte den Kindern anstelle der Villa zur Verfügung gestellt werden.29 Goldmann bot für den Neubau eine finanzielle Beteiligung in Höhe von fünf Millionen US-Dollar an, doch Schütz lehnte das Angebot ab. Er erklärte, dass man für das Schullandheim zwar auch ein anderes Gebäude finden könne; er sehe aber einen »tiefen Sinn« darin, wenn die Kinder gerade an diesem Ort untergebracht seien. Daraufhin gab der Vorstand des IDZ noch am selben Abend eine Presseerklärung heraus. Im Falle einer negativen Entscheidung erwäge man, das Projekt außerhalb Deutschlands zu etablieren.30 Der Vorschlag rief prompt Entrüstung hervor: »Moralische Pressionen oder Exekutionen in dieser Angelegenheit fördern nur das Geschäft der NPD«, kommentierte die Berliner Morgenpost.31 Die Kontroverse hatte ihren Höhepunkt erreicht. In dieser angespannten Situation meldete die Presse, Heinrich Grüber habe in einem Brief an den Regierenden Bürgermeister dafür plädiert, die »Eichmann-Villa« solle als Schullandheim erhalten bleiben und das Dokumentationszentrum an anderer Stelle eingerichtet werden.32 Joseph Wulf wandte sich daraufhin entrüstet an den Propst. Sämtliche Mitglieder des Kuratoriums hätten sich für den Standort am Wannsee ausgesprochen. Sollte der Senat bis Ende des Jahres keine positive Entscheidung treffen, werde man das Dokumentationszentrum in Genf einrichten. Wulf ging auch auf Berichte israelischer und jüdischer Zeitungen in den USA und Lateinamerika ein, nach denen Grüber aus Enttäuschung gegen das Projekt am Wannsee votiere, weil nicht er, sondern Bischof Kurt Scharf im Kuratorium vertreten sei: »Ich habe diese Meldungen […] dementiert, in erster Linie deshalb, weil ich voller Respekt vor Ihrer Haltung und Tätigkeit während des Dritten Reiches bin. Ich kann es auch nicht wirklich glauben – obschon der Schein gegen Sie spricht -, dass tatsächlich diese Beweggründe Sie veranlassen, gegen das Projekt zu sprechen. Es wäre vielleicht besser gewesen, wenn Sie mich doch einmal angerufen hätten, bevor Sie Ihren ersten Brief an den Senat von Berlin schrieben.«33 Wulfs Worte lassen erahnen, welche Wellen das Projekt nicht nur in der West-Berliner, sondern auch in der internationalen und besonders der jüdischen Presse schlug. In dieser Situation konnte oder wollte Wulf sich nicht länger zurückhalten. Angesichts der gespannten Lage und der persönlichen Enttäuschung über Grübers Haltung erscheint der Tenor von Wulfs Schreiben verständlich. Zudem entsprach es nicht seinem Wesen, sich (in Briefen) zurückzuhalten. Höflich, aber sehr bestimmt fiel dementsprechend Wulfs schon erwähnte abschließende Forderung aus, seine Laudatio niemals abdrucken zu lassen.
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Wolfgang Voss, »Wannsee-Villa doch Dokumentationszentrum?«, in: Welt am Sonntag, 13.8.1967. Vgl. Schoenberner, »Der lange Weg nach Wannsee«, S. 159. »Kompromiß!«, in: Berliner Morgenpost, 14.11.1967. »Für Schullandheim«, in: Berliner Morgenpost, 17.11.1967. Wulf, Brief an Grüber, in: Landesarchiv Berlin (LAB), B Rep. 002 (Der Regierende Bürgermeister von Berlin/Senatskanzlei), Nr. 6354.
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Nur wenige Tage später erreichte die Antwort Grübers das Büro Wulf. In seinem Schreiben betonte der Propst, er sei nach wie vor der Meinung, dass eine in Berlin so wichtige soziale Einrichtung, für die kein Ersatz vorhanden sei, nicht zweckentfremdet werden dürfe. Vor allem ging er aber auf die Gerüchte um seine Nicht-Benennung ins Kuratorium ein. Grüber dankte Wulf, dass dieser den Spekulationen der internationalen Presse widersprochen hatte: Von persönlicher Verärgerung könne keinesfalls die Rede sein. Auch den Mitgliedern des Kuratoriums werde er darlegen, weshalb er gegen die Einrichtung des Dokumentationszentrums »an dieser Stelle und in dieser Art« sei. Zudem habe er seine Stellungnahme dem Regierenden Bürgermeister Brandt schon zu einem Zeitpunkt mitgeteilt, als Bischof Scharf noch gar nicht im Gespräch gewesen sei. Dazu stellte Grüber fest: »Ich weiß, daß Bischof Scharf, mit dem ich sehr freundschaftlich verbunden bin, nicht nur eine gewichtigere Persönlichkeit ist, sondern auch über Geldmittel verfügt, woran Ihnen ja sehr viel liegt. Daß Geltungs- und Geldsucht nicht Motive für meine Stellungnahme sind, weiß jeder, der meine Arbeit seit mehr als 30 Jahren verfolgt hat.«34 Bezüglich seiner Laudatio könne er Wulf beruhigen: Er habe sie noch nicht drucken lassen und beabsichtige auch keine Vervielfältigung. Zwar hatten Bischof Kurt Scharf wie auch der katholische Kardinal Julius Döpfner das Projekt mit Spenden unterstützt, doch war nicht Spendenbereitschaft, sondern ihre Repräsentativität der ausschlaggebende Grund für ihre Mitgliedschaft im Kuratorium. Dies betonte Wulf, als er Grüber wenige Tage später antwortete. Entschieden wies er den Vorwurf der – wie er es formulierte – »Geschäftstüchtigkeit« zurück. Dies treffe ihn ebenso, wie es Grüber träfe, würde man seine Tätigkeit im »Büro Grüber« als »geschäftstüchtig« bezeichnen.35 Grübers Einschätzung der Motive Wulfs vermittelt nicht nur einen deutlichen Eindruck ihres zunehmend belasteten Verhältnisses; sie spiegelt zudem das Befremden wider, mit dem manch biederer Zeitgenosse Joseph Wulf begegnete. Wer Wulf, stets sorgfältig gekleidet mit Spazierstock und Pfeife und mit einer etwas koketten Zigarettenspitze ausgestattet, auf dem Kurfürstendamm traf, konnte ihn schnell für einen Bohème, einen Flaneur der Großstadt halten.36 Der konservativ-bodenständige und offenbar gut informierte Grüber empörte sich beim Regierenden Bürgermeister Schütz darüber, Wulf sammle für sein Projekt Spendengelder, »wovon er dann auch Presseleute zum ›Frühstück‹ einladet«.37 Ohne den Wahrheitsgehalt dieser Berichte hier überprüfen zu können – Grüber übersah den tragischen Ursprung des betont bürgerlichen Lebensstils und der freizügigen Gastfreundschaft Wulfs. Sie waren eine wiederhergestellte Erinnerung an das begüterte Elternhaus einer Krakauer Kaufmannsfamilie und dessen Atmosphäre von Wohlstand und Geborgenheit. Es war Wulfs verzweifelter Versuch, an eine Lebenswelt anzuknüpfen, die 34 35 36 37
Heinrich Grüber, Brief an Joseph Wulf, 27.11.1967, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 6354. Joseph Wulf, Brief an Heinrich Grüber, 29.11.1967, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 6354. Schoenberner, »Joseph Wulf«, S. 134. Heinrich Grüber, Brief an Klaus Schütz, 13.11.1967, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 6354.
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durch den Holocaust zerstört worden war. Er wollte sich seines wiedergefundenen Lebens vergewissern und hielt sich an dem fest, was einst die Insignien einer stabil gefügten Welt gewesen waren – einer Welt, die nicht mehr existierte.38 Joseph Wulf, der sich selbst als einen »Tätowierten von Auschwitz« bezeichnete, hatte an dem Tag, an dem er seine Freiheit wiedererlangte, geschworen, sich bis zum Ende seines Lebens ausschließlich mit der Geschichte des »Dritten Reiches« zu beschäftigen.39 Dass nun in West-Berlin das Projekt des IDZ überwiegend mit Hinweisen auf das Wohl von Schulkindern diskutiert wurde, war für ihn ebenso schockierend wie die Sorge der Verantwortlichen des Bezirks Neukölln, durch die Aufgabe des Schullandheims würde man der NPD oder »rechtsradikalen Tendenzen« in die Hände spielen. Zudem war diese Befürchtung – zumindest in Bezug auf konkrete Wahlergebnisse der NPD – Ende 1966 haltlos geworden: Angesichts geringer Erfolgsaussichten hatte die Partei auf die Beteiligung an den Wahlen zum Abgeordnetenhaus im März 1967 von sich aus verzichtet.40 Auch Grüber war davon überzeugt, dass die Durchführung des Plans einem immer noch latenten Antisemitismus Auftrieb geben würde, wie er Wulf Ende November 1967 mitteilte.41 Wulf war erschrocken, ausgerechnet von Grüber dieses Argument zu vernehmen. In einem umfassenden Antwortbrief fragte er den Propst herausfordernd: »Glauben Sie nicht auch, daß gerade dann, wenn diese Gefahr 22 Jahre nach Hitler und Auschwitz noch immer in Deutschland – und noch dazu in Berlin – besteht, daß gerade dann ein Dokumentationszentrum über den Nationalsozialismus und seine Folgeerscheinungen dringend erforderlich ist?«42 Für Wulf bedeutete das IDZ weitaus mehr als nur ein Forschungsinstitut. Er beabsichtigte an diesem Ort Forschung und Erinnerung zu verbinden und aus der Wannsee-Villa »eine Forschungsstätte im wahrsten Sinne zu machen und gleichzeitig ein Memento für immer«.43 Wulf wollte Entschlossenheit gegenüber den Folgeerscheinungen des Nationalsozialismus demonstrieren. Wenn er jetzt um das Dokumentationszentrum kämpfe, teilte er Grüber mit, so geschehe dies für ihn aus derselben Motivation, wie er »ab 1941 in der Jüdischen Kampforganisation in Krakau und Bochnia gekämpft habe; vom 13. März 43 bis 13. April 43 in der Todeszelle des Gestapo-Gefängnisses in Wonteluppi in Krakau war und keinen Kameraden der Kampforganisation denunzierte; von April 43 bis Januar 45 in Auschwitz als Zionist zusammen mit Geistlichen und Kommunisten im geheimen Antifaschistischen Block tätig war; […]«.44 Wulf war stolz darauf, aktiven, jüdischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet zu haben, und verstand sein Wirken aus dieser 38 39 40 41 42 43 44
Schoenberner, »Joseph Wulf«, S. 134. Vgl. Will Schaber, »Portrait der Woche«, in: Aufbau (New York), 22.12.1967. »Berliner NPD will sich an den Wahlen nicht beteiligen«, in: Der Tagesspiegel, 2.12.1966. Grüber, Brief an Wulf, 27.11.1967, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 6354. Wulf, Brief an Grüber, 29.11.1967, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 6354. Ders., Brief an Anna Maria Jokl, 24.12.1967, in: ZAGJD, Bestand B. 2/7, Zg. 91/15, Nr. 25. Wulf, Brief an Grüber, 29.11.1967, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 6354.
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Tradition heraus. Die Haltung des ehemaligen KZ-Häftlings Grüber erschien ihm absolut unverständlich. Es waren nicht Zurückhaltung oder Resignation, die den Propst zu seiner Haltung bewegten. Grüber hatte das Gegenteil mehrmals bewiesen, etwa als er – veranlasst durch Presseberichte, verleumdende Briefe und neonazistische Ausfälle gegen seine Aussagen im Eichmann-Prozess – entschlossen gegen Rechtsextremismus aufgetreten war.45 Ende 1966 hatte die zwei Jahre zuvor gegründete NPD bei Landtagswahlen überraschende Ergebnisse erzielt. Stark beflügelt durch die wirtschaftliche Rezession und mit der lautstarken Forderung, die Thematisierung der NS-Vergangenheit zu beenden, hatte sie im November 1966 in Hessen 7,9 Prozent, in Bayern 7,3 Prozent der Wählerstimmen für sich gewinnen können.46 Grüber hatte das Anwachsen der rechtsradikalen Kräfte mit großer Sorge wahrgenommen und eindringlich gewarnt: »Neben den so zahlreichen Feigen, die vergessen und nicht wissen wollen, stehen die Fälscher und politischen Roßtäuscher, die das eigene Leid dramatisieren und ihre eigene Schuld bagatellisieren. Und die dann meinen, Schuld gegen Leid kompensieren zu können. Wenn ein Blatt, wie die sogenannte ›Deutsche National- und Soldatenzeitung‹, einen immer größeren Leserkreis gewinnt, wenn rechtsradikale Kreise bei den Wahlen zunehmen, dann ist das für mich ein Beweis dafür, dass der Zug der Zeit auf einen Weg hingeht, der in eine neue Katastrophe und in eine neue Schuld führt.«47 Grüber musste allerdings bewusst gewesen sein, dass er sich mit seinem Auftreten gegen die Umwandlung des Schullandheims zum Kronzeugen derer machte, die das Projekt IDZ an sich ablehnten. Mahnend hatte Erich Müller-Gangloff, der Direktor der Evangelischen Akademie West-Berlin, ihn darauf aufmerksam gemacht, dass seine Position von militanten Gegnern des Projekts als Rechtfertigung benutzt werde, um den gesamten Plan zu verhindern.48 Dazu gehörte beispielsweise die Deutsche National- und Soldaten-Zeitung, die ebenfalls anführte, »Neuköllner Arbeiterkinder würden dadurch eine Erholungsmöglichkeit verlieren, für die es keinen Ersatz gibt«.49 War die Sorge um das Wohl Neuköllner Kinder für nicht wenige ein Vorwand, um sich der Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit zu entziehen – im Falle Grübers wäre diese Erklärung zu kurz gegriffen. Als junger Pfarrer war er als Erzieher tätig gewesen. Später wurde er Direktor einer Einrichtung zur
45 Wirth, »Ein Partner der Vernunft«, S. 258. 46 Horst W. Schmollinger, »Die Nationaldemokratische Partei Deutschlands«, in: Richard Stöss (Hg.), Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 4, Opladen 1986, S. 1892– 1994, hier S. 1955. 47 Zit. nach Jörg Hildebrandt (Hg.), Bevollmächtigt zum Brückenbau – Heinrich Grüber. Judenfreund und Trümmerpropst, Erinnerungen, Predigten, Berichte, Briefe, Leipzig 1991, S. 358. 48 Vgl. Peter Heilmann, »›Nicht vergessen!‹ Joseph Wulf und das Haus der Wannsee-Konferenz«, in: Freundeskreis der Evangelischen Akademie in West-Berlin (Hg.), Kommunität ’92. 40 Jahre Evangelische Akademie in Berlin und Brandenburg 1952–1992, Berlin 1992, S. 22–36, hier S. 30. 49 Deutsche National- und Soldatenzeitung, 6.1.1967.
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Betreuung schwach begabter Kinder und psychopathischer Jugendlicher.50 Dass ihm die Belange von Kindern und Jugendlichen stets am Herzen lagen, war bekannt. Wulf selbst hatte Grübers menschliches Engagement in der Laudatio zur Verleihung der Carl-vonOssietzky-Medaille hervorgehoben.51 Nun stellte sich Grüber mit allen Mitteln gegen die Pläne Wulfs, weil er von der Symbolik der Wannsee-Villa nicht überzeugt war. Er versuchte nicht nur, sie durch den Hinweis auf die Zufälligkeit der Wannsee-Konferenz an diesem Ort zu relativieren; mit dem Argument verkehrstechnischer Infrastruktur schob er sie gänzlich beiseite. Mit besonderem Blick auf potenzielle ausländische Besucher forderte Grüber eine Forschungsstätte, die verkehrgünstiger gelegen sei.52 Für das Verhältnis zwischen Wulf und Grüber war zusätzlich belastend, dass ihr Briefwechsel im Dezember 1967 im Zentralorgan des BVN veröffentlicht wurde. Unter dem Titel »Zur Diskussion um das Dokumentationszentrum« druckte Die Mahnung Teile der Korrespondenz ab, wobei die ausführliche Stellungnahme Wulfs keine Berücksichtigung fand. Das Blatt schloss sich der Haltung des BVN-Ehrenmitglieds Grüber an und verlangte eine Forschungsstelle an zentralem Ort in Berlin.53 Der erwähnte Antwortbrief Wulfs an Grüber vom 29. November 1967 war der letzte unmittelbare Austausch zwischen den beiden. Nach dem von Grüber angekündigten Schreiben an die Mitglieder des Kuratoriums verschärfte sich ihre Auseinandersetzung sogar: Wulf setzte sich energisch gegen Grübers Behauptung zur Wehr, er habe sich zum Direktor des Vereins Internationales Dokumentationszentrum »gemacht«. Fortan trugen sie ihre Auseinandersetzung über Rechtsanwälte aus – das Band zwischen den einstigen Gegnern des Nationalsozialismus war endgültig zerschnitten.
Vergangenheitsabwehr, Opferkonkurrenz und Angriffe auf Joseph Wulf Wulf war davon überzeugt, dass in der Umwandlung der Wannsee-Villa zum Dokumentationszentrum eine international einmalige Bedeutung liegen würde. Das symbolträchtige Gebäude sollte die Zusammenarbeit mit Forschungseinrichtungen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges gewährleisten, zum anderen aber die Suche nach Geldgebern erleichtern, die sich bisher nicht auf deutschem Boden engagierten. Wulf wurde nicht müde, die existenzielle Notwendigkeit der Villa zu betonen. In einem Bericht an Verein und Kuratorium führte er aus, es gebe weltweit kein Haus, das in ähnlicher Form mit der Geschichte des Nationalsozialismus in Europa verknüpft sei: »In vielen anderen Gebäuden, in denen Gestapo-Dienststellen oder ähnliche Einrichtungen des Hitlerrei50 Wirth, Dona nobis pacem!, S. 5 f. 51 Wulf, Laudatio für Grüber, 9.12.1965, in: Hausarchiv Internationale Liga für Menschenrechte Berlin, »Kuratorium I, 63–65«. 52 Grüber, Brief an Brandt, 17.10.1966, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 6354. 53 »Zur Diskussion über das Dokumentationszentrum«, in: Die Mahnung, 15.12.1967.
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ches untergebracht waren, geschahen abscheuliche Verbrechen – kein Haus hat aber wie dieses, in dem mit der Konferenz vom 20. Januar 1942 die Ausrottung des europäischen Judentums organisatorisch vorbereitet wurde, symbolischen und quasi exterritorialen Charakter erhalten.«54 Der Name des Forschungsinstituts sollte verdeutlichen, dass man sich ausdrücklich auch mit den »Folgeerscheinungen« des Nationalsozialismus und der Entstehung von Neonazismus und Rechtsradikalismus nach 1945 befassen werde. Daher war es wenig überraschend, dass aus dem rechten Spektrum die schärfsten Angriffe gegen das Vorhaben kamen: »Rachedenkmal statt Kinderheim. Ein neues Haus des Hasses in Berlin«, titelte die Deutsche Wochen-Zeitung, ein Parteiorgan der NPD. Wulf war für sie ein »fanatischer Initiator« und einer der »von den USA inthronisierten, von der gesamten Westberliner Prominenz gefürchteten politischen Bußapostel, für die die Millionen Opfer des Weltbolschewismus anscheinend nie gestorben sind«. Anknüpfend an das in der unmittelbaren Nachkriegszeit weit verbreitete Vorurteil einer sich rächenden Siegerjustiz wehrte sich das Blatt gegen eine vermeintlich von außen aufgezwungene Konfrontation mit der Vergangenheit. Dem verbreiteten, auch antisemitisch konnotierten Entlastungsmechanismus folgend, wähnte man sich vielmehr selbst in der Rolle des Opfers. Dementsprechend wurde der der »Wulfschen Besessenheit entsprossene Plan« vehement abgelehnt.55 Die einst von Grüber verurteilte National- und Soldaten-Zeitung beteiligte sich ebenfalls an der Pressedebatte. Unter der Überschrift »Berlins Tribut für Judenmorde. Sollen Berliner Kinder für NS-Verbrecher büßen?« dröhnte die rechte Zeitung gegen das Projekt.56 Mit diesem Kurs wähnte sich das Blatt in guter Gesellschaft und zur Bekräftigung wurden Leserbriefe aus West-Berliner Tageszeitungen herangezogen. So wurde etwa der Leserbrief eines Neuköllner Bereitschaftsarztes zitiert, der die Berliner Kinder und die Opfer des Holocaust zynisch gegenüberstellte: »Vor zwei Jahrzehnten hat die SS ein herrliches Grundstück in Besitz genommen und dort einen unseligen und verbrecherischen Entschluß gefaßt. Daß man dafür die durch vorherrschende Enge des Nachkriegs-Berlin schon gestraften Kinder büßen lassen will, wird keinen ermordeten Juden wieder lebendig machen.«57 Die Deutsche Wochen-Zeitung stellte darüber hinaus nicht nur die Wannsee-Villa als realen und symbolischen Ort der von Reinhard Heydrich im Januar 1942 initiierten Konferenz in Frage, sondern ebenso die Biographie Wulfs und die »angeblich [sic!] sechs Millionen ermordeten Juden des Zweiten Weltkrieges«.58 Nicht selten mussten die IDZ-Initiatoren wütende Anschuldigungen über sich ergehen lassen. Lesermeldungen 54 Wulf, IDZ-Bericht des Vorstandes. 55 »Rachedenkmal statt Kinderheim. Ein neues Haus des Hasses in Berlin«, in: Deutsche Wochen-Zeitung, 4.11.1966. 56 »Berlins Tribut für Judenmorde«, in: Deutsche National- und Soldaten Zeitung, 6.1.1967. 57 Vgl. das Original: Leserbrief von Klaus-Werner Wenzel, in: Der Tagesspiegel, 23.10.1966. 58 K. Henri, »Noch ein Sühnezentrum«, in: Deutsche Wochen-Zeitung, 17.11.1967.
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bezeichneten das Dokumentationszentrum als ein Institut, »das den Unfrieden, den Haß verewigen soll«. Der zitierte Verfasser stellte die Frage: »Schneiden sich die Urheber dieses Planes nicht in das eigene Fleisch?« und meinte: »Ewiger Haßgesang ist kein Zeichen von Versöhnungswillen.«59 Berliner Zeitungen berichteten sogar von Attentatsdrohungen gegen Joseph Wulf.60 Die Stellungnahmen verdeutlichen, dass sich hinter der vordergründigen Diskussion um das Wohl der Kinder oftmals eine tiefliegende Ablehnung gegenüber der Erinnerung an die NS-Vergangenheit verbarg. Die National- und Soldaten-Zeitung verstand es geschickt, derartige Wortmeldungen als allgemeine Volksmeinung darzustellen. Aus heutiger Sicht erschreckt, zu welchen argumentativen Überschneidungen es zwischen der extremen Rechten, christlichen Konservativen und auch Sozialdemokraten kam. Dem geschichtsrevisionistischen rechten Spektrum gelang es, Anknüpfungspunkte zu denjenigen herzustellen, die zwar offiziell die Notwendigkeit des Erinnerns und Mahnens an das Dritte Reich nicht in Frage stellten, die Wannsee-Villa als Standort jedoch ablehnten. Als ein solches Beispiel kann die unglückliche und heute sehr bekannte Äußerung von Klaus Schütz angeführt werden, die im Herbst 1967 für Aufregung sorgte. Der Regierende betonte, dass man sich in Berlin einer besonderen Verpflichtung in Bezug auf die NS-Vergangenheit durchaus bewusst sei. Er wolle zwar ein Dokumentationszentrum, aber »keine makabre Kultstätte«.61 Damit spielte er ungewollt denjenigen in die Hände, die das Projekt insgesamt ablehnten. Unter dem Titel »Denkmal der Schande« polemisierte die Zeitung Christ und Welt gegen »Leute, die offenbar nichts für wichtiger halten, als uns noch mehr makabre Kultstätten zu bescheren«.62 Auch die National- und Soldatenzeitung verurteilte »die ›makabre Kultstätte‹ am Großen Wannsee« und beschwor das Schreckensbild von »Berlin als Zentrale antideutscher Propaganda«.63 Aus christlich-konservativen Kreisen des früheren Widerstands kamen ebenfalls Stimmen gegen das Projekt. Prominentes Beispiel war Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, über den Zeitungen verlauten ließen: »Gerstenmaier will Abbruch des Berliner Wannsee-Hauses.«64 Nach einem Bericht der Jerusalem Post hatte er während eines Besuchs in Israel gefordert: »Da kommt nur eines in Frage, nämlich das Haus abzureißen, so daß keine Spur von dieser Schreckensstätte übrigbleibt.«65 Die Forderung sprach einer Praxis das Wort, die noch weit entfernt davon war, Spuren der jüngeren deutschen Geschichte zu erhalten und zu markieren – ein Bewusstsein, das erst seit den 1980er Jahren allmählich mehrheitsfähig wurde. Gerstenmaiers Äußerung verdeutlicht zudem die 59 60 61 62 63 64 65
Vgl. das Original: Leserbrief von Wilhelm Gutzeit, in: Der Tagesspiegel, 23.10.1966. Berg, Der Holocaust, S. 454. Klaus Schütz, »Meine Antwort an Rolf Hochhuth«, in: Welt am Sonntag, 5.11.1967. Albrecht Lauffer, »Denkmal der Schande«, in: Christ und Welt, 1.12.1967. »Berlin als Zentrale antideutscher Propaganda?«, in: National- und Soldatenzeitung, 8.12.1967. Die Welt, 3.9.1966. Zit. nach ebenda.
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konträren Erinnerungskollektive, die sich in der Kontroverse um das IDZ gegenüberstanden. Aufgrund der engen Verbindung der Wannsee-Villa mit der Ermordung der europäischen Juden wurde dem Vorhaben von jüdischer Seite eine hohe Symbolik beigemessen. Nachum Goldmann betonte während seines Besuchs bei Brandt, »der symbolische Wert und Sinn« des IDZ liege gerade darin, es in demjenigen Haus einzurichten, in dem unter dem Vorsitz Heydrichs über die »Endlösung der Judenfrage« beraten worden war.66 Auf nichtjüdischer Seite, und nicht nur für Gerstenmaier, kam ein Dokumentationszentrum in der Wannsee-Villa jedoch einem »Denkmal deutscher Schande« gleich.67 Die von Wulf und seinen Mitstreitern angestrebte Kombination aus Forschung und Erinnerung hätte eine neuartige, konkretere Auseinandersetzung mit den von Deutschen begangenen Verbrechen und das Benennen ihrer Opfer bedeutet. Noch war die politische Mehrheit indes bemüht, der Wannsee-Villa eine als weniger konfrontativ empfundene Symbolik zukommen zu lassen. Bevor der Bezirk Neukölln das Gebäude als Schullandheim nutzte, hatte es für einige Jahre dem August-Bebel-Institut als Heimvolkshochschule gedient. Als sich Kurt Mattick, der mächtige Berliner SPD-Landesvorsitzende aus dem Bezirk Neukölln in der Standortdebatte gegen das IDZ am Wannsee aussprach, argumentierte er, durch jene Bildungsarbeit und mit der gegenwärtigen Nutzung habe das Gebäude eine »Rehabilitierung« erfahren, die nicht unterbrochen werden dürfe.68 Auch Bürgermeister Klaus Schütz, der sich offensichtlich nicht gegen Mattick und den starken Neuköllner SPD-Kreisverband stellen wollte, bevorzugte die Symbolik eines unschuldigen Kinderheims. Er betonte, das Haus habe mit dem Schullandheim seine Bestimmung gefunden, und fragte: »Liegt darin nicht auch eine Bedeutung?«69 Einer der wenigen befürwortenden Leserbriefe, die sich zur Debatte um die Standortfrage äußerten, vermutete dazu, Schütz scheine zu hoffen, »daß fröhliches Kinderlachen im Schullandheim die Todesschreie der vergasten jüdischen Kinder endlich übertönen könnte«.70 Charakteristisch für die West-Berliner Gedenklandschaft der 1950er und 1960er Jahre waren Erinnerungsstätten, die primär des bürgerlichen deutschen Widerstands gedachten. Der Berliner Senat verteidigte seine ablehnende Haltung zu einem Forschungsinstitut am Wannsee, indem er auf seine Unterstützung der Gedenkstätten in der Stauffenbergstraße und in Plötzensee verwies.71 Unbezweifelbar hätte das IDZ bisherige Gedenkstrukturen durchbrochen. Zudem war die Debatte von Konkurrenzdenken geprägt: Für ihr Vorhaben hatten Wulf und seine Mitstreiter internationale Kontakte in alle Richtun66 Goldmann im Interview mit dem Sender Freies Berlin am 5.10.1966, siehe IDZ-Pressemappe vom Februar 1967, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 6354. 67 Möller (Persönlicher Referent des Präsidenten des Deutschen Bundestags), Brief an den Vorstand des Vereins IDZ vom 15.9.1966, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 6354. 68 Kurt Mattick, RIAS-Berlin, »Thema der Woche« am 12.10.1966, siehe IDZ-Pressemappe vom Februar 1967, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 6354. 69 Schütz, »Meine Antwort an Hochhuth«. 70 Leserbrief von Dorothea Hollstein-Schmitt, in: Die Zeit, 1.12.1967. 71 Schütz, »Meine Antwort an Hochhuth«.
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gen geknüpft, insbesondere zu jüdischen Organisationen; die etablierten West-Berliner (Gedenk-)Akteure hatten sie indes außer Acht gelassen. Diese fühlten sich – ebenso wie die kommunalpolitischen Verantwortlichen im Bezirk Neukölln – überrumpelt. Prompt wurde das IDZ als eine »jüdische Angelegenheit« betrachtet. Beispielhaft kann die Aussage des sozialdemokratischen Neuköllner Bezirksverordnetenvorstehers Erwin Etzkorn (SPD) angeführt werden. Er äußerte, auf keinen Fall wolle man »den Israelis das vorenthalten, was ihnen zukommt«.72 Vergeblich betonte Wulf immer wieder, dass die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus keine exklusiv jüdische oder israelische, sondern eine »deutsche Angelegenheit« sei. Vor allen Dingen handle es sich beim geplanten IDZ weder um ein jüdisches noch um ein rein deutsches Institut, sondern um eine internationale Forschungseinrichtung.73 Heinrich Grüber hatte sich immer der Versöhnung von Christen und Juden verpflichtet. Trotzdem wandte er sich gegen das Vorhaben am Wannsee und forderte ein Dokumentationszentrum an einer zentralen Stelle der Stadt. Vor allen Dingen aber müsse dieses »für alle Verfolgten des Nazi-Regimes, vielleicht in Verbindung mit BVN« geschaffen werden.74 Entgegen der damals verbreiteten Meinung vertrat der Propst gerade nicht die Auffassung, dass die Auseinandersetzung mit dem (noch nicht so bezeichneten) Holocaust eine israelische oder »jüdische Angelegenheit« sei. Er schien eine derartige Entwicklung beinahe zu fürchten. Als er sich Anfang Dezember 1967 an den Regierenden Bürgermeister Schütz wandte, bemerkte er: »Es wird ja jetzt immer wieder so getan, als ob die Opfer der Nürnberger Gesetze nur Glaubensjuden gewesen wären und die jüdischen Gemeinden tun so, als ob es sich nur um ihre Anhänger gehandelt habe, dabei gehörten ja bei Erlaß der Nürnberger Gesetze mindestens 33 % der Betroffenen nicht zur SynagogenGemeinde.«75 Das Leitmotiv von Grübers Wirken war – wie er auch gegenüber Wulf betonte -, denjenigen zu helfen, »um die sich kein anderer kümmert«.76 Dabei galt seine besondere Fürsorge Konvertiten, die von Seiten jüdischer Organisationen keine Unterstützung erfuhren. Dementsprechend könnte seine Forderung von 1967 derselben Motivation zugeordnet werden wie die Hilfstätigkeit des »Büros Grüber« für evangelische Deutsche jüdischer Herkunft während des Dritten Reichs. Der Berliner BVN, der in der unmittelbaren Nachkriegszeit aus dem »Verband der Opfer der Nürnberger Gesetze« hervorgegangen war und dem zahlreiche der sogenannten nichtarischen Christen angehörten, argumentierte ähnlich: Der Verband befürchtete, vergessen zu werden und kritisierte, die Schaffung des 72 Vgl. Die Welt, 10.10.1966. 73 Wulf in einem RIAS-Interview vom 25.11.1967, in: RIAS-Archiv, Nr. RIAS DC 5049. 74 Heinrich Grüber, Brief an Klaus Schütz, 1.12.1967, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 6354 (Hervorhebung im Original). 75 Ebenda. 76 Vgl. Wulf, Laudatio für Grüber, 9.12.1965, in: Hausarchiv Internationale Liga für Menschenrechte Berlin, »Kuratorium I, 63–65«.
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Dokumentationszentrums sei angegangen worden, ohne mit den Berliner »Verfolgtenorganisationen […] in Verbindung zu treten«. Der geschäftsführende Vorsitzende des Verbandes Max Köhler, langjähriges SPD-Mitglied und Angehöriger der BVN-Bezirksgruppe Neukölln, plädierte – wie Grüber – ebenso für das IDZ im Stadtzentrum. Zugleich würde er es begrüßen, wenn der Regierende Bürgermeister »in erster Linie mit der Arbeitsgemeinschaft der Verfolgtenverbände in dieser Angelegenheit Rücksprache« hielte.77 Neben einem Verharren in Opferkonkurrenz dürften zum Standpunkt Grübers jüngste Ereignisse beigetragen haben. Nach dem Krieg hatte es in den Besatzungszonen und der Bundesrepublik immer wieder antisemitische Aktionen gegeben. Höhepunkt war Ende 1959 die Beschmierung der Kölner Synagoge mit Hakenkreuzen und dem Slogan »Juden raus«; eine ganze Welle weiterer antisemitischer Vorfälle folgte.78 Mitte der 1960erJahre blickte die schockierte Weltöffentlichkeit erneut nach Deutschland, als die NPD in westdeutsche Landtage einzog. In Berlin hatte es zudem jüngst wieder antisemitische Schmierereien und sogar eine Brandstiftung im Haus der Jüdischen Gemeinde gegeben.79 Zuletzt im Spätsommer 1967 war der einst vom BVN errichtete Gedenkstein für die »Opfer des Nationalsozialismus« auf dem Steinplatz in Charlottenburg beschädigt worden.80 Angesichts dieser Entwicklungen sprach sich Grüber gegen das Dokumentationszentrum in der Wannsee-Villa aus. Er befürchtete ein erneutes Aufleben des Antisemitismus in der Berliner Bevölkerung. Vor diesem Hintergrund musste umso paradoxer erscheinen, dass sich der nationalkonservativ geprägte Grüber zuweilen selbst antisemitischer Zerrbilder bediente. In der Debatte um die Wannsee-Villa – »von der Wulf sich einbildet, daß sie schon in seinem Besitz« sei, forderte er Bürgermeister Schütz auf, endlich die Initiative zu ergreifen, »um den Machenschaften von Herrn Wulf nun einmal ein Ende zu bereiten«.81 Dem Pressechef der Senatskanzlei Peter Herz teilte er mit: »Ich kann nur sagen, daß ich, je länger die Diskussion geführt wird, umso weniger Freude hätte, mit Herrn Wulf zusammen zu arbeiten. Die Art und Weise, wie er gegen alle Menschen intrigiert, die seine Pläne nicht fördern, ist für ihn typisch. Vor einigen Tagen sagte mir ein älterer Herr, der aus einer angesehenen jüdischen Familie stammt: ›Viele von diesen aus Galizien stammenden Menschen haben schon vor 33 mit dazu beigetragen, zum Anwachsen des Antisemitismus in Deutschland.‹«82 Während der NS-Zeit hatte Grüber rassistischen Antisemitismus scharf verurteilt. Doch selbst wenn seine Äußerungen über Wulf als Indikator persönlicher 77 Max Köhler, »Für ein Dokumentationszentrum in Berlin«, in: Die Mahnung, 15.11.1967. 78 Werner Bergmann, »Antisemitismus als politisches Ereignis. Die antisemitische Welle im Winter 1959/60«, in: ders./Rainer Erb (Hg.), Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945, Opladen 1990, S. 253–275, hier S. 253 f. 79 »›Vertrauen zur Bundesrepublik‹ – Ein Interview mit Heinz Galinski«, in: Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland, 2.9.1966. 80 »Aufruf an alle«, in: Die Mahnung, 15.9.1967. 81 Grüber, Brief an Schütz, , 1.12.1967, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 6354 (Hervorhebung im Original). 82 Heinrich Grüber, Brief an Peter Herz, 30.11.1967, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 6354.
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Abneigung identifiziert werden mögen und nicht zwingend als ausgeprägter Antijudaismus: Mit dem Vorurteil einer von Juden selbst verschuldeten Unheilsgeschichte bediente er sich zumindest einer judenfeindlichen Rhetorik. Beachtlich sind die Bemühungen, die Grüber gegen Wulf und das Dokumentationszentrum anstrengte, selbst nachdem von einer Gefährdung des Neuköllner Schullandheims keine Rede mehr sein konnte. So forderte er unter anderem vom Senat, die bisherigen Einnahmen und Ausgaben des Vereins IDZ zu überprüfen; ihm sei »diese unkontrollierte Sammlung von Mitteln etwas unheimlich«. In der Angelegenheit des Dokumentationszentrums schlug Grüber dem Regierenden Bürgermeister generell vor, »daß er die Frage dilatorisch behandelt«. Er selbst werde sich nicht mehr mit Wulf einlassen, nachdem dieser ihm »zwei Mal Rechtsanwälte auf den Hals geschickt« habe.83 Das Verhalten Grübers hatte längst Züge eines persönlichen Feldzugs gegen Wulf angenommen. In der Standortdebatte war oft argumentiert worden, das Dokumentationszentrum könne eine wichtige Brückenfunktion in der Ost-West-Begegnung einnehmen.84 Grüber, der so genannte Brückenbauer, schickte sich nun an, diese Brücke zu torpedieren. Da auch der Berliner Senat unnachgiebig blieb, schrieb der resignierende Joseph Wulf an die Herausgeberin der ZEIT, Marion Gräfin Dönhoff: »In einem Land, wo eine CDU-Mehrheit in einer Stadt verhindern kann, daß eine Straße nach Carl von Ossietzky benannt wird, wo zwar jüdische Überlebende und Hinterbliebene dasselbe Bundesverdienstkreuz annehmen, das auch Antisemiten und Nazis bekommen und wo man in einem von der SPD regierten Land wiederum Angst hat, daß Antisemitismus und NPD wachsen, wenn wir das Haus am Wannsee für eine Forschungsstätte über den Nationalsozialismus bekommen – in einem solchen Land ist wahrscheinlich kein Boden für freidenkende und kombattive Menschen.« 85
Von der Missachtung zur Wertschätzung des historischen Orts Am 20. Dezember 1967 wandte sich der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz an den Vereinsvorstand um Joseph Wulf. Er teilte endgültig mit, dass das Haus am Wannsee für das Dokumentationszentrum nicht zur Verfügung gestellt werden könne. Als Ersatz bot der Senat zwei Grundstücke in unmittelbarer Nähe der Freien Universität an, die für das »von allen gewünschte Dokumentationszentrum« besonders geeignet seien.86 Der Vorstand und selbst Nahum Goldmann protestierten gegen die Entscheidung. Sie teilten mit, 83 Heinrich Grüber, Brief an Peter Herz, 10.6.1968, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 6354. 84 »Streit um das Haus der ›Endlösung‹«, in: Aufbau (New York), 13.12.1967. 85 Joseph Wulf, Brief an Marion Gräfin Dönhoff, 5.12.1967, in: ZAGJD, Bestand B. 2/7, Zg. 91/15, Nr. 27. 86 Klaus Schütz, Brief an den IDZ-Vereinsvorstand, 20.12.1967, in: ZAGJD, Bestand B. 2/1, Zg. 02/06, Nr. 1.
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dass ohne die symbolträchtige Villa am Wannsee die Finanzierung des Dokumentationszentrums durch ausländische Unterstützer nicht mehr gewährleistet sei. Der Senat würde einen erheblichen Teil der finanziellen Mittel selbst aufbringen müssen. Doch alle Proteste waren vergeblich; die Errichtung des Internationalen Dokumentationszentrums im Haus der Wannsee-Konferenz war gescheitert. In den kommenden Jahren folgte eine – wie Peter Heilmann es später ausdrückte – »Geschichte von Vertröstung, Hinhalten und kleinen und großen Betrügereien«. Nachdem Besichtigungen und Vorbesprechungen über die vom Senat angebotenen Häuser stattgefunden hatten, stellte sich bald heraus, dass die angebotenen Objekte in Wirklichkeit gar nicht zur Verfügung standen.87 Auch das bereits angekündigte Vorhaben Wulfs, im Januar 1969 – zum 27. Jahrestag der Wannsee-Konferenz – eine internationale Historikertagung in der Villa Am Großen Wannsee durchzuführen,88 fand keine Unterstützung, obgleich der Senat für derartige Veranstaltungen seine Zusage gegeben hatte.89 Im Mai 1970 teilte dieser schließlich mit, dass nunmehr die Absicht bestehe, das Dokumentationszentrum der Freien Universität Berlin im Rahmen des Projekts »Faschismus-Forschung« zuzuordnen. Doch selbst dieses Projekt wurde nicht verwirklicht. Im September 1970 trat Wulf aus Protest gegen die »Zermürbungspolitik des Berliner Senats« von seinem Amt als Vorsitzender des Vereins zurück.90 Es war das letzte Mal, dass das IDZ größere Beachtung fand. Das Scheitern seines Lebenswerks war für Wulf ein schwerer Schlag. Er war desillusioniert, fühlte sich alleingelassen und unverstanden – ein Zustand, der sich in den kommenden Jahren tragisch verstärken sollte. Am 10. Oktober 1974 nahm sich Joseph Wulf das Leben. Mit dem Vorhaben, Forschung und Erinnerung zu verbinden – und zwar an einem Ort, der auf das Engste mit dem Schicksal der ermordeten Juden Europas verknüpft war –, waren Wulf und seine Mitstreiter auf wenig Gegenliebe gestoßen. Die Bereitschaft, sich mit den Verbrechen des Dritten Reichs auseinanderzusetzen, war gut zwei Jahrzehnte nach Kriegsende noch zu gering. Vielmehr sah sich die deutsche Mehrheitsbevölkerung selbst in der Rolle des Opfers – eine Haltung, die in West-Berlin durch den Mauerbau verstärkt wurde. Hier war bereits 1962 ein zentrales »Denkmal für die Toten der Nation« diskutiert worden. Eine wenig differenzierende Forderung lautete: »[…] es gibt Hunderttausende von Toten, die nie ein Grab erhielten. Sie wurden im Felde ›vermisst‹. Sie fielen im Kampf auf hoher See, verbrannten in Luftschutzkellern, blieben auf der Flucht in 87 Vgl. Henryk M. Broder, »Es gibt Untaten über die kein Gras wächst …«, in: die tageszeitung, 20.1.1982. 88 Heinz Elsberg, »Im Dienst der Zeitgeschichte – Gespräch mit Joseph Wulf«, in: Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland, 17.11.1969. 89 Die zugesagte Umbenennung der Wannsee-Villa in »Janosz-Korczak-Haus« – der Pädagoge wurde im Juli 1942 mit zahlreichen Kindern aus dem Warschauer Ghetto in Treblinka ermordet – wurde ebenso nicht umgesetzt; siehe Hans Erich Bilges, »›Unsere Arbeit kann nur hier getan werden‹«, in: Die Welt, 2.8.1968. 90 Hans-Erich Bilges, »NS-Dokumentationszentrum gefährdet«, in: Die Welt, 7.9.1970.
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irgendeinem Straßengraben liegen. Sie starben in den Konzentrationslagern der braunen und der roten Diktatur. Und dann gibt es die mehr als 5 Millionen deutschen Gefallenen beider Weltkriege, deren Dienstgrad, deren Namen wir kennen, deren Gräber aber für die Angehörigen unerreichbar sind. […] Da sind die Menschen, die starben, weil sie die Freiheit mehr als sich selbst liebten: Die Opfer der Mauer. Und – nicht zu vergessen – die Gräber dicht vor den Toren unserer Stadt, für deren Besuch es keine Passierscheine mehr gibt.«91 Ein Dokumentationszentrum in der Villa am Wannsee hätte dagegen die Millionen Opfer der nationalsozialistischen Judenvernichtung in den Vordergrund gerückt. Darüber hinaus wäre durch die Etablierung in diesem Gebäude, als einem der Orte der Täter, unweigerlich die Frage der Mittäterschaft weiter Teile der deutschen Bevölkerung aufgeworfen worden. Jahre später erläuterte Klaus Schütz, warum sich die Sozialdemokraten seinerzeit gegen eine Gedenkstätte im Haus der Wannsee-Konferenz wehrten: »Stätten, an denen der Nationalsozialismus gehandelt hatte, sollten vom Erdboden verschwinden.«92 So war es nur konsequent, dass 1967 die Errichtung des IDZ selbst an anderen historischen Orten scheiterte. Grübers Empfehlung, Eichmanns frühere Dienststelle in der Kurfürstenstraße dafür zu nutzen,93 blieb ungehört – ebenso ein anderer Vorschlag, der die Errichtung des Dokumentationszentrums in der Ruine des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) in der vormaligen Prinz-Albrecht-Straße favorisierte.94 An die Opfer des Holocaust und die Stätten der Täter wurde in West-Berlin weiterhin an fast keinem Ort erinnert. Eine der wenigen Ausnahmen stellte eine Gedenktafel mit den Namen von Vernichtungs- und Konzentrationslagern dar, die 1967 auf Initiative der »Liga für Menschenrechte« und der Bezirksverordnetenversammlung auf dem Kaiser-Wilhelm-Platz und ebenso auf dem Wittenbergplatz errichtet wurde.95 Nach dem Scheitern von Wulfs Initiative verschwand das Haus der Wannsee-Konferenz wieder aus der öffentlichen Diskussion. Zwar brachte man 1972 am Straßentor der Villa eine Gedenktafel an; diese wurde aber bald darauf beschmiert und schließlich gestohlen,96 so dass weiterhin nichts an die Geschichte des Ortes erinnerte.97 Erst eine Gedenkstunde zum 40. Jahrestag der Wannsee-Konferenz mit Ansprachen Heinz Galinskis und des Regierenden Bürgermeisters Richard von Weizsäcker (CDU) brachte den his91 Günther M. Stanienda, »Gedenkstätte für die Toten der Nation«, in: Die Welt, 21.10.1962. 92 Uwe Schlicht, »Gedenkstätte für das europäische Judentum«, in: Der Tagesspiegel, 15.11.1987. 93 Grüber, Brief an Brandt, 17.10.1966, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 6354. 94 Alfred Weiland, »NS-Dokumentationszentrum notwendig!«, in: Die Mahnung, 1.7.1968. Die Vorschläge übersahen, dass sowohl die Reste der Gestapozentrale als auch das Gebäude von Eichmanns »Referat Judenangelegenheiten« nicht mehr existierten. 95 Stefanie Endlich u.a., Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, Bd. 2, Bonn 1999, S. 156 f. 96 E. K. (Senatskanzlei), Vorlage zur Errichtung einer Erinnerungsstätte an die »Wannsee-Konferenz« von 1942 in der Villa am Großen Wannsee 56–58, 27.05.1986, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 185–81. 97 Broder, »›Es gibt Untaten, über die kein Gras wächst …‹«.
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torischen Ort 1982 wieder in die Öffentlichkeit;98 auch eine Gedenktafel wurde nun an geschützterer Stelle am Hauseingang angebracht.99 Zudem gab es einen erneuten Vorstoß, in der Wannsee-Villa ein Forschungsinstitut zu errichten, getragen von ehemaligen Mitstreitern Wulfs. Ein breites politisches Bündnis konnte jedoch nicht hergestellt werden; der Plan scheiterte bereits in der Anfangsphase.100 Dennoch hatte sich die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem Holocaust in langfristiger Perspektive maßgeblich verändert. Darunter fiel auch das öffentliche Bewusstsein für die Bedeutung historischer Orte. Waren bauliche Relikte der NS-Zeit in vorangegangenen Jahrzehnten bis auf vereinzelte Reste abgetragen oder überbaut worden, erfolgte seit Beginn der 1980er Jahre eine allmähliche und oft mühsame Wiederentdeckung, Kennzeichnung und Aufklärung über deren Funktion während des Dritten Reiches. Beigetragen hatten dazu eine Vielzahl neuer Geschichtswerkstätten, Bürgerinitiativen und Basisgruppen. Gemeinsam mit Überlebenden und Angehörigen von Opfern engagierten sich diese Gruppen für Spurensuche, Denkmalserrichtungen und Dokumentationen an den zentralen, aber gerade auch an vielen dezentralen Orten. In West-Berlin stand vor allem das Gelände des ehemaligen Reichsicherheitshauptamts im Interesse der Öffentlichkeit. Anlässlich der Gedenkveranstaltungen zum 50. Jahrestag der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten von 1933 sprach sich der Berliner Senat im Juni 1982 für die Errichtung eines Mahnmals für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft auf dem Gelände aus,101 womit die Täter weiterhin außen vor blieben. Mit Verweis auf diesen Beschluss wies der CDU-geführte Senat in den folgenden Jahren Forderungen nach einer Gedenkstätte im Haus der Wannsee-Konferenz zurück. Ein Umdenken fand 1986 statt, zunächst noch als Kompromiss: Die Villa sollte zwar weiterhin als Schullandheim erhalten bleiben, der Sitzungsraum der Wannsee-Konferenz könne jedoch als Erinnerungsstätte zur Verfügung gestellt werden. Ebenso wurden spezielle »Jugendkonferenzen« im Haus erwogen, auf denen man das Thema Antisemitismus auf »Vorurteile gegen Minderheiten allgemein« ausweite. Dies würde Jugendlichen erlauben, »auf dem Hintergrund des historischen Tatbestandes der Judenverfolgung eigene Lebensprobleme (Verhältnis zu Türken, Farbigen etc.) positiv zu bearbeiten.«102 Doch dazu kam es nicht: Im September 1986 entschied der Senat, im gesamten Gebäude eine Gedenk- und Begegnungsstätte zu errichten. Mit der Aussicht auf ein angemessenes Ersatzgrundstück willigte nun auch der Bezirk Neukölln zur Nutzung der Wannsee-Villa 98 Michael Haupt, Das Haus der Wannsee-Konferenz: Von der Industriellenvilla zur Gedenkstätte, Paderborn 2009, S. 178. 99 Senatskanzlei, Vorlage zur Errichtung einer Erinnerungsstätte. 100 Schoenberner, »Der lange Weg nach Wannsee«, S. 161 f. 101 Vgl. etwa Matthias Haß, Gestaltetes Gedenken. Yad Vashem, das U.S.-Holocaust Memorial Museum und die Stiftung Topographie des Terrors, Frankfurt am Main 2002, S. 154. 102 Senatskanzlei, Vorlage zur Errichtung einer Gedenkstätte an die »Wannsee-Konferenz« von 1942 in der Villa am Großen Wannsee 56–58, 27.5.1986, in: LAB, B REP 002, Nr. 185-81.
Streit um das »Haus der Endlösung«
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als Gedenkstätte ein.103 Anders als zwanzig Jahre zuvor war eine Lösung schnell gefunden: Das Schullandheim zog in ein Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite des Sees, das kurz zuvor noch als Unterkunft für Asylbewerber vorgesehen war.104 Mit der Konzeption einer Gedenk- und Begegnungsstätte folgte der Senat den in den 1980er Jahren aufkommenden Schlagworten wie »arbeitende Gedenkstätte« oder »Gedenkstätte als Lernort«. Vermieden werden sollten eine Transformation der NS-Vergangenheit in totes – weil der eigenen Epoche nicht mehr zugehöriges – Museumsgut sowie die Nutzung von Gedenkstätten für ausschließlich rituelle Formen des Erinnerns.105 Vergeblich hatte Wulf diesen Ansatz bereits in den 1960er Jahren formuliert. Gegenüber Egon Bahr führte er damals aus, das Haus am Wannsee solle nicht nur Gedenkstätte bzw. ein »totes Museum« sein. Die Intentionen seines Vereins zielten gerade darauf ab, »dort eine lebendige, wissenschaftliche, internationale Forschungsstätte zu etablieren, [...] wir wollen dort produktive Arbeit leisten«.106 Zur feierlichen Eröffnung der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz im Januar 1992 – am 50. Jahrestag der Wannsee-Konferenz – betonte Bürgermeister Eberhard Diepgen, er habe sich für diesen Ort des Gedenkens eingesetzt, da sich die Deutschen hier der schrecklichsten Seite ihrer Geschichte zu stellen hätten. Mit der Wannsee-Villa, dem Gelände des ehemaligen Prinz-Albrecht-Palais und der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstraße könne dies in einem Dreiklang des Gedenkens geschehen.107 Zum Zeitpunkt der Initiative Joseph Wulfs wären diese Worte unmöglich oder zumindest vergeblich gewesen. Den letzten Vorstandsbericht, den Wulf den Mitgliedern kurz vor Auflösung des Vereins Internationales Dokumentationszentrum zukommen ließ, schloss er mit den Worten: »Wir danken allen, die uns moralisch und politisch unterstützt haben – es war eine große Idee. Vielleicht hatten wir sie zu spät.«108 Heute wissen wir: Joseph Wulfs Initiative kam nicht zu spät, sie kam vielmehr zu früh. Seinem Ziel, Forschung und Erinnerung in der Wannsee-Villa zu verbinden, stand in den 1960er Jahren noch die Abneigung von weiten Teilen der bundesrepublikanischen Gesellschaft gegenüber, sich in dieser konkreten Weise an einem historischen und zugleich symbolischen Ort mit dem Geschehen der »Endlösung« zu konfrontieren. Erst Jahrzehnte später wurde die Geschichte des Hauses von einer breiten Öffentlichkeit angenommen. 103 »›Wannsee-Villa‹ wird zur Begegnungs-Stätte«, in: Berliner Morgenpost, 2.9.1986. 104 Günter Rexrodt (Senator für Finanzen), Mitteilung an Eberhard Diepgen, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 185–81. 105 Volkhard Knigge, »Gedenkstätten und Museen«, in: ders./Norbert Frei (Hg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, S. 378–389, hier S. 383 f. 106 Joseph Wulf, Brief an Egon Bahr, 4.9.1966, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 6354. 107 Vgl. Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz (Hg.), Erinnern für die Zukunft. Ansprachen und Vorträge zur Eröffnung der Gedenkstätte, Berlin 1992, S. 13. 108 Joseph Wulf, IDZ-Bericht des Vorstandes über die Zeit vom 21.10.1967 bis zum 22.9.1971, in: ZAGJD, Bestand B. 2/1, Zg. 02/06, Nr. 1.
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Mittlerweile ist die Gedenk- und Bildungsstätte als wichtige Einrichtung der historischen und politischen Information über die Verbrechen während der NS-Herrschaft in Deutschland und Europa wie auch über die Folgen von Rassismus und Antisemitismus akzeptiert, was nicht zuletzt die hohen Besucherzahlen aus dem In- und Ausland belegen. Die große mediale Aufmerksamkeit zum 70. Jahrestag der Wannsee-Konferenz zeigt aber auch, wie man in Deutschland erst mit wachsendem Zeitabstand zum Nationalsozialismus offener artikuliert, dass die »Endlösung der Judenfrage« am 20. Januar 1942 nicht nur von der SS, sondern von Delegierten aus fast allen Ministerien besprochen wurde, von denen einzelne bis in die 1980er Jahre ungestört in der Bundesrepublik lebten.
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Die Wannsee-Konferenz als Unterrichtsgegenstand Anregungen und Dokumente für die Sekundarstufe II1
Die Wannsee-Konferenz wird in vielen neueren deutschen Schulbüchern erwähnt; in manchen findet sich auch ein Auszug aus dem Protokoll, in der Regel die Sätze, aus denen die Vernichtungsabsicht hervorgeht.2 Doch sind die Informationen, die zu der Konferenz und ihrem Kontext gegeben werden, in vielen Schulbüchern unzureichend, wenn nicht falsch. So heißt es zum Beispiel in einem 2010 erschienenen Lehrbuch, das ausführlicher als die meisten anderen Schulbücher auf das Ereignis eingeht und ein Zitat aus dem Protokoll sowie einen Arbeitsauftrag zu dessen Sprache enthält: »Auf der Wannsee-Konferenz in Berlin im Januar 1942 wurde von SS- und NSDAP-Funktionären die ›Endlösung der Judenfrage‹ beschlossen: Mehr als 11 Millionen Juden sollten systematisch ermordet werden.«3 Damit wird – wie in vielen Lehrbüchern – die verbreitete Fehleinschätzung der Besprechung als Beschlusskonferenz weiterverbreitet; die im Protokoll genannte Zahl erscheint als historische Tatsache und vor allem wird die Beteiligung des Staatsapparates unterschlagen. Nun kann die Wannsee-Konferenz im Rahmen des Schulunterrichts sicherlich nicht annähernd so detailliert analysiert werden, wie das im vorliegenden Band 1 Die Wannsee-Konferenz kann auch in Bildungsveranstaltungen mit vielen anderen Adressatengruppen zum Gegenstand gemacht werden. Vgl. dazu z.B. Wolf-Dieter Mattausch, »Pädagogische Arbeit mit Bundeswehrgruppen am Erinnerungsort von Täterschaft«, in: Gedenkstätten des NS-Unrechts und Bundeswehr. Bestandsaufnahme und Perspektiven, herausgegeben von Oliver von Wrochem und Peter Koch, Paderborn u.a. 2010, S. 217–224; Elke Gryglewski, »Pädagogische Konzepte für multiethnische Gruppen im Haus der Wannsee-Konferenz«, in: Politisches Lernen 24 (2006), H. 1/2, S. 42–45; Wolf Kaiser, »Die Schoah in der Erwachsenenbildung«, in: EpD-Dokumentation (2006) 4/5, S. 75–82; Lore Kleiber, »Berufsmilieus im Nationalsozialismus als sozialgeschichtlicher Stoff. Seminare im Haus der Wannsee-Konferenz«, in: Erinnern und Verstehen. Der Völkermord an den Juden im politischen Gedächtnis der Deutschen, herausgegeben von Hans Erler, Frankfurt am Main u.a. 2003, S. 213–245. 2 Das Spektrum reicht von einer knappen Erwähnung (»Am 20. Januar 1942 berieten hohe Parteifunktionäre und Ministerialbeamte in Berlin-Wannsee über die ›Endlösung der Judenfrage‹«, zit. nach Expedition Geschichte 3, [Ausgabe] Berlin. Klasse 9. Frankfurt am Main 2000, S. 164) bis zu einer Darstellung der Konferenz im Kontext des Vernichtungsprozesses auf einer halben Seite, ergänzt durch einen längeren Auszug aus dem Protokoll mit drei Arbeitsaufträgen in einem Lehrbuch für die Sekundarstufe II (Kursbuch Geschichte, Oberstufe Baden-Württemberg, Berlin 2002, S. 293–295). 3 Durchblick, GSW Geschichte/Politik 9/10, Realschule Niedersachsen, Braunschweig 2010, S. 62.
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geschieht. Es ist aber möglich, das Protokoll eingehend zu untersuchen und die Konferenz im historischen Kontext zu betrachten. Die Wannsee-Konferenz eignet sich als Ausgangs- und zentraler Bezugspunkt im Lernprozess, wenn die Schritte der Radikalisierung antijüdischer Politik benannt werden sollen, die bürokratische Planung und Organisation des Völkermords verdeutlicht und auf dessen europäische Dimension aufmerksam gemacht werden soll. Im Folgenden wird ein Vorschlag vorgestellt, wie der Lernprozess organisiert werden kann, welche Fragestellungen und Ziele verfolgt und welche Materialien herangezogen werden können. Das Konzept kann in einer Unterrichtsreihe oder an einem Projekttag in der Sekundarstufe II realisiert werden. Es liegt auf der Hand, dass die Täter und Kollaborateure im Zentrum stehen, wenn es um die Planung des Völkermords und die Verhaltensweisen und Entscheidungen geht, die zu seiner Realisierung geführt haben. Die Auswirkungen auf die Betroffenen, ihre Versuche, sich und andere zu retten oder Widerstand zu leisten, und die Rolle, die Oppositionelle und Helfer, aber auch Zuschauer, Mitläufer der Nationalsozialisten und Denunzianten spielten, müssen gesondert untersucht werden, so dass die zu Recht für den Geschichtsunterricht allgemein, besonders aber auch für die Geschichte des Völkermords an den europäischen Juden geforderte Multiperspektivität gewährleistet ist. Als Einstieg in die Unterrichtseinheit kann ein kurzer Ausschnitt aus einem der DokuDramen gezeigt werden, die versucht haben, die Konferenz in Szene zu setzen. Man kann zum Beispiel aus dem Film Die Wannsee-Konferenz von Heinz Schirk eine Sequenz auswählen, in der versucht wird, eine Gegenposition zur kaltherzigen Entschlossenheit Reinhard Heydrichs aufzubauen, den Massenmord effektiv und umfassend durchzuführen. Dazu werden dem Vertreter der Reichskanzlei, Friedrich Wilhelm Kritzinger, Bedenken gegen die »Endlösung der Judenfrage« in den Mund gelegt. Kritzinger wird zwar als schwach und ängstlich charakterisiert, wagt es dem Doku-Drama zufolge aber, darauf hinzuweisen, dass die Berliner Juden vielfach wüssten, was sie erwarte, und viele deshalb Selbstmord begingen. Tatsächlich kam es zu insgesamt etwa siebentausend Selbsttötungen,4 aber es gibt keinen Beleg dafür, dass Kritzinger diese Tatsache auf der Konferenz zur Sprache gebracht hätte, geschweige denn, dass er dabei seine Ablehnung der antijüdischen Politik und sein Entsetzen über den Massenmord hätte erkennen lassen. Das Protokoll verzeichnet aber überhaupt keine Wortmeldung Kritzingers.5 Auch wenn das nicht beweist, dass er geschwiegen hat, da das Dokument ja ein Ergebnisprotokoll, keine Transkription einer stenographischen Mitschrift oder Tonbandaufnahme ist, muss festgehalten werden, dass für diese Darstellung im Doku-Drama jegliche Quellengrundlage fehlt. 4 Beate Meyer, »Deportationen«, in: Juden in Berlin 1938–1945. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung, herausgegeben von Beate Meyer und Hermann Simon, Berlin 2000, S. 173. 5 Zur Einschätzung des Verhaltens und der Einstellungen Kritzingers vgl. Hans Mommsen, »Aufgabenkreis und Verantwortlichkeit des Staatssekretärs der Reichskanzlei Dr. Wilhelm Kritzinger«, in: Institut für Zeitgeschichte (Hg.), Gutachten, Stuttgart 1966, S. 369–398.
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Diese Feststellung macht auf den fundamentalen Unterschied zwischen der geschichtswissenschaftlichen Rekonstruktion und Deutung eines historischen Vorgangs und dessen theatralischer oder filmischer Inszenierung aufmerksam. Sie kann zugleich zu einer Analyse des Protokolls überleiten. Bei einer ersten, von der Lehrerin oder dem Lehrer angeleiteten Lektüre sollte herausgearbeitet werden, was dem Protokoll zweifelsfrei zu entnehmen ist, welche Aussagen unklar oder interpretationsbedürftig sind und welche Aspekte der antijüdischen Politik um die Jahreswende 1941/42 gar nicht erwähnt sind.6 In einem zweiten Schritt kann das Protokoll im Rahmen einer arbeitsteiligen Gruppenarbeit näher untersucht werden. Diese Arbeitsgruppen sollten sich zum einen eingehend mit dem Protokoll befassen und es im Hinblick auf die darin genannten historischen Vorgänge, aber auch hinsichtlich der in diesem Text dokumentierten Denkweise und Intentionen der Täter analysieren. Zum andern sollten sie exemplarisch untersuchen, wie und inwieweit diese Absichten in der Folgezeit unter Beteiligung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zahlreicher deutscher Institutionen, aber auch ausländischer Regierungen realisiert wurden.7
Arbeitsgruppe 1: Das Wannsee-Protokoll zu den Schritten im Vernichtungsprozess Die Aufgabenstellung für die erste Gruppe kann auf Raul Hilbergs Strukturanalyse des Verfolgungs- und Vernichtungsprozesses zurückgreifen. Hilberg hat rückblickend die Maßnahmen benannt, die eine umfassende Durchführung des Völkermords ermöglichten: Definition, Enteignung, Konzentration, Deportation.8 Zu dem Zeitpunkt, als die nationalsozialistische Führung die Verwaltungen und Polizeikräfte mit der Durchführung dieser Maßnahmen beauftragte, war der Völkermord noch keineswegs beschlossen, ja zunächst nicht einmal vorstellbar. Im Nachhinein erwiesen sie sich aber als Vorbedingungen für den systematischen und umfassenden Charakter der Vernichtung. Zum Zeitpunkt der Wannsee-Konferenz war nicht nur der Massenmord durch die Einsatzgruppen, die Juden meist in unmittelbarer Nähe ihres Wohnorts ermordeten, schon seit Monaten im Gange. Aus der rassenantisemitischen Vorstellung, man müsse sich der Juden im deutschen Machtbereich auf irgendeine Weise entledigen, war bereits die Absicht zum umfassenden Völkermord in ganz Europa geworden. Es ist bemerkenswert, dass alle Schritte des Vernichtungsprozesses von der Definition bis zum Mord im Protokoll der WannseeKonferenz erwähnt sind, wenn auch nicht in chronologischer Reihenfolge und zum Teil 6 Vgl. dazu den Beitrag von Mark Roseman in diesem Band, besonders S. 406. 7 Die im Folgenden genannten und zitierten Dokumente können vollständig oder als Auszug von der Homepage des Hauses der Wannsee-Konferenz unter www.ghwk.de abgerufen und ausgedruckt werden. 8 Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 1, Frankfurt am Main 1982, S. 56 f.
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in verschleiernder Formulierung. Aus der Praxis der Verfolgung und Vernichtung selbst hatte sich offenbar für diejenigen, die den Prozess vorantrieben, die Einsicht in die Funktionalität der Maßnahmen für die Möglichkeit ergeben, alle Juden zu erfassen und zu ermorden. Die Beraubung der Juden hat Heydrich dem Protokoll zufolge bereits im Rückblick auf die »Auswanderungsarbeiten«9 erwähnt, also auf die Vertreibungspolitik, die bis zum Oktober 1941 betrieben worden war, während er noch nicht auf die Finanzierung der Transporte »nach dem Osten« (S. 5) aus dem jüdischen Vermögen einging. Dagegen hat er die Deportationen, die Ghettos und die Definitionsfrage unmittelbar nach den Ausführungen genannt, aus denen die Vernichtungsabsicht hervorgeht: »Die evakuierten Juden werden zunächst Zug um Zug in sogenannte Durchgangsghettos verbracht, um von dort aus weiter nach dem Osten transportiert zu werden. Wichtige Voraussetzung, so führte SS-Obergruppenführer Heydrich weiter aus, für die Durchführung der Evakuierung überhaupt, ist die genaue Festlegung des in Betracht kommenden Personenkreises.« (S. 8) Diese Passage des Wannsee-Protokolls macht zugleich deutlich, dass die Planung der Täter (und der historische Verlauf ) nicht überall der Abfolge der von Hilberg genannten Schritte entsprachen. Die Juden West- und Mitteleuropas wurden ja zumindest bis zur Fertigstellung der großen Vernichtungslager in der Regel zweimal konzentriert und zweimal deportiert: Sie wurden zunächst in Sammellagern in dem Land, in dem sie ansässig waren, zusammengefasst, dann ins östliche Europa deportiert und dort in Ghettos zusammengepfercht, aus denen sie schließlich zu den Vernichtungsstätten verbracht wurden.10 Wenn Hilbergs Konzept erläutert worden ist, kann der Arbeitsauftrag an die erste Gruppe lauten, Zitate aus dem Protokoll zusammenzustellen, in denen die Definition, die Enteignung, die Konzentration, die Deportation und der Mord direkt oder indirekt erwähnt sind, und die ausgewählten Textpassagen zu erläutern. Eine Untersuchung des Protokolls im Hinblick auf die Schritte im Prozess der Verfolgung und Ermordung der Juden verdeutlicht, wie umfassend das Wannsee-Protokoll den Gesamtprozess thematisiert. Zugleich lässt die Art und Weise, wie die Schritte des Vernichtungsprozesses genannt werden, erkennen, dass die »Endlösung« nicht die Realisierung eines seit langem bestehenden Plans war, sondern am Ende einer Vielzahl von Entscheidungen stand, die zu einem immer radikaleren Vorgehen gegen die Juden führten, so dass schließlich die physische Vernichtung sämtlicher Juden in Europa denkbar wurde.
9 S. 4 des Protokolls, vgl. den Abdruck des Faksimiles als Dokument 4.7 in diesem Band, S. 43. 10 Die neuere Forschung hat gezeigt, dass Ghettos nicht von Beginn an dazu geschaffen wurden, Juden vor ihrer Deportation zu konzentrieren. Vgl. Dan Michman, The emergence of Jewish ghettos during the Holocaust, Cambridge 2011. Die differenzierte Darstellung der Entstehungsgeschichte der Ghettos widerspricht nicht der Feststellung, dass sich die Täter bei der Organisation der Deportationen in die Vernichtung die Isolierung der Juden in den Ghettos zunutze machten.
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Arbeitsgruppe 2: Die Sprache des Wannsee-Protokolls Einer zweiten Gruppe kann die Aufgabe gestellt werden, die Sprache des Wannsee-Protokolls im Hinblick auf deren bürokratische Prägung, deren Tarnfunktion und den in der Sprache zum Ausdruck kommenden Rassismus zu untersuchen. Diese Sprache lässt durch bürokratische Floskeln wie »Aufgabenziel« (S. 3) und »Auswanderungsarbeiten« (S. 4) erkennen, dass die Konferenz den Völkermord als Verwaltungsvorgang behandelte. Allerdings gibt das Protokoll nicht direkt preis, dass die »Endlösung der europäischen Judenfrage« (S. 2), zu deren Vorbereitung die Konferenz diente, zu diesem Zeitpunkt Völkermord meinte. Vielmehr ist die Sprache an vielen Stellen absichtsvoll vage gehalten, und etliche Euphemismen sollten den Blick auf die mörderischen Absichten verstellen. Allerdings wird heute die in dem zentralen, die Vernichtungsabsicht verratenden Passus enthaltene Ankündigung, die Juden sollten »im Osten zum Arbeitseinsatz kommen« und die »arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt« werden, nicht mehr als bloße Tarnung für direkten Massenmord verstanden, sondern als ernstgemeinte Option neben der Ermordung der nicht arbeitsfähigen jüdischen Kinder, Alten und Kranken. Im selben Satz macht der zynische Euphemismus, dabei werde »zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen« (S. 7), unmissverständlich klar, dass »Vernichtung durch Arbeit« geplant war, wie es später Reichsjustizminister Thierack formulieren sollte.11 Der darauf folgende Satz enthält dieselbe Mischung aus brutalem Zynismus und Beschönigung, wenn davon die Rede ist, der »Restbestand« werde »entsprechend behandelt« (S. 8) werden müssen. Die Formulierung lässt eine Tarnvokabel anklingen, die Heydrich seit Kriegsbeginn in etlichen Befehlen wie selbstverständlich verwendet hat: die Bezeichnung der verfahrenslosen Hinrichtung als »Sonderbehandlung«.12 In manchen Passagen legt der Text unabsichtlich offen, was sich hinter den Formulierungen verbirgt. Es sei beabsichtigt, so heißt es da, »Juden im Alter von über 65 Jahren nicht zu evakuieren, sondern sie einem Alterghetto […] zu überstellen« (S. 8). Die Opposition zwischen »evakuieren« und Überstellung ins Ghetto Theresienstadt, die den Anschein erwecken sollte, ältere Menschen würden geschont, lässt keinen Zweifel daran, dass evakuieren nicht einfach aussiedeln, geschweige denn eine Rettungsmaßnahme meint; viel-
11 Bericht des Reichsjustizministers Thierack über eine Besprechung mit Himmler am 18. September 1942, in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Bd. XXVI, Nürnberg 1948, Dok. 654-PS, S. 200–203. 12 In einem Fernschreiben mit dem Betreff »Sonderbehandlung bei besonderer Verwerflichkeit« erläutert Heydrich den Begriff, indem er schreibt, dabei handele es sich »um solche Sachverhalte, die […] geeignet sind, ohne Ansehung der Personen durch rücksichtslosestes Vorgehen (nämlich durch Exekution) ausgemerzt zu werden«. Es zeigt Heydrichs verdinglichendes Denken und Handeln, dass die »Sachverhalte« durch die Exekution der dafür in den Augen der Gestapo Verantwortlichen »ausgemerzt« werden sollen. Nürnberger Dokumente NO-226, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 16 (1958), H. 4, S. 406 f.
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mehr ging es um Deportationen zu tödlicher Zwangsarbeit oder sofortiger Ermordung am Bestimmungsort. Die Bedeutung anderer Euphemismen und Tarnvokabeln erschließt sich nur, wenn man von der Praxis des Massenmords weiß, der im östlichen Europa begonnen hatte. Diese meint Heydrich, wenn er von den »Möglichkeiten des Ostens« (S. 5) spricht. Wenn Bühler und Meyer fordern, »gewisse vorbereitende Arbeiten im Zuge der Endlösung« in den von ihnen verwalteten Gebieten selbst durchzuführen, weist im Text des Protokolls nur die ihnen zugeschriebene Nebenbemerkung auf die Brutalität dieser Vorgänge hin, dass dabei »eine Beunruhigung der Bevölkerung vermieden werden müsse« (S. 15)..Luther wird mit der Befürchtung zitiert, »bei tiefer gehender Behandlung des Problems« (S. 9) seien in den nordischen Staaten Schwierigkeiten zu erwarten; aus dem Kontext lässt sich erschließen, dass er damit die Deportation und die ihr regelmäßig vorausgehenden Maßnahmen wie die Erfassung und Beraubung der Juden meint. Anders als in öffentlichen Reden nationalsozialistischer Funktionsträger spielen die Stereotypen der rassistischen und antisemitischen Propaganda in diesem geheimen Dokument, das der internen Verständigung diente, eine eher untergeordnete Rolle. Die Floskeln und Redeweisen des rassistischen Diskurses fügen sich hier in den bürokratischen Duktus ein, wenn vom »Aufgabenziel« (S. 7) die Rede ist, »den deutschen Lebensraum von Juden zu säubern« (S. 7), und im generalisierenden Singular beklagt wird, dass »der Jude« (S. 7) sich in Rumänien gegen Geld Dokumente beschaffen könne, die ihm eine fremde Staatsangehörigkeit bescheinigten. Am deutlichsten tritt das rassistische Vokabular dem Gegenstand entsprechend in den Passagen hervor, in denen Heydrichs Ausführungen zur »Lösung der Mischehen- und Mischlingsfragen« referiert werden, die als »Voraussetzung für die restlose Bereinigung des Problems« (S. 10) bezeichnet wird. Da ist von »Bastardehe« (S. 12) die Rede und davon, dass ein »rassisch besonders ungünstiges Erscheinungsbild« (S. 12) nicht zulasse, einen »Mischling 2. Grades« den »Deutschblütigen« zuzuschlagen, und es wird erörtert, in welchen Fällen Kinder »rassenmäßig in der Regel einen stärkeren jüdischen Bluteinschlag« (S. 13) aufweisen. Doch sah sich Heydrich offensichtlich nicht genötigt, gegenüber den Teilnehmern der Wannsee-Konferenz seine rassenantisemitische Sichtweise zu begründen. Ihm kam es vielmehr auf kategoriale Differenzierungen an, die Grundlage administrativer Entscheidungen sein sollten; zugleich beabsichtigte er, das Vorgehen gegen Menschen mit jüdischen Vorfahren dadurch zu verschärfen, dass »Mischlinge 1. Grades« »im Hinblick auf die Endlösung der Judenfrage den Juden gleichgestellt« (S. 10), das heißt ebenfalls deportiert und ermordet würden. Die Erarbeitung der sprachlichen Merkmale des Protokolls sollte mit der Erörterung der Frage verbunden werden, warum es so formuliert ist, vor allem warum es die Mordabsichten verschleiert. Dazu können Auszüge aus dem Protokoll der Verhöre Eichmanns in Jerusalem mit herangezogen werden. Während des Prozesses zitierte Richter Raveh einen Halbsatz aus dem letzten Teil des Protokolls: »Abschließend wurden die verschiedenen Arten der Lösungsmöglichkeiten besprochen«, und fragte Eichmann: »Also vielleicht entsinnen Sie sich, was man da gesprochen hat?« Eichmann antwortete: »Da sind
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die verschiedenen Tötungsmöglichkeiten besprochen worden.«13 Der Vorsitzende Richter Landau kam auf diese Frage zurück und Eichmann ergänzte seine Aussage: »Es wurde von Töten und Eliminieren und Vernichten gesprochen.« Zur Erklärung der Differenz zwischen seiner Erinnerung an die Konferenz und dem Wortlaut des Protokolls sagte Eichmann: »Heydrich hat dann bestimmt, was in das Protokoll hineinkommen soll und was nicht.«14 Die Sprache des Protokolls ist ambivalent: Einerseits versucht sie den Massenmord zu verschleiern, sei es um den Lesern die Vergegenwärtigung der brutalen Wirklichkeit zu ersparen oder um die Wahrheit für den Fall zu verdecken, dass das mit der höchsten Geheimhaltungsstufe klassifizierte Dokument in Hände geraten sollte, für die es nicht bestimmt war. Andererseits ist es eindeutig genug formuliert, um zu beweisen, dass die Teilnehmer der Konferenz an der Planung eines beispiellosen Verbrechens beteiligt waren. Eichmann stellt dazu fest: »das Wesentliche wollte Heydrich in das Protokoll verankert wissen, weil er die Staatssekretäre ›annageln‹ wollte und im Protokoll verhaften wollte.« Heydrich habe sich »eine Art Rückversicherung geschaffen […], indem er die Staatssekretäre einzeln festgenagelt hat«.15 Keiner der Vertreter der Ministerialbürokratie sollte noch eine Möglichkeit sehen, Heydrichs Zuständigkeit in Frage zu stellen oder sich von ihm zu distanzieren.
Arbeitsgruppe 3: Die Diskussion über das Vorgehen gegen »Mischlinge« und »Mischehen« Eine dritte Gruppe sollte die Positionen der Konferenzteilnehmer in der Frage der »Mischlinge« und »Mischehen« untersuchen. Heydrich hat seine Äußerungen dazu laut Protokoll mit der Bemerkung eingeleitet: »Im Zuge der Endlösungsvorhaben sollen die Nürnberger Gesetze gewissermaßen die Grundlage bilden«, und seine Absicht, die Maßnahmen nicht auf die dort als »Juden« Definierten zu beschränken, durch den Zusatz angedeutet, »Voraussetzung für die restlose Bereinigung des Problems [sei] auch die Lösung der Mischehen- und Mischlingsfragen« (S. 10). Daher muss außer dem Abschnitt IV des Protokolls die 1. Verordnung zum Reichsbürgergesetz herangezogen werden, in der die Begriffe »Jude« und »jüdischer Mischling« definiert worden waren. Es sollten aber auch
13 Vgl. das Dokument 13, Auszüge aus den Sitzungsptotokollen des Eichmann-Prozesses, in diesem Band, S. 105. Diese und die folgende Aussage Eichmanns ist auf dem Ausschnitt aus der Tonbandaufzeichnung des Prozesses zu hören, der auf der Homepage des Hauses der Wannsee-Konferenz (www.ghwk.de) (5.9.2012) unter »Dokumente zur Wannsee-Konferenz«/«Aussagen von Adolf Eichmann zur Wannsee-Konferenz und über die Tötungsarten« abgerufen werden kann. 14 Ebenda, S. 107 f.. 15 Ebenda, S. 108.
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Auszüge aus dem Protokoll der Nachfolgekonferenz vom 6. März 194216 herangezogen werden. Obwohl die Diskussionen letztlich ergebnislos blieben, sollten sie berücksichtigt werden, denn sie geben Aufschluss über die rassistische Ideologie der Beteiligten und ihre unterschiedlichen Vorstellungen, wie sie zur Geltung gebracht werden sollte, und werfen zugleich ein Licht darauf, wie der Machtapparat funktionierte. Es kommt also weniger darauf an, dass sämtliche vorgeschlagenen Regelungen benannt werden, als dass die den Vorschlägen zugrundeliegende Denkweise und das Verhalten der Beteiligten kritisch analysiert werden. Wenn etwa Stuckart seinen Vorschlag »zur Zwangssterilisierung zu schreiten« damit begründet, dass »den biologischen Tatsachen Rechnung zu tragen« sei (S. 14), während Heydrich fordert, »Mischlinge 2. Grades« in bestimmten Fällen den Juden gleichzustellen und dabei als Kriterien nennt: »Rassisch besonders ungünstiges Erscheinungsbild des Mischling 2. Grades, das ihn schon äußerlich zu den Juden rechnet«, und: »Besonders schlechte polizeiliche und politische Beurteilung des Mischlings 2. Grades, die erkennen läßt, daß er sich wie ein Jude fühlt und benimmt« (S. 12), so wird deutlich, dass die angeblich wissenschaftliche Begründung und die administrative Logik der vorgeschlagenen Maßnahmen reine Fiktion ist. Stuckart ging es darum, »unendliche Verwaltungsarbeit« (S. 14) zu vermeiden, während Heydrich die Sicherheitspolizei bei ihrem mörderischen Vorgehen vor jeglicher Einschränkung durch klare Kriterien bewahren wollte. Beide versuchten, ihre Kompetenzbereiche zu verteidigen bzw. zu erweitern. Stuckarts Anregung, ein Gesetz zur Scheidung von »Mischehen« zu verabschieden, mit der er die Kompetenz des Innenministeriums, Gesetze zu erarbeiten, wieder ins Spiel zu bringen versuchte, scheint bei der Wannsee-Konferenz selbst keine Resonanz gefunden zu haben, doch griffen die an der Nachfolge-Besprechung am 6. März 1942 Beteiligten die Empfehlung auf, wohl wissend, dass Scheidung die Deportation der jüdischen Partner in den Tod bedeutete. Stuckarts Vorschlag wurde durch Überlegungen modifiziert, wie vorzugehen sei, »um nach außen hin den Eindruck einer Zwangsscheidung abzuschwächen«.17 Die Scheinrationalität der auf Rassenantisemitismus basierenden Argumentation zeigte sich auch bei der Diskussion seines Vorschlags zur Behandlung der »Mischlinge«. Das entscheidende Argument gegen sein Ansinnen, die »Mischlinge 1. Grades« nach einer Sterilisierung im Reich zu belassen, lautete bezeichnenderweise, das wäre keine »tatsächliche Lösung des Mischlingsproblems«, weil dieses »nicht ausschließlich ein rassenbiologisches«18 sei. Im selben Zusammenhang wurde die Möglichkeit erwogen, dass Hitler Stuckarts Vorschlag folgen könnte: »Sollte der Führer gleichwohl aus politischen Gründen eine allgemeine Zwangssterilisierung für den geeigneten Weg halten, so wäre vorzusehen, daß nach der Sterilisierung die Mischlinge 1. Grades ähnlich wie heute alte 16 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, R 100857, Be. 73 ff. Abrufbar von der Homepage des Hauses der Wannsee-Konferenz (www.ghwk.de) (5.9.2012) unter »Dokumente zur Wannsee-Konferenz«. 17 Zitat S. 8 des Protokolls der Nachfolgekonferenz vom 6. März 1942. 18 Ebenda, S. 3.
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Juden in einem Gebiet in einer besonderen Stadt zusammengefaßt würden.«19 Hier zeigt sich nicht nur, dass die beteiligten Beamten zur Mitwirkung an jedem Verbrechen bereit waren, sondern auch, dass ihre Vorschläge immer verstiegener wurden, wenn sie sich nicht sicher waren, welche Richtung eine mögliche Führerentscheidung vorgeben würde. Für die Deportationen aber hatte Hitler durch seine Entscheidung vom 17. September 1941, dass die Juden aus dem Reich und dem Protektorat nach Osten verbracht werden sollten, den Weg gewiesen.20 Damit war eine wesentliche Voraussetzung für die Zusammenarbeit bei den Transporten in die Vernichtung gegeben, durch die der Völkermord im europäischen Maßstab erst möglich wurde. Die Bedeutung der Wannsee-Konferenz liegt nicht zuletzt darin, dass sie die Kooperationsbereitschaft der verschiedensten Instanzen bei der Durchführung der Deportation in die Ghettos und zu den Stätten der Vernichtung festschrieb. Das betrifft zum einen die Zusammenarbeit bei den Deportationen aus dem Reich, zum andern – wie es im Protokoll heißt – »die von uns besetzten und beeinflußten europäischen Gebiete« (S. 9).
Arbeitsgruppe 4: Die arbeitsteilige Durchführung der Deportationen Welche Institutionen im Reich an der Organisation der Deportationen beteiligt waren und welche Rolle sie übernahmen, sollte eine vierte Arbeitsgruppe untersuchen. Dazu können ausgewählte Quellen zur Verfügung gestellt werden, die auch Einrichtungen betreffen, an die im Zusammenhang mit NS-Verbrechen selten gedacht wird.21 Die Untersuchung der arbeitsteiligen Planung, Organisation und Durchführung des Völkermords wirkt nicht nur der nach wie vor zu beobachtenden Fixierung auf Hitler als Urheber der NS-Verbrechen entgegen, sondern auch der problematischen Fokussierung auf die Direkttäter, zu der die öffentliche Rezeption der Täterforschung tendiert, wie sich zum Beispiel in der Diskussion um Daniel Goldhagens Buch »Hitlers willige Vollstrecker« gezeigt hat. Die leitende Rolle kam dem Reichssicherheitshauptamt und insbesondere der Dienststelle IV B 4 unter Leitung Adolf Eichmanns zu. Eichmann machte bald nach der Wannsee-Konferenz in seinem Schnellbrief an die Gestapostellen vom 31. Januar 1942 deutlich, dass die Deportationen nach Osten, die ja bereits im Oktober des Vorjahres begonnen worden waren, »den Beginn der Endlösung der Judenfrage im Altreich, der Ostmark und
19 Ebenda, S. 4. 20 Vgl. Himmlers Schreiben an Greiser vom 18. September 1941, in dem er auf eine Äußerung Hitlers am Vortag Bezug nimmt. Bundesarchiv NS 19/2655, abgedruckt in: Peter Longerich, Die Ermordung der europäischen Juden. Eine umfassende Dokumentation des Holocaust von 1941–1945, München 1989, S. 157. 21 Auch die im Folgenden genannten Dokumente können von der Homepage des Hauses der WannseeKonferenz unter www.ghwk.de abgerufen werden.
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im Protektorat Böhmen und Mähren« darstellten. 22 Für die vor Ort eingesetzten Gestapobeamten wurde ein Merkblatt23 entwickelt, das die Aneignung des jüdischen Eigentums durch den Staat und die Abgabe von Lebensmitteln an die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) sicherstellen und Unterschlagungen durch beteiligte Beamte begrenzen sollte. Zugleich enthielt es Hinweise, wie die Gestapobeamten Fluchtversuche von Personen, die zur Deportation vorgesehen waren, verhindern sollten. Es erwähnt außerdem die Möglichkeit zur Einschaltung der Schutzpolizei. Deren Rolle ist in den »Richtlinien zur technischen Durchführung der Evakuierung von Juden« vom 22. März 1942 beschrieben, die einen Abschnitt zur Transportbegleitung durch die Ordnungspolizei enthalten.24 Wie Angehörige der Ordnungspolizei diese Rolle wahrnahmen, kann man dem »Bericht über die Evakuierung von Juden nach Riga« entnehmen, den der Hauptmann der Schutzpolizei Paul Salitter am 26. Dezember 1941 geschrieben hat.25 Er sollte zumindest in Auszügen gelesen werden. Aber es waren eben nicht nur Beamte aller Polizeisparten beteiligt, sondern auch Landratsämter, Bürgermeister und sogar Privatpersonen wie Hoteliers. Das wird an drei Dokumenten aus Kitzingen deutlich: einem Schreiben der Geheimen Staatspolizei an den Landrat in Kitzingen vom 19. März 1942, aus dem hervorgeht, dass die Gendarmerie und die Bürgermeister mitwirken sollten und der Landrat sich bereit erklärt hatte, die Juden zu überwachen,26 einer Hotelrechnung für die Geheime Staatspolizei vom 25. März 1942, in der unter anderem die fünftägige »Nutzung eines Durchsuchungsraums für Juden« in Rechnung gestellt wird,27 schließlich einer Bestätigung eines Finanzbeamten über den Erhalt jüdischen Eigentums vom selben Tag.28 Selbst Versorgungsunternehmen wie die 22 StA Würzburg, Gestapo Würzburg Nr. 18873, S. 112 f., Dok. 9.6.1, Auszug S. 112. Das Dokument findet sich auf der Homepage des Hauses der Wannsee-Konferenz unter »Dokumente zur WannseeKonferenz«. 23 Merkblatt für die bei der Evakuierung am 11. Juni 1942 eingesetzten Beamten, in: Die nationalsozialistische Judenverfolgung in Rheinland-Pfalz 1933 bis 1945, bearbeitet von Johannes Simmert, Bd. 6 der Dokumentation zur Geschichte der jüdischen Bevölkerung in Rheinland-Pfalz und im Saarland von 1800 bis 1945, herausgegeben von der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz in Verbindung mit dem Landesarchiv Saarbrücken, Koblenz 1974, S. 237–239. 24 Staatsarchiv Würzburg, Gestapo Würzburg, zit. nach: GHWK Bestand Wahler, Bd. 54, Heft 3, Nr. 5751, Richtlinien zur technischen Durchführung der Evakuierung von Juden in das Generalgouvernement (Trawniki bei Lublin), 22. März 1942 (S. 5 der Abschrift). 25 London, Wiener Library WL 6834–6843, 7374–7376. Hier nach dem Faksimile in: Die GrunewaldRampe. Die Deportation der Berliner Juden, herausgegeben von Annegret Ehmann u.a., 2. korr. Aufl. Berlin 1993, S. 101–108. 26 Staatsarchiv Würzburg, Gestapo Würzburg, zit. nach: GHWK Bestand Wahler, Bd. 54, Heft 3, 5756 u. 5759. 27 Staatsarchiv Würzburg, Gestapo Würzburg, zit. nach: GHWK Bestand Wahler, Bd. 54, Heft 3, 5856. 28 Staatsarchiv Würzburg, Gestapo Würzburg, zit. nach: GHWK Bestand Wahler, Bd. 54, Heft 3, 5843.
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Berliner Kraft- und Licht (BEWAG)-Aktiengesellschaft wirkten mit, indem sie eigens Formulare entwickelten, mit deren Hilfe die nicht mehr bezahlten letzten Stromkosten mit der für den Stromanschluss zu hinterlegenden Kaution verrechnet wurden. Wenn diese Formulare ausgefüllt und von zahlreichen Angestellten abgezeichnet worden waren, dienten sie der Abrechnung mit den Finanzbehörden, die das Eigentum der Juden beschlagnahmt hatten.29 Last not least ist die Reichsbahn zu erwähnen. Das Schreiben des Staatssekretärs im Reichsverkehrsministerium Albert Ganzenmüller an Himmlers Adjutanten Karl Wolff vom 28. Juli 194230 und dessen Antwort vom 3. August31 verdeutlichen, wie eng die Reichsbahnverwaltung mit dem Sicherheitsdienst und der Sicherheitspolizei im Generalgouvernement zusammenarbeitete. Besonders bemerkenswert ist die Erwähnung Odilo Globocniks, der von Himmler mit der systematischen Ermordung der polnischen Juden in den Vernichtungslagern Treblinka, Sobibór und Bełżec beauftragt war, die Ganzenmüller alle kennt und nennt; wenig später wurden in diesen Lagern auch Juden aus Westeuropa ermordet. Auf der Grundlage der genannten Dokumente können die Teilnehmer der Arbeitsgruppe erläutern, wie das auf der Wannsee-Konferenz hergestellte Einverständnis über die Durchführung des Völkermords an den europäischen Juden in Verwaltungspraxis umgesetzt wurde. Sie sollten dazu die in den Dokumenten erwähnten Berufsgruppen auflisten und die Art ihrer Beteiligung beschreiben.
Arbeitsgruppe 5: Die Zusammenarbeit mit verbündeten Regierungen Im Hinblick auf die Kooperation nicht-deutscher Instanzen beim Völkermord an den europäischen Juden bietet das Protokoll der Wannsee-Konferenz interessante Ansatzpunkte besonders im Hinblick auf die mit dem Reich formell oder informell verbündeten Staaten. Eine fünfte Arbeitsgruppe sollte den Abschnitt aus dem Protokoll als Ausgangspunkt wählen, in dem die Diskussion über die Haltung anderer Länder und deren mögliche Beeinflussung wiedergeben sind. Erwähnt sind die Slowakei, Kroatien, Rumänien, Ungarn, Italien, Frankreich und die nordischen Staaten. In diesen Sätzen und in der Liste zur Zahl der in den Ländern Europas lebenden Juden, die »im Zuge dieser Endlösung der europäischen Judenfrage […] in Betracht« (S. 5) kommen sollten, wird der Plan konkretisiert, einen Völkermord auf einem ganzen Kontinent durchzuführen. Dieses Ausmaß 29 Das im Haus der Wannsee-Konferenz ausgestellte Formular ist am 8. Februar 1943 bei der Vermögensverwertung-Außenstelle des Oberfinanzpräsidenten Berlin eingegangen, wie der Stempel zeigt. BLHA Potsdam, Faksimile in: Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz (Hg.), Die Wannsee-Konferenz und der Völkermord an den europäischen Juden. Katalog der ständigen Ausstellung, Berlin 2006, S. 135, Dok. 11.3.16. 30 BA Berlin, NS 19, 2655, Bl. 58, Faksimile ebenda, S. 152, Dok. 13.2.6. 31 BA Berlin, NS 19, 2655, Bl. 64, Faksimile ebenda, S. 152, Dok. 13.2.6.
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des Verbrechens soll durch die fünfte Arbeitsgruppe in den Blick kommen. Es wird nicht möglich sein, in Bezug auf all die genannten Länder der Frage nachzugehen, inwieweit sie den Erwartungen entsprachen, die die deutsche Seite ihnen gegenüber hegte. Es ist jedoch denkbar, auf diese Frage zumindest in Bezug auf ein oder zwei Länder einzugehen. Im Folgenden werden Dokumente zu einem westeuropäischen Land, nämlich Frankreich, und zur Slowakei im südöstlichen Mitteleuropa vorgeschlagen. Um einen Überblick über das Schicksal der Juden in Frankreich und die Politik der französischen Regierung zu gewinnen, kann der entsprechende Text aus dem Katalog zur ständigen Ausstellung im Haus der Wannsee-Konferenz herangezogen werden.32 Die im Wannsee-Protokoll festgehaltene Einschätzung, im besetzten und unbesetzten Frankreich werde »die Erfassung der Juden zur Evakuierung aller Wahrscheinlichkeit nach ohne große Schwierigkeiten vor sich gehen können« (S. 9), stützte sich nicht nur auf die militärische Macht der deutschen Armee und die direkten Interventionsmöglichkeiten der deutschen Polizei im Norden Frankreichs, sondern auch auf die weitgehende Kollaborationsbereitschaft der Vichy-Regierung. Sie war gewillt, insbesondere Juden, die nicht die französische Staatsangehörigkeit besaßen, »den deutschen Behörden […] zur Verfügung zu stellen«. Diese Bereitschaft wird in Stellungnahmen französischer Verantwortlicher deutlich wie in dem Schreiben des Generalkommissars für Judenfragen Darquier de Pellepoix an den Regierungschef Pierre Laval, das in einem deutschen Dokument wiedergegeben ist.33 Das Schreiben bestätigt Aussagen in anderen Dokumenten aus dem deutschen SS- und Polizeiapparat wie dem Vermerk von SS-Obersturmführer Röthke über eine Besprechung bei dem Generalkommissariat für Judenfragen am 10. Juli 1942.34 Es sollte sich jedoch herausstellen, dass die beabsichtigte Deportation aller Juden aus Frankreich, also auch der französischen Staatsbürger unter ihnen, nicht »ohne große Schwierigkeiten« durchzuführen war, wie Heydrich vermutet hatte. Insbesondere die Interventionen hoher kirchlicher Würdenträger wie des Erzbischofs von Lyon, Kardinal Gerlier, konnten von der VichyRegierung, deren wichtigste Stütze die katholische Kirche war, nicht ohne weiteres ignoriert werden. Gerlier wandte sich am 19. August 1942 wegen der Deportation von Juden aus der freien Zone in einem Brief an Marschall Pétain. Als Sprecher aller Erzbischöfe der freien Zone bat er ihn inständig, »diesen unglücklichen Menschen, soweit es möglich ist, die Leiden zu ersparen, von denen sie bereits in so großem Ausmaß betroffen sind.«35 Er ließ zwar aus taktischen Gründen anklingen, dass die Maßnahmen nur auf Druck der Deutschen hin ergriffen würden, indem er »die großen Schwierigkeiten, die die Regie32 Ebenda, S. 123 f. Eine leicht gekürzte Version findet sich auf der Homepage des Hauses: http:// w00f618c.dd24538.kasserver.com/fileadmin/user_upload/pdf-wannsee/ausstellung.pdf, S. 18 (30.8. 2012). 33 Abgedruckt in: Serge Klarsfeld, Vichy-Auschwitz. Die Zusammenarbeit der deutschen und französischen Behörden bei der »Endlösung der Judenfrage« in Frankreich. Nördlingen 1989. S. 418. 34 Ebenda, S. 404 f. 35 Vgl. die Übersetzung des Briefes in: ebenda, S. 436 f.
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rung auf diesem Gebiet bekommen kann«, erwähnte, charakterisierte die Deportationen aber deutlich als »Missachtung der elementaren Rechte eines jeden menschlichen Wesens und der Grundregeln der Nächstenliebe«. Ende August entschloss er sich, seinen Protest durch einen Hirtenbrief öffentlich zu machen, der am 6. September von den Kanzeln seiner Diözese verlesen wurde.36 Lavals Reaktion auf Gerliers Brief an Pétain, die einem Aktenvermerk von SS-Sturmbannführer Hagen zu entnehmen ist,37 ließ keinen Zweifel daran, dass er keineswegs nur dem Drängen der Deutschen nachgab. Er versuchte, Druck auf Gerlier auszuüben, indem er den Jesuitenpater Pierre Chaillet festnehmen ließ, den er als rechte Hand Gerliers bezeichnete, doch wagte er es nicht, gegen Gerlier selbst vorzugehen. Er bekräftigte die Bereitschaft, Juden, die in Frankreich Zuflucht gefunden und ihre frühere Staatsangehörigkeit in der Regel verloren hatten, ja sogar die nach 1933 naturalisierten Juden auszuliefern, sah sich aber gezwungen, »de facto die Einstellung der Kollaboration bei der Erfüllung des deutschen Deportationsprogramms« anzukündigen,38 das ja auf verstärkte Deportation französischer Juden nach dem Abtransport aller staatenlosen Juden zielte. Damit war zwar keineswegs das Ende der Deportationen aus Frankreich gekommen, zumal am 11. November 1942 die bis dahin freie Zone ebenfalls von deutschen Truppen besetzt wurde. Die deutsche Polizei war nun aber zunehmend darauf angewiesen, ihre eigenen Kräfte bei den Deportationen einzusetzen. Etwa zwei Drittel der Juden, die sich während des Krieges in Frankreich aufhielten, überlebten. In Bezug auf die Bereitschaft der Slowakei, bei der »Endlösung« zu kooperieren, war Heydrich noch optimistischer als hinsichtlich Frankreichs, da »die wesentlichsten Kernfragen […] dort bereits einer Lösung zugeführt« (S. 9) worden seien. Diese Bemerkung dürfte sich auf den Erlass des »Juden-Kodex«, einer umfangreichen antijüdischen Regierungsverordnung im September 1941, und auf das zwischen Ministerpräsident Vojtech Tuka und dem deutschen Gesandten in Bratislava, Hanns Elard Ludin, geschlossene Abkommen vom 1.12. 1941 beziehen, in dem sich die slowakische Regierung mit der Abschiebung der im Großdeutschen Reich (einschließlich des Protektorats Böhmen und Mähren) befindlichen Juden slowakischer Staatsangehörigkeit einverstanden erklärte.39 Damit waren die Weichen für weitergehende Schritte gestellt. Tatsächlich wurden Juden ab Ende März 1942 auch aus der Slowakei deportiert. Die Deportationen folgten so rasch aufeinander, dass schon vor Mitte Mai 28 Transporte mit etwa 28.000 Juden nach Polen 36 Ebenda, S. 451. 37 Aktenvermerk von SS-Sturmbannführer Hagen vom 3. September 1942, in: ebenda, S. 451 f. 38 Wolfgang Seibel, Macht und Moral. Die »Endlösung der Judenfrage« in Frankreich 1940–1944, München 2010, S. 192. 39 Für grundlegende Informationen über die Politik der slowakischen Regierung hinsichtlich der Juden und über die deutsche Einflussnahme kann ein Beitrag von Eduard Nižňanský, einem der auf diesem Gebiet führenden slowakischen Historiker, herangezogen werden. Der Beitrag in deutscher Sprache, der allerdings einige sprachliche und orthographische Mängel aufweist, findet sich im Internet unter http://www.edq.eu.com/LinkClick.aspx?fileticket=YDBDKgZq5Vw%3D&tabid=296&language =de-AT (30.8. 2012).
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verbracht worden waren. Zu dieser Zeit beriet das slowakische Parlament ein Gesetz, das auch die Abschiebung von Juden erlaubte, die slowakische Staatsbürger waren. Diesem am 23. Mai verabschiedeten Gesetz wurde in den Beratungen ein Paragraph hinzugefügt, der Menschen jüdischer Herkunft von den Deportationen ausnahm, die vor dem 14.3.1939 zum Christentum konvertiert waren, dem Datum, an dem ein Erlass der Regierung damals noch auf konfessioneller Grundlage definiert hatte, wer als Jude zu gelten habe. Nach einem Bericht von SS-Untersturmführer Urbantke war die Frage, bis zu welchem Datum Taufen anerkannt werden sollten (Urbantke schreibt irrtümlich, es sei um den Stichtag gegangen, »von welchem an Judentaufen anerkannt werden«) schon bei Beginn der Deportationen in der slowakischen Regierung diskutiert worden.40 Dabei habe Präsident Tiso, der katholischer Priester war, eine radikalere Position vertreten als Ministerpräsident Tuka. Im selben Schreiben erwähnt Urbantke, dass der (katholische) Bischof von Zips (Spiš) Wojtassak (richtig: Ján Vojtaššák) und der evangelische Kircheninspektor Klimo sich für die Deportation der Juden eingesetzt hätten. Vojtaššák hat in der Tat eine verhängnisvolle Rolle gespielt. Er wies nach einem Bericht Ludins an Unterstaatssekretär Luther bei einer Besprechung im Staatsrat dort vorgetragene Bedenken gegen die Deportationen engagiert und erfolgreich zurück.41 In der Folgezeit drängte Tuka darauf, dass die deutsche Regierung zusichern solle, die deportierten Juden nicht wieder zurückzubringen und deren Vermögen nicht zu beanspruchen.42 Zu den Ausnahmegenehmigungen fand am 25. Juni 1942 eine »Beraterbesprechung« bei Ministerpräsident Tuka statt, an der Botschafter Ludin, der »Berater für Judenfragen« Dieter Wisliceny und etliche andere deutsche »Berater« teilnahmen. 43 Ludin, der bei dieser Besprechung »zu einer 100%igen Lösung der Judenfrage« riet, war mit dem Ergebnis der Besprechung offenbar unzufrieden. Am 26. Juni 1942 schrieb er an das Auswärtige Amt in Berlin, die Deportation der Juden aus der Slowakei sei »auf einem toten Punkt angelangt«, da etwa 35.000 Befreiungsbescheinigungen erteilt worden seien. Er führt das auf die Bestechlichkeit einzelnen Beamter und auf kirchliche Einflüsse zurück. Innerhalb der slowakischen Kirchen gab es offenbar gegensätzliche Haltungen gegenüber den bedrohten Juden. Ludin fügt hinzu, dass die »Judenaussiedlung […] in weiten Kreisen des slowakischen Volkes sehr unpopulär« sei. Offensichtlich setzt er aber Hoffnungen auf Ministerpräsident Tuka, der um »Unterstützung durch scharfen diplomatischen Druck des Reiches« bitte. Ludin erbat eine Weisung, 40 Dokument 36 in: Holokaust na Slovensku. Dokumenty. Bd. 4, Bratislava u.a., 2003, S. 123 f., Zitat S. 123. 41 Aufzeichnung des Unterstaatssekretärs Luther zu einer Mitteilung des Gesandten Ludin vom 29. März 1942, in: Akten zur deutschen auswärtigen Politik, Serie E: 1941–1945, Bd. II, Göttingen 1972, S. 161 f. 42 Vgl. den Hinweis auf eine entsprechende telegrafische Mitteilung Ludins vom 18. April, in: Akten zur deutschen auswärtigen Politik, Serie E: 1941–1945, Bd. II, Göttingen 1972, S. 162. 43 Vgl. das am 30. Juni angefertigte Protokoll der Beraterbesprechung bei Ministerpräsident Tuka am 25. Juni, Dokument 61, in: Holokaust na Slovensku. Dokumenty, Bd. 4, Bratislava u.a. 2003, S. 152–154; das folgende Zitat S. 154.
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»ob in dieser Richtung verfahren werden soll«.44 Diese erteilte Staatssekretär von Weizsäcker am späten Abend des 30. Juni telegrafisch. Ludin riet er, gegenüber Staatspräsident Tiso zum Ausdruck zu bringen: »Ausschließung 35 000 Juden von Abschiebung würde in Deutschland überraschen umsomehr als bisherige Mitwirkung Slowakei in der Judenfrage hier sehr gewürdigt worden sei«.45 Das war trotz des freundlichen Tons von Weizsäckers Formulierungen der »scharfe diplomatische Druck«, den Tuka erbeten hatte. Knapp zwei Stunden zuvor hatte Ludin dem Auswärtigen Amt per Fernschreiben berichten können, dass die slowakische Regierung bereit sei, »für jeden übernommenen Juden 500 RM an Reichsregierung zu bezahlen.«46 Bis zum Oktober 1942 wurden insgesamt 57.628 slowakische Juden in die Vernichtungslager Auschwitz, Majdanek und in den Distrikt Lublin deportiert. Für die vorläufige Beendigung der Deportationen im Oktober werden in der Forschung unterschiedliche Gründe angeführt. Während Yeshayahu Jelinek47 annimmt, dass der mit dem Eintreffen von Informationen über das Schicksal der Deportierten zunehmende Druck von Deportationsgegnern zu dieser Entscheidung geführt habe, wurden die Transporte nach Einschätzung von Eduard Nižňanský48 erst eingestellt, als alle verarmten Juden abgeschoben waren. Die verbliebenen Juden seien wirtschaftlich oder beruflich unentbehrlich gewesen oder sie hätten für den Staat gewinnbringende Arbeit in Judenarbeitslagern geleistet. Nach der Niederschlagung des Slowakischen Nationalaufstandes Ende August 1944 und der Besetzung des Landes durch deutsche Truppen wurden noch einmal mehr als 13.000 Juden aus der Slowakei deportiert und etwa 1.000 in der Slowakei selbst ermordet. Insgesamt haben wenig mehr als 10 Prozent der slowakischen Juden überlebt. Auf der Grundlage der genannten Darstellungen und Dokumente können die Mitglieder der Arbeitsgruppe herausarbeiten, wodurch und unter wessen Beteiligung die Realisierung der Vorhaben, alle Juden aus Frankreich bzw. der Slowakei zu deportieren, begünstigt oder gehemmt wurde. Sie könnten außerdem der Frage nachgehen, wer von den Personen, die in den Dokumenten genannt sind, sich nach dem Krieg vor Gericht verantworten musste und wer nicht. Zudem bietet es sich an, den Verlauf der Verfolgung in Frankreich, der Slowakei und dem Deutschen Reich zu vergleichen, um Übereinstimmungen und wesentliche Unterschiede zu benennen und aus der jeweiligen politischen Konstellation zu erklären.
44 Dokument 59, in: Holokaust na Slovensku. Dokumenty, Bd. 4, Bratislava u.a. 2003, S. 150 f., Zitat S. 151. 45 Dokument 60, in: Holokaust na Slovensku. Dokumenty, Bd. 4, Bratislava u.a. 2003, S. 151 f., Zitat S. 152. 46 Dokument 62, in: Holokaust na Slovensku. Dokumenty, Bd. 4, Bratislava u.a. 2003, S. 155. 47 Vgl. seinen Beitrag zur Slowakei in der Enzyklopädie des Holocaust, Bd. II, Berlin 1992, S. 1322– 1327, hier S. 1326. 48 In seiner oben genannten Internet-Veröffentlichung S. 7.
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Sicherlich kann die Befassung mit den hier vorgeschlagenen Dokumenten nur auf einige wesentliche Entwicklungen und die daran Beteiligten aufmerksam machen. Doch lässt sich so zumindest ein Eindruck davon gewinnen, wie unterschiedlich die Bedingungen in den verschiedenen europäischen Ländern waren, auf die die Nationalsozialisten bei ihrem Vorhaben stießen, sämtliche Juden Europas zu ermorden. Damit kann die Vorstellung korrigiert werden, mit der Wannsee-Konferenz sei ein Prozess in Gang gesetzt worden, in dessen Verlauf die Nationalsozialisten ihr Ziel in allen ihnen erreichbaren Territorien ohne weiteres realisierten. Es war nicht allein individuelle Hilfe, die einzelnen Juden ermöglichte, sich dem Zugriff der Mörder zu entziehen; vielmehr spielten politische und wirtschaftliche Interessen und vor allem der Kriegsverlauf eine entscheidende Rolle. Diese Feststellung ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass der Völkermord an den Juden Europas ein Verbrechen von beispiellosem Ausmaß war, dem die jüdische Bevölkerung in vielen Gebieten fast vollständig zum Opfer fiel und das die jüdische Kultur in Europa unwiederbringlich zerstörte. Nach Vorstellung und Diskussion der Ergebnisse der Arbeitsgruppen im Plenum kann die Unterrichtseinheit mit einem zusammenfassenden Gespräch zur Stellung und Bedeutung der Wannsee-Konferenz im Prozess der Verfolgung und Ermordung der Juden Europas abgeschlossen werden.
Anhang Verzeichnis der Abbildungen Abbildung 1 Handschriftliche Korrekturen Eichmanns im Verhörprotokoll, Juli 1960, S. 78 f. Abbildung 2 Adolf Eichmann in seiner Zelle in Ramle Gefängnis, 15. April 1961, S. 95 Abbildung 3 Das Speisezimmer der Villa 1922, später der Konferenzraum von 1942, S. 192 Abbildung 4 Die 15 Teilnehmer der Wannsee−Konferenz, Ämter und Hierarchie, S. 252 f. Abbildung 5 Die 195 Judentransporte mit mehr als 400 Insassen im »Großdeutschen Reich« zwischen Oktober 1941 und Juni 1943, S. 345 Abbildung 6 Laufwege der Sonderzüge für Juden ab Zugnummer »Da 201« von Wien nach Minsk über 1200 Streckenkilometer zwischen Mai und Oktober 1942, S. 349 Abbildung 7 Verteilung der Juden über die Gemeinde Amsterdam, Mai 1941, S. 363
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Autorinnen und Autoren
gart 2006 (gemeinsam mit Patrick Wagner); Inventing the »Modern American Family«: Family Values and Social Change in 20th Century United States, Frankfurt am Main 2012 (als Herausgeberin). Edouard Husson, Dr. phil, Historiker, Professor für Gesellschaftsgeschichte, Konfliktforschung und Internationale Beziehungen an der Universität d’Amiens/Jules Verne. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte und Historiographie des Holocaust, darunter: »Nous pouvons vivre sans les Juifs«. Novembre 1941. Quand et comment ils ont décidé la solution finale, Paris 2005; Heydrich et la solution finale, Paris 2008; »Die Entscheidung zur Vernichtung aller europäischer Juden. Versuch einer Neuinterpretation.«, in: Geschichtswissenschaft und Zeiterkenntnis: Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Festschrift zum 65. Geburtstag von Horst Möller, herausgegeben von Klaus Hildebrand, Udo Wengst, Andreas Wirsching, München 2008. Hans-Christian Jasch, Dr. jur., Regierungsdirektor im Bundesministerium des Innern. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Verwaltungsgeschichte des Nationalsozialismus, darunter: »Die Gründung der internationalen Akademie für Verwaltungswissenschaften im Jahr 1942 in Berlin – Verwaltungswissenschaften als Herrschaftsinstrument und ›Mittel der geistigen Kriegführung‹ im nationalsozialistischen Staat.«, in: Die Öffentliche Verwaltung 33 (2005); »Das preußische Kultusministerium und die Ausschaltung von ›nichtarischen‹ und politisch mißliebigen Professoren an der Berliner Universität in den Jahren 1933 bis 1934 aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums.«, in: http://www. forhistiur.de/zitat/0508jasch.htm [3.9.2012]; Staatssekretär Wilhelm Stuckart und die Judenpolitik. Der Mythos von der sauberen Verwaltung, München 2012. Wolf Kaiser, Dr. phil., Historiker, Leiter der Pädagogischen Abteilung in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz. Zahlreiche Veröffentlichungen vor allem zum Nationalsozialismus und Holocaust in der historisch-politischen Bildung, darunter: »Nazi Perpetrators in Holocaust Education.«, in: Teaching History (2010)141; »Geschichtserlebnisse oder Geschichtsbewusstein? Funktionen von Zeitzeugen in der pädagogischen Vermittlung.«, in: kultur.macht.geschichte – geschichte.macht.kultur. Kulturpolitik und politisches Gedächtnis, Essen 2010; »Historisch-politische Bildungsarbeit an Täterorten und in Gedenkstätten: Unterschiede und Gemeinsamkeiten.«, in: Gedenkstätten-Rundbrief 165 (2012). Norbert Kampe, Dr. phil., Historiker, Leiter der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Antisemitismus in Deutschland im 19./20. Jahrhundert und zur Geschichte des Nationalsozialismus; Villenkolonien in Wannsee 1870–1945. Großbürgerliche Lebenswelt und Ort der Wannsee-Konferenz, Berlin 2005 (als Herausgeber); NS-Gewaltherrschaft. Beiträge zur historischen Forschung und juristischen Aufarbeitung, Berlin 2005 (als Mitherausgeber); Die Wannsee-Konferenz
Autorinnen und Autoren
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und der Völkermord an den europäischen Juden: Katalog der Ständigen Ausstellung im Haus der Wannsee-Konferenz, Berlin 2006 (als Herausgeber). Peter Klein, Dr. phil., Historiker, wissenschaftl. Angestellter bei der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Holocaust und zur Täterforschung, darunter: »Funktionselite des Terrors – regional leitende Beamte der Geheimen Staatspolizei im Reich und im besetzten Osteuropa.«, in: Topographie des Terrors – Gestapo, SS und Reichssicherheitshauptamt in der Wilhelm- und Prinz-Albrecht-Straße. Eine Dokumentation. Katalog zur gleichnamigen Präsentation, Berlin 2010; »Massentötung durch Giftgas im Vernichtungslager Chełmno«, in: Günter Morsch/Bertrand Perz (Hg.), Neue Studien zu nationalsozialistischen Massentötungen durch Giftgas, Berlin 2012; »Behördenbeamte oder Gefolgschaftsmitglieder? Arthur Greisers Personalpolitik in Posen«, in: Jochen Böhler/Stephan Lehnstaedt (Hg.), Gewalt und Alltag im besetzten Polen 1939–1945, Osnabrück 2012. Christoph Kreutzmüller, Dr. phil., Historiker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Finanz- und Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus und zur Judenverfolgung, darunter: »Nazi Persecution and Strategies for survival. Jewish Businesses in Berlin, Frankfurt am Main and Breslau.«, in: Yad Vashem Studies 39 (2011) (zusammen mit Benno Nietzel und Ingo Loose); Fixiert. Fotografische Quellen zur Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa, Berlin 2012 (zusammen mit Julia Werner); Ausverkauf. Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin 1930–1945, Berlin 2012; Berlin 1933–1945. Stadt und Gesellschaft im Nationalsozialismus, München 2013 (als Herausgeber zusammen mit Michael Wildt). Gerd Kühling, M.A., Historiker, freier Mitarbeiter der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz und Promotionsstudent an der Friedrich-Schiller-Universität Jena zur NS-Erinnerung in Berlin und zur Gedenkpolitik im Zeichen des Ost-West-Konflikts, darunter: »Schullandheim oder Forschungsstätte? Die Auseinandersetzung um ein Dokumentationszentrum im Haus der Wannsee-Konferenz (1966/67)«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 5 (2008), S. 211–235. Christian Mentel, M.A., Historiker, Redakteur bei Zeitgeschichte-online am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Geschichtsrevisionismus, Holocaustleugnung und historischen Kontroversen, darunter: »Die Debatte um ›Das Amt und die Vergangenheit‹«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 32–34 (2012); »Zwischen ›Jahrhundertfälschung‹ und nationalsozialistischer Vision eines ›Jewish revival‹. Das Protokoll der Wannsee-Konferenz in der revisionistischen Publizistik«, in: Gideon Botsch, Christoph Kopke, Lars Rensmann, Julius H. Schoeps (Hg.), Politik des Hasses. Antisemitismus und radikale Rechte in Europa, Hildesheim, Zürich, New York 2010.
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Autorinnen und Autoren
Dan Michman, Dr. phil., Leiter des International Institute for Holocaust Research und Inhaber des John Najmann Lehrstuhls für Holocaustforschung an der Gedenkstätte Yad Vashem, Jerusalem, Professor für moderne jüdische Geschichte und Leiter des Finkler Instituts für Holocaustforschung an der Bar-Ilan Universität Ramat Gan. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Holocaust in West- und Osteuropa und zur Historiographiegeschichte, darunter: Die Historiographie der Schoa aus jüdischer Sicht, Hamburg 2002; Holocaust Historiography in Context, Jerusalem 2008 (als Mitherausgeber); »Angst vor den Ostjuden«. Die Entstehung der Ghettos während des Holocaust, Frankfurt am Main 2011; Pius XII and the Holocaust. Current State of Research, Jerusalem 2012 (als Mitherausgeber). Armin Nolzen, M.A., Historiker, Redakteur der Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte der NSDAP und der Geschichte von Jugend und Kindheit im Nationalsozialismus, darunter: »Die NSDAP, der Krieg und die deutsche Gesellschaft.«, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9/1, München 2004; Faschismus in Italien und Deutschland. Studien zu Transfer und Vergleich (= Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialsmus, Nr. 21), Göttingen 2005 (als Mitherausgeber); Zerstrittene »Volksgemeinschaft«. Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus, Göttingen 2011 (als Mitherausgeber). Dieter Pohl, Dr. phil., Historiker, Professor für Zeitgeschichte mit besonderer Berücksichtigung Ost- und Südosteuropas an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Zahlreiche Veröffentlichungen zu den nationalsozialistischen Verbrechen in Osteuropa, darunter: Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944, München 2008; Mitherausgeber der Edition Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, München 2008 ff. Mark Roseman, Dr. phil., Historiker, Professor für Moderne Europäische und Jüdische Geschichte am Department of History der Indiana University Bloomington. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte und Historiographie des Holocaust und Sozialgeschichte des Nationalsozialismus, darunter: In einem unbewachten Augenblick. Eine Frau überlebt im Untergrund, Berlin 2002; Die Wannsee-Konferenz. Wie die NS-Bürokratie den Holocaust organisierte, München, Berlin 2002; Conflict, Catastrophe and Continuity. Essays on Modern German History, New York/Oxford 2007 (zusammen mit Frank Biess und Hanna Schissler); Jewish Responses to Persecution: 1933–1938, Vol. 1, 1933– 1938, Lanham 2010 (zusammen mit Jürgen Matthäus). Jan Erik Schulte, Dr. phil., Historiker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-ArendtInstitut für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität Dresden. Zahl-
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reiche Veröffentlichungen zur Verfolgung der Juden, zur SS und zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nach 1945, darunter: Zwangsarbeit und Vernichtung: Das Wirtschaftsimperium der SS. Oswald Pohl und das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt, Paderborn 2001; Die SS, Himmler und die Wewelsburg, Paderborn 2009 (als Herausgeber); »Die Wannsee-Konferenz und die Zwangsarbeit von Juden. Eine Fallstudie zur Judenverfolgung 1941/42«, in: Manfred Grieger, Christian Jansen, Irmtrud Wojak (Hg.), Interessen, Strukturen und Entscheidungsprozesse! Für eine politische Kontextualisierung des Nationalsozialismus, Essen 2010; »The SS as the ›Alibi of a Nation‹? Narrative Continuities from the Nuremberg Trials to the 1960s«, in: Kim Priemel/Alexa Stiller (Hg.), Reassessing the Nuremberg Military Tribunals. Transitional Justice, Trial Narratives, and Historiography, New York u. Oxford 2012. Bettina Stangneth, Dr. phil., Philosophin. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Immanuel Kant, zur Antisemitismusforschung und zu Adolf Eichmann, darunter: Kultur der Aufrichtigkeit, Würzburg 2000; Antisemismus bei Kant?, Würzburg 2001; Eichmann vor Jerusalem – Das unbehelligte Leben eines Massenmörders, Zürich/Hamburg 2011; »Offenes Visier ist bei mir ein geflügeltes Wort« – Bekenntnisse des Täuschers Adolf Eichmann, in: Werner Renz (Hg.), Interessen um Eichmann: Israelische Justiz, deutsche Strafverfolgung und alte Kameradschaften (= Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Bd. 20), Frankfurt 2012; Avner Werner Less, Lüge! Alles Lüge! Aufzeichnungen des Eichmann-Verhörers. Rekonstruiert von Bettina Stangneth, Zürich/Hamburg 2012. Michael Wildt, Dr. phil., Historiker, Professor für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt Nationalsozialismus an der Humboldt-Universität Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, darunter: »Instrument einer neuen Ordnung. Das Reichssicherheitshauptamt als nationalsozialistische Institution«, in: Jan Erik Schulte (Hg.), Die SS, Himmler und die Wewelsburg, Paderborn 2009; Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2009 (als Mitherausgeber); »›Volksgemeinschaft‹. Eine Antwort auf Ian Kershaw«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 8 (2011).
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Personenregister
A Abetz, Otto 189, 272–273 Abitbol, Michel 382–383, 388 Achenbach, Ernst 272 Adam, Uwe Dietrich 410 Adenauer, Konrad 146 Adler, H. G. 406 Albertz, Heinrich 420 al-Husseini, Haj Amin 385 Alvensleben, Ludolf von 140, 153 Aly, Götz 325 Ancker, Edinger 318 Arendt, Hannah 18–19, 152, 156–159, 406 Arlt, Gerhard 200 B Bach-Zelewski, Erich von dem 189, 336 Backe, Herbert 284 Bahr, Egon 419–420, 435 Bankier, David 352 Bauer, Yehuda 401 Benzler, Felix 268 Berg, Nicolas 408, 417 Best, Werner 307 Bischoff, Karl 222 Blobel, Paul 257 Bloxham, Donald 413 Bohlinger, Roland 128, 131–134 Böhmcker, Hans 361, 366 Bormann, Martin 305, 308–310, 312–314, 318, 320–322, 332, 391 Bothmann, Hans 252 Braemer, Walter 194 Brandt, Willy 419 Bräutigam, Otto 171 Brayard, Florent 184–185, 202 Breitman, Richard 202, 404
Broder, Henryk M. 417 Browning, Christopher 182, 188, 202, 263, 411 Bühler, Josef 25, 28, 86, 92, 96, 97, 103, 108–110, 148, 163–164, 166, 187, 242, 246, 342, 442 Bülow-Schwante, Vicco von 264 Burmeister, Walter 346 Burrin, Philippe 202 C Calmeyer, Hans Georg 370 Carpi, Daniel 389 Chaillet, Pierre 449 Churchill, Winston 180 Cohen, Asher 389 Conti, Leonardo 284 Craig, Gordon 408 Cüppers, Martin 396 D Daluege, Kurt 249–250, 343 Dannecker, Theodor 208, 389, 395 de Jong, Louis 377 Dieckmann, Christoph 196 Diepgen, Eberhard 415, 435 Diner, Dan 166 Dönhoff, Marion Gräfin 431 Döpfner, Julius 422 Dorpmüller, Julius 343 Drechsler, Otto 190 Duke, Kenneth 123–124 E Eichmann, Adolf 13, 17–20, 24–25, 30, 63–72, 74, 76–78, 80, 86–88, 90, 93–95, 98–99, 101–109, 112–113, 116, 119,
Personenregister 477
121, 126–127, 129, 132–135, 139–156, 158, 161– 162, 164, 166, 172, 175, 193, 226, 232, 243, 245, 247–249, 258, 292, 295, 299, 300, 315–317, 324, 331, 338, 341–344, 346, 354, 357, 373–376, 379, 386, 389–393, 395–396, 405–408, 412, 416, 421, 433, 442, 443, 445, 454–461, 467, 468, 475 Eppstein, Paul 20–21 Erzberger, Matthias 176 Essner, Cornelia 289, 403, 407, 414 Etzkorn, Erwin 429 F Faurisson, Robert 135–136 Feldscher, Werner 112, 296 Fraenkel, Ernst 155 Frank, Hans 25, 28, 121, 174, 191, 207, 208, 363 Frank, Karl-Hermann 190 Frederiks, Karel J. 359–360, 365–367 Freisler, Roland 91, 110, 241, 246, 284 Frick, Wilhelm 148, 154, 279, 280–284, 287–288 Friedländer, Saul 182, 202, 381, 388 Friedman, Tuviah 407 Funk, Walther 148 G Ganzenmüller, Albert 284, 341–342, 347– 348, 351, 447 Genoud, Francois 90 Gerke, Rudolf 343 Gerlach, Christian 13, 183, 184, 188, 202, 212, 412 Gerlier, Pierre-Marie 448–449 Gerstenmaier, Eugen 427–428 Gerteis, Adolf 347 Globke, Hans 112, 146, 288–290, 463 Globocnik, Odilo 72, 103, 109, 173, 186–187, 218–220, 224–225, 233, 237, 253, 447
Glücks, Richard 221, 229, 232 Goebbels, Josef 60, 71, 90, 119, 135, 148, 180, 185, 191, 198, 385–386, 456 Goldhagen, Daniel J. 158, 445 Goldmann, Nahum 419–421, 428, 431 Göring, Hermann 29–30, 34, 55, 63, 70, 72–74, 76, 82, 98, 101–102, 118, 126, 141, 148, 184, 185, 188, 204–209, 211, 215, 227, 244–247, 249, 254, 256, 259– 260, 285, 287, 295, 316–317, 359, 385, 391, 401, 405, 412 Green, Gerald 380 Greifelt, Ulrich 343 Greiser, Arthur 186–189, 193, 199, 224, 251, 445 Grohé, Josef 177 Gross, Raphael 154–155, 159–160, 458, 462 Grüber, Heinrich 416–426, 429–431, 433 Günther, Rolf 61, 83, 88–90, 103, 147, 243, 316, 325, 406, 416, 419–420, 433, 454, 456 Gutterer, Leopold 60, 119, 343 H Hagen, Herbert 449 Halevi, Benjamin 98, 100 Hausner, Gideon 101–103, 396, 416 Heidegger, Martin 157 Heilmann, Peter 185, 418, 424, 432, 456 Helldorf, Wolf-Heinrich Graf von 159 Hentig, Otto von 266 Herbert, Ulrich 413 Herzberg, Abel 377 Herz, Peter 420, 430 Heß, Rudolf 285, 307, 308, 309, 310, 312 Heydrich, Reinhard 25, 28–32, 34, 38–39, 55, 64–77, 80, 81, 82, 83, 84–112, 118–119, 124, 135–136, 141–142, 145, 147–148, 154, 162–164, 183–186, 188, 190–191, 193–215, 227–229, 231–232,
478 Personenregister 241–258, 260, 263, 268–269, 271, 292, 295–296, 298–300, 303–304, 311, 314, 316–317, 324, 329–331, 333, 336, 341–343, 346, 354, 357, 361, 376, 385, 387–389, 391, 393, 395, 401, 405–406, 409–414, 426, 428, 438, 440–444, 448– 449, 454, 456–457, 459, 461, 472 Hilberg, Raul 263, 278, 305, 332, 348, 351, 371, 381, 388, 407–409, 439–440 Himmler, Heinrich 25, 72–73, 75–76, 81–82, 84–86, 89, 99–101, 103, 145, 153–154, 158, 160–161, 164–166, 172–173, 183–193, 195–196, 198–207, 209–212, 214–221, 223–226, 229–233, 236–238, 243, 246–251, 253–258, 263, 271, 273, 278, 280–284, 288, 298, 300, 307, 311, 318, 325–328, 332, 334, 336–337, 342, 346–348, 359, 385, 388, 395, 397, 401, 404–405, 411–414, 441, 447, 455, 462– 463, 468, 475 Hindenburg, Paul von 285 Hitler, Adolf 92, 108, 125, 132, 135, 147, 153–154, 160, 162, 170–172, 174, 182– 186, 189, 190, 192, 195, 198, 200–215, 220, 223, 247, 273, 278, 281, 283, 285–287, 293–294, 299–300, 305, 308, 312–315, 318, 325, 329, 332, 342–343, 346, 348, 359, 371, 385, 387–388, 391, 394–395, 397, 401–407, 409–410, 414, 423, 444–445, 454–457, 459, 461, 463, 465 Hofmann, Otto 61, 64, 120, 124, 163, 249, 278, 323, 324, 327–340, 374 Höhn, Reinhard 154–155 Höppner, Rolf-Heinz 226, 324–325, 339 Höß, Rudolf 142, 235, 237 Huber, Ernst Rudolf 155 Hummel, Herbert 28 Hunsche, Otto 119 Husson, Edouard 184–185, 202–203, 205, 211, 459, 472
I Irving, David 109, 132–133, 135 J Jäckel, Eberhard 411–412 Jäger, Karl 196–197, 249 Jaspers, Karl 418 Jeckeln, Friedrich 186, 195–197, 250–251 Jelinek, Yeshayahu 451 Jersak, Tobias 184–186 K Kammler, Hans 221–222, 230–231, 235 Kant, Immanuel 151–152 Kaufmann, Karl 273 Keitel, Wilhelm 391 Kempner, Robert M. W. 29, 60, 113, 122– 123, 125–130, 132, 135–138, 243, 270, 300, 303–305, 308, 322, 331, 386, 401, 407, 416, 461, 465 Kershaw, Ian 397 Kleinmann, Wilhelm 342 Klimo, Bohuslav 450 Klingenfuß, Karl Otto 261 Klopfer, Gerhard 64, 132, 199, 242, 246, 303–313, 316, 319–322, 331, 413, 458 Klopfer, Ida 305 Koellreutter, Otto 155 Köhler, Max 430 Kolnai, Aurel 160 Konitzer, Werner 159–160 Koppe, Wilhelm 189 Korherr, Richard 105, 143, 156 Körner, Paul 284 Krausnick, Helmut 409 Kreutzmüller, Christoph 390 Krieck, Ernst 154 Kritzinger, Friedrich 132, 243, 246, 411, 438, 464
Personenregister 479
Krüger, Friedrich-Wilhelm 25, 109, 186, 189, 224, 237, 244–245, 250–251, 253, 343, 347 Kuczynski, Friedrich Karl 235 L Lachout, Emil 131–132 Lammers, Hans Heinrich 190, 285, 391, 412 Landau, Moshe 101, 104, 107, 443 Lange, Herbert 187, 224, 252, 346 Lange, Rudolf 65, 110, 193–195, 197–199, 201, 241, 248–250, 257, 258 Lanzmann, Claude 380, 382–383 Laval, Pierre 201, 448–449 Leibbrandt, Georg 132, 194, 199, 246–247 Lentz, Jakobus Lambertus 358, 360, 366, 369, 377 Less, Avner Werner 71, 76, 78, 88, 93, 113 Ley, Robert 364, 372 Lieber, Hans-Joachim 418 Lischka, Kurt 77 Loewenherz, Josef 80 Lohse, Hinrich 189, 193, 196, 200, 315 Longerich, Peter 116, 183, 187, 188, 202, 325, 387, 412 Lösener, Bernhard 112, 146, 198, 283, 288, 289, 291, 295–301, 407–409, 412 Ludin, Hanns Elard 449–451 Luther, Martin 29, 30, 32, 38, 61, 64, 85, 98, 103, 110, 119, 121, 124, 162, 177, 241, 246, 248, 255, 260, 264–265, 267–272, 274, 284, 395, 411, 442, 450 Lutz, Carl 120, 138 M Mallmann, Klaus-Michael 396 Marder, Karl 199 Marrus, Michael 389 Marx, Ursula 30 Maser, Werner 118 Mattick, Kurt 428
Maurer, Ludwig 257 May, Rudolf 251 Mehlhorn, Herbert 252 Meyer, Ahlrich 389 Meyer, Alfred 64, 68, 110, 199, 241–242, 246–247, 442 Meyer, Beate 376 Meyer, Konrad 216–218, 220–222, 326 Michman, Joseph 362 Milch, Erhard 230 Młynarczyk, Jacek 187 Molotow, Wjatscheslaw 180 Mommertz, Paul 147 Mommsen, Hans 210, 293, 410–411 Morgen, Konrad 154 Müller-Gangloff, Erich 424 Müller, Heinrich 73–74, 77, 87–88, 91, 93–96, 99, 103, 105, 107, 110, 112, 147, 241, 249, 257–258, 266, 405 Müller, Herbert 30, 270 Müller, Hildegard 310 Müller, Johannes 308–309 N Naumann, Werner 284 Neumann, Erich 64, 132, 242–243, 246, 343 Neumann, Franz 282 Neurath, Ernst 264 Nižňanský, Eduard 451 Nolte, Ernst 118 Novak, Franz 344 Nute, Betty 29, 123–124 O Oberg, Carl Albrecht 255 Ossietzky, Carl von 416, 431 P Pätzold, Kurt 13, 136 Paxton, Robert 389
480 Personenregister Pellepoix, Darquier de 448 Pelt, Jan-Robert van 235 Pétain, Henri Philippe 448–449 Pfundtner, Hans 281, 283, 295 Pohl, Oswald 89, 225, 229–231, 236, 253, 256, 475 Poliakov, Léon 63–65, 69, 125, 140–141, 403–404, 409, 412 Prützmann, Hans-Adolf 189, 251 R Raab, Jörg 378 Rabl, Kurt 364, 373 Rademacher, Franz 29–30, 35, 261, 263–265, 267–270, 272, 389, 395 Rajakowitsch, Erich 373 Rathenau, Walther 176 Rauff, Walter 396 Rauter, Hanns Albin 359, 369, 371, 373–74 Raveh, Yitzhak 104, 107, 149, 151–152, 442 Rebentisch, Dieter 411–412 Reinhard, Fritz 284 Reischauer, Herbert 313– 318 Reitlinger, Gerald 89, 142, 403, 405 Ribbentrop, Joachim von 110, 121, 242, 260, 265, 271, 273 Rommel, Erwin 396 Roosevelt, Franklin D. 180, 184, 205 Roseman, Mark 13, 227 Rosenberg, Alfred 161, 189, 191, 193–194, 199, 214–245, 318, 391 Rosen von Hoewel, Harry von 286 Röthke, Heinz 448 Rottenberg, Heinrich 80 Rust, Bernhard 285 S Salitter, Paul 446 Sassen, Willem 63–69, 96, 133, 139–143, 149, 152–153, 156 Sawicki, Jerzy 416
Schacht, Hjalmar 71, 206 Scheerbarth, Walter 286 Scheffler, Wolfgang 117, 341 Schellhorn, Fritz 266 Schenckendorff, Max von 194 Schiedermair, Rolf 286, 301 Schirk, Heinz 147, 438 Schleier, Rudolf 272 Schmelt, Albrecht 219 Schmidt, Fritz 361 Schmitt, Carl 155–156 Schmitt, Walter 255 Schnabel, Raimund 125 Schnell, Paul 345 Schoenberner, Gerhard 416 Schöngarth, Eberhard 65, 110, 242, 249 Schultz, Bruno Kurt 331 Schumburg, Emil 259, 264, 266 Schütz, Klaus 420–422, 427–431, 433 Schwarz, Erika 13 Schwarz, Otto 335–336 Seibel, Wolfgang 378 Seidel, Robert 187 Servatius, Robert 63, 88, 90, 94–95, 98–100, 112, 150 Seyß-Inquart, Arthur 359, 361, 363–365, 371, 373–375, 377 Six, Franz Alfred 101 Sofsky, Wolfgang 166 Sommer, Walther 308–312 Speer, Albert 342, 354 Stäglich, Wilhelm 129, 132–133 Stahlecker, Walther 248 Stange, Otto 344 Stangneth, Bettina 17, 157 Steinbacher, Sybille 234 Stolleis, Michael 154 Storfer, Berthold 80 Strack, Heinrich 60 Strauch, Eduard 200 Strauss, Walther 288
Personenregister 481
Stuckart, Wilhelm 64, 76, 92, 96–99, 107, 110–113, 132, 146, 148, 188, 198, 243, 246, 272, 278, 282–295, 298–302, 314, 317–318, 331, 333, 407, 408, 412–413, 444 Stüler, Carl 365, 367 T Tenenbaum, Josef 404–406, 412 Thierack, Otto 441 Tiso, Jozef 450–451 Trampedach, Friedrich 193 Tugendhat, Ernst 160 Tuka, Vojtech 256, 449–451 U Uebelhoer, Friedrich 188, 193 Urbantke, Wilhelm 450 V Vallat, Xavier 393 Ventzki, Werner 193, 199 Vojtaššák, Ján 450 W Wagner, Ingeborg 119 Walendy, Udo 129, 133–134
Walther, Gebhardt von 396 Weizsäcker, Ernst von 30, 125, 255, 265–266, 269, 270, 272, 395, 451 Weizsäcker, Richard von 433 Welzer, Harald 157–160 Wetzel, Erhard 172, 193 Wildt, Michael 263, 307, 325, 413 Wimmer, Friedrich 365, 367, 369, 370, 376 Wisliceny, Dieter 450 Witte, Peter 273 Wittrock, Hugo 195 Woermann, Ernst 259, 265, 267, 269–270 Wolff, Karl 347–348, 447 Wulf, Joseph 63, 69, 125, 140–141, 408, 412, 415–423, 425–435 Wurm, Paul 269 Y Yahil, Leni 388 Z Zahn, Friedrich 358 Zapp, Paul 395 Zeitschel, Carltheo 60, 270, 272–273 Zipfel, Friedrich 418
TIMO NÜSSLEIN
PAUL LUDWIG TROOST (1878–1934) (HITLERS ARCHITEKTEN: HISTORISCH-KRITISCHE MONOGRAPHIEN ZUR REGIMEARCHITEKTUR IM NATIONALSOZIALISMUS, BAND 1)
In den 1910er-/20er-Jahren ist Paul Ludwig Troost (1878–1934) im Bereich des konservativen Luxusinterieurs einer der gefragtesten Innenarchitekten Deutschlands. So auch im großbürgerlichen Umfeld Hitlers, der ihn 1930 mit dem Umbau der Münchner Parteizentrale der NSDAP betraut. Für den Parteiführer entwirft Troost in der Folge weitere Einrichtungen und vor allem Bauten, deren strenger Reduktionsklassizismus, bedingt durch den Willen Hitlers, für die offi zielle Repräsentationsarchitektur des Nationalsozialismus bestimmend wird. Troosts bemerkenswerte Karriere, seine Zusammenarbeit mit Hitler und sein Nachwirken im „Dritten Reich“ werden im vorliegenden Buch erstmals eingehend dargestellt und untersucht, sein architektonisches Gesamtwerk in einem Katalog zugänglich gemacht. 2012. X, 314 S. 156 S/W- UND 16 FARB. ABB. GB. MIT SU. 210 X 280 MM. ISBN 978-3-205-78865-2
böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
WOLFGANG UWE ECKART
MEDIZIN IN DER NS-DIKTATUR IDEOLOGIE, PRAXIS, FOLGEN
Kaum ein anderes Thema der jüngeren Medizingeschichte ist so häufig behandelt worden wie das der Medizin im Nationalsozialismus. Doch trotz hoch differenzierter Forschungen und einer Fülle von Büchern gibt es keine aktuelle Gesamtdarstellung. Diese Lücke schließt Wolfgang Uwe Eckart. Er stellt die Medizin des NS-Staats in den Kontext ihrer Ideologien, Praktiken und Konsequenzen. Ein Standardwerk – grundlegend und gut verständlich. 2012. 567 S. 48 S/W- U FARB. ABB. GB. 155 X 230 MM. | ISBN 978-3-412-20847-9
böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar