DIE WA(H)RE KUNST: Deutsche Kultur im Sog sozioökonomischer Wandlungsprozesse [1 ed.] 9783412524241, 9783412524227


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DIE WA(H)RE KUNST: Deutsche Kultur im Sog sozioökonomischer Wandlungsprozesse [1 ed.]
 9783412524241, 9783412524227

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Jost Hermand

Deutsche Kultur im Sog sozioökonomischer Wandlungsprozesse

Jost Hermand

DIE WA(H)RE KUNST Deutsche Kultur im Sog sozioökonomischer Wandlungsprozesse

Böhlau Verlag Wien Köln

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Deutsche Bundesbank, Frankfurt am Main, Deutschland Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52424-1

Dem Kunst- und Kulturhistoriker Richard Hamann (1879–1961) in memoriam

Inhalt Vorwort Bisherige Versuche, die verschiedenen Phasen der künstlerischen E ­ ntwicklung in den Ablauf der deutschen Geschichte einzuordnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation Vom Mittelalter zur frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Absolutistische Machtdemonstrationen nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Bürgerliche Emanzipationsbestrebungen in den Staaten des aufgeklärten Absolutismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Der Deutsche Bund Der Beginn der industriellen Revolution. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Die erste ökonomische Hochkonjunktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Das Zweite Kaiserreich Gründerzeitlicher Triumphalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moralinfreie Auslebebedürfnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das naturalistische Zwischenspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bijoukultur um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kampf dem Ornament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die frühexpressionistische Revolte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55 60 65 69 73 77

Die Weimarer Republik Die Vermarktung der Novemberrevolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Die Phase der Neuen Sachlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Im Zeichen der Weltwirtschaftskrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Das NS-Regime Das offizielle Programm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Die Wendung ins Realpolitische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Marktbedingungen im Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Die sowjetische Besatzungszone und die Deutsche Demokratische Republik Die politökonomischen Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Gescheiterte hochkulturelle Ambitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 7

Die Nachkriegszeit in den drei westlichen Besatzungszonen Hoffnungen auf einen Neuanfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Nach dem Beginn des Kalten Kriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Die ehemalige Bundesrepublik Die Ära des sogenannten Wirtschaftswunders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Kritik am »Establishment« seit 1961 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Die Graswurzelrevolte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Die alt-neue Bundesrepublik Nach der Wende von 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der pluralistische »Industriestandort Deutschland« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die prekäre Situation der bisherigen E-Künste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das unaufhaltsame Vordringen der Populärkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kultur der heutigen Market Driven Society . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

188 193 199 210 216

Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232

8

Vorwort Bisherige Versuche, die verschiedenen Phasen der künstlerischen Entwicklung in den Ablauf der deutschen Geschichte einzuordnen

Bis weit in die frühe Neuzeit hinein hat man im Sacrum Imperium Germanorum im Hinblick auf die sogenannten höheren Künste meist nur von einer Kultur der Karolinger, Ottonen, Salier und Staufer gesprochen, ohne dabei etwas genauer auf irgendwelche stilistischen Unterschiede innerhalb der damaligen Literatur, Musik oder Bildhauerkunst einzugehen. All das galt schlichtweg als »Mittelalter«. Lediglich auf den architektonischen Wandel von der Romanik zur Gotik wurde manchmal hingewiesen, aber ohne ihn als einen epochalen Umbruch zu charakterisieren. Eine veränderte Sehweise in dieser Hinsicht trat erst mit dem Aufkommen humanistischer Strömungen um 1500 ein, als in einigen freien Reichsstädten im Ankampf gegen die kirchlich-autoritären Machtstrukturen eine allmähliche Wendung ins Bürgerlich-Selbstbewusste einsetzte, was zu einem Denken in politisch und kulturell unterschiedlichen Zeitabschnitten führte. Doch diese Aufbruchsstimmung ging in den Religionsstreitigkeiten der Folgezeit und dann in der Phase des Dreißigjährigen Kriegs wieder weitgehend verloren. Ja, nach dem Ende all dieser katastrophalen Wirren kam es ideologisch und künstlerisch erneut zu einer Machtdemonstration der immer autonomer auftretenden Fürsten und Erzbischöfe innerhalb des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, die vielen der bisherigen bürgerlichen Emanzipationsbestrebungen ein Ende bereitete. So viel erst einmal – etwas pauschalisierend zusammengefasst – zum Gesamtverlauf der künstlerischen Entwicklung von den Anfängen bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, als nach der Entmachtung der freien Reichsstädte auf künstlerischem Gebiet wieder wie im frühen Mittelalter vornehmlich die Schaustellung fürstlicher und kirchlicher Macht im Vordergrund stand. Sie erlebte zwar verschiedene stilistische Ausformungen, aber verstand sich nicht als eine sinnvolle Abfolge ins Humanistische drängender Phasen, in denen die Künste eine avantgardistisch bedeutsame Rolle gespielt hätten. Was daher in den nur spärlich ausgebildeten kunsttheoretischen Schriften dieses weiträumigen Zeitraums vorherrschte, waren weitgehend Anleitungen zur handwerklichen Verbesserung der einzelnen Künste sowie Biografien singulärer, als besonders genial geltender Künstler, ohne dass man dabei auf eine historische Abfolge der verschiedenen Formen von Dichtung, Malerei und Musik im Verlauf der absolutistisch überformten Kulturentwicklung eingegangen wäre. Derartige Bemühungen erfolgten erst im Rahmen der bürgerlichen Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Um dem unbeschränkten, ja geradezu diktatorischen Macht9

Vorwort

anspruch der einzelnen Fürsten auch auf künstlerischem Gebiet entgegenzutreten, setzten sich in diesem Zeitraum immer mehr Autoren dafür ein, die Künste aus ihrer bisherigen Dienstbarkeit im Sinne absolutistischer Herrschaftsbestrebungen herauszulösen und als »autonom« zu erklären. Seine bekannteste Forderung erlebte dieses Bemühen in der berühmten Formulierung in Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft (1790), nämlich dass in der Kunst zukünftig vornehmlich ein »interesseloses Wohlgefallen« herrschen solle,1 um sie endlich aus allen fürstlichen und kirchlichen Bevormundungen zu befreien und sich der ins Einzelpersönliche befreiten Empfindungswelt der bürgerlichen Aufklärer anzupassen. Doch nicht allein das, auch der Begriff »Kultur« verlor in den Schriften dieser Bewegung zusehends seinen vorwiegend auf die höfische Welt mit ihren majestätischen Schlossbauten sowie auf eine genau festgelegte Kavaliersetikette bezogenen Charakter. Was die bürgerlichen Aufklärer darunter verstanden, war eher die geistige Vervollkommnung freisinnig auftretender Individuen, die sich bemühen würden, sich als autark empfindende Einzelne zu einer selbständigen Weltanschauung durchzuringen, statt sich weiterhin der von den aristokratischen und kirchlichen Autoritäten geforderten Untertanenmentalität anzupassen. Im Hinblick auf die Kunstanschauungen der emanzipatorisch denkenden Schichten dieser Ära führte das zu folgenden Konsequenzen. Angeregt durch einige von Frankreich ausgehende kunsttheoretische Debatten über die »Alten« und die »Modernen« sowie die Schriften von Johann Joachim Winckelmann, griff man dabei meist auf die Kunst der vorchristlichen Zeit zurück und stellte, wie schon die Humanisten im Zeitalter der Renaissance, die griechische und römische Antike als das Vorbild einer von allen fürstlichen und christlichen Autoritäten befreiten Welt der wahren Menschlichkeit hin. Mit diesem Rückgriff glaubte man, ein wichtiges Modell zur Hand zu haben, das sich ideologisch am effektivsten gegen den im Heiligen Römischen Reich noch immer herrschenden, als geradezu mittelalterlich empfundenen Traditionalismus einsetzen ließ. Vor allem die Vertreter der im höfischen Umfeld der Weimarer Klassik angesiedelten Autoren bekannten sich zu diesen Bestrebungen und nannten – in den Worten Johann Wolfgang Goethes – das Klassische das »Gesunde« und stellten alle Rückfälle ins Christlich-Mittelalterliche als verwerflich, wenn nicht gar »krankhaft« hin.2 Doch eine derartige Kunst- und Weltanschauung konnte sich nicht durchsetzen. Dazu war sie viel zu bildungsbetont, um breitere Schichten des damaligen deutschen Bürgertums in ihren Bann zu ziehen. Diese bewegten seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts eher der nationale Aufbruch der Befreiungskriege, der Wiener Kongress und die darauffolgenden Metternich’schen Restaurationsbemühungen, durch die ein völlig neues Verhältnis zur Geschichte entstand, das eher das Gegenwärtige als das Vergangene ins Auge fasste. Wohl seinen bedeutsamsten Durchbruch erlebte dieser Wandel in der Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels, der in seinen 10

Bisherige Versuche

Weltgeistspekulationen ein Geschichtsbild entwarf, das auf vier Großabschnitten beruhte: der mythologischen Vorzeit, dem ästhetischen Zeitalter der Antike, dem religiös gesinnten Mittelalter und der gerade anbrechenden Ära eines sich zum Gedanken der Freiheit bekennenden Weltgeists, in der sowohl die »schönen Tage der griechischen Kunst wie die goldene Zeit des späteren Mittelalters« in den Hintergrund treten würden.3 Damit war endlich eine Geschichtssicht angebrochen, die viele Autoren in der folgenden Vormärzära zu rebellisch gesinnten Ideologien beflügelte und einen Kunsttheoretiker wie Georg Gottfried Gervinus dazu bewegte, von den antikisierenden Anschauungen der Weimarer Klassik Abschied zu nehmen und sich im Sinne der sogenannten Achtundvierziger zu einer »Philosophie der Tat« zu bekennen,4 statt sich weiterhin vornehmlich um neue Kunstanschauungen zu bemühen. Nach dem Scheitern dieser Revolution kam es auf theoretischem Gebiet zu zweierlei Einstellungen den Phänomenen Kunst und Kultur gegenüber: Einerseits setzte ein nachmärzlicher Rückzug ins Unideologische ein, der sich unter Absehung irgendwelcher historischen Etappenabfolgen mit einer akribischen Aufarbeitung längst vergangener künstlerischer Leistungen begnügte, wofür sich die Bezeichnung »Positivismus« einbürgerte, andererseits begannen die Nationalliberalen – auf eine mögliche Vereinigung der 39 Staaten des Deutschen Bunds unter einem preußischen Erbkaisertum hoffend – so nachdrücklich wie möglich, die Bedeutsamkeit der älteren deutschen Kulturleistungen herauszustreichen, um so ihren Mitbürgern und Mitbürgerinnen das Gefühl zu geben, wenn schon nicht Angehörige einer in sich geschlossenen Staatsnation, so doch wenigstens Teilhaber einer gewichtigen Kulturnation zu sein. Und diese Bemühungen hielten auch nach der Reichsgründung im Jahr 1871 an. So stellte etwa der preußische Historiker Heinrich von Treitschke die Weimarer Klassik wegen ihres Gesamtdeutschland ansprechenden Charakters als eine der wichtigsten Vorstufen zu der von Otto von Bismarck endlich erreichten Durchsetzung eines Zweiten Deutschen Kaiserreichs hin, während sich die gutbürgerlichen Positivisten nach wie vor im Hinblick auf die Kunst der Vergangenheit weiterhin mit biografischen Details oder editorisch exakten Werkausgaben bekannter Autoren beschäftigten, ohne dabei irgendwelchen historischen Wandlungsprozessen eine größere Aufmerksamkeit zu schenken. Schließlich wollten auch sie – in Konkurrenz mit den sich im Zuge der industriellen Revolution ausbreitenden Naturwissenschaften – als »szientifisch« arbeitende Wissenschaftler und nicht als ästhetisierende Schöngeister angesehen werden. Ein Wandel in dieser Hinsicht trat erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und dann um die Jahrhundertwende ein, als in den Kulturwissenschaften eine allmählich immer stärkere Abkehr von dem als »geisttötend« empfundenen Positivismus einsetzte. Kein Wunder, dass sich diese Disziplinen danach zusehends vom Prinzip der naturwissenschaftlichen Penibilität abwandten und sich unter dem 11

Vorwort

Einfluss Heinrich Rickerts, Georg Simmels und vor allem Wilhelm Diltheys als philosophisch orientierte »Geisteswissenschaftler« ausgaben.5 Dieser Wandel von einer nur empirisch nachzuweisenden Faktentreue zu einer lebensphilosophisch orientierten Sehweise führte zwar auch zu historisch bedeutsamen Erkenntnissen, denen jedoch ihre Vertreter meist nur einen schwer fasslichen »Geistbegriff« zugrunde legten, statt auch auf dessen politische oder sozioökonomische Voraussetzungen einzugehen. Daher war in den Schriften dieser Richtung zwar viel vom intellektuellen Klima einer bestimmten Epoche, das heißt dem in ihr herrschenden »Zeitgeist« die Rede, aber die aus ihm hervorgehende »Kultur« wurde lediglich als Ausdruck einer empirisch kaum greifbaren seelischen Erlebenswelt hingestellt, welche offenbar keiner materiellen Basis bedarf. Signifikante Beispiele dafür sind all jene damals angestellten Reflektionen über den »klassisch« oder »romantisch« empfindenden Menschen, denen man zwar historisch nachweisbare philosophische Systeme zugrunde legte, aber ohne sie mit sozial greifbaren, geschweige denn klassenspezifischen Voraussetzungen zu verbinden. Und das führte dazu, dass diese rechtskonservative Sehweise bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts eine beachtliche Breitenwirkung erzielte, jedoch in ihrem Übergang zum Konzept des typisch »deutschen Menschen« immer fragwürdiger wurde.6 Wesentlich sachlicher und zugleich aufs Kunstspezifische begrenzt wirkt dagegen jene stiltypologische Sehweise innerhalb der Geisteswissenschaften, die maßgeblich durch den während der späten achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts einsetzenden Stilwandel in den höheren Künsten angeregt wurde, dem teils rebellische, teils marktwirtschaftliche, teils ästhetische Entwicklungsschübe zugrunde lagen und der zusätzlich durch die Neugier der nach künstlerischen Novitäten ausschauenden Bildungsbourgeoisie befördert wurde. All das führte in den verschiedenen Künsten zu einer Reihe rasch aufeinander folgender »Ismen«, wie dem Naturalismus, dem Impressionismus, dem Neoimpressionismus, dem Symbolismus, dem Neoromantizismus, dem Purismus der Werkbund-Bestrebungen und letztendlich dem Frühexpressionismus. Aufgrund dieser Ismen-Inflation entschieden sich darauf auch manche Kunsttheoretiker dieser Ära, die gesamte deutsche Kulturentwicklung von ihren Anfängen bis zur Gegenwart in eine Aufeinanderfolge von Stilen, und zwar in Romanik, Gotik, Renaissance, Barock, Rokoko, Empfindsamkeit, Klassizismus, Romantik, Biedermeier, bürgerlichen Realismus und gründerzeitlichen Historismus einzuteilen. Besonders einflussreich in dieser Hinsicht erwiesen sich dabei die Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe (1913) von Heinrich Wölfflin, in denen er bei einer Gegenüberstellung der Kunst der Renaissance und des Barocks alles historisch Bedingte und individuell Andersartige zu Gunsten einer stiltypologischen Analyse einfach wegließ, um damit der Kunst die Würde einer als autonom verstandenen Eigengesetzlichkeit zu geben.7 Und das hatte lange Zeit, zum Teil bis heute, durchaus Folgen. Schließlich glauben noch immer manche Reiseführer oder Reiseführerinnen, wenn sie bei einer 12

Bisherige Versuche

Besichtigung alter Kirchen den Touristen erklären, dass das Hauptschiff noch romanisch und der Hochchor bereits gotisch sei, während die Kanzel schon renaissancehafte Züge aufweise, alles Entscheidende gesagt zu haben. Auch im Hinblick auf die sogenannte »klassische« Musik wird von vielen Radioansagern und -ansagerinnen nach wie vor erklärt, dass auf die Werke der Renaissance und des Barocks nach den Kompositionen der Klassik und Romantik meist eine undefinierte Moderne folge, ohne dabei auf die jeweiligen historischen oder sozialgeschichtlichen Hintergründe dieser höchst grobschlächtigen Bezeichnungen einzugehen. Und das, obwohl eine Unzahl bürgerlich-liberaler sowie marxistisch orientierter Sozialhistoriker seit 1900 und dann verstärkt in den zwanziger Jahren gegen solche Stiltypologien im Hinblick auf den Ablauf der deutschen Kulturentwicklung energisch opponiert haben. Worauf diese Theoretiker in ihren diesbezüglichen Forschungen meist den Hauptakzent legten, war – im Gegensatz zu den sich lediglich mit Stilfragen auseinandersetzenden Formalisten – vor allem der in sämtlichen Phasen der bisherigen Kulturentwicklung nachweisbare Kontrast zwischen den Bildungsvoraussetzungen der verschiedenen Bevölkerungsschichten und dem sich daraus ergebenden Unterschied zwischen einer höheren und einer niederen Kultur, wofür sich später die Bezeichnungen E-Kultur und U-Kultur einbürgerten. Allerdings begnügten sich hierbei viele bürgerlich-liberale Sozialhistoriker lediglich mit der Aufdeckung dieses Gegensatzes, ohne irgendwelche Forderungen aufzustellen, wie sich dieser Unterschied aufheben lasse, um einer alle Bevölkerungsschichten ansprechenden A- oder Allgemeinkultur den Weg zu bereiten. Dagegen fassten die meisten Marxisten in dieser Hinsicht zugleich die Aufhebung dieses Gegensatzes ins Auge. Statt vornehmlich die bildungsbedingten Unterschiede zwischen den einzelnen Bevölkerungsschichten herauszustellen, ging es ihnen eher um die auf den jeweils herrschenden Besitzverhältnissen beruhenden Klassenunterschiede, die es endlich zu beseitigen gelte. Schließlich trügen selbst viele der angeblich größten Kunstwerke der Vergangenheit die »Narben« ihrer Klassenherkunft, wie es Walter Benjamin später formulierte,8 da sie meist im Auftrag sich autoritär gebender Gewaltherrscher entstanden seien. Was daher die linkskritischen Kulturtheoretiker als vorbildlich herausstellten, waren hauptsächlich jene Kunstwerke, die eine Überwindung der jeweils herrschenden Klassenverhältnisse angestrebt hätten. Und das seien in Deutschland vor allem die Werke des sich emanzipierenden Bürgertums zwischen 1750 und 1850 sowie die danach entstandenen Dramen, Gedichte, Gemälde, Grafiken und Kompositionen jener Künstler gewesen, die mit der frühen Sozialdemokratie und dann der Kommunistischen Partei Deutschlands sympathisiert oder sich ihnen sogar als Mitglieder angeschlossen hätten. Statt irgendwelche Stiltypologien aufzustellen, galten deshalb in diesem Umkreis bei der Beurteilung der verschiedenen Phasen der deutschen Kulturentwicklung seit der Aufklärung des 13

Vorwort

18. Jahrhunderts vornehmlich die Bezeichnungen »progressiv« oder »reaktionär« als die entscheidenden Unterschiedsmerkmale, was sich bis in die Zeit der Deutschen Demokratischen Republik verfolgen lässt. In der Frühzeit der ehemaligen Bundesrepublik herrschte dagegen bis weit in die sechziger Jahre ein weitgehender Verzicht auf derartige kulturpolitische Gliederungsversuche. Als gebrannte Kinder des NS-Regimes, in dem man unter Ausschluss linker oder jüdischer Kunstwerke fast alle deutschen Kulturleistungen unterschiedslos als Ausdruck rassischer Überlegenheitsgefühle hochgejubelt hatte, zog man sich hier lieber in eine ideologisch zu nichts verpflichtende Methode der werkimmanenten Betrachtung einzelner Kunstwerke zurück, um nicht noch einmal in die Fallstricke politischer Vereinnahmungen zu geraten. Es gab zwar seit dem Buch Verlust der Mitte (1948) von Hans Sedlmayr auch einige religiöse Anwandlungen oder Ausflüchte ins Existentialistische im Sinne Martin Heideggers. Aber sie wirkten eher wie eine Weiterführung der bildungsbürgerlichen Inneren Emigration während des Dritten Reichs und verflachten dann im Laufe der fünfziger Jahre weitgehend ins ideologisch Unverbindliche oder schlossen sich im Zuge des Kalten Kriegs mit antitotalitaristischen Invektiven dem Kreuzzug gegen den »Osten« an. Ein Wandel in dieser Hinsicht setzte erst im Gefolge der von Willy Brandt initiierten Demokratisierungsbemühungen, der verstärkten Vergangenheitsbewältigung und dann der im Rahmen der Außerparlamentarischen Opposition auftretenden Achtundsechziger-Bewegung ein, wodurch auch in der Bundesrepublik die linksliberalen und sozialistischen Kunstwerke der Vergangenheit erneut ins öffentliche Bewusstsein traten. Jetzt war in zahlreichen kunsttheoretischen Periodisierungsbemühungen dieser Jahre endlich wieder von progressiven und reaktionären Strömungen innerhalb früherer Kulturepochen die Rede, um so die gesamtgesellschaftliche Bedeutsamkeit von Kunst herauszustreichen, statt wie in den fünfziger und frühen sechziger Jahren neben dem Rückzug ins Verinnerlichte vor allem jene modernistisch-abstrakten Kunstwerke gelten zu lassen, mit denen sich in den höheren Künsten allen realistisch fassbaren sozialen Verpflichtungen am leichtesten aus dem Wege gehen ließ. Wie wir wissen, ebbte jedoch diese kritische Welle schon nach einigen Jahren wieder ab. Was sich danach in der ehemaligen Bundesrepublik im Zuge einer erneuten Verschärfung des Kalten Kriegs und zugleich hochkonjunkturellen Überlegenheitsstimmung in den Kulturwissenschaften durchsetzte, war jene methodische Sehweise, die häufig als eine Wendung zur »Postmoderne« ausgegeben wurde. Da­runter verstanden viele Kulturtheoretiker und -theoretikerinnen eine Absage an die Beschäftigung mit den in älteren Kunstwerken widergespiegelten gesellschaftskritischen Bestrebungen. Dementsprechend wandten sich die meisten unter ihnen danach in ihren Forschungen und Proklamationen ausschließlich den kulturellen Verhältnissen ihrer eigenen Gegenwart zu, deren Zustand sie in ihrer marktwirtschaftlichen Struk14

Bisherige Versuche

tur und den in ihr herrschenden subjektiven Selbstverwirklichungsbemühungen zwar wie einige systemimmanente Soziologen als »Risikogesellschaft« empfanden,9 aber dennoch als eine nicht mehr zu verändernde Gesellschaftsform hinstellten. Ihren Höhepunkt erlebte diese methodische Neuorientierung nach der Wiedervereinigung Deutschlands in den Jahren 1989/90. Von nun an sprachen manche Historiker sogar vom »Ende der Geschichte«, das heißt dem endlich erreichten, auf demokratischen Grundsätzen beruhenden »Industriestandort Deutschland«, der in Zukunft – außer einigen geringfügigen Reformen in ökologischer Hinsicht – keiner grundlegenden Umstrukturierungen mehr bedürfe. Aufgrund dieses Gesinnungswandels, durch den das marktwirtschaftliche System endlich ganz zu sich selbst gekommen schien, verschwanden nicht nur alle bisherigen Sozialutopien, sondern auch alle Avantgardevorstellungen in den höheren Künsten. Jetzt schien die Zukunft – trotz aller weiter bestehenden Krisen – nur noch eine verlängerte Gegenwart zu sein. Von der zuvor oft diskutierten Dialektik zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft war deshalb danach kaum noch die Rede. Und damit traten auch in den Kultur- und Geisteswissenschaften die bisherigen Bemühungen um klar erkennbare Epochenabläufe und die in ihnen herrschenden künstlerischen Stile weitgehend in den Hintergrund. Was jetzt dominierte, war fast ausschließlich die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Situation. All das führte im Hinblick auf das, was bisher als »Kultur« gegolten hatte, zwangsläufig zu durchgreifenden Wandlungen. Während man lange Zeit vornehmlich die Werke der höheren Künste als die zentralen Manifestationen von Kultur hingestellt hatte, wurde jetzt unter diesem Begriff noch stärker als zuvor die gesamte Lebenswelt der in der alt-neuen Bundesrepublik lebenden Bevölkerungsschichten verstanden. Statt also darunter weiterhin vornehmlich das ältere Theater- und Konzertwesen, die Galerie- und Museumskunst sowie als bedeutsam angesehene Romane und Gedichtbände zu subsumieren, galt plötzlich geradezu alles, das heißt sogar die Esskultur, die Reisekultur, die Sportkultur, die Liebeskultur, ja sogar die Wohn- und Badezimmerkultur als Ausdruck eines kulturellen Verhaltens, das man endlich mit demokratisierender Absicht aus den Fesseln der anspruchsvollen Künste befreit habe. Und damit kam es auch in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen im Zuge einer verbreiteten Wendung zu einem erweiterten Kulturbegriff, bei dem zwischen dem Oben und dem Unten, dem kleinen E und dem großen U kein grundsätzlicher Unterschied mehr gemacht wurde. Das ist zwar als Gegenreaktion auf den elitären Kulturbegriff der älteren Bildungsbourgeoisie durchaus zu begrüßen, hatte aber auch eine Reihe bedenklicher Nachteile. Schließlich ging bei dieser zunehmenden Beschränkung auf die gegenwärtige Situation viel an geschichtlichem Bewusstsein und damit Kenntnis andersartiger Gesellschaftssysteme sowie der in ihnen propagierten soziopolitischen, ökonomischen 15

Vorwort

und kulturellen Änderungsvorstellungen verloren. Das belegt unter anderem ein Buch wie Die Gesellschaft der Singularitäten (2017) von Andreas Reckwitz, in dem der als Demokratisierung ausgegebene Abbau aller bisherigen nationalen, religiösen oder kulturellen Gemeinschaftsvorstellungen als eine zunehmende Tendenz ins Subjektverhaftete und damit als ein grundsätzlicher Verzicht auf das Nicht-Singuläre hingestellt wird, der nur noch die private Authentizität als obersten Wert anerkennt. Dieser Prozess wird von ihm und anderen Soziologen und Soziologinnen gern als ein tiefgreifender Wandel von der industriellen zur postindustriellen Ökonomie charakterisiert, der vor allem durch den numerischen Rückgang der Arbeiterklasse, die damit korrespondierende Zunahme der Dienstleistungsschichten sowie die ständig fortschreitende Digitalisierung und Automatisierung sämtlicher marktwirtschaftlichen Vorgänge bewirkt worden sei. Und das habe im Hinblick auf die Gesamtgesellschaft zu einer »technologisch angeregten Singularisierung« geführt,10 worin sich eine Transformation in Richtung auf einen postindustriellen Kapitalismus zu erkennen gebe. Durch diesen Vorgang, liest man immer wieder, sei es zwar einerseits zu einer begrüßenswerten Diversität im gesellschaftlichen Verhalten, aber andererseits durch den Verlust überindividueller Wertvorstellungen auch zu manchen Defiziterfahrungen gekommen, die jedoch in Zukunft durch einen regulativen Neoliberalismus möglicherweise wieder ausgeglichen werden könnten. All das mag in vielen Punkten durchaus stimmen. Aber schließlich ist diese Wendung ins Subjektiv-Vereinzelte und der dadurch bewirkte Rückgang überindividueller Wertvorstellungen gar nicht so neu, wie er gegenwärtig im Hinblick auf die sich unter globalisierender Perspektive vollziehende Digitalisierung meist hingestellt wird, sondern hat sich im Zuge ständig raffinierterer Vermarktungsstrategien lediglich ins Hektische übersteigert. Etwas genauer betrachtet beginnt dieser Vorgang in Deutschland bereits im Gefolge der industriellen Revolution in der Mitte des 19. Jahrhunderts und ist in den verschiedenen Phasen der politökonomischen Entwicklung vom Zweiten Kaiserreich bis zur Gegenwart lediglich immer nachdrücklicher geworden. Schließlich ging es schon in der Vergangenheit – selbst in der Weimarer Republik und der frühen Bundesrepublik – in wirtschaftlicher Hinsicht vornehmlich um technologische Innovationen, von denen sogar der kulturelle Überbau nicht unbeeinflusst blieb. Als letztlich ausschlaggebend erwies sich bereits damals der durch technologische Neuerungen ständig machtvoller werdende »Moloch Markt«, der alle anderen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu »kolonisieren« versuchte, wie es bei Jürgen Habermas einmal heißt,11 als die entscheidende Antriebskraft innerhalb des gesellschaftlichen Lebens, gegen die sich selbst bestimmte gegenläufige Leitvorstellungen nicht oder kaum durchsetzen konnten. Das im Einzelnen im Hinblick auf die verschiedenen Perioden der deutschen Kultur etwas genauer darzustellen, versuchen die folgenden Kapitel so politökonomisch konkret wie möglich nachzuzeichnen. 16

Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation

Vom Mittelalter zur frühen Neuzeit

Die ersten Ansätze zu dem, was spätere Historiker als »Marktwirtschaft« bezeichnet haben, begannen im deutschsprachigen Bereich im 13. Jahrhundert. Während bis dahin im Sacrum Imperium Germanicum fast ausschließlich eine Naturalwirtschaft, das heißt ein bäuerliches Subsidenz- oder Fronsystem im Dienst des Adels und des Klerus geherrscht hatte, kam es in diesem Zeitraum durch die Herausbildung kleinerer Städte zur allmählichen Entstehung eines bürgerlichen Handwerkerstands, ja sogar zu den ersten einträglichen Fernhandelsbeziehungen, welche das Aufkommen eines städtischen Patriziats begünstigten. Statt also wie in der bisherigen Feudalordnung lediglich Ware gegen Ware auszutauschen oder auf der Abgabe des Zehnten zu bestehen, sah man sich im Zuge dieser Entwicklung schließlich gezwungen, bei der Kalkulation der handwerklichen und kaufmännischen Güterversorgung – jenseits des bisherigen Tausch- oder Fronsystems – ein Münzwesen einzuführen, mit dem sich der jeweilige Gewinn der marktwirtschaftlich angebotenen Güter genau berechnen ließ. Obwohl von manchen Klerikern die Einführung des auf Silbermünzen beruhenden Geldwesens anfänglich als »unchristliches Wucherwesen« angeprangert wurde, war diese Entwicklung im Gefolge der sich schneller als gedacht vollziehenden Zunahme und Vergrößerung der Städte nicht mehr aufzuhalten.

Abb. 2  Buchminiatur: Bau eines Klosters durch einen babenbergischen Herzog (um 1350) 17

Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation

Und das bewirkte neben theologischen Auseinandersetzungen auch kulturelle Wandlungen. Wie wir wissen, waren im frühen Mittelalter fast alle hochkünstlerischen Bestrebungen noch von Seiten der Fürsten, Bischöfe und Klöster ausgegangen, was zu einer Blütezeit romanischer Kirchenbauten, Statuen und Fresken, gregorianischer Gesänge sowie vieler kostbar verzierter Handschriften geführt hatte. Anschließend kam es im 12. und 13. Jahrhundert auf literarischem Gebiet auch zu bedeutsamen, wenn auch zahlenmäßig recht begrenzten ritterlichen Kulturbemühungen, wofür die in diesem Zeitraum entstandenen mittelhochdeutschen Versepen und Minnelieder Zeugnis ablegen. Während die meisten weltlichen Burgherren damals noch weitgehend ungebildet waren und lediglich der Jagdlust, der Ausbeutung ihrer Fronbauern sowie willkürlich vom Zaun gebrochenen Fehden frönten, waren damals einige Ritter, die noch kein Lehen besaßen, von Burg zu Burg oder von Hof zu Hof gezogen, um mit ihren rhapsodisch vorgetragenen Aventiuren oder Liebesliedern die Gunst der alteingesessenen Herren und ihrer Damen zu erringen. Die von ihnen besungenen Helden waren im Gefolge englischer oder französischer Epen fast ausschließlich Überwinder tierähnlicher Monster, Retter in Not geratener Edelfräulein, Beschützer des Christentums gegen böswillige Heiden oder galant auftretende Liebhaber. Von den allmählich entstehenden Kaufmannsschichten sowie dem von ihnen eingeführten Geldwesen, geschweige denn von den fronenden Bauern, findet sich dagegen in ihren Werken fast nichts. Sie wollten ihren Zuhörern und Zuhörerinnen, die meist weder lesen noch schreiben konnten, noch eine Welt vorgaukeln, in der es keine Städte gab, wo man unter Arbeit bereits das Handwerkerwesen und die Organisation des Handels verstand, sondern stellten als »arebeit« lediglich jene Heldentaten der von ihnen besungenen Recken hin, die sie als Vertreter der Herrenkaste so glorreich wie nur möglich herauszustreichen versuchten. Ein allmählicher Wandel in dieser Hinsicht setzte erst in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts ein, als in mehreren Städten entlang des Rheins und der Donau, ob nun in Köln, Mainz, Straßburg, Worms und Ulm, aber auch in Nürnberg und Regensburg den dort ansässigen »civis« beziehungsweise »burgaere« von den jeweiligen Burgherren oder Bischöfen immer mehr kaufmännische Privilegien sowie Rechte in der Stadtverwaltung eingeräumt wurden. Und dadurch entwickelte sich in diesen Städten neben der Handwerkerschicht ein zwar kleines, aber wohlhabendes bürgerliches Patriziat, das neben der städtischen Güterversorgung zugleich im Fernhandel eine immer größere Rolle spielte. Ein gutes Beispiel dafür bietet die Bischofsstadt Köln, die im späten Mittelalter aufgrund ihrer ständig wachsenden Einwohnerzahl zur größten Stadt Europas aufstieg. Obwohl auch dort die Kleriker unter Berufung auf jene Stelle im MatthäusEvangelium, in der Jesus die Wechsler aus dem Tempel vertreibt,1 die bürgerlichen Großverdiener lange Zeit als »Pfeffersäcke«, wenn nicht gar als »Zinswucherer« ver18

Vom Mittelalter zur frühen Neuzeit

achteten, mussten sie dieser Schicht, die sich durch den Erwerb der Ritterwürde sowie den Ankauf landadliger Besitztümer außerhalb der Stadt ein immer größeres gesellschaftliches Ansehen verschafften, mehr und mehr Zugeständnisse machen. Und zwar gilt das vor allem für den Kölner Fernhandelskaufmann Gerhardus, der nicht nur über das größte Vermögen der dortigen Patrizier verfügte, sondern zugleich das Amt des Zoll- und Münzmeisters in dieser Stadt bekleidete. Wohl das aufschlussreichste Dokument für diesen Wandel ist das Epos Der guote Gerhart, das Rudolf von Ems um 1220 verfasste. Sein Protagonist ist erstmals kein Ritter, sondern jener Gerhardus, den seine Neider wegen seines Reichtums gern als »Gerhart Unmâze« oder »Gerhardus Immoderatus« bezeichnen. Er verdankt seinen Silbermünzenschatz einem weit verzweigten, fast Gesamteuropa umfassenden Exportund Importgeschäft, beteiligt sich an dem seit der Zeit der Kreuzzüge aufblühenden Mittelmeerhandel und segelt sogar bis nach Russland, um dort gewinnbringende Geschäfte abzuwickeln. Aufgrund des dadurch erworbenen Reichtums gelingt es ihm schließlich, einen mit den adligen Ministerialen gleichgestellten gesellschaftlichen Rang einzunehmen und im städtischen Rat ein gewichtiges Mitspracherecht zu erhalten. Allerdings wird dabei auf herkömmliche Weise nach wie vor betont, dass der »guote« Gerhart in seinem Gewinnstreben stets eine moralische Haltung an den Tag legt, die im Zeichen der christlichen »humilitas« steht, indem er die unteren Bevölkerungsschichten mit üppigen »almuosen« unterstützt, um so den ärmeren Bürgern von Köln keinen Anlass zu geben, ihm »gir« oder »overstolz« vorzuwerfen.2 Doch dieses Werk blieb in gesellschaftspolitischer und ökonomiegeschichtlicher Hinsicht eine Ausnahme. In anderen Werken des frühen 13. Jahrhunderts wurde dagegen der »Gewinn als Lebensziel« unter theologischer Perspektive weiterhin schärfstens abgelehnt. So wetterte etwa der anonyme Autor der weit verbreiteten Spruchsammlung Freidanks Bescheidenheit, die ebenfalls um 1220 entstand, nach wie vor gegen die »richen« unter den Kaufleuten, denen er als christlicher Moraldidaktiker vorwarf, dass Gott nur drei rechtmäßige Bevölkerungsklassen, nämlich die Ritter, Kleriker und Bauern erschaffen habe, während die Handelsleute Geschöpfe des Teufels seien, die mit ihrem »wuocher« nur »liute unde lant« verschlingen wollen.3 Ihnen geschehe daher Recht, wenn ihre Körper nach dem Tode von den Würmern zerfressen würden und ihre Seelen in die Hölle kämen. Damit verglichen wirkt Rudolf von Ems fast wie ein Vorläufer halbwegs humanistischer Gesinnungen. Schließlich war der von ihm vertretene Kaufmannsgeist noch gemäßigt, noch voller Erbarmen mit den Notleidenden, während sich Freidanks Schrift wie eine Apologie des auf seine soziopolitische Monopolstellung pochenden Adels und des Klerus liest. Doch aufgrund der raschen Bevölkerungszunahme und der sich zusehends erweiternden Handelsbeziehungen nahm in vielen Städten des 14. und 15. Jahrhunderts das gesellschaftliche Selbstbewusstsein der dort lebenden bürgerlichen Schichten 19

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Abb. 3  Ständeordnung. Du bete, Du beschütze, Du arbeite. Klerus, Fürsten, Bauern. Abbildung in Pronostatio (1488) von Johannes Lichtenberger

von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ständig zu. Und zwar gilt das sowohl für die entlang des Rheins befindlichen Bischofsstädte Köln und Mainz als auch für das weit verzweigte Städtekonglomerat der sogenannten Hanse im norddeutschen Bereich sowie für die im süddeutschen Raum von den Staufern gegründeten sogenannten freien Reichsstädte, unter denen vor allem Nürnberg und Augsburg in wirtschaftlicher Hinsicht eine führende Rolle zu spielen begannen. Ihre Bürger, das heißt nicht nur die sich durch den verstärkten Geldverkehr bereichernden Fernhandelskaufleute und im Bankwesen tätigen Kreditverleiher, selbst die mit einer größeren Gesellenschar arbeitenden Handwerksmeister fühlten sich von nun an nicht mehr als willfährige Untertanen der jeweiligen Bischöfe oder Burgherren, sondern bereits als dem niederen Adel halbwegs ebenbürtig. Und das führte zwangsläufig zu einer gesellschaftlichen Aufwertung dieser Bevölkerungsschichten, die bisher aufgrund ihres allein auf materiellen Gewinn bedachten Geschäftsgebarens lange Zeit in den Augen vieler Geistlicher als »Teufelsgesellen« gegolten hatten. Was dieser Kaste dabei ideologisch zu Hilfe kam, waren zweierlei konfessionelle Neuerungen: zum einen die von der katholischen Kirche gepredigten Ablasszahlungen, mit denen sich auch bisher verachtete Handelsherren einen gesicherten Platz im Himmel erkaufen konnten, zum anderen jene lutherische Gnadenlehre, die auch gewinngierigen Kaufleuten ver20

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sicherte, dass sie, falls sie vor ihrem Ableben ihr unredliches Tun bereuen würden, auf ewig erlöst seien. Und es mangelte auch nicht an literarischen Werken, die aufgrund des 1450 von Johannes Gutenberg in Mainz erfundenen Druckereiwesens erstmals breitere bürgerliche Schichten in dieser Richtung bestärkten. So stellte etwa der 1509 in der Fugger-­Stadt Augsburg erschienene Prosaroman Fortunatus einen Kaufmann dar, der den von ihm errungenen Reichtum nicht mehr als erwucherten Gewinn, sondern als »tzeitlich guot«, wenn nicht gar als »kostlichen kaufmannsschatz« empfindet.4 Ähnliche Vorstellungen setzten sich zu gleicher Zeit in den vielfach aufgeführten Lehrstücken, wie dem Bürgerdrama Ein schönes und Evangelisch Spiel von dem verlornen sun (1540) von Jörg Wickram, durch, wo in den zu Reichtum gekommenen Städten eher der arbeitsame als der verschwenderische Sohn als vorbildliche Leitfigur hingestellt wurde. Als eins der wichtigsten Zentren dieser neuen Gesinnung im süddeutschen Bereich erwies sich dabei die freie Reichsstadt Nürnberg, die um 1500 bereits 45.000 bis 50.000 Einwohner besaß und wo es seit dem späten 14. Jahrhundert neben den im Fernhandel tätigen 40 Patriziern sowie unzähligen Kaufleuten, den sogenannten »Ehrbaren«, schon über 50 wohlflorierende Handwerksbetriebe gab. Viele der dort Arbeitenden waren anfangs im Metallgewerbe aktiv und stellten für die Ritterschaft Harnische, Schwerter und Speere sowie für die Bauern die von ihnen in der Landwirtschaft benötigten Geräte her. Ihre Kunstfertigkeit war schon so weit entwickelt, dass es im Jahr 1510 Peter Henlein gelang, die erste mechanische Uhr anzufertigen. Kein Wunder daher, dass die Nürnberger Mark in diesem Zeitraum in ganz Süddeutschland als eine der wichtigsten Münzen galt. Ja, manche der späteren Historiker haben im Hinblick auf die nicht nur in Nürnberg, sondern auch in anderen Gewerbe- und Handelsstädten dieser Ära, wie Augsburg, Lübeck und Köln, herrschenden marktwirtschaftlichen Verhältnisse bereits von einer proto- oder frühkapitalistischen Entwicklungsphase gesprochen, um darauf hinzuweisen, wie stark sich diese in einigen Städten seit dem 13. und 14. Jahrhundert entwickelnde Arbeitsund Handelsbetriebsamkeit von den noch mittelalterlichen Fron- und Tauschverhältnissen der vorangegangenen Jahrhunderte unterschied. Dass all dies auch kulturell zu gravierenden Veränderungen führen musste, ergab sich geradezu zwangsläufig. Werfen wir zuerst einen Blick auf die in diesen Städten seit dem 14. Jahrhundert zu beobachtenden Wandlungen im Kirchenbau. Während vorher im Bereich der romanischen Dome und Kirchen fast durchgehend eine monumentale Strenge und Schlichtheit im Sinne des imperialen Charakters des S­ acrum Imperium Germanicum vorgeherrscht hatte, die den dort betenden niederen Bevölkerungsschichten die nötige Ehrfurcht vor ihren Herren einflößen sollte, setzte sich bei vielen der neu entstehenden Kirchen des 14. und 15. Jahrhunderts jene viel21

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gliedrige, ins Kunstvolle stilisierte Bauweise durch, die man später als »gotisch« bezeichnet hat. Statt weitgehend düster wirkender romanischer Basiliken entstanden plötzlich in vielen Städten jene hoch aufragenden, mit vielen bunten Glasfenstern ausgestatteten Hallenkirchen, in denen sich die dort versammelten Bürger und Bürgerinnen durchaus frei und beseligt fühlen konnten. Ja, die Patrizier und Handwerkergilden taten ein Übriges, sie mit vielen holzgeschnitzten Altären auszustatten, die nicht nur fromm gemeint waren, sondern zugleich ihren zunehmenden Reichtum demonstrieren sollten. Dafür spricht obendrein, dass in ihnen nicht mehr der Imperator Jesus Christus, sondern – neben selbstbewussten bürgerlichen Stifterfiguren – meist die gnadenspendende Maria im Mittelpunkt steht, die als schöne Madonna durchaus den eleganten Patriziertöchtern der damaligen Städte zu ähneln scheint. Und dadurch wurden aus religiösen Kultobjekten zusehends kunstvoll angefertigte »Waren«, für deren Absatz die gleichen Marktgesetze wie für alle anderen Produkte galten.

Abb. 4  Jost Amman: Der Buchdrücker. In: Eygentliche Beschreibung aller Stände (1568) 22

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Vor allem in Nürnberg wurden zwischen 1480 und 1500 zahllose solcher Altäre angefertigt, was zu einer erheblichen Vermehrung der daran beteiligten Bildschnitzer, Schreiner, Schlosser und Vergolder führte, da nicht nur die Kirchenoberen, sondern auch viele der reichen Bürger bei derartigen Werkstätten kleine Hausaltäre bestellten, um sowohl ihre religiösen als auch ihre repräsentationsbewussten Ansprüche zu befriedigen. Ebenso prunkvoll, ja fast parvenühaft wirkt die Ölmalerei, die sich im gleichen Zeitraum entwickelte. Auch auf den Gemälden dieser Ära wirken die meisten Heiligen nicht mehr wie überweltliche Kultfiguren, welche die sie verehrenden Betrachter und Betrachterinnen in eine demütig anbetende Haltung versetzen sollen, sondern eher wie ins Diesseitige herabgestiegene Mitmenschen, die in einem städtischen Milieu zu leben scheinen, das durchaus der eigenen Umwelt der sie Besitzenden entspricht. Schon dadurch, dass man sie in höchst realistisch gemalten Interieurs oder heimatlich anmutenden Naturszenerien darstellte, wirken sie fast wie jene Menschen, denen man damals auch auf den Straßen von Nürnberg, in den Häusern der reichen Augsburger Handelsherren oder an den Ufern der Donau begegnete. Wieder war es Nürnberg, wo sich diese Kunstform am eindrucksvollsten entwickelte. Und zwar gilt das nicht nur für die vielen Kleinmaler dieser Stadt, sondern vor allem für einen Künstler wie Albrecht Dürer, der erst das Goldschmiedehandwerk erlernte, dann in der Werkstatt des Holzschnittmeisters und Altarherstellers Michael Wolgemut arbeitete, bevor er sich zum Maler und Grafiker ausbildete. Nach Italienreisen und der Lektüre humanistischer Schriften schuf zwar auch er weiterhin bei ihm bestellte Altäre und religiöse Grafiken, griff aber zugleich durchaus profane Themen wie Landschaftsdarstellungen, Tierbilder sowie Aktdarstellungen auf. Gleichzeitig malte er Porträts berühmter Gelehrter und Patrizier, unter anderem von Hieronymus Holzschuher, Oswald Krell, Willibald Pirckheimer, Ulrich Starck, ­Lorent Sterck und Konrad Verkell, deren Realismus alles mittelalterlich Typisierende oder religiös Verehrende weit hinter sich ließ. Ja, als einer der ersten bürgerlichen Maler verstand er sich bereits nicht mehr als ständisch gebundener Handwerker, sondern als freischaffender Künstler, wenn nicht geradezu als »Alter Deus«, der sich nicht mehr an die Gebote der allein selig machenden kirchlichen Ordovorstellungen gebunden fühlte. Damit war unter den marktwirtschaftlichen Bedingungen dieser Jahre eine Form der persönlichen Selbstrealisierung erreicht, welche manche Nürnberger Handwerker sogar beflügelte, sich zu Meistersingerbünden zusammenzuschließen, was im Jahrhundert zuvor noch undenkbar gewesen wäre. Doch durch die in den gleichen Jahrzehnten ausbrechenden Bauernaufstände, den Beginn der lutherischen Reformbemühungen, die Türkenkriege, die militärischen Auseinandersetzungen mit Frankreich, den Aufstand verschiedener Fürsten gegen die Kaisermacht sowie 23

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die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den katholisch gebliebenen und den protestantisch gewordenen Fürsten büßten die freien Reichsstädte ihre im späten 15. Jahrhundert errungene ökonomische Machtstellung allmählich wieder ein. Schließlich gingen aufgrund all dieser Zwistigkeiten Handel und Gewerbe zusehends zurück, während das herrschaftliche Autonomiestreben der einzelnen Fürsten ständig zunahm. 1555 wurde zwar auf dem Augsburger Reichstag unter der Formel »Cuius regio, eius religio« ein für alle Landesteile des Heiligen Römischen Reichs geltender Religionsfriede vereinbart, der es jedem Fürsten erlaubte, die Glaubensausübung innerhalb seines Staats selbst zu bestimmen, was jedoch keineswegs zu einem allgemeinen Landfrieden führte. Im Gegenteil, die protestantischen und die katholischen Fürsten schlossen sich darauf in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu sich jeweils feindlich gegenüberstehenden Bünden oder Ligen zusammen, was schließlich 1618 zum Ausbruch jenes Kriegs führte, der dreißig Jahre dauern sollte und zu einer allgemeinen Verwüstung des Heiligen Römischen Reichs führte. Von den 16 Millionen Einwohnern und Einwohnerinnen dieses monströsen Staatenbunds überlebten schätzungsweise nur rund 10 Millionen. Obendrein waren mehrere Städte zerstört worden und große Landstriche in den Naturzustand zurückgefallen, was zu einem weitgehenden Zusammenbruch der marktwirtschaftlichen Verhältnisse geführt hatte. Die Einzigen, die 1648 aus all dem beim Friedensschluss von Münster und Osnabrück als Sieger hervorgingen, waren deshalb die verschiedenen Fürsten, die sich aufgrund der geschwächten Kaisermacht von nun an als autonome Herrscher in ihren Landesteilen fühlten, während das sich 150 Jahre zuvor als ökonomische und kulturelle Aufsteigerklasse empfindende Bürgertum einen merklichen Rückschlag erlebte und sich auch große Teile der Bauern, die immer noch 80 Prozent der Bevölkerung bildeten und über deren kulturelles Brauchtum sich wenig oder nichts ermitteln lässt, in den Zustand der Fronarbeit oder gar der Leibeigenschaft zurückgeworfen sahen. Absolutistische Machtdemonstrationen nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs

Was sich nach dem Abschluss des Westfälischen Friedens in den folgenden 100 Jahren im Heiligen Römischen Reich in innenpolitischer Hinsicht abspielte, haben spätere Historiker häufig als den Sieg des einzelfürstlichen Absolutismus über die kaiserliche Zentralgewalt charakterisiert. Das ist durchaus zutreffend. Schließlich löste sich das schon vorher relativ unzusammenhängende Sacrum Imperium Germanicum nach 1648 endgültig in jenes Konglomerat von 100 Fürstentümern und 1500 kleineren Herrschaftsgebieten auf, das ein Staatsrechtler wie Samuel von Pufendorf 1667 in seiner Schrift De statu imperii Germanici als ein »irregulare aliquid 24

Absolutistische Machtdemonstrationen nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs

corpus et monstro simile« bezeichnete,5 welches man kaum noch als ein staatlich zusammenhängendes Gebilde bezeichnen könne. Innenpolitisch äußerte sich das vor allem in dem Verhalten der einzelnen Fürsten in den folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen. Ob nun bei der Verteidigung der rheinischen Gebiete gegen die französische Krone (1674–1689), im Spanischen Erbfolgekrieg (1711–1714), im Österreichischen Erbfolgekrieg (1740–1741) und dann im Siebenjährigen Krieg Friedrichs II. von Preußen gegen die deutsche Kaiserin Maria Theresia (1756–1763), in all diesen Kriegen hatten die verschiedenen Herrscher nicht mehr das Wohl des Heiligen Römischen Reichs, sondern vornehmlich ihre dynastischen Eigeninteressen im Auge, wobei es ihnen in erster Linie um die Erbfolge innerhalb ihrer Länder oder um die Eroberung ökonomisch einträglicher Gebiete ging. Ja, die brandenburgischen und sächsischen Kurfürsten stiegen in diesem Zeitraum durch die Besitznahme Ostpreußens beziehungsweise den Erwerb der polnischen Krone sogar zu von der Kaisermacht unabhängigen Königen auf, während die Herzöge von Braunschweig-Lüneburg durch eine Personalunion mit England ebenfalls Könige wurden und sich damit eine ähnliche Selbstmächtigkeit verschafften. Die gleichen dynastischen Eigeninteressen vertraten die meisten Fürsten in ökonomischer Hinsicht, indem sie das in ihren Staaten vorherrschende Münzwesen unter ihre Kontrolle brachten, die bisherigen Landstände entmachteten, von ihren bürgerlichen Untertanen höhere Steuern verlangten und zugleich immer mehr Bauern zu Leibeigenen erniedrigten. Die wirtschaftliche Machtstellung der älteren freien Reichsstädte, die bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und dann im Verlauf des Dreißigjährigen Kriegs stark zurückgegangen war, verlor daher immer stärker ihre vorherige Bedeutsamkeit. Die Zentren der neuen Staatsgewalt bildeten fortan jene Residenzstädte, wo sich die Hofhaltung der verschiedenen Landesfürsten befand, welche sich dort zusehends als absolutistisch regierende Souveräne aufspielten, was von breiten Schichten der Bevölkerung nach einer Zeit verheerender kriegerischer Auseinandersetzungen und aus Furcht vor neuen chaotischen Verhältnissen durchaus begrüßt oder zumindest geduldet wurde. Was sich darum in vielen deutschen Fürstentümern dieser Ära als ein von staatlicher Seite her gefördertes Wirtschaftssystem durchsetzte, war weitgehend ein auf merkantilistisch operierenden Manufakturen beruhendes Gewerbewesen, wodurch der Einfluss der seit dem 15. Jahrhundert bestehenden frühbürgerlichen Patrizier, Zünfte und Gilden immer weiter in den Hintergrund gedrängt wurde. Das Hauptziel dieser staatlichen Interventionspolitik war in der Folgezeit das Streben nach größtmöglicher Förderung der ökonomischen Produktionskräfte innerhalb der eigenen Landesgrenzen sowie die Erweiterung von Überschüssen im Außenhandel. Zur Durchsetzung dieser Bestrebungen unterstützten die absolutistisch regierten Einzelstaaten alles, was den Export von Fertigwaren beförderte und den Import von Gü25

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tern aus anderen Ländern unterband, um so das nötige Münzeinkommen zur Bezahlung der landeseigenen Söldnerheere, des ständig anwachsenden Beamtenapparats sowie der Bautätigkeit im Rahmen ihrer absolutistischen Machtdemonstration aufzubringen. Deshalb wandten sich fast alle Fürsten entschieden gegen den Versuch Kaiser Leopolds I., in den verschiedenen Territorien des nur noch in seiner Namensgebung bestehenden Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation eine einheitliche Wirtschaftsordnung durchzuführen.

Abb. 5  Werkstatt von Louis de Silvestre: August der Starke (1723) 26

Absolutistische Machtdemonstrationen nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs

Ja, nicht nur politisch und ökonomisch hatten die verschiedenen Landesherren vornehmlich ihr Eigeninteresse im Auge, sondern hielten zur Festigung ihrer Machtpositionen auch theologisch in aller Entschiedenheit an ihren auf dem Gottesgnadentum beruhenden katholischen, protestantischen oder reformierten Glaubenshaltungen fest. Dafür spricht, dass fortan in den katholischen Kirchen den an ihrer »Bekümmernuß« leidenden Untertanen weiterhin lediglich ein ins himmlische Jenseits verweisender Trost gepredigt wurde, während den braven Gläubigen in den protestantischen Kirchen meist vorgehalten wurde, sich von der weltlichen Superbia nicht zu einem unchristlichen Bereicherungsdrang verführen zu lassen. Wie ungeschminkt man dabei verfuhr, beweisen unter anderem jene Kantaten, die mit den Zeilen beginnen: »Kann ich Jesum mir zum Freunde machen / So gilt der Mammon nichts bei mir.«6 Rein ökonomisch gesehen wirkten sich diese einzelstaatlichen Machtbestrebungen folgendermaßen aus. Schon dass sich die verschiedenen Territorialherren gegen eine einheitliche Münzordnung wandten und in ihren Ländern eine eigenstaatliche Währung einführten, bewirkte eine zunehmende Auflösung der ohnehin lockeren Wirtschaftsbeziehungen innerhalb des Heiligen Römischen Reichs. Obendrein ließen viele Fürsten zur Abwicklung größerer Geldgeschäfte ihnen unterstehende Banken, wie die 1698 in Leipzig gegründete Banco di Depositi sowie die 1706 in Wien gegründete Stadtbank, errichten und unterstützten zugleich neu entstehende Manufakturen zum Teil durch eine großzügige Befreiung von Steuern und Zöllen. Doch nicht allein das. So bewogen etwa die preußischen Herrscher bis 1760 rund 20.000 französische Hugenotten, in ihr Land zu kommen, da sich unter ihnen besonders viele hochqualifizierte Gewerbetreibende im Bereich der Porzellan-, Modeartikel- und Seideherstellung befanden, mit denen man die Exportindustrie anzukurbeln hoffte. Außerdem versuchten sie im gleichen Zeitraum, auch eine beachtliche Reihe ausländischer Bankiers, Kaufleute und Tuchhersteller durch besondere Privilegien in ihr Land zu locken. Doch die wichtigste Rolle innerhalb dieser kommerziellen Wandlungsprozesse spielten dabei, wie gesagt, die zahlreichen staatlich unterstützten Manufakturen. In ihnen arbeiteten oft mehrere Dutzend Menschen, welche die jeweiligen Waren bereits in einer spezialisierten Arbeitsteilung herstellten, wodurch eine höhere Produktivität erzielt wurde als in den traditionellen Handwerksbetrieben, was zwangsläufig zu einer Verarmung der bisherigen Zunftmeister und Gesellen führte. Um diesen Umwandlungsprozess voranzutreiben, versuchten manche Könige und Fürsten, falls sie keine inländischen oder ausländischen Unternehmer fanden, diese Art der Gewerbetätigkeit sogar mit der Gründung allein ihnen unterstehender Manufakturen zu befördern. Die gleiche Absicht lag den vielen Importverboten zugrunde, die von verschiedenen Fürsten dieser Ära im Hinblick auf andere Staaten des Heiligen 27

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Römischen Reichs sowie auf bereits voll entwickelte Wirtschaftsmächte wie Frankreich, England und die Niederlande erlassen wurden, welche ebenfalls der Stärkung und Ausweitung der eigenen ökonomischen Produktionsverhältnisse dienen sollten. Wie sich dieser politische und merkantilistische Absolutismus auf die Kultur dieser sich zu einer größeren Autonomie durchringenden Staaten auswirken würde, lässt sich aufgrund des bisher Gesagten leicht vorhersehen. Während in dem Jahrhundert vor dem Dreißigjährigen Krieg die meisten höheren Kulturbestrebungen von den gebildeten Bürgerschichten der freien Reichsstädte ausgegangen waren, waren es jetzt die Hofhaltungen in den Residenzstädten der absolutistisch auftretenden Fürsten, welche selbst die höheren Künste zur Schaustellung ihrer neuen politischen und wirtschaftlichen Machtstellung heranzogen. Demzufolge gab es gegen Ende des 17. Jahrhunderts innerhalb des immer stärker auseinanderfallenden Heiligen Römischen Reichs etwa 80 derartiger Residenzen, die nicht nur in politischer und ökonomischer Hinsicht die Zentren der jeweiligen Fürstentümer bildeten, wo alle wichtigen Verwaltungsentscheidungen getroffen wurden, sondern die sich zugleich als repräsentative Schauplätze der neuen Machtfülle der einzelnen Erbdynastien gaben, mit denen die betreffenden Herrscher ihre Untertanen in den Stupor der Bewunderung versetzen wollten. Wie der in Versailles residierende französische König Ludwig XIV., von dem das Diktum überliefert ist »Der Staat bin ich!«, wollten auch viele der deutschen Fürsten in erster Linie als Alleinherrscher angesehen werden. Daher sparten selbst sie an nichts, um ihre Hofhaltungen, wo oft Hunderte von Bediensteten angestellt waren, mit pompös wirkenden Schlössern, Orangerien, Ballhäusern, Parkanlagen und Statuen auszustatten. Außer dem Thronsaal des Fürsten und der Hofkapelle, welche die altbewährte Symbiose von Thron und Altar herausstellen sollten, gab es in diesen Schlössern zugleich weiträumige Prachtsäle, in denen an bestimmten Feiertagen – ob nun Verlobungen, Hochzeiten, Herrschaftsjubiläen, Empfängen hochgestellter Persönlichkeiten oder anderen höfischen Anlässen – üppige Feste, Theateraufführungen, Ballettinszenierungen, Konzerte oder Opernspektakel stattfanden, die an Ausstattung, Kostümumzügen oder Feuerwerken alles übertrafen, was es bisher an höfischen oder aristokratischen Feierlichkeiten und Belustigungen gegeben hatte. Als Vorbild diente dabei häufig das 1670 vollendete Schloss Versailles, das in seinem barock überladenen Baustil und seinen die Landschaft kilometerweit durchschneidenden Sichtachsen die Allmacht des dort thronenden Herrschers über ganz Frankreich demonstrieren sollte. Im frühen 18. Jahrhundert sprechen dafür im Heiligen Römischen Reich nicht nur die mit vielen Paraderäumen und weit ausladenden Treppenhäusern versehenen Barockbauten wie das Schloss Belvedere (ab 1714) und das Schloss Schönbrunn (ab 1743) in Wien, sondern auch das Schloss Schleißheim (ab 1701), der Ausbau von Schloss Nymphenburg (bis 1725) bei München, der 28

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­Dresdner Zwinger (ab 1709), das Schloss Weißenstein (ab 1711) bei Bamberg, die Würzburger Residenz (ab 1720), das Schloss Bruchsal (ab 1720) und das Schloss Brühl (ab 1725), während sich danach in kleineren Lustschlössern wie Sanssouci (ab 1745) bei Potsdam und Schloss Wilhelmsthal (ab 1743) bei Kassel eher die ins Intime übergehende Rokokomode als stilbestimmend durchsetzte. Ja, selbst viele der kleineren Herzöge oder Markgrafen ließen sich in diesem Zeitraum prächtige Schlösser und Parkanlagen errichten, um nicht von den anderen Fürsten als minderwertig oder von ihren Untertanen als nicht machtvoll genug angesehen zu werden und so ihren Anspruch auf Alleinherrschaft einzubüßen.

Abb. 6  Johann Bernhard Fischer von Erlach: Entwurf für Schloss Schönbrunn in Wien (1725)

Und zwar ist für alle diese Bauten typisch, dass in ihnen stets eine an italienischen oder französischen Vorbildern orientierte Dekorationssucht vorherrscht, um somit irgendwelchen älteren spezifisch deutschen Stilhaltungen aus dem Wege zu gehen, die auf eine reichsverbundene Einstellung hingewiesen hätten. Im Gegenteil, all jene Fürsten wollten sich damit nicht als deutsche, sondern als autonome, international anerkannte Alleinherrscher ausweisen. Daher stellten sie als Baumeister neben deutschen Architekten, wie Johann Bernhard Fischer von Erlach, Balthasar Neumann und Johann Dietzenhofer, vor allem italienische oder französische Baumeister, Maler und Dekorateure an und versuchten, sich zugleich in ihrer Lebenshaltung, Sprachgebung und ihren musikalischen Interessen den in diesen beiden 29

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Ländern herrschenden höfischen Verhältnissen anzupassen. Auf sprachlichem Gebiet äußerte sich das im Bereich der absolutistisch regierten Fürstenhäuser vor allem im Hinblick auf das Militärwesen sowie die höfische Etikette und Esskultur, was zu einer zunehmenden Überflutung des deutschen Wortschatzes mit französischen Einsprengseln führte, wodurch der Einfluss der verschiedenen Sprachgesellschaften des frühen 17. Jahrhunderts, die auf eine Reinhaltung der deutschen Sprache gedrungen hatten, zwangsläufig zurückging oder völlig aufhörte. Kein Wunder daher, dass an fast keinem der damaligen Höfe der im gleichen Zeitraum entstehenden deutschen Literatur eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Dieselben Tendenzen setzten sich in der absolutistischen Schlosskultur auf musikalischem Gebiet durch. Zugegeben, im Bereich der protestantischen Kirchen blieb es weiterhin beim deutschsprachigen Choralgesang und den dazwischengeschalteten Kantaten und Oratorien, aber an den Höfen, wo es bisher keine vollentwickelte Musikkultur gegeben hatte, setzte plötzlich das Bestreben nach einem üppigen italienischen Opernwesen ein, was zur Herausbildung zahlreicher Hofkapellen und Hoforchester führte, um auch auf diesem Gebiet mit der internationalen höfischen Prunk- und Spektakelkultur Schritt halten zu können. Solche Orchester entstanden in Residenzstädten wie Dresden um 1697, in Wien um 1700, in Mannheim um 1720, in Berlin um 1720, in Köthen um 1720, in Stuttgart um 1737, in Bayreuth um 1740 und in Anhalt-Zerbst um 1757, wo ungeachtet der hohen Kosten vorwiegend an neapolitanischen oder venezianischen Vorbildern geschulte Opern oder als höfische Divertissements gedachte Instrumentalkonzerte gespielt wurden, um sich auch auf diesem Gebiet als international ebenbürtig zu erweisen. Dafür zogen viele deutsche Fürsten meist italienische Komponisten heran, und das nicht nur, weil sich die Oper dort wesentlich früher entwickelt hatte, sondern weil sie zugleich den Eindruck des Deutschbetonten vermeiden wollten, der lediglich einer sie bedrohenden nationalen Gefühlsaufwallung zugute gekommen wäre. Zu den führenden Opernkomponisten an den damaligen Höfen des Heiligen Römischen Reichs gehörten demzufolge in diesem Zeitraum vor allem Giovanni Bontempi, Francesco Cavalli, Pietro Cesti und Agostino Steffani. Als Textvorlagen ihrer Werke benutzten sie fast ausschließlich italienische Libretti, meist von Pietro Metastasio, in denen es mehrheitlich um die von den Fürsten gewünschten Haupt- und Staatsaktionen ging. Um die Dominanz des jeweiligen Souveräns herauszustreichen, erwies sich in ihnen stets der zwar machtvoll auftretende, aber letztlich »großmütige« Herrscher in allen Lebenslagen als die Zentralfigur. Personen nichthöfischer Abstammung traten dagegen in solchen Werken fast nur als niedrig gesinnte Schurken oder komische Tölpel auf. Ja, am Schluss folgten manchmal sogar noch Huldigungen auf das jeweils regierende Herrscherpaar, um nur ja keinen Zweifel am zutiefst affirmativen Charakter derartiger Aufführungen aufkommen zu lassen. 30

Absolutistische Machtdemonstrationen nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs

So viel erst einmal zu jener höfischen Kultur in dem Jahrhundert nach dem Dreißigjährigen Krieg, die vornehmlich auf einem politischen und merkantilistischen Herrschaftswesen beruhte, in dem sowohl die in gedrückten Verhältnissen lebenden Stadtbewohner als auch die Mehrheit der leibeigenen Bauern von den jeweiligen Fürstenhäusern und den mit ihnen verbundenen Adelskreisen gnadenlos ausgebeutet wurden. Doch nun zu der Frage: Wie verhielt sich eigentlich das gebildete, im Staatsdienst stehende oder weiterhin marktwirtschaftlich tätige Bürgertum in kultureller Hinsicht während dieses Zeitraums? Etwas pauschalisierend gesagt, passte es sich dem höfischen Kulturwesen weitgehend an. Und zwar gilt das selbst für die von den Höfen kaum ins Auge gefasste Literatur. Ob nun im Drama, der Lyrik oder dem Roman, überall kam es zu einem geradezu schwülstig wirkenden Emblem- und Metaphernreichtum, der durchaus an den dekorativen Überschwang der damaligen Schlossarchitektur sowie die vielfachen Echowirkungen und brillanten Koloraturarien der sogenannten Barockmusik gemahnt. So empfahl Georg Philipp Harsdörffer schon 1653 in seinem Poetischen Trichter den Autoren seiner Zeit, in ihren Dichtwerken möglichst viele »Poetische Beschreibungen / verblümte Reden und kunstzierliche Ausbildungen« zu verwenden, um so ein Abgleiten ins »Niedrige« zu verhindern.7 Besonders deutlich äußerte sich diese unverhüllte Tendenz im Bereich der Tragödie, in dem weitgehend ein »Genus grandiloquus« dominierte, mit dem man, wie in den Werken von Andreas Gryphius, allen gesellschaftlich höherstehenden Personen eine ans Erhabene grenzende Bedeutsamkeit zu verleihen suchte. Der gleiche Oberschichtenbezug herrschte in vielen jener Erzählwerke, die sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts als heroische oder höfisch-galante Romane ausgaben. Wohl das bekannteste Beispiel dieser Gattung ist der emblemreiche und zugleich in einer manieristisch verzierten Sprachgebung geschriebene Roman Großmütiger Arminius nebst seiner Durchlauchtigsten Thusnelda in einer Staats-, Liebes- und Heldengeschichte (1689) von Daniel Casper Lohenstein, den er in ehrfürchtiger Ergebenheit Kaiser Leopold I. widmete. Es ist daher nicht verwunderlich, dass viele Schriftsteller dieser Ära, die zumeist in fürstlichen, landesständischen oder städtischen Diensten standen und mehrheitlich aus wohlhabenden und zugleich akademisch gebildeten Familien stammten, aufgrund mangelnder widersetzlicher Ideologien den herrschenden Fürstenstaat als eine gottgewollte Ordnung akzeptierten. Als Teil einer »Nobilitas litteraria« empfanden sie es demzufolge als ihr höchstes Statussymbol, von der höfischen Gesellschaft wahrgenommen oder gar geehrt zu werden. Deshalb versahen sie ihre Werke gern à la Lohenstein mit untertänigsten Dedikationen oder gar Lobpreisungen der jeweiligen Landesherren, was sowohl für die unzähligen Casualcarmina anlässlich herrschaftlicher Festivitäten als auch für ihre eher anspruchsvolleren Romane, Dramen und Gedichtsammlungen gilt. Für die unteren Bürgerschichten geschriebene Werke über31

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sahen sie dagegen geflissentlich. Das gilt vor allem für den als »grobianisch« geltenden Roman Der Abentheuerliche Simplicius Simplicissimus Teutsch (1668) von Hans Jakob Christoffel Grimmelshausen sowie die auf ihn folgenden simplizianischen Schriften von Johann Beer, Christian Weise und Christian Reuter, in denen es zuweilen nicht an satirischen Ausfällen gegen das »französelnde« Alamode-Wesen unter den sich betont höfisch gebenden bürgerlichen Oberschichten mangelte. Ähnliche Entwicklungen lassen sich im Musikleben dieser Ära beobachten. Auch hier versuchte sich das Bürgertum – neben den weiterbestehenden katholischen Messen und dem protestantischen Choral- und Kantatengesang – ebenfalls dem höfischen Musikwesen anzupassen. So kam es beispielsweise 1678 in der immer noch bedeutenden Handelsmetropole Hamburg am Rande des Gänsemarkts zur Gründung eines bürgerlichen Opernhauses, in dem jedoch lediglich die üblichen Hofopern mit ihren pompösen Haupt- und Staatsaktionen aufgeführt wurden. Die dortigen Adligen und Patrizier wussten das zwar durchaus zu goutieren, die eher marktwirtschaftlich eingestellten Kaufmannsfamilien fanden das Ganze jedoch zu kostspielig, worauf dieses Opernhaus zweimal Konkurs anmelden musste und schließlich wieder einging. Mehr Erfolg hatte dagegen Dieterich Buxtehude, der die Lübecker Kaufleute am frühen Morgen, bevor sie in die Börse gingen, häufig mit Orgelwerken unterhielt und zugleich eine Reihe von Abendmusiken veranstaltete, bei denen neben geistlichen Oratorien auch weltliche Werke erklangen. Doch aufs Große und Ganze gesehen, hatte es die nichtkirchliche Musik in diesem Zeitraum noch schwer, eine größere Aufmerksamkeit unter dem gehobenen Bürgertum auf sich zu ziehen. Gut, es gab neben den Konzerten an den Höfen, die oft während festlicher Diners stattfanden und daher als Tafelkonfekt oder Tafelkonsort bezeichnet wurden, bereits in den Häusern vermögender Kaufleute oder angesehener Gelehrter schon jene als »Collegia musica« oder »Convivia« geltenden Musikabende, zu deren Leitung häufig die Kantoren der jeweiligen Gemeindekirchen herangezogen wurden. Die ersten Collegien dieser Art entstanden erwartungsgemäß um 1660 in bedeutenden Handelsstädten wie Hamburg, Frankfurt und Leipzig. Einige Zeit später schlossen sich auch Studenten zu derartigen Spielgruppen zusammen, wofür das 1701 von Georg Philipp Telemann in Leipzig gegründete »Collegium musicum« das bekannteste Beispiel ist. Ja, in dieser Stadt kam es mehrere Jahre später durch die Gründung des dortigen Gewandhausorchesters sogar schon zu einer nichthöfischen Konzertvereinigung, was darauf auch anderswo zu einer allmählichen Professionalisierung bürgerlicher Musikausübungen führte. Allerdings sollte es noch eine Weile dauern, bis sich derartige hochkulturelle Ambitionen selbst in anderen Städten des 18. Jahrhunderts bemerkbar machten. Dazu brauchte es marktwirtschaftlich und ideologisch noch zweier Entwicklungsschübe, die dem bis dahin weitgehend entmündigten Mittelstand den Mut zur Herausbildung 32

Bürgerliche Emanzipationsbestrebungen in den Staaten des aufgeklärten Absolutismus

einer eigenen, selbstbewussten »Kultur« gaben. Und das waren der sich aus den Fesseln des Manufakturwesens allmählich befreiende wirtschaftliche Freihandel sowie die Wirkung französischer und englischer Aufklärungsschriften. Erst durch sie entstand in manchen Staaten des Heiligen Römischen Reichs eine zwar zahlenmäßig geringe, aber höchst bedeutsame Schicht bürgerlicher Aufklärer, deren liberale, ja manchmal fast ins Jakobinische übergehende Werke und Aktivitäten neben ideologischen Auswirkungen zugleich die Entstehung einer spezifisch bürgerlichen Kunst und Kultur begünstigten. Bürgerliche Emanzipationsbestrebungen in den Staaten des aufgeklärten Absolutismus

Während in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in fast allen Ländern des Heiligen Römischen Reichs Undeutscher Nation, wie man diesen in Hunderte autonomer oder halbautonomer Territorien gespaltenen Staatenbund eigentlich nennen sollte, noch ein machtvoll durchgesetzter fürstlicher Absolutismus geherrscht hatte, begann sich danach hie und da allmählich eine ideologische Neuorientierung auszubreiten, die spätere geistesgeschichtlich orientierte Historiker fast durchgehend als »aufgeklärten Absolutismus« charakterisiert haben. Und zwar wiesen sie dabei im Hinblick auf diesen Wandlungsprozess meist auf den Einfluss jener liberal gestimmten französischen und englischen Theoriebildungen in den Schriften von Voltaire, Denis Diderot und Jean-Jacques Rousseau sowie David Hume und John Locke hin, der in einigen deutschen Staaten zu beobachten sei und bei manchen der dortigen Intellektuellen eine ähnliche Gesinnung ausgelöst habe. Das trifft in vielen Fällen durchaus zu. Andere vornehmlich die politischen Verhältnisse ins Auge fassende Historiker haben dafür eher die ins Aufklärerische zielenden Bemühungen einzelner, sich als »erste Diener ihres Staates« ausgebender Fürsten, wie Friedrich II. von Preußen und Joseph II. von Österreich, herangezogen. Auch dafür lassen sich einige triftige Argumente ins Feld führen. Schließlich bemühten sich beide dieser Herrscher im Sinne der Aufklärung, als »gekrönte Philosophen« die bisherigen Machtbefugnisse der jede freidenkerische Gesinnung verdammenden Kirchen, ob nun der protestantisch-orthodoxen in Preußen oder der stockkatholischen in Österreich, in ihren Ländern erheblich einzudämmen. Von Friedrich II. ist sogar der Ausspruch überliefert: »Bei mir kann jeder glauben, was er will, wenn er nur ehrlich ist«.8 Und auch Joseph II. erließ ein Toleranzedikt nach dem anderen, das Protestanten und Juden erstmals erlaubte, ihren Glauben öffentlich auszuüben. Außerdem hob er fast 200 Klöster auf, verbot die Todesstrafe und schaffte die Leibeigenschaft ab. Allerdings sollte man all das nicht nur positiv oder gar verklärend sehen, sondern auch die relativ gleichbleibende Herrschsucht dieser beiden Monarchen nicht 33

Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation

unterschlagen, die trotz ihrer vorgeblichen Duldsamkeit keineswegs aufhörten, auf ihre absolutistische Machtstellung zu verzichten. So zögerte etwa Friedrich II. überhaupt nicht, »sein Preußen« im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) durch die Eroberung Schlesiens in einen Staat umzuwandeln, der ihm aufgrund einer dadurch vollzogenen Gebietserweiterung zugleich die Chance bot, auf internationaler Ebene wesentlich machtvoller als zuvor aufzutreten. Und zwar tat er das mit einem von ihm angeheuerten Söldnerheer, während die preußischen Bürger weiterhin in staatlichen Manufakturen arbeiteten oder ihren eigenen kleineren Geschäften nachgingen, ohne sich groß um irgendein auch sie betreffendes »Staatswohl« oder irgendwelche höheren Interessen zu kümmern. Die meisten hatten aufgrund der weiterbestehenden absolutistischen Zustände selbst in den sogenannten »aufgeklärten Staaten« nur ihr materielles oder familiäres Eigeninteresse im Auge. Wenn daher die preußische Armee in den Schlesischen Kriegen eine Niederlage erlebte, hieß es in diesen Kreisen lediglich, als ob sie das kaum etwas angehe: »Der König hat eine Bataille verloren.«

Abb. 7  Daniel Nikolaus Chodowiecki: Toleranz (1791) 34

Bürgerliche Emanzipationsbestrebungen in den Staaten des aufgeklärten Absolutismus

Die Ausgangsposition für bestimmte Emanzipationsbestrebungen war deshalb selbst in Preußen und Österreich für aufklärerisch eingestellte bürgerliche Intellektuelle von Anfang an nicht besonders günstig. Es gab zwar in Berlin einen Autor wie Friedrich Nicolai, der ab 1765 in seiner Allgemeinen Deutschen Bibliothek derartige Ideen unterstützte und sich in seinen Romanen Sebaldus Nothanker (1773–1776) über die kirchliche Orthodoxie und in Die Freuden des jungen Werthers (1775) über irgendwelche Ausflüchte ins Empfindsame lustig machte. Aber selbst er musste erkennen, dass die Zahl derer, die im Heiligen Römischen Reich – unterstützt von liberal gesinnten Verlegern wie Johann Friedrich Cotta, Georg Joachim Göschen und Philipp Erasmus Reich – mit den Ideen der Aufklärung sympathisierten, in der Folgezeit kaum zunahm und von nicht mehr als etwa 30.000 bürgerlichen Intellektuellen geteilt wurden, während die restlichen »2.000.000 Menschen«, die »außer ihnen deutsch reden«, wie er schrieb, überhaupt kein »Bedürfnis« hätten, sich an irgendwelchen Bildungsbemühungen zu beteiligen.9 Selbst in Wien blieb die Zahl derer, die sich während der josephinischen Tauwetterperiode, wie der reformgesinnte Joseph von Sonnenfels, die 1781 gegründete Freimaurerloge »Zur wahren Eintracht« sowie Johann Pezzl in seinem Roman Faustin oder Das philosophische Jahrhundert (1783), im Sinne der Aufklärung für eine Wendung ins Lichtvollere einsetzten, relativ gering, da ein Großteil der bürgerlichen Schichten weiterhin in ärmlichen Verhältnissen lebte, keinen Zugang zu einer höheren Bildung besaß und deshalb die Vormacht des Adels und des Klerus nach wie vor als gottgewollt hinnahm. Ja, nach dem Beginn der Französischen Revolution im Jahr 1789, deren aufrührerische Parole »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« in den nächsten zwei/drei Jahren in den linksrheinischen Gebieten, in Wien und in Hamburg einige der deutschen Aufklärer sogar zu jakobinischen Gefühlsaufwallungen beflügelte, griffen die fürstlichen Einzelherrscher innerhalb des immer stärker auseinanderfallenden Heiligen Römischen Reichs Undeutscher Nation, wie etwa in Preußen Friedrich Wilhelm II. und in Österreich Franz II., unverzüglich zu einer Reihe von Unterdrückungsmaßnahmen, um solche »Unruhestörer« so umgehend wie nur möglich zu knebeln. Und damit kam der nur mühsam angelaufene und in vielen Teilen Deutschlands immer wieder unterdrückte Aufklärungsprozess – für den sich unter anderen Philosophen wie Christian Wolff und dann Christian Garve, Moses Mendelssohn, Johann Gottfried Herder und vor allem Immanuel Kant, Pädagogen wie Johann Bernhard Basedow, Joachim Heinrich Campe und Johann Heinrich Pestalozzi, Sozialkritiker wie Christian Wilhelm von Dohm und Theodor Gottlieb von Hippel, Dichter wie Johann Christoph Gottsched und Gotthold Ephraim Lessing, die Mitglieder der Sturm-und-Drang-Bewegung und des Göttinger Hains, ein Aufrührer wie der junge Friedrich Schiller in seinen Dramen Die Räuber (1781) und Kabale und Liebe (1784) sowie der Frankfurter Reichsbürger Johann Wolfgang 35

Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation

Goethe mit Stücken wie Götz von Berlichingen (1773) und Egmont (1788) eingesetzt hatten – erst einmal zum Stillstand. Während die meisten dieser Autoren mit ihren Schriften, aufgrund eines mangelnden Zentrums derartiger Bestrebungen, schon vorher nur eine relativ kleine Schicht der mit ihren Ideen sympathisierenden bürgerlichen Intellektuellen sowie einige ihnen wohlwollende kleinere Fürsten oder Vertreter des niederen Adels erreicht hatten, sahen sie sich in den frühen neunziger Jahren immer schärferen Zensurmaßnahmen gegenüber und waren zugleich in den Jahren 1793/94 über jene Schreckensmeldungen über die Gräueltaten der Pariser Jakobiner entsetzt, die ihren Glauben an das »Gute im Menschen« erschütterten. Zugleich wurde ihnen zusehends bewusst, dass sie letztlich Außenseiter innerhalb des damals existierenden Bürgertums geblieben waren, welches, wie gesagt, nach wie vor in recht ärmlichen Verhältnissen lebte und obendrein aufgrund seiner mangelnden Bildung von all dem, was sich in den höheren Regionen des Geistes und der Kultur abspielte, kaum etwas wahrnahm, sondern ganz andere Sorgen, nämlich rein materielle hatte. Diese Bevölkerungsschichten lebten weiterhin unter sozioökonomischen Bedingungen, die einerseits noch nicht von den Erwartungen auf eine auch ihnen zugute kommende marktwirtschaftliche Gütererzeugung beseelt waren, sowie andererseits noch nichts von den späteren Folgeerscheinungen dieser Entwicklung ahnten, welche zu einer Allmacht der kapitalistischen Besitzverhältnisse führen würden. Die meisten hielten sich erst einmal an das, was sie hatten, ohne sich irgendwelchen Hoffnungen auf eine Veränderung ihrer Lage hinzugeben. Die politischen und kulturellen Konsequenzen dieser Situation sind daher leicht vorherzusehen. Jene linksrheinischen Rebellen, die sich 1793 zur Gründung der Mainzer Republik entschlossen, wurden von fürstlichen Koalitionsarmeen kurzerhand unterdrückt, worauf der dort als Revolutionsagitator aufgetretene Georg Forster nach Paris floh. Und auch der in Bonn aktiv werdende Rebell Eulogius Schneider setzte sich angesichts der Übermacht der reaktionären Kreise lieber nach Straßburg ab. Ja, in Wien wurden einige dieser als Staatsfeinde angeprangerten »Ruhestörer« umgehend eingekerkert oder hingerichtet. Andere, wie Friedrich Gottlieb Klopstock in Hamburg, bereuten ihre ursprüngliche Begeisterung für die Französische Revolution und zogen sich für eine Weile aus der Öffentlichkeit zurück, um nicht in Konflikt mit den reaktionären Potentaten zu geraten. Wieder andere versuchten, sich bei ihnen wohlwollenden kleineren Fürsten anzubiedern, indem sie sich von ihren bisherigen politischen Überzeugungen distanzierten und eine eher bildungsbetonte Haltung einnahmen. Die bekanntesten Beispiele dafür sind die Autoren im Bereich der sogenannten Weimarer Klassik, also Christoph Martin Wieland, Johann Gottfried Herder, Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller, die in der Folgezeit entweder ins Philosophisch-Abstrakte, Historisierende oder Klassizistische auswichen. 36

Bürgerliche Emanzipationsbestrebungen in den Staaten des aufgeklärten Absolutismus

Fassen wir in dieser Hinsicht vor allem Goethe und Schiller ins Auge, bei denen sich dieser Gesinnungswandel in den neunziger Jahren besonders deutlich abzeichnet. Bei Goethe kam es zu dieser ideologischen Umorientierung allerdings schon in den frühen achtziger Jahren. Nachdem ihn sein Herzog 1782 in den Adelsstand erhoben hatte, distanzierte er sich zusehends von seiner jugendlichen Sturm-und-DrangÜberschwänglichkeit und nahm eine höfisch-gesittete Haltung an, der er auf seiner Italienreise von 1786 bis 1788 jene klassizistische Einkleidung gab, die in Dramen wie Iphigenie auf Tauris (1787) und Torquato Tasso (1790) ihre bedeutsamste Ausprägung fand. Dass er danach die aufrührerischen Parolen der Französischen Revolution in aller Entschiedenheit ablehnte, ja sogar 1792/93 seinen Herzog bei der Belagerung von Mainz und im ersten Koalitionskrieg gegen die französische Republik begleitete, war daher nicht verwunderlich. Ein Jahr später schloss Goethe sogar einen Freundschaftsbund mit dem ihm zuvor verhassten Räuber-Dichter Schiller, der sich inzwischen ebenfalls von seiner jugendlichen Begeisterung für eine republikanische Gesinnung schärfstens abgewandt hatte, und verfasste mit ihm eine Reihe aggressiver, gegen die sogenannten Spätaufklärer gerichteten Xenien, in denen beide aus ihrer entschiedenen Abneigung gegen alle ins Aufrührerische tendierenden Proklamationen kein Hehl machten. Obendrein schrieben beide danach noch eine Anzahl weiterer Werke, die auf derselben ideologischen Linie lagen. Bei Goethe waren es Der Bürgergeneral (1793), Die Aufgeregten (1794), die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) und Hermann und Dorothea (1798), bei Schiller der Traktat Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) für den Erbprinzen Christian Friedrich von Lauenburg und das Lied von der Glocke (1799), in denen sie sich für »Ruhe und Ordnung« aussprachen und alle gegen die herrschende Gesellschaftsordnung verstoßenden Gesinnungen einer scharfen Kritik unterzogen. Was man daher seit der wilhelminischen Kaiserzeit als »Weimarer Klassik« bezeichnet hat, war – ideologisch gesehen – letztlich ein literarischer Beschwichtigungsversuch, mit dem Goethe und der ebenfalls in den Adelsstand erhobene Schiller im Dienste der einzelstaatlichen Fürstenherrschaft die damaligen Vertreter des Bildungsbürgertums bewegen wollten, von irgendwelchen politischen Veränderungsbemühungen abzulassen und sich mit den von alters her bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen zufriedenzugeben. Worum sich diese Schicht bemühen solle, sei eher eine höhere Bildung, aber nicht ein politisches Mitspracherecht. Ihre Aufgabe sei es, wie Goethe und Schiller immer wieder betonten, sich kulturell auszuzeichnen, aber nicht in die Staatsgeschäfte einzugreifen. Von den wirtschaftlichen Voraussetzungen einer solchen Haltung war dagegen in ihren Schriften kaum oder nirgends die Rede. Darüber sahen sie als wohlbestallte Höflinge geflissentlich hinweg. Doch nicht nur in Weimar, auch in anderen deutschen Residenzstädten kam es in diesen Jahren auf politischer und kultureller Ebene zu ähnlichen Wandlungs37

Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation

prozessen. Wohl das bekannteste Beispiel dafür ist Wien. Während hier in den achtziger Jahren unter Joseph II., wie bereits ausgeführt, eine von reformbetonten Staatsbeamten wie Ignaz von Born, Joseph von Sonnenfels und Gottfried van Swieten, von aufgeklärt argumentierenden Philosophen, Romanschriftstellern und Broschürenschreibern wie Johann Alois Blumauer, Joseph Valentin Eybl und Johann Pezzl sowie von den Vertretern verschiedener Freimaurerlogen unterstützte Ausbreitung eines mit den Ideen der französischen Aufklärung sympathisierenden Gedankenguts vorgeherrscht hatte, wurde diese Entwicklung durch den im Jahr 1790 erfolgten Tod Josephs II. jäh unterbrochen. Als nach dem Ableben seines noch immer relativ liberal auftretenden Nachfolgers Leopold II. im Jahr 1792 der erzkonservative Franz II. König von Österreich wurde, hörten alle bisherigen Reformbestrebungen plötzlich über Nacht auf. Als erbitterter Feind der Französischen Revolution verbot dieser nicht nur die Freimaurerlogen, sondern ließ zugleich mehrere weiterhin jakobinisch gesinnte »Aufrührer« kurzerhand einkerkern oder gar hinrichten. Im Unterschied zu Weimar äußerte sich dieser ideologische Umschwung in Wien auf kultureller Ebene allerdings weniger auf literarischem als auf musikalischem Gebiet. Schließlich gab es hier keine mit Goethe und Schiller vergleichbaren dichterischen Genies, aber dafür – wie in anderen größeren Residenzstädten – eine Reihe höchst bedeutsamer bürgerlicher Komponisten, die nicht wie die beiden Weimarer in den Adelsstand erhoben wurden, sondern sich weitgehend auf fürstliche oder hochadlige Gönner angewiesen sahen, um ihre Werke überhaupt aufführen zu können. Die meisten von ihnen passten sich daher ideologisch einfach an, indem sie vornehmlich vom Hochadel gewünschte italienische Opern, zur Unterhaltung der gesellschaftlichen Oberschicht gedachte Kammermusikwerke oder vom Klerus angeforderte Messen und Oratorien komponierten. Wohl der bedeutendste unter ihnen, welcher sich dagegen auflehnte, war der junge Wolfgang Amadeus Mozart, der sich nicht wie sein Vater Leopold bedingungslos den Wünschen des Salzburger Erzbischofs fügte, sondern sein Heil im josephinisch aufgeklärten Wien suchte. Dort hatte er zwar anfänglich mit seiner im Auftrag Josephs II. entstandenen humanistisch konzipierten Oper Die Entführung aus dem Serail (1782) den ersehnten Erfolg, stieß aber mit seiner Opernkomödie Le nozze di Figaro (1786) wegen des von dem Aufklärer Lorenzo da Ponte verfassten, als aufmüpfig geltenden Librettos die lokalen Adelskreise so vor den Kopf, dass er es vorzog, seine darauffolgende Oper Don Giovanni (1787) lieber in Prag uraufzuführen. Doch wie in anderen Residenzstädten dieser Ära nahmen die bürgerlichen Mittelschichten, geschweige denn das dortige Kleinbürgertum, von all dem kaum Notiz. Nicht nur die italienischen Opern, sondern auch die brillanten Kammermusik- und Orchesterwerke empfanden sie als unverständlich oder zumindest fremdartig. Als daher Mozart – dem üblichen Brauch zufolge – im Hinblick auf eine mögliche Auf38

Bürgerliche Emanzipationsbestrebungen in den Staaten des aufgeklärten Absolutismus

führung seiner letzten drei Symphonien eine Subskribentenliste auslegen ließ, trugen sich nur drei Interessenten dafür ein, worauf das Konzert nicht stattfinden konnte. Lediglich mit seiner als »unterhaltsam« empfundenen Volksoper Die Zauberflöte (1791) gelang ihm, der sich als freischaffender Künstler ständig in Finanznöten befand, noch kurz vor seinem Tod wegen der zum Lachen herausfordernden Papageno-­ Szenen noch ein beträchtlicher Erfolg, während der tiefere Sinn der dieser Oper zugrunde liegenden Freimaurermysterien nur von den bildungsbürgerlichen Schichten verstanden und dementsprechend begrüßt wurde. Als deshalb der junge Ludwig van Beethoven, der unter dem Einfluss von Eulogius Schneider in Bonn noch kurz zuvor mit josephinischen Reformideen sympathisiert hatte, 1792 in Wien eintraf, sah er sich dort einer höchst restriktiven Situation gegenüber. Während er in Bonn in seinem Oratorium auf den Tod Josephs II. noch emphatisch erklären konnte: »Da stiegen die Völker an’s Licht«,10 sah er in Wien, dass unter Franz II. erneut die Reaktion am Ruder war, die jede Wendung ins »Lichtvollere« unbarmherzig unterdrückte und sich die Mehrheit der bürgerlichen Bevölkerungsschichten wieder mit den älteren absolutistischen Zuständen abzufinden begann. Was ihm daher als freischaffendem Komponisten übrigblieb, um sich überhaupt einen Lebensunterhalt zu verschaffen, war, sich dem vom Adel dominierten Musikleben anzupassen und Klavier- sowie Kammermusikwerke zu komponieren, die sich bei Abendveranstaltungen in den weiträumigen Salons dieser Kreise aufführen ließen. Schließlich gab es für solche Werke noch kaum einen anderen Markt. Die bürgerlichen Familien besaßen damals noch keine Klaviere und veranstalteten kaum irgendwelche Hausmusikabende. Demzufolge war zu diesem Zeitpunkt selbst ein junges Genie wie Beethoven noch darauf angewiesen, seine Frühwerke ihm sympathisch erscheinenden adligen Gönnern wie dem Fürsten Karl von Lichnowsky zu widmen, um sich überhaupt einen Namen zu verschaffen. Wer damals mit größeren Orchesterwerken, das heißt Symphonien, Furore machen wollte, musste deshalb wie Franz Joseph Haydn nach England reisen, wo es bereits ein bürgerliches Musikpublikum gab, das seine Londoner Symphonien begeistert begrüßte. Außer zeitweilig in Mannheim waren in Wien oder anderen Residenzstädten des Heiligen Römischen Reichs solchen Werken damals noch keine derartigen Erfolge beschieden. Dort herrschten in dieser Hinsicht noch immer der Adel und der Klerus. Und die einen bevorzugten entweder italienische Opern oder sie unterhaltende Abendmusiken, während die anderen vornehmlich Messen oder kirchliche Oratorien in Auftrag gaben, um die weiterhin Gläubigen von ihren wirklichen Interessen politischer und ökonomischer Art abzulenken. So viel – in möglichst knapper Zusammenfassung – zu den kulturellen Manifestationen im Gefolge des aufgeklärten Absolutismus, die zwar zum Teil von höchster ästhetischer Qualität sind, aber nicht darüber hinwegtäuschen sollten, unter wel39

Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation

chen gesellschaftlichen Bedingungen sie größtenteils entstanden. Sie erreichten zwar neben dem Adel und dem Klerus auch Teile der liberal gesinnten Oberschichten des Bildungsbürgertums, wurden aber, wie gesagt, von den in gedrückten wirtschaftlichen Verhältnissen lebenden breiten Massen der gesellschaftlichen Mittelschichten kaum oder gar nicht wahrgenommen. Dazu waren erst jene ideologischen und wirtschaftlichen Wandlungsprozesse nötig, wie sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzten und sich dann in der Hochkonjunkturperiode der Nachmärzära verstärkten, in denen es zu jenen marktwirtschaftlichen Verhältnissen kam, die zwar einem großen Teil dieser Gesellschaftsklasse die nötigen Bildungsvoraussetzungen und zugleich eine finanzielle Absicherung verschafften, sich diese Kunst anzueignen, wobei allerdings die progressiven Tendenzen in der Kultur des aufgeklärten Absolutismus aufgrund der inzwischen eingetretenen Wohlstandsverhältnisse meist ins Unterhaltsam-Genießerische und damit Unideologische abgeschwächt wurden.

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Der Deutsche Bund

Der Beginn der industriellen Revolution

Während in England und Frankreich der Industrialisierungsprozess durch die Aktivitäten eines bereits politisch und wirtschaftlich erstarkten Bürgertums schon im späten 18. Jahrhundert eingesetzt hatte, waren im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation wegen der Zersplitterung dieses politischen Monstrums in unzählige autonome oder halbautonome Territorien sowie des weithin in gedrückten Verhältnissen lebenden Bürgertums solche Tendenzen kaum zum Tragen gekommen. Hier hatten lange Zeit fast ausschließlich die absolutistischen Sonderinteressen der einzelnen Fürsten und nicht ein allmählich zur Macht drängendes Bürgertum im Vordergrund gestanden, das wegen seiner ökonomischen Schwäche – trotz aller Emanzipationsbestrebungen – lieber ins Philosophische oder Ästhetische ausgewichen war, als sich mit wirtschaftspolitischen Fragen zu beschäftigen. Und daran änderte auch die zwischen 1803 und 1806 auf Druck Napoleons durchgesetzte Auflösung dieses Reichs wenig oder nichts. Da alle der älteren oder neu entstandenen deutschen Staaten sowohl ihr Münzsystem und ihre Zollschranken als auch die ihnen zugrunde liegende absolutistische Regierungsstruktur beibehielten, kam es selbst in ihnen – im Unterschied zu England oder Frankreich – nicht zu jenen bürgerlichen Durchsetzungsbemühungen, die einen ökonomischen Aufschwung begünstigt hätten. Im Gegenteil, schließlich führten die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts von den Fürsten angeführten Koalitionskriege gegen die französische Republik und dann die sogenannten Befreiungskriege gegen die napoleonische Grande Armée in vielen deutschen Staaten zu einem Rückgang der wirtschaftlichen Produktionsverhältnisse. Und dieser Verarmungsprozess hörte auch nach dem Wiener Kongress von 1815 nicht umgehend auf, da auf ihn nicht die von vielen Bürgerlichen erhoffte Gründung eines deutschen Einheitsstaats erfolgte, sondern die Errichtung eines Deutschen Bunds von 39 souveränen Einzelstaaten beschlossen wurde. Durch diese Entscheidung, für die sich vornehmlich der österreichische Staatskanzler Clemens Wenzeslaus von Metternich stark gemacht hatte, blieb die von vielen deutschen Fürsten befürwortete agrarische Struktur des Deutschen Bunds vorerst erhalten. Sie sahen in den weiterhin in einer älteren Untertanenmentalität befangenen bäuerlichen Schichten, die damals noch 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung ausmachten, die eigentliche Basis ihrer Macht, während sie Teilen des Bürgertums, vor allem den nationaldemokratisch gesinnten Schichten sowie den studentischen Burschenschaftlern, die nach wie vor für einen deutschen Einheitsstaat schwärmten, höchst kritisch gegenüberstanden. Als deshalb der unter dem 41

Der Deutsche Bund

Einfluss der Gießener »Unbedingten« stehende junge Burschenschaftler Karl Ludwig Sand am 23. März 1819 den wegen seiner reaktionären Haltung bekannten Staatsrat August von Kotze­bue kurzerhand ermordete, nahmen das die deutschen Fürsten endlich als einen erwünschten Anlass wahr, gegen alle liberal oder national gestimmten »Demagogen«, wie sie die Vertreter derartiger Gesinnungen fortan offiziell bezeichneten, mit sämtlichen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln vorzugehen und in allen deutschen Teilstaaten ein sogenanntes antiterroristisches Überwachungssystem einzurichten. Kodifiziert wurden diese Entschlüsse auf einer im August 1819 von Fürst Metternich nach Karlsbad einberufenen Ministerkonferenz. Die dort verabschiedeten Maßnahmen, die anschließend vom Frankfurter Bundestag einstimmig gebilligt wurden, sahen dreierlei vor: eine strengere Überwachung der Universitäten, eine staatliche Zensur sämtlicher Druckschriften sowie das Recht auf militärische Eingriffe in allen Mitgliedsstaaten, die nicht scharf genug gegen revolutionäre Umtriebe in ihren Ländern vorgehen würden. Damit begann jener Abschnitt der deutschen Geschichte, den man später zumeist als die Metternich’sche Restaurationsperiode oder die Biedermeierzeit bezeichnet hat. Auf kultureller Ebene äußerte sich das, wie zu erwarten, auf folgende Weise. Was viele Fürsten auf diesem Gebiet unterstützten, war vornehmlich das, was ihre an das Ancien Régime gemahnende Alleinherrschaft unterstreichen sollte. Im Bereich der Architektur manifestierte sich das vor allem in dem in Preußen von Karl Friedrich Schinkel und in Bayern von Leo von Klenze praktizierten, als »höfisch« geltenden Klassizismus. Im Theaterwesen bevorzugten die von den Fürsten eingesetzten Intendanten vornehmlich die Vergangenheit verklärende Historiendramen sowie italienische statt deutscher Opern. In der Literatur unterstützten sie alle Ausflüchte in eine als »romantisch« ausgegebene Vorliebe für mittelalterliche Themen. Dagegen setzte auf bürgerlicher Ebene in den zwanziger Jahren ein durch die Karlsbader Beschlüsse erzwungener Trend ins Idyllische, Verharmlosende, ja gerade Kindliche sowie eine als »weltschmerzlerisch« ausgegebene Flucht ins Unpolitische ein. Von nun an sollte nicht mehr die aufgeklärte »Mündigkeit« im Sinne Immanuel Kants, sondern das unerklärliche Walten irgendwelcher Schicksalsmächte im Vordergrund stehen, dem der Einzelmensch entweder bedingungslos ausgeliefert ist oder sich nur durch ein verstärktes Gottvertrauen entziehen kann. Dafür sprechen sowohl die damals viel gespielten Schicksals- und Schauerdramen Adolf Müllners und Zacharias Werners als auch das 1821 entstandene Lied »Stille Nacht, heilige Nacht«, das in diesen Jahren erstmals im biedermeierlich gestimmten Familienkreis unterm Weihnachtsbaum gesungen wurde. Erschüttert wurde dieser durch die Metternich’schen Restaurationsbemühungen erzwungene ideologische Ruheraum erstmals durch die französische Märzrevolution von 1830, die dort zum Sieg eines liberal gesinnten »Bürgerkönigtums« geführt hatte. 42

Der Beginn der industriellen Revolution

Abb. 8  Karl Friedrich Schinkel: Entwurf zu einem Palast für Otto von Griechenland auf der Athener Akropolis (1834)

Und das löste auch im Deutschen Bund sowohl politisch als auch ökonomisch eine Reihe gravierender Folgeerscheinungen aus. Politisch gesehen äußerte sich das vornehmlich in den Schriften jener Autoren, die sich als die »Jungdeutschen« ausgaben und sich unter dem Einfluss von nach Paris ausgewichenen liberal gesinnten Schriftstellern wie Ludwig Börne und Heinrich Heine für die Abschaffung der herrschenden Zensurgesetze einsetzten, um endlich die im Deutschen Bund hinter Ländern wie 43

Der Deutsche Bund

Frankreich und England zurückgebliebene Entwicklung zu einer größeren Presseund Individualfreiheit zu befördern. Das wurde zwar von den leicht verunsicherten deutschen Behörden für ein paar Jahre geduldet, aber dann 1835 durch einen Bundestagsbeschluss gnadenlos unterdrückt, wodurch auf dieser Ebene erneut ein Rückfall ins Biedermeierliche eintrat. Dagegen kam es in den gleichen Jahren des auf eine stärkere Liberalisierung drängenden Wirtschaftsbürgertums auf ökonomischer Ebene zu den ersten Durchbrüchen einer frühkapitalistischen Marktorientierung, die zu einer Lockerung aus den Fesseln der älteren merkantilistischen Arbeitsweisen führte, wovon sich die maßgeblichen Vertreter der sich allmählich herausbildenden Wirtschaftsbourgeoisie eine zunehmende Verfreiheitlichung der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse versprachen. Zugegeben, schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatte es im Heiligen Römischen Reich – neben dem Heimgewerbe und den Manufakturen – bereits eine Reihe kleinerer Fabriken, wie Baumwollspinnereien und Eisengießereien, gegeben. Doch die waren meist auf fürstliche Anregung entstanden. Ja, im Jahr 1820 hatte ein sich für die Bauernbefreiung eintretender Nationaldemokrat wie Ernst Moritz Arndt bereits gegen die Entstehung der ersten »Fabrikdörfer« gewettert.1 Doch danach war dieser Trend nicht mehr aufzuhalten. Die entscheidende Grundlage für die Ausbreitung des Industriewesens bildeten dabei die in den zwanziger Jahren durchgesetzten Zollvereinbarungen zwischen einigen deutschen Bundesstaaten, die 1834

Abb. 9  Alfred Rethel: Die Harkortsche Fabrik auf Burg Wetter an der Ruhr (1834) 44

Der Beginn der industriellen Revolution

zum »Deutschen Zollverein« führten, dem sich unter der Führung Preußens – außer Österreich – fast alle deutschen Staaten anschlossen. Und das bewirkte durch den Wegfall der bisherigen Vielzahl unterschiedlicher Zölle, Währungen und Gewichte die entscheidende Grundlage für den folgenden industriellen Aufstieg. Allerdings wirkte sich dieser Prozess, den spätere Historiker als den »Beginn der industriellen Revolution« beziehungsweise der »Erweiterten Marktwirtschaft« innerhalb des Deutschen Bunds bezeichnet haben, vorerst nicht gesamtdeutsch, sondern eher regional begrenzt aus. Zu den wichtigsten Zentren der industriellen Verdichtung entwickelten sich anfangs im Bereich des Metallgewerbes vor allem die westpreußischen Provinzen Rheinland und Westfalen sowie in Oberschlesien der dort intensivierte Bergbau. In Sachsen war es vor allem die Region Chemnitz, in der sich das Industriewesen so stark durchsetzte, dass diese Stadt wegen ihrer vielen Fabriken bereits in den vierziger und fünfziger Jahren als das »sächsische Manchester« hingestellt wurde. In vielen anderen Teilen des Deutschen Bunds, wie etwa in Ostelbien, blieb es dagegen in dieser Hinsicht noch eine Zeitlang bei eher leistungsschwachen Kleinbetrieben, die kaum mit der sich verstärkenden gesamtdeutschen Marktwirtschaft verbunden waren. Dass diese rasch voranschreitende Industrialisierung von dem älteren Bildungsbürgertum, ob nun den Staatsbeamten oder den in akademischen Bereichen Tätigen, nicht nur positiv, sondern zugleich als risikoreich, wenn nicht gar bedrohlich empfunden wurde, konnte nicht ausbleiben. Ja, manche Vertreter dieser Bevölkerungsschicht sahen sich durch den zunehmenden Reichtum der Wirtschaftsbourgeoisie zusehends in den Hintergrund gedrängt, was bei ihnen zu verbreiteten Affekten gegen das um sich greifende Fabrikwesen führte. Sie hielten daher kulturell zumeist an den Idealen der Weimarer Klassik sowie der auf sie folgenden Romantik fest, begeisterten sich für das zunehmende Konzertwesen, lasen anspruchsvolle Romane und genossen die in den Hoftheatern aufgeführten Dramen und Opern. Dagegen nahmen sie von den für das Kleinbürgertum bereits in Massenauflagen erscheinenden Unterhaltungsromanen kaum oder keine Notiz und interessierten sich für »realistische« Gegenwartsromane nur dann, wenn in ihnen, wie in Ernst Adolf Willkomms Weiße Sklaven oder Die Leiden des Volkes (1845), die Besitzer der inzwischen entstandenen Fabriken als »böse Kapitalisten« hingestellt wurden. Noch viel stärker bedroht fühlten sich durch den Beginn der industriellen Revolution jene kleinbürgerlichen Heimgewerbetreibenden, die zum Teil erwerbslos wurden, was zu jenem »Pauperismus« führte, dem sich unter anderem die notleidenden schlesischen Weber ausgesetzt sahen, die mit den schnell aufblühenden Spinnereiund Webereifabriken nicht mehr konkurrieren konnten. Sie entschieden sich daher im Jahr 1844 sogar zu Aufständen, die jedoch vom preußischen Militär umgehend niedergeschlagen wurden. Ähnlich miserabel ging es zu diesem Zeitpunkt der sich 45

Der Deutsche Bund

allmählich herausbildenden Schicht der Fabrikarbeiter, für die sich zusehends der aus dem Lateinischen abgeleitete Begriff »Proletarier« einbürgerte. Sie bildeten zwar anfänglich noch eine kleine, aber strategisch wichtige Minderheit, wurden aber von hellsichtigen Sozialkritikern wie Moses Hess, Karl Marx und Friedrich Engels bereits in den vierziger Jahren als die im Zuge der beginnenden industriellen Revolution wichtigste, weil sicher schnell anwachsende Bevölkerungsschicht wahrgenommen. Mit ihnen, hoffte diese Gruppe, würden sich die Missstände der von gewinngierigen Kapitalisten durchgeführten Industrialisierung zweifellos am ehesten überwinden lassen, was Marx und Engels 1848 in ihrem Kommunistischen Manifest auf die eindringlichste Weise darzustellen versuchten. Doch bevor es zu Aktivitäten in dieser Richtung kommen konnte, brach plötzlich im Februar 1848 in Paris eine Revolution aus, die einen Monat später auch in vielen deutschen Bundesstaaten ähnlich geartete Aufstände auslöste. Und damit wurde der im Deutschen Bund begonnene Industrialisierungsprozess erst einmal für eine Weile unterbrochen. Was an seine Stelle trat, waren tumultuarische Ereignisse, in denen anfangs vor allem das durch den Pauperismus bedrohte Kleinbürgertum zu den Waffen griff, sich aber gegen die Übermacht der von den Fürsten aufgebotenen Truppenverbände nicht durchsetzen konnte. Als daher nach einem relativ ruhig verlaufenden Wahlgang am 18. Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche die erste deutsche Nationalversammlung eröffnet wurde, war bei den meisten Abgeordneten von dem revolutionären Überschwang der frühen Märztage nicht mehr viel zu spüren. In ihr dominierten nicht die kleinbürgerlichen Barrikadenkämpfer der voraufgegangenen Aufstände, sondern weitgehend die Vertreter des gehobenen Bürgertums, die mehrheitlich als Zielutopie eher eine mäßig konstitutionelle Monarchie als eine radikal konzipierte Republik ins Auge fassten. Schließlich waren von den 585 Mitgliedern dieses Parlaments 329 Professoren, Ärzte, Rechtsanwälte, Richter und höhere Verwaltungsbeamte, 43 Adlige sowie 56 Kaufleute und Unternehmer, aber nur vier Handwerksmeister und drei Bauern, während die gesellschaftliche Unterschicht der Fabrikarbeiter überhaupt nicht vertreten war. Soziale oder ökonomische Fragen, mit denen man sich dem »Druck der Straße« ausgesetzt hätte, wie es bezeichnenderweise hieß, standen daher fast gar nicht zur Debatte. Die meisten Abgeordneten waren lediglich bemüht, eine neue Rechtsordnung durchzusetzen, die ihnen zusätzliche Freiheiten innerhalb der Universitäten, der Gerichte und der Presse, also größere bürgerliche Privilegien, garantieren würde. Als es darum am 27. März 1849 nach lang andauernden Debatten endlich zur Abstimmung kam, setzte sich die Mehrheit lediglich für ein preußisches Erbkaisertum, aber nicht für eine freiheitliche Wirtschaftsrepublik ein. Doch selbst dafür war es zu diesem Zeitpunkt bereits zu spät. Nachdem Friedrich Wilhelm IV. von Preußen die ihm angebotene Kaiserkrone, die mit dem »Ludergeruch der Revolution« be46

Die erste ökonomische Hochkonjunktur

haftet sei, wie er erklärte, ungnädig abgelehnt hatte, bereitete Prinz Wilhelm, sein jüngerer Bruder, unter dem Motto »Gegen Demokraten helfen nur Soldaten« mit seinen Truppen allen weiteren Aufständen ein relativ schnelles Ende. Was deshalb siegte, war letztlich, wie schon nach den Befreiungskriegen, wiederum der einzelstaatliche Absolutismus und nicht die von vielen bürgerlichen Liberalen gehegte Hoffnung auf die Gründung eines deutschen Nationalstaats, in dem man ihnen größere Freiheitsprivilegien und vielleicht sogar einige politische Mitbestimmungsrechte eingeräumt hätte. Da das jedoch nicht eintrat, setzten sich diese Bevölkerungsschichten in der Folgezeit vornehmlich dafür ein, im Zuge der fortschreitenden industriellen Revolution wenigstens ihre ökonomische Machtstellung auszubauen, um so die weiterhin bestehenden 39 Bundesländer in ein allmählich zusammenwachsendes Wirtschaftsgebiet umzuwandeln, woraus sich zwangsläufig, wie sie annahmen, ein ihnen dienlicher deutscher Einheitsstaat ergeben würde. Die erste ökonomische Hochkonjunktur

Da die monatelang in der Frankfurter Paulskirche tagende Deutsche Nationalversammlung, die aus der Märzrevolution von 1848 hervorgegangen war, bei der breiten Masse der biedermeierlich gesinnten Bevölkerungsschichten keine wirksame Unterstützung fand, bedurfte es von Seiten der weiterhin herrschenden Fürstenclique des Deutschen Bunds keiner großen Anstrengungen, die Hoffnungen auf die Gründung eines deutschen Einheitsstaats schon kurz darauf gewaltsam zu unterdrücken. Wer sich für derartige Erwartungen eingesetzt hatte, wurde daher 1849 von den jeweiligen Polizeiorganen entweder umgehend des Landes verwiesen, vor Kriegsgerichte gestellt oder zumindest in der Folgezeit jahrelang überwacht. All jene, die vorher besonders rebellisch aufgetreten waren, flohen daher lieber in die Schweiz, nach England oder in die USA, wodurch viele deutsche Staaten einen wichtigen Prozentsatz ihrer nationaldemokratisch gesinnten Intellektuellen verloren. Das zwangsläufige Ergebnis dieser Entwicklung war, dass sich in den fünfziger Jahren – ideologisch gesehen –innerhalb der bildungsbürgerlichen Schichten einerseits eine sich auf die Schriften Arthur Schopenhauers berufende Stimmung der Entsagung, wenn nicht gar des Pessimismus ausbreitete, während sich andererseits die eher pragmatisch eingestellten Schichten der nachmärzlichen Bourgeoisie darauf beschränkten, ihre Machtstellung durch eine verstärkte Ankurbelung der industriellen Produktion sowie die Erfindung neuer Technologien zu erweitern. Fassen wir erst einmal die ökonomischen Aspekte dieser Entwicklung ins Auge, ohne die auch die kulturellen Folgen, welche sich daraus ergaben, nicht zu verstehen sind. Wie rasch die bereits in der Vormärzära begonnene Industrialisierung in man47

Der Deutsche Bund

chen Ländern des 1851 neu gegründeten Deutschen Bunds anwuchs, geht schon daraus hervor, dass sich die maschinell operierende Güterproduktion schon in den ersten zehn Jahren nach der gescheiterten Revolution von 1848 pro Einwohner um das Zehnfache vervielfachte. Der wichtigste Antriebsfaktor war dabei der immense Anstieg in der industriellen Nutzung von Steinkohle. Davon profitierte vor allem die Eisen- und Stahlproduktion, was zu einer verstärkten Anlage von Fabriken führte, welche die zum Ausbau des Eisenbahnnetzes benötigten Schienen, Lokomotiven, Güter- und Personenwagen herstellten. Die meisten Investitionen erfolgten daher – neben der Inbetriebnahme neuer Maschinen im Bereich des Schiffbaus und des Spinnereiwesens – im Hinblick auf diesen Sektor. Im Zuge dieser Industrialisierungswelle stieg die Zahl der Fabrikarbeiter von 270.000 im Jahr 1851 auf 541.000 im Jahr 1861 an, während es danach im Zuge der in den sechziger Jahren einsetzenden industriellen Hochkonjunktur allein in Preußen bereits 885.000 Industriearbeiter und 396.000 Bergleute gab. Statistiken zufolge zählten deshalb um 1870 – nach der von Preußen erzwungenen Auflösung des Deutschen Bunds – etwa 30 Prozent der Erwerbstätigen in den einzelnen deutschen Staaten zu diesen beiden Bevölkerungsklassen, während die Zahl der in Handwerksbetrieben Arbeitenden ständig abnahm. Ja, im hochindustrialisierten Sachsen waren zu diesem Zeitpunkt bereits 49 Prozent der gesellschaftlichen Unterschichten in Industrie und Bergbau tätig. Befördert wurde diese Entwicklung zusätzlich durch die Gründung von Gewerbeschulen, den steigenden Einfluss der Naturwissenschaften und vor allem eine Reihe

Abb. 10  Dampfstielhammer in der Friedrich-Krupp-Fabrik in Essen (1852) 48

Die erste ökonomische Hochkonjunktur

technischer Erfindungen. Dazu gehörten die 1851 erfolgte Konstruktion des ersten Unterseeboots, die 1853 von Alfred Krupp erfundenen Gussstahl-Eisenbahnräder, die 1854 erfolgte erste Herstellung elektrischer Glühlampen, 1857 die Gründung des »Norddeutschen Lloyd« in Bremen, 1858 die Entdeckung der Kathodenstrahlen sowie die von Robert Bunsen entwickelte Spektralanalyse, 1859 die erste Gründung von naturwissenschaftlich orientierten Realschulen, der 1861 von Johann Philipp Reis erfundene Fernsprecher, 1862 die Erfindung des Otto-Motors, 1863 die Errichtung der Darmstädter Höheren Gewerbeschule und die Gründung der Farbenfabrik Bayer, 1864 das von Wilhelm Siemens entwickelte Siemens-Martin-Verfahren zur Stahlherstellung, 1865 die Inbetriebnahme der Badischen Anilin- und Sodafabrik, 1866 die Verbesserung des Mikroskops durch Ernst Abbe sowie die Erfindung des Lichtdruckverfahrens durch Joseph Albert. Wer davon hauptsächlich profitierte, war jene kleine Schicht sich rasch bereichernder Industrieller, welche die zahlenmäßig immer größer werdende Arbeiterklasse auf das Unbarmherzigste ausbeutete. Als sich diese Situation im Laufe der Jahre immer weiter zuspitzte, entschlossen sich Teile der gesellschaftlichen Unterschichten zu zwei Gegenreaktionen, indem sie entweder in die Vereinigten Staaten auswanderten, um dort in Städten wie New York, Chicago, St. Louis, Milwaukee und Cincinnati bessere Arbeitsbedingungen zu finden, oder sich dem 1863 von Ferdinand Lassalle gegründeten »Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein« beziehungsweise der 1869 entstehenden »Sozialistischen Arbeiterpartei« unter August Bebel und Wilhelm Liebknecht anschlossen, die im Gegensatz zu den reformistisch eingestellten Lassalleanern bereits von Karl Marx inspirierte Umsturzkonzepte propagierte. Doch bevor es zu revolutionären Unruhen kam, rief der preußische Staatskanzler Otto von Bismarck ein Jahr später alle Deutschen auf, sich an einem Krieg gegen den alten »Erbfeind« Frankreich zu beteiligen, wovon er sich im Zuge einer nationalen Gefühlsaufwallung eine Einigung Deutschlands unter preußischer Führung versprach. Und das trat dann auch ein, worauf es 1871 im Spiegelsaal zu Versailles zur Gründung des Zweiten Kaiserreichs kam, das zwar nicht alle Wünsche erfüllte, auf deren Einlösung die enttäuschten Befreiungskrieger nach dem Wiener Kongress, die Achtundvierziger und dann die Nationalliberalen der fünfziger und sechziger Jahre gehofft hatten, aber wenigstens den Traum einer nationalen Wiedervereinigung Wirklichkeit werden ließ. Fragen wir uns nun, welche ideologischen Folgen diese hochkonjunkturelle Industrialisierung auf die Gesinnung jener bildungsbürgerlichen Schichten der Nachmärzära hatte, die sich durch das parvenühafte Auftreten der Wirtschaftsbourgeoisie sowie die zahlenmäßig immer größer werdende Arbeiterklasse zusehends ins gesellschaftliche Abseits gedrängt sahen, aber wenigstens an ihrem kulturellen Stellvertretungsanspruch festzuhalten versuchten. Eine ihrer eindringlichsten Manifestatio49

Der Deutsche Bund

nen erlebte diese Haltung bei den vielen Schiller-Feiern, die 1859 zum 100. Geburtstag dieses Dichters in zahlreichen deutschen Städten stattfanden, wo sich diese Schichten als die maßgeblichen Repräsentanten einer wenigstens ideell weiterexistierenden »deutschen Kulturnation« ausgaben. Trotz der überall entstehenden Fabrikanlagen im Bereich der Bergbau-, Eisen- und Maschinenindustrie und zugleich der erheblichen Ausweitung des Bahn-, Versicherungs-, Verkehrs- und Nachrichtenwesens, glaubten sie nach wie vor jener Kultur zum Durchbruch verhelfen zu können, die in der Weimarer Klassik ihre bedeutsamste Repräsentationsform gefunden habe.

Abb. 11  Schiller-Feier in Berlin am 3. Dezember 1859

Doch nicht alle Vertreter und Vertreterinnen des Bildungsbürgertums waren so vertrauensselig gestimmt. Vor allem manche Romanautoren und -autorinnen dieser Ära, die weiterhin den Idealen der Befreiungskriege oder der Revolution von 1848 nachhingen, zogen sich eher ins gesellschaftliche Abseits der noch bürgerlich gebliebenen Kleinstädte zurück oder versuchten, sich auf kritische Weise mit der neuen sozial- und ökonomiepolitischen Situation auseinanderzusetzen. Zu den Hauptvertretern dieser Gruppe gehörte Wilhelm Raabe, der 1854 Berlin verließ und in seinen Romanen der Folgezeit, wie Die Chronik der Sperlingsgasse (1857), Der Hungerpastor (1864), Abu Telfan (1868) und Der Schüdderump (1870), ein immer düsterer werdendes Bild der im Deutschen Bund herrschenden gesellschaftlichen Zustände entwarf, ja sich später, wie in Pfisters Mühle (1884) und Die Akten des Vogelsangs (1895) sogar 50

Die erste ökonomische Hochkonjunktur

in aller Offenheit gegen die verheerenden Folgen der fortschreitenden Industrialisierung aussprach, allerdings ohne sich dabei auf eine genauere Schilderung der im Fabrikwesen herrschenden Verhältnisse einzulassen. Ähnliches gilt für die Werke jener Autoren und Autorinnen, deren Romane man später als Beispiele des »bürgerlichen Realismus« dieser Ära charakterisiert hat. Auch sie beschränkten sich meist aus Abneigung gegen den herrschenden »Zeitgeist« in ihren Werken – noch stärker als Raabe – auf die herkömmlichen Liebesintrigen oder wichen in die Schilderung vergangener Jahrhunderte aus. Die antikapitalistische Kritik am heraufziehenden Fabrikwesen, wie sie in der Vormärzära in Ernst Adolf Willkomms Roman Weiße Sclaven oder Die Leiden des Volkes (1845) und dem Roman Schloss und Fabrik (1846) von Louise Otto-Peters zum Durchbruch gekommen war, erlebte zwar noch ein kurzes Nachspiel in Romanen wie Berlin und Breslau (1849) von Max Ring und Das Engelchen (1851) von Robert Prutz, verstummte aber – ange­ sichts der vor allem den bürgerlichen Ober- und Mittelschichten zugute kommenden marktwirtschaftlichen Verhältnisse – danach auf literarischer Ebene relativ schnell. Ja, Adolf Schirmer stellte 1862 in seinem Roman Fabrikanten und Arbeiter bereits einen erfolgreichen Geschäftsmann dar, der kein gewissenloser Emporkömmling mehr ist, sondern sich in seinen ökonomischen Machenschaften vor allem um »Anständigkeit« bemüht. Doch als das erfolgreichste Werk dieser Gattung erwies sich der 1855 erschienene Roman Soll und Haben von Gustav Freytag. Nachdem sein Autor in den vierziger Jahren einer durchaus vormärzlichen Gesinnung gehuldigt hatte, war er danach ein nachmärzlich eingestellter Nationalliberaler geworden, der sich in den von ihm und Julian Schmidt herausgegebenen Grenzboten vornehmlich für die Schaffung eines deutschen Einheitsstaats sowie die Stärkung des bürgerlichen Selbstbewusstseins einzusetzen versuchte. Als er daher seinen Roman Soll und Haben zu schreiben begann, bemühte er sich, ihm den Charakter eines wahren »Volksbuchs« zu geben, mit dem er weniger die bildungsbewussten Intellektuellen als die Handels- und Gewerbetreibenden innerhalb des Bürgertums zu erreichen suchte, um diesen Schichten – nach der gescheiterten Revolution von 1848 und der danach einsetzenden Zeitmode des schopenhauerisierenden Pessimismus – erneut Mut zu machen, sich auf ihre wirtschaftliche Stärke zu besinnen, statt sich willenlos der reaktionären Fürsten- und Adelskaste zu unterwerfen. Im Mittelpunkt dieses Werks, dem er das bürgerlich-fleißbetonte Motto »Der Roman soll das deutsche Volk da suchen, wo es in seiner Tüchtigkeit zu finden ist, nämlich bei seiner Arbeit« voranstellte, steht daher die Kolonialwarenhandlung T. O. Schröter, deren Kontoristen, Buchhalter, Kassierer, Hausknechte und Auflader alle stolz darauf sind, dass durch ihre Arbeit diese Firma »genug Profite macht und dabei auch für sie genügend Taler abfallen«.2 Ja, Anton Wohlfart, der »pflicht51

Der Deutsche Bund

getreueste« Kontorist dieser Firma, genießt es geradezu, in einem Geschäft tätig zu sein, wo das »Geld unaufhörlich in Bewegung ist«, wie es bezeichnenderweise heißt.3 Das von Freytag beschworene »Volk« besteht also in Soll und Haben vornehmlich aus den selbstzufriedenen Vertretern der Kaufmannsschicht, während von der bereits zum Teil aufmüpfigen Arbeiterklasse nirgends die Rede ist. Schon dadurch erweist sich von Anfang an, dass dem Ganzen eine spezifisch mittelständische Gesinnung zugrunde liegt, die wegen ihres kaufmännischen Arbeitsethos alles Nichtstuerische als unproduktiv, wenn nicht gar parasitär oder luxurierend empfindet. Und das sind in diesem Roman vor allem jene Adligen, die ausschließlich von den Einnahmen ihrer ererbten Landgüter leben, ohne je einen Finger zu krümmen, sowie jene lediglich betrügerische Wechselgeschäfte ins Auge fassenden »Schacherjuden«, wie der als kapitalistisches Schreckbild gezeichnete Veitel Itzig, mit dem verglichen die von Freytag herausgestellten schlesischen Kaufleute wie wahre Tugendbolde wirken. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass von diesem Roman in der Folgezeit eine neue Auflage nach der anderen erschien. In ihm sah sich das mittel- und kleinbürgerliche Lesepublikum eher widergespiegelt als in irgendwelchen pessimistisch gestimmten oder ins Historische ausschweifenden Erzählwerken, die sie im Gegensatz zu den bildungsbürgerlichen Schichten zusehends als »unzeitgemäß« empfanden. Ohne die negativen Aspekte der ins Hochkonjunkturelle übergehenden kapitalistischen Wirtschaftsweise ins Auge zu fassen, vertrauten sie erst einmal auf die »redlichen« Seiten der neuen Kaufmannsgesinnung, von der sie sich eine zunehmende Stärkung ihrer gesellschaftlichen Rolle im herrschenden Staatsgefüge versprachen. Statt wie die Radikalen unter den Achtundvierzigern oder die Marxisten innerhalb der Arbeiterbewegung einen revolutionären Umsturz der Fürsten, der sie unterstützenden Adelsklasse sowie der Großkapitalisten anzustreben, erhofften sie sich eine allmähliche Verbesserung der bestehenden innenpolitischen Verhältnisse vor allem von einer immer stärker werdenden Durchsetzung jener marktwirtschaftlichen Bestrebungen, durch die sich aus allen Ländern des Deutschen Bunds ein miteinander verflochtener Wirtschaftsraum und damit die Möglichkeit eines deutschen Einheitsstaats ergeben würde. Die ideologische Gesamtstimmung innerhalb der deutschen Kaufmannsschicht war daher in diesem Zeitraum eine zwar auf die eigene Kraft vertrauende, aber abwartende Haltung. Und das spiegelt sich auch in den meisten der literarischen, bildkünstlerischen und musikalischen Werke der Nachmärzära wider, deren ästhetische und inhaltliche Charakteristika man später, wie gesagt, erst als »poetischen Realismus« und dann als »bürgerlichen Realismus« bezeichnet hat. Was die Germanisten dabei anfangs auf literarischem Sektor herausstellten, waren vor allem – neben den Werken Gustav Freytags – die Romane und Novellen von Gottfried Keller, Wilhelm Raabe, Theodor Storm und Friedrich Theodor Vischer. Die spätere Trivial52

Die erste ökonomische Hochkonjunktur

literaturforschung hat dagegen auch Autorinnen wie Eugenie Marlitt sowie die äußerst populäre Familienzeitschrift Die Gartenlaube (ab 1853), deren Auflage schnell in die Hunderttausende ging, unter diesen Bezeichnungen klassifiziert. Was dabei als »realistisch« bezeichnet wurde, war stets jene auf alle stilistischen Überhöhungen verzichtende Erzählweise, die sich sowohl von den kritischen Attacken der jungdeutschen und vormärzlichen Literatur als auch von den klassischen und romantischen Stilhaltungen abzusetzen bemüht habe und eher in teils skeptischer, teils affirmativer Gesinnung auf die jeweils vorgegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse eingegangen sei. In bildkünstlerischer Hinsicht wurde hierbei, wenn es um Definitionen des »bürgerlichen Realismus« ging, meist auf einen Maler wie Adolph Menzel hingewiesen, der ebenfalls unter Absehung aller klassizistischen oder romantischen Verklärungen stets versucht habe, in seinen unzähligen Zeichnungen und malerischen Darstellungen das bürgerliche Alltagsleben so akkurat und ungeschminkt wie nur möglich wiederzugeben. Trotz einiger liberal gemeinter Preußenbilder sei es ihm – im Gegensatz zu den älteren Hofmalern – nie darum gegangen, sich die Gunst der herrschenden Oberklasse zu erwerben. Ja, er habe als Erster nicht gezögert, neben den Vertretern des Groß- und Kleinbürgertums sogar die in den oberschlesischen Fabriken schuftenden Arbeiter ins Auge zu fassen, die ihm wie auf seinem Bild Das Eisenwalzwerk (1872) ebenfalls als darzustellende Vertreter des heraufziehenden Industriezeitalters als bildwürdig erschienen seien. Selbst auf musikalischem Gebiet lässt sich in den fünfziger und sechziger Jahren eine ähnliche Abwendung von klassischen oder romantischen Stilhaltungen beobachten. Die Grundlage dafür bildete der zunehmende Wohlstand der bürgerlichen Ober- und Mittelschichten, der nicht nur zur Gründung neuer Symphonieorchester und zum Bau weiträumiger Konzerthallen führte, sondern zugleich bewirkte, dass sich zahlreiche besser dünkende Familien bemühten, ihre Gäste bei den üblich werdenden Diners mit Hausmusikveranstaltungen zu beeindrucken. Ja, selbst ihre eigenen Kinder hielten solche Familien an, sich im Klavierspiel zu üben, was im Sog der immer stärker werdenden marktwirtschaftlichen Verhältnisse zu einer ständig zunehmenden Fabrikation neuer Pianos und imposant wirkender Flügel führte. Und auch viele der in diesem Zeitraum entstandenen Kompositionen passten sich diesem Trend ins Bürgerlich-Eingängige an. Statt anspruchsvoller Sonaten entstanden deshalb immer mehr Klavierstücke, denen man Titel wie »Waldszenen« oder »Meeresrauschen« gab, um damit realistisch wirkende Evokationen hervorzurufen, die auch musikalisch Ungebildeten von vornherein verständlich sein würden. Das Gleiche gilt für den Bereich der Orchestermusik, wo an die Stelle weitausladender Symphonien zusehends jene Tongemälde traten, die wie in der Klaviermusik ebenfalls gern mit »realistisch« klingenden Titeln versehen wurden. Sogar in 53

Der Deutsche Bund

der Oper, in der bisher fast ausschließlich graziöse oder heroisch gestimmte Arien dominiert hatten, kam es in diesem Zeitraum zum Teil zu einer Anpassung an eher erzählerische Stilmittel, denen Richard Wagner bereits mit seiner Romerzählung im Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg (1845) und seiner Gralserzählung im Lohengrin (1850) vorgearbeitet hatte. In seinem Musikdrama Tristan und Isolde (1865) verzichtete er daher – außer in der Schlussszene – auf alle Arien und bediente sich fast ausschließlich eines leitmotivisch untermalenden Sprechgesangs. Erst als die Reichsgründung immer wahrscheinlicher wurde, griff er in den Meistersängern von Nürnberg (1868) aus ideologischen Gründen wieder zum Teil auf eher populär wirkende Melodien zurück, um damit möglichst viele Operngänger und -gängerinnen von seiner Hochschätzung des deutschen Bürgertums zu überzeugen, das schon in der frühen Neuzeit eine bedeutsame Rolle im gesellschaftlichen und kulturellen Leben gespielt habe. Um es noch einmal kurz zusammenzufassen: Das Hauptcharakteristikum der Kunst der fünfziger und sechziger Jahre war vor allem ein von mancherlei nationalliberalen Hoffnungen durchsetzter »bürgerlicher Realismus«, der sich trotz mancher pessimistischen Untertöne vornehmlich darum bemühte, dem vorher lange Zeit unterdrückten Bürgertum durch die von ihm in Gang gebrachte industrielle Revolution ein stärkeres Selbstbewusstsein einzuflößen, das dieser Gesellschaftsschicht später möglicherweise auch politisch zugutekommen würde.

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Das Zweite Kaiserreich

Gründerzeitlicher Triumphalismus

Woran die vielstimmig durcheinanderredenden Vertreter des Frankfurter Paulskirchenparlaments 1848 in monatelangen Diskussionen gescheitert waren, schaffte der preußische Realpolitiker Otto von Bismarck im Jahr 1871 durch einen von ihm angezettelten Krieg gegen den Erbfeind Frankreich geradezu über Nacht, nämlich die von den bürgerlichen Befreiungskriegern und den späteren Nationalliberalen seit Jahrzehnten ersehnte Errichtung eines deutschen Einheitsstaats. Daher gab es nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation in den Jahren zwischen 1803 und 1806 sowie dem zwischen 1815 und 1866 aus 39 Einzelterritorien bestehenden Deutschen Bund zwar endlich wieder ein deutsches Reich, auf das alle patriotisch gestimmten Bevölkerungsschichten stolz sein konnten. Aber in welcher Form? Schließlich handelte es sich dabei um einen Staat, in dem nicht die sich im Zuge der industriellen Revolution der fünfziger und sechziger Jahre bereichernde Bürgerklasse ans Ruder gekommen war, sondern in dem eine Bismarck’sche Staatsauffassung herrschte, der zum Teil noch immer die altadligen Herrschaftsstrukturen zugrunde lagen. Und zwar äußerte sich das auf allen Ebenen. Trotz eines aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen parlamentarischen Regierungssystems war schließlich 1871 kein liberal gesinnter Bürgerstaat entstanden, sondern ein Zweites Kaiserreich, das sich zu seiner ideologischen Legitimierung ständig auf die glorreiche Vergangenheit des Ersten Kaiserreichs berief, ja dabei sogar bis auf die nicht genug zu rühmenden Heldentaten der germanischen Vorzeit zurückgriff. Demzufolge errichteten die staatlichen Stellen auf dem Gelände der alten Kaiserpfalz in Goslar neben dem Reiterdenkmal des Stauferkaisers Barbarossa ein ebenso eindrucksvolles Reiterdenkmal für den Hohenzollernkaiser Barbablanca, um auch Wilhelm II. die gleiche Ehre zu erweisen. Dieselbe Funktion hatte das 1875 fertiggestellte Hermanns-Denkmal bei Detmold sowie das 1892 eingeweihte Kyffhäuser-Denkmal im Thüringer Wald, ganz zu schweigen von den vielen Germanenromanen à la Felix Dahns König Roderich (1875) und Ein Kampf um Rom (1876) sowie Gustav Freytags vierteiligem Romanzyklus Die Ahnen (1873–1881). Auf musikalischem Gebiet ist für diesen Germanenkult vor allem die ins Mythologische übersteigerte Operntetralogie Der Ring des Nibelungen von Richard Wagner charakteristisch, die 1876 unter Beteiligung vieler deutscher Fürsten in dem kurz zuvor fertiggestellten Festspielhaus in Bayreuth uraufgeführt wurde. Ja, selbst viele der damals entstandenen Orchesterwerke, denen im Gegensatz zu den zahlreichen Kaisermärschen keine inhaltlichen Festlegungen 55

Das Zweite Kaiserreich

zugrunde lagen, wiesen in ihrer monumentalen Klangfülle und zugleich ihrer an Beethoven erinnernden Dramatik durchaus einen indirekten Bezug auf den in den siebziger Jahren herrschenden Zeitgeist auf. Noch eindeutiger äußerte sich dieser Vergangenheitskult in der gründerzeitlichen Architektur, wie der anfangs vornehmlich mit Bildern nationaler Heldentaten ausstaffierten Nationalgalerie (1876) sowie dem später errichteten Reichstagsgebäude (1884–1894), bei denen ein monumentalisierender Historismus vorherrschte, der sich ebenfalls nur als gründerzeitlich verstehen lässt. Mit anderen Worten, all dem lag ein nationaler Triumphalismus zugrunde, mit dem die Bismarck’schen Führungskreise irgendwelche bürgerlichen Fortschrittsbestrebungen oder gar rebellische Forderungen von Seiten der sich der Sozialdemokratischen Partei anschließenden Arbeiterklasse von vornherein zu überblenden oder notfalls zu unterdrücken versuchten.

Abb. 12  Walter Kyllmann und Adolf Heyden: Kaiser-Passage, Berlin-Friedrichstraße (1873)

So viel zu einigen von den regimeverbundenen Schichten ausgehenden ideologischen und künstlerischen Bemühungen, das Zweite Kaiserreich als eine glorreiche Wiederherstellung des Ersten Kaiserreichs hinzustellen. Doch wie reagierte eigentlich jene wirtschaftlich immer stärker werdende Bürgerklasse auf diesen sich als »Wiedergeburt« ausgebenden Hohenzollernkult? Ihre Haltung lässt sich schwer auf einen durchgehenden Nenner bringen. Jene bürgerlichen Nationalliberalen, denen es eher um das Nationale als um das Liberale gegangen war, ließen sich von diesem trium56

Gründerzeitlicher Triumphalismus

phalen Reichspatriotismus durchaus blenden. Und das führte im Laufe der siebziger Jahre zur allmählichen Auflösung der Nationalliberalen Partei und damit zum Erstarken der eher konservativ gesinnten Fraktionen im wilhelminischen Reichstag. Andere, bisher liberal Eingestellte zogen sich danach entweder ins Private zurück oder huldigten einem gesellschaftlich unverbindlichen Geniekult, der zum Teil mit der verbreiteten Glorifizierung Bismarcks als eines geradezu übermenschlichen Heroen zusammenhing. Kein Wunder daher, dass sich fast keiner von ihnen für die rebellischen Forderungen der sogenannten »Sozis« interessierte, die erst in den späten achtziger Jahren im Gefolge einer als »Naturalismus« ausgegebenen Aufmüpfigkeit ins Blickfeld einer Reihe progressiv eingestellter Bürgerlicher gerieten. Doch wie verhielt sich in diesem Zeitraum eigentlich die Mehrheit der bürgerlichen Oberschichten dem durch die Reichsgründung ausgelösten nationalen Triumphalismus gegenüber? Sicher wurde sie davon in die gleiche Hochstimmung versetzt wie die Hohenzollernschwärmer oder die von einem nietzscheanischen Größenwahn Ergriffenen, reagierte aber darauf – genauer gesehen – eher auf eine klassenspezifische Weise, die nicht nur mit den politischen, sondern auch den ökonomischen Wandlungen dieser Umbruchsära zusammenhängt. Schließlich kam es kurz nach 1871 durch den Wegfall der letzten Zollschranken zwischen den einzelnen deutschen Staaten sowie die von den Franzosen erzwungenen Reparationszahlungen im BismarckReich zu einem wirtschaftlichen Aufschwung, der selbst die Hochkonjunkturphase der sechziger Jahre weit übertraf. In allen Gegenden Deutschlands schossen plötzlich Aktiengesellschaften aus dem Boden, die sich die Erschließung von Bergwerken, die Anlage von Werften sowie die Gründung von Schifffahrtsgesellschaften zur Aufgabe machten. Obendrein verwandelten sich bereits bestehende Industriekomplexe wie Borsig und Krupp geradezu über Nacht in einflussreiche Konzerne. Andere wie Blohm und Voss kamen neu hinzu und vergrößerten sich rasch. Zugleich wurden in denselben Jahren die ersten Großbanken gegründet: 1871 die Deutsche Bank, 1875 die Reichsbank. Und Rudolf Mosse sorgte zum gleichen Zeitpunkt durch die Errichtung einer ganz Deutschland umspannenden Anzeigenagentur dafür, dass alle diese Institutionen ihren Wirkungskreis durch einen Reklamefeldzug größten Ausmaßes erweitern konnten. Im Gefolge dieser wirtschaftlichen Aufbruchsstimmung entstand zwischen 1871 und 1873 ein ökonomisches Spekulationsfieber, dem ein gründerzeitlicher Bereicherungsdrang zugrunde lag, durch den sich viele der vorher behaglich dahinlebenden bürgerlichen Kaufleute in ehrgeizige und rücksichtslose Börsianer verwandelten, die den gleichen »Herr im Hause«-Standpunkt vertraten wie die Vertreter der wilhelminischen Führungsclique. Während bisher in diesen Kreisen eher das Kleinstädtische als gesellschaftliches Leitbild tonangebend gewesen war, setzte demzufolge ein Zug in die Großstädte ein, der von Jahr zu Jahr immer unaufhaltsamer 57

Das Zweite Kaiserreich

wurde. Nichts schien mehr am Boden zu haften. Was in diesen Kreisen zählte, waren nur noch Geld, Ware und Arbeitskraft. Ja, für die Hauptvertreter dieser Schicht wurde die Börse zum eigentlichen Zentrum des Lebens. Als ein besonders eklatantes Beispiel dieser Lebenshaltung galt damals jener Barthel Heinrich Strousberg, der sich mit der Gründung von Eisenbahnen in ganz Europa einen Riesenbesitz verschafft hatte, und zwar unter Verwendung vertrauenerweckender Namen, ungesicherter Zahlungen und fremder Kapitalien. Wie er zögerten daher viele dieser durch den wirtschaftlichen Gründergeist begünstigten Parvenüs keineswegs, diesen auf finanzielle Bereicherung drängenden Durchsetzungswillen auch in ihrem Lebensstil zu demonstrieren. Ob im Trubel der Berliner Börse oder auf der Promenade von Heiligendamm: Überall traten die Repräsentanten dieser Schicht mit einer Attitüde auf, als wollten sie sagen: »Was kostet die Welt?« Sie spekulierten, fädelten Intrigen ein, streuten ruinöse Gerüchte aus, stiegen über den Nacken ihrer Mitbewerber hinweg, um nur ja den »Anschluss nach oben« nicht zu verpassen. Bisherige, auf Zurückhaltung bedachte Konventionen galten in diesen Kreisen plötzlich als lächerliche Relikte einer biedermeierlichen

Abb. 13  Das Buch für alle: Drei Generationen (1887) 58

Gründerzeitlicher Triumphalismus

oder nachmärzlichen Vergangenheit, an die man sich nicht gern erinnerte. Sie hielten sich lieber an das von Bismarck ausgegebene Motto: »Macht geht vor Recht!« Trotz alledem äußerte sich im Benehmen dieser Parvenüschichten manchmal noch ein Rest an gesellschaftlicher Unsicherheit. Um ihre bisherigen Minderwertigkeitsgefühle dem Adel gegenüber zu überwinden, bevorzugten diese Emporkömmlinge deshalb in ihrer Kleidung stets das bewusst Prätentiöse. So traten die Herren dieser Gesellschaftsschicht gern mit Zylinder und Galafrack auf, während sie ihre Damen mit allem, was als »gut und teuer« galt, also Brokat, Samt und Seide, ausstaffierten. Dazu kamen Brüsseler Spitzen, Brillantagraffen, künstliche Blumen und Pfauenfedern auf den Hüten, als sollten diese Aufsteigerfrauen mit allen Mitteln die Kreditwürdigkeit ihrer Männer unter Beweis stellen. Fast noch penetranter äußerte sich diese Protzerei, wenn man an den vom Gründerfieber ergriffenen Wohnungsstil dieser Gesellschaftsschicht denkt. Beinahe alle diese Spekulanten wohnten in der Beletage oder in Villen, wo man sich aller nur denkbaren Tapezierer- und Stuckateurkünste bediente, um so sämtlichen Gemächern den Anschein feudaler Prunkräume zu geben. Das Wichtigste war den Besitzern dieser »Fürstlichkeit frei Haus« nicht das Wohnliche, sondern das Teure, Kostümierte, Aufgedonnerte. Um nicht weiterhin als spieß- oder kleinbürgerlich zu gelten, füllte man daher selbst die letzte Ecke mit prachtvoll wirkenden Schaustücken, ob nun anerkannten Wertobjekten oder bloßem Kitsch. Wenn es nur glänzte, nur teuer wirkte, nur beeindruckte, dann galt auch Unbedeutendes als legitim. Die meisten dieser Zimmer oder besser Salons hatten daher den Charakter reiner Schauräume, in denen man nicht wohnte, sondern die man nur vorzeigte. Wie die damaligen Künstlerateliers oder Antiquitätenläden waren sie meist mit allem vollgestopft, was im Sinne modischer Interieurs à la Hans Makart irgendwie museal oder kostbar wirkte. Überall strotzte es nur so von altdeutschen Schränken, gotischen Tischen, Ritterrüstungen, Palmwedeln, Jagdtrophäen, Zinnhumpen, Nippesfiguren oder ledergebundenen Klassikerausgaben, um ihnen im Sinne des gründerzeitlichen Historismus den Anschein des Altehrwürdigen zu geben. Die gesellschaftlichen Höhepunkte dieser Parvenügesellschaft bildeten dabei stets jene Bälle, Diners und anderen Festivitäten, die in diesen Räumen stattfanden. Eingeladen wurden dazu nur jene, die zu den »besten Häusern« der gründerzeitlichen Schickeria gehörten, das heißt vor allem Offiziere, Kommerzienräte, Hofdamen, bekannte Opernsänger, die nach dem Dessert eine Wagner-Arie zum Besten gaben, sowie irgendein Renommierbaron, der dem Ganzen eine »höhere Weihe« verleihen sollte. Und zwar ließ man sich solche Empfänge durchaus etwas kosten. Überall mussten kalte Büffets und Kübel mit eisgekühlten Champagnerflaschen herumstehen, ganz zu schweigen von opulenten Zigarrenkisten und Batterien feinster Likörsorten. Außerdem heuerte man ein zusätzliches Küchenpersonal an und stellte auf der Ein59

Das Zweite Kaiserreich

gangstreppe ein paar die Ankommenden begrüßende Lohndiener auf, um sich das gewünschte gesellschaftliche Renommee zu verschaffen, das auf diesem »Olymp des Geldes« als das höchste Wertkriterium galt. Selbst die zuvor eher linkisch Auftretenden fühlten sich deshalb bei solchen Festivitäten plötzlich innerlich erhoben, das heißt wollten nicht mehr hinter den Vertretern der älteren Oberschichten zurückstehen, sondern begannen, wie diese ebenfalls in den Kategorien von Oben und Unten, von Thron und Schemel, von Herren- und Sklavenmoral zu denken. Sie waren demzufolge maßlos stolz, wenn man ihnen von Seiten der Regierungskreise den Titel Kommerzienrat verlieh oder sie sogar in den Adelsstand erhob und sie sich fortan als Herr von Schulze oder Herr von Lehmann ausgeben konnten. Schließlich wollten sie von den Mitgliedern der wilhelminischen Führungsschicht nicht nur als gewinngierige Börsianer, sondern als gleichwertige Vertreter der gründerzeitlichen Oberschicht angesehen werden. Ja, viele empfanden ihre wirtschaftliche Machtposition für die Stärkung des Zweiten Kaiserreichs als ebenso bedeutsam wie die triumphale Siegerstimmung innerhalb jener Adelsclique, die weiterhin das politische Geschehen in ihrem Sinne zu beeinflussen suchte. Doch nicht nur das. Wenn diese gründerzeitlichen Parvenüs mit ihren Damen aus Repräsentationsbedürfnissen ab und zu in die Oper, ein Staatstheater oder ein Galakonzert gingen, glaubten sie sogar, die maßgeblichen Vertreter der zu diesem Zeitpunkt tonangebenden »Kultur« zu sein. Dass ihre Eltern noch die Gartenlaube gelesen und am Samstagnachmittag einen Biergarten aufgesucht hatten, durfte in diesen Kreisen nicht einmal mehr in vertraulichen Gesprächen erwähnt werden. Im Sinne der gründerzeitlichen Erfolgsgesinnung hatten diese Parvenüs das Gefühl, jetzt endlich ganz oben zu sein. Daher fühlten sie sich am wohlsten bei Sektempfängen in den Empfangsräumen ihrer Villen mit den darin zur Schau gestellten möglichst altertümlich wirkenden Dekorationen, die eine historisch legitimierte Wohlhabenheit ausstrahlen sollten. Letztlich war es also gar nicht ihr Umgang mit Kunst, den sie als »Kultur« empfanden, sondern ihr durch die reichlich fließenden Renditen ermöglichtes gesellschaftliches Auftreten, mit dem sie sich von ihrer »bürgerlichen« Herkunft so weit wie möglich distanzieren wollten. Moralinfreie Auslebebedürfnisse

Während es den staatlichen und kirchlichen Institutionen in der Metternich’schen Restaurationsperiode, ja selbst noch in der Nachmärzära aufgrund der weiterhin vorindustriellen Bescheidenheitsverhältnisse gelungen war, die polygame Natur ihrer Untertanen so weit wie möglich im Zaum zu halten, kam es im Zuge der ersten kapitalistischen Boomperioden innerhalb der sich bereichernden bürgerlichen 60

Moralinfreie Auslebebedürfnisse

Oberschichten – wie in England und Frankreich – auch in Deutschland nicht nur in ökonomischer, sondern auch in erotischer Hinsicht zu einem nur noch schwer zu unterdrückenden Selbstrealisierungsverlangen, das keine der älteren Tabus mehr anerkennen wollte. Entgegen sämtlichen Ermahnungen, die seit Langem bestehenden staatlichen Sittengesetze einzuhalten und sich von jenen Bezirken zu distanzieren, für die meist das Etikett »Schmutz und Schund« verwendet wurde, entfaltete sich dadurch im Gefolge der konsumbetonten Marktwirtschaft der spätwilhelminischen Ära ein großstädtisches Vergnügungswesen, das in seinem Angebot einer ungehemmten Sexualität alle älteren Einrichtungen dieser Art bei weitem übertraf. Neben den von liberaler Seite, wie dem 1897 von Magnus Hirschfeld gegründeten »Wissenschaftlich-humanitären Komitee«, durchaus gerechtfertigten Forderungen, den Paragrafen 175 abzuschaffen, der den Geschlechtsverkehr unter Männern strafrechtlich untersagte, sowie den Bemühungen feministisch eingestellter Frauenrechtlerinnen, welche gegen die »Ehesklaverei« zu Felde zogen, wurden daher im Zuge der Anfang der neunziger Jahre einsetzenden marktwirtschaftlichen Hochkonjunktur noch mehr Freudenhäuser gegründet, noch mehr Chambres separées eingerichtet, noch mehr pornografische Postkarten verkauft, noch mehr Appartements für »ausgehaltene« Frauen gemietet und noch mehr Revuen mit halb­bekleideten oder nackten Tänzerinnen inszeniert. Was zuvor im Hinblick auf die ältere Mätressenwirtschaft als Adelsprivileg galt oder nur im Geheimen geblüht hatte, trat somit gegen Ende des 19. Jahrhunderts im großstädtischen Milieu immer stärker ins kaum mehr auszublendende Rampenlicht der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Die ideologischen Reaktionen auf diese immer »schamlosere« Erotisierung der durch den steigenden Wohlstand ausgelösten bürgerlichen Vergnügungsbedürfnisse waren anfangs höchst zwiespältiger Art. Neben einer rückhaltlosen Befürwortung dieses vornehmlich maskulinen Lustverlangens in den damals als »Boheme« bezeichneten Autorengruppen herrschten dagegen im offiziellen beziehungsweise offiziösen Schrifttum dieser Ära fast ausschließlich massive Verdammungen solcher sexuellen Auslebetendenzen, denen die Vertreter der Obrigkeit mit moralin­ getränkten Überheblichkeitsgefühlen entgegenzutreten versuchten. Allerdings lag derartigen Abwehrbemühungen zumeist eine offenkundige »doppelte Moral« zugrunde. Schließlich bewirkte das vielfältige Angebot innerhalb der marktwirtschaftlichen Vergnügungsindustrie zwangsläufig eine rasant ansteigende Nachfrage nach libidinösen Genüssen, der sich selbst viele sogenannte »charakterfeste Ehrenmänner« unter den besser verdienenden Bevölkerungsschichten nicht entziehen konnten. Ja, genauer gesehen, verstießen die noch so lauthals verkündeten staatlichen Moralappelle gegen das rapide zunehmende Auslebebedürfnis notwendigerweise gegen die Grundprinzipien jenes sich übermächtig durchsetzenden kapitalistischen Systems, das bereits damals auf eine scheinbar unaufhaltsame Akzelerierung profitver61

Das Zweite Kaiserreich

sprechender Konsumangebote drängte. Und zu diesen Angeboten gehörte in steigendem Maße auch die »Ware Liebe«, und zwar gleichviel in welcher Ausprägung. Dementsprechend äußerten sich die erotischen Auslebebedürfnisse innerhalb der wilhelminischen Bourgeoisie in den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg – ins Pauschalisierende verkürzt – meist folgendermaßen: Aufgrund der wirtschaftlichen Prosperität des Zweiten Kaiserreichs, das zu diesem Zeitpunkt in der Weltrangliste der führenden Industrienationen der Welt erstmals – nach den USA – den zweiten Platz einnehmen konnte, nahmen nicht nur die materiellen, sondern auch die erotischen Bedürfnisse innerhalb breiter Mittelschichten ständig zu und wurden zum Teil durch eine profitgierige Vergnügungsindustrie befriedigt, deren Angebote weit über alles hinausgingen, was der immer selbstbewusster auftretenden Bürgerklasse bisher an Liebesdiensten oder Voyeurgenüssen zur Verfügung gestanden hatte. Daher konnte ein Sexualwissenschaftler wie Sigmund Freud erst in dieser Ära und nicht schon im relativ »keuschen« Biedermeier oder während der Nachmärzzeit mit der Behauptung auftreten, dass das sexuelle Begehren alle anderen menschlichen Verhaltensweisen mitbestimme oder gar verursache. Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass sich auch weite Bereiche des hochkulturellen Kunstmarkts diesem Trend zu einer steigenden Erotisierung anpassten. Innerhalb der schöngeistigen Literatur sprechen dafür die vielen Dirnenlieder dieser Ära mit ihren lüsternen Nixlein oder Demi-vierges, die mit wohlbestellten Miedern in kleinen, verwegenen Zimmern auf eventuelle Freier warten oder sich schamlos dem Erstbesten als Lustobjekte anbieten. Eine ähnliche, bisher kaum denkbare Drastik herrschte trotz mancher weiterbestehenden Zensurgesetze in vielen Dra-

Abb. 14  Lovis Corinth: Liegender Akt (1899) 62

Moralinfreie Auslebebedürfnisse

men dieser Epoche, und zwar von Frank Wedekinds Frühlings Erwachen (1893) bis zu Arthur Schnitzlers Der Reigen (1900), die vor allem wegen ihrer sexuellen Offenheit viel Aufsehen erregten. Nicht minder »anzüglich« wirkt die Vielzahl erotischer Motive auf erzählerischem Gebiet, wo es unter dem Motto »In philistros«, wie in den Geschichten von Otto Julius Bierbaum und Max Dauthendey, ebenfalls häufig um pikant anreizende Sexszenen oder zumindest um flüchtige Liebeleien geht. Derselbe Trend ins Frivole und zugleich Stimulierende machte sich in weiten Bereichen der Malerei dieses Zeitraums bemerkbar. Überall paradieren hier nackte Frauen mit ihren Körpern, als wollten sie sich mit ihren runden Schenkeln und wippenden Brüsten möglichen Betrachtern so ungeniert wie nur möglich als Lustobjekte anbieten. Deshalb wirken viele dieser Bilder, wie etwa die Aktmodelle von Lovis Corinth, oft wie Darstellungen käuflicher Dirnen, die eine kaum unterdrückte Lust an ihrer öffentlichen Zurschaustellung empfinden. Ebenso anzüglich wirken viele Abbildungen in manchen Zeitschriften um 1900, bei denen, wie in der seit 1896 in München erscheinenden Jugend, häufig eine Chambre-separée-Stimmung herrscht, die in ihrer Eindeutigkeit fast ans Pornografische grenzt. Zu einer ähnlichen Erotisierung kam es sogar in der sogenannten anspruchsvollen Musik dieser Jahre. In Anlehnung an Richard Wagners Tristan-Harmonien setzte auch in ihr ein Hang zum Drängenden und Schwelgerischen ein, der, wie in den Liedern von Richard Strauss und Hugo Wolf, in seinen Melismen oft in einer erotisch gefärbten Pointe mündet. Auf dem Gebiet der Oper erlebte diese Sexualisierung ihren ersten Höhepunkt in der Feuersnot (1901) von Strauss. Um einen bösen Geist zu versöhnen, opfert hier eine Jungfrau ihre Unschuld, woran auch die musikalische Untermalung keinen Zweifel lässt. Einen weiteren Höhepunkt erlebte diese Tendenz ins Sexualisierte dann in seiner Salome (1905), deren »Tanz der sieben Schleier« wie ein lang hinausgezogener, bis zur letzten Erfüllung drängender Orgasmus wirkt. Als ihn der sich moralinsauer gebende Kaiser Wilhelm II. nach einer Aufführung dieser Oper zu sich in die Hofloge bestellte und Strauss fragte, ob er sich durch eine solche Szene »nicht janz furchtbar schaden« würde, erwiderte ihm der marktversierte, auf die Zeitstimmung vertrauende Strauss lediglich: »Von diesem Schaden konnte ich mir in Garmisch-Partenkirchen bereits eine Villa bauen lassen«.1 Deshalb zögerte Strauss – auf das Einverständnis seines großbürgerlichen Publikums vertrauend – nicht, seine darauffolgende Oper Der Rosenkavalier (1912) mit einer Szene beginnen zu lassen, in der eine alternde Marschallin nach einer gemeinsamen Liebesnacht mit einem siebzehnjährigen »Bub« aus dem Bett steigt. Doch nicht nur in den sogenannten höheren Künsten, auch auf allen anderen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens machte sich gleichzeitig, wie bereits gesagt, trotz aller staatlich verordneten Sittengesetze ein durch die hochkonjunkturellen Verhältnisse bedingtes erotisches Auslebebedürfnis bemerkbar, das nicht mehr ein63

Das Zweite Kaiserreich

zudämmen war. Wie ließen sich unter solchen Voraussetzungen noch jene Tugendvorstellungen aufrechterhalten, mit denen sich das gesellschaftlich aufsteigende Bürgertum seit dem späten 18. Jahrhundert aus den Fesseln der bisher kirchlich abgesegneten Monogamie zu befreien suchte, die in der Liebe vor allem einen Pakt seelisch verbundener Partner gesehen hatten? War nicht seit der Empfindsamkeit und dann der Romantik die vielbeschworene »Liiiebe« inzwischen zu einem Hemmschuh geworden, der allen marktwirtschaftlichen Konsumgelüsten entgegenstand? Ja, führten nicht die sich schnell verändernden sozioökonomischen Voraussetzungen und die sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu einer Situation, in der sich die polygame Natur vieler Menschen endlich in einer immer zwangloseren Verfreiheitlichung ausleben konnte, ohne dabei auf irgendwelche »höheren Werte« Rücksicht zu nehmen? Nun, dieser Tendenz standen selbst zwischen 1900 und 1914 noch mancherlei Schranken entgegen. Um daher die von den sogenannten gutbürgerlichen Schichten der wilhelminischen Bevölkerung weiterhin aufgrund altgewohnter Moralvorstellungen als schockierend empfundenen Begleitumstände dieser Triebenthemmung

Abb. 15  Stehender Frauenakt im Garten (1914) 64

Das naturalistische Zwischenspiel

nicht allzu krass hervortreten zu lassen, gaben demzufolge die von der »Lebensreform« herkommenden Kreise, welche sich in ihren sinnlichen Wunschvorstellungen à la Fidus zum Nudismus bekannten, in Blättern wie Die Schönheit oder Ideale Nacktheit anfangs lieber einen Drall ins Idealisierende, indem sie zwar bei ihren unzähligen Aktdarstellungen die zuvor übliche antikisierende Maskerade wegließen, aber stets das körperlich Wohlgestaltete herausstellten. Ihnen ging es nicht um Sexszenen, die auf jeden »geistigen Aufwind« verzichteten, wie es in ihren programmatischen Verlautbarungen gern hieß, sondern stets um die »natürliche« Beschaffenheit des menschlichen Körpers. Doch das waren häufig nur ideologische Ablenkungsmanöver. Schließlich stand auch bei ihnen, wie beim konsumlüsternen Rest der Bourgeoisie, fast immer die Absicht dahinter, im Sinne der damals immer stärker werdenden Erlebnisantriebe den Hauptakzent vor allem auf den erotischen Anreiz ihrer Gemälde, Grafiken und vor allem Aktfotografien zu legen. Und damit folgten auch sie – wenn auch meist mit idealistischem Anspruch, sich lediglich zu der wahren Nacktheit zwischen »Scham und Schönheit, zwischen Keuschheit und Sinnenfreiheit bekennen zu wollen2 – weitgehend dem seit der Mitte der neunziger Jahre im Zuge des steigenden Wohlstands entstandenen Trend zu erotischen Mehrwertgelüsten, dem die finanzielle Bereicherung endlich die materielle Voraussetzung bot. Und so erwies sich selbst in diesem Bereich die wahre Nacktheit oft als die Ware Nacktheit. Das naturalistische Zwischenspiel

Obwohl es nach dem anfänglichen Gründerjubel schon im Jahr 1873 zu einer wirtschaftlichen Depression kam, die in mehr oder minder gleichbleibender Form bis zum Beginn der neunziger Jahre anhielt, setzten die politischen und großbürgerlichen Führungsschichten des Zweiten Kaiserreichs alles daran, den äußeren Glanz der von ihnen errichteten Reichsfassade mit Prachtbauten, Militärparaden und spektakulären Hochkulturereignissen so eindrucksvoll wie nur möglich zu erhalten. Und das gelang ihnen auch eine Weile. Die Uniformen der Garderegimenter wurden immer prächtiger, die Pickelhauben glänzten, die konservativ gestimmte Presse erging sich in Elogen über die Prinzengarde, die Hoftheater führten mit prachtvollen Kostümen Historiendramen auf, die Opernhäuser erstrahlten in nie gesehener Lichterfülle, in den Konzertsälen ertönten nicht nur Symphonien, sondern auch Kaisermärsche und in den neugebauten Villen der reich gewordenen Börsianer fanden prunkvolle Festivitäten statt, die es vorher in dieser Form noch nie gegeben hatte. Doch darunter, in den Niederungen der Gesellschaft, verbreitete sich zur gleichen Zeit eine Armut, die von Jahr zu Jahr ständig größer und niederdrückender wurde. Schließlich waren im Zuge der in den fünfziger Jahren einsetzenden Hochkonjunktur immer mehr Menschen aus den ländlichen Gebieten des Deutschen 65

Das Zweite Kaiserreich

Bunds in die sich im Gefolge der zunehmenden Industrialisierung unaufhaltsam vergrößernden Städte gezogen, um ebenfalls an den »Segnungen« der neuen Maschinen- und Marktwirtschaft teilzuhaben, was sich jedoch angesichts der nach 1873 einsetzenden ökonomischen Stagnation als ein Trugschluss erwies. In Mietskasernen oder kümmerlich ausgestatteten Notunterkünften untergebracht, entschlossen sich darauf in der Folgezeit Hunderttausende von ihnen, entweder in die USA auszuwandern oder in gedrückter Stimmung auf eine allmähliche Verbesserung der herrschenden Zustände zu warten. Als sich die Klassenbewussteren unter ihnen der 1869 von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründeten Sozialistischen und dann Sozialdemokratischen Partei zuwandten, entschied sich daher Bismarck aus Furcht, dass diese Organisation wegen ihrer unaufhaltsam anwachsenden Mitgliederzahl die von ihm durchgesetzte wilhelminische Gesellschaftsordnung in Frage stellen könnte, für die im Jahr 1878 erlassenen Antisozialistengesetze, um diese »vaterlandslosen Gesellen«, wie er sie nannte, so weit wie möglich zu unterdrücken. Und das hatte anfangs auch den von Bismarck erwünschten Erfolg. Schließlich konnte er sich bei diesen Maßnahmen nicht nur auf die Zustimmung der Adelsschichten, sondern auch auf die überwältigende Mehrheit der bürgerlichen Oberund Mittelschichten stützen, die wie er weiterhin an der Aufrechterhaltung der wilhelminischen Fassade eines durch die Reichsgründung endlich erreichten Zweiten Deutschen Kaiserreichs festhielten, an dem es kaum noch etwas zu verändern gebe. Zu irgendwelchen Protesten gegen Maßnahmen dieser Art kam es daher in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren selbst von angeblich liberaler Seite kaum. Stattdessen herrschte weiterhin – politisch gesehen – ein von allen Oberschichten unterstützter »Burgfrieden«, der vornehmlich an der aufrechtzuerhaltenden Klassenaufteilung interessiert war. Eine Änderung dieser Situation setzte erst gegen Mitte der achtziger Jahre ein, als selbst manche der bürgerlichen Intellektuellen die nach wie vor gedrückten wirtschaftlichen Zustände zu spüren begannen und sich entschlossen, den herrschenden Gesellschaftsverhältnissen den Kampf anzusagen. Und zwar zogen sie dabei, wie Heinrich und Julius Hart, in ihren bereits 1882 publizierten Kritischen Waffengängen erst einmal gegen die wilhelminische Fassadenkultur zu Felde, die ihnen – angesichts der ständig weiter auseinanderklaffenden Klassengesellschaft – als rebellisch gesinnten Vertretern des »Jüngsten Deutschlands« als unzeitgemäß, ja grundsätzlich verwerflich erschien. Was sie damit meinten, war vor allem das Makartisieren in der Malerei, der Opernpomp Richard Wagners, die prunkvoll ausstaffierten Aufführungen von Historiendramen sowie die chauvinistischen Germanenromane. Stattdessen befürworteten sie eine »realistische Kunst«, die sich in Malerei und Literatur endlich der gegenwärtigen Situation zuwenden solle. Sie, wie auch andere Vertreter dieser Richtung, traten deshalb dafür ein, dass man in Zukunft vor allem auf den 66

Das naturalistische Zwischenspiel

Opiumrausch der gründerzeitlichen Musikbetriebsamkeit verzichten solle, der lediglich einlullend und damit fortschrittshemmend sei. Als wahrhaft gegenwartsbezogen erschienen ihnen, wie auch den Autoren der kurz darauf von Michael Georg Conrad gegründeten Zeitschrift Die Gesellschaft, nur jene bereits von den Jungdeutschen und Vormärzlern vertretenen Forderungen nach einer größeren sozialen Verantwortlichkeit der Kunst, die sich in Literatur und Malerei ausschließlich mit den konkreten Zuständen der gesellschaftlichen Verhältnisse auseinandersetzen würde. All das führte schließlich zu jenem »konsequenten Naturalismus«, den darauf Arno Holz und Johannes Schlaf in ihren Dramen und Prosawerken in den späten achtziger Jahren in Anlehnung an Émile Zolas »méthode naturaliste« auch in der deutschen Literatur durchzusetzen versuchten. Allerdings ging es ihnen hierbei erst einmal um eine äußerst penible Wiedergabe der dargestellten Realität sowie eine mit vielen »Ähs« und »Hms« wiedergegebene alltägliche Redeweise, um so gegen die gründerzeitlichen Bemühungen um eine sprachliche Hochstilisierung zu Felde zu ziehen, statt mit dieser Entlarvung des ins Heroische und Monumentale tendierenden Stils der wilhelminischen Oberschichten zugleich eine Parteinahme für das in bitterster Armut lebende Proletariat zu verbinden. Diesen Schritt vollzog erst Gerhart Hauptmann 1889 mit seinem Drama Vor Sonnenaufgang. Seine Zentralfigur ist ein Sozialökonom, der auf einer Erkundungsreise das oberschlesische Industriegebiet aufsucht, dessen Bewohner vor allem ausgebeutete Bergarbeiter und durch Landverkauf reich gewordene Großbauern sind, was den Letzteren – wenn auch auf äußerst vulgäre Weise – erlaubt, genauso protzenhaft aufzutreten wie die gründerzeitlichen Villenbesitzer in Berlin, in Sachsen oder im Ruhrgebiet. Ja, Hauptmann zögerte anschließend nicht, nach der 1890 durch den sich angeblich als wohlwollenden »Volkskaiser« ausgebenden Wilhelm II. veranlassten Aufhebung der von Bismarck erlassenen Antisozialistengesetze, zwei Jahre später sogar in seinem Stück Die Weber jenen 1844 erfolgten Aufstand der durch die beginnende Industrialisierung verarmten schlesischen Handweber zu dramatisieren, was bei den wilhelminischen Hofkreisen auf heftigsten Widerspruch stieß, während es von der sozialdemokratischen Presse umjubelt wurde. Die gleichen Reaktionen löste seine 1893 aufgeführte kritische Komödie Der Biberpelz aus, in der ein offiziersmäßig auftretender Amtsvorsteher namens von Wehrhahn lediglich einen liberalen Privatgelehrten als Gegner ins Auge fasst und daher in seiner politischen Borniertheit gar nicht erkennt, dass ihn seine Waschfrau, die gerissene Mutter Wolffen, ständig bestiehlt. Doch mit diesen beiden Werken hörte der kurzlebige Durchbruch des Naturalismus bereits größtenteils auf. Während die mit dieser Richtung sympathisierenden Maler, wie Max Liebermann und Fritz von Uhde, anschließend zusehends ins Ästhetisierende auswichen, griffen fast alle bisher naturalistisch orientierten Schrift67

Das Zweite Kaiserreich

Abb. 16  Hans Anetsberger: Der Arbeitsmann (1896)

steller im Zuge der kurz darauf einsetzenden industriellen Hochkonjunkturphase ebenfalls Themen auf, in denen es statt sozialrelevanter Fragen eher um literarisch kunstvoll wiedergegebene bürgerliche Individualprobleme ging. Wie die Maler bevorzugten dabei manche eine impressionistische Stilgebung, während sich andere lieber ins Symbolistische übergehender Themen bedienten, um nicht weiterhin lediglich als Sozialkritiker, sondern als wahre »Dichter« mit höheren Ansprüchen angesehen zu werden. Sie sahen ihr Publikum weniger in den Abonnenten der »Freien Bühne« oder den gebildeten Mitgliedern der sozialdemokratischen Arbeiterbildungsvereine, als in den das Stilvolle oder zumindest Elegante bevorzugenden Söhnen und Töchtern der Gründerzeit, die sich im Gegensatz zu den wilhelminischen Hohenzollernschwärmern oder gar raffgierigen Börsianern bemühten, ihren Reichtum sowie ihre gesellschaftlich abgehobene Stellung lieber in ästhetisierender Form zur Schau zu stellen. Ja, selbst die Theoretiker der Sozialdemokratischen Partei wandten sich seit der Mitte der neunziger Jahre im Zuge der erneut einsetzenden industriellen Hochkonjunktur, in der auf kulturellem Sektor vornehmlich das Innovative, Subjektbetonte und einen steigenden Wohlstand Versprechende, aber nicht mehr das Kritische oder notfalls nur mit Gewalt Durchzusetzende im Vordergrund stand, vom Naturalismus ab. Jene ihrer Mitglieder, die vorher durchaus revolutionär gesinnt waren, verloren deshalb zusehends an Einfluss und wurden von Revisionisten wie Eduard Bernstein überstimmt, die trotz aller Einwände von Seiten Rosa Luxemburgs 68

Bijoukultur um 1900

eher einen von den englischen Fabiern beeinflussten Kurs propagierten. Dabei gingen sie meist von der pragmatisch eingestellten Überzeugung aus, dass die rasant zunehmende Industrialisierung, falls man die Kapitalistenklasse durch gewerkschaftlichen Druck zu gewissen Zugeständnissen zwingen würde, letztlich auch den bisher geradezu gnadenlos ausgebeuteten Proletariern zugute kommen würde. Diese Fraktion innerhalb der SPD gab daher – angesichts der neuen hochkonjunkturellen Situation – nicht nur politisch, sondern auch kulturell alle bisherigen Umsturzparolen auf, was dazu führte, dass selbst ihre liberal gesinnten bürgerlichen Sympathisanten, die eher das Riskant-Avantgardistische als die Tendenz ins Sozialistische an dieser Partei gereizt hatte, den zuvor von ihnen propagierten Naturalismus wieder aufgaben und sich, wie gesagt, der auf ständige Innovationen drängenden marktwirtschaftlichen Entwicklung anpassten. Ja, selbst die meisten SPD-Theoretiker, falls sie sich überhaupt Kulturfragen zuwandten, sprachen sich in der Folgezeit gegen die ins »Niedrige« tendierende Stilhaltung vieler, zum Teil in die moralisch ungehörigen Bereiche der Venus vulgivaga abtauchender Naturalisten aus. Stattdessen empfahlen sie den Arbeitern, sich in Zukunft lieber um die Aneignung der Werke des progressiv gestimmten Bürgertums zwischen 1750 und 1850, also von Gotthold Ephraim Lessing bis Heinrich Heine, zu bemühen, statt sich für die selbst »Schmutz und Schund« nicht verschmähenden Werke der auf sensationell verstörende Effekte pochenden »sogenannten Naturalisten« zu inte­ ressieren. Da jedoch den meisten Arbeitern die Lektüre der bürgerlichen Klassiker viel zu anspruchsvoll erschien, befriedigten sie ihr Lesebedürfnis eher mit der Lektüre von sozialdemokratischen Parteizeitungen wie dem Vorwärts (ab 1876) und der Leipziger Volksstimme (ab 1890), während die Frauen der Unterklassen vornehmlich jene ab 1895 erscheinenden, leicht zugänglichen Unterhaltungsromane von Hedwig Courths-Mahler lasen, die im Laufe der Jahre eine Gesamtauflage von 30 Millionen verkauften Exemplaren erreichten. Bijoukultur um 1900

Wie wir gesehen haben, hängen auch kulturpolitische Konfrontationen, so konservativ oder progressiv sie sich auch geben, stets oder fast immer mit ökonomischen Wandlungen zusammen. Das gilt vor allem für den Zeitraum nach dem Beginn der industriellen Revolution, in dem sich auch in Kunst und Kultur die gleichen Marktgesetze durchsetzten wie auf allen anderen Gebieten des öffentlichen Lebens. Ein besonders sinnfälliges Beispiel dafür sind jene neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts, die – rein vordergründig betrachtet – unter der Vorherrschaft des jungen Kaiser Wilhelm II. zu stehen scheinen. Doch trotz allen Schwertergerassels dominierte selbst in ihnen in künstlerischer Hinsicht nicht der Führungsanspruch der wilhel69

Das Zweite Kaiserreich

minischen Oberschicht, sondern der allgewaltige Markt. Schließlich kam es in dieser Ära – nach der langen ökonomischen Depression der zwei voraufgegangenen Jahrzehnte – zu einem wirtschaftlichen Boom, durch den das Zweite Kaiserreich zur stärksten Industriemacht Europas aufstieg und eine mitbestimmende Rolle in der Weltpolitik zu beanspruchen begann. Wer jedoch unter den Vertretern der damaligen Führungsschichten angenommen hatte, dass dadurch auch kulturell eine verstärkte Hohenzollernglorifizierung einsetzen würde, sah sich schnell getäuscht. Denn der ökonomische Aufschwung bewirkte selbst in ästhetischer Hinsicht zwangsläufig eine verstärkte Modernisierung des Kunstmarkts, auf dem wie im Gebrauchsgüterangebot das jeweils Innovative als der letzte Hit angeboten wurde. Wie in allen anderen Branchen kam es daher auch auf diesem Sektor zu einer Fülle von als neuartig angepriesenen »Ismen«, die nicht mehr wie bisher als unbedingt deutsch oder gar wilhelminisch, sondern im Hinblick auf die bereits weiter fortgeschrittenen Kunststile in Industrieländern wie

Abb. 17  Joseph Maria Olbrich: Darmstädter Jugendstilfenster (1901) 70

Bijoukultur um 1900

Frankreich und England als »modernistisch« hingestellt wurden. Und das führte – im Zuge derselben marktwirtschaftlichen Entwicklung – selbst in Deutschland geradezu über Nacht zu einer Folge höchst unterschiedlicher Stile, die sich jeweils als der letzte Ausdruck einer wahrhaft zeitgemäßen Gesinnung ausgaben und sich in rasanter Akzeleration als marktbestimmend durchzusetzen versuchten. Nachdem der in den späten achtziger Jahren aufflackernde Naturalismus schnell wieder verloschen war, folgten deshalb seit Mitte der neunziger Jahre auf künstlerischem Gebiet der Impressionismus, der Neoimpressionismus, der Symbolismus, der Neoromantizismus sowie jene ebenfalls als Ismen empfundenen Kunstströmungen, für die sich schnell Bezeichnungen wie Fin-de-siècle-Kunst, Art nouveau oder Jugendstil einbürgerten. Und zwar sprachen diese marktgängigen Strömungen vor allem die Schicht jener begüterten und gebildeten Bourgeoisie an, die sich in den Bereich der »machtgeschützten Innerlichkeit« zurückzog, wo sie sich unter Absehung einer sozialverpflichteten Verantwortlichkeit in ihren müßigen Stunden dem Kult des Neuartigen hingeben konnte. Mochte auch Wilhelm II. 1898 anlässlich der Gründung der »Berliner Sezession« noch so lauthals erklären, dass er die Impressionisten »unter seiner Rute« halten werde,3 solche Sprüche änderten an dieser Situation nicht das Geringste. Die durch den steigenden Wohlstand geweckten ästhetischen Verfeinerungsbedürfnisse der finanziell Bessergestellten erwiesen sich letztlich stärker als solche auf eine Beibehaltung jener älteren deutschnationalen Repräsentationsvorstellungen, denen ihre Väter im Taumel der Jahre nach der 1871 erfolgten Reichsgründung gehuldigt hatten. Jetzt wollte »man« in diesen Kreisen nicht mehr lediglich parvenühaft auftrumpfen, sondern sich im Gefolge der Wohlstandssteigerung wesentlich verfeinerten ästhetischen Genüssen hingeben. Und der aufblühende Kunstmarkt sowie eine Fülle sogenannter Kunstschriftsteller machten sich diese Situation zunutze, indem sie den nach künstlerischem Raffinement lechzenden oberen Schichten der Gesellschaft immer neue Ismen oder Stile offerierten, um sich als innovativ oder »up to date« zu dünken und sich damit über die künstlerisch Zurückgebliebenen lustig machen zu können. Die Folgen dieser Entwicklung waren zumeist jene reizvoll verschwommenen Gemälde von Lovis Corinth, Max Liebermann, Max Slevogt und Lesser Ury, jene apart instrumentalisierten Klanggebilde von Richard Strauss und Hugo Wolf sowie jene aperçuhaft pointierten literarischen Kleinformen à la Peter Altenbergs Skizzensammlung Wie ich es sehe (1896) und Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl (1900), welche die als Impressionisten auftretenden Künstler anzubieten hatten, denen Willy Hellpach 1902 in seinem Buch Nervosität und Kultur die »Hingabe an die kleinen und kleinsten Reize« attestierte.4 Ihren Höhepunkt erlebte diese künstlerische Neuerungssucht dann in jenen kunstgewerblichen Bijous der Art-nouveau-Bewegung um 1900, die in ästheti71

Das Zweite Kaiserreich

scher Verfeinerung alles zu überbieten versuchte, was bis dahin den bürgerlichen Geschmacksbedürfnissen entsprochen hatte. Diese internationale Stilrichtung, in Deutschland meist als »Jugendstil« bezeichnet, gab sich als ein Ismus, der vor allem züngelnde Arabesken oder dynamisch erfüllte Kurven bevorzugte, die sich im Hin und Zurück der Linien manchmal zu begegnen schienen, aber jeder klar erfassbaren Formbegrenzung auszuweichen versuchten. Und zwar tauchte dieses Art-nouveauBestreben erstmals in den Illustrationen der Münchner Zeitschriften Jugend und Simplicissimus auf, wurde jedoch anschließend umgehend von Kunstgewerblern wie Otto Eckmann, Hermann Obrist, Bernhard Pankok und Richard Riemerschmid in einen Stil preziöser Gebrauchs- und Schmuckartikel umgewandelt, mit dem man alles, ob nun Bucheinbände, Fliesen, Möbel, Schmuckstücke, Stickereien, Vasen oder Wandbehänge, mit kunstvoll verschnörkelten Liniengespinsten überzog, um damit das Superoriginelle der Formerfindung herauszustreichen. Obwohl dieser Stil sogar auf die Architektur übergriff, blieb er letztlich die Ausdrucksform einer kunstgewerblichen Bijoukultur für jene Kunstkenner, denen es weniger um den inhaltlichen Aussagewert als um die geschmackvolle Gestaltung eines bestimmten Kunstwerks ging.

Abb. 18  Heinrich Vogeler: Titelseite (1901) 72

Kampf dem Ornament

Ideologiekritisch gesehen gilt das selbst für die kunstgewerbliche Ausstattung vieler literarischer Werke des Jugendstils, an denen die neuerungssüchtigen Snobs dieser Ära eher die von Grafikern wie Walter Tiemann, Heinrich Vogeler oder Rudolf Emil Weiß entworfenen Einbände und Vorsatzpapiere bewunderten, als sich für die darin enthaltenen Texte zu interessieren. »Für Bibliophile ist das Buch selbst Stimmungsauslöser, ganz abgesehen vom Inhalte«, schrieb Otto Julius Bierbaum dementsprechend im Hinblick auf solche reich verzierten Publikationen.5 Ja, Oscar Bie erklärte 1907 angesichts der kostbar ausgestatteten Bücher des frühen Insel-­ Verlags, die »er kaum anzurühren wage«, noch preziöser: »Oft sitze ich ihnen gegenüber und unterhalte mich mit ihnen, ohne sie aufzuschlagen.«6 Nichts gegen das artifizielle Können, das manche dieser Produkte auszeichnet. Aber waren sie wirklich Kunstwerke, die – unter gesellschaftskritischer Perspektive betrachtet – einem höheren Kulturwillen dienen wollten? Oder blieben sie nicht unverbindliche Artefakte, welche sich lediglich dem profitsteigernden Innovationsdrang der in der Mitte der neunziger Jahre einsetzenden wirtschaftlichen Hochkonjunktur anzupassen versuchten? Kurzum, statt sich innerhalb des liberalen Bürgertums weiterhin dem seit der Aufklärung des späten 18. Jahrhunderts und dann dem von manchen Nationaldemokraten der Befreiungskriege, den Jungdeutschen, den Vormärzlern und den Naturalisten ins Auge gefassten »Gemeinwillen« verpflichtet zu fühlen, trat somit im Bereich der kunstinteressierten Oberschichten vorübergehend jenes gesellschaftlich unverbindliche Schönheitsbedürfnis in den Vordergrund, das nur noch das jeweils Neuartige, ob nun in Form des Impressionismus oder des Jugendstils, als das letztlich kulturell entscheidende Kriterium anerkannte. Kampf dem Ornament

Dass sich die an den Art-nouveau-Tendenzen orientierende Bijoukultur um 1900 aufgrund ihrer ins Elitäre ausweichenden Haltung nicht lange als stilbestimmend erweisen würde, war vorherzusehen. Schließlich kam es in den folgenden Jahren wegen der schnell ansteigenden Bevölkerungszahl sowie der gewaltig angekurbelten hochkonjunkturellen Industrialisierung, durch die, wie gesagt, das wilhelminische Kaiserreich zur zweitstärksten Wirtschaftsmacht der Welt aufstieg, im Hinblick auf die Anlage neuer Fabriken, den Wohnungsbau und die Herstellung von Gebrauchsgütern zu einem Drang ins Normierte, der dazu führte, dass die Anfertigung von erlesenen Einzelstücken zwangsläufig durch eine Massengüterindustrie verdrängt wurde, die sich davon wesentlich größere Profite versprach als von der Herstellung kunstgewerblich verzierter Villen, Wohnungen oder Schmuckgegenstände. Anstatt also auf diesen Gebieten weiterhin an wilhelminisch-historisierenden oder jugendstilhaft-verschnörkelten »Stil«-Bemühungen festzuhalten, propagierte demzufolge 73

Das Zweite Kaiserreich

eine rasch zunehmende Anzahl von Architekten und Kunstgewerblern unter dem Motto »Vom Sophakissen zum Städtebau« im Hinblick auf das Baugewerbe und die Gebrauchsgüterindustrie eine formgerechte »Sachlichkeit«, die durch ihre Schmucklosigkeit in einem krassen Gegensatz zu den kurz zuvor historisierenden oder kunstgewerblichen Verbrämungsbemühungen stand. Aufgrund dieser Entwicklung ist es nicht verwunderlich, dass sich in der Folgezeit immer mehr bildende Künstler der Architektur und dem Handwerk zuwandten. Vor allem die reich ornamentierten Werke des Jugendstils, die für kurze Zeit als der letzte Hit galten, erschienen den meisten Vertretern dieser Richtung viel zu ästhetisierend und damit elitär. Was sie angesichts der heraufziehenden Industriegesellschaft als zeitgemäß empfanden, waren nicht mehr Anleihen an kunstvolle Ornamente, sondern Formgebungen, die auf Logik, Rationalität und Materialgerechtheit beruhen sollten, was sie als einen den industriellen Herstellungspraktiken angepassten »Purismus« ausgaben. Statt also ins Exquisite ausweichende Stilkünstler zu bleiben, wollten sie fortan »Tektoniker« sein, denen es in erster Linie um eine zeitgemäße Wendung ins Genuin-Technische oder Ingenieurhafte ging. Ihre erste offizielle Anerkennung erfuhren diese Tendenzen 1906 auf der »Dritten allgemeinen Kunstgewerbeausstellung« in Dresden. Hier wurden wie bisher nicht nur kunstvoll verzierte Einzelstücke, sondern auch industriell angefertigte Serienmodelle ausgestellt, um so die Gleichrangigkeit beider Gebiete zu betonen. Deshalb war neben verschnörkelten Schmuckgegenständen sogar der Dampfschiff- und Maschinenbau vertreten. Außerdem sah man als sachgerecht ausgegebene Öfen, Laternen, Ladeneinrichtungen, Klassenzimmer, Arbeiterwohnungen, Eisenbahnabteile, Wartesäle und vielerlei technisches Gerät, um mit dieser umfassenden Schau die absolute Gleichrangigkeit der sogenannten freien und unfreien Künste zu demonstrieren. Das organisatorische Ergebnis dieser als industrielle »Leistungsschau« ausgegebenen Ausstellung war die Vereinigung der Münchner und Dresdner Werkstätten zu den Deutschen Werkstätten, was ein Jahr später zur Gründung des Deutschen Werkbunds führte, dem sich fast alle Vertreter dieser Wendung ins massenhaft Angefertigte anschlossen, die in der fortschreitenden Industrialisierung keinen Kulturverlust, sondern eher die Durchsetzung einer idealistisch aufgefassten Sachkultur sahen, die eines Tages allen Gesellschaftsklassen zugute kommen würde. Seinem Programm entsprechend verstand sich also der am 6. Oktober 1907 in München von Hermann Muthesius, Friedrich Naumann und Henry van de Velde gegründete Werkbund als eine »wirtschaftskulturelle Vereinigung von Künstlern, Architekten und Sachverständigen«, die sich durch Erziehung und Propaganda vornehmlich für die Veredlung der gewerklichen Arbeit im Zusammenwirken von Kunst, Industrie und Handwerk einsetzen wollte. Mit anderen Worten: Der Werkbund trat im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung als eine bürgerlich-liberale Reform74

Kampf dem Ornament

bewegung auf, die sich unter der in England aufgekommenen Parole »Form follows function« zu einer Ästhetik bekannte, welche in der maschinellen Produktionsweise die beste Möglichkeit erblickte, allen Gebrauchsgütern sowohl eine der industriellen Herstellung entsprechende »modern« wirkende Form zu geben als auch einen steigenden Absatz derartiger Produkte zu garantieren. Demzufolge schlossen sich dem Werkbund nicht nur eine Reihe sich als progressiv verstehender Künstler und Architekten, wie Peter Behrens, Theodor Fischer, Walter Gropius, Josef Hoffmann, Joseph Maria Olbrich, Bruno Paul, Richard Riemerschmid und Fritz Schumacher, sondern auch viele von einer ungezügelten »Courage du capital« beflügelte Unternehmer an, die sich von den Bestrebungen dieser Organisation neben der idealistisch proklamierten »Geschmacksverbesserung« zugleich eine Ausweitung ihrer finanziellen Gewinnchancen versprachen. Und zwar äußerte sich das am deutlichsten im Bereich der Architektur, in der vor allem Behrens und Gropius nach 1910 bei ihren Turbinenhallen und Fabrikbauten auf alle aus früheren Stilen erborgten Ornamente verzichteten, mit denen man den industriellen Charakter dieser Werke bisher verschleiert hatte, und dazu übergingen, stattdessen durch symmetrisch angeordnete Bauglieder und die Verwendung großer

Abb. 19  Peter Behrens: Wasserturm der Gasgesellschaft am Frankfurter Osthafen (1912) 75

Das Zweite Kaiserreich

Glasflächen das spezifisch »Modernistische« solcher Zweckbauten zu betonen. Auch Schumacher fasste in diesen Jahren bei der Errichtung neuer Fabriken, Gaswerke, Bahnhöfe, Markthallen, Schulen und Krankenhäuser als einer der ersten Architekten bereits den ausschließlich der modernen »Geschäftswelt« dienlichen Charakter solcher Gebäude ins Auge, bei denen lediglich die Zweckmäßigkeit und nicht eine als altmodisch empfundene ästhetische Verbrämung im Vordergrund stehen sollte. Die eindrucksvollste Demonstration all dieser Bemühungen erfolgte auf der großen »Kölner Werkbund-Ausstellung«, auf der fast alle Mitglieder dieser Vereinigung vertreten waren. Sie wurde im Mai 1914, also drei Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, eröffnet und lässt sich als herausragende Leistungsschau nur mit der »Dritten allgemeinen Dresdner Kunstgewerbeausstellung« von 1906 vergleichen. Fischer errichtete hier die Haupthalle, Muthesius das Gebäude der Farbenschau, Behrens ein Festhaus und Gropius eine fast nur aus Eisen und Glas bestehende Fabrikanlage, die in der Typisierung ihrer Bauformen fast ans Apparathafte grenzte. Kurzum, im Gegensatz zu Henry van de Velde, der bei seinem Theaterbau noch zum Teil einer jugendstilhaften Formgebung treu zu bleiben versuchte, was von den Anderen bereits als unzeitgemäß empfunden wurde, bemühten sich fast alle auf dieser Ausstellung vertretenen Architekten bei ihren Bauten um eine der industriellen Produktionsweise angepasste Formgebung, die sie nicht nur als Manifestation »deutscher Qualitätsgesinnung«, sondern zugleich als Aufbruch in eine sowohl den wilhelminischen Historismus als auch den jugendstilhaften Ornamentalismus überwindende Modernität empfanden, in der ein zukunftsorientierter Liberalismus zum Ausdruck kommen sollte. Dass es sich bei all diesen vom Werkbund verkündeten Proklamationen, sich endlich zu einem »Idealismus der Arbeit« zu entschließen, letztlich um einen ins Utopistische tendierenden Versuch handelte, war den meisten Mitgliedern dieser Vereinigung kaum oder gar nicht bewusst. Sie glaubten, mit ihren Ansichten Vertreter eines sozialen Gesamtwillens zu sein, ohne zu erkennen, dass ihre Bemühungen lediglich den von den Unternehmerkreisen geförderten monopolkapitalistischen Tendenzen zugute kommen würden. Ideologiekritisch gesehen unterstützte daher der Werkbund vornehmlich jenen großbürgerlichen Durchsetzungsdrang, der sich von den Bestrebungen dieser Vereinigung vor allem eine Beschleunigung der industriellen Güterproduktion für breiteste Bevölkerungsschichten erhoffte und damit den Konzernherren weitere Gewinnsteigerungen in Aussicht stellte. Und in diesem Zusammenhang kam den Unternehmern sogar noch der Revisionismus innerhalb der Sozialdemokratischen Partei zugute, die in diesen Jahren fast alle ihrer bisherigen rebellisch gesinnten Umsturzabsichten aufzugeben begann und sich nur noch ein größeres Stück von dem durch die wirtschaftliche Hochkonjunktur ermöglichten »großen Kuchen« versprach. 76

Die frühexpressionistische Revolte

Die frühexpressionistische Revolte

Die zum Teil ins »Reformistische« drängenden Tendenzen des Deutschen Werkbunds in allen Ehren, aber sie blieben vorerst vereinzelte Ansätze zu einer neuen Formgestaltung oder wurden von den Unternehmerkreisen lediglich als willkommene Vereinfachung der industriellen Herstellungsmethoden begrüßt. Den rebellisch gesinnten Gruppen unter den jungen bürgerlichen Literaten und bildenden Künstlern imponierten die von den Vertretern dieser Gruppierung errichteten Bauten oder maschinell hergestellten Gebrauchsgüter nicht im Geringsten. Vom Sog der ins Moralinfreie tendierenden bürgerlichen Liberalisierung ergriffen, bemühten sie sich eher um einen immer stärker werdenden Ausdruck ihrer eigenen Auslebebedürfnisse, was im Bereich der von den Mitgliedern des Werkbunds meist geringgeschätzten Malerei und Dichtung zu einer mit allen älteren Traditionen brechenden Stilweise führte, die von innovationistisch eingestellten Kulturkritikern als »expressionistisch« bezeichnet wurde. Die Ersten innerhalb dieses Gesinnungsumschwungs waren einige Maler, wie Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Emil Nolde, Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff, die sich 1905 in Dresden zu der Künstlervereinigung »Die Brücke« zusammenschlossen. Im Ankampf gegen die höfische Repräsentationskunst des Wilhelminismus sowie die ins Geschmäcklerische ausweichenden Tendenzen des Impressionismus und des Jugendstils erstrebten sie eine Malerei, bei der in Anlehnung an möglichst primitive Kunstformen eine gesellschaftlich noch nicht korrumpierte »Ursprünglichkeit des Menschseins« im Vordergrund stehen sollte. Jenseits aller bisherigen ästhetischen Geschmacksanforderungen oder formgerechten Gestaltungsweisen ging es ihnen in erster Linie um das Wilde, Triebenthemmte, bohemienhaft Schockierende, um so den Vertretern des wilhelminischen Juste milieu mit Bildern einer Welt des ungezügelten »Lebens an sich« entgegenzutreten. Ähnliches gilt für die 1911 in München gegründete Künstlergemeinschaft »Der blaue Reiter«, in der zwar weniger das Triebhafte als das Geistige im Sinne Wassili Kandinskys dominierte, womit sie jedoch ebenfalls keine in die Gesamtgesellschaft übergreifenden Absichten verbanden. Im Bereich der Literatur kam es zum ersten Zusammenschluss dieser Art im Rahmen des 1909 gegründeten »Neopathetischen Cabaret«, in dem der sich als »Philosoph« ausgebende Kurt Hiller das große Wort führte. Inhaltlich handelte es sich bei den hier vorgetragenen Dichtungen, wie so oft bei gebildeten Söhnen wohlhabender Eltern, meist um Proteste gegen familiären Zwang, kulturelles Philistertum und universitäre Autorität, denen man mit dem Pathos einer noch unbefriedigten Lebensgier entgegentrat und zu einem Aufbruch in eine utopisch erhoffte Daseinsfülle aufrief. Schon der ständige Nachdruck, den diese Autoren auf Begriffe wie »Sein« oder »Wesentlichkeit« legten, beweist, wie gesellschaftlich abgehoben die meisten 77

Das Zweite Kaiserreich

ihrer subjektiven Aufruhrgesten waren. Wie den frühexpressionistischen Malern ging es auch ihnen – trotz aller widersetzlichen Gesinnung – nicht um die Anderen, die Vielen, die Allermeisten, sondern fast nur um das eigene Ich. Viele dieser Literaten fühlten sich in erster Linie als einsame, wenn nicht gar weltverlorene, um letztmögliche Erfüllung dringende »Dichter«, das heißt gegen die schäbige Welt der Philister aufbegehrende Revoluzzer, statt einzusehen, dass sie ohne Anbindung an die unteren Gesellschaftsschichten aufgrund ihrer bohemienhaften Außenseiterposition letztlich selber »Bürger« blieben.

Abb. 20  Egon Schiele: Vater und Sohn (1913)

Und zwar äußerte sich das neben vielen ekstatischen, aber im Leeren verhallenden Aufschreien ihrer Gedichte vor allem in den von ihnen verfassten frühexpressionistischen Dramen. So ist etwa die Zentralfigur in Reinhard Johannes Sorges Der Bettler (1912) ein sich nach höchstmöglicher Vergeistigung sehnender Einzelgänger, der sich ständig um einen ihn beglückenden »Himmelsaufstieg« bemüht, während sich Walter Hasen78

Die frühexpressionistische Revolte

clevers Protagonist in Der Sohn (1912) als vaterhassender und zugleich geschlechtsgieriger Draufgänger gibt, dem es vor allem um »Lebensintensität« und »ewige Wollust« geht. Zugegeben, es gibt in Dramen dieser Art auch Szenen, in denen sich mit den Konventionen der gesellschaftlichen Realität unzufriedene Jünglinge mit anderen, ihnen Gleichgesinnten zu solidarisieren versuchen. So ruft etwa Hasenclevers »Sohn« seine Altersgenossen auf, mit ihm einen »Bund der Jugend gegen die Welt« zu gründen. Doch unter dem Motto »Wir leben für uns!« soll dieser Club vornehmlich der »Erhaltung der Freude« dienen.7 Ja, selbst in den etwas konkreter klingenden Beiträgen der 1911 von Franz Pfemfert gegründeten Zeitschrift Die Aktion, von der man aufgrund ihres vielversprechenden Titels noch am ehesten eine Tendenz ins gesellschaftlich Verbindliche erwartet hätte, herrscht auf weite Strecken ein literatenhaftes Ichbewusstsein. Auch in ihr wurden die jungen Dichter vor allem aufgerufen, sich ihrem erotischen Auslebebedürfnis ebenso intensiv hinzugeben wie irgendwelchen intellektualistischen Forderungen. Kurzum, selbst in einem Artikel, dem Ludwig Rubiner 1912 den anspruchsvollen Titel Der Dichter greift in die Politik gab, ging es ihm, wie in vielen von privategoistischen Gesinnungen angetriebenen Schriften dieser Jugendrevolte zuvor und danach, in erster Linie um das Antiautoritäre einer sich als Randgruppe verstehenden Außenseiterschicht, deren Vertreter sich eher als schockierende Einzelgänger empfanden, statt sich als eine auch die breiten Massen der Bevölkerung ins Auge fassende Aktionseinheit zu verstehen. »Wir sind die Nichtstuer, die religiös Irrsinnigen, die Arbeitsunwilligen«, erklärte dementsprechend Rubiner in diesem manifestartigen Aufruf bewusst provokativ, also jenes »Gesindel«, in welchem die Ich-Leichen, die Spießer der bürgerlichen Welt lediglich den »Abhub der Gesellschaft« sähen.8 Gut, all das wurde von den kulturell interessierten Schichten der wilhelminischen Gesellschaft durchaus wahrgenommen, ja zum Teil sogar als literarische Novität begrüßt, blieb aber vorerst im Rahmen der durch die hochkonjunkturelle Situation herbeigeführten Vielfalt der verschiedenen Stilrichtungen weitgehend randständig. Schließlich gab es in der Spätphase der wilhelminischen Ära nicht nur viele den materiellen Wohlstand steigernde, sondern auch ebenso viele die kulturellen Bedürfnisse der bürgerlichen Ober- und Mittelschichten befriedigende Angebote, weshalb der Frühexpressionismus im Sog der zunehmenden Markterweiterung mit einer Fülle anderer künstlerischer Richtungen konkurrieren musste. Und dazu gehörten nicht nur die besagten Werkbund-Bestrebungen, sondern auch eine stattliche Reihe sich bereits seit den späten neunziger Jahren um die Aufmerksamkeit der kulturinteressierten Kreise bemühender Ismen, Stile und Bewegungen. Die Bekanntesten darunter waren der Impressionismus, der Symbolismus, der Jugendstil, die Neuromantik, die Heimatkunst sowie die monumentalisierende Stilkunst, welche ideologisch entweder ins Genüsslich-Elitäre, Tiefsinnige, Völki79

Das Zweite Kaiserreich

sche, Ökologiebewusste oder Lebensreformerische tendierten und ihre Gesinnung sowohl in der Kunst als auch zum Teil in der Lebenswirklichkeit durchzusetzen versuchten. Ja, selbst eher traditionsverpflichtete Bemühungen, wie die das Weltliterarische oder Historisierende betonenden Theaterinszenierungen à la Max Reinhardt, die Veröffentlichung kunstvoller Lyrikzyklen à la Stefan George und Rainer Maria Rilke, die Aufführung weit ausladender symphonischer Werke à la Gustav Mahler und Richard Strauss sowie die Zurschaustellung anspruchsvoller Gemälde à la Ferdinand Hodler in Jena und Hannover, hörten im Rahmen der allgemeinen Wohlstandsgesinnung und der kulturellen Vielfalt dieser Jahre keineswegs auf. Ein Wandel in dieser Hinsicht setzte erst nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914 ein, durch den der bisherige Richtungs- und Stilpluralismus zusehends in den Hintergrund trat und auch in den Künsten eine eher nationalbetonte Einstellung die Oberhand gewann.

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Die Weimarer Republik

Die Vermarktung der Novemberrevolution

Eine erneute Änderung der politischen und kulturellen Situation trat erst wieder ein, als es nach der nationalen Begeisterungswelle zu Beginn des Ersten Weltkriegs im Laufe der folgenden Jahre – aufgrund der hoffnungslosen Grabenkämpfe an der Westfront und der wirtschaftlichen Notlage an der Heimatfront – unter der deutschen Bevölkerung zu einer Unmutsstimmung kam, die sich in Streiks und Demonstrationen Luft zu verschaffen versuchte und schließlich 1918 zur Novemberrevolution führte. Wegen dieser radikalen Wendung schien plötzlich den auf diesen Umsturz ideologisch kaum vorbereiteten linksliberal eingestellten Intellektuellen in einem ins Utopische tendierenden Überschwang alles möglich: ein radikaler Pazifismus, die Enteignung der kapitalistischen Kriegsgewinnler, eine allgemeine Völkerfreundschaft, eine Abschaffung der bisherigen Klassengesellschaft, eine Einführung sozialistischer Arbeitsbedingungen, ein Wegfall der älteren Zensurgesetze, eine Wendung ins Proletkultische, eine Beseitigung der älteren Moralkonventionen, eine größere sexuelle Freizügigkeit und was sie sonst noch im Sinne ihrer revolutionär gestimmten Umsturzvorstellungen als unsozial, ausbeuterisch, einengend oder im älteren Sinne als »bürgerlich« empfanden. Und zwar versuchten das einige unter ihnen durchaus in die Tat umzusetzen, indem sie sich den aufsässigen Arbeiter- und Soldatenräten anschlossen oder sich, wie Kurt Eisner, Gustav Landauer und Ernst Toller, an der Münchner Räterepublik beteiligten, während andere wie die Spartakisten unter Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg – im Gegensatz zu den eher ichbezogenen Frühexpressionisten – in ihren zum Umsturz aufrufenden Manifesten und Kunstwerken vor allem die Gesamtheit der Arbeiterklasse ins Auge fassten, von der sie sich wegen ihrer numerischen Überlegenheit und gedrückten wirtschaftlichen Lage noch am ehesten eine wirksame Unterstützung ihrer weit ausgreifenden Revolutionskonzepte versprachen. Doch fast alle diese Hoffnungen erwiesen sich nur allzu schnell als trügerisch. Schließlich wollte die Mehrheit der Frontsoldaten nach vierjährigem Kriegseinsatz lieber zu ihren Familien zurückkehren, als sich nochmals an gewaltsamen Auseinandersetzungen zu beteiligen. Daher gelang es den auf »Ruhe und Ordnung« bestehenden Mehrheitssozialdemokraten unter Friedrich Ebert schon nach wenigen Wochen oder Monaten mit Hilfe weiterhin völkisch eingestellter Freikorpsverbände alle revolutionär gesinnten Umsturzbemühungen niederzuschlagen und eine sich als »demokratisch« ausgebende Republik zu gründen, in der die kapitalistische Wirtschaftsordnung sowie die ihr zugrunde liegende Klassentrennung nach wie vor einen in vieler Hinsicht letztlich entscheidenden Einfluss behielten. 81

Die Weimarer Republik

»Was nun?«, war die zentrale Frage unter all jenen linksliberal, anarchistisch oder sozialistisch eingestellten Intellektuellen. Durch den Wegfall sämtlicher bisherigen Zensurgesetze war es ihnen zwar möglich, ihre aufrührerische Gesinnung so rückhaltlos wie nur möglich auszudrücken, aber sie erreichten damit keineswegs die mehrheitlich den pragmatischen Parolen der Ebert’schen Sozialdemokraten oder Gewerkschaften folgende Arbeiterklasse. Auch die am 1. Januar 1919 gegründete Kommunistische Partei Deutschlands, die weiterhin an revolutionären Konzepten festzuhalten versuchte, konnte keinen die breiten Massen erreichenden Einfluss erzielen. Was demzufolge den linksorientierten Intellektuellen, Dichtern und Malern als mögliche Ansprechschichten blieb, waren vornehmlich jene sozialpolitisch und künstlerisch interessierten Kreise des gebildeten Bürgertums, die jedoch die meisten derartiger Bemühungen, wie schon die Werke der Frühexpressionisten, eher als ästhetische Novitäten denn als Leitvorstellungen einer andersgearteten Gesellschaftsordnung auffassten.

Abb. 21  Otto Dix: Plakat einer Ausstellung der Dresdner Sezession (1919) 82

Die Vermarktung der Novemberrevolution

Und so kam es zwar aufgrund der weiter bestehenden Marktbedingungen auf künstlerischem Gebiet zu einer kurzen Blütezeit jenes als aufsehenerregend empfundenen Spätexpressionismus, bei dem jedoch von vielen Kunstkritikern eher das explosiv Neuartige als die dahinterstehenden ideologischen Impulse herausgestellt wurde. Die Mehrheit der jungen Künstler passte sich dieser Auffassung ihrer Werke durchaus an, indem sie weniger das politisch Aufrührerische als das Schockierende, sexuell Erregende oder lustvoll Mörderische auf wild hingeschmierten Bildern oder in sprachlich zerhackten Dichtungen akzentuierte, um damit auf eine ins Sensationelle übersteigerte Weise aufzufallen. Allerdings konnte sich dieser auf die Spitze getriebene Drang nur auf diesen zwei Gebieten äußern, während im Bereich der Baukunst und des anspruchsvollen Musikbetriebs zwischen 1919 und 1922, als es durch die von den Westmächten geforderten Reparationszahlungen zu einer schnell eskalierenden Inflation kam, aufgrund mangelnder finanzieller Subventionen eher ein gewisser Stillstand herrschte. Um so wilder gebärdeten sich daher, wie gesagt, viele Maler und Dichter in diesem Zeitraum, die wegen der geringeren Geldaufwendungen auf ihren Gebieten von der ökonomischen Misere nicht so sehr ins Abseits gedrängt wurden wie die Architekten und Komponisten. Schließlich gab es innerhalb des gebildeten Bürgertums immer noch genug auf künstlerische Innovationen erpichte Kreise, die sich neben den »alten Meistern« auch für das jeweils Neuartige interessierten, um damit ihre Aufgeschlossenheit gegenüber allen als »zeitgemäß« angebotenen Kunstformen zur Schau zu stellen. Und das waren in diesen Jahren nun einmal die Werke des Expressionismus, die für kurze Zeit fast alle bisher als innovationistisch geltenden Kunstbemühungen in den Schatten stellten. Ja, viele ihrer Gemälde und Grafiken wurden nicht nur in den seit langem etablierten Galerien und Kunsthandlungen ausgestellt, sondern erschienen zugleich als Abbildungen in neu gegründeten Zeitschriften oder als Originalgrafiken in kostbar ausgestatteten Bildbänden, was der weiterhin mit dem Werkbund sympathisierende Kunsthistoriker Richard Hamann kurz darauf als eine »Revolution auf Büttenpapier« charakterisierte.1 Ähnliches gilt für viele der zahlreichen Gedichtbände und Anthologien, die in diesem Zeitraum Furore machten. Trotz aller flammenden Empörung, erlösender Verheißung und ekstatischer Menschheitsbeschwörung, in denen ein teils geistidealistischer, teils kommunitaristischer, teils sozialistischer Tenor herrschte, begeisterten sich die daran interessierten Kreise eher für die wilden Sprachorgien und die ins Maßlose übersteigerte Metaphernflut der darin abgedruckten Gedichte als für die dahinterstehenden ideologischen Botschaften. Dieselbe, vor allem das ästhetisch Neuartige akzentuierende Darstellungsweise lässt sich im Bereich des expressionistischen Theaters konstatieren. Auch hier begrüßte die Mehrheit der Zuschauer und Zuschauerinnen sogar bei Aufführungen der Dramen Georg Kaisers 83

Die Weimarer Republik

oder Ernst Tollers weniger die in ihnen proklamierten sozialen Forderungen als die ins Gewaltsame übersteigerten Gesten und ekstatischen Aufschreie, die weit über alles hinausgingen, was man bisher im Theater gewohnt war. Deshalb erwiesen sich solche Aufführungen selbst vor einem keineswegs revolutionär gesinnten Publikum als durchaus erfolgreich, während die eher das Nüchtern-Konkrete betonende Spielweise des von Arthur Holitscher und Erwin Piscator angestrebten Proletkult-Theaters wegen mangelndem Interesse eine kurz vorübergehende Episode blieb. Der sich nicht so leicht ins Kunstvoll-Übertriebene umzuwandelnden Prosaformen der Literatur nahmen sich dagegen die expressionistischen Autoren bezeichnenderweise nur in Ausnahmefällen an, obwohl sie mit ihnen die breiten Massen höchstwahrscheinlich leichter erreicht hätten als mit ihren Gedichten oder Dramen. Und wo sie es dennoch taten, geschah es meist in kurzen, hektisch übersteigerten Geschehnisabläufen, wie etwa in Melchior Fischers novellenartiger Skizze Sekunde durch Hirn (1920), bei

Abb. 22  Ludwig Meidner: Septemberschrei (1920). 100 nummerierte Exem­plare auf Van-Geldern-Büttenpapier 84

Die Vermarktung der Novemberrevolution

der es in ihrer wild aufeinander folgenden Bilderfülle weniger um das inhaltlich Relevante als um das Superoriginelle geht. Dass daher die expressionistischen Maler und Dichter mit solchen Werken die weithin unrevolutionär gesinnten Massen, das heißt die von ihnen als »Menschenbrüder« angesprochenen Proletarier, nicht erreichten, sondern lediglich die nach ästhetischen Innovationen Ausschau haltenden bildungsbürgerlichen Schichten vorübergehend in ihren Bann zogen, war vorherzusehen. Schließlich blieben die von der Novemberrevolution herkommenden Umsturzvorstellungen in den expressionistischen Werken, mochten sie zum Teil auch noch so ernst gemeint sein, viel zu artifiziell und deshalb ideologisch irreal. Demzufolge wurden ihre Werke, wie gesagt, zwar von vielen liberal gesinnten Kritikern, die darin vornehmlich Manifestationen eines neuen modernistischen »Ismus« sahen, lebhaft begrüßt, aber von den breiten Massen, die allein zu einer erfolgreichen Revolution fähig gewesen wären, kaum oder gar nicht wahrgenommen. Die Ersten, die das erkannten und dagegen höhnisch zu Felde zogen, waren deshalb nicht die neuerungssüchtigen Kritiker und Journalisten, sondern jene bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Berlin höchst provokant auftretenden Dadaisten, die mit radikaler Verve nicht nur den Expressionismus, sondern alle höheren Kunstformen als bürgerlich-affirmativ und damit reaktionär verwarfen, um so die gesellschaftlichen Unterschichten nicht länger von ihren nur realpolitisch durchzusetzenden Zielen abzulenken. »Die Dussel«, schrieb dementsprechend der Oberdada Raoul Hausmann 1919 im Hinblick auf viele Expressionisten, »die unfähig sind, Politik zu treiben, wollten sich an die Proletarier heranmachen. Aber so doof, verzeihen Sie, ist der Proletarier nicht, daß er die unfruchtbare Toberei aus lauter Hohlheit nicht merkte. Kunst ist ihm, was vom Bürger kommt.«2 Doch mit ihren halb proletkultischen, halb hanebüchen verulkenden Manifesten und Sprachalbereien stießen auch die Dadaisten angesichts der Übermacht der Sozialdemokraten und der bürgerlich-liberalen Parteien, die sich um eine innenpolitische und sozioökonomische Stabilisierung der im Januar 1919 gegründeten Weimarer Republik bemühten, ebenso ins Leere wie die wesentlich größere Gruppe der Expressionisten. Deshalb war schon in den Jahren 1921/22 in der kunstjournalistischen Kritik, die sich weitgehend dem sozialliberalen Kurs anschloss, um so jene von manchen Vertretern der Novemberrevolution lauthals angestrebte »Bolschewisierung« Deutschlands zu verhindern, sowohl vom »Tod des Expressionismus« als auch vom »Tod des Dadaismus« die Rede. Und damit verschwanden nicht nur die malerischen und sprachlichen Übersteigerungen ins Wild-Auflodernde, sondern auch die schnoddrig-­grotesken Manifestationen der Dadaisten und machten jener pragmatisch eingestellten Nüchternheit Platz, für die sich nach dem Beginn einer neuen wirtschaftlichen Prosperität schnell der Begriff »Neue Sachlichkeit« einbürgerte. 85

Die Weimarer Republik

Die Phase der Neuen Sachlichkeit

Als nach der ersten Turbulenzphase der Weimarer Republik, das heißt dem Abflauen der rechten und linken Putschversuche, den großzügigen US-Krediten im Rahmen des Dawes-Plans sowie einer einschneidenden Währungsreform im Jahr 1923 eine neue industrielle Hochkonjunktur einsetzte, war von den durch die Novemberrevolution geweckten Umsturzhoffnungen keine Rede mehr. Was in der bürgerlich-liberalen Öffentlichkeit danach im Vordergrund stand, war ein ernüchterter Pragmatismus, der irgendwelche politischen und ökonomischen Neuordnungskonzepte als unerfüllbar hinstellte und darauf vertraute, dass sich nach der Kriegsund Nachkriegsmisere eine Wendung zum Besseren nur durch eine rasche Ankurbelung der Export- und Gebrauchsgüterindustrie, das heißt durch die Einführung des fordistischen Taylorismus sowie anderer Rationalisierungsmaßnahmen erreichen lasse. Und all das trat dann auch ein, so dass Deutschland im Jahr 1929 – nach den USA – erneut den zweiten Platz in der Weltrangliste der führenden Industrienationen einnehmen konnte, den es im Jahr 1913 schon einmal innegehabt hatte. Diese ideologische Wendung führte dazu, dass die Weimarer Republik ein Staatsgebilde wurde, dessen sozialliberale Regierungskoalitionen zwischen 1923 und 1929 bei ihren Demokratisierungsbemühungen vornehmlich auf eine Akzelerierung der wirtschaftlichen Expansionsrate vertrauten, von der sie sich eine Wohlstandssteigerung versprachen, die nicht nur zu einer Verkleinbürgerlichung des Proletariats, sondern zugleich zu einer Vermehrung der in Verwaltung, Vermarktung und Dienstleistung tätigen Angestelltenschichten führen würde, um so zu einer Abschwächung der älteren Klassengegensätze beizutragen. Ja, von diesem Entwicklungsschub erhofften die dafür eintretenden Kreise sich letztlich eine steigende Homogenisierung aller Lebensbereiche, an deren Ende eine auf dem Prinzip der industriellen Massenproduktion beruhende »Wirtschaftsdemokratie« stehen würde. Das zentrale gesellschaftspolitische Leitbild dieser Bestrebungen, meist als »Neue Sachlichkeit« ausgegeben, war daher nicht mehr der Bereich des Ländlichen, wie noch im Rahmen der neuromantischen oder heimatkünstlerischen Bestrebungen der Jahrhundertwende, sondern einzig und allein die Großstadt mit ihrer angeblich bereits erreichten gesellschaftlichen Gleichschaltung und der daraus resultierenden Nivellierung aller Lebensformen. Den Hauptakzent der neuen Ideologiekonzepte, welche die Vertreter dieser Gesinnung unter Absehung der durchaus weiter bestehenden Klassenunterschiede für diesen neuen Lebensstil entwickelten, legten sie daher nicht auf die nach wie vor weit auseinanderklaffenden Vermögensverhältnisse, die zwischen den verschiedenen Bevölkerungsschichten bestanden, sondern lieber auf die neuen Freizeitformen, welche allen in den großen Städten lebenden Bewohnern und Bewohnerinnen zur Verfügung ständen. Und darunter verstanden die Ideologen dieser Richtung vor allem den Spaß an Sportereignissen wie Fußball, 86

Die Phase der Neuen Sachlichkeit

Boxen, Radrennen und Autorallys, die Freude an technischen Errungenschaften wie Automobilen, Rundfunk, Film und Schallplatten, den kaufanreizenden Charakter von Reklamen und Schaufenstern, das Gefühl des ständigen Informiertseins durch Zeitungen und illustrierte Magazine sowie die ungehemmte Befriedigung sexueller Bedürfnisse durch offene Zweierbeziehungen oder unverbindliche »Verhältnisse«. Zugegeben, viele dieser Erneuerungen hatten durchaus einen Zug ins Demokratisierende. Da jedoch diese Absicht auf der Basis eines zwar auf gesellschaftlich hergestellten, aber privat angeeigneten Produkten beruhenden Wirtschaftssystems geschah, behielt sie zwangsläufig einen geheuchelten Charakter. Gut, viele der von den Wortführern der Neuen Sachlichkeit propagierten Neuerungen konnten auch von den breiten Massen genutzt werden. Anderes blieb dagegen weiterhin ein Privileg der sich von der Mehrheit der Bevölkerung absondernden Schicht der Oberen Zehntausend – ganz zu schweigen von jenem unteren Drittel der Bevölkerung, das nach wie vor unter der Armutsgrenze lebte und an gesellschaftlicher Diffamierung zu leiden hatte. Wenn man daher von einer Lebensform oder gar Kultur der Neuen Sachlichkeit spricht, sollte man nicht vergessen, dass zwar der Ort der »Großen Stadt« allen zugänglich war und auch die billigeren Formen der neuen Medien, wie die Abendblätter der Zeitungen, die kleinen Kinos, die Sportveranstaltungen sowie die Massenverkehrsmittel sämtlichen dort lebenden Menschen zur Verfügung standen, es jedoch viele Bereiche innerhalb der Kultur der Neuen Sachlichkeit gab, die weiterhin jener gesellschaftlichen Elite vorbehalten blieben, zu der vor allem die Schichten mit Abiturbildung sowie die aus vermögenden Kaufmannsfamilien Stammenden gehörten. Für diese Schichten bedeutete Neue Sachlichkeit nicht allein der Gebrauch der neuen Massenverkehrsmittel oder die Freude an Boulevardblättern, Kintoppfilmen und Fußballspielen, sondern zugleich der Gebrauch des Telefons und Telegrafs, die Freude am eigenen Auto, die Mitgliedschaft in einem vornehmen Tennisklub, die eleganten Formen der Mode sowie die Vorzüge des »Neuen Wohnens«, also all das, was für die Arbeiter und kleinen Angestellten wegen des hohen Kostenaufwands weiterhin unerschwinglich blieb. Die gleiche Diskrepanz lässt sich im Hinblick auf das Kulturverhalten des von den Vertretern der Neuen Sachlichkeit bereits als homogenisierte Mittelstandsgesellschaft hingestellten Klassenstaats der Weimarer Republik beobachten. Ja, hier kommt der widersprüchliche Charakter der von ihnen propagierten Konzepte vielleicht noch deutlicher zum Ausdruck. So gab es auf der einen Seite »Sachlizisten«, welche die als unzeitgemäß empfundenen Formen der früheren Künste, also die seriöse Literatur, Malerei und Musik, völlig verwarfen und nur noch die der neuen Großstadtmentalität entsprechenden Phänomene wie Architektur, Innenausstattung, Gebrauchsgüter, Modeattribute, Reklamen sowie andere Formen des neuen Designs, als Ausdruck 87

Die Weimarer Republik

Abb. 23  Reklame im Modeheft des Lotte-Hauses (1928)

einer wahrhaft modernen, auf die älteren ästhetischen Verbrämungen verzichtenden Sachkultur gelten ließen. Demzufolge hieß es 1930 in dem Band Das neue Berlin, dass das Happy-End-Lächeln auf den Werbeplakaten der großen Warenhäuser eine der besten Manifestationen der Neuen Sachlichkeit sei, durch die ein ganz neuer »Typ Mensch« im Werden sei, der auf eine ihn lediglich für seine seelischen Frustrierungen entschädigende Hohe Kunst getrost verzichten könne.3 Am wohlsten, las man hier weiter, fühlten sich heutzutage die meisten Flaneure im Menschengewimmel der großen Einkaufsstraßen, da hier alle von der gleichen Schaulust und Konsummentalität ergriffen würden, in denen der Zeitgeist der neusachlichen Großstadtkultur seine reinste Ausprägung erlebe. Auf der anderen Seite waren manche Vertreter der Neuen Sachlichkeit noch bildungsbürgerlich genug eingestellt, auch den anspruchsvolleren Genres der sogenannten höheren Künste weiterhin eine gewisse Rolle innerhalb der vornehmlich auf Konsumlust, Unterhaltungsbestrebungen und Informationsbedürfnissen beruhenden Sachkultur zuzugestehen und ihnen im Rahmen des neueren Tendenzen ins Massenmediale angepassten ästhetischen Supermarkts eine kleine Gourmetecke einzuräumen. Schließlich erkannten manche Verleger, Galeriebesitzer, Theaterregisseure und Konzertmanager sowie die mit ihnen verbundenen Kritiker sehr wohl, 88

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dass im Hinblick auf die besitz- und bildungsbürgerlichen Schichten, die sich nicht ohne weiteres der Mentalität der neuen Angestelltenklasse fügen wollten, trotz aller immer stärker ins Eindimensionale tendierenden Marktgängigkeit der angeblich demokratischen Unterhaltungsindustrie auch mit den älteren Hochformen der Literatur, Malerei und Musik, falls man sie dem neusachlichen Zeitgeist anpassen würde, noch durchaus lukrative Geschäfte zu machen waren. Dementsprechend kam es selbst innerhalb der ab 1923/24 von manchen Sachlizisten als veraltet bezeichneten höheren Künste zu einer Strömung, die sich aus Anpassung an die in Politik, Wirtschaft, Ideologie und Alltagsleben herrschenden Bestrebungen ebenfalls als Neue Sachlichkeit ausgab, obwohl es an sich das Bestreben dieser Richtung gewesen war, allen ins Hochkulturelle ausgreifenden Ansprüchen der bürgerlichen Intellektuellen endgültig den Garaus zu machen. Was also damals in den höheren Künsten als neusachlich angepriesen wurde, beruhte demzufolge auf einem eklatanten Widerspruch. Schließlich dürfte eine Gesellschaft wie die der Weimarer Republik, welche zwischen 1923 und 1929 in ihren Führungskreisen eine Verminderung der bestehenden Klassengegensätze vornehmlich durch eine gesteigerte Kommerzialisierung zu erreichen hoffte, eigentlich keine höhere, sich von den breiten Massen absetzende ästhetische Hochkultur dulden. Müsste nicht eine solche Gesellschaftsordnung, die im Hinblick auf die USA nicht nur den dort praktizierten fordistischen Taylorismus, sondern auch die in diesem Staat bereits durchgesetzte Massenmedienkultur mit ihrer dahinterstehenden Schmelztiegelideologie als besonders »demokratisch« empfand, auf alle Ausflüge ins Hochkulturelle grundsätzlich verzichten und den sich aus dem marktwirtschaftlichen Wechselspiel von Angebot und Nachfrage ergebenden niedrigsten Nenner als den einzigen Maßstab in allen kulturellen Fragen hinstellen? Dass sie dennoch auch die prestigeverheißenden Genres der Hochkultur nicht verschmähte, deutet darauf hin, dass sie als Übergangsphase zu einer vollentwickelten kapitalistischen Marktwirtschaft noch nicht ganz zu sich selbst gekommen und daher noch nicht gesinnt war, nur dem Trend einer ins Eindimensionale tendierenden Massengesellschaft nachzugeben. Deshalb wurde sogar aus der Neuen Sachlichkeit, die eigentlich allen älteren Kunst-Ismen ein Ende bereiten wollte, ebenfalls ein Kunst-Ismus, der von den Kennern der Kunstszene selbst in den höheren Künsten als ein neuer Stil geschätzt wurde. Beginnen wir mit den bildenden Künsten, die in wirtschaftlichen Konjunkturzeiten stets eine besonders wichtige Rolle spielen. Schließlich verfügen solche Perioden über das genügende Investitionskapital, ohne dass Bereiche wie Architektur oder designerhaft entworfene Wohnungsausstattungen notwendig brachliegen würden. Zudem bemühen sich die von den einschlägigen Firmen angestellten Architekten und Formgestalter in solchen Jahren besonders intensiv, ihre wieder mit mehr Geld versehenen Konsumenten durch einen betonten Modewechsel zum Kauf von als 89

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»brandneu« angebotenen Wohnanlagen und Gebrauchsgütern anzureizen. Das beweist selbst die Entwicklung des Bauhauses, das sich 1919 noch unter den roten Stern des Sozialismus gestellt hatte und in den Jahren nach 1923 einen Kompromiss nach dem anderen mit der sich als neusachlich verstehenden Designerkultur der mittzwanziger Jahre schloss. Doch auch viele der anderen Formgestalter schlossen sich im gleichen Zeitraum bei ihren Entwürfen betont modernistisch aussehender Innenausstattungen diesem Trend ins industriell Gefertigte an, was schließlich zum Konzept der neusachlichen »Wohnmaschine« führte. Realistisch gemalte oder gar expressionistisch wilde Bilder hätten daher in solchen Räumen, die wie Designerbüros von Architekten oder Ingenieuren aussahen, überhaupt keine Funktion gehabt. In derartigen Wohnungen herrschte ein puristisches Formbewusstsein, das keiner zusätzlichen ästhetischen Verbrämung bedurfte. Es sollte einen Sinn für Design ausstrahlen, dem vielleicht nur die abstrakten Bilder eines Wassili Kandinsky oder Piet Mondrian entsprochen hätten. Doch nicht alle an Kunst und Design interessierten Bürger wollten in solchen betont kahl aussehenden Wohnmaschinen leben und schlossen deshalb im Hinblick auf ihren Wandschmuck durchaus Zugeständnisse an das Traditionelle. Sie bevorzugten daher eher jene Ölbilder und Grafiken, die seit 1923/24 ebenfalls als Werke der Neuen Sachlichkeit ausgegeben wurden. Die meisten von ihnen hatten in ihrem auf die alltägliche Gegenwart bezogenen Realismus eine betont nachrevolutionäre Note, ja sahen in ihrer glasklaren, atmosphärelosen, stilllebenhaften Malweise eher wie typisierte Fotografien aus und entsprachen so durchaus jener das Nüchterne und Technische akzentuierenden Modernität der Neuen Sachlichkeit. Im Bereich der Musik, in der die Anpassung an das Technische ebenfalls eine große Rolle spielte, waren diese marktbedingten Veränderungen vielleicht sogar noch einschneidender als auf dem Gebiet der Malerei. Schließlich war es durch die Erfindung der Schallplatte und des Rundfunks erstmals möglich geworden, das bürgerliche Monopol des für die breiten Massen unerschwinglichen Konzert- und Opernbetriebs zu durchbrechen. Gerade auf diesem Gebiet hätte man also den »kleinen Kreis der Kenner durchaus in den großen Kreis der Kenner« erweitern können, wie sich Bertolt Brecht später ausdrückte.4 Ihr undemokratisches Besitz- und Bildungsmonopol zu Gunsten der unteren Bevölkerungsklassen aufzugeben, lag jedoch nicht im Interesse der finanziell bessergestellten Kreise. Sie überließen daher diesen Bereich weitgehend dem marktwirtschaftlichen Prinzip von Angebot und Nachfrage, was im Rahmen der sich vornehmlich an die Unterklassen wendenden Vergnügungsindustrie zu einem gewaltigen Zuwachs an anspruchsloser Gebrauchsmusik in Form von Tanzmelodien, Schlagern, billigen Operetten sowie jenen Revue-, Film- und Jazzkompositionen führte, deren beschwingende Rhythmen und eingängige Melodien vornehmlich der Ablenkung und Zerstreuung dienten. 90

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Abb. 24  Carl Hofer: Nachtlokal (1927)

Ja, diese Tendenz ins Kommerzialisierte und Technisierte wurde selbst von gewissen Schichten der älteren Besitz- und Bildungsbourgeoisie als durchaus »fashionable« begrüßt. Auch sie tanzten plötzlich Shimmy oder Charleston, erfreuten sich an den neuesten Schlagern, begeisterten sich für die Comedian Harmonists sowie Jazzbands wie Weintraubs Syncopators und besuchten die vielen Operetten- und Revuetheater. Doch daneben favorisierten Teile der gleichen Schichten, ob nun aus Informationsbedürfnis, ästhetischer Neugier oder gesellschaftlichen Prestigegründen auch jene Ausprägungen einer seriösen Musik, die sich in Form und Inhalt der Neuen Sachlichkeit anzupassen versuchte. Um 1925 verstand man darunter vor allem den durchmathematisierten Stil der von Arnold Schönberg entwickelten Zwölftonmusik sowie jene Programmmusiken oder Zeitopern, die sich durch eine Bevorzugung geräuschhafter, technisch-motorischer oder an Jazz anklingender Motive auszeichneten. Al91

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lerdings gelang es den Werken dieser Richtung, von wenigen Ausnahmen wie der Dreigroschenoper (1928) von Bertolt Brecht und Kurt Weill einmal abgesehen, kaum über einen kleinen Kreis von Kennern hinauszudringen. Als wesentlich relevanter für die von manchen bürgerlichen Liberalen angestrebte Tendenz ins Demokratisierende erwiesen sich dagegen auf kulturellem Sektor Teile der Literatur der Neuen Sachlichkeit. Während sich in den bildenden Künsten – unter Absehung einer kleinen Gruppe »realistischer« Maler – vornehmlich das marktgerechte Designerhafte durchsetzte und in der Musik weitgehend das bewusst Populäre über das ästhetisch Anspruchsvolle siegte, bildete sich in einigen Bereichen der Literatur dieser Jahre tatsächlich eine mittlere Linie heraus, deren Vertreter und Vertreterinnen sich mit gesamtgesellschaftlicher Aufklärungsabsicht sowohl von einem elitären Ästhetizismus als auch von einer minderwertigen Trivialität distanzierten. Zugegeben, auch hier nahmen als neusachlich geltende Genres wie die Reportage, die Short Story, das Drehbuch oder der Kabarettsketch einen immer größeren Raum ein. Aber dafür setzten sich innerhalb der Antikriegs-, Großstadt-, Büro- und Industrieromane, wie denen von Lion Feuchtwanger, Irmgard Keun, Erik Reger, Erich Maria Remarque und Arnold Zweig, auch Werke durch, die durchaus massenbezogen waren und ein relativ breites Publikum erreichten. Etwas schwerer hatten es dagegen im Bereich des Theaters die sogenannten Zeitstücke, denen es kaum gelang, ihren Zuschauern und Zuschauerinnen etwas von ihren demokratisierenden Absichten zu vermitteln. Dazu war das Theater, schon wegen seiner hohen Eintrittspreise, noch immer eine zu elitäre Institution. Während neusachliche Filme, ob nun Berlin. Symphonie der Großstadt (1927), Metropolis (1927) oder Menschen am Sonntag (1929), in den gleichen Jahren einen relativ großen Zulauf hatten, blieb auf diesem Gebiet – trotz eindringlicher Bemühungen von Seiten neusachlicher oder auch linksliberaler Autoren wie Ferdinand Bruckner, Carl Credé, Leo Lania, Walter Mehring und Friedrich Wolf – im Hinblick auf die Gesamtgesellschaft vieles ebenso randständig wie im Bereich der Kunstgaleriekunst oder der Musikfestmusik. Kommen wir zu einigen abschließenden Folgerungen in Hinsicht auf die angeblichen Demokratisierungsabsichten der Ideologen der Neuen Sachlichkeit im Bereich der Kultur. Indem sie alles dem marktwirtschaftlichen Prinzip von Angebot und Nachfrage auslieferten, versuchten sie zwar den elitären Kulturbetrieb der älteren Bildungsbourgeoisie weitgehend in den Hintergrund zu drängen, setzten aber an seine Stelle lediglich einen ästhetischen Supermarkt, in dem zwangsläufig die Tendenz ins Nivellierte einer kulturellen Massenproduktion tonangebend wurde. Im Gefolge dieser Entwicklung drängten die profitinteressierten Bosse der Unterhaltungsindustrie die bisherigen mittel- bis großbürgerlichen Kulturvertreter zusehends in den Hintergrund und ermöglichten dadurch den Managern der neuen 92

Im Zeichen der Weltwirtschaftskrise

Medien, also des Rundfunks, der Zeitungen, der Wochenendmagazine, des Films und der Schallplattenfirmen, ein Kulturmonopol, das einen geradezu unbegrenzten Wirkungsradius hatte. Durch diese Medien wurde es zwar möglich, selbst jene Bevölkerungsschichten zu erreichen, die bisher kaum am etablierten Kulturbetrieb teilgenommen hatten. Zugestandenermaßen hatte das auch demokratisierende Wirkungen, führte aber – ideologiekritisch gesehen – zugleich zu einer merklichen Entpolitisierung. Kein Wunder daher, dass sich die breiten Massen, als es zu einer ökonomischen Krise kam, lieber jenen Parteien anschlossen, die vor allem an ihre materiellen Interessen appellierten, welche die Vertreter der Neuen Sachlichkeit in den mittzwanziger Jahren im Rahmen ihrer hochkonjunkturellen Wohlstandspropaganda meist ausgeblendet hatten. Und dieser Umschwung setzte nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929, als der krisenbedrohte und zugleich unsoziale Charakter der bisher proklamierten freien Marktwirtschaft immer offensichtlicher wurde, dann auch tatsächlich ein. Im Zeichen der Weltwirtschaftskrise

Zwischen 1924 und 1929 hatten die Sozialdemokraten und die rechtsliberalen Parteien auf Grund der technologischen Modernisierung und der damit verbundenen Wohlstandspropaganda »ihre« Republik gern als eine unerschütterliche Bastion des demokratischen Fortschritts hingestellt, durch welche Deutschland wieder zu einem der führenden Industriestaaten der Welt geworden sei. Doch diese Scheinblüte erwies sich als höchst trügerisch. Schließlich war das deutsche Wirtschaftssystem selbst in diesen angeblich »goldenen Jahren« durch die amerikanischen Kreditzahlungen, die überstürzte Taylorisierung der Produktionsabläufe, den sich daraus ergebenden Wegfall vieler Arbeitsplätze sowie die prekäre Abhängigkeit seiner Exporterzeugnisse von der Weltmarktsituation durchaus krisenanfällig geblieben. Als daher am 24. Oktober 1929 die Kurse an der New Yorker Börse geradezu ins Bodenlose abstürzten, führte das auch in der Weimarer Republik zu verheerenden Folgen. Denn mit dem Schwarzen Freitag an der Wall Street blieben nicht nur die amerikanischen Kredite aus, es musste auch jeder Export in die USA eingestellt werden, was zu enormen Auftragseinbußen führte. Daher kam es schon im Winter 1929/30 auch in der Weimarer Republik allenthalben zu Konkursen und Bankzusammenbrüchen, zu Preisverfall und rapide anwachsender Arbeitslosigkeit. All das rief bei den Arbeitern und Kleinbürgern, denen man jahrelang einen steigenden Wohlstand versprochen hatte, notwendig republikfeindliche Stimmungen hervor. Die Arbeiter, besonders die arbeitslosen unter ihnen, begannen zusehends mit den Kommunisten zu sympathisieren, während sich die Kleinbürger verstärkt den Nationalisten zuwandten, die ihnen eine Aufhebung der 93

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herrschenden »Zinsknechtschaft« versprachen. Die politische Spannung wuchs darum geradezu von Monat zu Monat und nahm schließlich die Form eines Endkampfes zwischen den Nationalsozialisten und den Kommunisten an. Unter diesem Druck ließ die rechtsliberale Regierung unter Hermann Müller am 4. September 1930 Neuwahlen ausschreiben, bei denen die mittleren Parteien viele Mandate verloren, während die Sitze der KPD von 54 auf 77, die der NSDAP von 12 auf 107 anstiegen. Um der fallenden Produktionsrate, der sinkenden Kaufkraft und der zunehmenden Arbeitslosigkeit entgegenzutreten, erließ darauf die neue Rechtsblockregierung unter dem Zentrumspolitiker Hermann Brüning eine Reihe von »Notverordnungen zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen«, die eine deflationistische Wirkung haben sollten. Dazu gehörten unter anderem eine drastische Steuererhöhung, eine Senkung der Ausgaben für die sechs Millionen Arbeitslosen, eine Kürzung der Löhne und Gehälter sowie eine Herabsetzung der Preise. Doch selbst derart drakonische Maßnahmen konnten den Verlauf des wirtschaftlichen Niedergangs, der einen Rückgang der Industrieproduktion um 42 Prozent bewirkte, nicht aufhalten. Als es daher am 31. Juli 1932 erneut zu allgemeinen Wahlen kam, konnten wiederum die radikalen Flügelparteien neue Stimmengewinne für sich verbuchen.

Abb. 25  Gerd Arntz: Wahl­ drehscheibe (1932) 94

Im Zeichen der Weltwirtschaftskrise

So stiegen die Mandate der KPD von 77 auf 89, die der NSDAP von 107 auf 230 an, wodurch die Nazifaschisten zur weitaus größten Fraktion im Reichstag wurden. Auf Wunsch des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg wurde darauf der rechtsstehende »Parteilose« Franz von Papen Reichskanzler, der nach dem Sturz Brünings ein »Kabinett der nationalen Konzentration« bildete, dem es jedoch ebenfalls nicht gelang, die immer gespannter werdende wirtschaftliche Situation zu meistern. Als daher im November 1932 noch einmal Reichstagswahlen abgehalten wurden, bei denen die NSDAP nur 196 statt 230 Sitze gewann, während die KPD die Zahl ihrer Mandate von 89 auf 100 vergrößern konnte, entschied sich Hindenburg auf Druck der ostelbischen Junker und der Großindustriellenverbände, die wie schon im Jahr 1919 wiederum eine »Bolschewisierung« Deutschlands befürchteten, am 30. Januar 1933 Adolf Hitler, dem Führer der Nationalsozialisten, im Rahmen einer rechtskonservativen Koalition die Kanzlerschaft zu übergeben, um damit die »Gefahr von links« ein für alle Mal zu bannen. So viel zu den ökonomischen und durch sie bewirkten gesellschaftspolitischen Entwicklungen, die unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise schließlich zum kläglichen Ende der bisher als »Demokratie« ausgegebenen Weimarer Republik führten. Doch nun zu den Folgen, die sich im Hinblick auf die kulturelle Situation aus dem Niedergang der Wirtschaft ergaben und von deren Aufhebung sich die gesellschaftlichen Oberschichten im Bündnis mit den Nazifaschisten eine »völkische« Erneuerung versprachen. Wie in allen Perioden der bisherigen deutschen Geschichte erwiesen sich auch diesmal wiederum die wirtschaftlichen Voraussetzungen als die entscheidenden Faktoren, aus denen sich alles Weitere ergab. Allerdings gilt es dabei – etwas vereinfacht formuliert – im Hinblick auf die verschiedenen Bevölkerungsschichten der späten Weimarer Republik angesichts der wirtschaftlichen Misere nicht nur politisch, sondern auch kulturell zwischen drei verschiedenen Verhaltensweisen zu unterscheiden, nämlich die sich weitgehend an die arbeitslosen Proletarier wendenden Kulturbemühungen der KPD, die weiterhin an das Unterhaltungsbedürfnis der breiten Mittelschichten appellierenden Manager der profitorientierten Freizeitindustrie sowie die rechtskonservative Propaganda einer wahrhaft deutschen Kultur auf Seiten der Nazifaschisten oder anderer »völkisch« gesinnter Vereinigungen. Beginnen wir mit den Kommunisten, die nicht nur politisch, sondern auch kulturell vor allem die durch die ökonomische Notsituation arbeitslos gewordenen Proletarier für sich zu gewinnen versuchten. Obwohl sie nur über geringe finanzielle Mittel verfügten und auch die von ihnen ins Auge gefassten Bevölkerungsschichten kaum die nötigen Moneten hatten, sich Bücher zu kaufen oder Theaterund Konzertbesuche zu leisten, gingen sie dabei – kunstideologisch gesehen – auf mehreren Ebenen vor. Einerseits verwarfen sie sowohl die von ihnen als pseudorevolutionär bezeichnete bürgerliche »Ismenkunst« als auch die von ihnen als naiv 95

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bezeichneten Vertreter der Neuen Sachlichkeit der mittzwanziger Jahre und priesen stattdessen im Gefolge Franz Mehrings weiterhin die als progressiv hingestellte Kunst des aufsteigenden Bürgertums zwischen 1750 und 1850 als vorbildlich an. Andererseits unterstützten sie all jene Bemühungen, die mit Hilfe proletkultischer Stilmittel einer revolutionär gesinnten Arbeiterkunst zum Durchbruch verhelfen sollten. Im Bereich der Malerei setzte sich vor allem die bereits im März 1928 gegründete »Assoziation revolutionärer bildender Künstler«, kurz »ASSO« genannt, für solche Bestrebungen ein, die 1929 in Berlin ihre erste Ausstellung unter dem Titel »Kapital und Arbeit« veranstaltete und zugleich die Zeitschrift Der Stoßtrupp herausgab. Ihre bekanntesten Mitglieder waren Maler und Kritiker wie Otto Dix, Alfred Durus, George Grosz, Max Keilson, Käthe Kollwitz, Otto Nagel, Oskar Nerlinger, Rudolf Schlichter und Heinrich Vogeler, die sich jedoch – unter den marktwirtschaftlich vorgegebenen Galerie- und Ausstellungsbedingungen – mit ihren Arbeiterporträts, Milljöhszenen und Kapitalistenkarikaturen nicht jene Breitenwirkung verschafften, welche sie sich anfangs erhofft hatten. Dieselben Ziele setzte sich der ebenfalls bereits 1928 gegründete »Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller«, kurz »BPRS« genannt, sowie die von Johannes R. Becher gegründete Monatsschrift Die Linkskurve. Ihre Autoren, zu denen neben Becher vor allem Willi Bredel, Karl Grünberg, Egon Erwin Kisch, Hans Marchwitza, Ludwig Renn, Anna Seghers, Erich Weinert, Franz Carl Weiskopf und Friedrich Wolf gehörten, wandten sich so entschieden wie möglich gegen jene Literatur, die sich trotz der inzwischen eingetretenen Weltwirtschaftskrise weiterhin auf neusachliche, das heißt unkritische Art mit der Schilderung gewisser Oberflächenphänomene begnüge, anstatt sich mit der Krisenanfälligkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems und der sich daraus ergebenden Notlage der arbeitslosen Unterschichten auseinanderzusetzen. Als vorbildlich stellten sie dagegen die von ihnen propagierten Roten Eine-Mark-Romane hin, in denen es fast ausschließlich um den Kampf der Arbeiter gegen die in die Krise geratene Kapitalherrschaft ging, welche sich nur durch eine klassenbewusste, zum revolutionären Widerstand entschlossene proletarische Einheitsfront überwinden lasse. Doch das blieben aufgrund der marktbeherrschenden Rolle der bürgerlichen Verleger und der von ihnen herausgebrachten Unterhaltungs- und Erbauungsliteratur ebenfalls Randerscheinungen. Das Gleiche gilt für die Bemühungen, auch auf dem Theater solchen Tendenzen zum Durchbruch zu verhelfen, so sehr sich auch der seit 1929 mit der KPD sympathisierende Dramatiker Bertolt Brecht dafür einzusetzen versuchte. Die offiziellen Theater, auf deren Bühnen er bisher, wie mit seiner neusachlich-zynischen Dreigroschenoper (1928), große Erfolge erzielt hatte, distanzierten sich danach von ihm. Daher konnte er sein Revolutionsstück Die Mutter 1932 nur noch von einem Arbeitertheater aufführen lassen, während seine Heilige Johanna der Schlachthöfe im 96

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gleichen Jahr lediglich von Radio Berlin im Hörfunk gesendet wurde und sicher nur eine unbeträchtliche Anzahl von Hörern und Hörerinnen erreichte. Noch weniger Möglichkeiten hatte die KPD, außer dem Import einiger »Russenfilme« von Sergej Eisenstein und Wsewolod Pudowkin, wegen der weitgehend konservativ eingestellten Kinoindustrie ihren Absichten entsprechende Filme auf den Markt zu bringen. Die Prometheus-Firma gab sich zwar große Mühe, mit ihren zwei Filmen, nämlich Mutter Krausens Fahrt ins Glück (1931) und Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt? (1932), in denen einerseits die durch die Weltwirtschaftskrise verursachte Verelendung der Arbeiterklasse, andererseits der von der KPD inspirierte Wille zu einer revolutionären Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Vordergrund stand, ein größeres Publikum zu erreichen. Aber mit solchen Themen konnte sie keineswegs mit übermächtigen, gegen alles Linke eingestellten Filmkonzernen wie der Ufa oder Tobis konkurrieren. Und auch die Musik von Hanns Eisler zu manchen dieser Werke sowie das Auftreten kommunistischer Sängergruppen, wie der »Blauen Blusen«, hatte bei weitem nicht dieselbe Wirkung wie die musikalischen Aktivitäten der neusachlich oder konservativ eingestellten Bands oder Gesangvereine. So politisch bemerkenswert und kunstvoll einige dieser durch die Weltwirtschaftskrise ausgelösten Bemühungen auch waren, indem sie fast ausschließlich die Arbeiterklasse ins Auge fassten, stießen sie die breite Schicht der Angestellten und Kleinbürger von vornherein ab, anstatt auch sie durch ein ideologisch breiteres Angebot in ihren Bann zu ziehen. Selbst der Versuch, wie mit dem von Ernst Glaeser und Franz Carl Weiskopf herausgegebenen Band Der Staat ohne Arbeitslose (1931), die sowjetische Planwirtschaft als das maßgebliche Vorbild einer die herrschende Krisensituation vermeidenden Gesellschaftsordnung hinzustellen, hatte nicht den gewünschten Erfolg. Dazu waren weite Schichten der deutschen Bevölkerung viel zu national gestimmt. Sie erhofften sich eine Überwindung der ökonomischen Misere nicht von den in der UdSSR in Angriff genommenen planwirtschaftlichen Maßnahmen, die ihnen allzu »plebejisch« erschienen, sondern eher von einer möglichen »inneren Gesundung« ihrer eigenen, ins Bedrohliche abgerutschten Verhältnisse. Und so verpuffte auch dieser Versuch weitgehend im systemverhafteten Marktgetriebe der rechtsliberal oder gar völkisch orientierten Massenmedien dieser Jahre. Was daher selbst nach 1929 im Hinblick auf die sich als »demokratisch« oder gar »allgemeinmenschlich« ausgebenden gesellschaftspolitischen Proklamationen sowohl ideologisch als auch kulturell die größte Breitenwirkung hatte, war eine zwar verunsicherte, aber nach wie vor systemimmanente Grundeinstellung, die keineswegs das bisher tonangebende Prinzip von Angebot und Nachfrage zu Gunsten einer staatlich reglementierten Planwirtschaft aufgeben wollte. Und zwar lag ihr als weltanschauliche Leitvorstellung zumeist jener bereits seit den mittzwanziger Jahren dominierende amerikanische Behaviorismus zugrunde, der die Behauptung vertrat, dass 97

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es überhaupt keine Klassenunterschiede mehr gebe, sondern sich alle Menschen in den modernen Industriestaaten in erster Linie bereichern und »Fun« haben wollen, ohne dabei gegen die herrschende gesellschaftliche Ordnung zu verstoßen. Mit solchen Thesen wurde zwar viel Geschwafel über Seele und Gemüt verabschiedet, aber zugleich eine Verhaltensweise proklamiert, die vornehmlich mit Kriterien wie individueller Reaktionsfähigkeit und ähnlichen Phänomenen auszukommen glaubte und somit alle politischen und sozialen Faktoren einfach in den Hintergrund drängte. Im Rahmen dieser Anschauungen wurde einfach so getan, als ob alle Menschen bereits völlig gleichartig seien und denselben Stimulierungsbedingungen unterlägen. Ja, damit wollte man die Illusion befördern, dass sich sämtliche Bürger und Bürgerinnen als Mitglieder einer demokratisch homogenisierten Nation empfinden würden, in der es überhaupt keine gesellschaftlichen Unterschiede mehr gebe. Kein Wunder daher, dass selbst in den Krisenjahren zwischen 1929 und 1933 von den Vertretern derartiger Gesinnungen – in Übereinstimmung mit den Managern der weiterhin existierenden staatlich oder privatwirtschaftlich operierenden Kulturindustrie – als die Hauptformen »zeitgemäßer« Freizeitbeschäftigungen vornehmlich der alle Klassengrenzen überwindende Sportenthusiasmus sowie die verschiedenen Möglichkeiten der ebenso ins Gesamtgesellschaftliche tendierenden Vergnügungsindustrie hingestellt wurden. Zugegeben, Teile der gebildeten Besitzbürgerschichten gingen auch weiterhin in die Oper und ins Theater, genossen Symphoniekonzerte, besuchten Museen und Kunstgalerien und kauften sich Romane und Gedichtbände, aber die breiten Massen, sofern sie es sich finanziell leisten konnten, gaben sich mehrheitlich weiterhin jenen »Wonnen der Gewöhnlichkeit« hin, welche ihnen die nach wie vor gewinngierige Vergnügungsindustrie bot, um nicht ständig mit den Auswirkungen der wirtschaftlichen Krisensituation konfrontiert zu werden. Wie schon in den mittzwanziger Jahren bevorzugten daher breite Schichten selbst nach 1929 in kultureller Hinsicht vor allem Unterhaltungsgenres wie die Revue, den Schlager, die Tanzmusik, den Liebesfilm, die Kriminalgeschichte oder den trivialen Bestseller. Wen sie deshalb vergötterten, waren nicht die Hochkünstler der E- oder Elitärkultur, sondern eher die Künstler der U- oder Unterhaltungskultur, also Operettensänger wie Richard Tauber, Vamps wie Marlene Dietrich, Divas wie Greta Garbo oder Leinwandliebespaare wie Willy Fritsch und Lilian Harvey. Im Hinblick auf das Theater interessierten diese Schichten nicht mehr die raffinierten Regiekünste Max Reinhardts, sondern eher jene Revuen, die sich in ihrer Ausstattung und Frivolität teils an den Folies-Bergères, teils an amerikanischen Girl-Revuen orientierten. Doch als noch ansprechender empfanden die breiten Massen, die seit der Mitte der zwanziger Jahre gerade erst die »Kultur« zu entdecken begannen, die mächtig aufblühende Filmkunst. Die wahren Zentren dieser Art von Unterhaltungsindustrie waren daher die unzähligen Kinos, in denen neben vereinzelten kinemato98

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grafischen Höchstleistungen à la Fritz Lang, Friedrich Wilhelm Murnau, Georg Wilhelm Pabst und Joseph von Sternberg all jene sentimentalen Schmachtfetzen sowie melodramatischen Liebesgeschichten über die Leinwand flimmerten, welche Tausenden, Hunderttausenden, ja Millionen von Zuschauern und Zuschauerinnen wie die Erfüllung ihrer geheimsten Träume erschienen. Allerdings versäumten die marktbeherrschenden Filmkonzerne – angesichts der von den Nationalkonservativen ständig beschworenen »Gefahr von links« – dabei im gleichen Zeitraum keineswegs, auch Filme mit deutsch-heroischer Perspektive, wie die Fridericus-Rex-Serie mit Otto Gebühr, auf den Markt zu bringen, um neben den von der krisenhaften Situation ablenkenden Zerstreuungs- und Unterhaltungsbedürfnissen auch das »völkische« Bewusstsein wachzuhalten. Noch eindeutiger verfuhr die ideologische Propaganda der Nazifaschisten in diesen Jahren, die sich vornehmlich klassenübergreifender Leitvorstellungen wie Rasse, Blut und Boden, völkischer Bindung und ähnlich deutschbetonter Begriffe bediente,

Abb. 26  Wahlplakat der NSDAP (1932) 99

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um die breiten Massen von den realen Ursachen der wirtschaftlichen Misere, nämlich der Krisenanfälligkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems abzulenken. Und zwar griffen sie dabei weitgehend auf jene Ideenkomplexe der »Völkischen Opposition« zurück, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine breite Resonanz gefunden hatten und seit 1919 von vielen rechtsgerichteten Organisationen, wie den Freikorps, den Baltikumern, dem Bund Oberland, der bündischen Jugendbewegung und dem Jungdeutschen Orden, erneut aktiviert worden waren, die in der neusachlichen »Wirtschaftsdemokratie« der mittzwanziger Jahre nur einen Wartesaal oder ein Zwischenreich auf dem Weg zu einem völkischen Wiedererwachen oder gar einem Dritten Reich gesehen hatten. Kein Wunder daher, dass sich die NSDAP, die lange Zeit eine unbedeutende Splitterpartei geblieben war, nach ihrem spektakulären Wahlerfolg im September 1930 ideologisch auf ein breites Umfeld rechtsorientierter Bewegungen stützen konnte. Um danach mit ihren Zielsetzungen sowohl politisch als auch kulturell die Gesamtheit des deutschen Volks zu erreichen, vertrat sie daher in ihren immer stärker aus dem Nationalbetonten ins Chauvinistische übergehenden Parteiprogrammen stets klassenübergreifende Leitvorstellungen, als ob es nur Deutsche, aber keine Bürger, Angestellten oder Arbeiter gebe. Statt sich wie die Kommunisten vornehmlich an die Proletarier zu wenden, beschworen demzufolge die NS-Ideologen in ihrer Propaganda stets jenen gesamtgesellschaftlichen »Gemeingeist«, der den nationalbeseelten Deutschen schon in der Vergangenheit immer wieder geholfen habe, nach irgendwelchen Krisenzeiten wieder zu einer alle anderen Völker überstrahlenden Höhe aufzusteigen. Um sich mit derartigen Konzepten auch auf kultureller Ebene durchzusetzen, versuchten deshalb die Nazifaschisten in diesen Jahren nicht nur wie bisher in Bayern, sondern in der gesamten Weimarer Republik sowohl durch die marktbeherrschenden Konzernmanager der Unterhaltungsindustrie als auch durch von ihnen gegründete Hochkulturorganisationen alle Schichten der deutschen Bevölkerung für ihre Zielsetzungen zu gewinnen. Neben den für die breiten Massen gedachten heroisch gestimmten Filmen, zur Wehrbereitschaft aufrufenden Kriegsromanen sowie für die SA komponierten Marschliedern, die sich betont agitatorisch gaben, appellierten sie daher zugleich mit derselben Emphase an die höheren Kulturbedürfnisse des gebildeten Besitzbürgertums, das sie ebenfalls in die von ihnen propagierte »Volksgemeinschaft« integrieren wollten. Für die letzteren Bemühungen spricht vor allem der bereits 1928 auf Wunsch Adolf Hitlers von dem damaligen Chefideologen und Hauptschriftleiter des Völkischen Beobachters Alfred Rosenberg gegründete »Kampfbund für deutsche Kultur«, der sich mit antisemitischer und antiamerikanischer Tendenz gegen eine »Verbastardisierung und Vernegerung« der deutschen Kulturszene wandte und sich für eine 100

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stärkere Beachtung der spezifisch deutschen Hochkultur einsetzte. Neben führenden Mitgliedern dieses Bunds, wie Adolf Bartels, Hanns Johst, Paul Schultze-Naumburg und Winifred Wagner, schlossen sich ihm vor allem zahlreiche »deutschgesinnte« Verleger, Theaterintendanten, Schriftsteller und Pfarrer an, worauf er in den Jahren der Weltwirtschaftskrise schnell von 25 auf 450 Ortsgruppen anwuchs. Und damit glaubten die maßgeblichen Vertreter und Vertreterinnen der NSDAP auch auf kulturellem Sektor ihr Scherflein gegen eine drohende »Bolschewisierung und Vernegerung« beizutragen, indem sie sich sowohl gegen den ins Triviale übergehenden Einfluss der amerikanischen Massenmedien als auch für eine stärkere Förderung der höheren Kulturformen aussprachen. Doch letztendlich wurde dadurch – trotz ihrer lauthals beschworenen »Vereinheitlichung« der deutschen Kultur – die von den Nazifaschisten nicht in Frage gestellte kapitalistische Marktwirtschaft und somit der weiter bestehende Gegensatz von E- und U-Kultur keineswegs überwunden. Daher blieb es nach wie vor bei den älteren Klassengegensätzen, was den eher pragmatischen als revolutionären Charakter der NS-Bewegung beweist. Und so siegte zwar die NSDAP Anfang 1933, schuf aber selbst durch die angebliche Gleichstellung von »Arbeitern der Stirn« und »Arbeitern der Faust« sowohl sozial als auch kulturell keine gerechteren Verhältnisse.

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Das NS-Regime

Das offizielle Programm

Trotz ihres ideologischen Anspruchs, eine »Nationalsozialistische Arbeiterpartei« zu sein, war den Führern dieser Bewegung durchaus bewusst, dass sie bei der Durchsetzung ihrer Programme keineswegs auf den antisozialistisch eingestellten Machtblock der Großindustrie verzichten könnten. Also schwächten sie im Rahmen ihrer ersten Koalitionsregierung, in der ihre Minister neben Rechtskonservativen wie Alfred Hugenberg und Franz von Papen noch eine Minderheit bildeten, die von manchen SA-Organisationen vertretene antikapitalistische Haltung erheblich ab, ja unterdrückten sie im Zuge der Röhm-Affäre im Juni 1934 schließlich auf höchst gewaltsame Weise. Statt weiterhin gegen die kapitalistische »Zinsknechtschaft« zu polemisieren, strichen sie danach eher die durchaus nationalbewusste Orientierung der deutschen Großindustrie heraus, die man lediglich von ihren »jüdischen Parasiten« zu reinigen brauche, um ihr einen dem gesamten deutschen Volk dienlichen Charakter zu geben. Kein Wunder daher, dass Max Horkheimer diesen ideologischen Umschwung schon wenige Jahre später in dem vielzitierten Satz zusammenfasste: »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.«1

Abb. 27  Reklame der DaimlerBenz-Werke (1935) 102

Das offizielle Programm

Nicht minder pragmatisch verhielten sich viele ihrer Chefideologen anfangs im Hinblick auf das, was sie unter einer wahrhaft deutschen Kultur verstanden. Anstatt dabei im Sinne ihrer »nationalsozialistischen« Programmatik neben dem Bürgertum vor allem die Arbeiterschaft ins Auge zu fassen, versuchten sie auch auf diesem Sektor erst einmal, die marktbeherrschenden Besitz- und Bildungsbürger für sich zu gewinnen, die nach wie vor den größten Einfluss auf diesem Gebiet hatten. Wenn sie daher, wie Alfred Rosenberg in den Jahren 1933/34 von einer wiederzugewinnenden »Einheitlichkeit« der deutschen Kultur sprachen, meinten sie damit nicht jene U-Kultur, an der sich große Teile der breiten Massen bisher erfreut hatten, sondern stets jene E-Kultur der oberen Gesellschaftsklassen, die man in der Weimarer »Systemzeit« mit undeutschen »Schundprodukten« weitgehend in den Hintergrund gedrängt habe. Ihr, hieß es darum immer wieder, müsse jetzt im Rahmen eines nationalgefärbten Traditionalismus endlich wieder der ihr gebührende Platz eingeräumt werden. Um mit solchen Argumenten nicht von vornherein den Machtblock der Konzernherren der weiterhin florierenden Vergnügungsindustrie gegen sich aufzubringen, deren ins Triviale abgleitende Medienprodukte größtenteils zu der von den NSIdeologen beklagten »Kulturverhunzung« beigetragen hatten, machten sie für diesen bedauerlichen Rückgang aller ins Höhere zielenden Kulturbemühungen lieber die bereits nach ihrem Machtantritt gewaltsam ausgeschalteten »Bolschewisten« und »semitischen Schmarotzer« verantwortlich, wobei sie sich auf die breite Zustimmung der national empfindenden besitz- und bildungsbürgerlichen Schichten stützen konnten. Schließlich hatten diese Kreise bereits vor 1933 die sogenannten Russenfilme, die Roten Eine-Mark-Romane, die Fotomontagen John Heartfields, die satirischen Zeichnungen von George Grosz, die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung Willi Münzenbergs und die Rote Kampfmusik Hanns Eislers nicht nur als besitzgefährdend, sondern auch als kulturlos und damit im Prinzip undeutsch abgelehnt. Wenn dagegen die Hauptverantwortlichen innerhalb der NS-Kulturtheoretiker die »niedrig gesinnten« Juden aufs Korn nahmen, griffen sie meist auf jene rassistischen Argumente zurück, welcher sich vor ihnen schon Adolf Bartels, Houston Stewart Chamberlain, Artur Dinter, Jörg Lanz von Liebenfels, Richard Wagner und viele der anderen »Völkischen« bedient hatten. Was sie in dieser Hinsicht als besonders verwerflich brandmarkten, waren vor allem die angeblich »monetäre Umtriebigkeit«, die »heuchlerische Anpassungssucht« und die »ungezügelte Sexualität« der Juden, die in einem krassen Gegensatz zu der stets ins Ideale strebenden Gesinnung der geistig höhergearteten Arier ständen. Als die Hauptsündenböcke der semitischen Überfremdungsbemühungen der deutschen Kultur stellten sie dabei im Bereich der Literaturkritik vor allem Alfred Kerr und Kurt Tucholsky, im Pressewesen Verlagshäuser wie Mosse und Ullstein, im Film die Obszönität eines Richard Oswald, in 103

Das NS-Regime

der Musik die Kompositionen Arnold Schönbergs und Kurt Weills sowie im Bereich der »schäbigen« Bestsellerromane die Werke von Lion Feuchtwanger und Arnold Zweig heraus. Um diesen zwei Feindbildern, das heißt der kommunistischen und jüdischen »Entartung der deutschen Kultur«, so nachdrücklich wie möglich entgegenzutreten, boten deshalb die besonders fanatisch gesinnten NS-Ideologen alles auf, was sie als wahrhaft deutsch, germanisch, arisch und damit kulturell »höhergeartet« empfanden. Im Bereich der völkischen Arierfanatiker setzten sich dafür vor allem Ludwig Ferdinand Clauß, Hans F. K. Günther, Alfred Rosenberg, Paul Schultze-Naumburg und Wolfgang Willrich ein, die wiederholt erklärten, dass die kulturschöpferische Ausdruckskraft der arischen Rasse stets einen Zug ins Höhergeartete, Schöpferische, Idealistische gehabt habe, der die Kulturbemühungen anderer Rassen weit übertreffe. Im Umkreis derartiger Konzepte entfesselten demzufolge auch andere Vertreter der NSDAP nicht nur einen geradezu unbarmherzigen Kulturkampf gegen alles Kommunistische und Jüdische, sondern auch ebenso scharf gegen alles Internationalistische, Amerikanische, Negroide, Großstädtisch-Modernistische und Liberalistisch-Überintellektualisierte, um so ihren »arteigenen« Gegenbildern von vornherein den Anschein einer besonders hochgearteten Einmaligkeit und inneren Größe zu geben. Manche, wie Heinrich Himmler und Herman Wirth, gingen dabei so weit, schon die Kultur der vorchristlichen Germanenzeit, von der wir fast nichts wissen, aufgrund einiger Gräberfunde als ebenso bedeutsam wie die Hochleistungen der arischen Griechen und Römer während der Antike hinzustellen. Andere behaupteten, dass die künstlerischen Hochleistungen der deutschen Romanik und Gotik, die Kunst der Dürerzeit, die Musik von Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven, die Literatur der Weimarer Klassik, die Werke der deutschen Romantik sowie die Opern Richard Wagners alles überträfen, was die anderen europäischen Völker in den vorangegangenen Jahrhunderten vorzuweisen hätten. Und breite Schichten der bildungsbeflissenen Bourgeoisie stimmten ihnen in dieser Hinsicht durchaus zu, welche, wie gesagt, schon während der »Systemzeit« der Weimarer Republik ihre altvölkische oder in einem weiteren Sinne nationale Gesinnung keineswegs aufgegeben hatten. Doch ein derart einseitiges Kulturprogramm schien den eher pragmatisch denkenden NS-Ideologen von vornherein zu eng. Sie wollten selbst auf kulturellem Gebiet nicht nur die besitz- und bildungsbürgerlichen Oberschichten ansprechen, sondern alle Deutschen, also auch die breiten Massen, die sich bisher auf kulturellem Sektor fast ausschließlich für die Produkte der gängigen Unterhaltungsindustrie interessiert hatten, für ihre Zielsetzungen gewinnen. Schließlich war die deutsche Bevölkerung trotz aller Demokratisierungsbemühungen von Seiten der sozialliberalen Regierungskoalitionen der zwanziger Jahre noch immer eine Klassengesellschaft, in 104

Die Wendung ins Realpolitische

der nur drei bis fünf Prozent über eine sogenannte höhere Bildung verfügten und sich daher die breiten Massen nicht über Nacht für irgendwelche anspruchsvollen EKulturvorstellungen gewinnen ließen. Und das führte schon in den Jahren 1933/34 bei einigen NS-Kulturtheoretikern, die sich aufgrund der weiter bestehenden Klassenspaltung nicht von vorerst unerreichbaren Fernzielen blenden ließen, zu der Einsicht, dass man den gesellschaftlichen Unterschichten auch weiterhin jene »Wonnen der Gewöhnlichkeit« gewähren müsse, die manche NS-Ideologen an sich als »unvereinbar« mit den Vorstellungen einer höhergearteten deutschen Kultur empfanden. Die Wendung ins Realpolitische

Nachdem im Frühjahr 1933 unter den Arierfanatikern innerhalb der NSDAP die erste Begeisterungswelle über den Machtantritt Hitlers verrauscht war, trat auf Seiten der eher realpolitisch denkenden Kulturtheoretiker dieser Partei eine gewisse Ernüchterung ein. Vor allem die eher pragmatisch Eingestellten unter ihnen sahen ein, dass die Wiedergeburt der auch von ihnen beschworenen Tendenz ins ArischHöhergeartete zwar ein erstrebenswertes Fernziel bleiben müsse, aber man wegen der weiterbestehenden Klassengegensätze und der sich daraus ergebenden höchst verschiedenen Kulturinteressen erst einmal gezwungen sei, wesentlich realisierbarere Nahziele ins Auge zu fassen. Schließlich herrschte auf kulturellem Sektor nach wie vor eine so diffuse Situation, dass sich selbst nach der »Aussäuberung« der Kommunisten und Juden nicht umgehend eine »nationale Gleichschaltung« erreichen ließ. Wie gesagt, auf die Mehrheit der Bildungsbürger, denen sie eine tatkräftige Unterstützung des traditionellen »Kulturerbes« versprachen, konnten die NS-Ideologen dabei durchaus vertrauen. Aber wie wollten sie die Angestelltenschicht in dieser Hinsicht für sich gewinnen, die im Bereich der Kultur nach wie vor vergnüglich stimmende Unterhaltungswerke erwartete? Oder wie ließ sich auf diesem Gebiet die Arbeiterklasse ansprechen, die vorher zu großen Teilen links eingestellt war? Kurzum, wie war es möglich, diese drei höchst verschiedenen Bevölkerungsschichten kulturell so weit zu vereinheitlichen, dass sich daraus die von den NS-Ideologen erhoffte »Volksgemeinschaft« ergeben würde? Alfred Rosenberg, der bis dahin führende Arierfanatiker unter den NS-Kulturtheoretikern, welcher sich im Sinne der alten »Völkischen« eine neu einsetzende Hochblüte deutscher Kultur unter anderem von der in ganz Deutschland durchzuführenden Anlage germanischer Thing-Theater versprach, verlor daher angesichts des utopistischen Anspruchs solcher Projekte schnell an Einfluss. Obwohl sein 1928 gegründeter »Kampfbund für deutsche Kultur«, den er 1933 in »NS-Kulturgemeinde« umtaufte, von Altnationalisten wie Eugen Diederichs, Erwin Guido Kolbenheyer, Emil Strauß und Winifred Wagner unterstützt wurde, empfanden viele NS-Prag105

Das NS-Regime

matiker wie Hermann Goering und schließlich selbst Adolf Hitler Rosenbergs rassistische Ideen als reichlich »überspannt«. Demzufolge erhielt er nicht die von ihm angestrebte Machtposition eines Reichsministers für Weltanschauung und Kultur und musste sich mit weniger einflussreichen Machtbefugnissen begnügen. Deshalb traten danach seine Idealvorstellungen einer neuen deutschen Kultur, in der es keine Spaltung in Hohes und Niederes mehr geben dürfe, sondern in der alle »Volksgenossen« von den gleichen völkischen Hochgefühlen ergriffen würden, zusehends in den Hintergrund. Als sein Hauptgegner erwies sich dabei Joseph Goebbels, der es als von Hitler ernannter Minister für Volksaufklärung und Propaganda schon im Sommer und Herbst 1933 ausgezeichnet verstand, die Zügel der NS-Kulturpolitik an sich zu reißen und somit Rosenberg, diesen »sturen eigensinnigen Dogmatiker«, wie er ihn nannte, ins Abseits zu drängen. Und zwar bediente er sich dabei einer Reihe höchst effektiver organisatorischer Maßnahmen, um den ausschließlich ins »Germanophile« zielenden Tendenzen der Rosenberg’schen NS-Kulturgemeinde entgegenzutreten. Wohl sein wirkungsmächtigster Vorstoß in diese Richtung war die schon im Sommer 1933 von ihm ins Auge gefasste Reichskulturkammer, die Goebbels in sieben Einzelkammern unterteilte. Als erste dieser Kammern gründete er bereits im Juli dieses Jahrs die Reichsfilmkammer, die er im Hinblick auf eine möglichst effektive Breitenwirksamkeit als die wichtigste empfand. Darauf folgten im November 1933 die Einrichtung der Reichsrundfunkkammer, der Reichspressekammer, der Reichsschrifttumskammer, der Reichstheaterkammer, der Reichsmusikkammer und der Reichskammer für Bildende Kunst. Schon dass Goebbels neben den vier Gattungen der höhergearteten Künste, nämlich Literatur, Theater, Musik und Malerei, die für Rosenberg die einzig entscheidenden waren, nicht nur für den Film, sondern auch für den Rundfunk und die Presse, also die mit massenbeeinflussenden Taktiken operierenden Medien, eigene Kammern einrichten ließ, beweist, dass er die sich aus der Klassenspaltung der deutschen Bevölkerung ergebende kulturelle Situation wesentlich »realistischer« einschätzte als die Vertreter der NS-Kulturgemeinde. Obwohl diese Kammern auf den ersten Blick wie ein perfektes Überwachungssystem wirken, herrschte in ihnen zu Anfang keine allzu strikte parteiamtliche Kontrolle. Zwar musste sich jeder im Kulturbereich Tätige um die Mitgliedschaft in einer dieser sieben Kammern bewerben, um überhaupt beruflich aktiv werden zu können. Doch dazu war weder eine Parteizugehörigkeit noch eine nazifaschistische Gesinnungstreue, sondern allein der Nachweis von vier »arischen« Großeltern nötig. Ja, Goebbels betonte am 15. November 1933 in seiner viel beachteten Eröffnungsrede der Reichskulturkammer ausdrücklich, dass im Bereich der Massenmedien und der Künste ein gewisses Maß an persönlicher Freiheit durchaus erforderlich sei und sich nicht jeder Kulturschaffende ausschließlich an die Direktiven der Partei halten 106

Die Wendung ins Realpolitische

müsse. »Wir wollen keine Kunst«, erklärte er, die nicht »mehr ist als ein dramatisiertes Parteiprogramm. Wir haben den Mut, großzügig zu sein und hoffen, dass unsere Großherzigkeit durch die gleiche Großherzigkeit seitens der Künstlerwelt belohnt wird.«2 Und Hitler, dem aus realpolitischen Gründen der ins Nordische zielende Fanatismus der »völkischen Rauschebärte« unter den Germanenschwärmern ebenso zuwider war wie Goebbels,3 stimmte diesen Ansichten durchaus zu. Während also Rosenbergs Einfluss in der Folgezeit zusehends geringer wurde, nahm der von Goebbels ständig zu. Indem er alle ideologischen Radikalismen vermied, mit denen die NSDAP sowohl die kulturell anspruchsvolle Bildungsbourgeoisie als auch die kulturell weniger anspruchsvollen breiten Massen lediglich verstört hätte, schuf er mit den Reichskulturkammern eine Organisation, die weitmaschig genug war, auch bisher nicht mit der NSDAP Sympathisierende für die verschiedenen Branchen der NS-Kulturbemühungen zu gewinnen. Im Sinne der marktgängigen Parole »Wer vieles bringt, wird jedem etwas bringen«, mit der sich nicht nur künstlerisch hochwertige Dramen, Opern und Symphonien, sondern auch weniger kunstvolle Schlager und Lustspielfilme rechtfertigen ließen, befriedigte Goebbels dadurch als geschickt taktierender Realpolitiker sowohl die hochgespannten Kulturansprüche der gebildeten Oberschichten als auch die wesentlich kruderen Unterhaltungsbedürfnisse der Unterklassen. Ja, er räumte sogar jenen 17.000 »jüdischbürtigen« Künstlern, die ab 1934 wegen ihres nichtarischen Herkommens keine Mitglieder in einer der sieben Reichskulturkammern werden konnten, durch die Gründung eines »Kulturbunds Deutscher Juden« ein kulturelles Betätigungsfeld ein, um rund 110.000 Juden die Möglichkeit zu geben, in Form einer Abonnementsregelung an Schauspiel- und Opernaufführungen sowie an Konzerten, Vorträgen und Ausstellungen teilzunehmen. Auch theosophisch oder christlich eingestellte Kulturorganisationen wurden anfangs von Goebbels weitgehend toleriert, um mögliche ideologische Konflikte zu vermeiden, welche die allmähliche Durchsetzung der als Fernziel beibehaltenen homogenen »Volksgemeinschaft« gefährden könnten. Kurzum, was Goebbels seiner Kulturpolitik in den frühen dreißiger Jahren zugrunde legte, war – auf eine Formel gebracht – erst einmal das Prinzip eines begrenzten Pluralismus. Dementsprechend bot er alles auf, um auf diesem Gebiet nach der Ausschaltung sämtlicher offenkundigen Regimegegner den verschiedenen Schichten der deutschen Bevölkerung das ihnen jeweils Gemäße zu offerieren. Statt eine revolutionäre Umwälzung der bestehenden Verhältnisse im Sinne einer allein auf rassistischen Grundsätzen beruhenden »Volkskultur« anzustreben, um so zu versuchen, die seit alters her bestehende Aufspaltung in eine hohe und eine niedere Kultur mit einem Schlag aus der Welt zu schaffen, bemühte er sich, einen kulturpolitischen Kurs zu steuern, der in Hinsicht auf die erst einmal zu erreichenden Nahziele der NSDAP auch gewisse Kompromisse keineswegs verschmähte. Deshalb 107

Das NS-Regime

vermied Goebbels alles »Revolutionäre«, das auch Hitler am 13. Juli 1934 in seiner berühmt-berüchtigten Nürnberger Parteitagsrede als »undeutsch« verwarf. Stattdessen hielt er sich im Hinblick auf die kulturelle Situation, wie gesagt, erst einmal an die vorgegebenen Verhältnisse, das heißt, er versprach den bildungsbürgerlichen Oberschichten eine verstärkte Unterstützung des »Kulturellen Erbes« sowie die Möglichkeit einer Inneren Emigration ins Nichtfaschistische und den sogenannten breiten Massen im Bereich des Films, des Rundfunks und der Musik eine eingängige Unterhaltungskultur, um sie nicht mit etwas Fremdartigem, sie Verstörendem zu konfrontieren. All das sollte sowohl der Ober- als auch der Unterklasse das Gefühl geben, dass sich auf diesem Gebiet nichts grundsätzlich geändert habe, sondern nach wie vor der Zustand der Normalität herrsche. Auf diese Weise wurde zwar in Hinsicht auf die Machtstabilisierung des kurz zuvor gegründeten Dritten Reichs auf kulturellem Gebiet viel erreicht, aber eins der ideologischen Fernziele der NSDAP, nämlich das einer sich als »nationalsozialistisch« verstehenden Kulturgemeinschaft, vorerst aufgegeben. Schließlich blieb bei dieser Strategie die bereits in der Weimarer Republik bestehende krasse Aufspaltung in eine E- und eine U-Kultur weitgehend erhalten, indem sie Teilen der Oberschicht die Chance eines Rückzugs in die althergebrachten Bildungsreservate und den Unterschichten die Ausflucht in jene »Wonnen der Gewöhnlichkeit« erlaubte, welche ihnen große Teile der auf Massenkonsum eingestellten Unterhaltungsindustrie bereits vor 1933 geboten hatten. Und diese Zielsetzungen behielt Goebbels auch in den folgenden Jahren bei, als sich die NSDAP bereits auf die Zustimmung der Mehrheit des deutschen Volks stützen konnte, ja verstärkte sie nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sogar noch, um die breiten Massen durch eine ins Triviale übergehende Unterhaltungsindustrie bei »guter Laune« zu halten. Nach den ersten Niederlagen der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg ließ Goebbels sogar zur Unterstützung solcher »aufheiternden« Tendenzen einen Wettbewerb für »optimistisch stimmende Schlager« ausschreiben, den Franz Grothe mit dem Song »Wir werden das Kind schon schaukeln« gewann.4 Dabei gestattete Goebbels in der marktwirtschaftlichen Umsetzung dieser Tendenzen den älteren, auf diesem Gebiet bereits versierten Konzernen der Unterhaltungsindustrie, das heißt Electrola, Telefunken und der Deutschen Grammophon AG, die keineswegs verstaatlicht wurden, durchaus freie Hand. Daher ertönten bald überall von Sängern wie Hans Albers, Johannes Heesters und Heinz Rühmann sowie Sängerinnen wie Marika Rökk und Zarah Leander gesungene Schlager, die einen kaum zu überbietenden Bekanntheitsgrad erreichten. Wie schon vorher ging es in Liedern wie »Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen«, »Lass mir doch meine Träume«, »Sing mit mir, tanz mit mir« oder »Für eine Nacht voller Seligkeit, da geb ich alles hin«, fast immer um die Glücksmomente jener »großen Liiiebe«, die einen alles andere vergessen lässt. 108

Die Wendung ins Realpolitische

Abb. 28  Filmplakat (1942)

Zugegeben, bei staatlichen Festakten wurde auch das Horst-Wessel-Lied so laut wie möglich herausgebrüllt und einer der alten preußischen Militärmärsche gespielt. Und in den Konzertsälen und Opernhäusern ertönten weiterhin vor allem die altbewährten Klassiker. Aber die hatten bei weitem nicht jene Breitenwirkung wie die Schlager der marktgerechten Traumfabrikanten, welche den Unterschichten der deutschen Bevölkerung jener Jahre mit derartigen Schnulzen das Gefühl zu geben versuchten, dass sich zwar auf politischer Ebene manches geändert habe, jedoch im privaten Bereich alles beim Alten geblieben sei. Und so lief im Zuge schichtenspezifischer Strategien selbst auf musikalischem Gebiet fast alles auf das Gleiche hinaus, nämlich die jeweiligen Bevölkerungsschichten – gemäß ihren verschiedenartigen Geschmackspräferenzen – von den gleichzeitig verübten Untaten des NS-Regimes so effektiv wie nur möglich abzulenken. Da sich visuelle und akustische Kunstformen, ob nun Plakate, massenhaft reproduzierte Bilder, Rundfunksendungen, Filme oder Schlager, die sich stets an größere Bevölkerungsschichten wenden, den Nazifaschisten für ihre propagandistischen Absichten wesentlich wirkungsvoller erschienen als irgendwelche textgebundenen 109

Das NS-Regime

literarischen Kunstformen, glaubten sie auf diesem Gebiet ruhig etwas großzügiger sein zu können. Schließlich setzen anspruchsvolle Gedichte, Erzählungen oder Romane stets eine individuelle Rezeption voraus, die einen gewissen Bildungsgrad verlangt. Und da dieser weiterhin nur bei den oberen Gesellschaftsschichten vorhanden war, welche die NS-Behörden ohnehin auf ihrer Seite zu haben glaubten, verfuhren ihre Überwachungsorgane im Hinblick auf die Literatur relativ tolerant. Zugegeben, Autoren der Weimarer Republik, die in ihren Dramen oder Romanen mit novembristischem, expressionistischem, proletarisch-revolutionärem oder auch nur liberalem Elan für eine Veränderung der politischen und sozialen Verhältnisse ins Linke eingetreten waren, wurden sofort auf »Schwarze Listen« gesetzt beziehungsweise ihre Bücher am 10. Mai 1933 öffentlich verbrannt. Aber an ihre Stelle trat nicht umgehend eine Fülle nazifaschistischer Dramen und Romane, die sich zu einer radikalen Wendung ins Völkische oder Arisch-Artgemäße bekannt hätten. Das erschien den meisten NS-Kulturtheoretikern auf diesem eher bildungsmäßig begrenzten Gebiet nicht unbedingt erforderlich. Etwas ernster nahmen die NS-Überwachungs- und Zensurbehörden lediglich die Gattung des Romans. Schließlich erreichte dieses Genre schon seit Langem erheblich breitere Bevölkerungsschichten als die Lyrik oder das Theaterstück. Wovon sich die NS-Größen im Hinblick auf diese Gattung eine stärkere Durchsetzung ihrer Ideologie versprachen, waren vor allem Germanen-, Bauern- und Kriegsromane, von denen sie sich eine verstärkte Wendung ins Nationalbewusste erhofften. Doch die meisten Verlagsinhaber, die weiterhin privatwirtschaftlich dachten, brachten selbst in den dreißiger Jahren eher Romane heraus, bei denen in altgewohnter Weise das Unterhaltsame in Form melodramatischer Liebesbeziehungen, humoristischer Passagen oder verwickelter Spannungselemente im Vordergrund stand. Kurzum, statt vornehmlich »in Gesinnung zu machen«, verlegten sie lieber mit profitversprechender Absicht Romane, in denen weniger das Ideologische als das Allgemeinmenschliche behandelt wurde. Und der Erfolg derartiger Werke gab ihnen durchaus Recht. Neben deutschen Romanen von Rudolf G. Binding, Waldemar Bonsels, Hedwig Courths-Mahler, Ludwig Ganghofer, Rudolf Herzog, Karl May, Ina Seidel und Heinrich Spoerl gehörten dazu auch ausländische Autoren und Autorinnen wie Warwick Deeping, John Knittel, Selma Lagerlöf, Margaret Mitchell und Sigrid Undset, deren Bestseller ihren Lesern und Leserinnen jenes Ablenkende in Form emotionaler Ausflüchte ins Abenteuerliche und Liebesbeseligende bescherten, das ihnen auf niedrigerer Ebene die Schlagerindustrie bot. Doch nicht nur das. Auf höherer Ebene erlaubten die NS-Behörden anfänglich sogar, dass selbst einige Romane von Thomas Mann, ja bei jüdischen Verlegern selbst die nachgelassenen Werke von Franz Kafka weiter erscheinen konnten, wohl wissend, dass sie nur einen kleinen Kreis von Käufern und 110

Die Wendung ins Realpolitische

Käuferinnen interessieren würden. Zugleich wollten sie damit demonstrieren, wie »großherzig« das Verlagswesen des Dritten Reichs organisiert war. Da fast alle Theater in Deutschland nicht privatwirtschaftlich, sondern staatlich operierten, verliefen auf diesem Gebiet die von dem neuen Regime angestrebten Umwandlungsprozesse nach 1933 anders als auf buchhändlerischer Ebene. Nachdem man auch auf diesem Sektor alle jüdischen Intendanten, Regisseure sowie Schauspieler als »artfremd« ausgeschaltet hatte, versuchten einige Arierfanatiker sogar diese Institution in ihren Dienst zu stellen. »Unser Theater muss wieder deutsch-völkisch oder besser nordisch-germanisch werden«, erklärten deshalb vor allem jene Rosenberg-Anhänger, denen es auch in dieser Hinsicht vornehmlich um eine rassische Neuorientierung ging. Was sie daher im Hinblick auf das Theater ins Auge fassten, waren, wie gesagt, vornehmlich Thingspiele auf dem Gelände altgermanischer Kultstätten, wo ausschließlich volkhaft gesinnte »Staatsaktionen« aufgeführt werden sollten, um so eine »heldische Weltanschauung« zu befördern. 1934 waren bereits fünf solcher Thingstätten fertig gestellt. Doch dann stagnierte der Bau derartiger Anlagen auf Geheiß von Goebbels wieder, der als realpolitisch taktierender Pragmatiker einsah, dass man gerade im Theaterwesen Kompromisse machen müsse, um so das bildungsbürgerliche und darum anspruchsvolle Theaterpublikum nicht gewaltsam zu vergraulen. Er unterstützte daher lieber die bereits bestehenden staatlichen und kommunalen Bühnen mit von Jahr zu Jahr immer größeren finanziellen Zuwendungen, während er die Gelder für die völkisch orientierten Freilichtbühnen drastisch kürzte. Was Goebbels deshalb auf diesem Gebiet erreichte, war wiederum ein Sieg des Traditionsverhafteten über irgendwelche kulturpolitischen Umsturzbemühungen. Zugegeben, auch danach wurden noch einige Stücke von NS-Bühnenschriftstellern wie Hanns Johst und Curt Langenbeck aufgeführt, die jedoch im Laufe der Zeit immer stärker hinter den als »klassisch« geltenden Dramen des 18. und 19. Jahrhunderts zurücktraten, was in den Zeitungen des Dritten Reichs als eine neue »Glanzzeit« des deutschen Theaters herausgestrichen wurde. Und das gefiel jenem finanziell betuchten und ästhetisch anspruchsvollen Publikum, welches das Theater weiterhin wesentlich höher schätzte als das Kino, ausnehmend gut. In diesen »heiligen Hallen« fühlte es sich nach wie vor in seinem Bildungsstolz bestätigt und nahm daher kaum wahr, welches Spiel hier mit ihm getrieben wurde. Wesentlich komplexer verliefen dagegen jene Prozesse, welche sich in den gleichen Jahren im Hinblick auf den Rundfunk und die Filmindustrie abspielten, denen Goebbels als den wirkungsmächtigsten Massenmedien sein Hauptinteresse zuwandte. Im Rundfunk, der schon vorher unter staatlicher Regie gestanden hatte, ließ sich das am leichtesten bewerkstelligen. Während anfänglich in diesem Medium häufig Hitler-­Reden und Ansprachen führender NS-Größen ausgestrahlt wurden, welche 111

Das NS-Regime

viele Hörer und Hörerinnen auf die Dauer eher langweilten als aufputschten, entschloss sich Goebbels in der Folgezeit, auch auf diesem Sektor eher die Zahl politisch unverbindlicher Programme zu erweitern, von denen er sich eine wesentlich größere Aufnahmebereitschaft erwartete. »Nur nicht langweilig werden«, erklärte er demnach schon Ende 1933 in einer Ansprache vor den jeweiligen Rundfunkintendanten, »nicht die Gesinnung auf den Präsentierteller legen. Die Phantasie muss alle Mittel und Methoden in Anspruch nehmen, um die neue Gesinnung modern und inte­ res­sant den breiten Massen zu Gehör zu bringen.«5 Um also den dick aufgetragenen Propagandacharakter in den chauvinistisch überzogenen Radiosendungen etwas zurückzudrängen, entschied sich deshalb Goebbels aufgrund seiner schichtenspezifischen Sehweise schon kurz darauf, in die Rundfunkprogramme sowohl mehr anspruchsvolle Konzerte als auch mehr musikalische Unterhaltungssendungen sowie humoristische Kurzszenen aufzunehmen, um so den gehobenen Schichten die gewünschte Erbauung und den breiten Massen die erforderliche Entspannung zu bieten. Und das führte durch den Markterfolg der billigen »Volksempfänger« zu einer steigenden Beliebtheit des Rundfunks. Während es 1932 nur knapp vier Millionen Rundfunkteilnehmer und -teilnehmerinnen gab, stieg ihre Zahl bis 1939 auf über zehn und dann bis 1942 auf 16 Millionen an. Da die Mehrheit der deutschen Bevölkerung jedoch nicht allzu viel »höhere Musik« hören wollte, wurde schließlich der Anteil der Unterhaltungsmusik zuerst auf 60 und dann auf 70 Prozent erweitert, während der »ernsten Musik« nur noch fünf Prozent zugebilligt wurden. »Was will denn dieser Furtwängler mit seinen 2000 Zuhörern in der Philharmonie«, erklärte Goebbels dementsprechend, »was wir brauchen, sind die Millionen, und die haben wir mit dem Rundfunk.«6 Ja, diese Tendenz nahm in den Jahren des Zweiten Weltkriegs sogar noch zu. Eine wichtige Rolle spielten dabei die oft drei Stunden dauernden »Wunschkonzerte« mit ihren Operettenmelodien, Volksliedern, Karnevalsschlagern, Walzern und Militärmärschen, die sich bei 50 Prozent der Hörer und Hörerinnen an der »Heimatfront« einer großen Beliebtheit erfreuten. Dazu kamen all jene von Zarah Leander, Hans Albers und anderen Publikumslieblingen gesungenen Schlager mit Anfangszeilen wie »Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen«, »Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern« oder »In der Heimat, in der Heimat, da gibt’s ein Wiedersehn«, die eine Durchhaltemoral befördern sollten, welche sich erst im April 1945 im Gefolge einer militärischen Niederlage nach der anderen als sinnlos erwies. Fast die gleichen Absichten, nämlich möglichst alle Deutschen in den Bann der NS-Kulturpolitik zu ziehen, lassen sich im Bereich des Films nachweisen. Während sich jedoch der Rundfunk bereits vor der Machtübergabe an Hitler in staatlichen Händen befand und daher kaum linke oder jüdische Mitarbeiter hatte, weshalb er von der neuen Regierung ohne allzu große Mühen umgehend in den Dienst ihrer 112

Die Wendung ins Realpolitische

ideologischen Meinungsbeeinflussung gestellt werden konnte, war die gesamte Filmindustrie im Jahr 1933 noch privatwirtschaftlich organisiert und hatte obendrein im Bereich der Firmenbesitzer, Regisseure, Filmskriptautoren sowie Schauspieler eine Unzahl jüdischer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, von denen rund 2000 im Frühjahr 1933 Deutschland verließen und sich ins Exil begaben. Auf diesem Gebiet, das den eher pragmatisch denkenden NS-Kulturtheoretikern wegen seiner Massenwirksamkeit besonders wichtig erschien, sah sich daher die neue Regierung anfangs geradezu unüberwindlichen Schwierigkeiten gegenüber, um auch jene Kintoppgänger und -gängerinnen der unteren Gesellschaftsschichten, die vor 1933 fast zu 50 Prozent für die SPD oder KPD gestimmt hatten, für ihre Ziele zu gewinnen. Im Bemühen, von vornherein nicht allzu diktatorisch zu erscheinen, ließen die Nazis die privatwirtschaftliche Struktur der Filmindustrie vorerst bestehen. Um überhaupt mit einigen Propagandafilmen auf sich aufmerksam zu machen, gaben sie im Frühjahr 1933 lediglich drei Filme in Auftrag, die bereits im Herbst dieses Jahrs unter den Titeln SA-Mann Brandt, Hans Westmar. Ein deutsches Schicksal aus dem Jahr 1929 und Hitlerjunge Quex in vielen Kinos gezeigt wurden, aber nicht jenen Publikumserfolg hatten, den sich manche NS-Kulturtheoretiker erhofft hatten. Daher entschieden sich Hitler, Goering und Goebbels, um die breiten Massen bei »guter Laune« zu halten, wie schon im Hinblick auf die Schlagerindustrie auch auf diesem Gebiet für eine verstärkte Wendung ins Unterhaltsame. Statt also vornehmlich heroische oder tragisch erschütternde Braunhemdfilme drehen zu lassen, beauftragten sie die führenden Filmkonzerne, in Zukunft vor allem humoristische oder melodramatische Kintoppfilme mit Publikumslieblingen wie Hans Albers, Jenny Jugo, Zarah Leander, Theo Lingen, Hans Moser, Heinz Rühmann, Adele Sandrock, Grethe Weiser und Paula Wessely zu produzieren. Und diese Firmen, ob nun die Bavaria, die Terra oder das Tobis-Tonbildsyndikat, welche zwar ab 1937 immer stärker unter staatliche Kontrolle gerieten, aber erst 1942 in der staatlichen Ufa Film GmbH zusammengefasst wurden, nahmen solche Aufträge, von denen sie sich höchst ergiebige Profite versprachen, nur allzu willig an. Diese Hoffnung wurde auch keineswegs getrübt. Schließlich ließen sich in den NS-Jahren insgesamt rund 7,6 Milliarden Kinokarten an ein diese Wendung ins Unterhaltsame durchaus begrüßendes Publikum absetzen. Viele dieser Filme sind daher von den zu gleicher Zeit in Hollywood gedrehten Musik- oder Lustspielfilmen, die bis 1940/41 auch im Dritten Reich gezeigt wurden, kaum zu unterscheiden. Die größte Gruppe innerhalb der Spielfilmproduktion der NS-Zeit bildeten jene 569 Komödien-, Schwank- oder Satirefilme, wie Wenn wir alle Engel wären (1936), Rosen in Tirol (1940) oder Frauen sind doch bessere Diplomaten (1941), die zeitweilig 47,5 Prozent der Gesamtproduktion der Filmindustrie ausmachten. Die zweitgrößte Gruppe waren jene 508 Herzkino-, Ehe-, Arzt-, S­ chicksalsoder Jungmädchenfilme, wie Annelie (1941), Die große Liebe (1942) und Glück bei 113

Das NS-Regime

Abb. 29  Karin Hilmboldt und Heinz Rühmann in »Die Feuerzangenbowle« (1944)

den Frauen (1944), deren Anteil im Laufe der Jahre auf 42,2 Prozent anstieg. Ebenso erfolgreich waren Musik- und Revuefilme, auf die immerhin 16,1 Prozent entfielen, während die Anzahl der Propagandafilme nur 12,7 Prozent umfasste. Ja, in den letzten Kriegsjahren ging der Anteil derartiger Filme sogar auf acht Prozent zurück. So hatte etwa der 1940 in den Kinotheatern gezeigte antisemitische Film Der ewige Jude bei weitem nicht den Erfolg wie bewusst aufheiternde Filme wie Münchhausen mit Hans Albers (1943) oder Die Feuerzangenbowle mit Heinz Rühmann (1944), die selbst dann noch gezeigt wurden, als um sie herum sich manche deutschen Städte bereits in Trümmerfelder verwandelten. Um abschließend noch einmal die Haupttendenz der NS-Kulturpolitik herauszustellen: Von der oft beschworenen ideologischen »Gleichschaltung« auf diesem Gebiet kann im Hinblick auf die Jahre zwischen 1933 und 1944 nur mit gewissen Abstrichen die Rede sein. Trotz aller emphatischen Erklärungen, sich auch auf diesem Sektor stets an das deutsche Volk als Ganzes zu wenden, behielten die meisten NS-Kulturtheoretiker die schichtenspezifische Aufspaltung in eine E- und eine UKultur, die bereits in der Weimarer Republik trotz aller »demokratisierenden« Absichten weiter bestanden hatte, durchaus im Auge. Sie wussten genau, dass sich die in verschiedene Klassen gespaltene deutsche Bevölkerung nach dem 30. Januar 1933 nicht umgehend in eine homogene »Volksgemeinschaft« verwandeln ließ. Schließlich 114

Marktbedingungen im Exil

herrschten in den einzelnen Bevölkerungsschichten aufgrund höchst verschiedener Besitz- und Bildungsvoraussetzungen nach wie vor recht unterschiedliche Kunstund Kulturerwartungen, auf welche die hierfür Verantwortlichen innerhalb der NSFührungskreise durchaus Rücksicht nahmen, indem sie jeder Schicht das ihr Gemäße zu offerieren versuchten: den Gebildeten unter den finanziell Bessergestellten die traditionellen Werke der höheren Kultur und den breiten Massen die Produkte der Unterhaltungsindustrie. Statt also die verschiedenen Schichten der deutschen Bevölkerung sofort mit irgendwelchen rassistischen Fernzielen, wie der Ausschaltung aller nichtarischen Elemente aus dem deutschen Volkskörper sowie der nur durch einen Zweiten oder Dritten Weltkrieg zu erreichenden Weltherrschaft, zu schockieren, beschränkten sich die eher pragmatisch eingestellten Nazifaschisten – nach der Ausschaltung aller linken und jüdischen »Elemente« – auf kulturellem Gebiet erst einmal auf die Durchsetzung jener Nahziele, von denen sie sich eine möglichst breite Zustimmung erhofften. Und zwar taten sie das sowohl auf staatlicher als auch auf privatwirtschaftlicher Ebene. Die gesellschaftliche Oberschicht versuchten sie, wie gesagt, in dieser Hinsicht durch die Anpreisung der höheren Kulturwerte im Bereich der Literatur, des Theaters, der Konzertmusik und der Oper zu gewinnen, während sie sich bemühten, die gesellschaftlichen Unterschichten eher mit den massenmedialen Freizeitangeboten der Film- und Schlagerindustrie zufriedenzustellen. Demzufolge hatten viele, wenn nicht gar die meisten Menschen innerhalb dieses Staats das Gefühl, nicht in einem brutalen Gewaltregime, sondern in einer ihren Bedürfnissen entsprechenden Kultur- und Konsumgesellschaft zu leben. Beide Schichten ertrugen daher sogar die Entbehrungen und Opfer in der Anfangszeit des Zweiten Weltkriegs, ohne groß Widerstand dagegen zu leisten. Ja, dass sich die Mehrheit bis zum 8. Mai 1945 weiterhin systemkonform verhielt und es erst der militärischen Übermacht der Westmächte und der Sowjetunion bedurfte, um das Dritte Reich zur Kapitulation zu zwingen, wirkt bis heute beschämend. So gesehen waren die Nazifaschisten, obwohl sie den Zweiten Weltkrieg verloren, in ihren realpolitischen Taktiken und kulturellen Anpassungsmanövern bis zur letzten Minute auf eine fatale Weise durchaus erfolgreich. Marktbedingungen im Exil

Die Entscheidung, welche Zufluchtsorte die nach der Machtübergabe an Adolf Hitler aus Deutschland vertriebenen Schriftsteller, Publizisten, Filmschaffenden, Maler, Komponisten, Dirigenten und Konzertsolisten wählten, hing meist von zwei Faktoren ab. Entweder begaben sie sich in Länder, in denen sie Freunde oder Verwandte hatten, die ihnen erst einmal die nötige Starthilfe boten, oder sie wählten Staaten, 115

Das NS-Regime

wo sie gemäß ihrer beruflichen Vorbildung oder politischen Orientierung einen sinnvollen Wirkungsraum zu finden hofften. Allerdings waren ihre beruflichen Chancen dabei von Anfang an höchst unterschiedlich. Schließlich litten einige Länder, in welche sie geflohen waren, weiterhin unter den Folgen der Weltwirtschaftskrise und waren außerdem nicht besonders judenfreundlich, ja obendrein antilinks eingestellt, was die Situation vieler Exilanten zusätzlich erschwerte. Noch am leichtesten hatten es jene 2000 in der Filmindustrie Arbeitenden, das heißt Regisseure, Drehbuchautoren, Produzenten, Kinobesitzer und Verleiher, die nach dem 30. Januar 1933 aufgrund ihres jüdischen Herkommens oder ihrer linken Gesinnung Deutschland verlassen mussten. Auch hochbegabte Kameramänner, Tontechniker, Filmarchitekten, Cutter und Beleuchter hatten wegen des guten Rufs, dessen sich die deutschen Filmstudios vor 1933 erfreuten, ebenfalls gute Chancen, von den Produzenten der ausländischen Filmindustrie zeitweilig oder auf längere Zeit angestellt zu werden. Die exponierten Linken unter ihnen, wie Erwin Piscator, Hans Rodenberg und Gustav von Wangenheim, kamen anfangs bei der international eingestellten Moskauer Meshrabpom-Filmgesellschaft unter, wo sie Agitationsfilme nach Werken von Lion Feuchtwanger, Anna Seghers und Friedrich Wolf drehen konnten. Wesentlich schwieriger hatten es dagegen Regisseure wie Fritz Lang, Max Ophüls, Georg Wilhelm Pabst und Robert Siodmak in Frankreich. Dennoch gelang es dieser Gruppe zwischen 1933 und 1939, immerhin 50 Filme in diesem Land herauszubringen, wobei es sich unter den dort herrschenden Marktbedingungen allerdings zumeist um Komödien, Melodramen, Krimis oder Ähnliches handelte. Nicht viel anders sah die Situation für die vertriebenen Filmschaffenden in England aus. Hier gelang es zwar einigen Stars und Divas wie Elisabeth Bergner, Fritz Kortner, Peter Lorre, Conrad Veidt und Adolf Wohlbrück sowie dem Regisseur Berthold Viertel in den marktgängigen Genres der britischen Filmindustrie Fuß zu fassen. Aber die meisten von ihnen verließen dieses Land, wie ihre Kollegen in Frankreich, in den Jahren 1939/40 wegen der beginnenden Kriegsverhältnisse in Europa lieber in Richtung Hollywood, wo bereits vorher Hunderte deutscher Filmschaffender Zuflucht gesucht hatten. Ihre Reaktionen auf die dortige »Traumfabrik« oder »Illusionsmaschine«, wie dieser Ort damals oft bezeichnet wurde, waren höchst verschiedenartig. Manche, wie Marlene Dietrich, Fritz Lang und Samuel (Billy) Wilder, machten dort steile Karrieren. Andere, wie Bertolt Brecht, Curt Goetz oder Friedrich Torberg, empfanden dagegen diesen Stadtbezirk eher als die »Hölle«,7 da es dort nur um das Profitversprechende ohne irgendwelche höheren kulturellen Ansprüche gehe. Allerdings bot hier der ständige Hunger nach neuen Filmskripts selbst einigen Exilautoren, darunter Leonhard Frank und Heinrich Mann, die Chance, sich für 100 Dollar im Monat möglichst filmgerechte »Stories« auszudenken und damit wenigstens ein halbwegs 116

Marktbedingungen im Exil

erträgliches Existenzminimum, wenn auch diese »Treatments« nur in seltenen Fällen in Filme umgesetzt wurden. Dazu waren sie meist viel zu »arty«, wie man in den USA sagte, da in diesem Land das ästhetisch Anspruchsvolle noch weniger zählte als in Frankreich oder England. Was hier von den großen Konzernen erwartet wurde, waren vornehmlich melodramatische Society-Filme, Komödien, Musikfilme sowie Science-Fiction- oder Horrorfilme, also all das, was sowohl Bertolt Brecht als auch Theodor W. Adorno, wenn auch in ideologisch unterschiedlicher Perspektive, als Produkte einer nur auf Profit bedachten Unkulturindustrie bezeichneten. Trotzdem gelang es einigen Exilregisseuren, wie William Dieterle, Henry Koster, Fritz Lang, Otto Preminger und Robert Siodmak, selbst in diesen Genres einen gewissen künstlerischen Anspruch aufrechtzuerhalten, obwohl sie wussten, dass von ihnen nicht das Gute, Schöne und Wahre, sondern die »guten, schönen Waren« erwartet wurden. Irgendwelche Problemfilme, in denen sie ihr Judentum, ihren Kulturschock oder ihren Hass auf den Nazifaschismus thematisieren konnten, hat daher anfangs fast keiner von ihnen gedreht. Schließlich galt der Film vor Beginn des Zweiten Weltkriegs in den Vereinigten Staaten noch weitgehend als ein möglichst eingängiges Unterhaltungsmedium, in dem es nichts »Politisches« geben durfte. Als daher Charlie Chaplin 1939 daran ging, mit seinem The Great Dictator eine Hitler-Satire zu drehen, stieß er überall auf erbitterten Widerstand.8 Filme dieser Art waren erst nach dem Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 möglich. Anschließend konnten einige Regisseure, die bis dahin weitgehend marktgängige Unterhaltungsfilme gedreht hatten, auch antifaschistische Themen aufgreifen. Aber selbst bei solchen Filmen hatten die Hollywood-Konzerne vor allem ihr Profitstreben im Auge und griffen meist auf die altbewährten Klischees melodramatischer Konfrontationen von Schurken und Edelmenschen zurück, mit denen sie bei den breiten Massen die größten Erfolge zu erzielen hofften. Was daher sogar in der Folgezeit im Programm der amerikanischen Filmindustrie dominierte, waren – von einigen Ausnahmen wie Hangmen Also Die (1943) nach Bertolt Brecht und The Seventh Cross (1944) nach Anna Seghers einmal abgesehen – weiterhin die üblichen Horror-, Kostüm-, Science-Fiction- und Komödien-­ Szenarien, aber kaum politische Filme, in denen die Exilregisseure ihr Judentum, ihren Kulturschock oder ihre antifaschistische Gesinnung demonstrieren konnten. Ebenso unterschiedlich erging es den meisten Dramatikern, Theaterregisseuren, Komponisten und Dirigenten größerer Orchester, die nach der Machtübergabe an Adolf Hitler wegen ihrer jüdischen Herkunft oder ihrer linken Gesinnung Deutschland Hals über Kopf verlassen mussten. Von den Theaterregisseuren konnte anfangs lediglich Max Reinhardt einige Erfolge für sich verbuchen, während in der Weimarer Republik hochgefeierte Dramatiker wie Bertolt Brecht, Georg Kaiser, Ernst Toller und Carl Zuckmayer kaum oder gar keine Möglichkeiten fanden, eins ihrer älteren oder neu geschriebenen Stücke irgendwo unterzubringen. Dazu waren ihre 117

Das NS-Regime

Themenstellungen entweder zu spezifisch »deutsch«, schwer zu übersetzen oder zu links eingefärbt, um in Ländern wie Frankreich, England und den USA aufgeführt zu werden. Selbst Brecht, dessen Dreigroschenoper sich in den späten zwanziger Jahren als ein Welterfolg erwiesen hatte, blieb daher in den USA eine kaum bekannte Randfigur und erklärte verbittert, dass es in diesem Land nur die »Breite Straße«, aber kein wirkliches Theater gebe.9 Etwas stärker beachtet wurde zeitweilig in einigen westlichen Ländern nur das den Antisemitismus attackierende Drama Professor Mamlock (1934) von Friedrich Wolf, während seine linken Stücke im Westen aufgrund der dort herrschenden Appeasementpolitik dem Dritten Reich gegenüber weitgehend unbekannt blieben. Etwas besser erging es manchen Komponisten im Exil. Vor allem jene, die sich umgehend in den USA den dortigen Aufführungs- und Marktgepflogenheiten anpassten, fanden relativ schnell ein erträgliches Auskommen. Das gilt besonders für die, welche auf ihre früheren kompositorischen Ambitionen verzichteten und sich, wie Erich Wolfgang Korngold, Hans Julius Salter und Ernst Toch, damit abfanden, in Hollywood Filmmusiken zu schreiben. Auch Kurt Weill, dem schon vorher alles musikalisch Hochgestochene ferngelegen hatte, zögerte keineswegs, in New York in das Broadway-Geschäft einzusteigen. Dennoch musste selbst er erleben, dass man dort seine Werke zum Teil als zu »European« oder »arty« bezeichnete. Daher bemühte er sich, seine deutsche Herkunft so weit wie möglich zu vertuschen und sich in einen US-Amerikaner zu akkulturieren, das heißt sich mit marktgängigen Musicals wie Knickerbocker Holiday (1938), Lady in the Dark (1940), One Touch of Venus (1943) und Down in the Valley (1945) den musikalischen Gepflogenheiten der New Yorker Broadway-Szene anzupassen. Und das empörte nicht nur Brecht, sondern auch und vor allem einen Hochkulturvertreter wie Theodor W. Adorno, der darin einen Verrat an allem sah, was man zuvor in Europa einmal unter »Kunst« verstanden habe. Ein von Adorno hochverehrter Komponist wie Arnold Schönberg, der noch 1931 in Berlin die selbstherrliche These vertreten habe, mit der Erfindung seiner Zwölftontechnik der deutschen Musik wiederum »100 Jahre Weltgeltung« erobert zu haben,10 fand daher in den Vereinigten Staaten aufgrund seines elitären Modernismus überhaupt keinen Anklang. In einem Land, wo man damals unter Musik vor allem die Songs der Country Music, die Melodien der Musicals, das Gedudel der Swingorchester, die untermalende Filmmusik und den ohrenbetäubenden Jazz verstand, galt seine Tonsprache von vornherein als absurd. Als sich Schönberg deshalb in Los Angeles niederließ, nahmen ihn selbst die vielen dort lebenden Filmkomponisten überhaupt nicht wahr, weshalb er nach einer kurzen, schlechtbezahlten Anstellung an der University of California seinen Unterhalt mit Nachhilfestunden verdienen musste und kaum Zeit zum Komponieren fand. Seine in Berlin begonnene Oper Moses und Aron blieb daher zwangsläufig Fragment und auch, was er in diesen Jahren 118

Marktbedingungen im Exil

komponierte, wurde, wie ebenfalls die Werke anderer als zu »modernistisch« empfundener Exilkomponisten wie Ernst Krenek und Stefan Wolpe, fast nirgends aufgeführt. Ebenso unerwünscht waren in den USA jene Komponisten, denen der Ruf des Linken vorausging. Das gilt vor allem für Hanns Eisler, dem man schon 1936 bei einem Treffen der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik in Paris nahegelegt hatte, bei einer ins Auge gefassten Aufführung seiner Konzentrationslagersymphonie die gesungenen Partien, denen Texte von Ignazio Silone und Bertolt Brecht zugrunde lagen, lieber durch zwei Saxophone zu ersetzen. Da Eisler dieses Ansinnen als unzumutbar erschien, hatte er darauf seine Partitur zurückgezogen. Auch andere seiner Werke, wie die Kantate gegen den Krieg, die Kantate auf den Tod eines Genossen und die Kantate im Exil, ließen sich damals in westlichen Ländern kaum oder nicht aufführen. Da Eislers Kompositionen nach 1936/37 selbst in der Sowjetunion zum Teil als »formalistisch« galten, sah er sich kurz vor Kriegsbeginn schließlich gezwungen, über Mexiko in die USA zu fliehen. Allerdings blieb ihm in Los Angeles nur die Wahl, sich mit seinen »Strichquartettchen« den dortigen Marktbedingungen anzupassen, wie Brecht, der mit ihm dasselbe Schicksal teilte, in seinen Hollywood-Elegien (1942) ironisierend und zugleich erbittert schrieb.11 Wesentlich leichter hatte es dagegen eine Reihe aus Mitteleuropa vertriebener Dirigenten, wie Jascha Horenstein, Otto Klemperer, Erich Leinsdorf, Eugen Ormandy, Wilhelm Steinberg, Georg Szell und Bruno Walter, in den USA eine neue Anstellung zu finden. Sie konnten in Boston, Chicago, Cleveland, Los Angeles, New York, Philadelphia, Pittsburgh sowie anderen amerikanischen Großstädten relativ schnell leitende Stellen einnehmen. Was ihnen dabei zugute kam, war die große Hochschätzung, welche die Sponsoren der dortigen Oberklasse seit dem späten 19. Jahrhundert den Hauptwerken der deutschen klassischen Musik entgegenbrachten, um sich damit in elitärer Absonderung von den »Niederungen« der marktgängigen Musikindustrie abzusetzen. Doch nun zu den vielen deutschen Schriftstellern, die sich 1933 aus Furcht vor den Nazifaschisten ins Exil begaben und ohne die man kaum von einer »Kultur des Anderen Deutschland« sprechen kann. Viele ihrer Werke, ob nun auf deutsch oder in Übersetzungen, konnten in zahlreichen Gastländern durchaus verlegt werden. Obendrein waren sie die Einzigen, die sich in Moskau, Prag, Paris, London und Mexiko City zum Teil in antifaschistischen Gruppen zusammenschlossen. Die eher Linksorientierten unter ihnen gingen dabei anfangs voller Vertrauen auf eine kommunistische Solidarität nach Moskau oder auch nach Prag, weil dort eine dem NS-Regime gegenüber kritische Regierung am Ruder war und zudem 38 Prozent der tschechischen Bürger und Bürgerinnen deutsch verstanden. Österreich mieden dagegen die meisten, weil sich hier unter dem Dollfuß-Regime eine halbwegs faschistoide Gesinnung auszubreiten begann. Und auch in den deutschsprachigen Teil 119

Das NS-Regime

der Schweiz begaben sich nur wenige, in dem lange Zeit aus Angst vor dem »großen Bruder im Norden« eine vorsichtig taktierende Appeasementpolitik herrschte. Um so verlockender erschien einer Reihe von Autoren und Autorinnen in der Mitte der dreißiger Jahre Frankreich. Dort trat ihnen zwar die reaktionäre Action française feindlich gegenüber, aber Antifaschisten wie André Gide boten ihnen sogar 1935 die Möglichkeit, in Paris einen groß aufgezogenen Kongress »Zur Verteidigung der Kultur« abzuhalten, auf dem neben Linksliberalen wie Heinrich Mann selbst kommunistische Autoren wie Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Ilja Ehrenstein und Gustav Regler als Redner auftreten konnten und sich zu einer internationalen Volksfrontpolitik gegen den Nazifaschismus bekannten. Und auch in London kam es im gleichen Zeitraum zu ähnlich gearteten Bestrebungen. Doch all das währte nur wenige Jahre. Nach den Moskauer Schauprozessen, dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs hörten diese hoffnungsvoll begonnenen Exilaktivitäten plötzlich auf. Aus Angst vor dem mit imperialistischer Verve auftretenden NS-Regime zogen es daher die meisten dieser Autoren und Autorinnen vor, angesichts der vorrückenden deutschen Truppen lieber Europa zu verlassen und nach Übersee, ob nun nach Lateinamerika oder in die USA, auszuweichen. Fragen wir nun, wie politisch effektiv all diese literarischen Bemühungen in den verschiedenen Exilländern tatsächlich waren. Da sie sich – außer in der UdSSR – unter den in allen anderen Ländern herrschenden marktwirtschaftlichen Bedingungen abspielten, hing ihr Erfolg nicht allein von ihrer politischen Überzeugungskraft, sondern auch von den jeweils gewählten literarischen Genres, das heißt dem Drama, dem Roman, dem Gedicht, der Biografie oder dem Reisebericht, sowie der einem nichtdeutschen Publikum entgegenkommenden und damit profitverheißenden Gestaltungsweise ab. Jene Verlage, die sich entschlossen, derartige Werke herauszubringen, mussten daher aus finanziellen Gründen stets erwägen, ob sie das jeweilige Werk nur in einer kleinen Auflage auf deutsch für die auch in ihrem Land diese Sprache verstehende Leserschaft oder in einer kostspieligen Übersetzung in ihrer eigenen Sprache herausbringen sollten. Und bei solchen Entscheidungen ging es ihnen oft nicht nur primär um das Politische, das ihnen manchmal allzu riskant erschien, sondern auch um die eingängige Art, mit der die betreffenden Themen behandelt wurden, um nicht auf unverkäuflichen Ladenhütern sitzen zu bleiben. Die geringsten Chancen, im Exil veröffentlicht zu werden, hatten daher Lyriker und Lyrikerinnen wie Rose Ausländer, Max Herrmann-Neiße, Else Lasker-­Schüler, Nelly Sachs oder Karl Wolfskehl, deren Gedichte viel zu subjektbetont waren, um sich in diesen politisch bewegten Zeiten Gehör zu verschaffen. Selbst Bertolt Brechts höchst engagierter Band Lieder, Gedichte, Chöre, der 1934 in dem von Willi Münzenberg in Paris gegründeten Verlag Editions du Carrefour erschien, ließ sich in Frank120

Marktbedingungen im Exil

reich kaum verkaufen, was Brecht später sogar dazu bewegte, ein Gedicht unter dem Titel Schlechte Zeit für Lyrik zu verfassen.12 Ebenso schwer hatten es die ins Exil vertriebenen Dramatiker. Lediglich Bertolt Brecht, Ferdinand Bruckner, Ernst Toller und Friedrich Wolf gelang es, wenigstens einige ihrer antifaschistischen Stücke – wenn auch ohne großen Erfolg – im Ausland aufführen zu lassen, während die Dramen von Georg Kaiser, Carl Sternheim und Carl Zuckmayer, die vor 1933, wie gesagt, in Deutschland zu den meist gespielten Stückeschreibern gehört hatten, wegen ihrer allzu stark auf die Problemstellungen der Weimarer Republik bezogenen Thematik nirgends aufgeführt wurden. Was dagegen im Exil eher reüssierte, war der Roman, der sich seit dem 19. Jahrhundert auf dem Buchmarkt ohnehin als die vorherrschende literarische Gattung durchgesetzt hatte und deshalb von vornherein einen beträchtlichen Absatz versprach. Die erfolgreichsten Exilautoren waren daher Romanschriftsteller wie Lion Feuchtwanger, die Brüder Heinrich und Thomas Mann, Franz Werfel und Arnold Zweig, deren Werke nicht nur in deutschsprachiger Form bei europäischen Exilverlagen wie Oprecht in Zürich, Bermann-Fischer in Stockholm sowie Querido und Allert de Lange in Amsterdam, sondern auch bei Alfred A. Knopf in New York oder der

Abb. 30  Reklame des Querido Verlags in Amsterdam (1933) 121

Das NS-Regime

Viking Press in Boston herauskamen. Am besten verkauften sich von diesem Genre die sogenannten historischen Romane, ob nun Lion Feuchtwangers Der falsche Nero (1936), Heinrich Manns Die Jugend und die Vollendung des Königs Henri Quatre (1935/38), Thomas Manns Lotte in Weimar (1939), Franz Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh (1933) oder Arnold Zweigs Erziehung vor Verdun (1935). Aber auch gut gemachte historische Biografien, wie Stefan Zweigs Maria Stuart (1935) und Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam (1935) sowie Emil Ludwigs Hindenburg (1935) und Simon Bolivar (1939) erwiesen sich als durchaus marktgängig. Doch neben den historischen Romanen und Biografien kamen im gleichen Zeitraum auch einige Exilromane heraus, welche in höchst direkter Form auf die zeitgenössischen Geschehnisse eingingen. Einen viel beachteten Auftakt dazu bildete der bereits im Spätherbst 1933 erschienene Roman Die Geschwister Oppenheim von Lion Feuchtwanger, von dem sich in wenigen Monaten bereits 20.000 deutschsprachige und 270.000 Exemplare in mehreren Fremdsprachen verkaufen ließen. In ihm ging es um das Schicksal einer wohlhabenden und zugleich gutgläubigen deutsch-jüdischen Familie, die sich nicht vorgestellt hatte, dass es einem »Halbgebildeten« wie Adolf Hitler je gelingen würde, die Mehrheit der angeblich kultivierten deutschen Bürger und Bürgerinnen in seinen Bann zu ziehen. Die gleiche Gutgläubigkeit, und zwar unter dem deutschen Kleinbürgertum, nahmen sich anschließend Irmgard Keun in ihrem Roman Um Mitternacht und Oskar Maria Graf in seinem Anton Sittinger aufs Korn, die beide 1937 herauskamen, aber nicht die gleiche Breitenwirkung wie Feuchtwangers Geschwister Oppenheim erzielen konnten. Einen um so größeren Erfolg hatte dagegen der 1942, also nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und dem sich danach verstärkten Hass auf den Nazifaschismus, erschienene Roman Das siebte Kreuz von Anna Seghers, der als eine der üblichen Escape Stories in den USA sogar als Book of the Month herauskam und verfilmt wurde. Summa summarum: Selbst die größtenteils von nobelsten Intentionen beseelten Werke der deutschen Exilkünstler und -künstlerinnen konnten eine effektive Wirkung nur dann entfalten, wenn sie sich – von den besonderen Bedingungen in der Sowjetunion einmal abgesehen – anfangs in den von ihnen gewählten Zufluchtsländern den herrschenden Marktbedingungen, ja sogar den jeweiligen Appeasementbestrebungen der dortigen Regierungen anzupassen versuchten und sich dann nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs mit den ihnen gebotenen Möglichkeiten im Kampf gegen den Nazifaschismus engagierten. Dass sie unter diesen Bedingungen dennoch – politisch und ästhetisch gesehen – eine Reihe höchst bedeutsamer Werke schufen, von denen manche, wie die Romane Doktor Faustus von Thomas Mann und Das Beil von Wandsbek von Arnold Zweig sowie die Dramen Bertolt Brechts oder die Oper Moses und Aron von Arnold Schönberg, allerdings erst nach 1945 erscheinen konnten oder aufgeführt wurden, sollte ihnen nie vergessen werden. 122

Die sowjetische Besatzungszone und die Deutsche Demokratische Republik Die politökonomischen Voraussetzungen

Um nach der Kapitulation des NS-Regimes am 8. Mai 1945 und der Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen irgendwelchen postfaschistischen Tendenzen entgegenzutreten, fassten Harry S. Truman, Josif Stalin und Clement Richard Attlee im August des gleichen Jahrs bei ihrem Potsdamer Abkommen in politischer und ökonomischer Hinsicht vor allem vier Entschlüsse: eine durchgreifende Entnazifizierung der deutschen Bevölkerung, eine ebenso entschiedene Entmilitarisierung, eine Dekartellisierung der Großkonzerne, die den Nazifaschisten zur Macht verholfen hatten, sowie eine radikale Bodenreform, um so die ehemals preußische Junkerkaste in den Hintergrund zu drängen. Und anfangs hielten sich die Militärverwaltungen der vier Besatzungsmächte auch an diese Beschlüsse. Doch schon im Zuge des beginnenden Kalten Kriegs zwischen den USA und der UdSSR in den Jahren 1947/48 kam es in den drei westlichen Besatzungszonen durch die verstärkte Wiedereinführung privatwirtschaftlicher Verhältnisse zu einer allmählichen Lockerung dieser vier Beschlüsse, während in der »Sowjetzone«, wie dieser Teil Deutschlands damals im Westen meist hieß, in ökonomischer Hinsicht eher eine Verschärfung der Bodenreform- und Dekartellisierungsbestimmungen in Richtung auf einen zukünftigen sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat eintrat, was unter den auf eine Wiederherstellung der altgewohnten privatwirtschaftlichen Verhältnisse hoffenden Bevölkerungsschichten erste Unmutsstimmungen erregte. Die sowjetische Militärbehörde und die aus dem Exil zurückgekehrten Altkommunisten sahen sich daher bei der Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen Verstaatlichungsabsichten von Anfang an folgenden Schwierigkeiten gegenüber: 1.) war diesen Bemühungen keine sozialistische Revolution vorausgegangen, die große Teile der Bevölkerung in dieser Hinsicht beflügelt hätte, 2.) war die ostdeutsche Indus­ trie durch den Mangel an Steinkohle- und Erzvorkommen dem Westen gegenüber stark benachteiligt, 3.) bewirkte die antirussische Propaganda der Nazifaschisten weiterhin antisowjetische Stimmungen und 4.) waren viele Ostdeutsche empört, dass ihre Zone an die im Zweiten Weltkrieg stark angeschlagene UdSSR erhebliche Reparationszahlungen leisten musste. All das bewegte schon damals Teile der bürgerlich gesinnten Bevölkerungsschichten, lieber in den wirtschaftlich stärkeren Westen abzuwandern. Als es daher im Zuge des sich verschärfenden Kalten Kriegs auf Druck der USA und der UdSSR im Spätherbst 1949 zur Teilung Deutschlands in die westliche Bundesrepublik Deutschland (BRD) und die östliche Deutsche Demokratische 123

Die sowjetische Besatzungszone und die Deutsche Demokratische Republik

Republik (DDR) kam, setzte im Osten eine weitere Republikfluchtwelle ein, die bis zum August 1961 andauerte, als sich die in der DDR zur Macht gekommene Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) entschloss, ihre Grenze gegenüber dem Westen abzuriegeln. Schließlich waren in der DDR die seit der Nachkriegszeit bestehenden »objektiven Schwierigkeiten« auf wirtschaftlichem Gebiet nach wie vor die gleichen geblieben. Die SED hatte zwar versucht, ihr sozialistisches System durch volkseigene Betriebe (VEB), landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG), staatliche Handelsorganisationen (HO) und Produktionsgenossenschaften der Handwerker (PGH) so weit wie möglich zu stabilisieren, war aber trotz des hohen Beschäftigungsgrads von Frauen und der vielfachen Prämienanreize im »sozialistischen Wettbewerb« in ihrer gesamtwirtschaftlichen Produktivität und der unzureichenden Bedarfsdeckung an bestimmten Lebensmitteln und gehobenen Konsumgütern zusehends hinter dem mit amerikanischen Krediten aufgeblühten »Wirtschaftswunderland BRD« zurückgeblieben. Und das hatte in der DDR 1953 sogar zu Arbeiterunruhen geführt, die nur mit Hilfe sowjetischer Truppenkontingente niedergeschlagen werden konnten. Erst nach dem Bau der Berliner Mauer im Jahr 1961 stabilisierte sich das ostdeutsche Wirtschaftssystem allmählich. Von nun an steigerte sich die Konsumgüterproduktion fortlaufend und auch die Wohnungssituation verbesserte sich zusehends. Gegen Ende der sechziger Jahre hatten daher – im Gegensatz zu den anderen wesentlich ärmeren Ostblockstaaten – bereits über die Hälfte aller ostdeutschen Haushalte eine Waschmaschine, einen Kühlschrank und einen Fernsehapparat. Ja, selbst die Automobilherstellung nahm beträchtlich zu. Als deshalb 1971 Erich Honecker die Führungsspitze der SED übernahm, glaubte er, dass die DDR bereits das Stadium des »realexistierenden Sozialismus« erreicht habe. Statt also wie sein Vorgänger Walter Ulbricht weiterhin vornehmlich die valutaeinträgliche Exportindustrie zu fördern, fasste er darum im Zuge einer wirtschaftlichen Neuorientierung vor allem die zunehmenden Konsumbedürfnisse der ostdeutschen Bevölkerung ins Auge, die er durch hohe staatliche Subventionen anzukurbeln versuchte. Und das führte zwangsläufig zu einer Vernachlässigung innovativer Technologien und damit zu einem Schwund konkurrenzfähiger Exportgüter. Auf manchen Gebieten war deshalb die DDR danach zusehends auf den Import westlicher Produkte angewiesen, was zu einer negativen Handelsbilanz und zur Aufnahme westlicher Milliardenkredite führte. Gegen Ende der achtziger Jahre stand demzufolge die DDR kurz vor der Zahlungsunfähigkeit und war kaum noch zu einer indus­ triellen Produktionssteigerung und damit zur Verbesserung ihres Warenangebots in der Lage. Und da selbst der durchschnittliche Reallohn ihrer Bevölkerung lediglich ein Drittel der westlichen Löhne und Gehälter betrug, nahm der Unmut in wei124

Gescheiterte hochkulturelle Ambitionen

ten Teilen ihrer Bevölkerung von Jahr zu Jahr, ja schließlich von Monat zu Monat ständig zu, was im November 1989 zu verbreiteten Volksaufständen und damit zum Ende der DDR führte. Gescheiterte hochkulturelle Ambitionen

Im Folgenden soll es vor allem um die Frage gehen, welche Auswirkungen die im vorangegangenen Abschnitt dargestellten wirtschaftspolitischen Wandlungsprozesse auf das ostdeutsche Kulturleben der Nachkriegsepoche gehabt haben. Die ersten Impulse zu einer grundsätzlichen Verwerfung aller nazifaschistischen Taktiken auf diesem Gebiet gingen von dem bereits am 3. Juli 1945 in der Viermächtestadt Berlin gegründeten »Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands« aus, dessen Mitglieder weitgehend ehemalige Exilanten oder nichtfaschistische Vertreter der Inneren Emigration waren, die sich dafür aussprachen, dass aus Deutschland wenn schon nicht umgehend ein neuer Staat, aber wenigstens eine »Kulturnation« werden solle. Zu seinem Präsidenten wurde der aus Moskau zurückgekehrte Schriftsteller Johannes R. Becher gewählt, dem der Romancier Bernhard Kellermann, der Maler Carl Hofer und der Altphilologe Johannes Stroux als Vizepräsidenten zur Seite standen. Weitere führende Mitglieder dieses »Bunds«, die zwar alle antifaschistisch eingestellt waren, aber sonst recht verschiedenartige ideologische Positionen vertraten, waren der Theaterkritiker Herbert Jhering, der SPD-Politiker Gustav Dahrendorf, der Pädagoge Eduard Spranger, der Philosoph Ernst Niekisch, der CDU-Politiker Ernst Lemmer, der Romanist Victor Klemperer, der KPD-Politiker Anton Ackermann, die Maler Otto Nagel und Max Pechstein sowie die Schriftsteller Willi Bredel, Ludwig Renn und Günther Weisenborn. Das antifaschistische Grundsatzprogramm dieses »Bunds« folgte in vielem jener 1935 auf dem Pariser Exilkongress »Zur Verteidigung der Kultur« entworfenen überparteilichen Sammlungsstrategie und bestand aus sieben Hauptpunkten: »1) Vernichtung der Nazi-Ideologie auf allen Wissens- und Lebensgebieten. Zusammenarbeit mit allen demokratisch eingestellten weltanschaulichen und kirchlichen Bewegungen, 2) Bildung einer nationalen Einheitsfront der deutschen Geistesarbeiter, 3) Überprüfung der geschichtlichen Gesamtentwicklung unseres Volkes und damit Sichtung der positiven und negativen Kräfte, wie sie auf allen Ebenen unseres geistigen Lebens wirksam waren, 4) Wiederentdeckung und Förderung der freiheitlichen humanistischen Traditionen unseres Volks, 5) Einbeziehung der geistigen Errungenschaften anderer Völker in den kulturellen Neuaufbau Deutschlands, 6) Wiedergewinnung objektiver Maße und Werte sowie 7) Kampf um die moralische Gesundung unseres Volkes, insbesondere Einflußnahme auf die geistige Betreuung der deutschen Jugenderziehung und der studentischen Jugend.« 125

Die sowjetische Besatzungszone und die Deutsche Demokratische Republik

Ein derartiges Programm wirkte zwar sehr engagiert, aber ideologisch recht allgemein. Doch eine solche Doppelstrategie war in der unmittelbaren Nachkriegszeit sicher nötig, um viele der postfaschistischen Künstler nicht sofort vor den Kopf zu stoßen. Daher betonte der »Kulturbund« in seinen folgenden Erklärungen immer wieder, dass er niemandem eine bestimmte Ideologie »aufzuzwingen« versuche, sondern sich lediglich bemühe, in allen Deutschen den »wahren Geist der Menschlichkeit wachzurufen und zu fördern«. Nur in der Forderung, dass es in Zukunft in allen Kunstformen um die großen nationalen und gesellschaftlichen Belange gehen müsse, machte dieser Bund keine Kompromisse. Demzufolge verwarf er jene »elitäre« Absonderung der Kunst von der breiten Masse der Bevölkerung wie er auch jene oberflächliche »Zerstreuung und Unterhaltung« innerhalb der verschiedenen Künste, wie sie in der Weimarer Republik und dann auch im Dritten Reich in der Film- und Schlagerproduktion geherrscht habe, strikt ablehnte.1 Zu denselben Zielsetzungen bekannte sich der Erste Deutsche Schriftstellerkongress, der vom »Kulturbund« im Oktober 1947 nach Berlin einberufen wurde. Die wichtigsten Reden hielten hier Ricarda Huch, Elisabeth Langgässer und Günther Weisenborn als Vertreter der Inneren Emigration beziehungsweise des antifaschistischen Widerstands sowie Alexander Abusch, Johannes R. Becher und Fried-

Abb. 31  John Därnke: ­Plakat des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands (Oktober 1945) 126

Gescheiterte hochkulturelle Ambitionen

rich Wolf als Vertreter des Exils. Trotz der Entschiedenheit beider Lager, im Sinne der Widerstandskämpfer gegen das Dritte Reich weiterhin an der politischen und kulturellen Einheit Deutschlands festzuhalten, warf hier bereits durch das antikommunistische Auftreten des amerikanischen Journalisten Melvin J. Lasky der Kalte Krieg seinen ersten Schatten über das Ganze. Ja, seine provokatorischen Äußerungen gegen den »östlichen Totalitarismus« führten schon wenige Wochen später dazu, dass der »Kulturbund« wegen seiner als »linkslastig« bezeichneten Ideologie in den drei Westsektoren Berlins von den dortigen Militärbehörden verboten wurde. Trotz derartiger Spaltungsmanöver hielt die in der sowjetischen Besatzungszone kurz zuvor gegründete Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) vorerst in aller Entschiedenheit an ihrem gesamtdeutschen Stellvertretungsanspruch in kultureller Hinsicht durchaus fest. In unveränderter Frontstellung gegen die marktwirtschaftliche Rekapitalisierung der Kultur in den drei Westzonen stellte sie ihre ins Höhere zielenden Kulturbemühungen weiterhin als Vorbild eines »anderen, besseren Deutschlands« hin. Dafür spricht unter anderem die Verleihung der ersten Nationalpreise im Herbst 1949, mit denen sie sowohl west- als auch ostdeutsche Antifaschisten auszeichnete. Und auch der »Kulturbund« pries in seinen programmatischen Aufrufen nach wie vor die höheren Kulturleistungen als die »kostbarsten Güter unserer Nation«. Doch für derartige Bestrebungen war es zu diesem Zeitpunkt bereits zu spät. Schließlich erfolgte am 15. September 1949 die Gründung der ehemaligen BRD und darauf am 7. Oktober die Gründung der DDR, was auch auf die Kultur dieser beiden Staaten erhebliche Auswirkungen hatte. Während sich im Westen Deutschlands nach diesem Zeitpunkt im Gefolge der von Konrad Adenauer und Ludwig Erhard befürworteten »freien Marktwirtschaft« auch auf kulturellem Sektor weitgehend das gesellschaftlich unverbindliche Prinzip der subjektiven Selbstrealisierung im Hinblick auf das Schaffen aller Künstler und Künstlerinnen durchsetzte, wurde im Osten Deutschlands unter »demokratisch« nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell vornehmlich die ursprünglich volksverbundene Bedeutung dieses Begriffs herausgestrichen, um so nach der klassenbedingten Spaltung in eine hohe und eine niedere Kultur endlich den Weg zu der »einen großen, gebildeten Nation« einzuschlagen, wie es Johannes R. Becher, der erste Kulturminister der DDR, formulierte.2 Und das hatte zur Folge, dass nicht nur er, sondern alle führenden Vertreter der SED in Zukunft auf kulturellem Gebiet nicht irgendwelche individuellen Sonderleistungen, sondern stets Kunstwerke ins Auge fassten, bei denen weniger das »Ich« als das »Wir« im Vordergrund stehen würde. Was sie deshalb im Hinblick auf die Kunst ihres Staates befürworteten, waren vor allem an klassischen Vorbildern orientierte Darstellungen positiver Helden oder sozialistischer Kollektive, an denen sich der Rest der Bevölkerung beim »friedlichen Aufbau des Sozialismus« ein Vorbild nehmen könne. 127

Die sowjetische Besatzungszone und die Deutsche Demokratische Republik

Und zwar hielten fast alle Kulturtheoretiker der DDR bis weit in die fünfziger Jahre an dieser Ausrichtung ihrer Kulturpolitik fest. Um sich gegen die im Westen aufkommende und auch für die DDR »gefährlich« werdende triviale Unterhaltungsindustrie zur Wehr zu setzen, stellte Walter Ulbricht schon auf dem III. Parteitag der SED im Jahr 1950 die Forderung auf, dass es auch in Zukunft darum gehen müsse, in der DDR »eine fortschrittliche deutsche Kultur für unser ganzes deutsches Vaterland zu entwickeln«.3 Noch schärfer äußerte sich in dieser Hinsicht Alexander Abusch, der sich zum gleichen Zeitpunkt in aller Entschiedenheit gegen jene kulturpolitische »Ideologie der Heimatlosigkeit« aussprach, mit der die Vereinigten Staaten im Zuge ihrer »wirtschaftlichen, politischen und geistigen Marshallisierung eine Aufhebung der nationalen Souveränität« der von ihnen abhängigen Staaten anzustreben versuchten.4 Was daher viele DDR-Kulturtheoretiker in den folgenden Jahren besonders scharf verwarfen, waren nicht nur die ins Formalistische abgleitenden Tendenzen der abstrakten Malerei sowie die unharmonische Zwölftonmusik Arnold Schönbergs, sondern auch all jene von der profitgierigen Unterhaltungsindustrie des Westens produzierten »pornographischen Magazine, Kriminalund Kolportageromane, Verbrecherfilme sowie Schlagerkompositionen innerhalb der amerikanischen Boogie-Woogie-Musik, deren Ziel vornehmlich darin besteht, das nationale Kulturerbe der Völker zu zerstören«, wie Ernst Hermann Meyer, der Vorsitzende des DDR-Komponistenverbands, erklärte.5 Um derartigen ins gesellschaftlich Unverbindliche oder Volksverdummende tendierenden Absichten so nachdrücklich wie nur möglich entgegenzutreten, entschied sich die SED in ihrer ins Höhergeartete gerichteten Kulturpolitik zu zwei Zielsetzungen: Eine noch intensivere Hochschätzung des nationalen »Kulturerbes« sowie eine verstärkte Arbeiterbildung, um auch in den unteren Bevölkerungsschichten, die man bisher auf kulturellem Sektor fast ausschließlich mit den leicht eingängigen Produkten der marktwirtschaftlich operierenden Unterhaltungsindustrie abgespeist habe, endlich einen Sinn für das kulturell Vorbildliche zu erwecken. Um mit der steigenden Wertschätzung des »klassischen Kulturerbes« zu beginnen: An bestimmten Gedenktagen wurden daher die »unvergänglichsten deutschen Künstler«, ob nun Albrecht Dürer, Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart, Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller, Ludwig van Beethoven oder Caspar David Friedrich, von der SED stets mit Vorträgen, Theateraufführungen, Konzerten oder Ausstellungen gewürdigt, um die nationale Bedeutung dieser »Kulturgrößen« herauszustreichen. Dahinter stand die Hoffnung, dass die Wertschätzung der »humanistischen Werke des nationalen Kulturerbes«, wie es später im Artikel 18 der DDR-Verfassung hieß, zu einer »Sache des ganzen Volkes« werden könne. Konkret unterstützt wurden diese Bemühungen durch eine Fülle staatlich finanzierter Kulturinstitutionen, deren Anzahl von Jahr zu Jahr ständig zunahm. Deshalb gab es 128

Gescheiterte hochkulturelle Ambitionen

in einem relativ kleinen Staat wie der DDR zuletzt 18.118 Bibliotheken, 213 Theater, 719 Museen, 190 Musikschulen, 848 Kulturhäuser, 594 Klubs der Freien Deutschen Jugend sowie 56.000 ehrenamtlich geleitete Klubs, die sich neben einer erweiterten Allgemeinbildung vor allem der Pflege der höheren Kultur widmeten. Und durch die geringen Eintrittspreise der Theater, Opernhäuser und Symphoniekonzerte nahmen anfangs auch viele Einwohner und Einwohnerinnen der DDR an diesem vielfältigen kulturellen Angebot teil. Ja, selbst anspruchsvolle Romane und Schallplatten mit klassischer Musik waren meist nach wenigen Wochen vergriffen. Doch das allein genügte den Kulturtheoretikern der SED nicht. Um auch die bisher mit den Werken der höheren Kultur unvertrauten Schichten der Arbeiterklasse in den Bannkreis dieser Bemühungen zu ziehen, rief Walter Ulbricht im Jahr 1959 unter dem Motto »Greif zur Feder, Kumpel!« auf der ersten Bitterfelder Konferenz die dort versammelten »Werktätigen« auf, sich nicht nur für den Aufbau volkseigener Betriebe einzusetzen, sondern auch in den Rang kulturbemühter Schriftsteller aufzusteigen. Statt sich dabei lediglich mit autobiografischen Texten oder Brigadetagebüchern zu begnügen, sollten sie sich zugleich an die Abfassung eines proletarischen Wilhelm Meister oder gar eines proletarischen Faust heranwagen. Denn erst wenn es gelänge, das sozialistische Bewusstsein mit dem »wahrhaft humanistischen Geist« der Goethe-Zeit zu erfüllen, würde in der DDR, wie er erklärte, im Sinne der antizipatorischen Vision des alten Faust endlich ein »freies Volk auf freiem Grund« stehen.6 Doch diese hoffnungsvolle Erwartung war 1959 noch nicht durchzusetzen. Zu einem entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der DDR kam es erst zwei Jahre später durch den Bau der Berliner Mauer, durch den zwar die SED-Regierung die Abwanderungs- und Reisemöglichkeiten ihrer Bürger und Bürgerinnen auf eine höchst einschneidende Weise unterband, aber zugleich Verhältnisse schuf, innerhalb derer sich der »Aufbau des Sozialismus« wesentlich ungestörter verwirklichen ließ, als dies in den Jahren zuvor möglich war. Wohl die wichtigsten Faktoren im Zuge dieses Wandels waren jene produktionssteigernden Maßnahmen, die Walter Ulbricht 1963 im Sinne des von ihm initiierten »Neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung« (NÖSPL) einleitete, was dazu führte, dass sich der Lebensstandard in der DDR wesentlich erhöhte. Daher bezeichnete Ulbricht schon 1966 die DDR nicht mehr als eine »Übergangsgesellschaft«, sondern als eine vollentwickelte »Menschengemeinschaft«, in welcher der goethezeitliche Humanismus endlich seine staatspolitische Erfüllung gefunden habe. Damit wurde zwar der politökonomische und kulturelle Anspruch, das »andere, bessere Deutschland« zu sein, nicht völlig aufgegeben, aber die Tendenz ins Gesamtdeutsche erheblich abgeschwächt. Während zuvor in der DDR Begriffe wie »Volk« und »Nation« noch eine maßgebliche Rolle gespielt hatten, war jetzt mit unverhohlenem Stolz auf die 129

Die sowjetische Besatzungszone und die Deutsche Demokratische Republik

wirtschaftlichen Erfolge und die Fülle eigenständiger Kulturleistungen meist nur noch von »unserer DDR« die Rede. Als jedoch Walter Ulbricht 1971 als Erster Sekretär der SED zurücktreten musste und Erich Honecker dieses Amt übernahm, kam es in politischer, ökonomischer und kultureller Hinsicht zu einem neuen Wendepunkt in der Geschichte der DDR, der sowohl innen- als auch außenpolitisch bedeutsame Folgen hatte. Schließlich entschloss sich die sozialliberale Koalition in der Bundesrepublik unter Willy Brandt – in Übereinstimmung mit den USA, England und Frankreich – ein Jahr später, die DDR, welche bisher im Westen lediglich als eine zu bekämpfende »Unrechtszone« galt, endlich als vollgültigen Staat anzuerkennen. Nach diesem Umschwung in den innerdeutschen Beziehungen war es für Honecker wesentlich leichter, etwas »liberaler« aufzutreten als Ulbricht. Und zwar machte sich das in der DDR auf allen Ebenen bemerkbar. Innenpolitisch gesehen führte das innerhalb der SED-Führungsspitze dazu, endgültig auf ihren bisherigen Anspruch zu verzichten, das »andere, bessere Deutschland« zu sein und eher bestimmte lokalpatriotische Tendenzen zu unterstützen. In ökonomischer Hinsicht bewirkte das einen immer stärker werdenden Trend ins Marktwirtschaftliche, um den eigenen Bürgern und Bürgerinnen – in Konkurrenz mit der BRD – ein größeres Angebot von Konsumgütern bieten zu können. Und kulturell kam es dadurch zum Verzicht, den Hauptnachdruck weiterhin vornehmlich auf die Pflege und Weiterbildung der höhergearteten Künste zu legen, welchen die SED-Kulturtheoretiker in den fünfziger und sechziger Jahren nach wie vor als vordringlich empfunden hatten. All das hatte weitreichende Konsequenzen. Beschränken wir uns dabei vorerst auf die marktwirtschaftliche »Liberalisierung«, die nicht nur in ökonomischer, sondern auch in kultureller Hinsicht eintrat. Statt wie in den sechziger Jahren im Rahmen des »Neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung« den Hauptnachdruck auf die Entwicklung innovativer Technologien zu legen, um so zu einer Stärkung der Exportgüterindustrie beizutragen und damit das Außenhandelsvolumen zu erweitern, wurde jetzt im Hinblick auf die Zufriedenstellung der eigenen Bevölkerung im Rahmen eines bereits angeblich erreichten »realexistierenden Sozialismus« Honecker’scher Prägung vor allem die Konsumgüterindustrie begünstigt. Und so füllten sich zwar die HO-Läden mit einem größeren Warenangebot, ja in sogenannten Intershop- und Exquisitgeschäften konnte man für Westgeld sogar in der BRD erzeugte Produkte erstehen. Aber das reizte die Kauflustigen unter den DDR-Bürgern und -Bürgerinnen eher an, noch stärker als zuvor nach jenem wesentlich größeren Warenangebot im Westen hinüberzuschielen, wie es ihnen im BRD-Fernsehen vorgespiegelt wurde. Ähnliche Vorgänge lassen sich in den siebziger und dann noch verstärkter in den achtziger Jahren auch auf kultureller Ebene behaupten. Nachdem Erich ­Honecker 130

Gescheiterte hochkulturelle Ambitionen

bereits kurz nach seinem Amtsantritt angekündigt hatte, dass es im Zuge der von ihm ins Auge gefassten »Liberalisierung« von nun an in jener DDR-Kunst, die von sozialistischen Positionen ausgehe, »keine Tabus mehr geben« dürfe,7 kam es auch auf diesem Gebiet zu einer merklichen Wende von einem eher asketischen »Wir«-Bewusstsein zu einem verstärkten, auf private Selbstrealisierung drängenden »Ich«-Bewusstsein. Das beweisen unter anderem Begriffe wie »Eigensinn«, »individuelle Handschrift« oder »künstlerische Selbstverwirklichung«, die in den kulturtheoretischen Schriften der Folgezeit immer häufiger auftauchten.8 Seinen ersten Durchbruch erlebte dieser Gesinnungswandel auf literarischem Gebiet im Jahr 1972 in dem Kurzroman Die neuen Leiden des jungen W. von Ulrich Plenzdorf, der sich zu einer verstärkten Ichgesinnung bekannte, was von der SED gerade noch geduldet wurde. Als sich jedoch der junge Wolf Biermann 1976 mit einer wesentlich schärferen Verve gegen die überalterte Parteihierarchie wandte, erwies sich die SED, die darin einen Durchbruch ins Anarchistische witterte, als wesentlich unnachgiebiger und verweigerte ihm nach einem provokanten Auftritt im westdeutschen Fernsehen – trotz mancher Proteste anderer DDR-Autoren und -Autorinnen – die Rückreise nach Ost-Berlin. Worauf Erich Honecker auch danach weiterhin bestand, war die Einsicht, sich erst einmal mit dem bisher Errungenen zufriedenzugeben, statt ständig neue, noch weitergehende Liberalisierungsforderungen zu stellen und damit lediglich die Unzufriedenheit innerhalb der sogenannten breiten Massen der DDR-Bevölkerung anzuschüren. Um 1980 sah demnach die Kulturszene in der DDR folgendermaßen aus. Einerseits wurde der ältere Hochkulturbetrieb, das heißt die Theater, Opernhäuser und philharmonischen Orchester, aber auch Ensembles wie der Leipziger Thomanerchor, der Dresdner Kreuzchor und die Virtuosi Saxoniae, weiterhin mit großzügigen staatlichen Unterstützungen gefördert. Da jedoch die von diesen Institutionen aufgeführten oder gespielten Werke nach wie vor eher die gebildeten Bevölkerungsschichten als die Arbeiter und Bauern ansprachen, sah die SED-Regierung andererseits zusehends ein, dass sie aus pragmatischen Gründen auch den verschiedenen Sparten der Unterhaltungsindustrie einen größeren Spielraum einräumen müsse, um so jenen Schichten ihrer Bevölkerung auch das zu bieten, womit sie sich sonst im Rahmen der Westmedien bedient hätten. Dementsprechend wurde der alte Becher’sche Traum von der »Erstürmung und Inbesitznahme der Höhen der Kultur« beziehungsweise der »Weg zu der einen großen, gebildeten Nation« schrittweise aufgegeben.9 All das hatte nicht nur kulturpolitische, sondern auch soziopolitische Folgen. So ging etwa der Theaterbesuch in der DDR von 13 Millionen im Jahr 1951 auf 9,9 Millionen im Jahr 1980 sowie der Opernbesuch zwischen 1960 und 1980 von 3,88 Millionen auf 1,85 Millionen zurück. Die gleiche Entwicklung lässt sich im Hinblick 131

Die sowjetische Besatzungszone und die Deutsche Demokratische Republik

auf andere Formen der höheren Kultur, wie etwa die anspruchsvolle Malerei oder die symphonische Musik, konstatieren. Was dagegen seit der Mitte der siebziger Jahre ständig zunahm und vom SED-Staat willig oder auch widerwillig gefördert wurde, waren die verschiedenen Formen der Popmusik sowie die Film-, Funk- und Fernsehproduktion, also die Kultur der »Drei großen F«, wie es damals in der DDR hieß. Und das führte zu einer ständigen Ausweitung einer leicht eingängigen Unterhaltungskultur, die eher auf Ablenkung und Zerstreuung als auf bildungsmäßige Höherführung bedacht war. Selbst bisher weitgehend unterdrückte, weil als »volksverdummend« geltende U-Kulturformen wie der Krimi, der Free Jazz oder der Progressive Rock konnten demnach in der Folgezeit auch in der DDR Einzug halten. Überhaupt setzte nach diesem Zeitpunkt im Kulturbetrieb dieses Staats eine zunehmende Beschränkung auf wesentlich geringere Erwartungen ein, die eher das jeweils Machbare als das Utopisch-Erhoffte ins Auge fasste. Dementsprechend stand danach in der Filmproduktion immer weniger das Historisch-Bedeutsame oder Politisch-Heroische als das Unterhaltsame im Rahmen einer bewusst verharmlosten Gegenwartsthematik im Vordergrund. Und wenn es dem breiten Publikum an beliebten Kriminal-, Abenteuer-, Liebes- oder Musikfilmen mangelte, wurden solche sogar aus den USA oder anderen westlichen Ländern eingeführt. Da jedoch bereits in den frühen siebziger Jahren fast jeder Haushalt in der DDR über ein Fernsehgerät verfügte, sahen sich viele DDR-Bewohner und -Bewohnerinnen immer häufiger lieber Filme im Westfernsehen an als weiter-

Abb. 32  Rockband Silly (1986) 132

Gescheiterte hochkulturelle Ambitionen

hin ins Kino zu gehen. Und auch die DDR-Radiosender hatten – trotz der 1983 von der SED verordneten Erweiterung ihrer Unterhaltungsprogramme – zusehends mit der Konkurrenz des Westrundfunks zu kämpfen. Vor allem Jugendliche hörten in den achtziger Jahren in der DDR fast nur noch »west«. So hatte etwa die Westberliner Jugendsendung »RIAS-Treffpunkt« unter ihnen oft eine Einschaltquote von fast 90 Prozent. Die wichtigste Rolle spielte dabei die aus dem Westen kommende Rockmusik, welche seit der Mitte der siebziger Jahre für 85 Prozent aller jugendlichen Hörer und Hörerinnen zum Hauptunterhaltungsmedium wurde. Selbst bei Tanzveranstaltungen setzte sich immer stärker eine discoähnliche »Westmusik« durch. Um den steigenden Bedarf an solcher Musik zu decken, formierten sich etwa 4500 Amateurkapellen, von denen in diesem Zeitraum die Rock-Bands Pankow, Juckreiz + Keks, Babylon, Kleeblatt, Gong, Ich-Funktion und Das freie Orchester sowie rockbeeinflusste Schlagergruppen wie Silly, Karat, Kreis und Die Puhdys das meiste Aufsehen erregten. Da diese Gruppen nicht mehr vom Staat finanziert wurden, sondern von den Einnahmen ihrer Auftritte lebten, kam es auf diesem Gebiet schon durchaus zu marktwirtschaftlichen Verhältnissen. Ähnliche Entwicklungen lassen sich in der DDR der siebziger und achtziger Jahre selbst im Bereich der »höhergearteten« Künste beobachten. So erlaubte etwa die SED-Führung manchen ihrer bedeutenden Autoren, einige ihrer Werke seit der Mitte der siebziger Jahre auch bei westdeutschen Verlagen herauszubringen. Und sie hatte auch nichts dagegen, dass die bekanntesten ihrer Musiker, Sänger und Schauspieler bei ihren Auftritten in der BRD und anderswo Honorare in »harter Währung« einkassierten, die ihnen einen höheren Lebensstandard garantierten. Doch selbst das trug nicht zu einer größeren Selbstzufriedenheit der ohnehin begünstigten »Kulturschaffenden« in der DDR bei. Angesichts der weitaus größeren Freizügigkeit auf privatwirtschaftlicher Ebene führten diese »Lockerungen« weder bei den Künstlern noch bei den breiten Massen der Angestellten, Arbeiter und Bauern in der DDR zu einer zunehmenden Staatsverbundenheit. Im Gegenteil, als es durch die steigenden Konsumangebote zu einer immer bedrohlicher werdenden Staatsverschuldung kam, verbreitete sich – trotz der Rockbands, Discos, Intershop- und Exquisitläden – in großen Teilen der DDR-Bevölkerung eine Verdrussstimmung, die schließlich im Herbst 1989 zu wochenlangen Straßendemonstrationen führte. Und das, obwohl manche DDR-Autoren und -Autorinnen wie Christa Wolf den anschwellenden Protesten sowie der einsetzenden Fluchtbewegung in den Westen mit Parolen wie »Da bleiben!« entgegenzutreten versuchten, da sie immer noch hofften, dem »realexistierenden Sozialismus« Honecker’scher Prägung einen Drall ins Kulturrevolutionäre geben zu können. Doch dafür war es am 9. November 1989, als Tausende von Ostberliner und Ostberlinerinnen die quer durch ihre Stadt ver133

Die sowjetische Besatzungszone und die Deutsche Demokratische Republik

laufende Mauer durchbrachen, um endlich die westliche Ka-De-We-Welt in Augenschein zu nehmen, bereits zu spät. Und so siegte schließlich in diesem Staat das Verlangen nach einer auf dem Prinzip der ungehemmten Selbstrealisierung beruhenden freien Marktwirtschaft über den Versuch – trotz vieler ungünstiger Voraussetzungen und der sich daraus ergebenden »objektiven Schwierigkeiten« – eine sozialistische, das heißt planwirtschaftliche Gesellschaftsordnung herbeizuführen. Was darauf folgte, war die am 3. Oktober 1990 erfolgte Eingliederung der DDR in die westdeutsche Bundesrepublik, die alle Volkseigenen Betriebe, Staatlichen Handelsorganisationen und Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften umgehend auflöste und auch in Ostdeutschland die in ihr herrschenden kapitalistischen Besitz- und Marktverhältnisse durchsetzte. Das bewirkte zwar eine größere subjektive Freizügigkeit, führte aber zugleich durch die plötzlich einsetzende Arbeitslosigkeit zu einer erneuten Abwanderungswelle in den Westen wie auch zu sich allmählich verstärkenden Unmutsstimmungen innerhalb der zurückbleibenden Bevölkerungsschichten, die erst im Laufe der folgenden drei Jahrzehnte allmählich abklangen.

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Die Nachkriegszeit in den drei westlichen Besatzungszonen Hoffnungen auf einen Neuanfang

Nachdem Adolf Hitler kurz vor seinem Selbstmord den Admiral Karl Dönitz zu seinem Nachfolger ernannt hatte, unterzeichnete dieser am 8. Mai 1945 im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst die militärische Gesamtkapitulation der deutschen Wehrmacht. Darauf erklärte die Alliierte Kontrollkommission die geschäftsführende deutsche Reichsregierung für aufgelöst. Anschließend teilten die Regierungen der vier Siegermächte, also der USA, der UdSSR, Großbritanniens und Frankreichs, das Restterritorium des »Großdeutschen Reichs« in vier Besatzungszonen ein und entschieden sich, auch Berlin in vier Sektoren zu unterteilen und einer gemeinsamen Kontrollbehörde zu unterstellen. Die Frage, ob aus diesen vier Besatzungszonen jemals wieder ein neuer deutscher Staat hervorgehen würde, blieb damals noch unentschieden. Selbst auf der vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 stattfindenden Potsdamer Konferenz, an der Josif Stalin, Harry S. Truman und Clement R. Attlee nebst ihren Außenministern Wjatscheslaw Molotow, James F. Byrnes und Anthony Eden teilnahmen, entschieden sich zwar die Siegermächte für eine konsequente Entnazifizierung, Entmilitarisierung, Dekartellisierung und eine Reihe bodenreformerischer Maßnahmen, ließen aber die Frage, was darüber hinaus mit Deutschland geschehen solle, weiterhin offen. Und auch auf dem vom 10. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 stattfindenden Nürnberger Prozess des Internationalen Militärtribunals, wo führende NS-Repräsentanten wie Hans Frank, Wilhelm Frick, Wilhelm Keitel, Joachim von Ribbentrop, Alfred Rosenberg, Arthur Seyß-Inquart und Julius Streicher zum Tode verurteilt wurden, wurde dieses Problem noch ausgeklammert. Von entscheidender Bedeutung erwiesen sich danach in dieser Hinsicht vor allem die Vereinigten Staaten, die während des Zweiten Weltkriegs ihre wirtschaftliche Produktion fast verdoppelt hatten und damit zur führenden westlichen Weltmacht aufgestiegen waren. Kurz nach Kriegsende gab es hier anfangs noch drei verschiedene Einstellungen zur Deutschlandfrage. Die »Linken« unter dem früheren Finanzminister Henry Morgenthau vertraten fast alle die sogenannte Kollektivschuldthese, nämlich dass nicht nur die Nazis, sondern alle Deutschen einen aggressiven Charakter hätten, das heißt letztlich unverbesserlich und daher nicht resozialisierbar seien, weshalb man dieses Land wie ein »Zweites Karthago« behandeln müsse. Daher würde es sich empfehlen, erklärten sie, in diesem Land keine Großindustrieanlagen mehr zu dulden, um so zu verhindern, dass von Deutschland je wieder militärische Aktionen ausgehen würden. Die einen »mittleren« Kurs anvisierende Gruppe inner135

Die Nachkriegszeit in den drei westlichen Besatzungszonen

halb der amerikanischen Führungsschicht, welche zwar auch an der Kollektivschuldthese festhielt, hoffte dagegen, den Deutschen durch eine »Charakterwäsche« oder »Massenumerziehung größten Stils« eine neue Moral beizubringen. Zu ihren Hauptvertretern gehörten damals John J. McCloy, Edward R. Stettinius und Dwight D. Eisenhower, die zwar von vornherein zu einem Verständigungsfrieden neigten, jedoch im Sommer und Herbst 1945 noch im Hintergrund blieben. Dagegen hätte jene Gruppe auf dem rechten Flügel der Republikanischen Partei, der vor allem Arthur H. Vandenberg, John Foster Dulles und Henry Luce angehörten, die drei westlichen Besatzungszonen am liebsten sofort in ein antisowjetisches Bollwerk umgewandelt, um damit der UdSSR in Mitteleuropa wirksam Paroli bieten zu können. Wer sich schließlich durchsetzte, waren die Vertreter der mittleren Linie, deren Hauptziel es zwar weiterhin blieb, die politische, militärische und ökonomische Basis der faschistischen Macht so vollständig wie nur möglich zu zerschlagen, aber dann mit Hilfe zuverlässiger Antifaschisten an eine grundsätzliche Neuordnung der deutschen Verhältnisse heranzugehen, wobei sie anfänglich sogar die Beteiligung ehemaliger Linker nicht verschmähten. Die gleiche Bereitschaft zur Kooperation mit den Repräsentanten der Sowjetunion herrschte anfangs selbst bei den Sitzungen des Alliierten Kontrollrats, der seit dem 30. August 1945 regelmäßig in der Viermächtestadt Berlin zusammentrat. Vor allem in der Frage der im Potsdamer Abkommen beschlossenen radikalen Entnazifizierung Deutschlands waren sich die vier Siegermächte von vornherein einig. In dieser Hinsicht entschied man sich einhellig, dass nicht nur die höheren Funktionäre der NSDAP, sondern auch die kleinen Mitläufer dieser Partei zu Geld- oder Haftstrafen verurteilt werden sollten. Wesentlich schwieriger gestaltete sich dagegen die Frage der Dekartellisierung. Einzelne Großkonzerne, wie IG-Farben oder Krupp, zu beschlagnahmen oder aufzulösen, erwies sich als relativ leicht. Auch die Entflechtung jener sechs Großbanken, die bisher 55 Prozent des deutschen Gesamtkapitals kontrolliert hatten, bereitete keine großen Schwierigkeiten. Aber wie sollte man mit den mittleren Betrieben und Banken verfahren? Und wie groß sollte überhaupt die deutsche Industriekapazität in Zukunft sein? Darüber gab es im Alliierten Kontrollrat höchst erregte Auseinandersetzungen. Der Umfang der Industriekapazität wurde schließlich am 26. März 1946 in wechselseitiger Einmütigkeit auf 50 bis 55 Prozent der Vorkriegsproduktion festgesetzt. Aber da, wo es um prokapitalistische oder prosozialistische Entscheidungen ging, kam es zwischen den Vertretern der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion immer wieder zu gravierenden Differenzen, wodurch anfänglich keine grundsätzlichen Veränderungsmaßnahmen eingeleitet wurden. In dieser Frage blieb deshalb manches erst einmal in der Schwebe. Und diese Unklarheit in ideologischer Hinsicht wirkte sich auf eine möglichst schnelle Reindustrialisierung der drei Westzonen in den ersten zwei Nachkriegsjahren 136

Hoffnungen auf einen Neuanfang

höchst ungünstig aus. Die im Mai 1945 vom Alliierten Hauptquartier der amerikanischen Stabschefs noch an die harte Linie des Morgenthau-Plans erinnernde Direktive JCS 1067, nämlich »keine Maßnahmen zu ergreifen, welche a) die wirtschaftliche Wiederaufrichtung Deutschlands, oder b) die Aufrechterhaltung oder Stärkung der deutschen Wirtschaft zum Ziel haben könnten«,1 wurde zwar auf Einspruch des amerikanischen Militärgouverneurs General Lucius D. Clay relativ schnell wieder aufgegeben, um in den drei Westzonen keine chaotischen Zustände herbeizuführen, welche die deutsche Bevölkerung in eine rebellische Stimmung versetzt hätten. Stattdessen begnügte man sich erst einmal mit Halbheiten, indem man den wichtigsten Versorgungszweigen die Wiederaufnahme der Produktion erlaubte, jedoch andere Industrien für eine Weile stilllegte. Und das, obwohl die meisten deutschen Fabriken den Zweiten Weltkrieg relativ glimpflich überstanden hatten und die Produktivität schnell wieder den Stand der Vorkriegszeit erreicht hätte. Schließlich waren durch die alliierten Luftangriffe nur 6,5 Prozent der Werkmaschinen zerstört worden, die Ruhrbergwerke weitgehend intakt geblieben und nur wenige Hochöfen ausgefallen. Dennoch blieben viele Industrieanlagen auf Anordnung der Alliierten erst einmal geschlossen, was zu einem gravierenden Rückgang der deutschen Handelsbilanz führte. Während vor dem Krieg der Anteil der Rohstoffe an der Gesamtausfuhr zehn Prozent sowie der der Fertigwaren 77 Prozent betragen hatte, wurden 1946/47, und zwar weit unter dem Weltmarktpreis, 64 Prozent Rohstoffe und elf Prozent Fertigwaren exportiert. Obwohl Westdeutschland industriell nicht unterentwickelt war, ja schon im Herbst 1946 die Hälfte seines Vorkriegsstands erreicht hatte, blieb also die industrielle Entwicklung lange Zeit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Und das führte dazu, dass das Warenangebot in den Läden recht dürftig blieb und auch die Reichsmark zusehends an Wert verlor, was allerdings von breiten Schichten der westdeutschen Bevölkerung – nach dem langjährigen Schrecken des Zweiten Weltkriegs – relativ gelassen hingenommen wurde. Doch nun zu der Frage, welche ideologischen und kulturellen Auswirkungen die ökonomischen Verhältnisse der unmittelbaren Nachkriegszeit auf die politischen Meinungsträgerschichten innerhalb der drei westlichen Besatzungszonen hatten. Auf politischer Ebene, wo zu Anfang vornehmlich die aus dem Exil zurückkehrenden oder die aus dem inneren Widerstand kommenden linksorientierten Antifaschisten innerhalb der neu zugelassenen Parteien dominierten, kam es dabei – nach der Machtverflechtung des NS-Regimes mit dem Großkapital – in wirtschaftspolitischer Hinsicht immer wieder zu Erklärungen, sich umgehend für die im Potsdamer Abkommen vorgesehene Dekartellisierung der großen Konzerne, wenn nicht gar für eine mögliche Sozialisierung aller Monopolindustrien einzusetzen. Und zwar tat das nicht nur die neu gegründete KPD, sondern auch die SPD unter Kurt Schumacher, die schon im Sommer 1945 in ihrem Manifest Konsequenzen deutscher Politik dazu 137

Die Nachkriegszeit in den drei westlichen Besatzungszonen

aufrief, die Produktionsmittel aus der Hand der großen Besitzer in Gemeineigentum zu überführen. Ja, Schumacher forderte auch danach immer wieder, sich zu einer sofortigen Verstaatlichung der Großindustrien und der Großbanken zu entschließen, ohne die es nie ein »anderes, besseres Deutschland« geben würde. Selbst CDU-Politiker wie Jakob Kaiser und Ernst Lemmer bekannten sich damals noch unverhohlen zu einem »christlichen Sozialismus«. Ihre bekannteste Zusammenfassung erfuhr diese Haltung innerhalb der CDU in ihrem Ahlener Programm vom Februar 1946, das in dem Satz kulminierte: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volks nicht gerecht geworden« und solle daher einer »gemeinwirtschaftlichen Ordnung« weichen.2 Doch bei den breiten Massen stießen solche Parolen weitgehend auf taube Ohren. Sie waren viel zu sehr mit einzelpersönlichen Existenzfragen, ob nun neuen Berufschancen, Wohnungsnöten sowie der mangelnden Versorgung mit Lebensmitteln beschäftigt, um sich obendrein noch Gedanken über eine politische Neuorientierung des kläglich zugrunde gegangenen Dritten Reichs zu machen. Die meisten kümmerten sich nach all den schrecklichen Debakeln der Kriegsjahre erst einmal um ihre Familie, gruben im Winter 1945/46 nach Kohlen in den Kellern verschütteter Häuser, versuchten in den umliegenden Dörfern Lebensmittel zu ergattern, tranken Malzkaffee und strichen sich Kunsthonig aufs Brot, waren froh, wenn sie auf

Abb. 33  Franz Haacken: Neubeginn. Titelblatt der Zeitschrift Horizont (1945) 138

Hoffnungen auf einen Neuanfang

dem Schwarzen Markt für fünf Reichsmark eine amerikanische Zigarette erstehen konnten, änderten die abgelegten Uniformen in Winterkleidungen um, standen Schlange vor Geschäften, wo es etwas Besseres zu kaufen gab, kurzum, lebten weitgehend von der Hand in den Mund, ohne groß an irgendwelche überindividuellen Belange zu denken. Wie zu erwarten, sind auch die kulturellen Verhältnisse dieser Jahre in den drei westlichen Besatzungszonen ein exaktes Spiegelbild der politökonomischen Situation. In ihrem Willen, auch auf dem Gebiet der Kultur einen Rückfall der Deutschen in den Nazifaschismus ein für alle Mal unmöglich zu machen, waren sich die Siegermächte zu Anfang weitgehend einig. Ja, sie schenkten diesem Sektor eine besondere Beachtung, da sie die Deutschen für eine »Kulturnation« hielten, die man nicht nur durch parteipolitische Maßnahmen, sondern auch auf dem Weg über die Literatur, das Theater, die Oper sowie andere Hochkulturformen auf die Naziideologie eingestimmt habe. Deshalb war auf diesem Gebiet der Entnazifizierungsprozess ebenso drakonisch wie auf politischer Ebene. Alle bisher in verantwortlicher Position im Verlags-, Presse-, Rundfunk- und Theaterwesen Tätigen wurden dementsprechend sofort einer genaueren Prüfung unterzogen, größtenteils aus ihren Ämtern entfernt und durch Antifaschisten oder Vertreter der Inneren Emigration ersetzt. Obendrein mussten sämtliche Publikationen und Theaterinszenierungen von den jeweiligen alliierten Kulturoffizieren vorher genehmigt werden, die oft dafür sorgten, dass den Werken ihrer eigenen Kultur der Vorrang eingeräumt wurde. Und zwar überließ man dabei den wirtschaftlich übermächtigen Amerikanern meist die Führungsrolle, die Ende 1946 in ihrer Besatzungszone bereits 27 Amerikahäuser und 136 Reading Rooms zur Verbreitung ihrer Kultur unterhielten. Besonders einschneidend waren in diesem Zusammenhang die Verordnungen der Westalliierten auf dem Gebiet des Verlagswesens. Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Herstellung von Büchern erst einmal stark gedrosselt. Während die deutsche Buchproduktion im Jahr 1932 an der Spitze aller Länder der Welt gelegen hatte, sank sie in den Jahren zwischen 1945 und 1947 auf ungefähr ein Zehntel ihres damaligen Umfangs ab. Und zwar kamen die meisten Bücher in diesem Zeitraum in den Rubriken Schöne Literatur (640), Religion (395), Jugendbücher (188) und Schulbücher (179) heraus, was für einen deutlichen Nachdruck auf die von den drei westlichen Besatzungsmächten angestrebte kulturelle, religiöse und moralische »Re-Education« spricht. Fast dieselben Vorgänge spielten sich im Bereich des Theaters ab. So ließen die US-Behörden umgehend über 60 amerikanische Stücke ins Deutsche übersetzen, um der postfaschistischen Bevölkerung durch die theatralische Präsentation des »American Way of Life« einen Einführungskurs in das von ihnen vertretene Wesen der Demokratie zu geben. Was dabei allerdings überwog, war eher das Unterhaltsame als das Politische. Über die Hälfte der da139

Die Nachkriegszeit in den drei westlichen Besatzungszonen

mals in den drei Westzonen gespielten US-Stücke waren entweder Kriminalreißer, Musicals oder Boulevardkomödien wie Das Lied von der Taube von John van Druten und Drei Männer auf einem Pferd von John Cecil Holm, aber kaum Politisches von Arthur Miller, Eugene O’Neill oder Thornton Wilder, um die Deutschen nicht auch mit den problematischen Seiten der USA vertraut zu machen. Dies erst einmal in einigen Grundzügen zu den vor allem von den Amerikanern angestrebten politischen und kulturellen Umerziehungsmaßnahmen der ersten Nachkriegsjahre. Doch nun zu der Frage: Welche kulturellen Bemühungen gingen eigentlich von den Deutschen selber aus? Fügten sie sich willenlos den »Re-Education«-­ Bestrebungen der Besatzungsmächte oder entwickelten sie auch eigene Konzepte, wie sich der Ungeist der NS-Ideologie auf diesem Gebiet überwinden ließ? Wohl der erste und wichtigste Impuls in dieser Richtung erfolgte von dem unter der Präsidentschaft Johannes R. Bechers schon im Sommer 1945 in der Viermächtestadt Berlin gegründeten »Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands«, der zwar in den drei Westzonen ebenfalls zur Gründung kleinerer Kulturbünde führte, aber seine Hauptaktivität in der sowjetischen Besatzungszone entfaltete. Was dagegen im Westen in dieser Hinsicht vorherrschte, waren erst einmal Versuche, all jenen Künstlern, deren Werke im Dritten Reich nicht ausgestellt, gedruckt oder aufgeführt werden konnten, ja die sogar persönlich unter den Verfolgungen der Nazifaschisten gelitten hatten, wieder die ihnen gebührende Achtung zu verschaffen. Unter den bildenden Künstlern waren das vor allem Ernst Barlach und Käthe Kollwitz, deren Werke jenen anklagenden oder appellartigen Charakter hatten, den die bildungsbürgerlichen Schichten nach den katastrophalen Ereignissen der unmittelbaren Vergangenheit als besonders zeitgemäß empfanden. Doch auch die zuvor unterdrückten Werke von Expressionisten wie Erich Heckel, Emil Nolde, Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff sowie von sogenannten Realisten wie Otto Dix und Carl Hofer, die nach 1933 in einer Art Halbverborgenheit weiter gemalt hatten, wurden schon im Herbst 1945, selbst wenn sich nur Wenige dafür interessierten, überall ausgestellt. Eine etwas größere Breitenwirkung hatten dagegen jene literaturbezüglichen Publikationen, denen neben einer Wiedergutmachungsabsicht zugleich der Wille zu einem demokratischen Neuanfang auf kultureller Ebene zugrunde lag. Im Sinne des Potsdamer Abkommens traten deshalb eine Reihe ihrer Autoren und Autorinnen nicht nur für eine konsequente Entnazifizierung, Entmilitarisierung und Entkartellisierung ein, sondern bekannten sich ebenso eindringlich zu allen Maßnahmen, die auf eine demokratische Umerziehung der Gesamtbevölkerung Deutschlands hinauslaufen würden, wobei sie – ideologisch gesehen – vielfach einen Dritten Weg zwischen West und Ost, zwischen Kapitalismus und Sozialismus anstrebten. Sie verbanden demzufolge die Vorstellung einer neuen deutschen Kultur stets mit 140

Hoffnungen auf einen Neuanfang

einem bewussten Paradigmenwechsel von den romantischen, irrationalen, gegenrevolutionären, wenn nicht gar nazifaschistischen Manifestationen der deutschen Geschichte und Kultur zu jenen liberalen, humanistischen, aufrührerischen, ja revolutionären Traditionen, die sich in der deutschen Literatur bereits seit der Aufklärung des späten 18. Jahrhunderts nachweisen ließen und ihren letzten Höhepunkt in der linksliberalen oder sozialistischen Literatur der Emigranten nach 1933 gefunden hätten. Dafür sprechen neben Dokumentationen der Exilliteratur wie Die humanistische Front (1946) von Walter A. Berendsohn, Verboten und verbrannt (1947) von Richard Drews und Alfred Kantorowicz sowie die Aufsatzsammlung Literatur der deutschen Emigranten (1947) von Hans Mayer vor allem politliterarische Zeitschriften wie Der Ruf, Ost und West, Die Wandlung sowie die Frankfurter Hefte, welche auf der Basis einer antifaschistisch-progressiven Gesinnung eine konsequente Neuordnung der gesamten gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse in Deutschland anvisierten. Und das Erscheinen solcher Publikationen wurde anfangs von den westalliierten Militärbehörden, solange die Herausgeber dieser Bücher und Zeitschriften wegen ihrer antifaschistischen Vergangenheit noch als die »Heroen der ersten Stunde« galten und zudem zwischen den USA und der UdSSR noch ein relativ gutes Einvernehmen herrschte, durchaus geduldet. Doch genauer besehen blieb es dabei meist beim guten Willen. Die breite Masse der westdeutschen Bevölkerung nahm von derartigen Bestrebungen ohnehin wenig oder nichts wahr. Und der relativ kleine Prozentsatz der bildungsbürgerlichen Schichten, der schon während des Dritten Reichs unter »kulturell bedeutsam« vornehmlich die als klassisch oder romantisch geltenden Meisterwerke der Tradition sowie einige sich als humanistisch oder religiös gebende Werke der Inneren Emigration als »kulturell schätzenswert« empfunden hatte, hielt auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit an dieser Einstellung fest. All jene Werke, die in dieser Hinsicht neu verlegt oder aufgeführt wurden, waren daher in diesem Zeitraum stets gut besucht oder schnell ausverkauft. Ja, womit hätten die Gebildeten und zugleich Besserverdienenden ihre höheren Bedürfnisse sonst befriedigen sollen? Schließlich waren die meisten Läden oder Warenhäuser immer noch gähnend leer. Zudem gab es noch keinen Tourismus, keine extravaganten Modeartikel, keine gaumenbefriedigenden Delikatessen, keine prestigeverheißenden Empfänge, Bälle oder sonstigen Festivitäten, welche den oberen Schichten der Bevölkerung bisher die Genugtuung verliehen hatten, etwas Besonderes zu sein. Also gaben sie ihr Geld bedenkenlos für Theater-, Opern- und Konzertbesuche aus, um wenigstens auf diesem Gebiet an ihrem Bedürfnis festzuhalten, sich von den kulturlosen Massen abzusetzen. Man hat das später gern als den »Kulturhunger« der ersten Nachkriegsjahre bezeichnet. Allerdings sollte man dabei nicht die ideologische 141

Die Nachkriegszeit in den drei westlichen Besatzungszonen

und ökonomische Komponente dieses Phänomens unterschlagen. Entweder versuchten diese Schichten, wie gesagt, damit nur ihre gesellschaftliche Sonderstellung zu betonen oder wollten in der amerikanischen Besatzungszone den »kulturlosen Amis« demonstrieren, dass die begüterten Bildungsschichten in Deutschland stets am Konzept einer höheren Kultur festgehalten hätten und deshalb selbst den halbgebildeten Nazifaschisten aus dem Wege gegangen seien. An Aufführungen der Hauptwerke der älteren deutschen Kultur, wie Bachs Matthäuspassion, Beethovens Fidelio, Goethes Faust, Mozarts Zauberflöte oder Lessings Nathan der Weise, welche diese Haltung beweisen sollten, war daher in diesen Jahren kein Mangel, während die sogenannten Popularformen der Kunst von diesen Schichten wegen ihres allzu läppischen Charakters noch als unzeitgemäß, das heißt dem Ernst der Situation nicht entsprechend, abgelehnt wurden. Wie schnell sich all das nach dem Beginn des Kalten Kriegs zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion auch in den drei westlichen Besatzungszonen sowohl wirtschaftlich als auch kulturell ändern sollte, wird das nächste Kapitel darzustellen versuchen. Nach dem Beginn des Kalten Kriegs

Während in der unmittelbaren Nachkriegszeit zwischen den vier Siegermächten im Hinblick auf eine radikale Entnazifizierung des ehemaligen Dritten Reichs, wie bereits ausgeführt, noch ein grundsätzliches Einvernehmen geherrscht hatte, kam es in der Frage, welche Wirtschaftsform ein zukünftiges Deutschland erhalten solle, schon in den Jahren 1946 und 1947 zu sich schnell zuspitzenden Differenzen. Da sowohl die Vereinigten Staaten als auch die Sowjetunion als die zwei neuen Supermächte ihren Einfluss auf Gesamteuropa ausdehnen wollten, die einen mit ihrer Free-Europe-Politik, die anderen mit ihrer Friedenspropaganda, wurde dabei das mitteleuropäische Restterritorium des Dritten Reichs notwendigerweise zu einem Streitobjekt ersten Ranges. Beide dieser Mächte versuchten deshalb alles, in ihren jeweiligen Besatzungszonen die ihnen dienlichen ideologischen Konzepte, also den marktwirtschaftlichen Liberalismus beziehungsweise die konsequente Sozialisierung der bisherigen Eigentumsverhältnisse, so nachdrücklich wie nur möglich durchzusetzen. Und das führte zwangsläufig zu jener sich bedrohlich verstärkenden Konfrontation zwischen den USA und der UdSSR, für die sich schnell der Begriff »Kalter Krieg« einbürgerte. Seinen offiziellen Auftakt erlebte dieser politische Stimmungsumbruch mit der am 12. März 1947 verkündeten Truman-Doktrin, die in Form eines Kreuzzugs gegen den Kommunismus eine Containment- oder Rollback-Strategie anvisierte, welche dazu führte, dass die USA in den drei westlichen Besatzungszonen zusehends die Führungsrolle übernahmen. Demzufolge kam es schon im August 1947 auf Initia142

Nach dem Beginn des Kalten Kriegs

tive der Amerikaner zum Aufschub der noch kurz zuvor im Potsdamer Abkommen ins Auge gefassten Dekartellisierungsmaßnahmen zu Gunsten einer privaten Unternehmerwirtschaft, was der linke Flügel der SPD unter Viktor Agartz bisher scharf abgelehnt hatte, aber von Seiten des von den Amerikanern als Chef der »Deutschen Wirtschaftsverwaltung« eingesetzten CDU-Mitglieds Ludwig Erhard lebhaft begrüßt wurde. Um diesen Trend zu verstärken und zugleich jegliche Beziehungen zur Ostzone abzubrechen, entschieden sich darauf die USA am 20. Juni 1948 für eine Währungsreform in den drei westlichen Besatzungszonen, das heißt für einen Umtausch der älteren Reichsmark in die neu in Umlauf gebrachte Deutsche Mark. Und das bewirkte, dass sich die leerstehenden Läden und Warenhäuser mit den lange Zeit entbehrten Konsumgütern, welche viele Wirtschaftszweige wegen des geringen Werts der Reichsmark bisher zurückgehalten hatten, endlich wieder füllten und so den westdeutschen Konsumenten das von den Amerikanern gewünschte Gefühl gaben, im Free-Enterprise-System die einzige für sie günstige Wirtschaftsform zu sehen. Mochten auch manche Sozialdemokraten, die darin eine Herabwürdigung der westlichen Besatzungszonen in einen von den USA abhängigen Levantestaat sahen, noch so heftig gegen die durch die Währungsreform begünstigten marktwirtschaftlichen Verhältnisse opponieren, die Freude an den neuen Konsumgütern war danach bei der Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung nicht mehr aufzuhalten. Um diesen Trend sogar noch zu verstärken, stellten die USA im Herbst 1948 der deutschen

Abb. 34  Schaufensterauslage eines Textilgeschäfts (1949) 143

Die Nachkriegszeit in den drei westlichen Besatzungszonen

Wirtschaft im Zuge des Marshallplans 1560 Millionen Dollar für konsumsteigernde Investitionen zur Verfügung, um damit die amerikafreundliche Einstellung der westdeutschen Bürger und Bürgerinnen weiter anzuheizen. Und diese wirtschaftsideologische Haltung hatte auch den gewünschten Erfolg. Durch sie nahm der Einfluss der auf eine politische und zugleich ökonomische Neuordnung drängenden westdeutschen Reformer, die lieber einen Dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus angestrebt hätten, von Monat zu Monat ab. All das führte schließlich dazu, dass bei der von den USA durchgesetzten Gründung eines westdeutschen Staats im Herbst 1949 bei den Wahlen zum ersten Bundestag eine konservative Koalition aus Vertretern der Christlich-Demokratischen Union (CDU), ChristlichSozialen Union (CSU), Freien Demokratischen Partei (FDP) und Deutschen Partei (DP) unter dem Vorsitz Konrad Adenauers die Führung übernahm, während der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) nur die Rolle einer nichtmitbestimmenden Opposition übrig blieb. Wie nachhaltig diese Entwicklung auch das ideologische und kulturelle Klima in den drei westlichen Besatzungszonen verändern würde, konnte aufgrund der massiven politischen und ökonomischen Einflussnahme von Seiten der USA in den Jahren 1948/49 nicht ausbleiben. Im Gegensatz zur unmittelbaren Nachkriegszeit, als es den Westmächten in ideologischer Hinsicht fast ausschließlich um eine konsequente Entnazifizierung Deutschlands gegangen war, wobei sie selbst die Unterstützung der aus den Gefängnissen und Konzentrationslagern befreiten Linken nicht verschmäht hatten, vertraten sie jetzt im Zuge des beginnenden Kalten Kriegs gegen die Sowjetunion so nachdrücklich wie möglich einen antikommunistischen Kurs. Und zwar stützten sie sich dabei anfänglich vor allem auf die auch von Theodor W. Adorno, Hannah Arendt und Karl R. Popper vertretene Totalitarismusthese, indem sie »Rot« einfach mit »Braun« gleichsetzten, ja dazu übergingen, »Rot« als schlimmer als »Braun« zu bezeichnen und schließlich »Rot« als die einzige Gefahr hinzustellen. Ja, in den USA traten zu diesem Zeitpunkt sogar Antikommunisten wie der erz­reaktionäre Medienzar Henry Luce auf, der in seinen Blättern erklärte, dass man in der Konfrontation mit der UdSSR selbst das Risiko eines »Total War« ins Auge fassen müsse.3 Ganz so scharf äußerten sich die westdeutschen Exponenten der Totalitarismusthese nicht, distanzierten sich jedoch ebenso entschieden von ihren im »Ahlener Programm« von 1946 verkündeten Sozialisierungsabsichten. Stattdessen unterstützten sie immer stärker das Konzept einer freien Marktwirtschaft nach amerikanischem Muster und ließen es dementsprechend nicht an scharfen Ausfällen gegen die in der »Sowjetzone« stattfindenden Sozialisierungsmaßnahmen fehlen. In kulturpolitischer Hinsicht wirkte sich dieser Umschwung folgendermaßen aus. Während es in der unmittelbaren Nachkriegszeit vor allem um die Rehabilitierung 144

Nach dem Beginn des Kalten Kriegs

der von den Nazifaschisten verfemten oder exilierten Künstler gegangen war und im Zuge einer kulturellen Neuordnung innerhalb der Literatur, Malerei und Musik wenigstens ansatzweise das Bekennerische im Sinne des Gesellschaftlich-Engagierten im Vordergrund gestanden hatte, ohne sich dabei groß Gedanken über die marktwirtschaftliche Umsetzung derartiger Bemühungen zu machen, trat in den Jahren 1948/49, gefördert durch die Amerikaner und die von ihnen unterstützten westdeutschen Antikommunisten, eine sogenannte »Verfreiheitlichung« von Kultur ein, was unter den vorgegebenen Klassenverhältnissen zwangsläufig zu einer Neuetablierung der bildungsbürgerlichen E-Kultur und der U-Kunst für die breiten Massen führte, in denen kaum noch irgendwelche Neuordnungskonzepte zu erkennen waren. In der Kunst der bürgerlichen Mitte herrschten dabei vor allem zwei Richtungen vor: eine bewusst die unpolitischen Tendenzen der Inneren Emigration fortsetzende sowie eine sich in betonter Frontstellung gegen den gesellschaftsbezogenen Realismus in der Sowjetzone ins Abstrakte oder Gegenstandslose wendende. Ideologisch und marktwirtschaftlich gesehen hatte dabei die erste Richtung anfänglich einen wesentlich größeren Erfolg als die zweite. Sich unpolitisch gebende Werke empfanden die gebildeten Schichten, die wegen ihrer Duldung oder Übereinstimmung mit dem NS-Regime noch mit einem schlechten Gewissen behaftet waren, damals eher ansprechend als jene modernistischen Werke, die sie schon vorher größtenteils abgelehnt hatten. Was sie deshalb zwischen 1947 und 1950 bevorzugten, war eher eine Kunst, die ihnen Trost und Heilung versprach und somit einen Rückzug in den Bereich der damals viel apostrophierten »heilen Welt« ermöglichte. Und zwar gilt das für alle drei Künste. Wenn sie Gemälde oder Skulpturen betrachteten, wollten sie nicht das »verwüstend Moderne«, sondern das »seelisch Durchdrungene« widergespiegelt sehen, wie es 1949 in der Broschüre Was bedeutet die moderne Kunst? von Wilhelm Hausenstein hieß.4 Wenn sie Musik hörten, wollten sie die »seinsbezogene« Erfahrung »tiefer menschlicher Innerlichkeit« haben, um aus dem Buch Die Musik im Weltbild der Gegenwart (1949) von Andreas Liess zu zitieren.5 Wenn sie sich in Bücher versenkten, wollten sie aus den »unvergänglichen Werken unserer großen Dichter« neue »Kraft fürs Leben« schöpfen, wie man 1948 in einer Verlagsanzeige des Bürger-Verlags im Frankfurter Börsenblatt lesen konnte.6 Wenn also in diesen Schichten überhaupt von höheren Zielsetzungen gesprochen wurde, dann im Sinne jener hochgemuten Kreise und Zirkel, die sich damals als »Goethe-Vereine« oder »Musische Bünde« in bewusster Abkehr von der Welt des Alltags allein den Manifestationen des »Allgemein-Menschlichen« oder der »ewigen Mitte« widmeten. Dass diese Richtung die breiteste Kulturbewegung dieser Jahre war, beweist die geradezu unübersehbare Fülle an Zeitschriften, die hinter ihr stand. Von den bekannteren seien in diesem Zusammenhang lediglich allgemeine Kultur- und Um145

Die Nachkriegszeit in den drei westlichen Besatzungszonen

schauzeitschriften wie Die Sammlung, Glanz, Aussaat, Berliner Blätter für geistiges Leben, Wort und Wahrheit, Universitas, Musica, Prisma, Merkur, Horizont, Westermanns Monatshefte sowie Die Kunst und das schöne Heim genannt, die vornehmlich für die Beibehaltung der abendländischen Traditionen des Guten, Wahren und Schönen eintraten und hierbei Kunstkonzepte propagierten, die sich vor allem auf naturhafte oder religiöse Vorstellungen des »Zeitlos-Großen« stützten. In den bildenden Künsten rechnete man dazu alles Bedeutsame von den Statuen der Antike bis zu den symbolistischen Meisterwerken des späten 19. Jahrhunderts. In der Literatur zählte dazu alles bisher Hochgeschätzte zwischen Homer und Goethe, wie Ernst Robert Curtius in seinem Buch Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948) erklärte. In der Musik äußerte sich diese Gesinnung am nachdrücklichsten, wenn man sich auf die seit alters her geschätzten Werke von Bach über Beethoven bis Richard Strauss berief. Wohl am auffälligsten machte sich dieser Rückzug in die »heile Welt« der Natur oder die Unvergänglichkeit des christlichen Glaubens in der Literatur bemerkbar. Dafür sprechen unter anderem die vielen Naturlyrikbände dieser Jahre, ob nun von Günter Eich, Friedrich Georg Jünger, Karl Krolow, Elisabeth Langgässer, Wilhelm Lehmann, Oda Schäfer oder Fritz Usinger, die meist Titel wie Stern über der Lichtung, Auf Erden, Abgelegene Gehöfte, Der Laubmann und die Rosa, Der hohe Sommer, Heile Welt oder Das ewige Dasein trugen, in denen fast immer eine naturverbundene Gegenwelt beschworen wurde, die vorwiegend im Zeichen der Beschaulichkeit, Zeitferne oder gar Idyllik stand. Das Gleiche gilt für jene Literatur, welche in diesen Jahren das Numinose, Mystische, Göttliche in ihren Dienst zu stellen suchte. Auch sie wollte in erster Linie »heilen«. Während es im Bereich der Naturlyrik meist die ewige Wiederkehr des Morgens oder des Frühlings war, von der man sich nach den Untaten des NS-Regimes die Hoffnung auf einen Neuanfang versprach, berief man sich im Bereich der religiösen Kunst vor allem auf jene göttliche Gnade, die selbst dem ärgsten Sünder wieder auf die Beine hilft. Daher wurde wie in der Naturlyrik auch in den Werken dieser Art alles andere, womit meist die politischen Machenschaften im Gesellschaftsleben gemeint waren, von vornherein als unbedeutend oder nichtig hingestellt. All das galt den Vertretern dieser Richtung, wie in dem wirkungsvollen Manifest Verlust der Mitte (1948) von Hans Sedlmayr, als menschliche Hybris, der man mit einer Rückkehr zu den ewigen Werten des christlichen Glaubens entgegentreten müsse. Dafür sprechen unter anderem Blätter wie Neues Abendland, Begegnung, Eckart, Hochland, Musica oder Das Münster. Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft, in denen fast immer die Idee des »Abendländischen« im Vordergrund stand. Im Bereich der bildenden Kunst brachte man in diesem Umkreis vor allem dem Bildhauer Gerhard Marcks die größte Hochachtung entgegen, den Klaus Leonhard 1949 146

Nach dem Beginn des Kalten Kriegs

in seinem Buch Gerhard Marcks. Arbeiten geistlichen Inhalts als den Hauptvertreter der christlichen Kunst dieser Jahre hinstellte. Auf musikalischem Gebiet wurden von den Vertretern dieser Richtung häufig die geistlichen Werke von Hugo Distler, Ernst Pepping und Hermann Reutter, die sich zum Teil an den älteren Kirchentonarten oder der Kontrapunktik Johann Sebastian Bachs orientierten, als vorbildlich bezeichnet. In der Literatur äußerte sich diese Verchristlichungstendenz vor allem in dem Roman Das unauslöschliche Siegel (1946) von Elisabeth Langgässer und dann der Romantrilogie Die Sintflut von Stefan Andres, dessen erster Band Das Tier aus der Tiefe 1949 erschien, in dem sich nach den Untaten in einem totalitären, ja geradezu faschistoiden Staat die letzten Gläubigen schließlich in abgelegene Wälder und Höhlen zurückziehen. Die gleiche, als heilsam empfundene Resignation lag dem damals vielgelesenen Roman Missa sine nomine (1950) von Ernst Wiechert zugrunde, dessen Held sich nach seiner Entlassung aus einem Konzentrationslager aufs Land begibt, all seinen früheren Gegnern verzeiht und nur noch die christliche Nächstenliebe lebt. Wie gesagt, sowohl die ins Naturbezogene ausweichende als auch die das Christliche bekräftigende Richtung in den Künsten erschien den bildungsbürgerlichen Schichten, die vorher größtenteils mit dem NS-Regime sympathisiert hatten und sich zwischen 1947 und 1950 lieber einer Wendung ins »Unpolitische« hingaben, durchaus zeitgemäß. All das empfanden sie in ihrer Berufung auf das Altbewährte im besten Sinne als »entlastend«, während sie sich allem als neuartig Auftretenden, ob nun in politischer oder ästhetischer Hinsicht, erst einmal skeptisch gegenüber verhielten. Und dazu gehörten sowohl die Sozialisierungsbestrebungen der unmittelbaren Nachkriegszeit als auch irgendwelche betont modernistischen Kunstvorstellungen abstrakter oder gar gegenstandsloser Art, wie sie in den bildenden Künsten schon zu Anfang des Jahrhunderts geherrscht hatten. Schließlich war diese Richtung nicht nur durch die Nazifaschisten liquidiert worden, sondern befand sich bereits seit der Mitte der zwanziger Jahre im Rückgang. Bilder dieser Art, wie etwa die Werke von Willi Baumeister und Fritz Winter, wurden zwar nach Kriegsende mehrfach ausgestellt, um ihre Verfemung in der Nazizeit wiedergutzumachen, lösten aber keine echte Begeisterung aus. Erst im Zuge des 1947/48 einsetzenden Kalten Kriegs zwischen den USA und der UdSSR und der dadurch verstärkten Westintegrierung der amerikanischen, britischen und französischen Besatzungszonen fanden die alliierten Verfechter der gegenstandslosen Malerei plötzlich auch eine Reihe lautstarker Bündnispartner unter den Westdeutschen. Schließlich ließen sich derartige Werke als Ausdruck eines rein subjektiven Gestaltungswillens, der sich als Manifestation westlicher Freiheit von allen totalitaristischen Bevormundungen nazifaschistischer oder kommunistischer Art freigemacht habe, vorzüglich gegen den von der Sowjetunion propagierten Sozialistischen Realismus ausspielen. 147

Die Nachkriegszeit in den drei westlichen Besatzungszonen

Um diesen Thesen eine konkrete Durchschlagskraft zu geben, entschlossen sich daher in den Vereinigten Staaten die Central Intelligence Agency (CIA), das Guggenheim Museum sowie das unter der Vormundschaft Nelson Rockefellers stehende Museum of Modern Art (MoMA) zu einer kulturpolitischen Werbekampagne für den American Abstract Expressionism, um die westdeutschen Kunstinstitutionen von der ideologischen »effectiveness« einer »free enterprise painting« in der Auseinandersetzung mit dem als »communist« verteufelten Realismus zu überzeugen.7 Den Auftakt dieser Bemühungen bildete die 1947 vom Guggenheim Museum organisierte Ausstellung unter dem Titel »Nichtgegenständliche Malerei in Amerika«, die unter anderem in Karlsruhe, Mannheim und Düsseldorf zu sehen war, der ein Jahr später eine Ausstellung mit Werken von Willem de Kooning, Robert Motherwell und Jackson Pollock, den Hauptvertretern des American Abstract Expressionism, folgte und als die wirkungsvollste Form »der Abstraktion ohne Irrweg über das Motiv als Möglichkeit des absoluten individuellen Selbstausdrucks« angepriesen wurde.8 Dieselbe Absicht lag jener Ausstellung gegenstandsloser Bilder zugrunde, die 1949 in München im American Art Collecting Point gezeigt wurde. Die Folgen dieser konzertierten Aktion ließen bei den westdeutschen Kunstkritikern nicht lange auf sich warten. So setzten sich etwa Wieland Schmied und F. A. Winter schon in diesen Jahren für eine konsequente Wendung zu einer abstrakten Malerei ein, indem sie dem Prinzip der Gegenstandslosigkeit immer stärker die Würde des »Eigentlichen« verliehen. Und im Sinne derartiger Tendenzen, mochten sie nun von der amerikanischen Besatzungsmacht oder den ihr folgenden westdeutschen Kunstkritikern ausgehen, erklärte schließlich die Zeitschrift Das Kunstwerk, die schnell zum Hauptorgan dieser ideologischen Wendung ins Abstrakte wurde, unter Berufung auf die »Neueste Stimmung im Westen« schon im Jahr 1948 geradezu apodiktisch: »Das Zeitalter der Mimesis ist vorüber; überall setzt sich das abstrakte Kunstwollen durch.«9 Doch so energisch solche Programme auch vertreten wurden, was sich letztlich nach der im Juni 1948 in den drei Westzonen von den Amerikanern zur Stärkung der bis dahin weitgehend lahmgelegten Wirtschaft vorgenommenen Währungsreform durchsetzte, waren im Bereich der Kultur weder irgendwelche Neuordnungs-, Heilungs- oder Verchristlichungskonzepte noch irgendwelche Abstraktionsbemühungen, sondern jene ökonomischen Restaurationsbestrebungen, die in den verschiedenen Künsten zwangsläufig ein Wiederaufleben der älteren marktwirtschaftlichen Polarisierung in eine Reihe höchst unterschiedlicher Teilkulturen bewirkten. Daher erwiesen sich auf diesem Gebiet nicht die Kunsttheoretiker, sondern die Konzernherren der Unterhaltungsindustrie als die Mächtigsten, welche eher das Profitprinzip als irgendwelche Kulturprogramme im Auge hatten. Und das führte in Sachen Kunst notwendigerweise zur Wiederherstellung jener kultu148

Nach dem Beginn des Kalten Kriegs

Abb. 35  Willi Baumeister, Atlantis (1947)

rellen Aufsplitterung, in der bereits in den zwanziger Jahren, wenn nicht schon Jahrzehnte zuvor, vornehmlich das Prinzip von Angebot und Nachfrage geherrscht hatte. Bedingt durch die weiter bestehenden Klassenunterschiede und die sich daraus ergebenden Bildungsdifferenzen war das Resultat dieser Entwicklung eine Fülle höchst verschiedener Kulturangebote, wobei die neu entstehende Medienindustrie weniger irgendwelche anspruchsvollen Hochkulturbestrebungen als die jeweilige Kaufkraft sowie die bildungsmäßige Konditionierung der verschiedenen Bevölkerungsschichten ins Auge fasste, um auf möglichst vielen Ebenen die höchsten Umsätze zu erzielen. Schließlich verlangten die breiten Massen aufgrund ihrer weder seelische Gratifikationen noch gesellschaftliche Anerkennung einbringenden Arbeitsbedingungen in ihrer Freizeit fast ausschließlich nach Ablenkung, Zerstreuung oder illusionären Träumereien. Sie erfreuten sich daher lieber an allem, was ihnen möglichst eingängige Opiate bot, statt sich wie die best- oder gutbürgerlichen Kreise mit anspruchsvollen Hochkulturproblemen abzugeben. Und solche vergnüglichen Ausflüchte ermöglichten ihnen zwischen 1947 und 1950 in zunehmendem Maße sowohl die im Radio ertönenden Schlager sowie die schwungvollen Rhythmen der unter der Leitung von Michael Jary, Willy Berking und Kurt Edelhagen spielenden Tanz149

Die Nachkriegszeit in den drei westlichen Besatzungszonen

orchester als auch viele der neu herauskommenden Zeitungen, illustrierten Magazine und Heftchenromane, die keine allzu großen intellektuellen Ansprüche an ihre Leser und Leserinnen stellten. Wohl die höchsten Profite erzielte dabei anfänglich die Schlagerindustrie mit jenen Schnulzen, welche die weiterhin in ärmlichen Verhältnissen lebenden Menschen aus dem tristen Alltag der Nachkriegszeit in irgendwelche fernen Traumwelten zu entrücken versuchten. In Schlagern wie Florentinische Nächte, Komm mit mir nach Tahiti oder Nächte in Hawaii ging es dabei nicht nur darum, ein noch unstillbares Fernweh zu befriedigen, das zum Teil mit Rumba- oder Sambaklängen untermalt wurde, sondern zugleich um jene »Liebe, Liebe, Liebe«, um so den in zwanghafter Entsagung und Tristesse dieser Jahre lebenden gesellschaftlichen Unterschichten die nötigen erotischen Gratifikationen zu offerieren. Und daran änderte auch die Währungsreform von 1948 nicht viel. Jetzt war zwar das Geld wieder etwas wert und auch die Läden hatten sich neu gefüllt, aber die Schlechterverdienenden hatten mal wieder das Nachsehen. Deshalb wurde im Frühjahr 1949 der beliebteste Karnevalsschlager jener von Jupp Schmitz kreierte Song »Wer soll das bezahlen? / Wer hat das bestellt? / Wer hat so viel Pinkepinke? / Wer hat so viel Geld?« Fast die gleiche Polarisierung in hohe und niedrige Kunstformen spielte sich nach der Währungsreform auf literarischem Gebiet ab. Das Interesse an den Werken der religiösen und moralischen Umerziehungsliteratur sowie den Klassikern der deutschen und weltliterarischen Tradition, die aufgrund des sogenannten Kulturhungers der bildungsbürgerlichen Schichten bisher im Vordergrund gestanden hatten, ging nach diesem Zeitpunkt merklich zurück. So verloren etwa manche Kirchenblätter um 1948/49 rund 50 Prozent ihrer Leser und Leserinnen. Was dagegen im sogenannten »freien Spiel der Kräfte« in steigendem Maße an Boden gewann, waren jene Illus­ trierten, Sportzeitschriften, Bestseller sowie Science-Fiction- und Heftchenromane, die keine höheren Ansprüche stellten. Demzufolge stieg die Auflage eines Blatts wie Quick im Jahr 1948 von 50.000 auf 500.000. Und auch einige Sportillustrierten erlebten nach der Währungsreform eine ähnliche Absatzsteigerung. Von den Vertretern der marktorientierten Medienindustrie wurde diese Entwicklung selbstverständlich als eine erfreuliche Wendung ins Altbewährte begrüßt, ja die Aufhebung der Papierzuteilungsquoten sowie die Wiedereinführung der freien Marktwirtschaft in Presse und Buchwesen als endgültiger Durchbruch zu einer undogmatischen und alles ermöglichenden »Demokratie« gefeiert. Statt die hart arbeitenden breiten Massen, wie es hieß, weiterhin auch kulturell einer staatlichen Lenkung zu unterwerfen, solle man ihnen endlich wieder die nötige Unterhaltung bieten. Diesen Schichten dürfe man im Gegensatz zu den Intellektuellen keine nationale Trauerarbeit oder ästhetische Überbeanspruchung zumuten, beteuerten manche der mit dem Gang der Dinge durchaus zufriedenen Konservativen zu diesem Zeitpunkt 150

Nach dem Beginn des Kalten Kriegs

immer wieder. Ihr Los sei schwer genug. Es wäre daher unangebracht, ihnen auch noch kulturell zusätzliche Schwerstarbeiten abzuverlangen. Und damit kam es in Trizonesien selbst auf kulturellem Gebiet zu einem nicht mehr aufzuhaltenden Durchbruch jener marktwirtschaftlichen Verhältnisse, welche die Westmächte bereits seit dem Beginn des Kalten Kriegs gegen die Sowjetunion im Hinblick auf die von ihnen verwalteten Besatzungszonen als die wichtigste Grundlage einer antilinken Gesellschaftsordnung ausgegeben hatten. Welchen durchschlagenden Erfolg sie damit auf politökonomischer und kultureller Ebene hatten, sollte sich allerdings erst nach der Ende 1949 von ihnen durchgesetzten Teilung Deutschlands und der kurz darauf erfolgenden Gründung eines eigenständigen westdeutschen Staats zeigen. Vor allem das von ihnen in Gang gesetzte »Wirtschaftswunder« erwies sich hierbei als eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, dass die frühe Bundesrepublik in den fünfziger Jahren im Rahmen der NATO-Allianz aufgrund ihrer wirtschaftlichen Machtstellung zu einem ihrer wichtigsten Bündnispartner im ideologischen Kampf gegen den östlichen Kommunismus wurde.

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Die ehemalige Bundesrepublik

Die Ära des sogenannten Wirtschaftswunders

Wie bereits ausgeführt erwiesen sich die im Juni 1948 durchgeführte Währungsreform und die kurz darauf anlaufenden Kredite des Marshallplans als die wichtigsten Voraussetzungen für eine ökonomische Wiedererstarkung der drei westlichen Besatzungszonen. Als daher im Spätherbst 1949 auf Druck der Vereinigten Staaten die Bundesrepublik Deutschland (BRD) als souveräner Staat gegründet wurde, waren die Weichen für einen weiteren Aufschwung der wirtschaftlichen Produktion und zugleich für eine Westintegrierung der Industrie in diesem Teil Deutschlands bereits gestellt. Was dieser Entwicklung im Jahr 1950 zusätzlich zugute kam, war der Koreakrieg, der in der westlichen Rüstungsindustrie einen erhöhten Bedarf an Importgütern bewirkte. Und das führte zu einem rapiden Anwachsen der westdeutschen Schwerindustrie und zugleich zu einer Wiederaufnahme der bisher brachliegenden Außenhandelsbeziehungen, wodurch schon in diesem Jahr die westdeutsche Industrieproduktion ihren Stand von 1936 bei weitem übertraf. Ja, im Jahr 1951 erhöhte sich die industrielle Zuwachsrate um weitere 8,7 Prozent und dann im folgenden Jahr nochmals um 7,4 Prozent. Bekanntermaßen ließ dieser als angebliches »Wirtschaftswunder« ausgegebene Trend bis zum Ende der fünfziger Jahre keineswegs nach. Noch um 1960 konnten die westdeutschen Wirtschaftsexperten stolz darauf hinweisen, dass die industrielle Produktion in der BRD durch die fortschreitende Modernisierung und einen verstärkten Außenhandel weiterhin eine enorme Zuwachsrate aufweise. Kein Wunder daher, dass sich der »Bundesverband der (west)deutschen Industrie« (BDI) unter der Direktion von Otto F. Friedrich im Zuge dieses enormen Booms – unter Zurückdrängung irgendwelcher noch an die Nachkriegszeit erinnernden planwirtschaftlichen Maßnahmen – schon seit Anfang der fünfziger Jahre für eine diesen Trend unterstützende privatwirtschaftliche Rekapitalisierung der westdeutschen Industrieproduktion einsetzte. Das Hauptziel, wie es in diesen Kreisen allgemein hieß, müsse von nun an eine Temposteigerung der wirtschaftlichen Zuwachsrate sein, um so den bereits in Gang gekommenen ökonomischen Aufschwung nicht zu gefährden. Und das trat dann – trotz der sozialdemokratischen Opposition gegen die machtvoll durchgeführten Rekapitalisierungsmaßnahmen – auch ein. Was dieser Entwicklung obendrein zugute kam, war der nicht nachlassende Zustrom qualifizierter Arbeitskräfte aus der wirtschaftlich schwachen »Ostzone«. Von dort begaben sich zwischen 1950 und 1961, also vor dem Bau der Berliner Mauer, der diese Abwanderung unterband, etwa 2,7 Millionen Menschen in die BRD. Doch selbst 152

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dieser Zustrom war den großen Konzernen nicht genug, worauf sie ab 1955 zusätzliche ausländische Arbeiter aus den umliegenden west- und südeuropäischen Ländern und schließlich sogar aus der Türkei anwarben. Neben dem BDI und den Besitzern der großen Konzerne versuchte selbstverständlich auch die bundesrepublikanische Regierung diese Entwicklung im Zuge ihrer forcierten Westintegrierung so tatkräftig wie möglich zu unterstützen. Dafür sprechen nicht nur die 1954 verkündete Wehrhoheit der BRD, der ein Jahr später der Eintritt in die NATO und das 1956 erlassene Verbot der KPD folgten, sondern auch eine Reihe zur Verstärkung der Wirtschaft durchgeführter Beschlüsse. So entschied sich die westdeutsche Regierung schon 1951, die letzten noch bestehenden Produktionseinschränkungen aufzuheben sowie der von Frankreich, Italien und den Benelux-Ländern gegründeten »Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl«, der sogenannten »Montanunion«, beizutreten, was zu einer fortschreitenden Verflechtung der westdeutschen Wirtschaft mit den in den NATO-Ländern herrschenden Industrieverhältnissen führte. Zugleich forderte sie schon Ende 1955 in ihrer »Hallstein-Doktrin« alle westlichen Staaten auf, keine wirtschaftlichen Beziehungen zur »Ostzone« aufzunehmen. Und die Ergebnisse dieser Entwicklungen, denen von Anfang an die Absicht zugrunde gelegen hatte, aus Westdeutschland ein Bollwerk gegen den östlichen Kommunismus zu machen, befriedigten die in der NATO zusammengeschlossenen Länder durchaus. Wenn jetzt in diesen Staaten von »Deutschland« gesprochen wurde, war damit nicht mehr der ehemals infame Nazistaat, sondern ein vertrauenswürdiger Bündnispartner gemeint, der durch seine Militär- und Wirtschaftsmacht dem Vordringen der Sowjetunion in Europa einen Riegel vorgeschoben habe. Und auch in der BRD selber war in den fünfziger Jahren aufgrund dieser Entwicklung kaum noch von der schmählichen NS-Vergangenheit die Rede. Stattdessen verbreitete sich dort im Zuge des ökonomischen Aufschwungs, der mit bewusst ins Unpolitische ablenkender Tendenz als »Wirtschaftswunder« ausgegeben wurde – obwohl ihm vornehmlich das politisch wohlkalkulierte Bemühen der Westmächte zugrunde lag, »Deutschland« in die antikommunistischen Zielsetzungen der »Truman-Doktrin« einzubeziehen –, durch die Wiedereinführung marktwirtschaftlicher Verhältnisse ein sämtliche anderen ideologischen Erwägungen in den Hintergrund drängendes Wohlbehagen. Alles schien sich danach zum Besseren zu wenden: Die Zuwachsrate der Wirtschaft stieg von Jahr zu Jahr, die Läden waren wieder übervoll, die Arbeitslosigkeit verschwand, die Löhne und Gehälter nahmen zu, was in der frühen BRD erst eine »Fresswelle« und dann eine »Tourismuswelle« größten Ausmaßes auslöste. Trotz mancher Proteste gegen die Wiederbewaffnung verbreitete sich deshalb unter fast allen westdeutschen Bundesbürgern und -bürgerinnen das Gefühl, in jenem »rich153

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tigen Land« zu leben, in dem es keine von Konrad Adenauer verdammten sozioökonomischen »Experimente« gebe, sondern ein staatlich garantierter »Wohlstand für alle« herrsche, wie sein Wirtschaftsminister Ludwig Erhard beschönigend erklärte.1 Aufgrund dieser Stimmungslage errang die CDU/CSU bei den Wahlen im Jahr 1957 sogar die absolute Mehrheit im Bundestag und konnte fortan auf die Unterstützung der Deutschen Partei (DP) und des Bunds der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) verzichten. Und das zwang zwei Jahre später selbst die Sozialdemokraten unter Willy Brandt und Herbert Wehner, sich in ihrem »Godesberger Programm« von ihrem bisherigen Widerstand gegen die Remilitarisierung zu distanzieren und auch von ihren früheren Sozialisierungsbestrebungen Abstand zu nehmen. Damit war politisch und wirtschaftlich ein Zustand erreicht, der in der BRD noch bis in die Mitte der sechziger Jahre anhalten sollte. Wieder einmal hatte sich gezeigt, wie stark alle politischen Veränderungen von den jeweiligen ökonomischen Voraussetzungen abhängen oder zumindest mitbestimmt werden. Schließlich wäre es ohne die Währungsreform von 1923 nicht zur Stabilisierung der Weimarer Republik, ohne die Weltwirtschaftskrise nach 1929 nicht zum Machtanstieg der Nazifaschisten, ohne die 1948 in den drei westlichen Besatzungszonen durchgeführte Währungsreform nicht zur Gründung der ehemaligen Bundesrepublik und schließlich ohne die wirtschaftliche Wiederaufrüstung der BRD nicht dazu gekommen, dass dieser Staat, der noch kurz zuvor in aller Welt als ein mörderischer Unstaat gegolten hatte, fortan in der NATO-Allianz eine mitbestimmende Rolle spielen konnte. Aufgrund der schnell anwachsenden wirtschaftlichen Prosperität sahen die meisten seiner Bürger und Bürgerinnen in ihm jetzt wieder ein Land, das durchaus den Respekt der anderen westlichen Staaten verdiene. Und viele beriefen sich dabei auf die stolze Parole »Wir sind wieder wer!«, ohne noch groß irgendwelche Schuldgefühle gegenüber den sechs Millionen Juden, den hunderttausenden Romas und Sintis, den kommunistischen Widerstandskämpfern gegen das Dritte Reich oder gar jenen 26 Millionen Sowjetbürgern und -bürgerinnen zu haben, die während des Zweiten Weltkriegs im Zuge des mörderischen Vordringens der NS-Wehrmacht in die UdSSR ums Leben gekommen waren. Was daher in der frühen Bundesrepublik als ideologische Grundstimmung vorherrschte, war nicht eine allgemeine Betroffenheit oder gar von Schuldgefühlen durchsetzte »Trauerarbeit«, wie es Alexander Mitscherlich später formulierte,2 sondern eher eine materialistische Selbstgenügsamkeit, die rein gegenwartsbezogen blieb, statt groß zurückzublicken oder irgendwelche in die Zukunft weisenden Veränderungspläne ins Auge zu fassen. So wie es nun einmal war, nämlich wirtschaftlich abgesichert zu sein, damit waren die meisten Westdeutschen vorerst durchaus zufrieden und ließen deshalb die »Oberen«, gleichviel welcher Art, denen sie diesen Zustand verdankten, erst einmal so machen, wie es ihnen richtig erschien. Was hät154

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Abb. 36  Vorbereitung der »Großen Rationalisierungs-Ausstellung« in Düsseldorf (3. Juli 1953)

ten sie schließlich an dieser Situation ändern sollen? Große Teile der Bevölkerung verfügten ja plötzlich über alles, was sie in der Kriegs- und Nachkriegszeit entbehren mussten: den nötigen Wohnraum, genug zu essen, sichere Arbeitsplätze, steigende Löhne und Gehälter, mit denen sie sich nicht nur bisher unerschwingliche Delikatessen, einen Volkswagen oder gar Reisen in ferne Länder leisten konnten. Und die ständig ansteigende industrielle Zuwachsrate bestärkte sie obendrein in dem Gefühl, dass dieser Zustand auch in der Zukunft sicher so bleiben würde. Von irgendwelchen sozialpolitischen oder kulturellen Neuordnungskonzepten, welche die eher linksgerichteten Gruppen in der unmittelbaren Nachkriegszeit als Reaktion auf den Nazifaschismus vertreten hatten, war daher in den fünfziger Jahren in der BRD kaum noch die Rede. Ja, selbst gegen das Verbot der KPD protestierte fast niemand. Was jetzt auf der Tagesordnung stand, war ausschließlich die durch die Rekapitalisierung der Industrie ermöglichte freie Marktwirtschaft, in der lediglich das Prinzip der profitsteigernden Absetzbarkeit der jeweils hergestellten Produkte den entscheidenden Ausschlag gab. Und das führte in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu einem Warenangebot, mit dem man sich bemühte, den klassenmäßig immer noch unterschiedlichen Bevölkerungsschichten das sie jeweils Ansprechende zur Befriedigung ihrer materiellen Bedürfnisse zu offerieren. Dass sich dieses Bestreben nicht nur in dem verschiedenartigen Angebot von Konsumgütern, sondern auch auf kulturellem Sektor auswirken würde, war wegen der ideologischen Gesamtstimmung und der ihr zugrunde liegenden markt155

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wirtschaftlichen Verhältnisse unschwer vorherzusehen. Was sich deshalb schon nach der Währungsreform von 1948 anzubahnen begann, nämlich eine zunehmende Aufspaltung in eine E-Kultur für die bildungsbetonten und zugleich finanziell bessergestellten Oberschichten sowie eine U-Kultur für die weitgehend ungebildeten und zugleich ärmeren Schichten, wurde im Laufe der fünfziger Jahre ständig eklatanter. Jetzt galt in dieser Hinsicht wieder die ideologisch unverbindliche Parole »Jedem das Seine!«, welche zwar als demokratisch ausgegeben wurde, aber letztlich die auf diesem Gebiet seit alters her bestehenden gesellschaftlichen Unterschiede keineswegs aufhob, sondern eher verstärkte. Schließlich hatten in diesem Zeitraum die westdeutschen Unterschichten noch kaum Zugang zu einer höheren Bildung. Statistisch gesehen besuchten damals nur 4,5 Prozent der Jugendlichen höhere Schulen und noch weniger konnten sich ein Universitätsstudium leisten. Bildung und somit Zugang zu den höheren Formen der Kultur blieben also weiterhin Privilegien einer relativ kleinen Minderheit der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Gehen wir im Folgenden erst einmal darauf ein, was die gebildete Oberschicht, ob nun die Älteren oder Jüngeren unter ihr, damals unter »Kultur« verstand. Für sie war Kultur vor allem das, was im Bereich der Künste als »höhergeartet« galt, also die Meisterwerke des »Kulturellen Erbes« sowie all das, was sich in diesem Zeitraum mit elitärer Pose als betont »modernistisch« gab. Und zwar lassen sich dabei zwei Haltungen unterscheiden. Die eine Gruppe ließ in obstinater Beharrlichkeit nur das schon seit langem als altbewährt Angesehene, das heißt in den Rang des »Klassischen« Aufgestiegene gelten. Die andere Gruppe empfand beide Formen dieser zwei Kunstarten als kulturell gleichrangig. Ob nun Ludwig van Beethoven oder Arnold Schönberg, Johann Wolfgang Goethe oder James Joyce, Caspar David Friedrich oder Wassili Kandinsky, ihnen galt jenseits aller historischen Bedingtheit auf dieser Ebene alles weitgehend gleich, solange es inhaltlich und ästhetisch anspruchsvoll war und sie in ihrer gesellschaftlich abgehobenen Sonderstellung bestätigte. Die eher kulturkonservativ eingestellten Schichten innerhalb dieser bildungsbürgerlichen Minderheit blieben meist bis weit in die fünfziger Jahre hinein bei jener Haltung, die sie schon im Zuge der Inneren Emigration während der dreißiger Jahre und dann in der Nachkriegszeit eingenommen hatten, indem sie als Berufsstand in Schule und Universität die Erbepflege vertraten, sich auf privater Ebene in der Kunst der Vergangenheit Trost zu holen versuchten oder in ihrem Umgang mit älterer, seit jeher anerkannter Kunst auf gesellschaftliche Repräsentation bedacht waren. Dieser Stellvertretungsanspruch verlor jedoch im Laufe der fünfziger Jahre durch den sich immer stärker kommerzialisierenden Kulturbetrieb zusehends an Bedeutsamkeit. Indem die Konservativen unter ihnen sowohl den elitären Modernismus als auch die sich rasch ausbreitenden Massenmedien schroff ablehnten, ja sich zugleich dagegen sperrten, irgendwelche kulturellen Alternativen ins Auge zu fassen 156

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und sich stattdessen lediglich auf die Bewahrung des von der Tradition Anerkannten versteiften, nahm ihr Umgang mit höherer Kultur schließlich Züge an, die sich nur noch als »museal« bezeichnen lassen. Und damit verlor die von ihnen favorisierte E-Kunst mehr und mehr jenen Anschein einer gesamtgesellschaftlichen Verbindlichkeit, den ihr das Bildungsbürgertum – wenigstens in der Idee – in den 200 Jahren zuvor immer wieder zugestanden hatte. Einen etwas größeren Erfolg im Bereich der Kulturbetriebsamkeit der fünfziger Jahre hatten dagegen die Vertreter jener Richtung, die sich in künstlerischer Hinsicht als »Modernisten« ausgaben. Sie wandten sich von vornherein gegen alle ästhetischen Ausdrucksformen, die ins Rückwärtsgewandte, ob nun Idealistische, Moralische oder Religiöse, tendierten und favorisierten stattdessen einen Drall ins Formalistische, Hermetische, Abstrakte oder Existentiell-Vereinzelte. Und zwar kam ihnen dabei sowohl der mit der technologischen Modernisierung der westdeutschen Industrie verbundene »Reißbrettkult« als auch die ideologische Stellungnahme gegen die angeblich totalitaristische Vereinnahmung von Kultur zu außerkünstlerischen Zwecken des im Gefolge des Kalten Kriegs schroff abgelehnten Sozialistischen Realismus zugute. Obwohl der Prozentsatz derer, welche diese Richtung vertraten, relativ klein blieb, erregte er in der frühen Bundesrepublik wegen der ihm zugrunde liegenden ideologischen Komponente bei manchen Kulturtheoretikern und den ihnen folgenden Schichten durchaus ein gewisses Aufsehen. Während sich dieser Trend ins Abstrakte in der Literatur dieses Zeitraums wegen ihrer realitätsbezogenen Sprachgestaltung kaum durchsetzen ließ, spielte er vor allem in der modernistischen E-Musik und der sich ebenso modernistisch gebenden Malerei zeitweilig eine nicht unbeträchtliche Rolle. Dafür spricht auf musikalischem Gebiet, welche Bedeutsamkeit man damals der Zwölftontechnik Arnold Schönbergs, der seriellen Musik Anton Weberns sowie der elektronischen Musik Karlheinz Stockhausens einräumte, wohingegen man in diesen Kreisen über die tonale Bekenntnismusik eines Paul Hindemith oder Karl Amadeus Hartmann nur noch maliziös lächelte. Doch eine größere Breitenwirkung war dieser Musik – außer bei den Darmstädter Ferienkursen oder in den Nachtprogrammen mancher Rundfunkanstalten – selbst in diesen Jahren kaum beschieden. Um so stärker beachtet wurde dagegen im Bereich der Malerei der von den Amerikanern bereits seit 1947 eingeführte Abstract Expressionism, der 1955 und dann 1959 auf den Kasseler »documenta«-Ausstellungen als Reaktion auf den angeblich »altbackenen« Realismus in der »Ostzone« bei den sich dafür interessierenden InGroups seinen entscheidenden Durchbruch erlebte. Aufgrund dieser Wende stiegen die Preise für abstrakte oder gegenstandslose Bilder, wie etwa die von Georg Meistermann und Ernst Wilhelm Nay, obwohl auf ihnen nur Flecken, Kreise oder Striche zu sehen waren, sprunghaft in die Höhe. Doch trotz solcher Sensationseffekte blieb 157

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Abb. 37  A. Paul Weber: Die Exklusiven (1957)

das im Hinblick auf die Gesamtsituation des Kulturbetriebs in der frühen Bundesrepublik letztlich – gesamtgesellschaftlich gesehen – fast ebenso randständig wie die sich betont abstrakt gebende modernistische E-Musik. Was die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung damals unter »Kultur« verstand, war etwas ganz anderes. Sie gab sich auf diesem Gebiet ganz dem hin, was ihnen der Moloch Markt offerierte. Und das waren weniger die Werke der höhergearteten Kunst, sondern vor allem die Produkte jener U-Kultur, die ihnen ein »besseres Leben« versprachen, wie einige von den großen Konzernen dieser Jahre aufgezogene Ausstellungen hießen, auf denen es in wirtschaftswunderlicher Stimmung von lebenserleichternden Produkten wie Rundfunkapparaten, Fernsehern, Waschmaschinen, Eisschränken, elektrischen Haartrocknern, modisch gestylten Möbeln und anderen »Goodies« nur so wimmelte. Dementsprechend wurde es damals durchaus üblich, nicht nur von einer Ess- und Reisekultur, sondern auch von einer Wohn-, Küchen- und Badezimmerkultur zu sprechen, als ob sie das Erstrebenswerteste im Leben seien. Und diese Produkte verkauften sich auch rasant, da neben den enormen Gewinnerträgen der Oberklasse auch die Gehälter der mittelständischen Schichten allmählich anstiegen. 158

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Das Bedürfnis nach einer Kunst des Guten, Wahren und Schönen, von der sich manche Kulturtheoretiker in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch Trost und Heilung inmitten der allgemeinen Misere versprochen hatten, nahm deshalb in dem als wirtschaftswunderlich empfundenen Milieu der mittfünfziger Jahre zusehends ab. Wonach die Mehrheit der bundesrepublikanischen Bevölkerung jetzt verlangte, war eher etwas Eingängiges, Unterhaltsames, Vergnüglich-Stimmendes. Sie wollte nicht mehr wie zuvor ständig um den tieferen Sinn ihres Lebens ringen, sondern gab sich mehr oder minder bedenkenlos jenen »Wonnen der Gewöhnlichkeit« hin, welche ihnen die erneut aufblühende Unterhaltungsindustrie in einem überreichlichen Maße bot. Während anfänglich, also bis etwa 1955, die Kulturvorstellungen des älteren Bildungsbürgertums noch eine gewisse Chance hatten, sich im gesellschaftlichen Allgemeinbewusstsein bemerkbar zu machen, da die Massenmedienindustrie erst wieder angekurbelt werden musste, setzte sich danach der von Ludwig Erhard auch auf diesem Gebiet in Gang gebrachte wirtschaftsanheizende Konsumismus durch, der auf dem Gesetz von Angebot und Nachfrage und damit dem Prinzip der ökonomischen Selbstregulierung beruhte. Aufgrund dieser Entwicklung entstand dadurch in der frühen Bundesrepublik eine Kultur- und Meinungsindustrie, die weitgehend branchen- und schichtenspezifisch ausgerichtet war, also trotz aller sich als »demokratisch« ausgebenden Parolen die realexistierenden Klassenunterschiede einfach akzeptierte. In dem so entstehenden ästhetischen Supermarkt interessierten sich nur noch vier Prozent der westdeutschen Bevölkerung für die Werke der Hochkultur sowie 14 Prozent für die weniger anspruchsvollen, aber immer noch achtbaren Werke einer höhergearteten Kunst. Die restlichen 82 Prozent begnügten sich dagegen mit den landläufigen Erzeugnissen der Massen- und Medienkultur. Während also jene Minderheit, welche über die genügende Bildung und Muße verfügte, weiterhin Kulturformen wie die Buch- und Zeitschriftenlektüre sowie den Theater-, Opernund Konzertbesuch favorisierte und die als vulgär empfundenen Massenmedien noch teilweise verachtete, gaben sich die unteren 82 Prozent in ihrer erweiterten Freizeit zusehends jener Unterhaltung hin, welche ihnen Rundfunk, Fernsehen, Kino, illustrierte Blätter wie Stern und Quick oder Schlager und Tanzmusik boten. Schon gegen Ende der fünfziger Jahre nahm dadurch der Umgang mit den Massenmedien – neben der Arbeit und der Nachtruhe – eine quantitativ wichtige Zeitspanne im Leben dieser Menschen ein und belief sich Statistiken zufolge auf etwa drei bis dreieinhalb Stunden pro Tag. Wie skrupellos die westdeutsche Medienindustrie diese Markterweiterung damals ausgeschlachtet hat, ist oft beschrieben worden. Mit ihren Produkten bemühte sie sich, die U-Kulturkonsumenten überall mit farbenstrotzenden Bildern einer 159

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Reklamewelt zu umgeben, deren oberste Werte weitgehend Unterhaltungs- und Konsumlust waren, während sie alles im älteren Sinne »Hochkulturelle« eher als unangebrachte Sublimierung und damit als wachstumshemmend hinstellte. Statt Werte wie Geschmacksbildung, Lerneifer oder gar Gemeinsinn in den Vordergrund zu rücken, beschwor sie lieber das Bild eines entideologisierten Lebens, das sie als ein wahrhaft modernes, weil auf dem Prinzip der individuellen Selbstrealisierung beruhendes anzupreisen versuchte. Wie in allen anderen Konsumbereichen stellten deshalb die Anhänger dieser als Neoliberalismus ausgegebenen Haltung auch das Verhältnis zur Kunst lediglich als eine Frage hin, die man lieber dem Einzelnen überlassen solle. Und zwar gebrauchten sie hierbei gern den pseudodemokratischen »Wir«-Gestus der empirischen Soziologie, die bereits in diesen Jahren so tat, als ob Herkommen oder Bildung im Rahmen einer bereits erreichten Chancengleichheit längst altmodisch und damit überfällig geworden seien. Wie schnell sich diese massenorientierte Markterweiterung in allen Bereichen der Medienindustrie vollzog, lässt sich anhand diesbezüglicher Statistiken leicht nachweisen. Beginnen wir mit dem Pressewesen. Während in diesem Zeitraum anspruchsvolle Tageszeitungen wie die Frankfurter Allgemeine, Die Welt, Das Handelsblatt und die Süddeutsche Zeitung nur von zwei bis drei Prozent der westdeutschen Bevölkerung gelesen wurden, erreichte ein nach angloamerikanischem Vorbild der »Yellow Press« konzipiertes Boulevardblatt wie die BILD-Zeitung in den späten fünfziger Jahren bereits etwa 30 Prozent der restlichen Leserwelt, wodurch sie aufgrund der ständig wachsenden Absatzzahlen zur sechstgrößten Tageszeitung der Welt aufstieg. Und zwar gelang der BILD-Zeitung das, indem sie im Sinne der forcierten Konsumanheizung dieser Jahre alles unterstützte, was in Richtung Aufstiegsbedürfnis und Genussverlangen tendierte. Deshalb stellte sie die bekannteren Filmstars, Schlagersänger, Politiker und Wirtschaftsgrößen, wie überhaupt alle »Promis« der bundesrepublikanischen Gesellschaft, gern mit dem rhetorischen »Wir«-Gestus des Populistischen als »Menschen wie Du und Ich« hin und griff all jene, die sich gegen die herrschende Konsumanheizung sowie den Erhard’schen Slogan vom »Wohlstand für alle« wandten, als nichtsnutzige »Störenfriede« an. Und der Erfolg dieser auf der Parole »Die D-Mark muss rollen!« beruhenden Strategie ließ nicht lange auf sich warten. So gaben um 1965 schon 74 Prozent der westdeutschen Leser und Leserinnen zu, diese Zeitung wenigstens einmal wöchentlich in die Hand zu nehmen. Die Zahl der regelmäßigen Leser und Leserinnen der Frankfurter Allgemeinen, die sich in ihrem Titel als repräsentativ »für Deutschland« ausgab, blieb dagegen im gleichen Zeitraum bei drei Prozent. Als ebenso erfolgreich erwiesen sich jene wöchentlich erscheinenden Nachrichtenmagazine mit Illustriertencharakter, deren Auflagenhöhe aufgrund ihres Sensationalismus und ihrer Unterhaltungstendenz schon gegen Mitte der fünfziger Jahre 160

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in die Millionen ging. Den größten Erfolg hatten damals auf diesem Sektor Rundfunk- und Fernsehblätter wie Hör Zu!, TV Hören und Sehen sowie Bild und Funk, die von etwa 60 Prozent der vornehmlich an Unterhaltungssendungen interessierten westdeutschen Bevölkerung gelesen wurden. Von den sogenannten Illustrierten erwiesen sich in diesen Jahren vor allem Blätter wie Stern, Quick und Neue Revue als die erfolgreichsten Publikumslieblinge, die eine Gesamtauflage von fünf Millionen hatten und jede Woche etwa 30 Millionen Leser und Leserinnen erreichten. Sie brachten meist sensationalistisch aufgezogene Mord-, Katastrophen-, Kalte Kriegsund Liebesgeschichten, während sie den Rest ihrer Seiten mit Reklamen, Inseraten, Rätseln, Preisausschreiben, Küchenrezepten, Comicstrips und Witzen füllten. Einen ebenso großen Umfang nahmen in den späten fünfziger und dann in den frühen sechziger Jahren die Frauen-, Mode- und Wohnkulturzeitschriften ein, zu denen einerseits Illustrierte wie Für Sie, Brigitte, Constanze, Ihre Freundin und Film und Frau, andererseits Blätter wie Schöner Wohnen, Burda Moden, Madame, Neue Mode und chic gehörten, deren Auflagen ebenfalls in die Hunderttausende gingen. Die sogenannte »Modernität« der in ihnen dargestellten Frauen erschöpfte sich allerdings meist darin, dass sie nicht mehr wie sparsame Hausmütterchen, sondern wie elegante, verbrauchsfreudige Damen wirkten, deren Lebensstil meist auf eine Renommiersucht hinauslief, der jener sich aus einem ungehemmten Konsumverlangen ergebende unsoziale Egoismus zugrunde lag, den seine Proponenten gern als »demokratisch« zu bemänteln versuchten. Eine etwas geringere Rolle spielte dagegen der Trend ins Wirtschaftswunderliche Anfang der fünfziger Jahre im Bereich des Rundfunks und des Fernsehens, die damals als wohlsubventionierte Anstalten des öffentlichen Rechts vorerst auf privatwirtschaftliche Reklamesendungen verzichten konnten. Ja, das Radio brachte in diesem Zeitraum anfänglich noch eine Fülle detaillierter Kulturnachrichten sowie anspruchsvoller Hörspiele. Auch in dem am 1. November 1954 als Gemeinschaftsprogramm der neun ARD-Anstalten gegründeten westdeutschen Fernsehen waren bis weit in die sechziger Jahre zahlreiche Dramen und Opern zu sehen, die sich vornehmlich an die »Gebildeten« wandten. Doch selbst auf diesem Sektor des Kulturverhaltens ließ sich im Zuge der allgemeinen Wirtschaftswundergesinnung der Trend ins »Eingängige« nicht aufhalten. Und das bewirkte selbst auf dem Gebiet des Fernsehens einen allmählichen Rückgang höhergearteter Kultursendungen zu Gunsten einer unübersehbaren Zunahme von Unterhaltungssendungen, zumal der Anschaffungspreis für die anfänglich recht teuren Fernsehgeräte aufgrund der steigenden Absatzrate schnell zurückging, was dazu führte, dass die Beliebtheit des Fernsehens die des Rundfunks zusehends überflügelte. Die Anzahl der Fernsehteilnehmer und -teilnehmerinnen überschritt daher im Jahr 1957 bereits die Millionengrenze. 1959 sahen bereits 3,3 und dann 1964 – nach 161

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dem ein Jahr zuvor gegründeten Zweiten Fernsehen (ZDF) – über zehn Millionen Westdeutsche »fern«. Vor allem die Mitglieder der gesellschaftlichen Unterschichten stierten damals Abend für Abend unentwegt in die auf Raten gekaufte »Glotze« oder »Flimmerkiste« und schalteten meist nur dann ab, wenn es politisch oder kulturell anspruchsvolle Programme zu sehen gab. Statistiken zufolge beklagten daher schon 1956 46 Prozent der Westdeutschen, dass es im Fernsehen nicht genügend Unterhaltungssendungen gebe. Was sie – neben Bunten Abenden, Schlagerparaden, Sportsendungen und Ratespielen – sehen wollten, waren vor allem Seifenopern, Krimis und Spionagefilme. Bei solchen Programmen stieg die Einschaltquote oft auf 40 bis 60 Prozent an, ja erreichte bei ausgesprochenen Publikumsknüllern manchmal bis zu 75 Prozent. Selbst das Werbefernsehen war bereits Mitte der sechziger Jahre so beliebt geworden, dass es von 35 Prozent der Gucklustigen fast regelmäßig gesehen wurde. Ein Journalist wie Hans-Joachim Lange schrieb daher schon 1959 in der für die Wirtschaftswundermentalität dieses Zeitraums besonders typischen Zeitschrift magnum im Hinblick auf den angeblich »wahrhaft demokratischen« Charakter des Fernsehens: »Unser Jahrhundert ist stolz darauf, dass die Teilhaberschaft an Werken des Geistes an keine Vorrechte mehr gebunden ist. Wenn diese Teilhaberschaft eine wahre Hilfe ist, dann darf der Geist nicht erröten, wenn er Jux, Spiel und lässliche Vergnügungen zu Nachbarn hat.«3 Dieselbe Entwicklung lässt sich in der wirtschaftswunderlichen Filmproduktion der fünfziger Jahre verfolgen. Auch hier setzten sich nach den Nachkriegs- und Trümmerfilmen vornehmlich jene Werke durch, welche den westdeutschen Kinobesuchern und -besucherinnen helfen sollten, die allzu grimmige Vergangenheit hinter sich zu lassen. Den Auftakt dazu bildeten die sogenannten Heimatfilme, in deren Wald-, Heide- und Almmilieu es zwar persönliche, aber keine politischen Konflikte zu geben schien. Wohl der bekannteste Filmemacher dieser, die altbewährte »heile Welt« der treuherzigen Mimili und ihres ehrwürdigen Aetti beschwörenden Gruppe war Hans Deppe, der mit Filmen wie Das Schwarzwaldmädel, Grün ist die Heide, Ferien vom Ich und Heideschulmeister Karsten zwischen 1950 und 1952 gleich vier solcher Filme auf den Markt brachte. Die gleiche Tendenz ins bewusst Harmonische lag jenen Filmen zugrunde, in denen die übliche Seifenopernliebe im Vordergrund stand, welche selbst die schlimmsten Gefährdungen übersteht, und die meist mit einer hingebungsvollen Kussszene in Nahaufnahme endeten. Ihre Stars und Divas, ob nun in Filmen wie Die große Versuchung (1952) von Rolf Hansen oder So lange du lebst (1955) von Harald Reinl, waren fast immer jene adretten, noblen Damen in Diorkleidern und Dauerwellen beziehungsweise Herren in schmucken Zweireihern und Schnurrbärtchen, wie sie auch in den damaligen Modezeitschriften zu sehen waren. Fast noch pene­ tran­ter gaben sich jene Filme, die ausschließlich im Fürsten- oder Hochadelsmilieu 162

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Abb. 38  Filmplakat (1956)

spielten. Dafür sprechen die überaus erfolgreiche Sissi-Serie über das Leben der bayerischen Prinzessin Elisabeth, die Ernst Harisch mit Romy Schneider zwischen 1955 und 1957 drehte, sowie Wolfgang Liebeneiners Königin Luise (1956) mit Ruth Leuwerick, die weitgehend im Milieu jener großen »Liebe« spielten, in dem lediglich einige Wetterwolken des Schicksals ihr Unwesen treiben, während das Politische oft nur als beiläufiges Akzidenz erscheint. All das erwies sich für die westdeutsche Filmindustrie in den frühen fünfziger Jahren als das ganz große Geschäft. Vor allem als die Farbfilme anliefen und das Breitwandverfahren eingeführt wurde, steigerte sich der Zustrom der Kinobesucher und -besucherinnen geradezu ins Astronomische. Im Zuge des allgemeinen Baubooms dieser Jahre wurden daher zu diesem Zeitpunkt eine Reihe gigantischer Filmpaläste, wie das Düsseldorfer Apollotheater und der Zoo-Palast in Berlin-Charlottenburg, gebaut, die beide über 2000 Sitzplätze aufwiesen. Erst als sich in den späten fünfziger Jahren immer mehr Westdeutsche einen Fernseher anschafften, schwächte dieser Zuschauerstrom wieder ab. Und so brachten die Filmkonzerne, die 1955 noch 128 Spielfilme hergestellt hatten, 1962 lediglich 61 Filme auf den Markt. Auch die Anzahl der aus den USA eingeführten Filme ging im Zeitraum merklich zurück. So 163

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importierte die BRD im Jahr 1962 nur noch 122 amerikanische Filme, während es 1958 noch 242 gewesen waren. Um auch die klassenspezifische Komponente dieser Entwicklung nicht aus dem Auge zu verlieren, sollte man dabei folgende Fakten nicht unterschlagen. Den einschlägigen Statistiken zufolge gehörte die Mehrheit der damaligen Kinogänger und -gängerinnen jener Bevölkerungsschicht an, die aufgrund ihrer geringen Bildungsvoraussetzungen weder ein Interesse für Theater- und Opernbesuche noch für Konzertveranstaltungen aufbrachten. All das erschien ihnen nicht nur zu teuer, sondern auch intellektuell viel zu »abgehoben«. Ihnen ging es vor allem um das Unterhaltsame, sie von ihrer ermüdenden Alltagsarbeit Ablenkende. 62 Prozent der befragten Arbeiter und Arbeiterinnen erklärten daher Mitte der fünfziger Jahre, als man sie nach dem Grund ihrer Kinobesuche befragte, dass sie dort einmal für zwei Stunden das »wirkliche Leben« vergessen könnten. Sie wollten deshalb nichts Kritisches oder Hochgestochenes, sondern vor allem Spannendes, Rührendes, Happyendliches, das heißt »Unreales« sehen. Und da ihnen die westdeutsche und amerikanische Filmindustrie all das in gehörigem Maße bot, sagten 80 Prozent der Kinobesucher und -besucherinnen im Jahr 1956, dass sie das Filmangebot durchaus »befriedige«. Angefacht durch dieselbe wirtschaftswunderliche Gesinnung breitete sich diese Tendenz ins Massenhafte, Unterhaltsame und damit Profitversprechende sogar in den bildenden Künsten der fünfziger Jahre aus. Dafür sprechen die in sogenannten Bilderfabriken hergestellten Ölgemälde, die anschließend in Warenhäusern, Rahmengeschäften und Devotionalienhandlungen zu relativ niedrigen Preisen zum Verkauf angeboten wurden. Manche dieser Bilderfabriken produzierten über 100.000 Ölgemälde im Jahr, um selbst Leuten mit weniger Geld die Chance zu bieten, sich für die Wand über dem Sofa ein hübsches Landschaftsbild oder einen röhrenden Hirsch anzuschaffen, während die von »wahren Künstlern« gemalten abstrakten oder gegenstandslosen Bilder damals fast ausschließlich von Museen oder vermögenden Privatsammlern angekauft wurden. Eine ähnliche Tendenz ins Massenhafte lässt sich in diesen Jahren im Bereich des Grafischen beobachten. Beweis dafür sind die plötzlich in vielen Illustrierten auftauchenden Comicstrips, wie die Serie Nick Knatterton in Quick und der Pin-up-­Comic Kessie in Stern, die es vorher in Deutschland kaum gegeben hatte. Dazu gesellten sich schnell Comic-Hefte mit Titeln wie Superman, Tarzan, Prinz Eisenherz sowie die Disney-­Serien Mickey Maus, Donald Duck und Klein Adlerauge. 1953/54 erschienen bereits 80 solcher Comicstrips in regelmäßigen Heftchenserien. Wenige Jahre später waren es schon über 200, von denen sich drei Millionen Exemplare pro Woche absetzen ließen. Ebenso nachdrücklich breitete sich in den späten fünfziger Jahren die Bilderflut der Reklame in den Illustrierten, den Zeitungen und dem Fernsehen aus. Die Statistiken meldeten zu diesem Zeitpunkt, dass durch sie in den Illustrierten bereits 164

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83,1, den Zeitungen 66,9, den Boulevardblättern 40,4 und dem Werbefernsehen 34,1 Prozent der westdeutschen Bevölkerung erreicht wurden. Schließlich waren es die Reklamen, welche der Wirtschaftswundergesinnung den leuchtendsten, gewinnendsten und damit profitabelsten Ausdruck verliehen. Auf ihnen sah man ständig jene elegant angezogenen, ewig lächelnden Menschen, die es bereits geschafft hatten und sich mit einer Cola, einem Fernsehapparat, einer als »würzig« angepriesenen Zigarette oder einem schnittigen Sportwagen den Wonnen ihrer wohlverdienten Freizeit hingaben. Ihnen schien nichts wichtiger zu sein als jenes Haben- und Besitzenwollen, das letztlich auf einen ins Konsumistische verflachten Materialismus hinausläuft. Während also politisch alles beim Alten blieb, rollte auf derartigen Reklamen die D-Mark geradezu unentwegt – genau wie jener legendäre Volkswagen, der auf den Reklamen der VW-Werke immer »lief und lief und lief«. Als Hintergrundgeräusch dieser wirtschaftswunderlichen Reklamewelt ertönte in den fünfziger Jahren ständig jene Unterhaltungsmusik, die den breiten Massen das Gefühl der Wohligkeit, des Beschwingtseins, des »With it« geben sollte, statt sich weiterhin groß Gedanken darüber zu machen, welche ideologische Absicht hinter der die Nachkriegsmisere ablösenden ökonomischen Beschleunigungsrate stand. Neben dem Radio spielte dabei anfangs vor allem die Schallplattenindustrie, also Firmen wie Elektrola, Teldec, RCA und Philips, eine wichtige Rolle, deren Zuwachsraten in diesem Zeitraum pro Jahr stets mehr als 40 Prozent betrugen. Und zwar handelte es sich hierbei erwartungsgemäß zum größten Teil um möglichst »eingängige« Produkte der deutschen und amerikanischen U-Musik, während der Anteil der älteren E-Musik, der in den zwanziger Jahren im Hinblick auf den Schallplattenverkauf noch 25 Prozent betragen hatte, auf 13 Prozent schrumpfte. Die Hauptgenres dieser Musik, die nicht nur auf Schallplatten, sondern im Zuge eines sich schnell herausbildenden medialen Verbundsystems zugleich im Kino, im Radio, in Filmen oder in Musikboxen erklangen, waren anfangs Operettenmelodien à la Eduard Künnecke, Franz Lehar und Johann Strauß, von Schlagerstars wie Perry Como, Freddy Quinn, Alexander Schneider, Frank Sinatra, Vico Torriani und Catarina Valente gesungene Hit Tunes sowie Walzer, Polkas, Tangos und Foxtrott-Rhythmen, zu denen im Laufe der Jahre die Hillbilly-Music, schmalzige Hawaii-Klänge und schließlich die verschiedenen Formen des American Jazz und Rock’n’Roll hinzukamen. Fast 50 Prozent dieser Art von Musik waren Liebesschnulzen, wie »Leben heißt Lieben«, »Wunder gibt es immer wieder« sowie »Ich brauche nur Deine Liebe / Und Musik, Musik, Musik«, welche die Mehrheit der Bevölkerung aus ihrer Alltagsroutine in die illusionäre Traumwelt eines besseren, beglückenderen Lebens entrücken sollten. Es war daher diese Art von Musik, von der die meisten Westdeutschen gar nicht genug hören konnten. So wünschten sich etwa 1954 67 Prozent der Radiohörer und 165

Die ehemalige Bundesrepublik

-hörerinnen vornehmlich Schlager, 13 Prozent vornehmlich volkstümliche Musik, elf Prozent vornehmlich Operettenmusik und nur neun Prozent vornehmlich klassische Musik. Ja, zehn Jahre später interessierten sich im Hinblick auf den Rundfunk bereits 71 Prozent ausschließlich für »leichte Musik« und nur noch drei Prozent für »ernsthafte Musik«. Wie stark dieses Hörverhalten mit den bildungsmäßigen Voraussetzungen der verschiedenen Bevölkerungsschichten zusammenhing, war nur allzu offensichtlich. So setzten sich von den Hörern und Hörerinnen mit Abitur damals 84 Prozent dafür ein, dass der Rundfunk auch »schwere Musik« bringen solle, während sich von jenen mit Volksschulbildung nur 26 Prozent für eine gewisse Tolerierung dieser Art von Musik aussprachen. Vor allem die Jugendlichen der gesellschaftlichen Unterschichten gaben sich von Anfang an viel schneller jener U-Musik hin, die ihnen wegen ihrer vielversprechenden Sinnlichkeit und ungehemmten Motorik als die einzige »zeitgemäße« Form von Musik erschien. Sie kauften deshalb schon um 1955 mehr als 50 Prozent aller Schlagerplatten. Demzufolge wurden von dieser Käufergruppe zwischen 1957 und 1960 annähernd 200 Millionen D-Mark für derartige Schallplatten ausgegeben. Ja, Anfang der siebziger Jahre galt es unter Dreizehn- bis Vierzehnjährigen bereits als Statussymbol, die letzten Schallplattenhits zu besitzen, während sie für die sogenannte klassische Musik fast überhaupt kein Interesse mehr aufbrachten. Daher konnten die großen Medienkonzerne – ungeachtet irgendwelcher Bildungsbestrebungen – immer mehr Produkte solcher Art auf den Markt bringen. Nicht ganz so wirkungsmächtig erwies sich dieser Trend ins Unterhaltsame auf literarischem Gebiet. So hat man immer wieder darauf hingewiesen, wie erfolgreich selbst anspruchsvolle Romane wie die von Hermann Hesse und Thomas Mann in den fünfziger Jahren waren und sich sogar Werke älterer Autoren und Autorinnen, ob nun von Waldemar Bonsels, Ludwig Ganghofer, Isabel Hamel, Ina Seidel, Alexan­ der Spoerl und Richard Voß, geschweige denn von zeitgenössischen Romanschriftstellern wie Willi Heinrich, Hans Helmut Kirst und Johannes Mario Simmel gut verkauft hätten. Ebenso erfolgreich sei die Einführung der RoRoRo-Taschenbücher gewesen, die schon nach wenigen Jahren zu einer steigenden »Demokratisierung« des Buchmarkts geführt habe. Zugleich hätten Buchgemeinschaften wie die »Büchergilde Gutenberg«, der »Deutsche Bücherbund«, der »Bertelsmann Lesering« und der »Europäische Buch-Klub« dafür gesorgt, dass Bestseller von Vicki Baum, Pearl S. Buck, Ernest Hemingway, John Knittel, Thyde Monnier und Annemarie Selinko »weit verbreitet« gewesen seien. Sogar führende Tageszeitungen, liest man häufig, hätten damals bedeutende Romane als Fortsetzungsserien abgedruckt. Doch was heißt schon »weit verbreitet«? Wenn man sich die einschlägigen Statistiken auf diesem Gebiet ansieht, bekommt man schnell ein ganz anderes Bild von den damals herrschenden Literaturverhältnissen. Gut, manche der zuvor er166

Die Ära des sogenannten Wirtschaftswunders

wähnten Autoren und Autorinnen waren tatsächlich erfolgreich, wurden aber eher von den Vertretern und Vertreterinnen der mittelständischen Schichten als von den breiten Massen gelesen. Was die Unterklassen in dieser Hinsicht bevorzugten, falls sie überhaupt Romane lasen, waren weitgehend die Werke jener Heftchenliteratur, deren Marktanteile die der »höheren« Literatur meist weit übertrafen. Ihre Produktion erreichte in den Jahren 1955/56 bereits 80 Millionen und stieg dann 1962 auf 130 und schließlich 1965 auf 175 Millionen pro Jahr an. Und zwar waren für die sechs marktbeherrschenden Verlage auf diesem Gebiet, nämlich Bastei, Kelter, Marken, Moewig, Pabel und Zauberkreis, etwa 1500 Groschenheftautoren und -autorinnen tätig, denen genau vorgeschrieben wurde, neben spannenden Handlungselementen zugleich darauf zu achten, in ihrer Personendarstellung stets jene Denk- und Fühlweisen im Auge zu behalten, die für die ungebildeten Leserschichten typisch seien. Die beliebtesten Genres dieser Heftchenromane waren einerseits die »weichen«, vor allem für Frauen gedachten Ehe-, Arzt-, Heimat- und Adelsromane, andererseits die »harten«, eher männliche Leser ansprechenden Wildwest-, Kriminal-, Zukunftsund Landserromane. Den Leserinnen wurde dabei in diesen Romanen, wie in vielen Filmen dieser Ära, als das höchste Glück der Erdenkinder stets die »große Liebe« versprochen, während den Männern, falls sie sich nicht in kriegerischen Situationen heroisch bewähren müssen, suggeriert wurde, dass sie eines »schönen Tages«, wie es in vielen Utopien heißt, als angesehene Wohlverdiener des Wirtschaftswunders in eleganten Villen oder luxuriösen Appartements wohnen sowie auf ihren Reisen in ferne Länder aufregende Abenteuer erleben würden. Während dabei anfangs die Liebesromane überwogen, waren es um 1960 eher die Detektiv-, Kriminalkommissar- oder Agentenromane, die zu den führenden Genres dieser Art von Literatur wurden, deren Zuwachsrate sich schnell verfünffachte. Ihre Haupthelden waren meist staatlich legitimierte, attraktive, unternehmungslustige Killertypen à la James Bond. Wohl der publikumswirksamste Renner dieser Art war die Serie G-Man Jerry Cotton, die seit 1959 allwöchentlich beim Bastei-Verlag erschien. Sie erreichte in den folgenden Jahren eine Gesamtauflage von 200 Millionen verkauften Exemplaren. Mit diesem stubenreinen Superman sollten sich vor allem aktive ins Leben greifende Männer identifizieren. Dazu passt, dass die versteckte oder offene Reklame der Jerry-Cotton-Hefte meist im Dienst amerikanischer Zigaretten, von Karatekursen, Body Building oder Potenzverstärkungsmitteln stand. Inhaltlich herrschte in ihnen fast immer der härteste Konkurrenzkampf, in dem man sich gnadenlos durchsetzen musste. Und zwar geschah das alles zum höheren Ruhm jenes Federal Bureau of Investigation, dessen Chef ein gewisser Mr. High ist, der eine unantastbare Autorität besitzt. Noch problematischer wirkt jene Landser-Serie beim Pabel-Verlag, die sich neben den Schildheften und Soldatengeschichten schnell an die Spitze der publikumswirksamsten Reihen dieser Art setzte und von der zwi167

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schen 1957 und 1965 380 Nummern herauskamen. Auch hier schoss man nur, um nicht selber erschossen zu werden. Irgendwelche Reflektionen über die Ursachen oder die Ziele des Zweiten Weltkriegs blieben dabei wohlbewusst draußen. Vor allem Adolf Hitler oder die NSDAP wurden nirgends erwähnt. Schlimm war in ihnen nur das »Rote«, aber nicht das »Braune«. Fast alle dieser Heftchenromane spielen daher an der Ostfront, wobei die kommunistischen Russen fast durchweg den Eindruck »roter Barbaren« oder »brutaler Horden« erwecken, während die Deutschen fast alle prächtige Kerle sind, die ihren verantwortungsbewussten Vorgesetzten nur allzu willig Gefolgschaft leisten. Dass diese »prächtigen Kerle« in diesem Krieg über 26 Millionen Sowjetbürger und -bürgerinnen umgebracht haben, wurde dagegen, wie auch in Heinz Günther Konsaliks Bestseller Der Arzt von Stalingrad (1956), in keinem dieser Heftchenromane erwähnt. Schließlich waren die Gegner von damals inzwischen im Zuge der Kalten-Kriegs-Propaganda schon wieder zu den neuen politischen Hauptgegnern geworden, denen gegenüber man keine Schuldgefühle zu haben glaubte. Doch nun zu der abschließenden Frage, welche Folgen die Soziologen und Meinungsbefragungsinstitute der fünfziger Jahre daraus im Hinblick auf das Leseverhalten der westdeutschen Bevölkerung gezogen haben. Da sie hierbei meist formalsoziologisch, das heißt unter Nichtberücksichtigung der ideologischen und klassenspezifischen Aspekte vorgegangen sind, begnügten sie sich fast immer höchst pauschalisierend mit dem statistisch ermittelten Ergebnis, dass das Bücherlesen innerhalb der damaligen Freizeitbeschäftigungen nach der Zeitungslektüre, dem Fernsehen, dem Radiohören und der Illustriertenlektüre sicher nur die fünfte Stelle eingenommen habe. Allerdings stützten sich viele dieser Statistiker dabei fast ausschließlich auf die Verkaufszahlen traditioneller Buchtypen, ohne auch den wesentlich größeren Umsatz von Zeitungs-, Illustrierten- und Heftchenromanen zu berücksichtigen, der wesentlich schwerer zu ermitteln ist. Schließlich kamen auf jeden »lesenden Schöngeist«, wie es im Branchenjargon der fünfziger Jahre noch hieß, sicher etwa 15 Leser und Leserinnen, die lediglich Zeitungs-, Illustrierten- oder Heftchenromane »verschlangen«. Während also in diesem Zeitraum nur etwa sieben bis zehn Prozent der westdeutschen Bevölkerung Romane in gebundener Form lasen, hielt sich die Mehrheit der anderen vornehmlich an die in Groschenheften erscheinende Trivialliteratur. Soziologisch konkretere Einsichten in das tatsächliche Leseverhalten dieser Ära gewinnt man daher erst dann, wenn man sich jene Statistiken ansieht, die über solche formalsoziologischen Kriterien hinausgehen und auch die Schulbildung und das Einkommen der damaligen Leserschichten berücksichtigten. In ihnen erfährt man, dass die gebildete Oberklasse ihre Bücher hauptsächlich in etablierten Buchhandlungen erwarb, während es von den Mitgliedern der gesellschaftlichen Unterschichten nur vier Prozent wagten, sich überhaupt in solchen Etablissements um168

Kritik am »Establishment« seit 1961

zusehen. Und das führte dazu, dass um 1960 40 Prozent der Arbeiterfamilien noch kein einziges Buch besaßen und die Schichten mit Abitur bereits über relativ staatliche Bibliotheken verfügten. Doch fast noch wichtiger als solche Erhebungen ist das Faktum, welche Art von Lektüre die verschiedenen Bevölkerungsschichten in der wirtschaftswunderlichen Zeit zwischen 1950 und 1965 tatsächlich bevorzugten. Grob gesprochen lasen in diesem Zeitraum nur etwa sechs Prozent sogenannte »qualifizierte« Literatur und etwa 74 Prozent sogenannte »unqualifizierte« Literatur, während 20 Prozent überhaupt nicht lasen. Zu der qualifizierten Literatur zählten damals vor allem Klassiker, Fachliteratur, Biografien und anspruchsvolle Belletristik, zu der unqualifizierten Literatur, wie bereits ausgeführt, die vielen Krimis, Liebesromane sowie die geradezu unübersehbare Flut der Illustrierten- und Heftchenromane. Wie in allen anderen Bereichen der westdeutschen Kultur blieb es daher – gesamtgesellschaftlich gesehen – in den fünfziger Jahren trotz aller noch so lauthals verkündeten Demokratisierungsparolen nach wie vor bei dem seit langem bestehenden krassen Gegensatz zwischen einer höhergearteten E-Kultur und einer trivialen UKultur, was sich nur allzu deutlich als ein Spiegelbild der weiterbestehenden Klassengegensätze zu erkennen gibt. Obwohl die bildungsbürgerlichen Schichten nur eine geringfügige Minderheit bildeten, hielten sie dennoch weiterhin an ihrem kulturellen Stellvertretungsanspruch fest und bevorzugten nach wie vor die sie ansprechende ältere E-Kunst, ja ließen sogar eine ins ideologisch Unverbindliche ausweichende modernistische Kunst gelten. Dagegen wurden die gesellschaftlichen Unterschichten auf eine möglichst marktgerechte Weise mit jenen Produkten der Unterhaltungsindustrie abgespeist, die sie entweder von den gesellschaftlichen Gegensätzen ablenken oder ideologisch in eine Kalte-Kriegs-Stimmung versetzen sollten. Welche Autoren, Politiker, Kulturkritiker sowie rebellisch auftretenden Gruppen seit der Wende von den späten fünfziger zu den sechziger Jahren gegen diese wirtschaftswunderlichen Taktiken und die sich in ihnen widerspiegelnden kulturellen Ausprägungen in die Schranken zu treten versuchten, wird den Schwerpunkt des nächsten Kapitels bilden. Kritik am »Establishment« seit 1961

Da nach dem überwältigenden Wahlsieg der CDU/CSU im Jahr 1957, welcher dieser Partei die absolute Mehrheit im Bundestag beschert hatte, der Regierungsstil Konrad Adenauers ständig autoritärer wurde, setzten viele seiner Kritiker bei den Wahlen im Jahr 1961 in ihrer Hoffnung auf eine Wende zu eher »demokratischen« Verhältnissen auf die bisher von ihnen nicht besonders geschätzten Sozialdemokraten. Schließlich hatte nach dem Tod des relativ bedeutungslosen Erich Ollenhauer inzwischen in dieser Partei jener forsch auftretende Willy Brandt die Führung über169

Die ehemalige Bundesrepublik

nommen, dem seine Anhänger durchaus zutrauten, der nächste Bundeskanzler zu werden. Und das glaubten nicht nur seine Parteigenossen und -genossinnen, sondern auch eine staatliche Reihe jener linksliberalen Intellektuellen, die trotz aller der CDU/CSU zugute kommenden wirtschaftswunderlichen Erfolgsnachrichten wegen der von Brandt ausgegebenen Parole »Mehr Demokratie wagen!« der SPD dennoch die Chance gaben, bei den nächsten Wahlen ihren Stimmenanteil erheblich vergrößern zu können oder gar die Mehrheit zu erringen. Dafür sprechen unter anderem die in diesem Jahr erschienenen manifestatorischen Sammelbände Ich lebe in der Bundesrepublik von Wolfgang Weyrauch sowie Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung? von Martin Walser, in denen sich Autoren wie Carl Amery, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Walter Jens, Wolfgang Koeppen, Erich Kuby, Siegfried Lenz, Hans Werner Richter, Peter Rühmkorf und ähnlich Gesinnte dafür einsetzten, die von den westlichen Besatzungsmächten von oben verordnete bundesrepublikanische Formaldemokratie endlich mit einem aufklärerischen, reformfreudigen Geist zu erfüllen. Und das gehe nur, wie sie erklärten, wenn man sich zu einer verstärkten Vergangenheitsbewältigung, einem progressiven, wesentlich breitere Schichten der Bevölkerung erfassenden Bildungssystem sowie einer sozialbetonten Ideologie entschließen würde, die nicht vorwiegend auf konsumankurbelnden Verheißungen basiere, durch die eine Generation groß geworden sei, deren Vertreter vorwiegend ihre subjektive Selbstrealisierung im Auge hätten, während sie das Politische bedenkenlos »denen da oben« in Bonn überließen. Nun, die SPD konnte bei den Wahlen im Jahr 1961 ihren Stimmenanteil zwar vergrößern, aber nicht die erhoffte Mehrheit erringen. Und so blieb die CDU/CSU, die sich weiterhin vornehmlich auf ihre wirtschaftlichen Erfolge berief, in Partnerschaft mit der FDP an der Macht. Dennoch hörte die Kritik an ihrem autoritären Regierungsstil keineswegs auf, ja nahm wegen der Spiegel-Affäre im November 1962, als sie selbst vor Haussuchungen, Beschlagnahmungen und Verhaftungen nicht zurückschreckte, eher zu als ab. Demzufolge gab Hans Werner Richter in diesem Jahr einen Sammelband unter dem Titel Bestandsaufnahme. Eine deutsche Bilanz heraus, in dem sich die bereits genannten Autoren wiederum gegen die nur allzu offensichtlichen Einschränkungen einer kritischen Öffentlichkeit wandten. Richter bedauerte in seinem Nachwort sogar, dass irgendwelche »sozialistischen Ideen« in der Bundesrepublik noch immer von vielen »Tabus« umstellt seien und deshalb alle auf Veränderung bedachten »utopischen« Vorstellungen zu Gunsten einer Status quo-Gesinnung verschwunden seien, die immer stärker ins Eindimensionale verflache. »Überall fehlt es an Konzepten«, lautete daher sein Fazit, was stattdessen herrsche, sei die »Angepasstheit an die Angepasstheit«.4 Doch trotz aller vorerst erfolglos bleibenden Kritik nahm der Widerspruchsgeist der auf eine verstärkte Demokratisierung der Bundesrepublik drängenden Intellek170

Kritik am »Establishment« seit 1961

tuellen keineswegs ab, sondern nahm in den folgenden Jahren ständig zu. Dafür sprechen nicht nur Dramen wie Der Stellvertreter (1963) von Rolf Hochhuth und Die Ermittlung (1965) von Peter Weiss, die sich mit dem bisher weitgehend gemiedenen Thema der Vergangenheitsbewältigung auseinandersetzten, sondern auch eine von Horst Krüger unter dem provozierenden Titel Was ist heute links? Thesen und Theorien zu einer politischen Situation (1963) publizierte Broschüre, deren Autoren die »heimatlosen Linken« aufforderten, endlich den Status bloßer »Neinsager« aufzugeben und sich zu einem konkreten Engagement für die Sozialdemokratie durchzuringen. Und dieser Trend hielt auch in den nächsten beiden Jahren an und führte dazu, dass sich viele der kritischen Intellektuellen im Wahlkampfjahr 1965 erneut auf Seiten der SPD engagierten. Ein Beweis dafür ist jener im Frühjahr dieses Jahrs von Hans Werner Richter herausgegebene Sammelband Plädoyer für eine neue Regierung oder Keine Alternative, in dem sich Autoren wie Carl Amery, Axel Eggebrecht, Erich Fried, Günter Grass, Rolf Hochhuth, Walter Jens, Reinhard Lettau und Peter Weiss zu SPD-Politikern wie Willy Brandt, Fritz Erler, Gustav Heinemann, Carlo Schmid und Helmut Schmidt bekannten. Obwohl sich manche dieser Autoren im Rahmen eines »Wahlkontors« unermüdlich für die SPD einsetzten, indem sie Wahlreden hielten oder bei Aufrufen Formulierungshilfe leisteten, unterlag die SPD auch bei dieser Wahl noch einmal der CDU/CSU. Schließlich war diese – nach dem Rücktritt Konrad Adenauers im Jahr 1963 – diesmal unter Ludwig Erhard, dem »Mr. Wirtschaftswunder«, in den Wahlkampf gezogen, in dem die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung nach wie vor den wichtigsten Garanten eines durch die industrielle Zuwachsrate ermöglichten »Wohlstands für alle« sah. Und so bewahrheitete sich wieder einmal die alte These, dass in ökonomischen Hochkonjunkturzeiten regierungskritische Stimmen meist nicht viel ausrichten und erst dann wirksam werden, wenn plötzlich im Zuge der in Zyklen verlaufenden industriellen Produktion eine ökonomische Krisensituation den bis dahin viel beschworenen Status-quo-Zustand zu bedrohen beginnt. Als daher eine solche Rezession in den Jahren 1966/67 plötzlich einsetzte, wodurch es zu ausbleibenden Investitionen, zu sinkenden Lohnquoten, zu Arbeitslosigkeit und damit zu einem merklichen Rückgang der industriellen Zuwachsrate kam, löste das unter der da­ rauf nicht vorbereiteten Bevölkerung einen solchen Schock aus, dass sich eine Unruhestimmung verbreitete, die immer weitere Schichten ergriff. Vom bisherigen »Wirtschaftswunder« war daher angesichts dieser Situation plötzlich keine Rede mehr. Im Gegenteil, um nicht ins Chaotische abzugleiten, beschwor die CDU im Herbst 1966 den zuvor beliebten Ludwig Erhard, zurückzutreten, worauf sie unter der Kanzlerschaft von Kurt Georg Kiesinger mit der SPD unter Willy Brandt als Vizekanzler eine »Große Koalition« einging, um die krisenhafte Situation durch die Verabschiedung mehrerer sogenannter Notstandsgesetze in den Griff zu kriegen. Ja, 171

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Abb. 39  Rainer Hachfeld: Karikatur (1968)

der SPD-Politiker Karl Schiller, der neue Wirtschaftsminister, versuchte durch ein »Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft« umgehend durch staatliche Eingriffe im Rahmen einer »Konzertierten Aktion« wiederum die ökonomische Zuwachsrate in Gang zu setzen und damit ein weiteres Ansteigen der Arbeitslosigkeit zu verhindern. All das bewirkte zwar auf industrieller Ebene eine Reihe produktionssteigernder Resultate, befriedigte aber die auf eine stärkere Demokratisierung der westdeutschen Verhältnisse drängenden Bevölkerungsschichten keineswegs. Vor allem die Enttäuschung, dass sich die SPD zu einer »Großen Koalition« mit der CDU bereitgefunden hatte, wodurch es – außer der FDP – im Bundestag keine anderen Parteien mehr gab, führte schließlich dazu, dass sich eine Außerparlamentarische Opposition, kurz APO genannt, bildete, die ihren Widerspruchsgeist vor allem in Straßenumzügen auszudrücken versuchte. Ihren ersten Höhepunkt erlebte diese rebellische Gesinnung im Juni 1967, als bei einer dieser Demonstrationen der Student Benno Ohnesorg in West-Berlin von einem durch die konservativen Massenmedien aufgeputschten Polizisten erschossen wurde, ja nahm nach dem im April des folgenden Jahrs von einem jungen Hilfsarbeiter mit den Worten »Du dreckiges Kommunistenschwein« erfolgten Attentat auf Rudi Dutschke, einen der Anführer des »Sozialistischen Deutschen Studentenbunds« (SDS), immer größere Ausmaße an. 172

Kritik am »Establishment« seit 1961

Doch nicht nur diese beiden Ereignisse, auch die Verabschiedung der Notstandsgesetze, die Proteste gegen den Vietnam-Krieg, die Nazivergangenheit Kurt Georg Kiesingers, die reaktionäre Ordinarienstruktur der Universitäten, die ideologischen Manipulationstendenzen in den Massenmedien, die altertümlichen Moralvorstellungen, mit anderen Worten, alle Machenschaften des als undemokratisch empfundenen »Establishments« wurden von diesen Gruppen radikal in Frage gestellt. Und das führte, wie in vielen derartig spontan ausbrechenden Revolten, zwangsläufig dazu, dass es aufgrund einer mangelnden parteipolitischen Bindung zu einer geradezu unüberschaubaren Vielfalt von rebellisch auftretenden Gruppenbildungen kam, die sich als Anarchisten, Sozialisten, Pazifisten, Kommunarden, Sexrebellen oder schlichtweg als Antiautoritäre verstanden und sich untereinander zum Teil ebenso erbittert bekämpften, wie sie gegen das von allen APO-Anhängern gehasste »Establishment« zu Felde zogen. Gut, es gab im Zuge dieser Aufstände auch einige Parteibildungen, ob nun die der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) oder der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Doch die blieben, was die Anzahl ihrer Anhänger betrifft, eher marginal. Die Mehrheit der »Achtundsechziger«, wie sie allgemein genannt wurden, verwarf das Parteiensystem schlechthin und huldigte eher einer Randgruppenstrategie oder einem anarchischen Selbstrealisierungsdrang. Als es daher 1969 erneut zu Wahlen kam, gelang es wiederum nur der CDU/ CSU, der SPD und der FDP die Fünfprozentgrenze zu überspringen und in den Bundestag einzuziehen. Der einzige Wandel, der auf dieser Ebene eintrat, war, dass sich die FDP plötzlich der SPD anschloss und daher Willy Brandt das Kanzleramt übernehmen konnte. Doch das änderte an der ideologischen Haltung der APO-­ Bewegung nicht viel, da die SPD zwar die Gründung einer Reihe relativ progressiver Universitäten wie Bremen, Hannover und Osnabrück unterstützte, die in den reaktionären Massenmedien umgehend als »rote Kaderschmieden« verteufelt wurden, sowie eine versöhnlerische Haltung gegenüber der bisher als Unstaat bezeichneten »Ostzone« einnahm, ja die Deutsche Demokratische Republik sogar als souveränen Staat anerkannte, aber auf vielen anderen Gebieten durchaus die Politik des älteren »Establishments« weiterführte. Und so blieb die ideologische Abwehrhaltung der meisten Gruppen der sogenannten Achtundsechziger Bewegung bis in die frühen siebziger Jahre nach wie vor unverändert. Statt sich zu einer Partei zusammenzuschließen, um ihre Forderungen möglicherweise im Bundestag durchzusetzen, hielt sie weiterhin an ihrer von Herbert Marcuse angeregten Randgruppenstrategie fest, ja splitterte sich zusehends in eine Fülle zum Teil gleichgearteter, zum Teil sich hartnäckig befehdender Cliquen und Zirkel auf. Neben der politischen Vielfalt der APO-Anhänger lässt sich das ebenso nachdrücklich im Hinblick auf ihre Haltung gegenüber der bestehenden Kultur des »Establishments« sowie den von ihnen ins Auge gefassten neuen antiautoritären 173

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künstlerischen Bestrebungen nachweisen. Aufs Große und Ganze gesehen kam es dabei zu drei höchst verschiedenen Verhaltensweisen: 1.) in ihrer Einstellung zu den bisher als hochkulturell geltenden Meisterwerken der Vergangenheit nicht mehr vorwiegend die als barock, klassisch oder romantisch hochgelobten, sondern die liberal oder gar revolutionär gesinnten Werke herauszustellen und in ihnen Vorbilder für die heutigen Kulturbemühungen zu sehen, 2.) auf den älteren Hochkulturanspruch von vornherein zu verzichten und sich in Medien wie dem Film, dem Fernsehen oder fortschrittlich eingestellten Romanen, Bildern und Musikwerken um eine wahrhaft »zeitgemäße« Kunst zu bemühen sowie 3.) »höhergearteten« Kunstformen, ob nun der Gegenwart oder der Vergangenheit, keinerlei Beachtung mehr zu schenken, da diese lediglich den Repräsentationsbedürfnissen der bildungsbürgerlichen Oberschichten entsprächen und stattdessen rückhaltlos für eine Pop-Kultur einzutreten, in der vor allem der Selbstrealisierungsdrang antiautoritär eingestellter Individuen vorherrschen solle. Ad 1: Für die erste Richtung sprechen nicht nur die Bemühungen der mit den Hochkulturambitionen der DDR sympathisierenden DKP-Anhänger, sondern auch all jene Bestrebungen, die von jenen linksorientierten Anhängern der Achtundsechziger-Bewegung ausgingen, welche sich damals für die Aufarbeitung jener progressiven Werke innerhalb der deutschen Kultur einsetzten, die lange Zeit, und zwar nicht nur von den Nazifaschisten, sondern auch von den Konservativen der fünfziger Jahre unterdrückt worden waren. Das gilt vor allem für die plötzlich erscheinenden Studien über die Mainzer Jakobiner, die Vormärzler, die Naturalisten, die Novembristen sowie die linken Emigranten und Emigrantinnen der dreißiger Jahre, also Bert Brecht, Hanns Eisler, John Heartfield, Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, Anna Seghers und Arnold Zweig, die seit 1966/67 neu aufgelegt oder aufgeführt wurden und mit denen anspruchsvolle Verlage wie Fischer und Suhrkamp beträchtliche Marktanteile erringen konnten. Ja, die in Regenbogenfarben erstrahlende edition suhrkamp, in der gleichzeitig eine stattliche Reihe linkstheoretischer Schriften erschien, wurde unter vielen Achtundsechzigern geradezu zum ideologischen Leitfaden ihrer politischen Gesinnung. Eine ähnliche Resonanz hatten in diesen Schichten für ein paar Jahre Zeitschriften wie Alternative, Argument, konkret und Kursbuch, die einen erheblichen Linksdrall aufwiesen und vor allem von ähnlich gestimmten Studenten und Studentinnen gelesen wurden. Und zwar fanden diese Gruppen, wie etwa der »Sozialistische Deutsche Studentenbund«, die in der BRD herrschenden Vermögensverhältnisse, nach denen 1969 nur 1,7 Prozent der Bevölkerung über 51 Prozent des Volksvermögens verfügten, nicht nur ungerecht, sondern wiesen wie Wolfgang Fritz Haug in seiner Kritik der Warenästhetik (1971) zugleich darauf hin, welche manipulativen Taktiken in den Massenmedien aufgeboten würden, diesen Zustand mit beschönigenden Worten als »Volkskapitalismus« oder »Wohlstand für alle« auszugeben.5 174

Kritik am »Establishment« seit 1961

Abb. 40  Titelblatt (1970)

Erst als derartige Publikationen auf den Widerstand der von diesen Gruppen weiterhin als Teil des »Establishments« abgelehnten SPD-Regierung stießen, die im Laufe der siebziger Jahre derartigen Bestrebungen mit Radikalenerlassen und Berufsverboten entgegenzutreten versuchte, erlahmte das Interesse der Achtundsechziger Bewegung an solchen Schriften wieder. Und zwar geschah das nicht nur wegen des Gegendrucks von oben, sondern auch aufgrund der Einsicht, dass die meisten ihrer Bemühungen trotz aller dabei aufgebotenen Vehemenz, mit der sie sich zum Teil zu Karl Marx, Wladimir Lenin, Mao Tse-tung und Che Guevara bekannten, wegen der dahinterstehenden Randgruppenstrategie keine breitenwirksamen Erfolge gezeitigt hatten. Schließlich waren die Unterklassen, auf deren Unmut vor allem die von marxistischen Ideen Beeinflussten unter ihnen ihre gesellschaftsverändernden Hoffnungen gesetzt hatten, nach der auch diese Bevölkerungsschichten verstörenden ökonomischen Krise von 1966/67 im Zuge der danach einsetzenden Stabilisierung der westdeutschen Industrieproduktion wieder zu ihrer wirtschaftswunderlichen Einstellung zurückgekehrt. Viele unter ihnen hatten sich in ihrer Freizeit inzwischen erneut den »Wonnen der Gewöhnlichkeit« hingegeben, statt sich für politische, ökonomische und kulturelle Veränderungen im gesellschaftlichen Gefüge der BRD zu engagieren. Ad 2: Die eher linksliberal eingestellten Gruppen unter den Achtundsechzigern, denen es auf kulturellem Gebiet vor allem um die Herausbildung einer wahrhaft 175

Die ehemalige Bundesrepublik

»zeitgemäßen« Kunst ging, knüpften dagegen eher an jene Bemühungen an, die bereits in den frühen sechziger Jahren im Zuge der damals einsetzenden Vergangenheitsbewältigung, ob nun in Dramen wie Der Stellvertreter (1963) von Rolf Hochhuth und Die Ermittlung (1965) von Peter Weiss oder dem Roman Ansichten eines Clowns (1963) von Heinrich Böll höchst kritisch auf die gesellschaftlichen Missstände in der Bundesrepublik eingegangen waren. Allerdings bedienten sich diese Gruppen jetzt weniger literarischer Hochformen wie des Dramas oder des Romans, sondern eher der Reportage oder des Films, von denen sie sich eine größere Resonanz versprachen. Unter jenen, die dabei im Gegensatz zu den als allzu »fiktiv« geltenden Romanen eher authentische Tonbandaufzeichnungen bevorzugten, erregte vor allem Erika Runge mit ihren Bottroper Protokollen (1968) Aufsehen, worin es um jene Menschen ging, die sich plötzlich durch die Zechenstilllegungen im Ruhrgebiet von der Gefahr der Arbeitslosigkeit bedroht sahen. Neben den Arbeitern waren es vornehmlich Frauen, welchen diese Linksliberalen endlich die Zunge zu lösen versuchten. Dafür sprechen neben dem Band Frauen (1970), den Erika Runge zusammenstellte, vor allem das von Martin Walser herausgegebene Buch Frauenleben (1968) sowie der von Bernhard Schütze edierte Lebensbericht Rosalka oder Wie es eben so ist (1969), die vornehmlich die Inhumanität der herrschenden Gesellschaftsschichten gegenüber unterprivilegierten Frauen aufs Korn nahmen. Als ebenso wichtig wie derartige Protokolle wurden im linksliberalen Lager die 13 unerwünschten Reportagen (1969) von Günter Wallraff empfunden. Um die nötigen Fakten für diesen Band zusammenzustellen, hatte sich sein Autor auf höchst ingeniöse Weise in Gutshäuser, Obdachlosenasyle, Irrenanstalten, Beichtstühle und paramilitärische Organisationen großer Konzerne eingeschlichen, um über die »versteckte Realität unserer Republik aufzuklären«.6 Und diese Enthüllungstaktik bewirkte nicht nur unter den Achtundsechzigern, sondern auch darüber hinaus einen solchen Eklat, dass dieses Buch für kurze Zeit zum Bestseller aufstieg. Unter den literarischen Werken dieser Richtung war ein solcher Erfolg vor allem der Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1974) von Heinrich Böll beschieden, in der es um die Aufdeckung infamer Machenschaften der BILD-Zeitung ging. Weniger beachtet wurden dagegen die Publikationen der »Werkkreise Literatur der Arbeitswelt«, die zwar beim Fischer Verlag herauskamen, aber in ihrer schlichten Schreibweise die bürgerlichen Sympathisanten der APOBewegung weniger ansprachen als die feministisch oder sensationell aufgezogenen Bücher der anderen linkskritischen Autoren und Autorinnen. Im Bereich der bildenden Künste waren es seit den frühen sechziger Jahren unter anderem jene Maler und Kunsttheoretiker wie Klaus-Jürgen Fischer, HAP Grieshaber, Richard Hiepe, Karl Hubbuch und Carlo Schellemann, die sich im Rahmen der Gruppe »Tendenzen« gegen den vom »kulturellen Management« geförderten Abstraktionismus wandten, bei dem »schlimmster Ästhetizismus und schönster 176

Kritik am »Establishment« seit 1961

Konformismus Hand in Hand« gingen, wie sich Reinhard Müller-Mehlis bereits 1962 ausdrückte.7 Was sie dagegen forderten, war ein »gesellschaftskritischer Realismus«, für den es keinerlei Tabus beim Aufzeigen sozialer Missstände mehr geben dürfe. Obwohl solche Appelle zu einer Fülle aufmüpfiger Grafiken, Plakate, Comics und Wandmalereien führten, konnte sich jedoch dieser Trend, da hinter ihm keine finanzstarken Verlage oder anderweitigen Kulturorganisationen standen, nicht als eine neue Kunstrichtung durchsetzen, sondern blieb zwangsläufig eine zwar zeitweilig Aufsehen erregende Episode, aber erlosch danach weitgehend folgenlos.

Abb. 41  Heinz Edelmann: Yellow Submarine (1968)

Auf der Ebene der widersetzlichen Musik waren es in diesen und den folgenden Jahren vor allem Sänger wie Franz-Josef Degenhardt, Hans Dieter Hüsch, Udo Lindenberg und Dieter Süverkrüp sowie Ensembles wie das Berliner Reichskabarett, Floh de Cologne, die Frankfurter Freimauler, das Linksradikale Blasorchester und die Band Ton, Steine, Scherben, die mit provokanten Auftritten und Schallplatten jene APO- oder Gewerkschaftsgruppen anzusprechen versuchten, von denen sie sich eine ebenso aufmüpfige Gesinnung erhofften. Und das gelang ihnen auch für einige Jahre, worauf sie von der immer stärker werdenden Rock-Welle wieder in den Hintergrund gedrängt wurden. 177

Die ehemalige Bundesrepublik

Was Werken dieser Art in der Filmproduktion des gleichen Zeitraums entsprach, waren vor allem jene Filme, deren Regisseure sich seit dem Oberhausener Manifest von 1962 dafür einsetzten, nicht mehr dem allgemeinen Trend zur Polarisierung in das große U und das kleine E, also den gängigen Kintoppfilm und den exquisiten Cinéastenfilm, nachzugeben, sondern in diesem Genre alle Schichten der Bevölkerung über die »wahren Zustände« in der Bundesrepublik aufzuklären. Statt also weiterhin vornehmlich Heimat-, Adels- oder Herzkinofilme zu drehen, mit denen man in den fünfziger Jahren die Masse der Kinobesucher und -besucherinnen unterhalten hatte, fassten sie vor allem Themen ins Auge, bei welchen es um die Bewältigung der nazifaschistischen Vergangenheit, die Frauenemanzipation, die Beseitigung moralischer Tabus sowie eine Kritik an der verbreiteten Wirtschaftswundermentalität gehen sollte. Typische Beispiele dafür sind unter anderem Filme wie Es (1966) von Ulrich Schamoni und Die goldene Pille (1967) von Horst Manfred Adloff, die sich gegen das weiter bestehende Abtreibungsverbot wandten und für die Einführung der schwangerschaftsverhütenden Pille einsetzten, sowie Jagdszenen aus Niederbayern (1968) von Peter Fleischmann, der den verbreiteten Hass auf sexuelle Außenseiter zum Thema hat. Doch die größten Erfolge bei den kritisch gestimmten Schichten erzielte in diesen Jahren Rainer Werner Fassbinder mit seinen Filmen Katzelmacher (1969) und Angst essen Seele auf (1973). Auch die Filme Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1975) von Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta sowie Fassbinders Die Ehe der Maria Braun (1975) interessierten noch ein relativ breit gestreutes Publikum. Doch dann flaute die Welle derart kritischer, wenn nicht gar aufmüpfiger Filme allmählich ab. Das beweist schon der Film Deutschland im Herbst (1978), an dem sich viele dieser Regisseure beteiligten und in welchem eher eine Stimmung der Melancholie als jener widerborstige Geist herrschte, mit dem die Vertreter des »Neuen deutschen Films« seit den frühen sechziger Jahren angetreten waren. Ad 3: Eine umso größere Breitenwirkung innerhalb all dieser Gruppen, die sich als linksorientierte Achtundsechziger oder kritische Realisten verstanden, hatten dagegen jene Provotarier, denen es bei dieser Außerparlamentarischen Opposition von Anfang an weniger um gesellschaftskritische Zielvorstellungen als um die Durchsetzung eines bindungslosen Ichverlangens ging, das sich an keine der als einengend empfundenen Moral- oder Kulturkonzepte des älteren »Establishments« mehr gebunden fühlte. Im Rahmen dieser Gruppen wollte man ganz »frei«, ganz »Ich« sein, was man als rebellisch verstand, ohne zu merken, dass man dadurch die in den fünfziger Jahren angekurbelten Konsumbedürfnisse nun auch in moralischer und kultureller Hinsicht anzuheizen versuchte. Und das wurde von den einschlägigen Geschäftemachern auch sofort verstanden und in ihrem Sinne schamlos ausgenutzt. Dafür sprechen Filme wie Deine Frau, das unbekannte Wesen (1969) von Oswalt Kolle, 178

Kritik am »Establishment« seit 1961

die damals viel beachteten Beate-Uhse-Läden, der schnell populär werdende Song »All You Need Is Love« der Beatles, ein Musical wie Hair (1968), die knalligen Sexplakate sowie das erotisierte Hippie-Gebaren, welche in einigen Branchen der Vergnügungsindustrie eine Profitwelle größten Ausmaßes in Gang setzten. Nachdem in den fünfziger Jahren – trotz aller Konsumpropaganda – auf moralischem Gebiet noch eine relativ prüde Gesinnung vorgeherrscht hatte, wollten jetzt viele, vor allem die Jüngeren, unter dem Motto »Wer zweimal mit der Gleichen pennt, gehört schon zum Establishment« sich auch auf diesem Gebiet so viel wie möglich einverleiben. Alles, was dem entgegentrat, wurde daher von ihnen von vornherein verworfen. Und das waren nicht nur die älteren Moralvorstellungen, sondern auch die als »affirmativ« geltende Hochkultur. In Wiederholung der »Kunstlump«-Debatte von 1919 empfanden diese Schichten die bisherige E-Kultur als »Daddy’s Culture«, das heißt als frustrierend oder sublimativ, was endlich abgeschafft werden sollte. Unter dem Einfluss der amerikanischen Underground-Szene war für sie Kunst – neben Drogen – vornehmlich das, was sie als »easy«, »soft«, »sensual« und damit »eroticizing« begrüßten, wofür in konzentrierter Form die Anthologie ACID. Neue amerikanische Szene (1969) von Rolf Dieter Brinkmann und Ralf Rainer Rygulla spricht. Über den »blutlosen Begriffsfetischismus« der theorieüberfrachteten Traktate der Linken wurde in solchen Publikationen nur noch gelächelt.8 Hier bemühte man sich nicht mehr um »Kunst«, sondern lediglich um ein radikal enthemmtes Lebensgefühl. Während jedoch derartige Publikationen eher randständig blieben, zog die als »aufheizend« empfundene angloamerikanische Rockmusik um 1970 immer breitere Schichten von Jugendlichen an, von denen sich einige bereits in den späten fünfziger Jahren für Bill Haley und Elvis Presley erwärmt hatten und jetzt für Frank Zappa, The Doors und The Grateful Dead zu schwärmen begannen. Daher kamen danach immer mehr Teens und Twens mit Schlafsäcken, Jeans, Parkas und Joints zu jenen »Open Air Festivals« angereist, wo sie sich stundenlang durch lautstarke RockGruppen wie Sixty-Nine, Ihre Kinder, Tangerine Dream und Amon Düül »in Fahrt bringen« ließen. Aufgrund dieser Entwicklung begann sich auch die traditionelle Unterhaltungsindustrie zusehends für diesen Bereich zu interessieren. Schließlich wurde den Managern auf diesem Gebiet immer klarer, dass sich mit dieser Art von Musik ein ebenso großer, wenn nicht noch größerer Profit machen ließ als mit der älteren Schlager- und Tanzmusik. Wie recht sie damit hatten, beweisen alle diesbezüglichen Statistiken. So schrumpfte der Anteil der E-Musik auf dem Tonträgermarkt, das heißt der Umsatz von Schallplatten und Musik-Cassetten, im Laufe der siebziger Jahre auf acht Prozent, während der Anteil der Pop- und Rockmusik auf 71 Prozent anstieg. Kulturpolitisch gesehen war daher das Ergebnis der Außerparlamentarischen Revolte – bewirkt durch die Radikalenerlasse und Berufsverbote sowie den die Mehr179

Die ehemalige Bundesrepublik

heit der Westdeutschen empörenden Attentatismus der RAF-Gruppen – sowohl ein relativ schnell wieder abflauender Linksdrall als auch ein merklich abnehmendes Interesse an der bisherigen E-Kultur. Im Zuge der Revolte gegen »Daddy’s Culture« wurde demzufolge diese Form von Kultur zusehends ein Reservat der älteren, gebildeten Jahrgänge, wodurch die Theater, Opernhäuser, Konzertsäle, Kunstgalerien und Buchläden jene Aura einbüßten, die alleingültigen Manifestationen einer »wahren Bildung« zu sein. Was sich stattdessen in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren immer stärker ausbreitete, war jene ins Kommerzielle ausgeweitete Populärkultur, welche viele Rebellen um 1970 noch als Affront gegen das »Establishment« empfunden hatten, die sich aber jetzt mehr und mehr als kulturelle Norm breitester Bevölkerungsschichten etablierte. Als daher 1982 die CDU unter Helmut Kohl an die Macht kam, trat somit jene Postmoderne ein, die auf irgendwelche gesellschaftskritischen Konzepte weitgehend verzichtete und damit dem Moloch Markt zu einem seiner einträglichsten Siege verhalf. Im Hinblick auf das Fernsehen fasste der CDUInnenminister Friedrich Zimmermann diesen Trend ein Jahr später in der Formel zusammen: »Der Steuerzahler will nicht provoziert, der möchte unterhalten werden.«9 Die Graswurzelrevolte

Dass die Rebellion gegen das »Establishment« auch eine Kritik an der naturgefährdenden Überindustrialisierung ins Auge fassen müsse, war den meisten Achtundsechzigern anfangs noch nicht bewusst. Ja, die ersten ökologisch besorgten Hippies, die sich seit Mitte der sechziger Jahre zur Erhaltung der »Biosphäre« aufs Land verkrümelten, betrachteten sie noch weitgehend als »Weirdos«. Das änderte sich erst, als 1972 das Buch Die Grenzen des Wachstums. Bericht des »Club of Rome« zur Lage der Menschheit von Dennis L. Meadows erschien, dessen Thesen selbst von den Massenmedien als »sensationell« bezeichnet wurden und daher für kurze Zeit eine geradezu panikartige Stimmung unter Teilen der westdeutschen Bevölkerung auslösten. Schließlich wurde in diesem Buch zum ersten Mal höchst unverblümt auf die rapide Abnahme vieler natürlicher Rohstoffe, die Ausbreitung der Wüstengebiete durch fortschreitende Austrocknung und Winderosion, die Gefahren der Atomkraftwerke, den Verlust landwirtschaftlicher Anbauflächen durch wahllose Zersiedlung, die chemische Vergiftung der Böden, die Gefahren der industriellen Mülldeponien, die allmähliche Erwärmung der Lufttemperatur, die Abholzung der tropischen Regenwälder und damit den bedrohlichen Rückgang der Sauerstoffproduktion, die explosionsartige Zunahme der menschlichen Bevölkerung, die Ausrottung vieler Wildtiere und Wildpflanzen, die Verödung der Landschaft durch Monokulturen, kurzum, die fortschreitende Zerstörung der für den Menschen notwendigen »Nachhaltigkeit« hingewiesen. 180

Die Graswurzelrevolte

Nach diesem Zeitpunkt war es nicht mehr möglich, sich weiterhin dem trügerischen Gefühl eines ständig steigenden Komforts hinzugeben. Wer Ohren hatte zu hören, wurde durch diese Thesen auf eine recht unbarmherzige Weise mit dem möglichen Endzustand der Welt konfrontiert. Und daraus ergab sich eine Bewusstseinslage, die in der Folgezeit unentwegt zwischen ängstlicher Besorgtheit und fortwährender Verdrängung hin- und herschwankte. Um sich nicht in dem allgemeinen Bestreben nach wirtschaftlichem Wachstum und Wohlstand beirren zu lassen, das den meisten Menschen in ihrem materialistischen Egoismus als unverzichtbar erschien, wich die Mehrheit erst einmal in eine ideologisch unbestimmte »Ja, aber«-Haltung aus. Es gab sogar viele, welche nach wie vor den Versuch, den ungehemmten ­Technikund Wohlstandstrip als einen Selbstmordkurs hinzustellen, als Doomsday-Appell verschrobener Alarmisten belächelten. Allerdings wurden auch sie schon ein Jahr später durch die sogenannte »Ölkrise«, die im Zuge der zyklischen Struktur der indus­triellen Produktion in fast allen Wirtschaftszweigen zu Kurzarbeit und Entlassungen führte, eines Besseren belehrt. Schließlich hielt diese Krise bis 1975 an, was trotz der Überschüsse im Exporthandel eine zunehmende Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation in der BRD bewirkte und somit nicht nur die bereits bestehende Unmutsstimmung, sondern auch die Frage nach den Ursachen dieser Misere verstärkte. Im Zuge dieser Entwicklung kam es schließlich zu ersten öffentlichen De­mons­ tra­tionen gegen die gefährlichen Auswirkungen der rücksichtslosen, vornehmlich auf Profit bedachten Überindustrialisierung, wie etwa der Besetzung des Bauplatzes für das Atomkraftwerk Wyhl am Oberrhein, an dem sich neben Naturschützern auch Pazifisten, Feministinnen und enttäuschte Achtundsechziger beteiligten. Und es gab plötzlich auch immer mehr Publikationen, die vor den Gefahren des »sauren Regens« warnten, welcher zu einem verbreiteten »Waldsterben« führen könnte, sowie ein abgasverminderndes »Tempo 100« auf den Autobahnen forderten, um eine dringend notwendige Luftverbesserung herbeizuführen. So zeigte etwa Hans Dollinger schon 1972 in seinem Buch Die totale Autogesellschaft, wie eng die Umweltzerstörung in Form von Smog, fortschreitender Verstraßung und zunehmenden Abgasen mit dem Überhandnehmen der Autos zusammenhängt, was in letzter Konsequenz zu einem »Fortschritt durch Selbstmord führen könne«.10 Noch globaler griff 1973 Hans Magnus Enzensberger in seinem Kursbuch-Essay Zur Kritik der politischen Ökologie aus, in dem er die hochentwickelten Industriegesellschaften anprangerte, durch ihren ins Maßlose gesteigerten Energieverbrauch, ihren Raubbau an landwirtschaftlichen Nutzflächen, ihre hemmungslose Ausplünderung der natürlichen Rohstoffe und ihre chemische Vergiftung der gesamten Umwelt einen Zusammenbruch des Weltökosystems herbeizuführen.11 Und derartige Warnungen nahmen in den folgenden Jahren ständig zu, was dazu führte, dass sich immer mehr Westdeutsche zu Gruppen zusammenschlossen, die 181

Die ehemalige Bundesrepublik

sich aufgrund ihrer ideologischen Vielfalt erst als »Bunte Listen« ausgaben und dann, als ihre Umweltbesorgtheit immer stärker zunahm, als »Die Grünen« bezeichneten. Die wahrhaft Radikalen unter ihnen verstanden ihr Leben zusehends als eine tägliche Revolte gegen jene verderbliche Welt, in der lediglich der Fetisch der industriellen Wachstumsrate herrsche. Ihre Bücher und Broschüren, die sie zwischen 1973 und 1976 publizierten, trugen daher meist Titel wie Alternative Technologie, Wege aus der Wohlstandsfalle, Machbare Utopien, Anders leben oder Die Arche. Auf derselben ideologischen Linie lagen ökologisch-alternative Zeitschriften wie Graswurzelrevolution, Wechselwirkung und Sanfter Weg, die zumeist durch »Gegenwind«-Buchhandlungen oder Bioläden verbreitet wurden. All das gab der zu Anfang recht marginalen Ökologiebewegung zwangsläufig einen merklichen Auftrieb, was in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre zu gewaltsamen Protesten in Kalkar, Brokdorf und dann vor allem in Gorleben führte, wo die zu Tausenden herbeigeströmten »Alternativen« nur durch einen massiven Polizeieinsatz wieder entfernt werden konnten. Das Gleiche wiederholte sich dann noch einmal 1980/81 bei Protesten gegen den Bau der »Startbahn West« am Rande des Frankfurter Rhein-Main-Flughafens, wo es zu unzähligen Verletzungen und vorübergehenden Verhaftungen kam. Mochten auch die meisten dieser Proteste an der sich unnachgiebig verhaltenden Staatsgewalt scheitern, der harte Kern der Fundamentalisten innerhalb der »Grünen« gab deshalb keineswegs auf, sondern begann sich seit 1978 auch als Partei an lokalen Wahlen zu beteiligen. Obwohl viele der damaligen Programmpunkte dieser Gruppen noch durchaus an die subjektbezogenen Forderungen der früheren Linksliberalen sowie der antiautoritären Studentenbewegung erinnerten, stießen sie in ihrer industriefeindlichen Haltung immer stärker ins Systemkritische vor. Denn erst, seit es die »Grünen« gab, als von Energieeinsparung, von der Herstellung dauerhafter Gebrauchsgüter, vom Kampf gegen geplante Obsoleszenz und von Recycling gesprochen wurde, ging es plötzlich nicht allein um eine Reihe wohlgemeinter Reformen, sondern um die Durchsetzung eines völlig andersgearteten gesellschaftlichen Systems, das sich durch seine Abkehr von der bisherigen Überindustrialisierung zu Gunsten einer naturerhaltenden Gesellschaft entschließen würde. Zu den nachdrücklichsten Belegen dafür gehört das Buch Um Hoffnung kämpfen. Gewaltfrei in eine grüne Zukunft (1983) von Petra K. Kelly, einer der Hauptrepräsentantinnen der Partei »Die Grünen«. In ihm forderte sie alle bundesrepublikanischen Bürger und Bürgerinnen auf, sich zu einer »Abkehr vom Warenfetischismus« zu bekennen,12 was sich am besten durch eine »dezentrale, weiche Energieversorgung, den Übergang von kapitalintensiven Großtechnologien zu umweltschonenden energieund rohstoffsparenden Mittel- und Kleintechnologien« erreichen lasse.13 Statt also weiterhin lediglich »die Steigerung der Warenmassen im Rahmen einer erweiterten Produktion« auf allen Ebenen anzustreben, müsse man sich endlich zu einer »Stei182

Die Graswurzelrevolte

gerung der Lebensqualität im Einklang mit der Notwendigkeit zyklischer Erneuerung und Erhaltung der Natur entschließen«, das heißt die »Lebensansprüche im Rahmen der ökologischen Bedingungen abstecken«.14 Und das gehe nur durch eine größere »Bedürfnislosigkeit«, wie sie immer wieder erklärte. Obwohl sich auch eine Reihe anderer Autoren und Autorinnen wie Carl Amery, Rudolf Bahro, Jochen Bölsche, Hoimar von Ditfurth, Erhard Eppler, Herbert Gruhl, Wolfgang Harich, Robert Havemann, Hans Jonas, Robert Jungk, Manon MarenGrisebach und Carl Friedrich von Weizsäcker zu solchen Mäßigkeitsforderungen bekannten, wurden die auf eine größere Bescheidenheit drängenden Parolen von der Mehrheit der Westdeutschen – trotz aller ökologischen Besorgtheit – wegen der weiterhin herrschenden Konsumfreudigkeit keineswegs begrüßt. Und so konnten die »Grünen« zwar 1983 in den Bundestag einziehen, blieben aber als Partei vorerst eher bedeutungslos. Um also die Wählermassen nicht weiterhin mit dem Motto »Runter vom Wohlstand« zu verschrecken, setzten sich daher aus parteiinternen Gründen unter ihnen zusehends die Realos oder Mittalos durch, während die Fundis immer stärker in den Hintergrund gedrängt wurden, um die bundesrepublikanischen Wähler und Wählerinnen nicht durch systemfeindliche, das heißt verbrauchseinschränkende Postulate abzustoßen. Und das führte dazu, dass die Wählerstimmen für diese Partei zwar zunahmen, aber der systemkritische Impuls dieser sich anfänglich als Graswurzelrevolte ausgebenden Bewegung allmählich abschwächte oder vollends in den Hintergrund trat. Die gleichen Wandlungen lassen sich – erwartungsgemäß – im Hinblick auf die von den »Grünen« vertretenen Kulturkonzepte verfolgen. Beginnen wir mit den bildenden Künstlern. Wer sich von ihnen in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren zu den radikalen Forderungen der sogenannten Graswurzelrevolte bekannte, bediente sich zumeist der Postkarte, des Plakats, des Wandspruchs, der Fotografie, des Cartoons oder der Landart-Installation, um seine Kritik an der fortschreitenden Zerstörung der Natur so unmissverständlich wie nur möglich publik zu machen. Ihnen ging es nicht um eine elitäre Galeriekunst, für die sich lediglich wohlbetuchte Privatsammler interessieren würden. Im Gegenteil, sie wollten sich vor allem in das Zeitgeschehen einmischen, von den Massenmedien beachtet werden, als skandalös gelten, indem sie für die um sich greifende Naturzerstörung die Habgier der großen Konzerne und den durch sie in Gang gesetzten Konsumrummel verantwortlich machten. Wohl der Spektakulärste unter ihnen war der vom linksorientierten Flügel der Achtundsechziger Bewegung herkommende Aktionskünstler Klaus Staeck, der seine grafisch gestalteten Postkarten stets mit bewusst provozierenden Sprüchen versah. Und zwar ließ er dabei kaum einen der von den damaligen »Grünen« angeprangerten zerstörerischen Eingriffe in die natürlichen Grundlagen einer lebenswerten Um- oder 183

Die ehemalige Bundesrepublik

Abb. 42  Klaus Staeck: Saurer Regen (1983)

besser Mitwelt aus. Das gilt vor allem für jene Postkarten, auf denen er bestimmte Konzerne angriff, welche die Luft verpesteten, oder die Profitgier mancher Unternehmer auf den bekannten Spruch aus dem 1. Buch Mose zurückführte: »Füllet die Erde und macht sie euch untertan.« Auf anderen seiner Postkarten wies er auf die Gefahren der Radioaktivität, das schon damals viel beklagte Waldsterben, die hemmungslose Verstraßung sowie die rasante Zunahme des Autoverkehrs hin – alles Vorgänge, die er in schärfster Form auf jener Postkarte attackierte, auf der er im Sinne der damaligen Fundis lediglich lapidar erklärte: »Der Boden stirbt / Die Luft stirbt / Das Wasser stirbt / Die Tiere sterben / HURRA WIR LEBEN.« Diejenigen bildenden Künstler, welche trotz ihres Unmuts über die gleichen Missstände an der herkömmlichen Ölmalerei festhielten, konnten dagegen, weil es dafür kaum interessierte Käufer gab, nur in Ausnahmefällen die von Klaus Staeck erzielte Breitenwirkung erreichen. Thematisch bedienten sie sich dabei meist zwei verschiedener Darstellungsweisen: entweder bewusst abschreckender Bildmotive, mit denen sie die durch den Moloch Markt herbeigeführte Überindustrialisierung und die damit einhergehende Naturzerstörung bloßzustellen versuchten, oder einer Verklärung von Landschaften, die noch keine Spuren menschlicher Verwüstung auf184

Die Graswurzelrevolte

weisen und in denen nach wie vor eine Unio mystica zwischen Mensch und Natur zu herrschen scheint, die es in nicht allzu ferner Zukunft wiederzuerringen gelte. Für die erste Richtung waren besonders Matthias Koeppel und Norbert Stockhus repräsentativ, die seit den späten siebziger Jahren immer wieder Bilder malten, auf denen ekelerregende Müllhalden, hässliche Bahnübergänge, leerstehende Fabrikhallen oder vulgär anmutende Picknicks zu sehen sind, wo also im Zuge der zunehmenden Industrialisierung und Bevölkerungsvermehrung die kleinen Eigenheime gewaltigen Wohnblöcken weichen mussten und die letzten Waldstücke abgeholzt wurden, um nicht dem verstärkten Autoverkehr im Wege zu stehen. Zu den eindrucksvollsten Vertretern der zweiten Richtung zählte vor allem Wassili Lepanto, der von vornherein auf solche Schock- oder Warnbilder verzichtete und fast ausschließlich Landschaften malte, bei denen er sich bemühte, im Rückgriff auf frühere, noch ökologisch erträgliche Zustände zugleich einen Vorschein auf ein in der Zukunft neu zu erringendes Verhältnis zur Natur darzustellen. Auf ihnen gibt es noch

Abb. 43  Wassili Lepanto: Nur in den Wäldern gibt es Frieden (1987) 185

Die ehemalige Bundesrepublik

keine Fabrikanlagen, Autobahnen, Eisenbahntrassen, elektrischen Oberleitungen, Fernsehtürme, Flugplätze oder Wolkenkratzer, sondern lediglich sanfte Hügel, ausgedehnte Waldungen, Flusstäler sowie vereinzelte kleine Häuser oder Ortschaften, in denen sich die Menschen, obwohl sie nirgends zu sehen sind, wieder »beheimatet« fühlen könnten. Seine Bilder tragen daher meist Titel wie Geborgenheit, Einfried, Nur in den Wäldern gibt es Frieden oder Die schöne Welt des Seins, das heißt wollten vor allem durch ihre »Einsicht« in eine lebenserhaltende, durch keine schädlichen Eingriffe verunreinigte Natur überzeugen, weshalb ihn die Fundis unter den »Grünen« sogar aufforderten, Wahlplakate für ihre Partei anzufertigen. In literarischer Hinsicht bekannten sich dagegen – trotz der vielen theoretischen Traktate der bereits genannten Autoren und Autorinnen auf diesem Gebiet – zwar auch einige Schriftsteller und Schriftstellerinnen zu den Idealen der frühen Graswurzelrevolte, konnten aber damit kaum dieselbe Breitenwirkung wie Klaus Staeck erzielen. Gut, Michael Ende, Gudrun Pausewang, Otto F. Walter und Uwe Wolff griffen zwar in ihren Romanen auch derartige Themen auf, blieben aber weitgehend unbeachtet. Etwas erfolgreicher waren in diesem Umkreis lediglich die Bücher Ökotopia (1975) und Ein Weg nach Ökotopia (1983) des amerikanischen Autors Ernest Callenbach. Am radikalsten wirkte vor allem das Letztere, in dem es einer Zelle von in Kalifornien aktiv werdenden Überlebenswilligen gelingt, effektive Umweltgesetze einzuführen, alternative Energiequellen zu erschließen, den Gebrauch von Privatautos zu verbieten, die Atomkraftwerke abzuschalten und schließlich die politische Unabhängigkeit ihres Territoriums vom Rest der Vereinigten Staaten durchzusetzen. Und dieses Gebiet bemüht sich daraufhin, für alle anderen Länder der Welt ein leuchtendes Vorbild zu sein. Eine ähnlich gesinnte Utopie erschien in der damaligen Bundesrepublik nicht. Überhaupt flaute die anfänglich durchaus radikal auftretende Graswurzelrevolte im Laufe der achtziger Jahre wieder merklich ab. Es gelang zwar den »Grünen«, wie gesagt, 1983 sogar in den Bundestag einzuziehen, aber die erhoffte Breitenwirkung blieb vorerst aus. Deshalb entschlossen sich die Realos innerhalb dieser Partei, sich in Zukunft lieber reformistisch zu geben, statt die ins Auge gefassten Wähler und Wählerinnen mit ihren bisherigen »Runter vom Wohlstand«-Parolen vor den Kopf zu stoßen. Selbst in ihren Kulturprogrammen gaben sie sich in der Folgezeit keineswegs revolutionär. So erklärten sie in ihrem Bundesprogramm von 1985 lediglich in wenigen Worten, dass sie sich im Rahmen einer »Basiskultur« stärker für ein »breites und dezentralisiertes kulturelles Angebot« einsetzen würden.15 Und auch in ihrer Broschüre Dem Struwwelpeter durch die Haare gefahren. Auf dem Wege zu einer grünen Kulturpolitik von 1987 sowie dem Sammelband Öko-Kunst. Zur Ästhetik der Grünen von 1989 traten sie zwar für eine »Kultur von unten« ein, in der allen Bür186

Die Graswurzelrevolte

gern und Bürgerinnen die Chance geboten würde, selber Musik zu machen, selber eigene Bilder auszustellen, selber eigene Gedichte und Erzählungen vorzulesen, um so eine »Eingemeindung der Kunst in die bisherige Kulturbetriebsamkeit und Kulturindustrie« zu verhindern,16 was aber letztlich – im Gegensatz zu der Kunst der »Happy Few« – wiederum auf jene Populärkultur hinauslief, in der vor allem Jazz, Kabarett und Krautrock vorherrschen würden, die sich ohnehin schon als einflussreiche Kulturformen durchgesetzt hatten. Und dieser eher vorsichtig taktierende Kurs machte sich für die Grünen politisch durchaus bezahlt. Schließlich gelang es ihnen durch diese Wendung ins Systemimmanente in den neunziger Jahren sogar, für kurze Zeit zum Koalitionspartner der regierenden SPD unter Gerhard Schröder zu werden. Darin sahen zwar die Realos unter Joschka Fischer ein Versprechen für die Zukunft, was aber zusehends zu einem Verzicht auf jene von den bisherigen Fundis vertretene utopische Hoffnung führte, dass sich die Bundesrepublik aus einem naturzerstörerischen »Industriestandort«, in dem eine alle Rohstoffe verzehrende Konsumausweitung herrscht, in einen Staat umwandeln ließe, der vornehmlich auf dem Prinzip der »Nachhaltigkeit« beruhen würde.

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Die alt-neue Bundesrepublik

Nach der Wende von 1989

Nachdem die SPD-Regierung unter Willy Brandt im November 1972 die »Ostzone« endgültig als souveränen Staat anerkannt hatte, trat in den bisher höchst angespannten innerdeutschen Beziehungen erstmals eine gewisse Beruhigung ein. Und auch manche Länder innerhalb der NATO-Allianz, die zuvor in einer möglichen Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten die Gefahr eines neuen deutschen Nationalismus gesehen hatten, begrüßten diese Entwicklung durchaus. Doch diese Détente sollte nicht lange währen. Als es nämlich in den frühen achtziger Jahren in den USA unter dem Präsidenten Ronald Reagan und in der BRD unter der Regierung Helmut Kohls zu einem erneuten Aufflackern der früheren Kalten-KriegsStimmung gegenüber den im Warschauer Pakt zusammengeschlossenen Ostblockländern kam, spitzte sich die außenpolitische Situation zwischen Ost und West – angeheizt durch neue Rüstungsanstrengungen – wieder zu. Da sich durch diesen politischen Kurswechsel auch die ökonomisch wesentlich schwächere Sowjetunion zu verstärkten Rüstungsausgaben gezwungen sah, kam es im gesamten Ostblock zu einer sich zusehends verschlechternden Konsumversorgung, welche in diesen Ländern, darunter nicht nur Polen und Ungarn, sondern auch der DDR, zu einem ständig wachsenden Unmut gegenüber den dort herrschenden Regierungen beitrug, denen es nicht gelungen sei, ein den NATO-Ländern vergleichbares Warenangebot zu produzieren. Darin sahen die Westmächte im Hinblick auf die beiden Deutschländer eine willkommene Chance, von ihrer bisher vertretenen Zweistaatenlehre abzuweichen, und drängten mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln – in der Hoffnung auf eine Auflösung des gesamten Ostblocks – auf einen möglichst baldigen Anschluss der DDR an die Bundesrepublik. Dieser Umschwung trat dann am 9. November 1989 auch tatsächlich ein, als viele Ostdeutsche in nicht mehr aufzuhaltenden Protestdemonstrationen die Berliner Mauer durchbrachen, um auch an der Konsumwelt des Westens teilzuhaben. Wenn Ludwig Erhard noch am Leben gewesen wäre, hätte er das sicher als einen Sieg der »vollen Schaufenster« hingestellt, an deren Anziehungskraft selbst jede mit propagandistischen Slogans aufgebauschte »Ideologie« notwendig scheitern müsse. Ja, dieser Triumph der freien Marktwirtschaft, der sogar durch die reformistisch gemeinten Perestroika-­Parolen Michail Gorbatschows in der UdSSR nicht aufzuhalten war, bewirkte bei vielen Westdeutschen das Gefühl, dass nach jahrzehntelangen Auseinandersetzungen mit dem »östlichen« Gegner jetzt nicht nur in der ehemaligen DDR, sondern in Gesamteuropa eine Ära anbrechen würde, in der sich alle Bürger und Bürgerinnen endlich einer durch 188

Nach der Wende von 1989

keine ideologischen Vorgaben eingeschränkten Selbstrealisierung und Konsumlust hingeben könnten. Manche sprachen in Anlehnung an amerikanische Theoretiker damals sogar vorschnell vom »Ende der Geschichte« schlechthin,1 als ob mit dem Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus bereits eine in die Zukunft verlängerte ewige Gegenwart angebrochen sei, in der man unter Verzicht auf irgendwelche als Hirngespinste bezeichneten Utopien auf ökonomischer Ebene getrost verzichten könne. Und die Folgen derartiger Ansichten blieben keineswegs aus. Als es daher am 18. März 1990 in der vorläufig noch weiter existierenden DDR zu Wahlen kam, versuchte die Ost-CDU die dortigen breiten Massen nicht nur mit dem nationalistisch klingenden Slogan »Wir sind ein Volk«, sondern zugleich mit der seit den fünfziger Jahren von Ludwig Erhard ausgegebenen Parole »Wohlstand für alle« für die sogenannte freie Marktwirtschaft, das heißt einen durch keine staatlichen Eingriffe eingeschränkten freizügigen Handel sowie eine andersartige Eigentums- und Wettbewerbsordnung für sich zu gewinnen, wodurch sich die »ökonomisch heruntergekommene« DDR sicher schnell in ein Gebiet »blühender Landschaften« verwandeln werde. Wie effektiv solche Erklärungen waren, belegten die darauffolgenden Wahlergebnisse nur allzu deutlich. Die CDU erhielt bei dieser Wahl 163 Mandate, die SPD 88 und die aus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) hervorgegangene Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) 66 Mandate, während für die sogenannten Reformer, die sich Bündnis 90 nannten, nur 12 Mandate abfielen. Und damit wurde unter der Führung der beiden CDU-Parteien in West- und Ostdeutschland jene endgültige Wiedervereinigung der zwei deutschen Teilstaaten möglich, die schließlich am 3. Oktober des gleichen Jahrs offiziell besiegelt wurde. Die Art und Weise, wie man in der Folgezeit von westlicher Seite her mit der untergegangenen DDR in ökonomischer Hinsicht verfuhr, geschah fast ausschließlich im Zeichen des von der CDU propagierten Neoliberalismus. Anstatt auch einige der dortigen sozialistischen Errungenschaften auf wirtschaftlichem Gebiet zu respektieren, wurde in den fünf »neuen Bundesländern«, wie es jetzt hieß, im Zeichen des privatwirtschaftlichen Wettbewerbs und des daraus resultierenden Konsumverlangens einfach alles den in Westdeutschland herrschenden marktwirtschaftlichen Verhältnissen angeglichen. Allerdings führte das dazu, dass sich durch die dabei angewandten Zwangsmaßnahmen, wie der weitgehenden Stilllegung aller Volkseigenen Betriebe und der somit entstehenden Arbeitslosigkeit, die ehemalige DDR keineswegs umgehend in ein Gebiet »blühender Landschaften« verwandelte, wie es die westdeutsche CDU unter Helmut Kohl ihren Bewohnern anfänglich versprochen hatte. Im Gegenteil, zahllose Ostdeutsche, vor allem Industriearbeiter, wanderten darauf wegen des Verlusts von rund drei Millionen Arbeitsplätzen in den Westen ab, was zu einer merklichen Entvölkerung und zugleich Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der dort Zurückgebliebenen führte, zumal man deren Bankkonten nicht 189

Die alt-neue Bundesrepublik

eins zu eins, wie es erst hieß, sondern lediglich zwei zu eins umgetauscht hatte. Den gleichen Verdruss erweckte unter vielen, dass manche der durchaus rentablen Fa­ bri­ken von der sogenannten Treuhandgesellschaft zu Spottpreisen an westdeutsche Kapitalisten oder Investmentfirmen verscherbelt wurden, die eine wesentlich höhere Leistung von ihren Belegschaften forderten, als man das bisher gewohnt war. Und diese Unzufriedenheit wurde auch durch den lauthals verkündeten »Solidarpakt« nicht aufgehoben, mit dem man von westlicher Seite her den »armen Ostdeutschen« auf die Beine zu helfen versuchte. Viele ehemalige DDR-Bewohner und -bewohnerinnen hatten daher selbst Jahre später noch das Gefühl, Bürger und Bürgerinnen zweiter Klasse in der alt-neuen Bundesrepublik zu sein. Dieser schwelende Groll äußerte sich nicht nur im Hinblick auf die eingeschränkten Arbeitsverhältnisse, sondern auch auf politischer Ebene. Trotz der anfänglichen Begeisterungsstimmung, endlich wieder »ein Volk« zu sein, meldeten sich daher – neben ehemaligen Systemgegnern und eilfertigen Wendehälsen, die sich den neuen Verhältnissen unverzüglich anzupassen versuchten – schon kurz nach 1989/90 in den sogenannten »neuen Bundesländern« eine Reihe von Autoren zu Wort, welche die machtvoll durchgeführte Wende zu privatkapitalistischen Zuständen keineswegs begrüßten, sondern darin lediglich einen Kahlschlag oder einen Ausverkauf an die westliche, vom Amerikanismus überformte Profitgesellschaft erblickten, in der alle sozialen »Wir«-Vorstellungen einer rücksichtslosen »Ich«-Gesinnung zum Opfer gefallen seien. Besonders viel zitiert wurden demnach von jenen »Ossis«, die in den angeblich vielversprechenden Freiheitsbotschaften der in ihr Land eindringenden »Besserwessis« lediglich die dahinterstehende Besitzgier witterten, die sarkastisch gemeinten Zeilen »Jetzt frisst uns McDonald« von Christoph Hein sowie »Der Sozialismus geht und Johnny Walker kommt« von Volker Braun.2 Ja, Braun schrieb damals in einem seiner Gedichte sogar ideologisch noch eindeutiger: »Dem Winter folgt der Sommer der Begierde. / Und ich kann bleiben, wo der Pfeffer wächst. / Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle. / Wann sag ich wieder mein und meine alle?«3 Ebenso provokant verhielt sich Heiner Müller 1990 bei seiner Hamlet-Inszenierung im OstBerliner Deutschen Theater, der in der Schlussszene nicht den norwegischen König Fortinbras, sondern die Deutsche Bank in die dänische DDR einmarschieren ließ. Zum gleichen Zeitpunkt erklärte er in seinem Gedicht Fernsehen, dass die DDR zwar das »vorläufige Grab der Utopie« sei, jedoch diese gescheiterte Utopie sicher eines Tages wieder aufleuchten werde, »wenn das Phantom der Marktwirtschaft, die das Gespenst des Kommunismus zu vertreiben sucht, den neuen Kunden die kalte Schulter zeigt«.4 Ja, noch 1993 schrieb Müller mit ähnlicher Zielsetzung: »Ich bin mir nicht mehr sicher, dass der Kommunismus das Schicksal der Menschheit ist, aber er bleibt ein Menschheitstraum, an dessen Erfüllung eine Generation nach der anderen arbeiten wird bis zum Untergang unserer Welt.«5 190

Nach der Wende von 1989

Abb. 44  Ehemaliges Kulturhaus des VEB Elektrokohle, Berlin-Lichtenberg (1994)

Doch neben bekannteren DDR-Autoren, wie Braun, Hein und Müller, empfanden auch viele andere Ostdeutsche die heraufziehende Rekapitalisierung ihres Staats nicht nur als einen politischen und wirtschaftlichen, sondern auch als einen kulturellen Identitätsverlust. Schließlich sahen sie, dass es in den »neuen Bundesländern« nach der am 3. Oktober 1990 vollzogenen Wende in den Buchläden fast nur noch westliche Publikationen zu kaufen gab, die Preise für Theaterkarten, Schallplatten mit klassischer Musik sowie für Bücher anspruchsvoller Autoren und Autorinnen sprunghaft anstiegen, die Zeitschrift Neue Deutsche Literatur eingestellt wurde, der Aufbau-Verlag plötzlich einem Wessi gehörte, die führenden Kultur- und Literaturhistoriker »abgewickelt« wurden, sich allerorten die westdeutschen Massenmedien ausbreiteten, aus ehemaligen Kulturhäusern plötzlich Möbel- oder Teppichgeschäfte wurden, kurzum, wie der bisherige Anspruch, endlich die »Höhen der Kultur zu erstürmen« und die Bewohner und Bewohnerinnen der DDR in eine »gebildete Nation« zu verwandeln,6 in steigendem Maße von dem westlichen Bestreben in den Hintergrund gedrängt wurde, auch ihr Land in jene allein auf dem Prinzip von Angebot und Nachfrage beruhende westliche Marktgesellschaft einzugliedern. Und das bewirkte, dass sich selbst in der ehemaligen DDR, wo sich bereits in der HoneckerÄra eine Aufspaltung in eine immer kleiner werdende E-Kultur und eine massenhaft verbreitete U-Kultur anzubahnen begann, jene im Westen bereits vorherrschende marktgerechte Kulturbetriebsamkeit durchsetzte, in der neben dem bereits erreichten Bildungsgrad vor allem die finanzielle Situiertheit den entscheidenden Ausschlag gab. 191

Die alt-neue Bundesrepublik

Dass alle diese Umwandlungsprozesse, in denen die Bildungsbewussteren unter den Ossis ein bedauerliches Debakel sahen, von den meisten Wessis durchaus begrüßt wurden, ist allgemein bekannt. Dennoch gab es auch in den alten Bundesländern bei den mit dem linken Flügel der SPD sympathisierenden Autoren durchaus Einsprüche gegen die allzu rasch und ungerecht vollzogene Wiedervereinigung, die den Ostdeutschen keineswegs die versprochene Besserstellung ihrer wirtschaftlichen Situation gebracht hatte. So bezeichnete etwa Günter Grass den politischen Zusammenschluss aller Deutschen zu einer machtvoll auftretenden »Staatsnation« weder als notwendig noch als wünschenswert. Ja, er zögerte nicht, sich einen »notorischen Feind der deutschen Einheit« oder gar einen »vaterlandslosen Gesellen« zu nennen, der die Furcht vor einem »deutschen Einheitsstaat« durchaus verstehen könne.7 Demzufolge schloss er sich im Dezember 1989, wie Jürgen Habermas, Christoph Hein und Walter Jens, jenem »Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder« an, das im Hinblick auf die angestrebte Wiedervereinigung einen moralisch und wirtschaftlich gerechten Lastenausgleich sowie ein politisches Konföderationsmodell befürwortete. Als das nicht eintrat, sondern die DDR einfach rücksichtslos in die ehemalige Bundesrepublik einverleibt wurde, verwehrte er sich ein Jahr später in seinem Pamphlet Ein Schnäppchen namens DDR nochmals entschieden dagegen, die »freie Marktwirtschaft als die einzige Wahrheit« auszugeben, ja bezeichnete die Umwandlung der VEB-Werke in der DDR durch die westliche Treuhandgesellschaft als »ein gnadenloses Diktat westlicher Kolonialherren«.8 Doch das blieben Ausnahmen. Die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung glaubte zu diesem Zeitpunkt noch durchaus den hochtönenden Versprechungen Helmut Kohls, dass sich die von der SED »heruntergewirtschaftete DDR« binnen weniger Jahre in ein Gebiet »blühender Landschaften« verwandeln werde, in dem man froh sein könne, dem Sozialismus endlich entronnen zu sein, das heißt in einer liberalen Zivilgesellschaft zu leben und sich im Rahmen einer freien Marktwirtschaft einer durch nichts eingeschränkten Selbstverwirklichung hinzugeben. Da dies jedoch in wirtschaftlicher Hinsicht nicht umgehend eintrat, sondern in den neu gegründeten Teilstaaten Brandenburg, Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt und MecklenburgVorpommern eher ein ökonomischer Notstand einsetzte, entschloss sich die Regierung der alt-neuen Bundesrepublik zu einem finanziellen Solidarpakt, der die westdeutsche Bevölkerung zu höheren Steuerabgaben verpflichtete, die den »neuen Bundesländern« zugute kommen sollten. Und das löste unter den westdeutschen Bürgern und Bürgerinnen, denen im Gegensatz zu vielen Ostdeutschen irgendwelche »Wir«-Gefühle fremd waren, einen verbreiteten Unmut aus. Die Wiedervereinigung hatten sie zwar in politischer Hinsicht durchaus begrüßt, aber dafür bezahlen zu müssen, schien ihnen etwas zu weit zu gehen. 192

Der pluralistische »Industriestandort Deutschland«

Daher blieb es in dieser Hinsicht im westlichen Teil der alt-neuen Bundesrepublik auf längere Zeit bei einer ideologischen Gemengelage. Hier konnte man einfach nicht begreifen, dass sich »da drüben« wegen der ökonomischen Misere eine gewisse »Ostalgie« verbreitete. Demzufolge sahen viele Westdeutsche in den »Brüdern und Schwestern« jenseits der Elbe zusehends undankbare Subjekte, die ihre selbstverschuldete Notlage eher mit Anstand ertragen sollten, statt ständig die Hand nach neuen Unterstützungsgeldern auszustrecken oder gar bestimmten »sozialistischen Errungenschaften« nachzutrauern. Dennoch zahlten sie diesen Betrag ruhig weiter, zumal vielen unter ihnen gar nicht bewusst war, wie hoch diese Steuerabgaben eigentlich waren. Eher empört waren dagegen manche jener westlichen Politiker, Soziologen und Kulturkritiker darüber, dass sich im Zuge der besagten Ostalgie eine Reihe ostdeutscher Theoretiker und Künstler – im Gegensatz zu den im Westen herausgestrichenen ideologischen Wendehälsen – in ihren Werken weiterhin zu einem gesellschaftskritischen Realismus bekannten, dem nach wie vor, wie bei manchen Malern der Leipziger Schule oder Autoren wie Volker Braun und Christoph Hein widersetzliche Absichten zugrunde lagen. Damit sollte jetzt, wie es immer wieder hieß, nach dem triumphalen Sieg der freien Marktwirtschaft über alle planwirtschaftlichen Konzepte eigentlich Schluss sein. So stellte etwa ein systemimmanenter Journalist wie Frank Schirrmacher bereits im Oktober 1990 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Forderung auf, dass sich sowohl die ost- als auch die westdeutschen Schriftsteller und Schriftstellerinnen von nun an ausschließlich auf das Eigenpersönliche und damit Kunstautonome beschränken sollten, statt weiterhin mit politisch anmaßender Pose als »Statthalter der Nation« aufzutreten.9 Dem widersprachen zwar einige Autoren, die sich in ihren Werken nach wie vor die düstere Vergangenheit des Nazifaschismus aufs Korn nahmen oder sich zu sozialen Neuordnungskonzepten bekannten. Doch die Mehrheit der sogenannten Kulturschaffenden sowie das an höheren Kunstformen interessierte Publikum schloss sich diesem Trend ins Egozentrierte und damit Postideologische in der Folgezeit weitgehend an. Und damit vertiefte sich die bereits bestehende Aufspaltung in eine gesellschaftlich immer unverbindlicher werdende, das heißt lediglich die subjektiven Bedürfnisse der gebildeten Oberschichten widerspiegelnde E-Kultur sowie eine die breiten Massen der Bevölkerung vornehmlich unterhaltende U-Kultur geradezu von Jahr zu Jahr. Der pluralistische »Industriestandort Deutschland«

Wenn man den gesamten Zeitraum der alt-neuen Bundesrepublik seit der »Wende« von 1989/90 bis zur unmittelbaren Gegenwart ins Auge fasst, lassen sich ideologisch, ökonomisch und kulturell folgende Haupttendenzen beobachten. Innenpolitisch 193

Die alt-neue Bundesrepublik

löste die vielbeschworene Wiedervereinigung, wie bereits ausgeführt, trotz einiger Gegenstimmen in Ost und West erst einmal eine allgemeine Begeisterungswelle aus. Wieder »ein Volk«, »eine Nation« zu sein, erschien vielen westdeutschen Bürgern und Bürgerinnen anfänglich wie der Beginn einer neuen, von keinerlei inneren Zwistigkeiten bedrohten Zukunft. Vor allem in den konservativen Massenmedien war daher die Zustimmung zu diesem Wandel geradezu euphorisch. So erklärte etwa die BILD-Zeitung am 4. Oktober 1990 auf ihrer Titelseite: »Deutschland! Mein Gott, ist das schön«. War nicht damit auch für die »bemitleidenswerten« Ostdeutschen, die 40 Jahre unter einem totalitären Regime »geschmachtet« hätten, endlich eine Ära der »Freiheit« und des »Wohlstands für alle« angebrochen, hieß es jetzt im Westen vielerorts? Welche ökonomische Misere durch die Stilllegung aller Volkseigenen Betriebe in der ehemaligen DDR eingetreten war, wurde dagegen von den systemimmanenten Stimmungsmachern meist unterschlagen. Jetzt galt es erst einmal, deutschgesinnt aufzujubeln, ja sich noch größer, noch stärker als zuvor zu fühlen und das so überschwänglich wie nur möglich zum Ausdruck zu bringen. Doch, wie wir wissen, hielt diese nationale Begeisterungswelle nicht allzu lange an. Schließlich zeichnete sich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks in politischer und ökonomischer Hinsicht für die BRD plötzlich die Möglichkeit ab, auch auf internationaler Ebene noch machtvoller aufzutreten als zuvor. Diese Chance ergab sich schon im Jahr 1992, als sich in großen Teilen Europas Bestrebungen anbahnten, alle bisher bestehenden nationalen Gegensätze durch die Gründung einer »Europäischen Union« (EU) zu überwinden. Dementsprechend tat die alt-neue Bundesrepublik alles, um diesen Zusammenschluss so schnell wie möglich herbeizuführen, da sie sich als bevölkerungsreichstes und industriell am weitesten entwickeltes Land Europas durch den Fortfall der bisherigen Zollschranken und einen ungehemmten Zustrom gering bezahlter Gastarbeiter aus anderen europäischen Ländern, vor allem den früheren Ostblockstaaten, einen enormen Exportüberschuss und damit eine ständig zunehmende Profitrate erhoffte. Und als dieser Zusammenschluss ein Jahr später tatsächlich besiegelt wurde, trat all das auch ein. Immer mehr Gastarbeiter strömten in die BRD ein, der Reichtum der Großkonzerne wuchs ins Unermessliche, die Zahl der Milliardäre und Millionäre nahm von Jahr zu Jahr zu, der Mittelstand florierte, wodurch Deutschland eine wirtschaftliche Vormachtstellung errang, um die es viele andere europäische Länder beneideten. Besonders im Westen der alt-neuen Bundesrepublik wurde dieser sich verstärkende Trend ins Marktwirtschaftliche von dem finanziell wohlsituierten Mittelstand durchaus begrüßt. Schließlich bot er ihm alles, was er schon immer als lebenswert empfunden hatte: bessere Wohnverhältnisse, mehr Tourismus innerhalb Deutschlands, aber auch in ferne Länder, mehr Amüsements in Discos und Klubs, mehr Körperpflege in Fitness und Wellness Centers, mehr Unterhaltung durch ein größeres Fernseh194

Der pluralistische »Industriestandort Deutschland«

Abb. 45  Titelblatt (2008)

angebot sowie eine Fülle kultureller Events, bei denen es vornehmlich um die Befriedigung subjektiver Erlebnisbedürfnisse ging. »Fit for fun« zu sein, gehörte daher im Rahmen der vorgegebenen Wirtschaftsverhältnisse zu den wichtigsten Maximen einer Lebenseinstellung, welche diese Bevölkerungsklasse in steigendem Maße als »postmodern« oder »neoliberalistisch« empfand. In Konzepten wie »urban, divers, kosmopolitisch, individualistisch« sah deshalb diese Schicht fast nur noch »Lifestyle«-Fragen,10 ohne sich groß Gedanken über die wesentlich eingeschränkteren Lebensverhältnisse der Unterklassen zu machen. Was sie kritisierten, waren darum lediglich jene von ihnen als altmodisch aufgefassten Wertvorstellungen, die ihren eigenen Auslebebedürfnissen im Wege standen. Aufgrund dieser Entwicklung war daher in der Folgezeit innerhalb der politischen Meinungsträgerschichten der alt-neuen Bundesrepublik kaum noch wie bisher von einer »deutschen Nation«, sondern zusehends von dem inzwischen entstandenen »Industriestandort Deutschland« die Rede. Vor allem als die Anzahl der Menschen mit »Migrationshintergrund«, die nach den vielen Einwanderungswellen, welche im Jahr 2015 ihren Höhepunkt erlebten, immer größer wurde, sprachen jene, die sich als neoliberale Soziologen mit diesem Wandlungsprozess auseinandersetzten, im Hinblick auf die BRD immer stärker von einer »Gesellschaft der Singularitäten«.11 Was 195

Die alt-neue Bundesrepublik

sie damit meinten, war ein pluralistischer Rechtsstaat oder eine parlamentarische Demokratie, die es allen Staatsbürgern – ungeachtet ihrer Herkunft, Religion oder Kulturvorstellung – erlauben würde, sich aufgrund der in diesem Land herrschenden freien Marktwirtschaft als vollgültige Einwohner und Einwohnerinnen zu fühlen. All das klang auf Anhieb recht vielversprechend. Schließlich führte dieser Nachdruck auf eine stärkere Beachtung der individuellen Selbstrealisierungsbemühungen zu jenen gesetzlich festgelegten Verordnungen, nicht nur den zu deutschen Vollbürgern gewordenen Migranten und Migrantinnen, sondern auch vielen anderen Schichten der bundesrepublikanischen Bevölkerung größere Rechte einzuräumen und ihnen damit die Chance zu gewähren, sich nicht mehr als beiseitegeschoben und damit zweitrangig zu fühlen, wie das zum Teil bisher üblich war. Das gilt vor allem für viele Frauen, deren Berufsmöglichkeiten in steigendem Maße durch Lohn- und Gehälterangleichungen sowie durch Frauenquoten in den jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Führungsschichten gefördert wurden, aber auch für neue Gesetzgebungen im Hinblick auf Behinderte, Homosexuelle, asylsuchende Obdachlose, Drogensüchtige, Waisenkinder und andere bisher weitgehend außerhalb der »normalen« Gesellschaft Lebende. Alle Menschen sollten im Zuge dieses Nachdrucks auf der gleichberechtigten Singularität jedes einzelnen Staatsbürgers und jeder einzelnen Staatsbürgerin, hieß es jetzt immer wieder, endlich als ebenso gesellschaftlich gleichbedeutend angesehen werden und dieselbe soziale Absicherung genießen wie der Rest der Bevölkerung. So weit, so einleuchtend. Aber auch die unübersehbare Problematik dieses Nachdrucks auf bewusst forcierte Individualisierungskonzepte sollte nicht unterschlagen werden, denen die Linksliberalen mit einer durchaus berechtigten und die Ultrakonservativen mit einer ins Nationalistische tendierenden Kritik entgegentraten. So sahen etwa systemkritisch eingestellte Theoretiker wie Wolfgang Fritz Haug und Hans Heinz Holz in dieser steigenden Ichzentriertheit in sozialer Hinsicht – trotz aller Zustimmung zu bestimmten emanzipatorischen Einzelzügen – zugleich eine auf nichts Rücksicht nehmende Befürwortung jener freien Marktwirtschaft und des ihr zugrunde liegenden Prinzips der ungehemmten Selbstrealisierung, die vor allem der Schicht der sogenannten finanziell Bessergestellten zugute komme, was letztlich auf eine ideologische Rechtfertigung der kapitalistischen »Ellbogengesellschaft« hinauslaufe. Das Resultat dieser Entwicklung sei daher eine Konkurrenzsozietät, in der zwar die im Grundgesetz der Bundesrepublik verkündete Würde des Einzelmenschen propagiert werde, aber in der im Zuge der besagten Individualisierungsbestrebungen die bisherige Spaltung in Reiche und Arme keineswegs aufgehoben worden sei und daher der allgemein als progressiv hingestellten privaten Selbstrealisierung jedes Einzelnen geradezu Hohn spreche. Ja, Jürgen Habermas schrieb 1990 sogar, dass heutzutage durch diese immer stärker werdende Wendung ins Materialistische fast 196

Der pluralistische »Industriestandort Deutschland«

jeder Bundesbürger nur noch darauf bedacht sei, was bei den »politischen Prozessen für jeden Einzelnen an Cash, an Gebrauchswerten herausspringe«.12 Und solche linkskritischen Stimmen verstummten auch danach keineswegs. So schrieb Bernd Stegemann später, dass trotz aller sozialen und ökologischen Krisen das kapitalistische Establishment in der BRD weiterhin ständig versuche, in den mittelständischen Verbraucherschichten lediglich die »Gier nach permanenter Steigerung, nach mehr Konsum, mehr Innovation, mehr Erleben, mehr Individualität« wachzuhalten oder womöglich sogar noch anzuheizen.13 Die konservativen Theoretiker stützten sich dagegen bei ihrer Kritik an der zunehmenden Diversität der bundesrepublikanischen Gesellschaft eher auf nationalistische Argumente, denen ideologisch meist verschwommene »Wir«-Vorstellungen zugrunde lagen. Statt auf die unübersehbare Spaltung in Reiche und Arme innerhalb der bundesrepublikanischen Bevölkerung einzugehen, sahen diese Kritiker anfangs die Hauptgefahr einer zunehmenden Pluralisierung Deutschlands vor allem in jenen massenhaft eingewanderten Gastarbeitern und Gastarbeiterinnen, denen man nicht nur ein zeitlich begrenztes Bleiberecht eingeräumt, sondern sogar die deutsche Staatsbürgerschaft verliehen habe. Wohl den sensationellsten Erfolg in dieser Richtung hatte das Buch Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen von Thilo Sarrazin, das – nach verschiedenen Vorabdrucken im Spiegel und in BILD – im Herbst 2010 binnen kurzer Zeit in zehn Auflagen erschien und über eine Million Leser und Leserinnen erreichte. Es wandte sich vor allem gegen den türkisch-muslimischen Anteil dieser Bevölkerungsgruppe, der durch seinen Kinderreichtum von Jahr zu Jahr immer größer werde, wodurch Begriffe wie »Wir«, »deutsche Nation« oder »unser Land« immer hinfälliger würden. Um dieser Entwicklung entgegenzutreten, setzte sich Sarrazin vor allem für eine durch staatliche Prämien unterstützte Geburtensteigerung deutschstämmiger Frauen ein, um so – im Hinblick auf die an höherer Bildung kaum interessierten »Fremdlinge« – ein sinkendes Intelligenzniveau in »unserem Land« zu verhindern. Noch stärker wurden solche nationalistischen Affekte, wie allgemein bekannt, als im Jahr 2015 jene Migrantenwelle eintrat, gegen die sich die Pegida-Bewegung und die Alternative für Deutschland (AfD) noch nachdrücklicher, wenn nicht gar faschistoid wandten, da sie in ihr eine Gefährdung aller spezifisch »deutschen Wertvorstellungen« sahen, durch die eine fremdländisch unterwanderte »Multikulti«-Gesellschaft entstehen könne, der man mit Grenzsperrungen sowie möglichst vielen Abschiebungen entgegentreten müsse. Was bei all diesen Streitigkeiten über Konzepte wie Ichzentriertheit oder pluralistisch aufgefasste Marktbedingungen sowohl von den Linksliberalen als auch von den Konservativen und Ultranationalisten ebenso heiß diskutiert wurde, war der Begriff »deutsche Leitkultur«. Was die Konservativen darunter verstanden, war eine weitgehende Beibehaltung der von ihnen schon früher vertretenen ideologischen 197

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Orientierung an sogenannten abendländischen Wertvorstellungen, ob nun Christentum oder Hochschätzung des »Kulturellen Erbes«, die für alle deutschen Staatsbürger und -bürgerinnen verbindlich sein müssten, um so eine schleichende Islamisierung der BRD durch die aus dem Nahen Osten eingewanderten Migranten zu verhindern. Angestoßen wurde diese Debatte durch den Zeit-Herausgeber Theo Sommer, der bereits im Jahr 1998 erklärte, dass eine sinnvolle »Integration« von Migranten nur auf dem Weg einer »Assimilation an die deutsche Leitkultur und deren Kernwerte« erfolgen könne.14 Zu einer breiteren Diskussion dieser Frage kam es jedoch erst, als sich am 25. Oktober 2000 Friedrich Merz, der damalige Fraktionsvorsitzende der CDU im Bundestag, gegen den sich rapide ausbreitenden »Multikulturalismus« wandte und die Forderung aufstellte, dass sich alle Einwanderer der »deutschen Leitkultur« anpassen müssten. Obwohl ein Linksliberaler wie Jürgen Habermas dem nachdrücklich widersprach und erklärte: »In einem demokratischen Verfassungsstaat darf auch die Mehrheit den Minderheiten die eigene kulturelle Lebensform – soweit diese von der gemeinsamen politischen Kultur des Landes abweicht – nicht als sogenannte Leitkultur vorschreiben«,15 ließ die CDU in diesem Punkt nicht locker. Mochten auch einige Mitglieder der SPD oder der Grünen, wie Cem Özdemir, immer wieder gegen die von den Konservativen aufgestellten Assimilationsgebote protestieren, die Christdemokraten zögerten am 28. Dezember 2007 keineswegs, den Begriff »deutsche Leitkultur«, die durch »Sprache, Geschichte, Traditionen und christlich-abendländische Werte« geprägt sei, sogar in ihr parteipolitisches Grundsatzprogramm aufzunehmen.16 Doch wirklich heiß wurde die Debatte über den Begriff »Leitkultur« erst, als im Jahr 2015 eine Million neuer Migranten und Migrantinnen aus dem Nahen Osten in der BRD Zuflucht suchten und sich die CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem damals vielzitierten Motto »Wir schaffen das« zu ihrer bedingungslosen Aufnahme entschloss. Das empörte nicht nur die kurz zuvor entstandene Alternative für Deutschland sowie einige betont rechtsextremistische Gruppen, die darauf verstärkt an die »vaterländischen Wertvorstellungen« unter den »wahrhaft Deutschen« appellierten, sondern auch eher rechtsstehende Politiker innerhalb der CDU-Regierung. So veröffentlichte der damalige Innenminister Thomas de Maizière am 30. April 2017 in dem Blatt BILD am Sonntag einen Thesenkatalog, in dem er den Begriff »deutsche Leitkultur« mit Allgemeinbildung, Leistungsgesinnung, Geschichtsbewusstsein und Stolz auf »unser« kulturelles Erbe gleichsetzte, was nicht nur auf liberaler Seite, sondern selbst bei vielen seiner Parteimitglieder auf Widerstand stieß, worauf diese Debatte, zumal die Anzahl der in der BRD Asylsuchenden danach merklich zurückging, allmählich abflaute. Was demnach in der Folgezeit in den politischen Debatten und den von ihnen beeinflussten Massenmedien erneut in den Vordergrund trat, waren wie zuvor all 198

Die prekäre Situation der bisherigen E-Künste

jene Phänomene, die mit den marktwirtschaftlichen Voraussetzungen des »Industriestandorts Deutschland« zusammenhingen. Zu ihnen gehörten trotz der ständig beschworenen Individualisierungskonzepte vor allem die Exportbedingungen, die fortschreitende Globalisierung, die mit der Digitalisierung verbundenen Neuerungen, die Investitionsmöglichkeiten, der Immobilienmarkt, die Mietpreisfragen, der Vermögensstand der Banken, irgendwelche Konkursmeldungen sowie der jeweilige, sich von Tag zu Tag verändernde DAX-Index, während von »Kultur« immer weniger die Rede war. Welche Auswirkungen das sowohl auf die Frage einer möglichen Leitkultur als auch auf das zuvor viel diskutierte Verhältnis von E- und U-Kultur haben würde, soll in den nächsten Abschnitten behandelt werden. Die prekäre Situation der bisherigen E-Künste

Wie bekannt gibt sich die alt-neue Bundesrepublik nicht allein als »Industriestandort«, sondern nach alter Tradition auch als »Kulturstaat« aus. Dementsprechend werden von den einzelnen Ländern und Kommunen bis heute alljährlich rund 1,2 Prozent der öffentlichen Mittel in »Kultur«, das heißt vornehmlich in Symphonieorchester, Opernhäuser und Theater investiert. Das wirkt im Vergleich zu manchen anderen Ländern, wo derartige Ausgaben weit geringer ausfallen, recht imponierend. Doch reichen solche Aufwendungen wirklich aus, um sich nach wie vor als »Kulturstaat« auszugeben? Oder haben diese Gelder nur eine leicht zu durchschauende Alibifunktion? Schließlich interessieren sich für diese Konzerte und Aufführungen nur etwa fünf bis sechs Prozent der deutschen Bevölkerung. Und ist das genug, um sich in einer als »demokratisch« verstehenden Gesellschaftsordnung als »Kulturstaat« zu bezeichnen? Sind nicht die Veranstaltungen der jeweiligen Symphonieorchester, Opernhäuser und Theater lediglich elitäre Vergnügungen der gebildeten und betuchten Oberschicht, welche die breiten Massen der Bevölkerung nicht nur wegen der hohen Eintrittspreise abschrecken, sondern weil es bei ihnen zum Teil um Aufführungen von Werken der feudalen und großbürgerlichen Vergangenheit geht, die zu ihrem Verständnis einen hohen Bildungsgrad voraussetzen? Und so ist diese Form der »Kultur« weitgehend zu einer Gourmetecke innerhalb eines ästhetischen Supermarkts geworden, wo die gleichen Gesetze der heutigen Market Driven Society herrschen wie im Hinblick auf alle anderen Warenangebote. Kurzum, was auch hier den letzten Ausschlag gibt, ist der klassenmäßig bedingte Unterschied zwischen Reich und Arm sowie zwischen Bildung und Unbildung. Schließlich geht es in diesem Bereich kaum noch um wegweisende Weltanschauungen innerhalb gesamtgesellschaftlicher Auseinandersetzungen, die alle Staatsbürger und Staatsbürgerinnen interessieren könnten, sondern vor allem um das Individuelle, das Exquisite oder das sich als sensationell Ausgebende. Eine 199

Die alt-neue Bundesrepublik

ebenso wichtige Rolle spielen dabei die in den als niveauvoll geltenden Zeitungen angepriesenen Schauspieler und Schauspielerinnen, Opernsänger und Operndivas sowie die jeweiligen Stardirigenten, die »man« gehört oder gesehen haben muss, um in diesbezüglichen Gesprächen überhaupt mitreden zu können. Was also diese Kreise vornehmlich beschäftigt, ist im Hinblick auf die »höhere« Kunst weniger das Impliziert-Ideologische als das Besondere, das Subjektiv-Emotionsgeladene oder nur das Prestigeverheißende. Mit anderen Worten, viele wollen lediglich dabei gewesen sein, sich als kenntnisreich erweisen oder bestenfalls in ihrer Hingabe an »Höheres« einen selbstbefriedigenden Genuss erleben. Das gilt besonders für den Bereich der Konzertmusik. So gibt es zwar in der alt-neuen Bundesrepublik weiterhin 84 staatlich unterstützte Theaterorchester, 30 Konzertorchester, 12 Radiosymphonieorchester und sieben Kammerorchester. Doch welche Art von Musik vermitteln sie zumeist? Wenn man sich ihre Programme anschaut, handelt es sich hauptsächlich um Werke der sogenannten barocken, klassischen oder romantischen Musik, also vom 17. Jahrhundert bis zur Zeit um 1900, in denen eine emotionale Klangseligkeit vorherrscht, die in Melodik und gleichbleibender Rhythmik zu einer unmittelbaren Einfühlung einlädt. Wie wir wissen, war dies nicht immer so. So haben die deutschen Aufklärer, ob nun Immanuel Kant, Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Christian Friedrich Daniel Schubart und Johann Georg Sulzer, denen es im Hinblick auf die Kunst noch vornehmlich um »Gesinnung« ging, die zu ihrer Zeit vorherrschende Instrumentalmusik noch als höfische Unterhaltung, das heißt als bloßen »Zeitvertreib«,17 »liebliches Geklingel«18 oder Folge »unordentlicher Empfindungen« abgelehnt,19 da sie nicht zum »Nachdenken« anrege.20 Erst nachdem die deutsche Instrumentalmusik unter dem Eindruck der Französischen Revolution in der Beethoven-Ära einen gewaltigen Aufschwung ins Anfeuernd-Rebellische erlebte, begeisterte sie selbst die bildungsbürgerlichen Schichten, ging jedoch danach im Laufe des 19. Jahrhunderts zusehends ins Subjektiv-Gefühlsmäßige über, wodurch die ideologisch progressiven Gefühlsaufwallungen wieder weitgehend in den Hintergrund traten. Gleichviel, was die Mehrheit der heutigen Hörer und Hörerinnen in all diesen Werken wahrzunehmen glaubt, meist ist es die – jenseits aller höfischen, rebellischen oder gutbürgerlichen Ausprägungen – vornehmlich zu einem Markenartikel »Klassik« gewordene Klangsinnlichkeit dieser Musik, welche sie nach wie vor als »zeitgemäß« empfindet. Doch all diese Werke von Johann Sebastian Bach bis Richard Strauss als »unsere Musik« auszugeben, ist inzwischen – ideologiekritisch gesehen – recht problematisch geworden. »Unsere Musik« wäre eigentlich jene seitdem entstandene betont »modernistische« symphonische und kammermusikalische Instrumental­ musik der letzten hundert Jahre, die aber wegen ihrer Unmelodik und inneren Zerrissenheit selbst von vielen Liebhabern und Liebhaberinnen klassischer Musik meist 200

Die prekäre Situation der bisherigen E-Künste

nur ungern goutiert wird, ja in der manche geradezu das »Todesröcheln« dieser Art von Musik zu vernehmen glauben. Was ihr – nach dem Untergang einer liberal gestimmten Programmmusik oder gar linken Kampfmusik à la Hanns Eisler – vor allem fehlt, sind irgendwelche »progressiven« Intonationen, die im Zuhörer einen Wandel ins Veränderungsbetonte auslösen könnten. Daher griff man bei der Wahl einer möglichen Europahymne lieber auf die Melodie aus dem Schlusssatz von Beethovens 9. Symphonie mit ihrer jubelnden Aufforderung »Seid umschlungen, Millionen!« zurück, statt einen der heutigen Komponisten zu beauftragen, dafür einen geeigneten Ausdruck zu finden. So viel zum Großteil der ideologisch inzwischen historisch und damit für die heutige Situation unverbindlich gewordenen Werke der älteren Instrumentalmusik. Schließlich kann sie letztlich nur so gespielt werden, wie sie anno dazumal musiziert wurde. Daher drückt sie nach wie vor Stimmungen und Gefühle aus, die zwar nicht mehr die unsrigen sind, aber wegen ihrer zum Teil berückenden Melodik und Klangsinnlichkeit bei den sie Hörenden weiterhin subjektiv beseligende, wenn auch ideologisch nicht festzulegende Effekte auslösen. Da sich an der in ihren Partituren vorgeschriebenen Aufführungspraxis nichts ändern lässt, verharrt sie demnach in einem Zustand, der geradezu zeitlos wirkt, was ihr einerseits den Glanz des leider Vorübergegangenen verleiht, aber andererseits auf die Mängel unserer eigenen Ins­ tru­mental­musik höherer Art hinweist. Und so ist sie – neben der weitaus effektiveren Unterhaltungsmusik – im Rahmen des Musikbetriebs der alt-neuen Bundesrepublik zwar ein unübersehbarer Teilbezirk der verschiedenartigen Kulturbemühungen geblieben, aber keineswegs zum Ausdruck einer sich als demokratisch gebenden Aoder Allgemeinkultur geworden, sondern spricht als E-Kunst vornehmlich jene Minderheit unter den gebildeten Schichten an, die nach wie vor auch an höheren Ausdrucksformen in der Kunst interessiert ist. Genauso problematisch wäre es, wenn man sich auf die heutigen Opernaufführungen, bei denen ebenfalls das ins »Höhere« Zielende eine bedeutsame Rolle spielt, als einen Ausdruck »unserer Kultur« berufen würde. Dennoch sorgen die einzelnen Länder und Kommunen weiterhin mit generösen finanziellen Zuwendungen dafür, dass diese höchst kostspielige, aber ebenfalls nur eine unbedeutende Minderheit der Bevölkerung ansprechende Institution nicht aus Geldmangel allmählich untergeht. Ja, werden ihre Premieren nicht sogar in den anspruchsvollen Tageszeitungen mit langen Besprechungen gewürdigt? Man sollte daher nicht in kurzschlüssiger Vereinfachung vom längst überfälligen »Tod der Oper« sprechen, wie das sowohl auf Seiten betont »modernistisch« eingestellter Kreise21 als auch von höhnisch grinsenden Vertretern und Vertreterinnen der popkommerziellen »Szene« häufig geschehen ist, sondern sich eher Gedanken über den möglichen Gebrauchswert dieser Form einer höheren Kultur machen. 201

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Kurzum, wie zutreffend ist es eigentlich, nicht nur im Hinblick auf die ältere Instrumentalmusik, sondern auch auf das seit dem 17. Jahrhundert bestehende Opernwesen von »unserer Kultur« zu sprechen? Sind nicht fast alle der noch heute aufgeführten Opern Manifestationen wesentlich älterer Kulturvorstellungen? Stammen sie nicht aus Zeiten, in denen völlig andere Sozialverhältnisse und auf sie reagierende Gefühlsaufwallungen herrschten, die inzwischen längst historisch geworden sind? Wer ist denn aufgrund höchst differenzierter Bildungsvoraussetzungen weiterhin fähig, die tieferen Dimensionen ihrer textlichen und musikalischen Ausdrucksformen überhaupt noch zu verstehen? Sicher nur wenige. Die meisten erfreut lediglich, wie gesagt, die berückende Klangsinnlichkeit dieser Werke, ja sie glauben wie beim Hören älterer Instrumentalmusik, dass im melodischen Strom ihrer Ouvertüren und Arien auch ihre eigenen Gefühlsregungen ausgedrückt würden. Lassen wir sie bei dieser Überzeugung. Aber bestehen wir darauf, dass derartige Identifikationsbeseligungen nichts mit »unserer Kultur« zu tun haben. Die Oper ist nun einmal ein musikalisches Genre, das in der Vergangenheit anfangs vornehmlich fürstlichen und dann großbürgerlichen Repräsentationsbedürfnissen gedient hat, mit denen sich diese beiden Klassen aufgrund der Kostspieligkeit dieser Musikform von den Unterschichten der Bevölkerung abzusetzen versuchten, wodurch sie in den heutigen Industriestaaten, in denen eher ins Populäre tendierende Musikbestrebungen den Ton angeben, ihre bisherige Funktion verloren hat und nur noch durch überhöhte Eintrittspreise und staatliche Unterstützungen weiter existieren kann. Daher erlebte sie, wie gesagt, im 17. und 18. Jahrhundert im Rahmen fürstlicher Repräsentationsbemühungen und dann im großbürgerlichen Opernbetrieb des 19. Jahrhunderts kaum zu überbietende Höhepunkte, was insgesamt zur Komposition von rund 80.000 Opern führte, während im 20. Jahrhundert trotz des zähen Weiterbestehens dieser Kunstform selbst in einem sich kulturbetont gebenden Staat wie Deutschland – außer einigen Opern von Richard Strauss und Alban Berg – kaum noch repertoirefähige Werke dieser Art entstanden sind. Man mag das bedauern, aber das würde an der prekären Situation dieser älteren Kunstform nicht viel ändern. Die Oper ist nun einmal ein hochartifizielles Gebilde, deren Genuss heutzutage sowohl einen gefüllten Geldbeutel als auch eine mit historischen Fakten angereicherte Bildung voraussetzt, über welche die Mehrheit der Bevölkerung nicht verfügt. Rund 85 Prozent der gegenwärtigen deutschen Opernbesucher und -besucherinnen sind daher Selbständige, leitende Angestellte, Beamte oder Rentner, von denen die meisten die Fünfziger bereits überschritten haben, während von der jüngeren Generation nur noch wenige Vertreter und Vertreterinnen diese »heiligen Hallen« aufsuchen. Ja, vielerorts kann die Oper nicht einmal mehr mit amerikanischen Musicals wie Starlight Express, Cabaret, My Fair Lady, Kiss Me, Kate oder West Side Story, konkurrieren, die sich wegen ihrer populären Eingängig202

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keit auf der Stelle konsumieren lassen, da sie auf irgendwelche Bildungsansprüche oder gar ein tieferes Musikverständnis von vornherein verzichten. Während also schon seit langem keine neuen Opernhäuser mehr gebaut werden, entstanden deshalb für diese Kunstform seit den frühen neunziger Jahren in Stuttgart das Apollo Theater (1994), in Hamburg das Theater im Hafen (1994), in Duisburg das Theater am Marientor (1996), in Essen das Colosseum Theater (1996), in Berlin das Theater am Potsdamer Platz (1999) und in Oberhausen das Metronom Theater (1999). Es fällt daher immer schwerer, die maßlos hohen staatlichen Aufwendungen für ein so anspruchsvolles Hochkulturphänomen wie die Oper in einem sich als marktwirtschaftlich strukturierten Industriestandort wie Deutschland nach wie vor als »demokratisch« auszugeben, ohne dabei in eine Argumentation zu verfallen, die sich allzu leicht als Heuchelei zu Gunsten gewisser gesellschaftlicher Oberschichten entlarven lässt. Um diese prekäre Situation zu überwinden, versuchen deshalb zahlreiche Opernregisseure und -regisseurinnen im Zuge der auch auf allen anderen Gebieten dominierenden Innovationsbemühungen den als altmodisch geltenden Opern der Vergangenheit wenigstens durch eine forcierte Modernisierung ihrer Handlungen entgegenzusteuern, um sie dadurch dem herrschenden Zeitgeschmack anzupassen. Und zwar gehen sie dabei meist von einer bewussten Enthistorisierung aus: Erstens verzichten sie auf die bisher üblichen historischen Kulissen und Kostüme, zweitens bemühen sie sich um eine den heutigen Verhältnissen entsprechende Psychologisierung und Erotisierung sowie drittens glauben sie, durch einen in die Jetztzeit verlegten Handlungsablauf den von ihnen inszenierten Opern eine verstärkte Aktualität zu verleihen, um so auch jene Menschen anzusprechen, die in dem massenmedial gesteuerten Konsumgetriebe von heute nur noch die immer wieder beschworene Gegenwärtigkeit vor Augen haben, ohne sich noch um ein tieferes Verständnis der Vergangenheit zu bemühen. Auf diese Weise hoffen sie, dass sich die Zuschauer und Zuschauerinnen mit den Schicksalen der jeweils auftretenden Figuren voll und ganz identifizieren können. Beginnen wir mit dem Wegfall der historischen Ausstattung. So wird in Mozarts Figaro das ältere Schlossmilieu neuerdings gern durch eine Bürosituation oder einen Autosalon ausgetauscht. Im Lohengrin spielt der Titelheld während seiner verunglückten Hochzeitsnacht plötzlich auf einem Steinway-Flügel. In der Götterdämmerung strahlt der Gibichungenpalast so glitzy modern, als stände er in New York. Dasselbe gilt im Hinblick auf die Kostüme. Statt ihre Stars weiterhin mit Allongeperücken und barockisierenden Hoftrachten oder mit Frack und Zylinder auszustaffieren, treten sie selbst in Opern des 18. und 19. Jahrhunderts häufig in Blue Jeans, Overalls, T-Shirts und Baseballkappen auf, sitzen vor Fernsehern oder greifen zu ihren Handys, um weitere Intrigen in Gang zu setzen, als habe sich seit damals nichts geändert. 203

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Abb. 46  Salzburger Festspiele (2003). Wolfgang Amadeus Mozarts »Don Giovanni« mit Ildebrando d’Arcangelo als Leporello

Nicht minder verheutigt wirken oft ihre als menschlich-allzumenschlich ausgegebenen Verhaltensweisen. Nicht irgendwelche Klassengegensätze bestimmen ihre Aktionen, sondern eher psychologische Besonderheiten, die zu einer identifikatorischen Einfühlung einladen, um den Zuschauern und Zuschauerinnen die Hoffnung zu ermöglichen, dass auch sie ein alle Frauen bezirzender Don Giovanni sein könnten, wie Sieglinde aus ihrer frustrierenden Ehe auszubrechen, wie Arabella den »einzig Richtigen« zu finden, ja dass auch ihnen noch immer das große Glück bevorstehe. Doch nicht genug damit. Sogar die inzwischen als antiquiert empfundenen Handlungsabläufe werden häufig einfach eliminiert und durch Geschehnisse ersetzt, die in der unmittelbaren Vergangenheit oder Gegenwart spielen. So geht es etwa in Beethovens Fidelio manchmal nicht um eine Festung, in der ein Aufklärer des 18. Jahrhunderts wegen seiner unbestechlichen Wahrheitsliebe eingekerkert wurde, sondern um sibirische Strafkolonien oder an Auschwitz gemahnende Konzentrationslager, um damit an stalinistische oder nazifaschistische Untaten zu erinnern. In Alban Bergs Wozzeck treten die Soldaten manchmal in Tarnuniformen aus der Zeit des Viet­nam­kriegs auf, um so den brutalen Unterdrückungsmaßnahmen der Metternich-Ära einen Drall ins Zeitgemäße zu geben. Im Fliegenden Holländer wirken Senta und ihre spinnenden Freundinnen manchmal so, als seien sie um ihre schlanke Linie besorgte Models, die in einem der heute üblichen Wellness oder Health Centers sitzen. 204

Die prekäre Situation der bisherigen E-Künste

Nichts gegen gewisse Politisierungen oder Aktualisierungen. Das Fatale daran ist lediglich, dass die Oper eins der ungeeignetsten Vehikel für solche Versuche ist. Schließlich entsteht dadurch eine eklatante Diskrepanz zwischen der älteren Musik, welcher völlig andere sozial und damit ideologisch bedingte Gefühlsregungen zugrunde lagen, sowie den sich im gegenwärtigen Milieu abspielenden Handlungsabläufen, wodurch solche Bestrebungen weder der inhaltlichen Besonderheit der älteren Opern noch der angestrebten Aktualität wirklich gerecht werden. Statt sich also weiterhin vornehmlich um inhaltliche Modernisierungen älterer Opern zu bemühen, sollte sich das dahinterstehende Kulturmanagement lieber entscheiden, nicht nur irgendwelche unangebrachten Verheutigungen oder singulär bleibenden Gefühlsaufwallungen zu akzentuieren, sondern eher jene schon in der Vergangenheit auftauchenden sozialpolitischen Konfrontationen stärker herauszustellen, die allen früheren Geschichtsperioden zugrunde lagen. So dürfte etwa in Webers Freischütz nicht nur der Teufelspakt im Vordergrund stehen, sondern müsste auch die dominierende Rolle der fürstlichen und klerikalen Machtpositionen herausgestrichen werden. In Straussens Rosenkavalier wäre es angebracht, weniger die bittersüße Verzichthaltung der alternden Marschallin und das frische Glück der beiden Jungverliebten in Szene zu setzen, als die dahinterstehenden Klassengegensätze zu betonen. Doch ob die Oper mit derartigen Akzentuierungen tatsächlich ein breiteres Publikum anziehen würde, ist mehr als fraglich. Dem stehen sowohl die hohen Eintrittspreise als auch das mangelnde Interesse an soziopolitischen Vorgängen der Vergangenheit im Wege. Und so ist die Oper trotz aller ins Modernistische tendierenden Bestrebungen ein elitäres Überbauphänomen geblieben, das zwar den älteren Mitgliedern der finanziell bessergestellten Oberschichten gewisse gefühlvolle, jedoch gesellschaftlich unverbindliche psychische Beseligungen oder auch Entlastungen bietet, aber – ideologisch gesehen – eher belanglos wirkt. Jedenfalls ist von dem »Vorschein«-Charakter, der manche ihrer früheren Werke auszeichnet, in unserer sich angeblich als »demokratisch« ausgebenden Sozialordnung, aber weiterhin klassenspezifisch orientierten Marktgesellschaft wenig übriggeblieben. Im Hinblick auf das Theaterwesen sieht dagegen die heutige Marktlage auf Anhieb etwas günstiger aus. Schließlich sind hier die Eintrittspreise nicht so exorbitant wie bei den kostspieligen Opernhäusern und obendrein gibt es in diesen Institutionen wesentlich mehr Zeitgemäßes zu sehen als in den »heiligen Hallen« jener ehrwürdigen Gebäude, wo fast ausschließlich anspruchsvolle und zum Teil schwer verständliche Werke der Vergangenheit aufgeführt werden. Um mit der sich merklich verstärkenden Tendenz ins Zeitgemäße zu beginnen, lassen sich in der Aufführungspraxis vieler deutscher Theater vor allem zwei Hauptbestrebungen beobachten: Entweder entschließt man sich bei der Inszenierung älterer Dramen zu mehr oder minder radikalen Bearbeitungen ins Verheutigende oder man entscheidet sich, lediglich 205

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gerade erst entstandene Werke zu spielen, in denen trotz mancher linkskritischer Stimmen, welche einen mehr sozialbezogenen »Realismus« fordern,22 von vornherein jene subjektbezogenen Themen im Vordergrund stehen, die ohnehin in den systemimmanenten Sozialen Medien tonangebend sind. Gehen wir – ins Grundsätzliche vereinfacht – zuerst auf die diversen Bearbeitungsbemühungen ein. Bekanntermaßen sind derartige Tendenzen keineswegs neu. Schon immer haben Theaterleiter und Theaterleiterinnen selbst den bedeutendsten Dramen der Vergangenheit in ihrer Aufführungspraxis einen Drall ins Neuartige gegeben, um ihr Publikum nicht mit als altmodisch wirkenden Aufführungen zu langweilen. Ja, gesellschaftskritisch eingestellte Bühnenautoren wie Bertolt Brecht haben keineswegs gezögert, selbst als »klassisch« geltenden Werken von Sophokles, Shakespeare oder Molière durch eine Verschärfung der klassenspezifischen Aspekte eine ins Progressive tendierende Wendung zu geben. Würde es sich daher nicht empfehlen, auch einige seiner eigenen Dramen, wie etwa die Stücke Die heilige Johanna der Schlachthöfe, Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny sowie Turandot oder Der Kongress der Weißwäscher, in denen es um Wirtschaftskrisen, die ausbeuterischen Taktiken der Vergnügungsindustrie sowie die von den gesellschaftlichen Missständen ablenkende Schönrednerei von Seiten systemimmanenter Tuis geht, in zeitgemäßen Bearbeitungen aufzuführen? Doch wenig dergleichen geschieht. Die meisten der heutigen Bearbeitungen tendieren geradezu ins Gegenteil, indem sie gesamtgesellschaftliche Probleme im Sinne der herrschenden Diversitätsparolen ins Subjektiv-Psychologisierende reduzieren, was zwar im Hinblick auf Frauen- oder Migrantenprobleme auch emanzipatorische Züge hat, aber die dahinterstehenden ökonomischen oder ökologischen Missstände der herrschenden Gesellschaftsordnung weitgehend aus dem Auge verliert. Dabei wären derartige Bestrebungen keineswegs so schwierig wie in Bezug auf die Oper. Während es dort bei modernistischen Bearbeitungen durch den krassen Widerspruch zwischen der älteren, von völlig anderen Gefühlslagen ausgehenden Musik und den ins Verheutigende übergehenden Handlungsabläufen meist zu eklatanten Unvereinbarkeiten kommt, wäre es bei der einschichtigen Wortbezogenheit von Theaterstücken eigentlich wesentlich leichter, solche Veränderungen vorzunehmen. Doch das bleibt bei dem relativ einseitigen Interesse an den besagten Diversitätsproblemen meist aus. Stattdessen herrscht fast immer das sogenannte Singuläre vor. So wird bei Aufführungen von Lessings Emilia Galotti weniger der Gegensatz zwischen dem eigenmächtigen fürstlichen Herrschaftsanspruch und den bürgerlichen Moralvorstellungen als die ins Einzelpersönliche tendierende Erotisierung herausgestellt. In Schillers Maria Stuart stehen sich oft lediglich zwei geschlechtsgierige Frauen gegenüber. Selbst bei der Aufführung Büchner’scher Stücke, ob nun Dantons Tod oder Leonce und Lena, geht es meist nur um ein wirres Durcheinander unzusammenhängender, hysterisch ichsuchender Akteure und Akteurinnen, während 206

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von der sozialkritischen Absicht dieser Stücke kaum noch etwas zu spüren ist, weshalb man solche Inszenierungen lieber mit dem Epitheton »nach Büchner« bezeichnet. Ebenso krass, wenn nicht noch krasser kommt die gleiche Tendenz ins Singuläre in den meisten der neu geschriebenen Originaldramen zum Ausdruck. Auch hier dominiert, wie in den vielen Bearbeitungen, weitgehend derselbe Trend ins Psychologisierende und damit Subjektverhaftete. Deshalb überwiegt in ihnen fast immer das Gestische, das heißt das viele Hin- und Hergelaufe, Kopfschütteln und Händeausstrecken, wodurch die oft unzusammenhängenden Sätze oder herausgestammelten Einzelwörter eher den Eindruck von Gefühlseruptionen als von aussagekräftigen Erklärungen erwecken. So handelte es sich etwa in dem Stück For the Disconnected Child von Falk Richter, das 2013 an der Berliner Schaubühne herauskam und für diesen Trend besonders exemplarisch ist, fast ausschließlich um hysterische Einzelgänger und -gängerinnen, die auf der Suche nach ihrem »eigentlichen Ich« sind, aber selbst darin keine wahre Befriedigung finden. Obendrein wurde das Ganze ständig mit angloamerikanischen Songs und akrobatisch ausgeführten Tanzeinlagen unterbrochen, um so das Unzusammenhängende der jeweiligen Handlungsmomente zu betonen, statt auch irgendwelche programmatischen, über die Vereinzelung der verschiedenen Figuren hinausweisenden Momente ins Spiel zu bringen. Dieselbe Postdramatik, wie es in den solche Aufführungen begleitenden Besprechungen im Hinblick auf derartige »Asymmetrical Encounters« oft heißt, herrschte danach in Stücken wie Open Windows, All for One and One for the Money, Jeeps, Behind the Scenes, Customerzombification, Rage, A Tennis Western oder Werther. live, die schon durch ihre Titelgebung suggerieren wollten, dass es sich hierbei um besonders modernistische, ins Globalisierende übergehende Dramen handelte, mit denen man ein dafür eingestimmtes Publikum zu erreichen hoffte. Doch ob das den Theaterleitern und -leiterinnen tatsächlich gelingen wird, ist noch nicht abzusehen. Schließlich haben es viele Stückeschreiber und -schreiberinnen sowie die bekannteren Schauspieler und Schauspielerinnen inzwischen vorgezogen, lieber in die Film- und Fernsehproduktion abzuwandern, was ihnen finanziell wesentlich lukrativer erscheint und zugleich einen höheren Bekanntheitsgrad verschafft. Und so gelang es selbst als besonders extravagant herausgestellten Theateraufführungen nicht, ein größeres Publikum anzulocken. Im Gegenteil, die Besucherzahlen gingen eher leicht zurück, was allerdings nicht nur mit der mangelnden Anziehungskraft des Theaters, sondern auch mit der prekären Situation aller älteren E-Künste zusammenhängt. Da jedoch die weiterhin bestehenden öffentlichen Bühnen nach wie vor vom Bund, den Ländern und Kommunen zu 70 bis 90 Prozent finanziell subventioniert werden, existieren sie vorerst noch weiter. Wie sich das in Zukunft – im Zeichen der zunehmenden Digitalisierung und damit privaten Verfügbarkeit aller kulturellen Ereignisse – gestalten wird, bleibt abzuwarten. 207

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Dieselben Entwicklungstendenzen lassen sich angesichts der in den letzten zwei Jahrzehnten erschienenen Erzählungen und Romane beobachten. Auch hier macht sich im Zeichen der vorherrschenden Singularitätsparolen ein steigender Hang ins Biografische oder gar Autobiografische bemerkbar, welcher selbst in der eher anspruchsvollen Literatur – von Ausnahmen wie den auch die politischen Aspekte einer solchen Schreibweise herausstellenden Romanen Jenny Erpenbecks einmal abgesehen – zu einer fortschreitenden Entideologisierung und damit zu einem Verzicht auf ichübergreifende Problemstellungen geführt hat. Was man auch anblättert, meist geht es auch hier vorwiegend um zunehmende Kontaktlosigkeit, private Sinnkrisen, gestörte Familienverhältnisse sowie verfehlte Orientierungsversuche, die häufig – wie in vielen post- oder postpostdramatischen Theateraufführungen – eine emotionsgeladene Ichsuche auslösen, die zwar manchmal zu einer gewissen Selbstzufriedenheit in singulären Liebesbeziehungen führt, aber allen größeren ideologischen Fragestellungen von vornherein aus dem Wege geht. Von der Möglichkeit irgendwelcher darüber hinausweisenden Gesellschaftsveränderungen ist daher in solchen Werken kaum noch die Rede. Viele Autoren und Autorinnen scheinen selbst in der Zukunft nur noch eine verlängerte Gegenwart zu sehen, wo also weiterhin aus Mangel an »utopischen Oasen«, wie Jürgen Habermas bereits vor längerer Zeit erklärte, ein Zustand der »Ratlosigkeit und Banalität« herrschen wird.23 Also treibt man es – trotz aller heraufziehenden Krisen politischer, sozialer und ökologischer Art – vielfach erst einmal so weiter wie bisher und beschränkt sich vornehmlich auf die eigenen subjektbezogenen Bedürfnisse und ihre oft nur mühsam zu erreichenden Befriedigungen. Eine solche Literatur spricht zwar nach wie vor einen mit derartigen Problemen höchst vertrauten Kreis bürgerlicher Mittelschichten an, hat aber kaum noch jenen Bekanntheitsgrad, den Romanciers wie Heinrich Böll, Günter Grass und Martin Walser einmal erzielt haben, die ihre ichbezogenen Themenstellungen stets mit gesamtgesellschaftlichen Fragestellungen verbanden. Und so ist die Wirksamkeit anspruchsvoller Literatur weitgehend zurückgegangen. Doch letztlich war es nicht nur der unübersehbare Verzicht auf politische und soziale Probleme, welcher im Hinblick auf einen Großteil der heutigen E-Literatur zu einem merklichen Bedeutungsverlust geführt hat. Überhaupt ist das Lesebedürfnis im Zeichen zunehmender visueller und akustischer Überflutung innerhalb des vorherrschenden Kulturbetriebs wesentlich geringer geworden. Die meisten Menschen verstehen heutzutage unter einer sie ansprechenden »Kultur« eher etwas, was ihnen durch das Fernsehen, das Internet sowie die Sozialen Medien vermittelt wird, also das, was sie dort sehen oder hören können, aber nicht mehr das, was langwierige Leseprozesse voraussetzt. Sie wollen im Zuge der herrschenden »Beschleunigungsprozesse« alles so schnell und so einfach wie möglich vermittelt bekommen.24 Deshalb ist die Marktlage der sogenannten E-Literatur ständig dürftiger geworden. Die Mehrheit der heutigen Au208

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toren und Autorinnen kann daher kaum noch vom Verkaufserlös ihrer Publikationen leben, sondern hat Nebenberufe und ist zugleich auf die mannigfachen Preise angewiesen, welche ihnen die auf das Weiterleben einer »höhergearteten Literatur« vertrauenden Kulturgremien verleihen. Ähnlich und doch anders hat sich diese Entwicklung ins Ichbezogene in den bildenden Künsten der letzten zwei bis drei Jahrzehnte ausgewirkt. Von den Künstlern und Künstlerinnen der »Neuen Leipziger Schule«, also Hans Aichinger, Tilo Baumgärtner, Kathrin Lauda, Rosa Lay, Neo Rauch, Michael Triegel und Matthias Weischer einmal abgesehen, die weiterhin am Realismus der älteren Ölmalerei festzuhalten versuchen und durch die Galerien Eigen + Art, LIGA und Schwind vertreten werden, hat sich auf diesem Gebiet vornehmlich jener Trend durchgesetzt, der meist mit dem Schlagwort »Installationskunst« charakterisiert wird. Was man darunter versteht, sind all jene aus den verschiedensten Materialien angefertigten Objekte, die häufig, obwohl ihnen oft bedeutungsschwangere Titel verliehen werden, auf Anhieb weniger aussagekräftig als skurril wirken, da sie fast immer auf irgendwelche mimetischen Anspielungen verzichten und erst einmal wie pure Materialobjekte aussehen. Was daran noch »Kunst« ist, bezweifeln darum viele. Und doch tauchen sie überall auf: vor Gebäuden, in Parks, ja sogar in Museen für moderne Kunst, auf der documenta in Kassel oder der Biennale in Venedig, und werden

Abb. 47  HA Schult: »Trash People« vor dem Kölner Dom (2006) 209

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von innovationistisch gestimmten Kritikern, selbst wenn sie keinen oder nur einen geringen Aussagewert haben, durchaus ernst genommen, wenn nicht gar mit den höchsten Preisen ausgezeichnet. Dass mit solchen Objekten dennoch Geld zu machen ist, haben vor allem Anselm Kiefer und Gerhard Richter bewiesen, deren Markterfolge geradezu sensationell sind. Und zwar verdanken sie das hauptsächlich der propagandistischen Unterstützung jener systemverhafteten Kunstkritiker, die jede Rückwendung zu einem als »veraltet« geltenden Realismus von vornherein ablehnen und nur abstrakt wirkende Objekte als »zeitgemäß« gelten lassen. Beide Künstler, die zuvor in ihren Werken auch antifaschistische und antikapitalistische Motive keineswegs verschmäht hatten, haben daher in den letzten Jahrzehnten – dem allgemeinen Trend zufolge – fast nur noch Installationen oder modernistisch-gegenstandslose Bilder geschaffen und sind dadurch zu den bestverdienenden Stars der postmodernen Kunstszene aufgestiegen, wie man in Zeitschriften wie capital oder Manager Magazine lesen kann. Doch das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, wie prekär die Situation der bildenden Künste auf allen anderen Gebieten geworden ist. Die meisten Künstler schaffen zwar Objekte, die zeitweilig, wenn auch örtlich begrenzt durchaus Aufmerksamkeit erregen, aber dann weggeschmissen werden oder unverkauft wieder verschwinden. Von einer gesellschaftlich verantwortungsbewussten Kunst kann daher im Hinblick auf solche Installationen nur in Ausnahmefällen die Rede sein. Demzufolge werden in den als anspruchsvoll geltenden Zeitungen fast nur noch die Jubiläumsausstellungen älterer Maler besprochen oder auf die hohen Preise ihrer Gemälde bei den Versteigerungen von Auktionshäusern wie Sotheby und Christie hingewiesen, wo sich vermögende Kunstsammler derartige Bilder als wertbeständige, wenn nicht gar wertsteigernde Anlageobjekte oder sogenannte Wandaktien unter den Nagel reißen. Irgendwelche »zeitgemäßen« Werke – außer denen von Kiefer und Richter, die gerade wegen ihres subjektverhafteten Charakters als »gegenwärtig« hingestellt werden – tauchen dagegen auf den Feuilletonseiten der besagten Zeitungen kaum noch auf. Und so nimmt die Auseinandersetzung mit jener Art von bildender Kunst, die einmal als »höhergeartet« galt, wie auf allen anderen Gebieten der E-Kunst zusehends ab, während in den Sozialen Medien der unaufhaltsam vordringenden Populärkultur eine immer größer werdende Aufmerksamkeit gewidmet wird. Das unaufhaltsame Vordringen der Populärkultur

Im Gegensatz zum Mittelalter, zur frühen Neuzeit und zum beginnenden 19. Jahrhundert, als in Deutschland den Erscheinungsformen der höheren und niederen Künste zuerst noch deutlich erkennbare klassenspezifische Unterschiede zwischen 210

Das unaufhaltsame Vordringen der Populärkultur

dem Adel und den Bauern sowie darauf den Höfen und dem Bürgertum zugrunde gelegen hätten, seien diese Unterschiede, wie von den meisten der heutigen systemimmanenten Sozialhistorikern behauptet wird, im Zuge der industriellen Revolution in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer geringer geworden, ja durch die Demokratisierungsbemühungen der Weimarer Republik und der späteren Bundesrepublik in den Hintergrund getreten, wenn nicht gar völlig verschwunden. Was gegenwärtig in dieser Hinsicht vorherrsche, sei daher eine Populärkultur, in der es zwar innerhalb der einzelnen Sparten des inzwischen entstandenen ästhetischen Supermarkts noch gewisse Unterschiede gebe, die jedoch eher durch die subjektive Diversität der einzelnen Staatsbürger und Staatsbürgerinnen als durch weiterhin bestehende Klassenunterschiede bedingt seien. Das mag – höchst grob gesprochen – auf manchen Ebenen durchaus zutreffen. Jedenfalls treten diese Unterschiede heute nicht mehr so deutlich in Erscheinung wie früher, sind aber nach wie vor durch den nicht zu leugnenden undemokratischen Gegensatz zwischen reichen und armen Bevölkerungsschichten keineswegs aufgehoben worden. Dass dennoch im Hinblick auf die gegenwärtige Situation weiterhin gern von einer die gesamte Bevölkerung umfassenden Populärkultur beziehungsweise einer A- oder Allgemeinkultur geredet wird, in der es angeblich keine gravierenden Unterschiede zwischen E- und U-Kulturformen mehr gebe, wird meist mit folgenden Argumenten gerechtfertigt: Erstens verstehe man unter »Kultur«, wie es oft heißt, nicht mehr allein das Interesse an den höheren Künsten, sondern im Sinne einer marktwirtschaftlichen Warengesellschaft etwas wesentlich Umfassenderes, was gern mit dem Slogan »Kultur ist, wie der ganze Mensch lebt« legitimiert wird, um damit auch die Wohnungs-, Ess-, Reise- sowie die allgemeinen Wohlstandsbedürfnisse aller Menschen als kulturelle Notwendigkeiten zu charakterisieren. Und zweitens seien selbst die höheren Künste kein nur noch durch Bildung und Reichtum privilegiertes Kulturgut mehr, sondern ständen durch die technologische Zugänglichkeit im Internet nicht mehr wie früher bloß einer finanziell bessergestellten Minderheit der Bevölkerung, sondern allen Menschen zur Verfügung, wodurch der ältere Gegensatz zwischen Hoch- und Populärkultur, Eliten- und Massenkultur oder kurz E- und U-Kultur immer hinfälliger werde. Von der grundsätzlichen Verdammung der kapitalistischen »Kulturindustrie«, wie sie einmal in Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Dialektik der Aufklärung (1947) und dann in den Schriften Herbert Marcuses herrschte,25 ist daher heute nicht mehr viel zu hören. Ja, selbst an die Attacken der Achtundsechziger auf die Macht der konservativen Massenmedien erinnert sich kaum noch jemand, was all jenen Recht zu geben scheint, die jede Hoffnung auf eine Änderung der marktbedingten Kulturverhältnisse von vornherein in Frage stellen. Doch beschränken wir uns erst einmal auf die momentan herrschende Situation, die immer stärker Züge 211

Die alt-neue Bundesrepublik

einer eindimensionalen Populärkultur anzunehmen beginnt, statt auch mögliche, darüber hinausweisende Zielsetzungen ins Auge zu fassen. Was die meisten der gegenwärtigen Kulturwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen unter Populärkultur verstehen, ist jene ins Massenhafte übergehende Medienbetriebsamkeit, die zwar, wie gesagt, schon in der Weimarer Republik, im Dritten Reich und dann der ehemaligen Bundesrepublik immer wichtiger geworden sei, welche aber inzwischen durch die sprunghaft ansteigende Entwicklung neuer technologischer Medien geradezu flächendeckende Ausmaße angenommen habe. Zugegeben, es gab bereits damals Grammophone und Volksempfänger, die zum Siegeslauf der Schlagerindustrie beigetragen haben, man hat bereits damals zu den Klängen von Foxtrott- und Swing-Bands getanzt, man ist bereits damals ins Kino gegangen, um sich hanebüchene Liebesfilme anzusehen und vieles andere mehr, aber noch ohne das als die alles bestimmende »Kultur« zu empfinden. Dazu wurden diese Vergnügungen erst, als in den fünfziger Jahren das auf das Kino und das Radio folgende Fernsehen und dann zwei bis drei Jahrzehnte später für einen Großteil der Bevölkerung die Videos, das Internet und die Social Media die Hauptformen in der Vermittlung einer massenhaft verbreiteten visuellen und akustischen Unterhaltungskultur wurden. Beginnen wir daher unseren Einstieg in die gegenwärtige Populärkultur mit dem Fernsehen. Den Auftakt dazu bildete in der ehemaligen Bundesrepublik die 1952 gegründete zwar öffentlich-rechtliche, aber gebührenpflichtige Fernsehanstalt ARD, welcher das 1962 unter den gleichen Voraussetzungen entstandene Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) folgte. In ihren Programmen herrschte anfangs noch ein mit vielerlei Dokus, Politberichten und E-Kultursendungen durchsetztes Angebot vor, das jedoch im Laufe der Jahre – in Konkurrenz mit Privatfernsehsendern wie RTL, SAT1, Vox, Pro Sieben, Phoenix und vielen anderen – immer stärker ins Unterhaltsame überging, ja sogar wie diese finanziell einträgliche Werbesendungen einschaltete. All diesen Sendern gelang es schon in den achtziger und neunziger Jahren, jene 49,5 Prozent der deutschen Bevölkerung zu erreichen, die täglich etwa drei bis vier Stunden vor der »Glotze« verbringen.26 Obwohl der Marktanteil der zwei öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten bis heute immer noch hoch ist, haben die Privaten inzwischen wegen ihrer vornehmlich ins Unterhaltsame tendierenden Programme einen Marktanteil von fast 50 Prozent für sich erobern können. Schließlich will die Mehrheit der »Nutzer« dieses Mediums, wie es im Branchenjargon meist heißt, vor allem irgendwelche, sie von ihrer ermüdenden Alltagsroutine ablenkende Unterhaltungssendungen sehen und hören, statt mit künstlerisch anspruchsvollen oder politisch problemgeladenen Programmen behelligt zu werden. Und das bieten ihnen vor allem spannende Krimis oder im Traumland der »Liiiebe« spielende Herzkinofilme. 212

Das unaufhaltsame Vordringen der Populärkultur

Um mit den Krimis, deren Serien oder Einzelsendungen kaum zu übersehen sind, zu beginnen: Während die Privaten auf diesem Gebiet ihren »Nutzern« meist Synchronisationen ausländischer Krimis, wie Hawaii Five-O, Law & Order, Navy CIS, Criminal Minds oder Profiling Paris bieten, bringen ARD und ZDF in dieser Hinsicht fast ausschließlich Originalproduktionen, unter denen neben den in zahlreichen deutschen Städten spielenden SOKO-Serien allabendlich ausgestrahlte Reihen wie Derrick, Der Alte, Ein Fall für zwei, Die Chefin, Der Staatsanwalt, Unter anderen Umständen, Nord Nord Mord, Wilsberg, Notruf Hafenkante, Ein starkes Team, Marie Brand, Heldt sowie Die Rosenheim Cops vor allem der seit fünfzig Jahren jeden Sonntagabend ausgestrahlte ARD-Tatort Millionen, wenn nicht Abermillionen Zuschauer und Zuschauerinnen anzieht. Und zwar erwarten diese Schichten, wie man den angehängten Kommentaren entnehmen kann, vor allem »Spannung«. Sie mögen es daher nicht, wie das im Hinblick auf Migranten-, Obdachlosen- oder Neonaziprobleme manchmal geschieht, politisch oder moralisch belehrt zu werden. Sie wollen lieber rätseln, wer der wahre Mörder war, wer mit wem geschlafen hat oder wie der Sänger der eingestreuten angloamerikanischen Songs heißt. Mit anderen Worten, ihnen geht es vornehmlich um das Unerwartet-Prickelnde und nicht um irgendwelche gesamtgesellschaftlichen Konflikte, die in vielen Fällen die eigentlichen Auslöser der in diesen Krimis dargestellten Mordtaten sind. Ebenso hintergrundlos wirken fast alle der vielen Herzkinofilme oder Seifenopern, die sowohl im Nachmittagsprogramm als auch in den Abendsendungen einen breiten Raum einnehmen. Schon ihre Titel wie Das gestohlene Herz, Wer, wenn nicht du, Die zweite Chance, Nächste Ausfahrt Glück, Rote Rosen, Sommer in Andalusien, Geliebter Sven oder Das Haus der 1000 Sterne verraten, dass es in ihnen stets um jene große, ein kaum zu glaubendes Glück gewährende »Liiiebe« geht, nach der sich scheinbar all jene Menschen sehnen, denen das Leben sonst keinerlei sie befriedigende Beglückungen bietet. Diese Sendungen beruhen daher meist auf noch vorfeministisch gestimmten Liebesromanen von Rosamunde Pilcher, Inga Lindström und Katie Fforde, in denen sich ein »romantisches« Liebesklischee an das andere reiht. Und das kommt bei vielen Zuschauern und Zuschauerinnen offenbar gut an. Deshalb konnte in den Jahren 2020/21 bereits der 148. Film dieser Art von Pilcher, der 87. Film von Lindström und der 42. Film von Fforde gedreht werden. Und solche Filme versprechen sicher auch weiterhin, höchst publikumswirksam zu sein. Damit verglichen erreichen die für die Kinotheater gedrehten Liebesfilme kaum noch die breiten Massen. Auf diesem Gebiet sind deshalb die Zuschauerzahlen eher rückgängig. Sie werden von den sogenannten Vielen meist erst dann wahrgenommen, wenn sie auch im Fernsehen oder im Internet auftauchen. So sind in den letzten zehn Jahren etwa 70 Prozent der Deutschen nur noch ein- bis dreimal im Jahr ins Kino gegangen. Und was sie dort hauptsächlich interessierte, waren weniger irgend213

Die alt-neue Bundesrepublik

welche problemgeladenen Politfilme, sondern neben Action-, Science-Fiction- und Fantasy-Movies wie Aufbruch nach Pandora, Avatar oder Der Hobbit. Die Schlacht der fünf Heere vor allem vergnügliche Jugendfilme wie die Harry-Potter-Serie oder der dreiteilige Film Fack ju Göhte, welche zwischen 2010 und 2017 die höchsten Marktanteile für sich verbuchen konnten. Meist waren die amerikanischen Filme die erfolgreichsten, während bei den deutschen Filmen die Besucherzahlen oft unter der 25-Prozentgrenze blieben. Dieselbe Entwicklung lässt sich auf dem Gebiet der Populärmusik verfolgen, wo manche Kulturhistoriker und -historikerinnen bereits von einer steigenden »Kolonisierung« der deutschen Musikkultur von Seiten der USA oder gar von einer »American Pop Culture Hegemony« gesprochen haben.27 Schließlich hat sich das, was in den fünfziger Jahren als Rock’n’Roll begann, inzwischen zu einem globalen Phänomen entwickelt, das durch die Einführung des Synthesizers und der Computertechnik im Rahmen der Easy Listening Music zum »Muntermacher Nummer Eins« geworden ist. Vor allem unter den Teens und Twens haben danach Popmusikformen, ob nun Country Music, Blues, Soul, Hip-Hop, Hard Rock, Reggae oder Rap, im Rahmen der Musikstreaming-Angebote fast alle anderen Genres von Musik in den Hintergrund gedrängt. Zweifellos hat dabei auch der deutschsprachige Krautrock

Abb. 48  Teilnehmer der Love Parade in Berlin am 8. Juli 1995 214

Das unaufhaltsame Vordringen der Populärkultur

eine Rolle gespielt, was die Beliebtheit von Hard-Rock-Bands, ob nun der Scorpions und Rammstein, oder Hip-Hop-Bands, wie Die Fantastischen Vier, Fettes Brot und K. I. Z., beweist, die sich jedoch in ihrem Gesangsstil und ihrer rhythmischen Untermalung weitgehend an angloamerikanischen Vorbildern orientierten. Von besonderer Bedeutung für die Ausbreitung dieser Art von Musik waren bis 2010 die vielen Love Parades, die zeitweilig zu den größten Musikveranstaltungen weltweit gehörten. Doch auch Popmusik-Events wie Rock am Ring, das Fusion Festival, Air Beat One und With Full Force zogen auch danach weiterhin Hunderttausende Jugendliche in ihren Bann. Ebenso wirksam erwies sich in dieser Hinsicht jene ständig dudelnde Hintergrundmusik, die in den verschiedenen Multimedia-Geräten wie iPod und ähnlichen Systemen pausenlos zu hören ist und alles andere überstimmt, was sich daneben noch an Restformen einer sich volkstümlich gebenden oder gar höhergearteten Musik zu behaupten versucht. Bei dieser Dominanz des Visuellen und Akustischen im gesamten Kulturbetrieb nimmt es nicht Wunder, dass die literarischen Ausdrucksformen von Populärkultur keine damit vergleichbare Rolle mehr spielen. So bietet zwar ein Verlag wie Kelter neben Sudoku- und Schwedenrätseln unter altbewährten Titeln wie Dr. Laurin, Der kleine Fürst und Der Bergpfarrer weiterhin vor allem »herzbewegende« Groschen-

Abb. 49  Reklame des Kelter Verlags (2019) 215

Die alt-neue Bundesrepublik

romane an, findet aber dafür nicht mehr jene relativ großen Leser- und Leserinnenschichten, die sich früher einmal für Romane oder Romänchen dieser Art interessiert haben. Selbst die etwas »härter« gestimmten Groschenromane des Bastei Verlags, dessen Jerry-Cotton-Hefte Jahrzehnte zuvor noch in die Hunderttausende gehende Auflagen hatten, ziehen nicht mehr jene breit gestreuten Käuferschichten an, deren Lesewut einstmals keine Grenzen kannte. Schließlich ist all das, ob nun das Herzbewegende sowie das kriminalistisch Spannende, wie gesagt, heutzutage auch im Fernsehen sowie im Internet zu sehen und zu hören, weshalb das Lesebedürfnis für diese Art von Literatur zwar nicht ganz verschwunden ist, aber beträchtlich nachgelassen hat. Doch gehen wir endlich ins Grundsätzliche über, statt uns mit der Aufzählung von Beispielen zu begnügen. Im Hinblick auf das große U und das kleine E des Kulturbetriebs der alt-neuen Bundesrepublik irgendwelche ins Allgemeine zielenden Folgerungen zu ziehen, dürfte nach dem bereits Ausgeführten eigentlich nicht schwerfallen. All das spricht letztlich für sich selbst. Wohin man auch blickt: Die ins Massenhaft-Populäre übergehenden Tendenzen nehmen ständig zu, die höhergearteten Bemühungen kultureller Art gehen dagegen zusehends zurück. Das mag durchaus so sein, werden viele Kulturtheoretiker und -theoretikerinnen behaupten, aber was ist daran so neu? Hat es nicht seit Urzeiten eine erste und eine zweite Kultur gegeben? Durchaus, aber lange Zeit war die E-Kunst von vornherein ein höfisches oder klerikales Klassenprivileg, während sie seit dem Beginn der bürgerlichen Aufklärung des 18. Jahrhunderts in ihren besten Werken zusehends mit dem Anspruch auftrat, der Vorschein einer besseren, sich an der Parole »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« orientierenden demokratischen Gesellschaftsordnung zu sein, in der es keine Klassenunterschiede mehr geben würde. Warum sie diesen Anspruch seit der in der Mitte des 19. Jahrhunderts beginnenden industriellen Revolution und der Entstehung kapitalistischer Marktverhältnisse in den neueren Industriestaaten, einschließlich Deutschlands, zusehends aufgegeben hat, sollte inzwischen klar geworden sein. Ob sich dieser Zustand im Rahmen der dadurch entstandenen gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt noch in Richtung auf eine von höheren Zielen beseelte A- oder Allgemeinkultur verändern lässt, bleibt abzuwarten. Die Kultur der heutigen Market Driven Society

Im Rückblick auf die in den letzten zwei Kapiteln angeführten Argumente und Beispiele könnte man sich fragen, ob es überhaupt noch sinnvoll ist, von einer allgemein verbindlichen »Kultur« zu reden. Sind solche Überlegungen nicht längst anachronistisch geworden? Schließlich wird in der gegenwärtigen Bundesrepublik kaum noch wie früher über den bedauerlichen Gegensatz zwischen den sogenannten erns216

Die Kultur der heutigen Market Driven Society

ten, elitären E-Künsten und den sogenannten unterhaltsamen U-Künsten, sondern fast nur noch höchst pragmatisch über die inzwischen vorherrschende »kulturelle Diversität« gesprochen. Und darin sehen viele Politiker und Soziologen – jenseits aller bisherigen Klassengegensätze – den genuinen Ausdruck »unserer demokratischen Grundordnung«, in der es jedem Staatsbürger und jeder Staatsbürgerin frei stehe, das sie jeweils Ansprechende auszuwählen. Als wichtigstes Argument wird dabei meist die im Rahmen des internationalen Hightech-Kapitalismus durchgesetzte Digitalisierung ins Feld geführt, welche in der Fülle ihrer Angebote alles überbiete, was es zuvor in kultureller Hinsicht zu sehen und zu hören gab. Gut, durch die Erfindung der Schallplatte, des Rundfunks und des Fernsehens habe bereits vorher eine beträchtliche Erweiterung der Kulturangebote eingesetzt, aber aufgrund der inzwischen eingetretenen Online-­Vernetzung seien in Form von Blogs, Videoportalen, Web-Enzyklopädien und YouTube-Plattformen nicht nur Zeitungen und Bücher, sondern sogar Theateraufführungen, Opern und Symphoniekonzerte jederzeit verfügbar geworden. Und demzufolge sei ein Zustand entstanden, wie immer wieder betont wird, durch den für viele Menschen das ständige online Sein zu einer völlig neuen Lebensform geworden sei. Ja, diese unentwegte Überflutung mit Bildern, Texten und Klängen habe zwangsläufig zu einer fortschreitenden »Enthierarchisierung« sämtlicher bisherigen Kulturvorstellungen geführt, deren Ergebnis eine »Gesellschaft der Singularitäten« sei,28 in der alle Nutzer und Nutzerinnen dieser Medien eher ihr Informationsbedürfnis am Tagesgeschehen zu befriedigen suchen als nach darüber hinausweisenden ideellen Zielsetzungen Ausschau zu halten. Diese Entwicklung habe, von vereinzelten linkskritischen Stimmen vorerst einmal abgesehen, bei vielen Menschen nicht nur zu einer kulturellen, sondern auch zu einer ideologischen Neuorientierung geführt. Was von ihnen geschätzt werde, sei häufig vor allem das Technisch-Innovative, das heißt die Freude am Vielfältigen, Neuartigen sowie an der »Beschleunigung« aller Lebensverhältnisse,29 wodurch die Erinnerung an das, was in manchen früheren Epochen einmal als »Kultur« gegolten habe, zusehends in den Hintergrund getreten sei. Für die Mehrheit der Heut­ lebenden erscheint damit – trotz aller weiter bestehenden Krisen ökonomischer und ökologischer Art – wenigstens in dieser Hinsicht ein Neuzustand der geschichtlichen Entwicklung erreicht zu sein. Sie glauben, in einer Gesellschaft der singulären Diversität zu leben, in der sich endlich die Prinzipien der freien Wahl, der demokratischen Gleichstellung, des Zugangs zu allen für sie wichtigen Informationen und damit die Chance der Selbstoptimierung durchgesetzt hätten, wo es also auf kulturellem Gebiet keine sie einschränkenden Klassenbarrieren mehr gebe, sondern sich jeder im Rahmen einer angeblich »offenen« Gesellschaftsordnung als autonomes Ich empfinden und entwickeln könne. Wann, wenn nicht heute, neh217

Die alt-neue Bundesrepublik

men sie an, habe endlich jene Postpostmoderne begonnen, in der zwar von Zeit zu Zeit noch gewisse Reformen im Bereich der Klimaregulierung und Digitalisierung nötig seien, die aber keiner grundsätzlichen, auf eine kulturpolitische Revolution hindrängenden Veränderungen mehr bedürfe. Demzufolge nehmen es viele dieser Menschen sogar hin, dass die Besitzverhältnisse in ihrer Gesellschaft der freien Marktwirtschaft gar nicht so demokratisch sind, wie das von den Gleichheitsaposteln unter den systemimmanenten Soziologen und Soziologinnen gern behauptet wird. Sie vertrauen lieber auf die alljährliche Zuwachsrate der industriellen Produktion und die ständig neuen technologischen Erfindungen, die auch ihnen leichtere Arbeitsbedingungen, eine größere Informationsfülle und einen zunehmenden Wohlstand versprechen. Daher sehen viele von ihnen im Fernsehen mit Genugtuung, wie die DAX-Rate der großen Konzerne und Banken wieder einmal neue Rekordhöhen erreicht, ohne zu erkennen, dass dies eher dem Reichtum der ohnehin finanziell Bessergestellten als ihnen selbst zugute kommt und dadurch die soziale Ungleichheit von Jahr zu Jahr immer offensichtlicher wird. Schließlich gab es im Zuge dieser Entwicklung im Jahr 2019 in der alt-neuen Bundesrepublik bereits 119 Milliardäre, die über ein Gesamtvermögen von 500,9 Milliarden Euro verfügten. Ein Jahr später war deren Kapital sogar schon auf 596 Milliarden Euro angewachsen, während sich die Anzahl der Millionäre kaum noch überblicken ließ. All das hat dazu geführt, dass im Jahr 2017 in diesem Staat zehn Prozent der Bevölkerung über 56 Prozent, ja kurz darauf über 63 Prozent des gesamten Volksvermögens besaßen und sich die unteren 50 Prozent der Bevölkerung, von denen fast 20 Prozent in ärmeren Verhältnissen leben, mit 1,3 Prozent des Volksvermögens begnügen mussten. Aber selbst diese eklatante Ungleichheit wird von manchen Schönrednern unter den Verteidigern der freien Marktwirtschaft nicht als Diskriminierung der gesellschaftlichen Unterklassen, sondern weiterhin als »neoliberalistisch« bezeichnet, anstatt endlich unumwunden zuzugeben, dass es bei diesen »Diversity-Bestrebungen« weniger darum gehe, soziale »Ungleichheiten zu minimieren, als sie zu rechtfertigen«.30 Ja, um auch auf den kulturellen Aspekt dieser immer wieder ins Neutralisierende tendierenden Vielfältigkeitsanschauungen zurückzukommen: Sogar auf diesem Gebiet ließe sich das allzu positive Konzept einer angeblich »pluralistischen Gesellschaft« – trotz mancher emanzipatorischen Errungenschaften im Hinblick auf die Überwindung bestimmter geschlechts- und minderheitsbedingter Nachteile – durchaus problematisieren. Schließlich wirkt sich die Ungleichheit in den Vermögensverhältnissen nicht nur auf den höchst verschiedenartigen Lebensstil der oberen, mittleren und unteren Bevölkerungsschichten aus, sondern hat auch – meist bedingt durch die Unterschiede in den finanziellen Möglichkeiten, sich eine höhere Bildung anzueignen – durchaus kulturelle Folgerungen. Allerdings sind diese 218

Die Kultur der heutigen Market Driven Society

nicht mehr so augenfällig wie in vielen älteren Klassengesellschaften, wo es aufgrund einer streng hierarchischen Bevölkerungsstruktur das kleine E in den Künsten nur für die Oberschicht gab und sich die Unterschichten mit dem anspruchslosen U der Populärkünste abfinden mussten. Kein Zweifel, dieser Abstand ist inzwischen wesentlich kleiner geworden. Dafür hat mittlerweile im Rahmen der freien Marktwirtschaft vor allem die maßlos angeschwollene Unterhaltungsindustrie gesorgt, die längst eingesehen hat, dass sich mit den E-Künsten keine großen Gewinne machen lassen, wodurch diese zusehends auf reiche Sponsoren, sogenannte Foundations oder staatliche Unterstützungen angewiesen sind. Um diesen Zustand nicht allzu offensichtlich werden zu lassen, weisen die Apologeten dieser kulturellen Situation gern darauf hin, dass in Hinsicht auf die Anteilnahme an den sogenannten E-Künsten im Gegensatz zu früher die heutigen Vermögensverhältnisse gar nicht mehr so entscheidend seien. Schließlich gebe es nicht nur in dem allen Menschen verfügbaren Fernsehen ab und zu auf die sogenannten höhergearteten E-Künste hinweisende Dokumentationen zu sehen, sondern inzwischen seien obendrein fast alle großen Kunstwerke der Vergangenheit im Internet über YouTube erreichbar und damit für jeden zugänglich geworden. Doch solche Argumente, wie sie von den Verfechtern der auf die Selbstrealisierungsmöglichkeiten innerhalb der heutigen pluralistischen Gesellschaft der Singularitäten hinweisenden Kulturtheoretiker und -theoretikerinnen häufig vertreten werden, sind letztlich fadenscheinig. Die freie Verfügbarkeit der sogenannten E-Künste im Internet garantiert schließlich nicht unbedingt, dass sie auch von allen gesehen oder gehört werden. Zugegeben, die Einschaltquoten bei manchen War Horses oder Dauerbrennern wie Mozarts Kleine Nachtmusik, Beethovens 5. Symphonie oder Schuberts Forellenquintett, die schon früher als CDs große Marktanteile erringen konnten, sind erstaunlicherweise nach wie vor hoch, bleiben aber dennoch weit hinter den dort und auch in anderen Medien angebotenen Werken der gängigen Pop- und Unterhaltungsmusik zurück. Das Gleiche gilt für die dort verfügbaren Theaterstücke oder Literaturforen, die zahlenmäßig nicht mit der maßlosen Beliebtheit von Krimis, Soap Operas, Videospielen, Comedy Shows, Blödelbarden oder witzigen Satiresendungen konkurrieren können. Und so ist zwar durch das allgemein zugängliche Internet die Möglichkeit, den seit alters her bestehenden Gegensatz zwischen dem kleinen E und dem großen U endlich aufzuheben, durchaus gegeben. Doch wer nutzt diese Chance wirklich? Sicher selbst einige unter jenen, die früher keinen Zugang zu solchen Kunstformen hatten. Aber die überwältigende Mehrheit der bundesrepublikanischen Bevölkerung bevorzugt, wenn man sich die Statistiken der Einschaltquoten im Internet anschaut, trotz dieser technologischen Innovationen weiterhin die akustischen und visuellen Angebote jener Unterhaltungsindustrie, in denen vornehmlich das Spannende, Ver219

Die alt-neue Bundesrepublik

gnügliche oder Liebesbeseligende vorherrscht, das keinerlei »höhere« Ansprüche stellt. Deshalb ist es trotz des Internets, der E-Books, der Google Images und all jener in den neuen Medien auftauchenden e-künstlerischen Darbietungen weiterhin bei jenem ästhetischen Supermarkt geblieben, der sich auf diesem Gebiet in allen vornehmlich marktbedingten Industriegesellschaften durchgesetzt hat, in denen das unterschiedslose Diversitätsprinzip herrscht. Doch lässt sich ein solcher Zustand wirklich als wahrhaft demokratisch bezeichnen? Oder wirken hier nicht nach wie vor jene Mechanismen weiter, die schon vorher in allen hochentwickelten Industriestaaten wirksam waren? Jedenfalls sollte man angesichts dieser Situation nicht vorschnell von einer A- oder Allgemeinkultur sprechen, die von allen Mitgliedern der Gesellschaft als ideologisch verbindlich angesehen würde. Schließlich wäre es die Aufgabe einer wahren »Kultur«, nicht nur den singulären Ichbedürfnissen der Einzelmenschen entgegenzukommen, sondern sie auch in ihren gesamtgesellschaftlichen Wertvorstellungen zu bestärken. Die wenigen Versuche, diesem Zustand Paroli zu bieten, kamen bisher meist von rechtsstehenden Kreisen. So haben sich in der BRD in den letzten vier Jahrzehnten mehrere parteiamtliche Wertkommissionen damit beschäftigt, eine Reihe spezifisch demokratisch wirkender Leitlinien für eine mögliche Änderung auf diesem Gebiet ausfindig zu machen. Doch derartige Bemühungen sind wegen mangelnder »Wir«-Konzepte stets im Sande verlaufen. Ja, es hat sogar – in Reaktion auf die jüngst erfolgten Migrantenwellen – eine Anzahl von Vorschlägen zu einer spezifisch deutschgesinnten »Leitkultur« gegeben. Aber diese waren von Seiten der AfD, um noch einmal darauf zurückzukommen, zumeist chauvinistisch oder von Seiten der CDU/CSU zumeist religiös ausgerichtet und sind daher zu Recht auf den Widerspruch der liberalpluralistisch eingestellten Mehrheit der bundesrepublikanischen Bevölkerung gestoßen. Eher begrüßt wurden dagegen jene Vorschläge zu einer neuen Leitkultur, zu denen sich der SPD-Politiker Raed Saleh 2017 in seinem Buch Ich deutsch. Eine neue Leitkultur bekannte, der unter dem Motto »tolerant, bunt und einleuchtend« eine Mischkultur befürwortete, in der es zwischen hoch und niedrig, zwischen dem kleinen E und dem großen U keinen Gegensatz mehr geben würde. So sollten sich beispielsweise auf dem Gebiet der Musik, wie er schrieb, in Zukunft alle Bundesdeutschen sowohl an den Werken von Johann Sebastian Bach und der Nationalhymne als auch an den Volksliedern Heinos und den Rhythmen der Metallrockband Kraftwerk erfreuen,31 ohne darin einen ideologischen oder qualitativen Unterschied zu sehen. Doch in einer derart undifferenzierten Gleichsetzung dürfte sich die Hoffnung auf eine neue Leitkultur keineswegs erschöpfen. Schließlich sackte dadurch das Hohe lediglich auf die Ebene des Niedrigen ab und würde sich kaum noch von den anderen Gebrauchsgütern der herrschenden Medienindustrie unterscheiden. Und damit 220

Die Kultur der heutigen Market Driven Society

Abb.  50 ­Markus Mainka: Multikulturelles Deutschland (2015)

träte auch auf dem Gebiet der Kultur, wie auf vielen anderen Gebieten, zwangsläufig jener Zustand der »Banalität und Ratlosigkeit« ein, der stets dann überhand nehme, wenn in einer Gesellschaft die »Oasen der Utopie auszutrocknen beginnen«, wie Jürgen Habermas bereits vor längerer Zeit erklärt hat.32 Doch wie sollte eine derartige Utopie aussehen, an der sich ein effektiver Widerstand entzünden könnte, mit dem sich die zunehmende, als multikulturell ausgegebene Eindimensionalität auf kulturellem Sektor aufheben ließe? Dazu gehörte sicher mehr als eine auch die unzähligen Migranten einbeziehende ideologisch unverbindliche Willkommens- oder Mischkultur, wie sie heute im Zuge der vielfach beschworenen Pluralismusparolen häufig propagiert wird. 221

Die alt-neue Bundesrepublik

Um also im Hinblick auf die immer noch ungelöste Problematik, wie denn eine der gegenwärtigen Situation entsprechende Kultur tatsächlich aussehen solle, nicht zu vorschnellen Schlüssen zu kommen, empfiehlt es sich, noch einmal kurz darauf einzugehen, in welcher Form sich denn die führenden Kulturtheoretiker der Vergangenheit zu solchen Fragen geäußert haben. Im Zuge der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, als diese Problemstellung erstmals diskutiert wurde, hat man im Heiligen Römischen Reich – aufgrund der soziopolitischen Schwäche des Bürgertums – erst einmal à la Immanuel Kant das »interesselose Wohlgefallen« an den einzelnen Kunstformen gegen die auf vielen Gebieten höfisch oder klerikal überformte E-Kultur ausgespielt33 oder ist wegen der ökonomischen Schwäche des damaligen Bürgertums in irgendwelche ins Idealistische übergehenden Menschheitsträume ausgewichen. Anschließend sind die Vertreter oppositionell gesinnter Kreise unter hegelianischer, jungdeutscher oder marxistischer Perspektive zusehends dazu übergegangen, den Hauptakzent in dieser Hinsicht auf die gesellschaftskritische Funktion aller künstlerischen Bemühungen zu legen. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848 haben sich dagegen viele Künstler und Kulturtheoretiker weitgehend mit einem pragmatisch gesinnten »bürgerlichen Realismus« zufriedengegeben. Ideologisch relevant wurden diese Fragestellungen erst im Zuge der in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts im Deutschen Bund einsetzenden industriellen Revolution, durch die auch in kultureller Hinsicht jene kapitalistischen Marktverhältnisse eintraten, welche zu jener immer krasser werdenden Aufspaltung in eine E- und eine U-Kultur führten, die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts die maßgebliche Form des deutschen Kulturlebens blieb. Selbst die Stimmen vieler linksorientierter Kritiker haben darauf keinen Einfluss gehabt. Von dem in der DDR vorgenommenen hochambitionierten, aber gescheiterten Versuch, die E-Kultur zum alleinigen Maßstab einer wahren Kultur zu erheben, einmal abgesehen, blieb es selbst in der sich als demokratisch ausgebenden Weimarer Republik und dann der ehemaligen Bundesrepublik bei dieser Spaltung, wenn auch der Anteil der E-Künste allmählich zurückging und die sich marktbestimmenden U-Künste immer weiter ausbreiteten, woran selbst das darauffolgende subjektbezogene Pluralismusgerede innerhalb des Kulturwesens nicht viel geändert hat. Um diesen Zustand zu beseitigen, haben zwar vereinzelte Kulturtheoretiker und -theoretikerinnen immer wieder darauf hingewiesen, dass man sich endlich bemühen solle, den »Anteil der breiten Schichten« an den höheren Kunstformen so tatkräftig wie nur möglich zu erweitern. Doch dazu müssten im Gegensatz zu den heutigen Marktbedingungen völlig andere »wirtschaftliche und soziale Voraussetzungen« geschaffen werden, wie es bereits 1953 in den Schlusssätzen von Arnold Hausers zweibändiger Sozialgeschichte der Kunst und Literatur hieß, wofür jedoch eine »kämpferische Haltung« nötig sei, die sich bisher leider noch nirgends abzeichne.34 Nun, auch manche anderen Kulturkritiker, wie die linksorientierten Vertreter und 222

Die Kultur der heutigen Market Driven Society

Vertreterinnen der Achtundsechziger Bewegung, haben sich zu solchen Forderungen bekannt, die allerdings immer wieder an den herrschenden Marktbedingungen und dem dahinterstehenden »System« gescheitert sind. Um an dieser Situation, an der es wenig Beschönigendes gibt, wirklich etwas zu ändern, dürften ideologisch Andersdenkende – trotz aller bisherigen Rückschläge – dennoch nicht darauf verzichten, wenn auch vorerst noch utopisch klingende Konzepte einer wahrhaft demokratischen Leitkultur zu entwerfen, um diesem in vielen Ohren leidig klingenden Begriff endlich eine höhere Bedeutsamkeit zu verleihen. Und zwar sollten sie dabei ihre Hoffnungen nicht auf irgendwelche kunstimmanenten Entwicklungsvorgänge setzen, die im Rahmen der gegenwärtigen, fast ausschließlich auf innovative Beschleunigung und Profitsteigerung bedachten Vermarktungsstrategien kaum durchführbar wären, sondern sich keineswegs scheuen, die jeweils herrschenden Parteien und die von ihnen unterstützten Regierungen sowie die verschiedenen Wissenschaftsministerien, kommunalen Behörden, Gewerkschaften wie ver.di, Theater, Verlage und Kunstvereine für ihre ideologischen Bemühungen zu gewinnen oder zumindest zu interessieren. Besonders wichtig wäre in diesem Zusammenhang die Forderung, ein effektives Kulturministerium zu errichten, das verantwortungsbewussteren Künstlern Aufträge erteilen würde, in ihren Werken sowohl Themen aufzugreifen, die sich mit den nach wie vor bestehenden Klassenunterschieden innerhalb der realexistierenden Bevölkerung auseinandersetzen, als auch ideologische Leitbilder einer neuen gesellschaftlichen Solidarität aufzurichten. Und zwar sollten sie dabei möglichst konkrete Zielvorstellungen, nämlich die einer sozialen Gleichberechtigung, eines kommunitaristischen Zugehörigkeitsbewusstseins, einer zunehmenden Aufhebung des Gegensatzes von entfremdeter und nichtentfremdeter Arbeit, einer höhergearteten Bildungspolitik sowie einer neu einsetzenden Graswurzelrevolte ins Auge fassen, die zu einer größeren Wertschätzung der diesen Vorstellungen entsprechenden Kunstwerke führen könnten. Um weiterhin im Tonfall des Manifestatorischen zu bleiben, wäre demnach das letztlich anvisierte Ziel all dieser Bestrebungen eine neue, andersgeartete Leitkultur, die sich – jenseits der gegenwärtig bestehenden Spaltung in eine ins Massenhafte trivialisierte U-Kultur sowie eine ins Formalistische oder psychologisch Vereinzelte tendierende E-Kultur – endlich bemühen würde, eine bedeutsame, alle Staatsbürger und Staatsbürgerinnen ansprechende A- oder Allgemeinkultur ins Auge zu fassen, von der wieder gesellschaftsverändernde Impulse ausgehen könnten. Erst dann wäre es möglich, mit besserem Gewissen von einer sinnstiftenden, in die Zukunft weisenden Kultur zu sprechen, in der aus der »Ware Kunst« – eingedenk der Brecht’schen Forderung: »Um Kultur zu werden, muss die Kultur ihren Gütercharakter aufgeben«35 – eine »wahre Kunst« werden könnte. 223

Nachwort

Nur wenige Wochen vor seinem plötzlichen Tod am 9. Oktober 2021 hatte Jost Hermand das Manuskript für dieses Buch fertig gestellt, das nun postum als seine letzte Veröffentlichung in Deutschland erscheint. Er war bis in seine letzten Lebenstage intellektuell aktiv und damit beschäftigt, seinen Überzeugungen und Werten Ausdruck zu geben. Als ehemalige Studentin von ihm und Mitglied seines Freundeskreises war es mir eine Ehre, die Manuskriptkorrektur zu Ende zu führen, damit das Buch wie geplant erscheinen kann. Den MitarbeiterInnen des Böhlau Verlags danke ich für die gute Zusammenarbeit. Loyalität war eine von Jost Hermands hervorstechenden Eigenschaften – sei es den Ideen, Haltungen und Überzeugungen gegenüber, die seine Schriften und Lehre prägten, sei es den Menschen gegenüber, die ihm während seines langen Lebens Zuneigung und Unterstützung entgegenbrachten. Indem er dieses Buch dem Andenken seines Mentors, des Kunsthistorikers Richard Hamann, widmete, gedachte er der einzigartigen Gelegenheit, die Hamann ihm vor 65 Jahren geboten hatte: die gemeinsame Autorschaft der grundlegenden, groß angelegten fünfbändigen Reihe Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus. In diesen Bänden begann Jost Hermand, seine synthetische Methode der Interpretation von Literatur, Kunst und Musik in ihrer Verflechtung mit Politik, Gesellschaft und Wirtschaft zu entwickeln, die im vorliegenden Band so deutlich und ausgereift zur Anwendung kommt. Nach Richard Hamanns Tod im Jahre 1961 schrieb Jost Hermand im Vorwort zu dem Band Gründerzeit (Berlin 1965, S. 18): »Diesen Verlust mit Worten zu ermessen, verbietet sich fast von selbst, vor allem bei einem Menschen wie Richard Hamann, für den sich die Persönlichkeit stets in der Leistung manifestierte. In seinem Sinne weiterzuarbeiten, ist daher höchste Ehre und höchste Verpflichtung zugleich.« Diese Worte lassen sich ebenso auf Jost Hermand beziehen – und auf uns, die wir von ihm gelernt haben und ihm nachfolgen. Carol Poore Professor Emerita of German Studies Brown University

224

Madison, Wisconsin 1. November 2021

Anmerkungen

Da die Fülle der Sekundärliteratur zur deutschen Wirtschafts- und Kulturgeschichte geradezu unübersehbar ist, wurde deshalb in diesem Buch darauf zwangsläufig verzichtet, sie bibliografisch erfassen zu wollen. Stattdessen beschränken sich die Anmerkungen lediglich auf Nachweise der im Text angeführten Zitate. Die Computerisierung meines Manuskripts besorgten Carol Poore und Nicole Fischer. Für kritische Hinweise bin ich Marc Silberman verpflichtet. Allen dreien sei auch an dieser Stelle nochmals mein aufrichtiger Dank ausgesprochen. Nachtrag von Carol Poore: Ich möchte mich bei Brian Wilt für seine Hilfe bei der Erledigung der Korrekturen bedanken.

Vorwort 1 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Berlin 1790, S. 211. 2 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, Jena 1908, Bd. I, S. 418. 3 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, Frankfurt a. M. 1986,

S. 25.

4 Zit. in: Literaturgeschichte zwischen Revolution und Reaktion 1830–1870. Hrsg. von

Bernd Hüppauf, Frankfurt a. M. 1972, S. 59.

5 Vgl. Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grund­

legung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Leipzig 1883, S. 1 f.

6 Vgl. mein Buch: Geschichte der Germanistik, Reinbek 1994, S. 75. 7 Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwick-

lung in der neueren Kunst, München 1948, S. 10 ff.

8 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Walter Benjamin zum Gedächt-

nis, New York 1942.

9 Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M.

1986.

10 Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Mo-

derne, Berlin 2017, S. 227.

11 Jürgen Habermas: Gesellschaft als Phantomschmerz. In: Wiener Zeitung vom 27. April

2019.

Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation 1 2 3 4

Matthäus-Evangelium, 21,12. Vgl. Wolfram Weiner: Geschichte des Geldes, Frankfurt a. M. 1992, S. 159. Freidanks Bescheidenheit. Hrsg. von Wolfgang Spiewok, Leipzig 1985, S. 38. Fortunatus. Hrsg. von Hans-Gert Roloff, Stuttgart 1981, S. 190, 194. 225

Anmerkungen

Samuel von Pufendorf: De statu imperii Germanici, Genf 1667, 6. Kapitel, Paragraf 9. Johann Sebastian Bach: Kantate Nr. 150. Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter, Nürnberg 1653, S. 112. Vgl. mein Buch: Die Wenigen und die Vielen. Trägerschichten deutscher Kultur, Köln 2017, S. 108. 9 Zit. in Ulrich Wyrwa: Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich, London 2003, S. 96. 10 Ludwig van Beethoven: Trauerkantate auf den Tod Kaiser Josephs des Zweiten, WoO 37, Nr. 3. 5 6 7 8

Der Deutsche Bund 1 Ernst Moritz Arndt: Ein Wort über die Pflegung und Erhaltung der Forsten und Bauern

im Sinne einer höheren d. h. menschlichen Gesinnung, Schleswig 1820, S. 63.

2 Gustav Freytag: Soll und Haben. 100. Auflage, Leipzig 1919, Bd. I, S. 309. 3 Ebd., Bd. I, S. 63.

Das Zweite Kaiserreich 1 Zit. in Walter Panofsky: Richard Strauss. Partitur eines Lebens, München 1965, S. 121. 2 Johannes Grosse: Nacktheit. In: Die Schönheit 9, 1911, S. 327. 3 Zit. in Gerhard Schildberg-Schroth: Szenen zur Kaiserzeit. Ansichten und Aussichten 4 5 6 7 8

vom 19. zum 20. Jahrhundert, Münster 2002, S. 104. Willy Hellpach: Nervosität und Kultur, Berlin 1902, S. 135. Otto Julius Bierbaum: Gesammelte Werke, München 1925, Bd. I, S. 363. Oscar Bie in: Die Neue Rundschau, 1907, S. 1531. Walter Hasenclever: Der Sohn, Leipzig 1917, S. 81. Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. In: Die Aktion, 1912, S. 645.

Die Weimarer Republik 1 Richard Hamann: Die deutsche Malerei vom Rokoko bis zum Expressionismus, Leipzig

1925, S. 404.

2 Zit. in Klaus H. Kiefer: Diskurswandel im Werk Carl Einsteins. Ein Beitrag zur Ge-

schichte und Theorie der europäischen Avantgarde, Tübingen 1994, S. 193.

3 Adolf Behne in: Das neue Berlin. Hrsg. von Martin Wagner, Berlin 1930, S. 151. 4 Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in acht Bänden. Hrsg. von Elisabeth Hauptmann,

Frankfurt a. M. 1967, Bd. VIII, S. 273.

Das NS-Regime 1 Max Horkheimer: Die Juden und Europa. In: Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. VIII,

1939/40, S. 115.

2 Joseph Goebbels: Signale der neuen Zeit. 25 ausgewählte Reden, München 1934, S. 79. 3 Adolf Hitler: Mein Kampf, München 1934, S. 395.

226

Anmerkungen

4 Vgl. Ernst Klee: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich, Frankfurt a. M. 2007, S. 202. 5 Joseph Goebbels: Signale der neuen Zeit (wie Anm. 2), S. 89. 6 Zit. in Werner Egk: Die Zeit wartet nicht. Künstlerisches, Zeitgeschichtliches, Privates

aus meinem Leben, München 1981, S. 41.

7 Bertolt Brecht: Hollywood-Elegien. In: Gesammelte Werke in acht Bänden. Hrsg. von

Elisabeth Hauptmann, Frankfurt a. M. 1967, Bd. IV, S. 849.

8 Vgl. Charles Chaplin: Die Schlussrede aus dem Film Der große Diktator 1940. Mit

einem Essay von Jost Hermand, Hamburg 1993, S. 36 ff.

9 Vgl. meinen Essay: Brecht in Hollywood. In ders.: Die Toten schweigen nicht. Brecht-

Aufsätze, Frankfurt a. M. 2010, S. 109.

10 Arnold Schönberg: Neue Musik – Meine Musik. In: Journal of the Arnold Schoenberg

Institute 1, 1976/77, H. 2, S. 100.

11 Bertolt Brecht: Gesammelte Werke (wie Anm. 7), Bd. IV, S. 850. 12 Ebd., Bd. IV, S. 743.

Die sowjetische Besatzungszone und die Deutsche Demokratische Republik 1 Vgl. mein Buch: Unerfüllte Hoffnungen. Rückblicke auf die Literatur der DDR, Ox-

ford 2012, S. 4 f.

2 Johannes R. Becher: Diskussionsbeitrag auf dem III.  Parteitag der SED. In: Neues

Deutschland vom 25. Juli 1950.

3 Vgl. Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED. Hrsg. von Elimar

Schubbe, Stuttgart 1972, S. 149 f.

4 Ebd., S. 141. 5 Ernst Hermann Meyer: Realismus – Die Lebensfrage der deutschen Musik. In: Neues

Deutschland vom 4. Mai 1951.

6 Vgl. Goethe in der DDR. Konzepte, Streitpunkte und neue Sichtweisen. Hrsg. von

Herbert Mayer, Berlin 2003.

7 Zit. in DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, innere Materialien und

Alltagszeugnisse. Hrsg. von Matthias Judt, Bonn 1998, S. 300.

8 Vgl. Jürgen Scharfschwerdt: Literatur und Literaturwissenschaft in der DDR, Stuttgart

1982, S. 86 ff.

9 Johannes R. Becher: Diskussionsbeitrag (wie Anm. 2).

Die Nachkriegszeit in den drei westlichen Besatzungszonen 1 Zit. in Gustav Stolper: Die deutsche Wirklichkeit. Ein Beitrag zum künftigen Frieden

Europas, Hamburg 1949, S. 318. Vgl. Ahlener Programm vom 3. Februar 1947, S. 1. Zit. in: The Ideas of Henry Luce. Hrsg. von John K. Jessup, New York 1969, S. 132, 299. Wilhelm Hausenstein: Was bedeutet die moderne Kunst? Leutstetten 1949, S. 17. Andreas Liess: Die Musik im Weltbild der Gegenwart, Lindau 1949, S. 221. Verlagsanzeige des Bürger-Verlags in: Börsenblatt des Deutschen Buchhandels, April 1948. 7 Zit. in Frances Stonor Saunders: Who Paid the Piper? The CIA and the Cultural Cold War, London 1991, S. 258. 2 3 4 5 6

227

Anmerkungen

8 Zit. in Paul Vogt: Geschichte der deutschen Malerei im 20.  Jahrhundert, Köln 1972,

S. 450.

9 Das Kunstwerk 1, Heft 5/6, 1948, S. 57.

Die ehemalige Bundesrepublik 1 Vgl. Ludwig Erhard: Wohlstand für alle, Düsseldorf 1957. 2 Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kol-

lektiven Verhaltens, München 1967.

3 Hans-Joachim Lange in: magnum – die Zeitschrift für das moderne Leben, Köln, April

1959.

4 Bestandsaufnahme. Eine deutsche Bilanz 1962. Sechsunddreißig Beiträge deutscher

5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

Wissenschaftler, Schriftsteller und Publizisten. Hrsg. von Hans Werner Richter, München 1962, S. 12. Vgl. Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik, Frankfurt a. M. 1971. Günter Wallraff: Die Reportagen, Köln 1976, S. 174. Reinhard Müller-Mehlis in: Tendenzen, Nr. 14, April 1962, S. 62. ACID. Neue amerikanische Szene. Hrsg. von Rolf Dieter Brinkmann und Ralf Rainer Rygulla, Darmstadt 1969, S. 393. Zit. in: Die fünfziger Jahre. Hrsg. von Dieter Bänsch, Tübingen 1985, S. 283. Hans Dollinger: Die totale Autogesellschaft, München 1972, S. 253. Hans Magnus Enzensberger: Zur Kritik der politischen Ökologie. In: Kursbuch 9, 1973. Petra K. Kelly: Um Hoffnung kämpfen. Gewaltfrei in eine grüne Zukunft, Bornheim 1983, S. 82. Ebd., S. 182. Ebd., S. 29. Vgl. Die Grünen: Das Basisprogramm, Bonn 1985, S. 42. Vgl. Bernd Wagner: Kulturpolitik und Politik des Kulturwollens. In: Öko-Kunst. Zur Ästhetik der Grünen. Hrsg. von Jost Hermand und Hubert Müller, Hamburg 1989, S. 52.

Die alt-neue Bundesrepublik 1 Vgl. Francis Fukuyama: The End of History and the Last Man, New York 1992. 2 Vgl. mein Buch: Die Wenigen und die Vielen. Trägerschichten deutscher Kultur von

den Anfängen bis zur Gegenwart, Köln 2017, S. 299.

3 Volker Braun: Mein Eigentum. In ders.: Texte in zeitlicher Folge, Halle 1993, Bd. X,

S. 52.

4 Heiner Müller: Werke. Hrsg. von Frank Hörnigk, Frankfurt  a. M. 1998–2008, Bd. I,

S. 233.

5 Ebd., Bd. VIII, S. 465. 6 Johannes R. Becher: Diskussionsbeitrag auf dem III. Parteitag der SED. In: Neues

Deutschland vom 25. Juli 1950.

7 Günter Grass: Rede vom Verlust (1992). In: Werkausgabe, Göttingen 1997, Bd. XVI,

S. 364.

228

Anmerkungen

8 Günter Grass: Ein Schnäppchen namens DDR. Letzte Reden vorm Glockengeläut,

Frankfurt a. M. 1990, S. 18.

9 Frank Schirrmacher: Abschied von der Literatur der Bundesrepublik. In: Frankfurter

Allgemeine Zeitung, Oktober 1990.

10 Vgl. Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten: Mein Gegenprogramm – für Gemein-

sinn und Zusammenhalt, Frankfurt a. M. 2021, S. 18.

11 Vgl. Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der

Moderne, Berlin 2017.

12 Jürgen Habermas: Der DM-Nationalismus. In: Die Zeit, Nr. 14 vom 30. März 1990. 13 Bernd Stegemann: Die Öffentlichkeit und ihre Kritiker, Stuttgart 2021, S. 285. 14 Theo Sommer: Der Kopf zählt, nicht das Tuch – Ausländer in Deutschland. Integration

kann keine Einbahnstraße sein. In: Die Zeit vom 16. Juli 1998.

15 Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer libera-

len Eugenik, Frankfurt a. M. 2002, S. 13.

16 Zit. nach Martin Ohlert: Zwischen »Multikulturalismus« und »Leitkultur«. Integra-

17 18 19 20 21 22 23 24 25

26 27

28 29 30 31 32 33 34 35

tionsleitbild und -politik der im 17. Deutschen Bundestag vertretenen Parteien, Berlin 2014, S. 254. Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Basel 1759, Bd. III, S. 431. Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften, Leipzig 1843, Bd. IV, S. 70. Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 27. Stück. Immanuel Kant: Werke. Hrsg. von Wilhelm Weischedel, Wiesbaden 1953, Bd. IV, S. 433. Zit. in Volker Scherliess: Alban Berg, Reinbek 1975, S. 64. Vgl. Bernd Stegemann: Lob des Realismus, Berlin 2015, S. 83 ff. Jürgen Habermas: Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a. M. 1985, S. 161. Vgl. Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005. Theodor W. Adorno: Kulturindustrie  – Aufklärung als Massenbetrug. In Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947. Vgl. Statistisches Bundesamt: Bildung und Kultur. Spartenbericht Film, Fernsehen und Hörfunk, Berlin 2019, S. 44. Reinhold Wagnleitner: »No Commodity Is Quite So Strange As This Thing Called Cultural Exchange«. The Foreign Politics of American Pop Culture Hegemony. In: Amerikastudien 46,3, 2001, S. 27. Vgl. Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017. Vgl. Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005, S. 118 ff. Vgl. Walter Benn Michaels: Memento vom 5. Januar 2021. In: Webarchiv archive.today. Raed Saleh: Ich deutsch. Eine neue Leitkultur, Hamburg 2017, S. 47. Jürgen Habermas: Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a. M. 1985, S. 161. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Berlin 1790, S. 211. Arnold Hauser: Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1953, Bd. II, S. 518. Bertolt Brecht: Arbeitsjournal. Hrsg. von Werner Hecht, Frankfurt a. M. 1973, Bd. II, S. 517.

229

Bildnachweise

Abb. 1 Richard Hamann. Im Besitz des Verfassers. Abb. 2 Bau eines Klosters (um 1350), © akg-images 22501. Abb. 3 Ständeordnung (1488), Wiki gemeinfrei. Abb. 4 Jost Amman: Der Buchdrücker (1568), © akg-images 38415. Abb. 5 August der Starke (1723), © akg-images 341613, Fotograf: Sotheby’s. Abb. 6 Schloss Schönbrunn (1725), © akg-images 7321572, Fotograf: New Picture Library. Abb. 7 Daniel Chodowiecki: Toleranz (1791), © akg-images 114311. Abb. 8 Karl Friedrich Schinkel: Entwurf zu einem Palast (1834), © akg-images 3150520. Abb. 9 Alfred Rethel: Die Harkortsche Fabrik (1834), © akg-images 96989. Abb. 10 Dampfstielhammer (1852), © akg-images 62862. Abb. 11 Schiller-Feier (1859), © akg-images 4649536, Fotograf: New Picture Library. Abb. 12 Kaiser-Passage (1873), © akg-images 59154. Abb. 13 Drei Generationen (1886), © akg-images 6128999, Fotograf: New Picture Library. Abb. 14 Lovis Corinth: Liegender Akt (1899), © akg-images 942526. Abb. 15 Stehender Frauenakt. In: Die Lebensreform. Hrsg. von Kai Buchholz, Bd. II,

Verlag Haeusser, Darmstadt 2001, S. 379. Abb. 16 Hans Anetsberger: Der Arbeitsmann. In: Simplicissimus 1, Nr. 37, 1896. Abb. 17 Joseph Maria Olbrich: Jugendstilfenster (1901), © akg-images 2071615, Fotograf:

New Picture Library. Abb. 18 Heinrich Vogeler: Titelseite (1901). Im Besitz des Verfassers. Abb. 19 Peter Behrens: Wasserturm (1912). In Gustav Adolf Platz: Die Baukunst der

neuesten Zeit, Berlin 1927. Abb. 20 Egon Schiele: Vater und Sohn (1913), © akg-images 196731. Abb. 21 Otto Dix: Plakat einer Ausstellung der Dresdner Sezession (1919). In: Kunst im

Aufbruch. Dresden 1919–1933, Dresden 1980, S. 31. © VG Bild-Kunst, Bonn 2021. Abb. 22 Ludwig Meidner: Septemberschrei (1920), © akg-images 4751527,

Ludwig ­Meidner-Archiv, Frankfurt a. M., Jüdisches Museum. Abb. 23 Reklame des Lotte-Hauses (1928). In: Das neue Berlin. Hrsg. von Martin Wagner,

Berlin 1928, S. 151. Abb. 24 Carl Hofer: Nachtlokal (1927). Foto Franz Stoedtner, Düsseldorf, Archiv-

Nr. 177603 © VG Bild-Kunst, Bonn 2021. Abb. 25 Gerd Arntz: Wahldrehscheibe (1932). Im Besitz des Verfassers © VG Bild-Kunst, Bonn 2021. Abb. 26 Wahlplakat der NSDAP (1932). © Alamy Stock Photo.

230

Bildnachweise

Abb. 27 Reklame. In: Das Daimler-Benz-Buch. Hrsg. von der Hamburger Stiftung für

Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, Franz Greno Verlag, Nördlingen 1987, S. 114. Abb. 28 Zarah Leander: Filmplakat (1942), © akg-images 25432. Abb. 29 Die Feuerzangenbowle (1944), © akg-images 24730. Abb. 30 Verlagsanzeige, Querido Verlag, Amsterdam 1933. Abb. 31 John Därnke: Plakat des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutsch-

lands (Oktober 1945), Bundesarchiv, bpb.de. Plak 100-050-001. Abb. 32 Rockband Silly (1986), © ullstein bild – ADN-Bildarchiv. Abb. 33 Franz Haacken: Neubeginn. Titelblatt der Zeitschrift Horizont 1, Dezember 1945. Abb. 34 Textilgeschäft (1949), © akg-images 156656. Abb. 35 Willi Baumeister: Atlantis (1947), © akg-images 986981. Abb. 36 Vorbereitung der »Großen Rationalisierungs-Ausstellung« in Düsseldorf

Abb. 37 Abb. 38 Abb. 39 Abb. 40 Abb. 41 Abb. 42 Abb. 43 Abb. 44

Abb. 45 Abb. 46 Abb. 47 Abb. 48 Abb. 49 Abb. 50

(3. Juli 1953), © bpk/Deutsches Historisches Museum/Pressebild-Agentur Schirner. A. Paul Weber: Die Exklusiven (1957). In: Simplicissimus, 4. Mai 1957, S. 275 © VG Bild-Kunst, Bonn 2021. Filmplakat (1956), © akg-images 26092. Rainer Hachfeld: Karikatur (1968). In: tendenzen, Heft 49/50, 1968, S. 49. Titelblatt (1970). In: Agit 883, Nr. 58 vom 1. Mai 1970. Heinz Edelmann: Yellow Submarine (1968). Im Besitz des Verfassers. Klaus Staeck: Saurer Regen (1983). ddv postkartenbuch, Nr. 10324 © VG Bild-Kunst, Bonn 2021. Wassili Lepanto: Nur in den Wäldern gibt es Frieden (1987). Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers. Ehemaliges Kulturhaus des VEB Elektrokohle (1994). In Simone Hain und Stephan Stroux: Die Salons der sozialistischen Kulturhäuser in der DDR, Ch. Links Verlag, Berlin 1996, S. 176. Titelblatt Spiegel Special, Nr. 5, 2008. Mozart: Don Giovanni, Salzburger Festspiele (2003), © akg-images 431581, Fotograf: Marion Kalter. HA Schult: »Trash People« vor dem Kölner Dom (2006), © ullstein bild, Fotograf: JOKER/Paul Eckenroth © VG Bild-Kunst, Bonn 2021. Teilnehmer der Love Parade in Berlin am 8. Juli 1995. © ullstein bild, Fotograf: Günter Peters. Reklame des Kelter Verlags (2019). Markus Mainka: Multikulturelles Deutschland (2015), © Alamy Stock Photo.

Autor und Verlag haben sich bemüht, die Rechtsnachfolger ausfindig zu machen. In Fällen, wo dies nicht gelungen ist, bitten wir um Rückmeldung. 231

Personenregister

A Abbe, Ernst 49 Abusch, Alexander 126, 128 Ackermann, Anton 125 Adenauer, Konrad 127, 144, 154, 169, 171 Adloff, Horst Manfred 178 Adorno, Theodor W. 117, 118, 144, 211 Agartz, Viktor 143 Aichinger, Hans 209 Albers, Hans 108, 112, 113, 114 Albert, Joseph 49 Alfred A. Knopf Verlag 121 Allert de Lange Verlag 121 Altenberg. Peter 71 Amery, Carl 170, 171, 183 Amman, Jost 22 Andres, Stefan 147 Anetsberger, Hans 68 Arendt, Hannah 144 Arndt, Ernst Moritz 44 Arntz, Gerd 94 Attlee, Clement Richard 123, 135 Aufbau Verlag 191 August der Starke 26 Ausländer, Rose 120 B Bach, Johann Sebastian 104, 128, 142, 146, 147, 200, 220 Bahro, Rudolf 183 Barlach, Ernst 140 Bartels, Adolf 101, 103 Basedow, Johann Bernhard 35 Bastei Verlag 167, 216 Baum, Vicki 166 Baumeister, Willi 147, 149 Baumgärtner, Tilo 209 Bebel, August 49, 66 232

Becher, Johannes R. 96, 120, 125, 126, 127, 131, 140 Beer, Johann 32 Beethoven, Ludwig van 39, 56, 104, 128, 142, 146, 156, 200, 201, 204, 219 Behrens, Peter 75, 76 Benjamin, Walter 13 Berendsohn, Walter A. 141 Berg, Alban 202, 204 Bergner, Elisabeth 116 Berking, Willy 149 Bermann-Fischer Verlag 121 Bernstein, Eduard 68 Bie, Oscar 73 Bierbaum, Otto Julius 63, 73 Biermann, Wolf 131 Binding, Rudolf G. 110 Bismarck, Otto von 11, 49, 55, 56, 57, 59, 66, 67 Blohm und Voss (Unternehmen) 57 Blumauer, Johann Alois 38 Böll, Heinrich 176, 208 Bölsche, Jochen 183 Bonsels, Waldemar 110, 166 Bontempi, Giovanni 30 Born, Ignaz von 38 Börne, Ludwig 43 Borsig (Unternehmen) 57 Brandt, Willy 14, 130, 154, 169, 170, 171, 173, 188 Braun, Volker 190, 191, 193 Brecht, Bertolt 90, 92, 96, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 174, 206, 223 Bredel, Willi 96, 125 Brinkmann, Rolf Dieter 179 Bruckner, Ferdinand 92, 121 Brüning, Hermann 94, 95 Büchner, Georg 206

Personenregister

Buck, Pearl S. 166 Bunsen, Robert 49 Bürger-Verlag 145 Buxtehude, Dieterich 32 Byrnes, James F. 135 C Callenbach, Ernest 186 Campe, Joachim Heinrich 35 Cavalli, Francesco 30 Cesti, Pietro 30 Chamberlain, Houston Stewart 103 Chaplin, Charlie 117 Chodowiecki, Daniel Nikolaus 34 Christie (Auktionshaus) 210 Clauß, Ludwig Ferdinand 104 Clay, Lucius D. 137 Como, Perry 165 Conrad, Michael Georg 67 Corinth, Lovis 62, 63, 71 Cotta, Johann Friedrich 35 Courths-Mahler, Hedwig 69, 110 Credé, Carl 92 Curtius, Ernst Robert 146 D Dahn, Felix 55 Dahrendorf, Gustav 125 d’Arcangelo, Ildebrando 204 Därnke, John 126 Dauthendey, Max 63 Deeping, Warwick 110 Degenhardt, Franz-Josef 177 Deppe, Hans 162 Diderot, Denis 33 Diederichs, Eugen 105 Dieterle, William 117 Dietrich, Marlene 98, 116 Dietzenhofer, Johann 29 Dilthey, Wilhelm 12 Dinter, Artur 103 Distler, Hugo 147

Ditfurth, Hoimar von 183 Dix, Otto 82, 96, 140 Dohm, Christian Wilhelm von 35 Dollinger, Hans 181 Dönitz, Karl 135 Drews, Richard 141 Druten, John van 140 Dulles, John Foster 136 Dürer, Albrecht 23, 128 Durus, Alfred 96 Dutschke, Rudi 172 E Ebert, Friedrich 81, 82 Eckmann, Otto 72 Edelhagen, Kurt 149 Edelmann, Heinz 177 Eden, Anthony 135 Editions du Carrefour Verlag 120 Eggebrecht, Axel 171 Ehrenstein, Ilja 120 Eich, Günter 146 Eisenhower, Dwight D. 136 Eisenstein, Sergej 97 Eisler, Hanns 97, 103, 119, 174, 201 Eisner, Kurt 81 Ems, Rudolf von 19 Ende, Michael 186 Engels, Friedrich 46 Enzensberger, Hans Magnus 170, 181 Eppler, Erhard 183 Erhard, Ludwig 127, 143, 154, 159, 160, 171, 188, 189 Erler, Fritz 171 Erpenbeck, Jenny 208 Eybl, Joseph Valentin 38 F Fassbinder, Rainer Werner 178 Feuchtwanger, Lion 92, 104, 116, 121, 122, 174 Fforde, Katie 213 Fidus (d. i. Hugo Höppener) 65 233

Personenregister

Fischer, Joschka 187 Fischer, Klaus-Jürgen 176 Fischer, Melchior 84 Fischer, Theodor 75, 76 Fischer von Erlach, Johann Bernhard 29 Fleischmann, Peter 178 Forster, Georg 36 Frank, Hans 135 Frank, Leonhard 116 Franz II. von Österreich 35, 38, 39 Freud, Sigmund 62 Freytag, Gustav 51, 52, 55 Frick, Wilhelm 135 Fried, Erich 171 Friedrich, Caspar David 128, 156 Friedrich I., gen. Barbarossa 55 Friedrich II. von Preußen 25, 33, 34 Friedrich, Otto F. 152 Friedrich Wilhelm II. von Preußen 35 Friedrich Wilhelm IV. von Preußen 46 Fritsch, Willy 98 G Ganghofer, Ludwig 110, 166 Garbo, Greta 98 Garve, Christian 35 Gebühr, Otto 99 George, Stefan 80 Gerhardus (Kaufmann) 19 Gervinus, Georg Gottfried 11 Glaeser, Ernst 97 Goebbels, Joseph 106, 107, 108, 111, 112, 113 Goering, Hermann 106, 113 Goethe, Johann Wolfgang von 10, 36, 37, 38, 128, 142, 146, 156 Goetz, Curt 116 Gorbatschow, Michail 188 Göschen, Georg Joachim 35 Gottsched, Johann Christoph 35 Graf, Oskar Maria 122 Grass, Günter 170, 171, 192, 208 Grieshaber, HAP 176 234

Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel 32 Gropius, Walter 75, 76 Grosz, George 96, 103 Grothe, Franz 108 Gruhl, Herbert 183 Grünberg, Karl 96 Gryphius, Andreas 31 Guevara, Che 175 Günther, Hans F. K. 104 Gutenberg, Johannes 21 H Haacken, Franz 138 Habermas, Jürgen 16, 192, 196, 198, 208, 221 Hachfeld, Rainer 172 Haley, Bill 179 Hamann, Richard 5, 83, 224 Hamel, Isabel 166 Hansen, Rolf 162 Harich, Wolfgang 183 Harisch, Ernst 163 Harsdörffer, Georg Philipp 31 Hart, Heinrich 66 Hart, Julius 66 Hartmann, Karl Amadeus 157 Harvey, Lilian 98 Hasenclever, Walter 79 Haug, Wolfgang Fritz 196 Hauptmann, Gerhart 67 Hausenstein, Wilhelm 145 Hauser, Arnold 222 Hausmann, Raoul 85 Havemann, Robert 183 Haydn, Franz Joseph 39 Heartfield, John 103, 174 Heckel, Erich 77, 140 Heesters, Johannes 108 Hegel, Georg Wihelm Friedrich 10 Heidegger, Martin 14 Hein, Christoph 190, 191, 192, 193 Heine, Heinrich 43, 69 Heinemann, Gustav 171

Personenregister

Heino (d. i. Heinz Georg Kramm) 220 Heinrich, Willi 166 Hellpach, Willy 71 Hemingway, Ernest 166 Henlein, Peter 21 Herder, Johann Gottfried 35, 36 Hermand, Jost 224 Herrmann-Neiße, Max 120 Herzog, Rudolf 110 Hess, Moses 46 Hesse, Hermann 166 Heyden, Adolf 56 Hiepe, Richard 176 Hiller, Kurt 77 Hilmboldt, Karin 114 Himmler, Heinrich 104 Hindemith, Paul 157 Hindenburg, Paul von 95 Hippel, Gottlieb von 35 Hirschfeld, Magnus 61 Hitler, Adolf 95, 100, 105, 106, 107, 108, 111, 112, 113, 115, 117, 122, 135, 168 Hochhuth, Rolf 171, 176 Hodler, Ferdinand 80 Hofer, Carl 91, 125, 140 Hoffmann, Josef 75 Holitscher, Arthur 84 Holm, John Cecil 140 Holz, Arno 67 Holz, Hans Heinz 196 Holzschuher, Hieronymus 23 Homer 146 Honecker, Erich 124, 130, 131, 133, 191 Horenstein, Jascha 119 Horkheimer, Max 102, 211 Hubbuch, Karl 176 Huch, Ricarda 126 Hume, David 33 Hüsch, Hans Dieter 177

I IG-Farben (Unternehmen) 136 Insel Verlag 73 J Jary, Michael 149 Jens, Walter 170, 171, 192 Jhering, Herbert 125 Johst, Hanns 101, 111 Jonas, Hans 183 Joseph II. von Österreich 33, 38, 39 Joyce, James 156 Jugo, Jenny 113 Jünger, Friedrich Georg 146 Jungk, Robert 183 K Kafka, Franz 110 Kaiser, Georg 83, 117, 121 Kaiser, Jakob 138 Kandinsky, Wassili 77, 90, 156 Kant, Immanuel 10, 35, 42, 200, 222 Kantorowicz, Alfred 141 Keilson, Max 96 Keitel, Wilhelm 135 Keller, Gottfried 52 Kellermann, Bernhard 125 Kelly, Petra K. 182 Kelter Verlag 167, 215 Kerr, Alfred 103 Keun, Irmgard 92, 122 Kiefer, Anselm 210 Kiesinger, Kurt Georg 171, 173 Kirchner, Ernst Ludwig 77 Kirst, Hans Helmut 166 Kisch, Egon Erwin 96 Klemperer, Otto 119 Klemperer, Victor 125 Klenze, Leo von 42 Klopstock, Friedrich Gottlieb 36 Knittel, John 110, 166 Koeppel, Matthias 185 235

Personenregister

Koeppen, Wolfgang 170 Kohl, Helmut 180, 188, 189, 192 Kolbenheyer, Erwin Guido 105 Kolle, Oswalt 178 Kollwitz, Käthe 96, 140 Konsalik, Heinz Günther 168 Kooning, Willem de 148 Korngold, Erich Wolfgang 118 Kortner, Fritz 116 Koster, Henry 117 Kotzebue, August von 42 Krell, Oswald 23 Krenek, Ernst 119 Krolow, Karl 146 Krüger, Horst 171 Krupp, Alfred 49 Krupp, Friedrich 48 Krupp (Unternehmen) 57, 136 Kuby, Erich 170 Künnecke, Eduard 165 Kyllmann, Walter 56 L Lagerlöf, Selma 110 Landauer, Gustav 81 Lang, Fritz 99, 116, 117 Lange, Hans-Joachim 162 Langenbeck, Curt 111 Langgässer, Elisabeth 126, 146, 147 Lania, Leo 92 Lanz von Liebenfels, Jörg 103 Lasker-Schüler, Else 120 Lasky, Melvin J. 127 Lassalle, Ferdinand 49 Lauda, Kathrin 209 Lay, Rosa 209 Leander, Zarah 108, 112, 113 Lehar, Franz 165 Lehmann, Wilhelm 146 Leinsdorf, Erich 119 Lemmer, Ernst 125, 138 Lenin, Wladimir 175 236

Lenz, Siegfried 170 Leonhard, Klaus 146 Leopold I. von Österreich 26, 31 Leopold II. von Österreich 38 Lepanto, Wassili 185 Lessing, Gotthold Ephraim 35, 69, 142, 200, 206 Lettau, Reinhard 171 Leuwerick, Ruth 163 Lichnowsky, Karl von 39 Lichtenberger, Johannes 20 Liebeneiner, Wolfgang 163 Liebermann, Max 67, 71 Liebknecht, Karl 81 Liebknecht, Wilhelm 49, 66 Liess, Andreas 145 Lindenberg, Udo 177 Lindström, Inga 213 Lingen, Theo 113 Locke, John 33 Lohenstein, Daniel Casper 31 Lorre, Peter 116 Luce, Henry 136, 144 Ludwig, Emil 122 Ludwig XIV. von Frankreich 28 Luxemburg, Rosa 68, 81 M Mahler, Gustav 80 Mainka, Markus 221 Maizière, Thomas de 198 Makart, Hans 59 Mann, Heinrich 116, 120, 121, 122, 174 Mann, Thomas 110, 121, 122, 166 Mao Tse-tung 175 Marchwitza, Hans 96 Marcks, Gerhard 146 Marcuse, Herbert 173, 211 Maren-Grisebach, Manon 183 Maria Theresia von Österreich 25 Marken Verlag 167 Marlitt, Eugenie 53

Personenregister

Marx, Karl 46, 49, 175 May, Karl 110 Mayer, Hans 141 McCloy, John J. 136 Meadows, Dennis L. 180 Mehring, Franz 96 Mehring, Walter 92 Meidner, Ludwig 84 Meistermann, Georg 157 Mendelssohn, Moses 35, 200 Menzel, Adolph 53 Merkel, Angela 198 Metastasio, Pietro 30 Metternich, Clemens Wenzeslaus von  10, 41, 42, 60, 204 Meyer, Ernst Hermann 128 Miller, Arthur 140 Mitchell, Margaret 110 Mitscherlich, Alexander 154 Moewig Verlag 167 Molière (d. i. Jean-Baptiste Poquelin) 206 Molotow, Wjatscheslaw 135 Mondrian, Piet 90 Monnier, Thyde 166 Morgenthau, Henry 135, 137 Moser, Hans 113 Mosse, Rudolf 57 Mosse Verlag 103 Motherwell, Robert 148 Mozart, Leopold 38 Mozart, Wolfgang Amadeus 38, 104, 128, 142, 203, 204, 219 Müller, Heiner 190, 191 Müller, Hermann 94 Müller-Mehlis, Reinhard 177 Müllner, Adolf 42 Münzenberg, Willi 103, 120 Murnau, Friedrich Wilhelm 99 Muthesius, Hermann 74, 76

N Nagel, Otto 96, 125 Napoleon Bonaparte 41 Naumann, Friedrich 74 Nay, Ernst Wilhelm 157 Nerlinger, Oskar 96 Neumann, Balthasar 29 Nicolai, Friedrich 35 Niekisch, Ernst 125 Nolde, Emil 77, 140 O Obrist, Hermann 72 Ohnesorg, Benno 172 Olbrich, Joseph Maria 70, 75 Ollenhauer, Erich 169 O’Neill, Eugene 140 Ophüls, Max 116 Oprecht (Verlag) 121 Ormandy, Eugen 119 Oswald, Richard 103 Otto-Peters, Louise 51 Otto von Griechenland 43 Özdemir, Cem 198 P Pabel Verlag 167 Pabst, Georg Wilhelm 99, 116 Pankok, Bernhard 72 Papen, Franz von 95, 102 Paul, Bruno 75 Pausewang, Gudrun 186 Pechstein, Max 77, 125, 140 Pepping, Ernst 147 Pestalozzi, Johann Heinrich 35 Pezzl, Johann 35, 38 Pfemfert, Franz 79 Pilcher, Rosamunde 213 Pirckheimer, Willibald 23 Piscator, Erwin 84, 116 Plenzdorf, Ulrich 131 Pollock, Jackson 148 237

Personenregister

Ponte, Lorenzo da 38 Popper, Karl R. 144 Preminger, Otto 117 Presley, Elvis 179 Prutz, Robert 51 Pudowkin, Wsewolod 97 Pufendorf, Samuel von 24 Q Querido Verlag 121 Quinn, Freddy 165 R Raabe, Wilhelm 50, 51, 52 Rauch, Neo 209 Reagan, Ronald 188 Reckwitz, Andreas 16 Reger, Erik 92 Regler, Gustav 120 Reich, Philipp Erasmus 35 Reinhardt, Max 80, 98, 117 Reinl, Harald 162 Reis, Johann Philipp 49 Remarque, Erich Maria 92 Renn, Ludwig 96, 125 Rethel, Alfred 44 Reuter, Christian 32 Reutter, Hermann 147 Ribbentrop, Joachim von 135 Richter, Falk 207 Richter, Gerhard 210 Richter, Hans Werner 170, 171 Rickert, Heinrich 12 Riemerschmid, Richard 72, 75 Rilke, Rainer Maria 80 Ring, Max 51 Rockefeller, Nelson 148 Rodenberg, Hans 116 Röhm, Hans 102 Rökk, Marika 108 Rosenberg, Alfred 100, 103, 104, 105, 106, 107, 111, 135 238

Rousseau, Jean-Jacques 33 Rubiner, Ludwig 79 Rühmann, Heinz 108, 113, 114 Rühmkorf, Peter 170 Runge, Erika 176 Rygulla, Ralf Rainer 179 S Sachs, Nelly 120 Saleh, Raed 220 Salter, Hans Julius 118 Sand, Karl Ludwig 42 Sandrock, Adele 113 Sarrazin, Thilo 197 Schäfer, Oda 146 Schamoni, Ulrich 178 Schellemann, Carlo 176 Schiele, Egon 78 Schiller, Friedrich 35, 36, 37, 38, 50, 128, 206 Schiller, Karl 172 Schinkel, Karl Friedrich 42, 43 Schirmer, Adolf 51 Schirrmacher, Frank 193 Schlaf, Johannes 67 Schlichter, Rudolf 96 Schlöndorff, Volker 178 Schmid, Carlo 171 Schmidt, Helmut 171 Schmidt, Julian 51 Schmidt-Rottluff, Karl 77, 140 Schmied, Wieland 148 Schmitz, Jupp 150 Schneider, Alexander 165 Schneider, Eulogius 36, 39 Schneider, Romy 163 Schnitzler, Arthur 63, 71 Schönberg, Arnold 91, 104, 118, 122, 128, 156, 157 Schopenhauer, Arthur 47 Schubart, Christian Friedrich Daniel 200 Schubert, Franz 219 Schult, HA (Hans-Jürgen) 209

Personenregister

Schultze-Naumburg, Paul 101, 104 Schumacher, Fritz 75, 76 Schumacher, Kurt 137 Schütze, Bernhard 176 Sedlmayr, Hans 14, 146 Seghers, Anna 96, 116, 117, 122, 174 Seidel, Ina 110, 166 Selinko, Annemarie 166 Seyß-Inquart, Arthur 135 S. Fischer Verlag 174, 176 Shakespeare, William 206 Siemens, Wilhelm 49 Silone, Ignazio 119 Simmel, Georg 12 Simmel, Johannes Mario 166 Sinatra, Frank 165 Siodmak, Robert 116, 117 Slevogt, Max 71 Sommer, Theo 198 Sonnenfels, Joseph von 35, 38 Sophokles 206 Sorge, Reinhard Johannes 78 Sotheby (Auktionshaus) 210 Spoerl, Alexander 166 Spoerl, Heinrich 110 Spranger, Eduard 125 Staeck, Klaus 183, 184, 186 Stalin, Josif 123, 135 Starck, Ulrich 23 Steffani, Agostino 30 Stegemann, Bernd 197 Steinberg, Wilhelm 119 Sterck, Lorent 23 Sternberg, Joseph von 99 Sternheim, Carl 121 Stettinius, Edward R. 136 Stockhausen, Karlheinz 157 Stockhus, Norbert 185 Storm, Theodor 52 Strauß, Emil 105 Strauß, Johann 165 Strauss, Richard 63, 71, 80, 146, 200, 202, 205

Streicher, Julius 135 Strousberg, Barthel Heinrich 58 Stroux, Johannes 125 Suhrkamp Verlag 174 Sulzer, Johann Georg 200 Süverkrüp, Dieter 177 Szell, Georg 119 T Tauber, Richard 98 Telemann, Georg Philipp 32 Tiemann, Walter 73 Toch, Ernst 118 Toller, Ernst 81, 84, 117, 121 Torberg, Friedrich 116 Torriani, Vico 165 Treitschke, Heinrich von 11 Triegel, Michael 209 Trotta, Margarethe von 178 Truman, Harry S. 123, 135, 142 Tucholsky, Kurt 103 U Uhde, Fritz von 67 Uhse, Beate 179 Ulbricht, Walter 124, 128, 129, 130 Ullstein Verlag 103 Undset, Sigrid 110 Ury, Lesser 71 Usinger, Fritz 146 V Valente, Catarina 165 Vandenberg, Arthur H. 136 van de Velde, Henry 74, 76 van Swieten, Gottfried 38 Veidt, Conrad 116 Verkell, Konrad 23 Viertel, Berthold 116 Viking Press Verlag 122 Vischer, Friedrich Theodor 52 Vogeler, Heinrich 72, 73, 96 239

Personenregister

Voltaire 33 Voß, Richard 166 W Wagner, Richard 54, 55, 63, 66, 103, 104 Wagner, Winifred 101, 105 Wallraff, Günter 176 Walser, Martin 170, 176, 208 Walter, Bruno 119 Walter, Otto F. 186 Wangenheim, Gustav von 116 Weber, A. Paul 158 Weber, Carl Maria von 205 Webern, Anton 157 Wedekind, Frank 63 Weill, Kurt 92, 104, 118 Weinert, Erich 96 Weischer, Matthias 209 Weise, Christian 32 Weisenborn, Günther 125, 126 Weiser, Grethe 113 Weiskopf, Franz Carl 96, 97 Weiss, Peter 171, 176 Weiß, Rudolf Emil 73 Weizsäcker, Carl Friedrich von 183 Werfel, Franz 121, 122 Werner, Zacharias 42 Wessel, Horst 109 Wessely, Paula 113 Weyrauch, Wolfgang 170 Wickram, Jörg 21

240

Wiechert, Ernst 147 Wieland, Christoph Martin 36 Wilder, Samuel (Billy) 116 Wilder, Thornton 140 Wilhelm I. von Preußen 47 Wilhelm II. von Preußen 55, 63, 67, 69, 71 Willkomm, Ernst Adolf 45, 51 Willrich, Wolfgang 104 Winckelmann, Johann Joachim 10 Winter, F. A. 148 Winter, Fritz 147 Wirth, Herman 104 Wohlbrück, Adolf 116 Wolf, Christa 133 Wolf, Friedrich 92, 96, 116, 118, 121, 127 Wolf, Hugo 63, 71 Wolff, Christian 35 Wolff, Uwe 186 Wölfflin, Heinrich 12 Wolfskehl, Karl 120 Wolgemut, Michael 23 Wolpe, Stefan 119 Z Zappa, Frank 179 Zauberkreis Verlag 167 Zola, Émile 67 Zuckmayer, Carl 117, 121 Zweig, Arnold 92, 104, 121, 122, 174 Zweig, Stefan 122