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German Pages 496 Year 2020
Schriften zum Völkerrecht Band 238
Die völkerrechtliche Bewertung der NATO-Einsätze seit dem Ende der Sowjetunion aus dem Blickwinkel des NATO-Vertrages
Von
Lennart Taschenbrecker
Duncker & Humblot · Berlin
LENNART TASCHENBRECKER
Die völkerrechtliche Bewertung der NATO-Einsätze seit dem Ende der Sowjetunion aus dem Blickwinkel des NATO-Vertrages
Schriften zum Völkerrecht Band 238
Die völkerrechtliche Bewertung der NATO-Einsätze seit dem Ende der Sowjetunion aus dem Blickwinkel des NATO-Vertrages
Von
Lennart Taschenbrecker
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Paris-Lodron-Universität Salzburg hat diese Arbeit im Jahre 2018 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0251 ISBN 978-3-428-15860-7 (Print) ISBN 978-3-428-55860-5 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Paris-Lodron-Universität Salzburg im Wintersemester 2018/2019 als Dissertation angenommen. Die defensio erfolgte am 18. Dezember 2018. Für die Veröffentlichung wurden an der Dissertation einzelne redaktionelle Änderungen vorgenommen. Literatur und Rechtsprechung wurden bis Frühjahr 2019 berücksichtigt. Mein großer Dank gilt meinen beiden hochgeschätzten Betreuern, Prof. Dr. Michael Geistlinger und Prof. Dr. Kirsten Schmalenbach. Ebenso gebührt mein herzlicher Dank Prof. Dr. Sigmar Stadlmeier, LL.M. (London), der das Zweitgutachten ebenso zeitnah wie prägnant erstellte. Bei Prof. Dr. Stephan Kirste und Prof. Dr. Otto Lagodny möchte ich mich zudem für die faire und professionelle Durchführung der defensio bedanken. Darüber hinaus gilt mein Dank der Heinrich Graf Hardegg’sche Stiftung für die finanzielle Unterstützung sowie dem Institut für Öffentliches Recht (Prof. Dr. Dietrich Murswiek) der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg für die Bereitstellung eines Instituts arbeitsplatzes. Aber ohne die große Unterstützung vieler anderer Menschen – insbesondere meiner Ehefrau Antonia – hätte diese Arbeit nicht erstellt werden können. Einer guten akademischen Tradition folgend widme ich diese Arbeit meinen Eltern. Freiburg, im Dezember 2019
Lennart Taschenbrecker
Inhaltsübersicht Vorbemerkung
23
Einleitung
26
A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 B. Zielsetzung der vorliegenden Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 C. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 D. Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Teil 1
Bestandsaufnahme – historische Grundlagen zur NATO
45
Kapitel 1
Das System der NATO
47
A. Die Entwicklung der NATO von der Territorial- zur Interessenverteidigung . 47 B. Die Binnenstruktur und Organisation der NATO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 C. Die strategische Ausrichtung der NATO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Kapitel 2
Einsätze der NATO seit Ende der Sowjetunion
146
A. Bosnienkrieg – die Operation „Deliberate Force“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 B. Kosovokrieg – die Operation „Allied Force“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 C. Krieg in Afghanistan – die Operation „Enduring Freedom“ . . . . . . . . . . . . . . 167 D. Konflikt in Libyen – die Operation „Unified Protector“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 172
10 Inhaltsübersicht
Teil 2
Grundlagen der Gewaltanwendung im geltenden Völkerrecht 177 Kapitel 1
Das völkerrechtliche Gewaltregelungsregime
179
A. Die Entwicklung des Gewaltverbots und seiner Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . 179 B. Das Gewaltregelungsregime der Vereinten Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 C. Keine Rechtfertigungsgründe für den Einsatz militärischer Gewaltaußerhalb des Rechts der VN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Kapitel 2
Der rechtliche Rahmen der NATO
208
A. Die Bindung internationaler Organisationen an das Völkerrecht . . . . . . . . . . . 208 B. Rechtsgrundlagen und Hauptvereinbarungen der NATO . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 C. Der völkerrechtliche Zugang der NATO zu militärischen Maßnahmen . . . . . 229 D. Fazit: Die Handlungsmöglichkeiten der NATO im Rahmen der kollektiven Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Teil 3
Militärische Handlungskomponenten der NATO – Bestandsaufnahme und Rechtsermittlung
247
Kapitel 1
Bestand und Inhalt der NATO-Grundsätze und -Verpflichtungen
249
A. Methodischer Ansatz der Vertragsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 B. Ziel und Zweck des Bündnisses ausgehend vom NV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 C. Die grundlegenden Handlungsprinzipien ausgehend vom NV . . . . . . . . . . . . . 278 D. Fazit: Aufgabenbereich und Handlungsbefugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 E. Die innerstaatliche Relevanz der NATO-Verpflichtungen – am Beispiel des Mitgliedstaates Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Kapitel 2
Abwandlung sowie Änderung des NV durch Mitgliedstaaten
297
A. Die Vertragsänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
Inhaltsübersicht11
B. Vertragsänderung durch Übereinkunft aller Vertragsparteien . . . . . . . . . . . . . . 304 C. Vertragsänderung durch spätere Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 D. Keine Handlungserweiterungen durch Anwendung der „implied powers“Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 E. Der NV – ein Vertrag zulasten Dritter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 F. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Teil 4
Die Einsatzpraxis der NATO seit dem Ende der Sowjetunion 345 Kapitel 1
Der Bosnienkrieg
347
A. Völkerrechtliche Parameter des Engagements zur Konfliktbewältigung . . . . . 347 B. Bewertung der Einzelmaßnahmen der NATO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Kapitel 2
Der Kosovokrieg
360
A. Völkerrechtliche (Rechts-)Grundlagen für die getätigten NATO-Maßnahmen 360 B. Bewertung der Einzelmaßnahmen der NATO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Kapitel 3
Der „Anti-Terror-Krieg“ in Afghanistan
370
A. Völkerrechtliche (Rechts-)Grundlagen für die getätigten NATO-Maßnahmen 370 B. Bewertung der Einzelmaßnahmen der NATO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Kapitel 4
Der internationale Militäreinsatz in Libyen
388
A. Völkerrechtliche (Rechts-)Grundlagen für die getätigten NATO-Maßnahmen 388 B. Überschreiten der Resolutionsanordnung durch die NATO . . . . . . . . . . . . . . . 396 C. Bewertung der Einzelmaßnahmen der NATO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401
12 Inhaltsübersicht
Kapitel 5
Auswertung der Rechtsermittlung
404
A. Die Auswirkungen der „NATO-Praxis“ auf das Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . 404 B. Rechtsfolgen bei Verstößen gegen „ius cogens“-Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . 414 C. Praxis der NATO seit Ende der Sowjetunion – Folge: Nichtigkeit des NV? . 421 D. Bewertung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 Teil 5
Abschluss der Untersuchung
427
Kapitel 1
Zusammenfassung und Ausblick
430
A. Thesen und Ergebnis dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 B. Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Kapitel 2 Summary
436
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493
Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung
23
Einleitung
26
A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 B. Zielsetzung der vorliegenden Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bekenntnis zum Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Trennung von Legalität und Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29 29 31 33
C. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 D. Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die NATO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vorgehensweise zur Rechtsermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die für die Rechtsermittlung relevanten Fragestellungen . . . . . . . . . . . . .
38 38 42 43
Teil 1
Bestandsaufnahme – historische Grundlagen zur NATO
45
Kapitel 1
Das System der NATO
47
A. Die Entwicklung der NATO von der Territorial- zur Interessenverteidigung . 47 I. Beweggrund und Anstoß für die Gründung der NATO . . . . . . . . . . . . . . . 47 1. Die weltpolitische Lage nach Ende des Zweiten Weltkriegs . . . . . . . . 48 2. Herbeiführen einer bipolaren Weltordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 a) Die Vorgehensweise der Flügelmächte Sowjetunion und USA beim Entstehen einer neuen Weltordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 aa) Aufbau einer sozialistischen Staatengemeinschaft durch die Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 bb) Sicherung geopolitischen Einflusses jenseits des Atlantiks durch die USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 b) Hervortreten fundamentaler Gegensätze politisch-gesellschaft licher Ordnungsvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3. Folge: Erschaffung militärischer Bündnisse zur „Friedenssicherung“ . 65 a) NATO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 b) Warschauer Pakt (WP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
14 Inhaltsverzeichnis
4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Historische Vorstellungen der Mitgliedstaaten – der NATO-Vertrag als ausfüllungsbedürftiger „politischer“ Vertrag auf Grundlage einer Wertegemeinschaft seiner Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: „Die deutsche Frage“ – Deutsche (Teil-)Staaten . . . . . . . . . . . . . III. Die jüngere Geschichte der NATO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Grundhaltung und das Verhältnis Russlands zur NATO . . . . . . . . . . . V. Die weltpolitische Lage im Jahr 2018 – Multipolarität . . . . . . . . . . . . . . .
73
B. Die Binnenstruktur und Organisation der NATO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die politische Struktur des Bündnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die militärische Struktur des Bündnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Andere NATO-Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95 95 98 101
C. Die strategische Ausrichtung der NATO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Strategie der „abgestuften Abschreckung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Lageentwicklung im Zeitraum von 1949–1967 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Strategische Ausrichtung und Komponenten der Strategie . . . . . . . . . . II. Strategie der „flexiblen Erwiderung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Lageentwicklung im Zeitraum von 1967–1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Strategische Ausrichtung und Komponenten der Strategie . . . . . . . . . . III. Konzept der „Friedens- und Stabilitätssicherung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Lageentwicklung im Zeitraum von 1990–1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ziele und Komponenten des Strategischen Konzepts 1991 . . . . . . . . . 3. Lageentwicklung im Zeitraum von 1999–2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ziele und Komponenten des Strategischen Konzepts 1999 . . . . . . . . . IV. Konzept: „Aktives Engagement, Moderne Verteidigung“ . . . . . . . . . . . . . 1. Lageentwicklung seit dem Jahr 2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ziele und Komponenten des Strategischen Konzepts 2010 . . . . . . . . . V. Derzeitige und zukünftige Ausrichtung der NATO . . . . . . . . . . . . . . . . . .
101 103 104 107 109 110 117 126 127 129 131 133 137 138 140 142
74 75 85 86 93
D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Kapitel 2
Einsätze der NATO seit Ende der Sowjetunion
A. Bosnienkrieg – die Operation „Deliberate Force“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Hintergrund des bewaffneten Eingreifens der NATO . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Zerfall der Republik Jugoslawien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Entwicklung der Politik des SR unter Einbeziehung der NATO . II. Die NATO-Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Operation „Deliberate Force“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. S/RES/1031 (1995) – IFOR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. S/RES/1088 (1996) – SFOR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
146 146 147 147 149 154 154 155 156
Inhaltsverzeichnis15
B. Kosovokrieg – die Operation „Allied Force“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 I. Die Entwicklung des Kosovo-Konflikts bis zur Intervention der NATO . 157 1. Der politische Hintergrund des Konflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 2. Die Entwicklung der Politik des SR und der NATO . . . . . . . . . . . . . . 159 II. Die Operation „Allied Force“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 C. Krieg in Afghanistan – die Operation „Enduring Freedom“ . . . . . . . . . . . . . . I. Zum Vorgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die NATO-Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. S/RES/1368 und 1373 (2001) – „Operation Enduring Freedom“ . . . . 2. S/RES/1386 (2001) – ISAF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
167 167 168 168 171
D. Konflikt in Libyen – die Operation „Unified Protector“ . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zum Vorgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die NATO-Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. S/RES/1970 (2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. S/RES/1973 (2011) – „Operation Unified Protector“ . . . . . . . . . . . . . . 3. Responsibility to Protect . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
172 172 174 174 174 175
Teil 2
Grundlagen der Gewaltanwendung im geltenden Völkerrecht 177 Kapitel 1
Das völkerrechtliche Gewaltregelungsregime
A. Die Entwicklung des Gewaltverbots und seiner Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . I. Der Zeitraum seit Gründung der Vereinten Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Gewaltverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die drei normierten Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
179 179 180 181 183 183
B. Das Gewaltregelungsregime der Vereinten Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 I. Das universelle System kollektiver Sicherheit der Vereinten Nationen . . 184 II. Die Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der VN-Charta . . . . . . . . . . . . 185 1. Voraussetzungen der Art. 39, 41 und 42 VN-Charta . . . . . . . . . . . . . . 186 2. Normativer Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 3. Das (kollektive) Selbstverteidigungsrecht i. S. d. Art. 51 VN-Charta . 190 4. Durchführung der Beschlüsse des SR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 III. Bewaffnetes Eingreifen regionaler Organisationen nach Kapitel VIII der VN-Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 1. Die NATO als Regionalorganisation i. S. d. Kapitel VIII der VN-Charta? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 2. Die Selbsteinordnung des Bündnisses bei der Gründung . . . . . . . . . . . 193 3. Zwischenergebnis und Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
16 Inhaltsverzeichnis
C. Keine Rechtfertigungsgründe für den Einsatz militärischer Gewalt außerhalb des Rechts der VN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Repressalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Staatennotstand und völkerrechtliche Notwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Irrläufer der bewaffneten „Humanitären Intervention“ . . . . . . . . . . . . 1. Der Begriff der „Humanitären Intervention“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mangelnde Rechtfertigung Humanitärer Interventionen . . . . . . . . . . . .
196 199 202 203 203 205
Kapitel 2
Der rechtliche Rahmen der NATO
208
A. Die Bindung internationaler Organisationen an das Völkerrecht . . . . . . . . . . . I. Autonome Bindung an das Völkergewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Autonome Bindung an allgemeine Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . III. Autonome Bindung an das „ius cogens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
208 221 223 224
B. Rechtsgrundlagen und Hauptvereinbarungen der NATO . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der NATO-Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die „Strategischen Konzepte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Gipfelerklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
225 225 226 228
C. Der völkerrechtliche Zugang der NATO zu militärischen Maßnahmen . . . . . I. Der Art. 51 VN-Charta als Rechtfertigungsgrund der Existenz und völkerrechtliche Ermächtigungsnorm für militärische Interventionen der NATO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Inhalt und Umfang des (kollektiven) Selbstverteidigungsrechts . . . . . a) Der „bewaffnete Angriff“ i. S. d. Art. 51 VN-Charta . . . . . . . . . . . . b) Die „präventive“ Selbstverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Erfordernis der „Unmittelbarkeit“ und „Proportionalität“ . . . . 2. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Wechselverhältnis von Art. 51 VN-Charta und NV („Verweisklausel“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
229 229 231 232 234 240 241 241
D. Fazit: Die Handlungsmöglichkeiten der NATO im Rahmen der kollektiven Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
Inhaltsverzeichnis17
Teil 3
Militärische Handlungskomponenten der NATO – Bestandsaufnahme und Rechtsermittlung
247
Kapitel 1
Bestand und Inhalt der NATO-Grundsätze und -Verpflichtungen
249
A. Methodischer Ansatz der Vertragsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Auslegung und Analyse des NV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die völkerrechtliche Auslegungslehre nach den Art. 31 ff. WVK . . . . 2. Die allgemeinen Auslegungsregeln der Art. 31 und 32 WVK . . . . . . . a) Art. 31 Abs. 1 WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 31 Abs. 2–Abs. 4 WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Art. 32 WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Auslegungsvorgang nach der WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die zwei autoritativen Sprachfassungen des NV . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Normstruktur von Art. 33 WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Art. 33 Abs. 1 WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Art. 33 Abs. 2 WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Art. 33 Abs. 3 WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Art. 33 Abs. 4 WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Verhältnis von Art. 33 WVK zu den allgemeinen Auslegungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis und Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der satzungsrechtliche Kompetenzrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
249 249 249 252 253 253 256 257 261 262 263 263 264 264
B. Ziel und Zweck des Bündnisses ausgehend vom NV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Aufgabenfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „Präambel“ – Gewährleistung der Freiheit und Sicherheit aller Mitgliedstaaten mit militärischen und nichtmilitärischen Mitteln . . . . 2. Art. 5 NV – Kollektive Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Art. 2 – Engagement bei der Entwicklung friedlicher und freund licher internationaler Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Art. 1, 7 und 8 NV – mögliche Restriktionen des Aufgabenfelds . . . . II. Einsatzgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Art. 6 NV – nordatlantisches Gebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Art. 10 NV – Erweiterung des Einsatzgebiets durch Beitritt weiterer Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
270 270
C. Die grundlegenden Handlungsprinzipien ausgehend vom NV . . . . . . . . . . . . . I. Souveräne Gleichheit der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Konsultation, Zusammenarbeit und Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Konsensprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
278 278 280 282
265 267 269
270 272 273 274 276 276 277 277
18 Inhaltsverzeichnis
D. Fazit: Aufgabenbereich und Handlungsbefugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 E. Die innerstaatliche Relevanz der NATO-Verpflichtungen – am Beispiel des Mitgliedstaates Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Vorgaben des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Ausgangspunkt – Art. 87a Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einsätze im Rahmen von Systemen kollektiver Sicherheit – Art. 24 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Anforderungen aus Art. 59 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
283 285 285 286 289 290 291 295
Kapitel 2
Abwandlung sowie Änderung des NV durch Mitgliedstaaten
297
A. Die Vertragsänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Arten der Vertragsänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vertragsänderung und Vertragsauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Besonderheiten der Auslegung eines Gründungsvertrags . . . . . . . . . . . a) Besondere Rolle von teleologischer/dynamischer Auslegung und Praxis der internationalen Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Interpretationskompetenz und autoritative Auslegung . . . . . . . . . . . 2. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
297 297 298 299 300
B. Vertragsänderung durch Übereinkunft aller Vertragsparteien . . . . . . . . . . . . . . I. Vertragsänderungen durch Gipfelerklärungen seit 1990 . . . . . . . . . . . . . . II. Vertragsänderungen durch „Strategische Konzepte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
304 305 307 312
C. Vertragsänderung durch spätere Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zur Rechtserheblichkeit der späteren Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die spätere Praxis als Auslegungsfaktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die spätere Praxis als Vertragsgestaltungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
313 313 314 320 323
D. Keine Handlungserweiterungen durch Anwendung der „implied powers“Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Abgrenzung der „implied powers“ zum „effet utile“ . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ausstattung der NATO-Organe mit implizierten Kompetenzen . . . . . . . . III. Ausgestaltung und Grenzen der Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
324 324 331 332 338
301 302 303 303
E. Der NV – ein Vertrag zulasten Dritter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 F. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
Inhaltsverzeichnis19
Teil 4
Die Einsatzpraxis der NATO seit dem Ende der Sowjetunion 345 Kapitel 1
Der Bosnienkrieg
347
A. Völkerrechtliche Parameter des Engagements zur Konfliktbewältigung . . . . . 347 I. Rechtliche Bindung des Bündnisses an die VN-Charta . . . . . . . . . . . . . . . 347 1. Ermächtigung auf Grundlage von Kapitel VII und VIII der VN-Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 2. Der Sanktionsmechanismus von Kapitel VII und VIII der VN-Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 3. Die Problematik der vorgenommenen Umdeutung von einem Verteidigungs- zu einem Sicherheitsbündnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 II. Der vertragliche Kompetenzrahmen für Einsätze „out of area“ . . . . . . . . 353 III. Die völkerrechtliche Bewertung des Einsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 B. Bewertung der Einzelmaßnahmen der NATO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Kapitel 2
Der Kosovokrieg
360
A. Völkerrechtliche (Rechts-)Grundlagen für die getätigten NATO-Maßnahmen . 360 I. Rechtliche Bindung der NATO an die „Autorität des SR“ . . . . . . . . . . . . 363 II. Der vertragliche Kompetenz- und Handlungsrahmen der NATO bei fehlender und/oder nachträglicher Autorisierung durch den SR . . . . . 365 1. Kollektive Friedenssicherung als eine der NATO aus den Haupt vereinbarungen übertragene Befugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 2. Befugnis zu militärischen Maßnahmen ohne Resolution des SR . . . . . 366 B. Bewertung der Einzelmaßnahmen der NATO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Kapitel 3
Der „Anti-Terror-Krieg“ in Afghanistan
370
A. Völkerrechtliche (Rechts-)Grundlagen für die getätigten NATO-Maßnahmen . 370 I. Resolutionen des SR nach dem 11. September 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 II. Die Anwendung des – kollektiven – Selbstverteidigungsrechts bei einem Angriff „Privater“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 1. Das Verhältnis von Selbstverteidigung und kollektiver Friedens sicherung nach Art. 51 VN-Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 2. Selbstverteidigung auch gegen (quasi-)staatliche Taliban oder auch gegen nicht-staatliche Akteure (al-Qaida) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
20 Inhaltsverzeichnis
a) Voraussetzungen des Rechts auf Selbstverteidigung i. S. v. Art. 51 VN-Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Textauslegung des Begriffs „bewaffneter Angriff“ hinsichtlich eines Staatlichkeitserfordernisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Grammatikalische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zusammenfassung hinsichtlich des Staatlichkeits erfordernisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Keine Anwendung des – kollektiven – Selbstverteidigungsrechts nach dem 11. September 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Deckt der NV das Tätigwerden der NATO im Rahmen des ISAFMandats? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
377 378 378 379 382 382 383 384 385
B. Bewertung der Einzelmaßnahmen der NATO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Kapitel 4
Der internationale Militäreinsatz in Libyen
388
A. Völkerrechtliche (Rechts-)Grundlagen für die getätigten NATO-Maßnahmen . 388 I. Die Anwendung und Umsetzung des Konzepts der „Responsibility to Protect“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 1. Die völkerrechtliche Einordnung des Konzeptes . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 2. Merkmale und Anwendungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 II. Die Umsetzung des Konzepts der Schutzverantwortung durch die NATO als eine vom NV erfasste Aufgabenzuweisung? . . . . . . . . . . . . . . 393 B. Überschreiten der Resolutionsanordnung durch die NATO . . . . . . . . . . . . . . . 396 I. Dem SR obliegt die Bewertung und Festlegung der Maßnahmen zur Umsetzung der Resolutionsanordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 II. Entscheidungs- und Handlungsalternativen des SR bei Überschreitung der Resolutionsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 C. Bewertung der Einzelmaßnahmen der NATO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Kapitel 5
Auswertung der Rechtsermittlung
A. Die Auswirkungen der „NATO-Praxis“ auf das Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . I. Beleg eines unterschiedlichen Völkerrechtsverständnisses zwischen den USA und Kontinentaleuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Mentalitätsunterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtskulturunterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Folgen dieser rechtskulturellen Divergenzen für das Völkerrecht . . .
404 404 404 404 407 410
Inhaltsverzeichnis21
B. Rechtsfolgen bei Verstößen gegen „ius cogens“-Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtsgrundlagen für Schadensersatz im Recht bewaffneter Konflikte . . II. Schadensersatz wegen Verletzungen des Gewaltverbots in der bisherigen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
414 415 417 420
C. Praxis der NATO seit Ende der Sowjetunion – Folge: Nichtigkeit des NV? . 421 D. Bewertung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 Teil 5
Abschluss der Untersuchung
427
Kapitel 1
Zusammenfassung und Ausblick
430
A. Thesen und Ergebnis dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 B. Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Kapitel 2 Summary
436
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Zeitstrahl weltpolitischer Ereignisse und internationaler Konflikte in Zusammenschau mit Interventionen und Strategischen Konzepten der NATO seit 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Abbildung 2: Geografische Übersicht über die Mitgliedstaaten der NATO (dunkelgrau) und des Warschauer Pakts (hellgrau/schraffiert). Die Schauplätze der in dieser Arbeit behandelten Konfliktherde sind in schwarz gekennzeichnet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Abbildung 3: Organisationsstruktur der NATO mit politischen (hellgrau) und militärischen (dunkelgrau) Organisationseinheiten . . . . . . . . . . 96 Abbildung 4: Zeitstrahl der behandelten Konflikte in Bosnien, dem Kosovo, in Afghanistan und Libyen (dunkelgrau) und die entsprechenden NATO-Interventionen (hellgrau). Historische Ereignisse, die als Meilensteine oder Wendepunkte für den Verlauf eines oder mehrerer Konflikte gelten, sind durch Rahmen hervorgehoben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
Vorbemerkung „Ich teile die Hoffnung und den Wunsch nach dauerndem Frieden, aber die ausgesprochene Zuversicht teile ich nicht.“ Helmuth Graf von Moltke
Dieses Moltke1 zugeschriebene Zitat wurde vermutlich vor weit mehr als einhundert Jahren formuliert – gleichwohl hat es nichts von seiner Aktualität verloren und wirkt wie in die heutige globale und multipolare Zeit hineinprojiziert. Allerdings hat sich die Wirklichkeit militärischer Auseinandersetzungen seit Moltkes Wirken – insbesondere seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts – insofern grundlegend geändert, als diese gegenwärtig überwiegend innerhalb von Staaten stattfinden, sie nicht nur von Staaten geführt und auch nicht nur von Armeen ausgetragen werden. Es sind Konflikte und Kriege, die zumeist lediglich Verlierer kennen und welche die Gesellschaften nicht in einen Frieden, sondern in vielen Fällen in Chaos entlassen2. Darüber hinaus werden die Konfliktursachen durch Kriege und militärische Interventionen nicht beseitigt, sondern eher verstärkt. Aus diesem Grund bedarf es – insbesondere in der derzeitigen weltpolitischen Gemengelage – einer allgemein anerkannten „Kriegs- und Interventionsordnung“ der internationalen Gemeinschaft. Diese Ordnung kann nur eine Ordnung des (Völker-)Rechts sein. Für das Völkerrecht ist dieser Kontext seit jeher bedeutsam, denn seine Legitimität 1 Helmuth Karl Bernhard von Moltke (der Ältere), * 26. Oktober 1800 in Parchim/ Meckl., † 24. April 1891 in Berlin, war (der) preußische(r) Generalfeldmarschall, Chef des Generalstabs, Mitglied des Deutschen Reichstags und Schriftsteller. Nach den Deutschen Einigungskriegen (Deutsch-Dänischer Krieg im Jahre 1864, Preußisch-Österreichischer Krieg im Jahre 1866 und Deutsch-Französischer Krieg in den Jahren 1870/71), die unter Moltkes militärischer Verantwortung geführt wurden, kam es mit der Verkündung durch den preußischen König Wilhelm I. am 18. Januar 1871 zur Gründung des Deutschen (Kaiser-)Reichs. 2 Vgl. hierzu die Aussage des 44. US-amerikanischen Präsidenten Barack Hussein Obama II, der das Vorgehen nach dem Sturz des libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi 2011 als den „schlimmsten Fehler“ seiner achtjährigen Amtszeit bezeichnete. („Wahrscheinlich, dass ich nicht für den Tag nach der Intervention in Libyen geplant habe, die mir damals als richtige Entscheidung erschien.“), in: FAZ, v. 11. April 2016, S. 1.
24 Vorbemerkung
ist insgesamt zu wahren. Die Legitimität des Völkerrechts als Institution und damit seine Autorität, Befolgung einzufordern, wird nicht nur durch Nichtbefolgung beschädigt, sondern auch falls bei neu auftretenden Problemen unzureichende Antworten geliefert werden3. Allerdings sind wichtige Legitima tionsfaktoren des Völkerrechts – wie seine Bestimmtheit und Kohärenz – zu Teilen lediglich gering ausgeprägt und gleichzeitig ist die Heranziehung des vorhandenen (Vertrags-)Rechts bei neueren Entwicklungen und Geschehnissen nicht ohne Weiteres möglich. Ebendies charakterisiert die Problematik der Organisation des Nordatlantikvertrages (NATO4) und ihrer Interventionen5 seit Ende der bipolaren Weltordnung Anfang der 1990er-Jahre – denn der dem Bündnis zugrunde liegende NV6 wurde für derartige Unterfangen seinerzeit nicht konzipiert. Fehlt jedoch eine ausgeformte Rechtsgrundlage, besteht insbesondere für das Völkerrecht die Gefahr, dass sein universeller Anspruch in Gefahr geraten könnte. Dem soll durch die vorliegende Arbeit entgegengewirkt und ein Teilaspekt der gesamten Problematik, der völkervertraglichen Situation des Bündnisses bei militärischen Einsätzen, einer rechtlichen Klarstellung zugeführt werden. Die Problematik betrifft in ihrem Kern das (NATO-)Verständnis von militärischen Maßnahmen und Menschenrechtsschutz. Bei Betrachtung der völkerrechtlichen Begründungen der jeweiligen Interventionen wird eine äußerst „westlich“ geprägte Sichtweise deutlich, die vorgibt, die Menschenrechte und das Individuum in das Zentrum des Interesses zu stellen. Dies ist zum Teil das Resultat einer verfassungsrechtlichen Lesart7 des Völkerrechts, die
3 T. Franck, The Power of Legitimacy and the Legitimacy of Power, in: AJIL 100 (2006), S. 98: „Thus, it is primarily obsolescence, not desuetude, that threatens the system’s determinancy“; ebenso haben z. B. die Entwicklungen im Klimaschutz und die weltweite Finanzkrise das Vertrauen in das Völkerrecht und die Vereinten Nationen enttäuscht. 4 Engl.: North Atlantic Treaty Organization; franz.: Organisation du Traité de l’Atlantique Nord (OTAN). 5 Hierbei handelt es sich insbesondere um die Interventionen in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo, in Afghanistan und in Libyen, die Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind. 6 Der NATO-Vertrag trat nach der Ratifizierung aller Mitgliedstaaten am 24. August 1949 in Kraft (BGBl. 1955 II S. 289, in der Fassung des Protokolls v. 17.10.1951, BGBl. 1955 II S. 293). Die Bundesrepublik Deutschland ist durch Protokoll vom 23. Oktober 1954 mit Wirkung vom 6. Mai 1955 (BGBl. 1955 II S. 630) der NATO beigetreten. Die Republik Österreich ist kein Mitglied der NATO. 7 Gegen den Vorwurf, die Wissenschaft betreibe eine „Europäisierung“ des Völkerrechts, verwahrt sich jedoch A. Peters, die darauf hinweist, dass dieser „Trend“ innerhalb Europas sehr umstritten ist und es zugleich außerhalb Europas zahlreiche Sympathisanten des völkerrechtlichen Konstitutionalismus gebe, vgl. dies., in: J. Klabbers et al. (Hrsg.), The Constitutionalization of International Law, S. 346.
Vorbemerkung25
eine Konstitutionalisierung8 des Völkerrechts adressiert. Ob diese Sichtweise in Bezug auf das Nordatlantikbündnis auch auf einem völkervertraglichen Fundament fußt, ist bisher nicht eindeutig beantwortet worden. Es wird davon ausgegangen, dass der Idealzustand, die Auflösung der NATO und ihr Ersatz durch die Aktivierung des militärischen Potenzials von Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen zumindest auf absehbare Zeit aufgrund des neu belebten „Kalten Krieges“ nicht realisiert werden kann.
8 A. von Bogdandy, Demokratie, Globalisierung, Zukunft des Völkerrechts, in: ZaöRV 63 (2003), S. 864; ders., Constitutionalism in International Law, in: HarvILJ 47 (2006), S. 223 ff.; J. Delbrück, Prospects for a „World (Internal) Law?“, in: IndJGLS 9 (2002), S. 401 ff.; B. Fassbender, The United Nations Charter as Constitution of The International Community, in: CJTL 36 (1998), S. 529 ff.; J. Frowein, Konstitutionalisierung des Völkerrechts, in: K. Dicke (Hrsg.), Völkerrecht und Internationales Privatrecht in einem sich globalisierenden internationalen System, S. 427 ff.; S. Hobe, Die Zukunft des Völkerrechts im Zeitalter der Globalisierung, in: AVR 37 (1999), S. 253 ff.; S. Kadelbach/T. Kleinlein, Überstaatliches Verfassungsrecht, in: AVR 44 (2006), S. 235 ff.; T. Kleinlein, Alfred Verdross as a Founding Father of International Constitutionalism, in: GoJIL 4 (2012), S. 385 ff.; J. Klabbers/ A. Peters/G. Ulfstein (Hrsg.), The Constitutionalization of International Law, passim; C. Tomuschat, Die internationale Gemeinschaft, in: AVR 33 (1995), S. 1 ff.; A. Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht, passim.
Einleitung A. Einführung Die weltpolitische Zäsur des Jahres 1989 – symbolisch steht hierfür der Fall der Berliner Mauer1 am 9. November 1989 – war das Ende einer Epoche. Sie endete mit dem Fall des kommunistischen Systems in Osteuropa und ermöglichte die Überwindung der Teilung Deutschlands. Seither hat sich der „Mauerfall“ mehr als 25-mal gejährt, und der Ablauf dieser Zeit erlaubt eine Bestandsaufnahme, inwieweit auch das Nordatlantikbündnis das Gefüge in der internationalen Ordnung verändert hat. Genau genommen seit 1989, „als viele glaubten, die Dinge würden sich nun endgültig fügen, fingen diese erst an, so richtig aus den Fugen zu geraten“2. Vor allem hat das Ende der Bipolarität – die Vereinigten Staaten von Amerika auf der einen Seite, die Sowjetunion auf der anderen Seite – weitere mächtige Akteure hervorgebracht und Konflikte aufleben lassen, die im Zuge der Bipolarität „unter der Decke gehalten“ wurden3. Zur Konsequenz der Auflösung des WP durch die Auflösung der NATO kam es nicht. Im Gegenteil, die NATO und ihre Mitgliedstaaten nützten das Wegfallen des WP, um nach und nach nahezu alle seine Mitglieder, inklusive Teile der früheren Sowjetunion, zu „inhalieren“ und darüber hinaus ihre Aktivitäten auf Gebiete, die dem WP oder der Sowjetunion „nahestanden“ (Jugoslawien, Somalia, Irak, Libyen, Afghanistan, Syrien) – zur vorgeblichen „Verteidigung“ des Bündnisgebiets out of area – auszudehnen. Gleichzeitig setzte jeweils die Diskussion darüber ein, ob das militärische Eingreifen im Einklang mit dem Völkerrecht steht. Das universelle Gewaltanwendungsverbot – verankert in Art. 2 Ziff. 4 Charta der Vereinten Nationen4 – wird seitdem zunehmend als abwägungsbedürftig erachtet. Eine mili1 Die Berliner Mauer war Teil eines hermetisch abgeriegelten Grenzbefestigungssystems der „Deutschen Demokratischen Republik“ innerhalb Berlins, das mehr als 28 Jahre lang, vom 13. August 1961 bis zum 9. November 1989 bestand. 2 So T. Frasch, Fraktur, in: FAZ v. 24. Oktober 2015, S. 1. 3 Gleichwohl zeigt sich aber z. B. im „Ukraine-Konflikt“ und auch im „SyrienKonflikt“, dass die ehemaligen Fronten zwischen Russland auf der einen Seite sowie den USA und Westeuropa (bzw. EU) auf der anderen Seite – seit 2014 vorwiegend auf politisch-wirtschaftlicher Ebene – eine Renaissance erleben. 4 Nachfolgend: VN-Charta.
A. Einführung27
tärische Intervention ohne Mandat des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen5 wurde beim Kosovo-Konflikt über ein Recht zur „Humanitären Intervention“ gerechtfertigt. Eine Weiterentwicklung dieses Ansatzes erfolgte mit dem Konzept der „Schutzverantwortung“6, die als Grundlage für die Autorisierung militärischer Zwangsmaßnahmen im Libyen-Konflikt diente. In dieser Entwicklung – sowie generell in der Ausformung der NATO – liegen zentrale und oftmals noch nicht abschließend beantwortete Fragen des Völker(vertrags)rechts – primär jene nach der Wechselbeziehung des Bündnisses zum NV7 sowie dem Allgemeinen Völkerrecht und dem Inhalt sowie Umfang der militärischen Handlungskompetenzen des Nordatlantikbünd nisses. Mancherorts hat sich der Eindruck verfestigt, dass mit den militärischen Interventionen der NATO ein oftmals unsanktionierter völkerrechtlicher Missbrauch einhergeht. Dieser sollte insbesondere durch das mit Gründung der Vereinten Nationen8 errichtete System kollektiver Sicherheit verhindert werden. Die vielfältigen Erfahrungen mit dem SR als zugedachtem „Hüter des Gewaltmonopols“9 zeigten diesem System angesichts von „Alleingängen“ der Vereinigten Staaten von Amerika, der NATO und der Europäischen Union jedoch oftmals Grenzen auf. Insbesondere die seit Anfang der 1990erJahre nicht mehr vorherrschende Bipolarität brachte zum Vorschein, dass ein unklar definiertes und damit in der Anwendung immer weiter „ausuferndes“ Recht dem System kollektiver Sicherheit weiteren Schaden zufügen kann, indem das Primat der – auch vorbeugenden – Gewaltanwendung Schritt für Schritt vom SR auf die (Mitglied-)Staaten bzw. internationale Organisationen übergeführt wird10. Eine dergestalte Weiterentwicklung kann jedoch nicht erstrebenswert sein; dies würde faktisch einem Rückfall in Zeiten freier Gewaltanwendung11 gleichkommen, die bereits überwunden schienen12. Um dies zu verhindern, ist eine eindeutige Darstellung über Recht und Wirklichkeit internationaler Beziehungen unabdingbar. 5 Nachfolgend:
SR. Responsibility to Protect (R2P). 7 Nachfolgend: NV. 8 Nachfolgend: VN. 9 Zum Begriff eines beim SR liegenden Gewaltmonopols kritisch, jedoch in der Sache zustimmend, B. Schöbener, Konstitutionalisierungsprozeß der Völkerrechtsordnung, in: KJ 33 (2000), S. 569 f. 10 K. Oellers-Frahm, ICJ and Art. 51 UN-Charter, in: K. Dicke et al. (Hrsg.), Welt innenrecht, LA Jost Delbrück, S. 515 m. w. N. 11 Zum liberum ius ad bellum, vgl. Teil 2, Kap. 1, A. Fn. 5. 12 Vgl. auch B. Schiffbauer, Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht, S. 34, in Bezug auf vorbeugende Gewaltanwendung. 6 Engl.:
28 Einleitung
Quelle: A. Reimer, 2018
Abbildung 1: Zeitstrahl weltpolitischer Ereignisse und internationaler Konflikte in Zusammenschau mit Interventionen und Strategischen Konzepten der NATO seit 1989
B. Zielsetzung der vorliegenden Arbeit29
Allerdings zeigt sich seit mehreren Jahren13 deutlich, dass die geopolitische und die militärisch-strategische (sowie ebenfalls die völkerrechtliche) Lage äußerst unübersichtlich ist. Um hier in tatsächlicher Hinsicht mehr Stabilität – insbesondere in Bezug auf zwischenstaatliches Vertrauen und gegenseitige Berechenbarkeit – zu erlangen, ist ein allgemeingültiger recht licher Rahmen vonnöten, der präzise markiert, wo erlaubtes Handeln endet und unerlaubtes beginnt. Generell ist das universell geltende Völkerrecht das einzige wirksame Mittel, die Handlungsmöglichkeiten seiner Subjekte in abstrakt-genereller Form zu bestimmen. Das gilt selbstverständlich ebenso für das Nordatlantikbündnis. Daher ist es erforderlich, neben dem völkerrechtlichen Zugang der NATO zu militärischen Maßnahmen auch deren Grenzen klar14 zu definieren. Dazu soll die vorliegende Arbeit ihren Teil beitragen.
B. Zielsetzung der vorliegenden Arbeit Mit der Arbeit, die hier dem Leser15 vorgelegt wird, soll das Ziel verfolgt werden, eine Klärung vorzunehmen, in welchem Rahmen und unter welchen Voraussetzungen militärische Maßnahmen der NATO als rechtmäßig i. S. d. Völkerrechts zu betrachten sind.
I. Vorüberlegungen Mit Ende des Zweiten Weltkriegs wird die Völkerrechtsordnung durch die seither entstehenden internationalen Organisationen mehr und mehr bereichert. Als Beispiele dienen die in der Nachkriegszeit gegründeten VN, die 13 Aufzuführen sind insbesondere der sog. Arabische Frühling, der ungelöste Ukraine-Konflikt, der Konflikt im Nahen Osten, die Entstehung des sog. Islamischen Staates, der Syrien-Konflikt und von der großen Öffentlichkeit unbemerkt, der Konflikt um territoriale Ansprüche im Südchinesischen Meer. 14 Eine entsprechende allgemeine Initiative in diese Richtung ging am Ende seiner Amtszeit vom seinerzeitigen Siebenten VN-GS Kofi Annan (1. Januar 1997 bis 31. Dezember 2006) aus, der in seiner politischen Botschaft „In larger freedom“ anregte, dass der SR eine Resolution erlassen und darin die Voraussetzungen zur völkerrechtlichen Gewaltanwendung klären soll (K. Annan, UN Doc. A/59/2005, S. 33, Abschn. 126). Jedoch gab es eine solche nicht, sodass eine Veränderung, Verdeutlichung oder auch nur Interpretationshilfe des geltenden Rechts nicht formuliert wurde. B. Schiffbauer, Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht, S. 35. 15 Aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung und besseren Lesbarkeit wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit die Sprachform des generischen Maskulinums verwendet. Die ausschließliche Verwendung der männlichen Form meint an dieser Stelle Personen jeden Geschlechts.
30 Einleitung
Bretton-Woods-Institutionen16 Weltbank und Internationaler Währungsfonds sowie regionale Organisationen wie die Vorläuferorganisationen der Euro päischen Union und das Nordatlantikbündnis. Im Jahr 1949 erteilte der Internationale Gerichtshof17 einer internationalen Organisation erstmals eine eigene Rechtssubjektivität. Er urteilte, dass die VN Völkerrechtspersönlichkeit besitzen18. Heute besteht kein Zweifel mehr, dass dies auch für eine Vielzahl anderer internationaler Organisationen gilt. Laut IGH gelten die für Staaten völkerrechtlichen Rechte und Pflichten – soweit übertragbar – ebenfalls für internationale Organisationen. Neben der rechtlichen Anerkennung sind die ihnen übertragenen Kompetenzen stetig gewachsen, sodass sie partiell in begrenzten Aufgabenbereichen faktisch als „Staatensurrogat“19 agieren. Dies hatte zur Folge, dass interna tionale Organisationen in die Lage versetzt worden sind, rechtlich und faktisch in die Rechtstellung von Individuen eingreifen zu können.20 Dies zeigt sich vornehmlich bei intergouvernementalen Organisationen: So übernehmen heute z. B. VN-Missionen die vorübergehende Verwaltung von Gebieten und vereinigen in sich dabei alle drei Staatsgewalten21. Eine entsprechende Entwicklung ist nach der historischen Zeitenwende 1989 auch beim Nordatlantikbündnis zu beobachten22. Auf Grundlage der zuvor formulierten Prämisse wird eine kritische Analyse der NATO-Einsätze seit dem Ende der Sowjetunion aus dem Blickwinkel des NV mit dem Zweck durchgeführt, zu einer völkerrechtlich adäquaten 16 Benannt nach dem Ort Bretton Woods im US-amerikanischen Bundesstaat New Hampshire, wo 44 Staaten der späteren Siegermächte des Zweiten Weltkriegs vom 1. bis zum 22. Juli 1944 zusammenkamen und das Bretton-Woods-Abkommen unterzeichneten. Zur Kontrolle und Durchsetzung des Abkommens wurden Institutionen wie Weltbank und Internationaler Währungsfonds geschaffen. 17 Nachfolgend: IGH. 18 Im sog. Bernadotte-Gutachten stellte der IGH erstmals fest, dass die VN Völkerrechtspersönlichkeit besitzen, und erweiterte damit die zuvor von Staaten dominierte Völkerrechtsordnung um eine neue Kategorie von Völkerrechtssubjekten; IGH, Reparation for Injuries Suffered in the Service of the United Nations, Advisory Opin ion, ICJ Rep. 1949, S. 174 ff. 19 A. Slaughter/J. Crisp, A surrogate state?, in: UNHCR Research Paper 168 (2009), insb. S. 8. 20 C. Janik, Internationale Menschenrechtsstandards, S. 2. Auch vor der Gründung der ersten modernen internationalen Organisationen nach dem Zweiten Weltkrieg gab es bereits Organisationen, wie der 1833 gegründete Deutsche Zollverein und die 1856 geschaffene Europäische Donaukommission, die begrenzte Eingriffsbefugnisse in Individualrechte besaßen. Allerdings wurden diese ohne Zweifel den Mitgliedstaaten zugerechnet. 21 Legislative, Judikative, Exekutive. 22 Zuletzt nach den Interventionen in Afghanistan und in Libyen.
B. Zielsetzung der vorliegenden Arbeit31
Auslegung des NV sowie Ermittlung der Handlungskompetenzen des Bündnisses beizutragen. Hierbei strebt die Arbeit insbesondere an, das Gewaltanwendungsverbot wieder verstärkt in den Vordergrund der Völkerrechtsdogmatik zu rücken und zugleich die Voraussetzungen für militärische Interventionen beschreibbar zu machen.
II. Bekenntnis zum Völkerrecht Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird als gegeben angenommen, dass der Prüfungsmaßstab dem Völkerrecht entspringt und das Völkerrecht als eigenständiges Recht auf internationaler Ebene existiert und nicht lediglich „Anhängsel“ internationaler Politik23 oder gar bloße Ausdrucksform von Rhetorik wäre24. Was zunächst selbstverständlich erscheint – schließlich ist ja das Völkerrecht der vorliegend angelegte Prüfungsmaßstab – ist zugleich auch ein Bekenntnis25 zur Existenz und Ernsthaftigkeit des Völkerrechts26 sowie zur strikten Trennung von Recht und Politik27 sowie zur klaren Abgrenzung zwischen Normen de lege lata und de lege ferenda. Insbesondere bei den zu 23 Für eine diesbezügliche Differenzierung ebenso B. Schiffbauer, Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht, S. 36 ff. (nachfolgend zit.) und C. Masuch, Die rechtswissenschaftliche Diskussion der Kosovo-Intervention, S. XXII ff. 24 Vgl. M. Koskenniemi, The Place of Law in Collective Security, in: Michigan JIL 17 (1996), S. 455 ff. m. w. N., sowie den kritischen Anmerkungen von H.-J. Cremer, Völkerrecht – Alles nur Rhetorik?, in: ZaöRV 67 (2007), S. 267 ff. 25 Ein solches Bekenntnis gibt auch Schiffbauer in seiner Arbeit zur vorbeugenden Selbstverteidigung ab (ders., Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht, S. 36 f.). Gleiches gilt für Masuch (ders., Die rechtswissenschaftliche Diskussion der Kosovo-Intervention, S. XXIII). 26 Lesenswert zum stets ausgetragenen – und eher philosophisch begründeten – Diskurs um die Existenz des Völkerrechts als Rechtsordnung mit überzeugender Argumentation für dessen Rechtsqualität J. Wiegandt, Internationale Rechtsordnung oder Machtordnung?, in: ZaöRV 71 (2011), S. 31 ff. 27 Von dieser Prämisse der Rechtsermittlung streng zu unterscheiden ist die treffende Feststellung, dass sich – bezogen vor allem auf Rechtsetzung und -durchsetzung – im Völkerrecht „das Recht und die Politik in besonderem Maße begegnen und bedingen“, wie es Blumenwitz zu tun pflegte, zit. nach M. Pallek, Anmerkungen zum VN-Weltgipfel 2005, in: G. Gornig et al. (Hrsg.), Iustitia et Pax, GS Dieter Blumenwitz, S. 577. Ähnlich verdeutlicht dies D. Deiseroth, Zur Rolle des Völkerrechts bei der Kriegsverhütung, in: D. Lutz/H.-J. Gießmann (Hrsg.), Die Stärke des Rechts gegen das Recht des Stärkeren, S. 251 ff. (S. 255), der Völkerrecht differenzierend und plastisch als „geronnene Politik“ bezeichnet. Trotz unzweifelhaft bestehender Schnittpunkte ist die grundsätzliche Differenzierung zwischen Recht und Politik keine neue Erkenntnis, wie schon H. Lauterpacht, The Function of Law in the international Community, passim, überzeugend darlegt. Allerdings ist sie regelmäßig in Erinnerung zu rufen.
32 Einleitung
untersuchenden Anlassfällen hat es den Anschein, dass die Völkerrechtswissenschaft und -praxis ebendiese Trennung vernachlässigt28. So entspringen Begründungen für oder wider die Zulässigkeit (internationaler) Gewaltanwendung oftmals der jeweiligen politischen und/oder moralischen Überzeugung. Auf dieser Grundlage werden sodann völkerrechtliche mit politischmoralischen Argumenten vermengt, um ein entsprechendes „Ergebnis“29 zu erzielen. Allein diese Vereinnahmung macht die Anerkennung30 als eigene Rechtsordnung31 notwendig. Denn das Recht muss standfest gegenüber politischen Gezeiten sein32. So sind subjektiv unbefriedigende Ergebnisse zugunsten der Einheitlichkeit – und damit auch der Verlässlichkeit – der Völkerrechtsordnung hinzunehmen33.
28 B. Schiffbauer, Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht, S. 37; M. Kühn, Unilaterale präventive Gewaltanwendung, S. 5 ff.; vgl. zudem – als bekennendes Beispiel – den ausdrücklich rechtspolitisch motivierten Beitrag zum Völkerrecht A. Guiora, Anticipatory Self-Defence and International Law – A Re-evaluation, in: JCSL 13 (2008), S. 3 ff. 29 Dies wird teilweise unreflektiert, oftmals aber bewusst mittels politisch-opportunistischer Argumentation „getarnt unter dem Deckmantel“ des Völkerrechts vollzogen. Dies kritisiert auch M. Walzer, Just and unjust wars, Preface, S. xii f.: „Policyoriented lawyers are in fact moral and political philosophers, and it would be best if they presented themselves that way. Or, alternatively, they are would-be legislators, not jurists or students of the law“.; vgl. auch P. Válek, Legality vs. Legitimacy and the Use of Force, in: R. Miller/R. Bratspies (Hrsg.), Progress in International Law, S. 629 ff..; K. Hailbronner, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, in: D. Schindler/ders., Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 26 (1986), S. 56. 30 Vgl. zu diesem – unbestreitbaren – Faktum lediglich die in den Ergebnissen des VN-Weltgipfels 2005 bestätigten Prinzipien, nach welchen u. a. dem Völkerrecht und der Herrschaft des Rechts eine hervorgehobene Stellung zugedacht werden, UN Doc. A/Res/60/1, insb. Abschn. 2. 31 S. dazu M. Herdegen, Völkerrecht, § 4, Rdnr. 1 ff.; T. Schweisfurth, Völkerrecht, S. 625 ff. 32 So einprägsam formuliert von N. White, Self-Defense, Security Council authority and Iraq, in: R. Burchill/ders./J. Morris (Hrsg.), International Conflict and Security Law, GS Hilaire McCoubrey, S. 238: „(…) laws, particularly fundamental ones, are not easily swept aside by the rise and fall of political tides“. Anhand des fest verankerten Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta beweist dies auch D. Wippmann, Nine Lives of Art. 2 (4), in: MinnesotaJIL 16 (2007), S. 387 ff. 33 M. Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes, S. 581, bringt es mit T. Stein, Einsatzarten der Streitkräfte, in: NZWehrr. 42 (2000), S. 14 auf den Punkt: „Man kann doch nicht einfach zusehen ist keine Norm des Völkerrechts“; a. A. T. Franck, Legitimacy in the International System, in: AJIL 82 (1988), S. 722.
B. Zielsetzung der vorliegenden Arbeit33
III. Trennung von Legalität und Legitimität Ausschließlich Völkerrechtssubjekte – in erster Linie Staaten, aber auch internationale Organisationen34 – haben die Rechtssetzungsautorität: Sie sind dazu legitimiert35. Die vorliegende Arbeit erhebt nicht den Anspruch, Legitimitätsaspekte zu begutachten. Untersucht wird die Legalität der NATO-Interventionen seit Ende der Sowjetunion. Allzu oft werden allerdings in der völkerrechtswissenschaftlichen Argumentation Legalitäts- und Legitimitätserwägungen miteinander vermischt, obwohl nur anhand Ersteren die Rechtmäßigkeit von Handlungen beurteilt werden kann36. Hintergrund für die oftmals verschiedenen methodischen Herangehensweisen der „westlichen“ Völkerrechtler sind die differierenden Rechtskulturen in den USA und in Kontinentaleuropa37. Zu beachten ist: Völkerrechtssubjekte sind an das Völkerrecht gebunden, unterliegen seinen Normen, müssen sich legal verhalten. Gleichzeitig können sie Teile dieses Rechts abschaffen, erweitern oder ergänzen – entweder durch völkerrechtliche Verträge oder die Entwicklung von Völkergewohnheitsrecht; diesbezüglich besitzen sie Legitimität38. Neben der Feststellung, dass zwischen beiden Begriffen zu unterscheiden ist, bedarf es einer Erörterung, wie beide voneinander abzugrenzen sind39. Unbestritten ist, dass legitimiert im Sinne von rechtsetzungsbefugt – und damit wesentlich für die Anerkennung des gesetzlichen Rechts40 – zu verstehen ist. Darüber hinaus kann es auch als eine Handlung zu verstehen sein, 34 Grundlegend
hierzu Teil 2, Kap. 2, A. M. Herdegen, Völkerrecht, § 4, Rdnr. 5 ff., sowie zur Legitimität der internationalen Rechtssetzung A. Boyle/C. Chinkin, The Making of International Law, S. 24 ff. 36 Nach K. Ipsen gilt dies insbesondere für das Völkerrecht, welches zu vielen internationalen Rechtsordnungen nicht auf einem gemeinsamen Wertesystem basieren kann und sich deshalb in besonderem Maße direkt am geltenden Recht zu messen hat. Ders., Legitime Gewaltanwendung neben dem Völkerrecht?, in: K. Dicke et al. (Hrsg.), Weltinnenrecht, LA Jost Delbrück, S. 382 f. Aufschlussreich zur Differenzierung von Legitimität und Legalität präventiver Selbstverteidigung in der Politikwissenschaft J. Schwehm, Reflexionen über Demokratie und Frieden zu Beginn des 21. Jahrhunderts, S. 121 ff. 37 Siehe ausführlich zu dieser Problematik unter Teil 4, Kap. 5, A. 38 R. Wolfrum, Legitimacy – Introductory Considerations, in: ders./V. Röben (Hrsg.), Legitimacy in International Law, S. 6 f. 39 Eine umfassende Darstellung des viel diskutierten Verhältnisses von Legalität und Legitimität wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht vorgenommen. Zu verweisen ist jedoch insbesondere auf den „Klassiker“ – des umstrittensten deutschen Staatsrechtlers – Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, passim sowie einer umfassenden Auslegung durch H. Hofmann, Legitimität gegen Legalität, passim. 40 Vgl. D. Bodansky, Concept of Legitimacy in International Law, in: R. Wolfrum/ V. Röben (Hrsg.), Legitimacy in International Law, S. 311; A. Boyle/C. Chinkin, The Making of International Law, S. 99 ff. 35 Vgl.
34 Einleitung
die auf einem ethisch-moralischen, politischen oder ideologisch geleiteten Entschluss basiert41. Eine derartige Handlung würde dem Gerechtigkeitsempfinden42 des Handelnden und mitunter auch der großen Mehrheit entsprechen und als legitim betrachtet werden43. Sofern die Handlung zugleich durch das geltende Recht gedeckt ist, liegt keine Kollision zwischen Legitimität und Legalität vor. Fehlt es jedoch an der Rechtmäßigkeit, bleibt alleine die Legitimität bestehen. Diese allein – mag sie auch noch so nachvollziehbar sein – liegt allerdings stets außerhalb des Rechts und ist damit illegal44. Als Folge unrechtmäßigen – aber als legitim empfundenen Handelns – könnten z. B. Sanktionen unterbleiben45 oder nachträglich eine Rechtmäßigkeitserklärung46 durch dazu (rechtmäßig) legitimierte Organe erfolgen. Nicht auszuschließen ist, dass sich aus derartigen Gegebenheiten Ansätze zur Bildung von Völkergewohnheitsrecht entwickeln47. Ungeachtet dessen ändert dies jedoch nichts an der Illegalität und ist demzufolge von der rechtlichen Bewertung zum Zeitpunkt der Handlung zu trennen. So geht es bei der Ermittlung von geltendem Recht um Legalität und nicht um Legitimität, oder auf den Punkt gebracht: „um objektiv ermittelbare Rechtmäßigkeit48, nicht um subjektiv empfundene Gerechtigkeit49“. 41 So H. Neuhold, Legitimacy: A Problem in International Law, in: R. Wolfrum/ V. Röben (Hrsg.), Legitimacy in International Law, S. 336 f. Bereits an dieser Stelle sei auf die besondere Relevanz dieses Spannungsfelds in der Diskussion um die Humanitäre Intervention im Rahmen des NATO-Einsatzes im Kosovo 1999 hingewiesen, vgl. nur statt vieler T. Gazzini, Rules on the Use of Force, in: JCSL 11 (2006), S. 324 ff. 42 Zur Gerechtigkeit im Völkerrecht vgl. das Konzept von J. Rawls, Das Recht der Völker, passim und C. Hillgruber, Verhältnis von Frieden und Gerechtigkeit, in: ZfP 50 (2003), S. 245 ff. 43 Hierzu krit. A. Pellet, Legitimacy of Actions, in: R. Wolfrum/V. Röben (Hrsg.), Legitimacy in International Law, S. 68, der jedoch den Begriff der Legitimität enger auslegt. 44 Vgl. K. Hailbronner, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, in: D. Schindler/ders., Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 26 (1986), S. 64 ff.; M. Kotzur, Krieg gegen den Terrorismus, in: AVR 40 (2002), S. 465. 45 So der Ansatz einer sog. „Exceptional Illegality“ bei präventiver Selbstverteidigung von M. Byers, Preemptive Self-defense, in: JPolPhil 11 (2003), S. 185 ff. 46 So ausdrücklich differenzierend H. Neuhold, Legitimacy: A Problem in International Law, in: R. Wolfrum/V. Röben (Hrsg.), Legitimacy in International Law, S. 337; offenlassend M. Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes, S. 581 m. w. N. 47 Diese Situation bezeichnet J. Wiegand, Internationale Rechtsordnung oder Machtordnung?, in: ZaöRV 71 (2011), S. 66, als „ewigen Widerspruch des Völkergewohnheitsrechts“. 48 Vgl. zur Notwendigkeit objektiver Kriterien T. Schweisfurth, Völkerrecht, S. 479 (Rdnr. 5). 49 Diese Trennung postuliert auch zu Recht J. Schwehm, Präventive Selbstverteidigung, in: AVR 46 (2008), S. 372 f., am Ende seiner Ausführungen stellt er aber auf eine der Völkerrechtsermittlung nicht dienliche „über den genuin juristischen Hori-
B. Zielsetzung der vorliegenden Arbeit35
Diese Erwägungen gelten insbesondere für die vorliegend zu untersuchenden NATO-Interventionen. Eine „saubere“ Rechtsermittlung kann sich nicht von Legitimierungsaspekten ohne legalen Hintergrund beeinflussen lassen. Daher ist die Rechtmäßigkeit des NATO-Handelns in der voranstehend formulierten (Haupt-)Frage von höchster Bedeutung und damit für sie einzig gültiges heranzuziehendes Kriterium. Aspekte der Legitimität sind hingegen nur dann beachtlich, wenn das geltende Völkerrecht sie explizit zulässt. Das ist der Fall, wenn es zu rein auf Zweckmäßigkeit basierten Handlungen nach subjektiver Einschätzung ermächtigt50. Sollte bei der Rechtsermittlung der maßgeblichen Anlassfälle ein als „ungerecht empfundenes Ergebnis“ gefunden werden, sind folgende – über das Ziel der vorliegenden Arbeit hinausgehenden – Handlungsweisen angezeigt: Zunächst die mögliche völkerrechtliche Lösung durch Anpassung der vermeintlich defizitären Legalität an die (als solche empfundenen) Vorgaben der herzustellenden Gerechtigkeit. Sodann eine politische Lösung, durch Überwindung einer möglichen Lücke51 zwischen Legalität und Legitimität, indem völkerrechtswidriges Verhalten jeweils unter Ansehung des Einzelfalls ohne negative Folgen für den Gewaltausübenden bewusst und gewollt hingenommen wird52. Beide Schritte können entweder mittels Rechtsetzung53 durch die dafür legitimierten Völkerrechtssubjekte oder mittels einer politischen54 Einzelfallentscheidung55 der dazu befugten Organe der Völkerrechtsgemeinzont hinausgehende Einbeziehung moralischer und politischer Diskurse“ (ebd., S. 405) ab. Als einer der wenigen Autoren aus dem anglo-amerikanischen Rechtskreis unterscheidet seit nicht allzu langer Zeit J. Moore, Opening Remarks, in: ASIL 98 (2004), S. 325, zwischen einer „antilegalist challenge“ und einer „legalist tradition“. 50 Eine solche Einschränkung entspricht dem völkerrechtlich anerkannten Gedanken der Billigkeit intra legem im Gegensatz zu unzulässiger Billigkeit contra legem, siehe M. Krugmann, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht, S. 75 f. m. w. N. 51 Hierzu P. Válek, Legality vs. Legitimacy and the Use of Force, in: R. Miller/ R. Bratspies (Hrsg.), Progress in International Law, S. 616. 52 Häufig wird in einer solchen Konstellation von einem entschuldbaren Völkerrechtsbruch gesprochen, vgl. P. Válek, Legality vs. Legitimacy and the Use of Force, in: R. Miller/R. Bratspies (Hrsg.), Progress in International Law, S. 624. 53 Als Akte der Exekutive zählen vor allem Resolutionen des SR. Zu beachten ist jedoch, dass der Adressatenkreis „offen“ ist und daher mangels entsprechender Legitimierung des SR eine solche Resolution nicht zu einer allgemein gültigen Völkerrechtsnorm erstarken kann. Vgl. M. Kühn, Unilaterale präventive Gewaltanwendung, S. 297 ff. m. w. N. 54 Der Begriff „politisch“ wird in Abgrenzung zu „legislativ“ oder „exekutiv“ gebraucht, da ihm keine privilegierte rechtliche Bedeutung innewohnt. Vgl. hierzu A. Pellet, Legitimacy of Actions, in: R. Wolfrum/V. Röben (Hrsg.), Legitimacy in International Law, S. 65. 55 Eine solche Entscheidung muss ausschließlich auf die besonderen Gegebenheiten des Einzelfalls abzielen und darf aufgrund fehlender Legitimierung des betreffen-
36 Einleitung
schaft – also hauptsächlich des SR als politischen Organs für bindende Beschlüsse56 – erfolgen. Abzulehnen ist allerdings ein tendenziöses Einwirken schon auf Ebene der Rechtsermittlung.
C. Gang der Untersuchung Teil 1: Die Gründungsjahre des Nordatlantikbündnisses symbolisieren das Verfestigen des „Ost-West-Konflikts“. Will man Handlungsweise und Einsätze der NATO sowie den Inhalt des NV bezogen auf die heutige Zeit untersuchen bzw. verstehen, kann man – wie bei jedem politisch-militärischen und rechtlichen Sachverhalt – auf eine Betrachtung des geschichtlichen Ablaufs nicht verzichten. Aus diesem Grund wird sich die vorliegende Arbeit im ersten Teil mit der Darstellung und Einordnung der NATO-Historie, also mit der Entwicklung des Nordatlantikbündnisses befassen. Seit dem Ende der Sowjetunion ist das Bündnis wie kaum eine andere Institution einem erheblichen Wandel unterworfen, der neue völkerrechtliche Fragen aufwirft. Die historische Darstellung wird sich demgemäß nicht in der Aneinanderreihung historischer Fakten erschöpfen, sondern auch die Organisation und den Wandel in der strategischen Ausrichtung abbilden. Die Erörterung der Hintergründe und des zeitlichen Ablaufs der Anlassfälle57 sowie die Darstellung der jeweiligen NATO-Maßnahmen komplettieren diesen ersten Teil. Eine derartige historische Darstellung erleichtert den Zugang zu den völkerrechtlichen Fragestellungen, die mit dem Wegfall der Sowjetunion einhergegangen sind. Teil 2: Eine andere Perspektive nimmt der zweite Teil ein. In diesem Abschnitt werden das völkerrechtliche Gewaltregelungsregime sowie der rechtliche Rahmen der NATO abgebildet. Die Betrachtung von (Völker)Recht und Gewaltanwendung – d. h. die Entwicklung vom gerechten Krieg (bellum den Organs keinesfalls ein Urteil gegen geltendes Völkerrecht sein. B. Schiffbauer, Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht, S. 40 m. w. N. 56 Das bedeutsame an den Befugnissen des SR ist es, dass er völkerrechtlich bindende Beschlüsse auf Grundlage lediglich politischer Erwägungen fassen kann. Dies stellt auch den Beweis für das Primat des Völkerrechts gegenüber der Politik dar, weil der SR erst durch die explizite Zuweisung über Art. 39 ff. VN-Charta – mithin geltendes Völkerrecht – zu derartigen Befugnissen legitimiert wird. Diese Sonderstellung des SR wird allgemein anerkannt. Zugleich geht die Völkerrechtsgemeinschaft davon aus, dass das ihr zugrunde liegende Recht grundsätzlich Vorrang genießt und rechtlich bindende Entscheidungen ohne notwendigerweise rechtlichen Hintergrund unter dem Vorbehalt rechtlicher Ermächtigung stehen. B. Schiffbauer, Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht, S. 41 (Fn. 75). 57 Gegenstand der Untersuchung sind die Interventionen der NATO seit dem Jahr 1992 in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo, in Afghanistan und in Libyen.
C. Gang der Untersuchung37
iustum) zum Kriegsverbot (ius contra bellum), einschließlich des heute geltenden Gewaltverbots – bildet die Grundlage für das Verständnis des völkerrechtlichen Gewaltregelungsregimes der VN im Rahmen eines universellen Systems kollektiver Sicherheit. Dabei handelt es sich um ein System, das sich auszeichnet, weil es mit einem Mechanismus bzw. Organ ausgestattet ist, dem die Mitgliedstaaten die Befugnis übertragen haben, auf eine Aggression oder sonstigen Rechtsbruch mit militärischer Gewalt oder anderen Zwangsmaßnahmen zu reagieren. Die daraus zu ziehende Konsequenz, dass außerhalb des Rechts der VN keine Rechtfertigungsgründe für den Einsatz militärischer Gewalt existent sind, rundet das erste Kapitel dieses Teils der Arbeit ab. Das zweite Kapitel erörtert zunächst, inwieweit die Bindung internationaler Organisationen an das Völkerrecht fortgeschritten bzw. abgeschlossen ist. Sodann werden die Rechtsgrundlagen und Hauptvereinbarungen des Bündnisses benannt und darauf untersucht, welche Rechtsquellenqualität sie besitzen und welche Rechtswirkungen sie entfalten. Anschließend wird der völkerrechtliche Zugang des Nordatlantikbündnisses zu militärischen Maßnahmen expliziert und aufgezeigt, dass zwischen Art. 51 VN-Charta und dem NV ein Wechselverhältnis besteht. Teil 3: Im dritten Teil der Arbeit wird schließlich der NV en détail thematisiert. Im ersten Kapitel werden Bestand und Inhalt der NATO-Grundsätze und -Verpflichtungen analysiert. Zunächst wird hierzu der methodische Ansatz der Vertragsanalyse bestimmt und auf das Verhältnis des NV zu den Regelungen des Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge58 eingegangen. Anschließend werden Ziel und Zweck des Bündnisses – untergliedert nach Aufgabenfeld und Einsatzgebiet – anhand der einzelnen Artikel des NV ermittelt. Zugleich werden die grundlegenden Handlungsprinzipien konkretisiert. Schließlich müssen neben den völkerrechtlichen Normen ebenfalls die innerstaatlichen Regelungen der Mitgliedstaaten – insbesondere diejenigen zur Entsendung von Streitkräften außerhalb des eigenen Staatsgebiets – fokussiert werden. Da eine Darstellung sämtlicher mitgliedstaatlicher Regelungen den Rahmen der vorliegenden Arbeit signifikant erweitern würde, beschränkt sich die Untersuchung auf die Bundesrepublik Deutschland. Nachdem im ersten Teil des Abschnitts herausgearbeitet wird, welche inhaltlichen Grundsätze und Verpflichtungen sich für das Bündnis aus den relativ allgemein gehaltenen Regelungen des NV ergeben, widmet sich das zweite Kapitel umfassend der Frage, inwieweit völkerrechtlich eine Abwandlung bzw. Änderung des NV durch die Mitgliedstaaten möglich ist. Hierzu 58 Nachfolgend:
WVK.
38 Einleitung
werden die differenten Arten der Vertragsänderung zunächst vorgestellt und beschrieben, um in der Folge zu untersuchen, ob eine solche bei der NATO bzw. den NV eingetreten ist. Abschließend wird erörtert, ob sich für das Nordatlantikbündnis Handlungserweiterungen durch die Heranziehung der „Implied-powers“-Lehre ergeben können. Teil 4: Im vierten Teil der Arbeit werden die im ersten Teil beschriebenen Interventionen der NATO schließlich völkerrechtlich untersucht und bewertet. Es werden zunächst die völkerrechtlichen Parameter, samt Rechtsgrundlage ermittelt und dargestellt. Die seinerzeit vorgelegten Rechtfertigungen für eine Intervention werden einer – ausschließlich – rechtlichen Beurteilung unterzogen. Die Bewertung der jeweiligen militärischen Maßnahmen des Bündnisses rundet die Untersuchung eines jenen Anlassfalls – und damit auch der einzelnen Kapitel des Abschnitts – ab. Im fünften Kapitel wird nunmehr eine Auswertung der zuvor ermittelten Interventionsergebnisse vorgenommen. Dabei stehen die Auswirkungen der NATO-Einsatzpraxis auf das Völkerrecht und das Nordatlantikbündnis selbst im Mittelpunkt. Teil 5: Der abschließende fünfte Teil fasst die Thesen und Ergebnisse der Arbeit vor dem Hintergrund der relevanten Fragestellungen zusammen – die vorliegende Arbeit wird mit einem Ausblick beschlossen.
D. Terminologie Da die Arbeit die Zielsetzung adressiert, die Rechtmäßigkeit – also Legalität – der Interventionen der NATO nach dem Ende der Sowjetunion anhand des NV zu untersuchen, ist zunächst zu erörtern, was unter der NATO im vorliegenden Kontext zu verstehen ist, sowie anhand welcher Prämissen des geltenden Völkerrechts die Rechtsermittlung erfolgt.
I. Die NATO Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll das Nordatlantikbündnis allein aus der völkerrechtlichen Perspektive betrachtet werden. Insofern bedarf es zunächst einer Klarstellung, anhand welcher Prämissen sich das Bündnis in die – heutige – Völkerrechtsordnung eingliedert. Die NATO könnte eine von den Gründungsstaaten rechtlich unabhängige internationale Organisation mit eigener Rechtspersönlichkeit darstellen, wenn sie deren Kriterien vollständig erfüllt. Unter internationalen Organisationen werden die nichtstaatlichen interna tionalen Organisationen (non-governmental organizations = NGOs) und die zwischenstaatlichen internationalen Organisationen (international govern-
D. Terminologie39
mental organizations = IGOs) zusammengefasst59. Von völkerrechtlicher Bedeutung sind insbesondere Letztere. Allerdings fehlt es an einer allgemeingültigen Definition, was unter zwischenstaatlichen Organisationen zu verstehen ist, da keine Einigung darüber besteht, welche Merkmale für eine internationale Organisation konstitutiv sind und welche nur regelmäßig auftreten60. Übereinstimmung scheint darüber zu bestehen, dass es sich um eine Vereinigung von mindestens zwei Völkerrechtssubjekten handeln muss61 (in aller Regel Staaten62), die auf dem Gebiet des Völkerrechts zustande gekommen ist63 (in der Regel durch einen multilateralen Vertrag)64, die dauerhaft65 mit der selbstständigen Wahrnehmung eigener Aufgaben betraut ist66 und hierfür mit mindestens einem eigenen handlungsfähigen Organ ausgestattet ist67. Unter diese Definition lässt sich eine Vielzahl von Organisationen subsumieren, deren Integrationsgrad sich beträchtlich unterscheidet. In Anlehnung an die von der International Law Commission (ILC)68 im Rahmen der Draft 59 V. Epping,
in: K. Ipsen, Völkerrecht, 2. Kap., § 6, Rdnr. 2. hierzu auch C. Janik, Internationale Menschenrechtsstandards, S. 7 ff. 61 V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 6, Rdnr. 2; E. Klein/S. Schmahl, in: W. Graf Vitzthum/A. Proelß, Völkerrecht, 4. Abschn., Rdnr. 12 f.; M. Ruffert/C. Walter, Institutionalisiertes Völkerrecht, Rdnr. 9, 11 und 115; K. Schmalenbach, Stichwort „International Organizations or Institutions, General Aspects“, in: EPIL 2006, online edition, Tz. 4, 9; H. Schermers/N. Blokker, International Institutional Law, § 36. 62 E. Klein/S. Schmahl, in: W. Graf Vitzthum/A. Proelß, Völkerrecht, 4. Abschn., Rdnr. 12 f.; T. Stein/C. v. Buttlar, Völkerrecht, Rdnr. 367 und 369; M. Ruffert/C. Walter, Institutionalisiertes Völkerrecht, Rdnr. 9, 11 und 115; K. Schmalenbach, Stichwort „International Organizations or Institutions, General Aspects“, in: EPIL 2006, online edition, Tz. 4, 9; H. Schermers/N. Blokker, International Institutional Law, § 36. 63 V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 6, Rdnr. 2; H. Schermers/N. Blokker, International Institutional Law, § 33, 45. 64 V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 6, Rdnr. 2; H. Schermers/N. Blokker, Inter national Institutional Law, § 34; a. A. M. Ruffert/C. Walter, Institutionalisiertes Völkerrecht, Rdnr. 10, die das Merkmal des Vertrages für konstitutiv halten. 65 T. Stein/C. v. Buttlar, Völkerrecht, Rdnr. 367 und 370. 66 V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 6, Rdnr. 2; T. Stein/C. v. Buttlar, Völkerrecht, Rdnr. 367 und 376. 67 V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 6, Rdnr. 2; M. Ruffert/C. Walter, Institu tionalisiertes Völkerrecht, Rdnr. 12; a. A. T. Stein/C. v. Buttlar, Völkerrecht, Rdnr. 367 und 378, die zwei handlungsfähige Organe zur Voraussetzung machen. 68 Die Völkerrechtskommission (ILC) – deren 34 Vertreter von der Generalversammlung gewählt werden – ist ein 1947 geschaffenes Nebenorgan der Vereinten Nationen, das aus weisungsfreien Völkerrechtsexperten besteht. Sie unterstützt die Generalversammlung bei der dieser nach Art. 13 Abs. 1 lit. a VN-Charta übertragenen Aufgabe, „encouraging the progressive development of international law and its codification“. In der Regel erarbeitet die ILC hierzu Konventionsentwürfe, die dann von der Generalversammlung entweder diplomatischen Staatenkonferenzen zur Behand60 Vgl.
40 Einleitung
Articles on the Responsibility of International Organizations (DARIO)69 ausgearbeiteten Definition soll diese nur solche Organisationen inkludieren, die explizit oder implizit mit einer eigenen völkerrechtlichen Rechtspersönlichkeit ausgestattet sind. Die ILC gebraucht den Begriff der internationalen Organisation mit Bezug auf „an organization established by a treaty or other instrument governed by international law and possessing its own international legal personality. International Organizations may include as members, in addition to states, other entities.70“
Heutzutage wird davon ausgegangen, dass eine internationale Organisation Völkerrechtspersönlichkeit besitzt, wenn es sich um eine auf Dauer angelegte Vereinigung von mindestens zwei Völkerrechtssubjekten auf dem Gebiet des Völkerrechts handelt, die mit der selbstständigen Wahrnehmung eigener Aufgaben betraut und mit eigenen handlungsbefugten Organen ausgestattet ist.71 Dem Nordatlantikbündnis, das im Zentrum der Untersuchung steht, ist gemein, dass es diese Voraussetzungen erfüllt und ihm daher Völkerrechtspersönlichkeit zukommt. Der Nordatlantikpakt vom 4. April 1949 ist ein Vertrag zwischen ursprünglich zwölf, mittlerweile 29 souveränen Staaten, die sich für grundsätzlich unbegrenzte Dauer – vgl. Art. 12 f. NV – aufgrund einer völkerrechtlichen Willenseinigung zum Zwecke der gemeinsamen Verteidigung gegen bewaffnete Angriffe freiwillig zusammengeschlossen haben. Auch wenn Struktur72 und Handlungsprinzipien73 der NATO im Verlauf der Untersuchung ausführlich dargelegt werden, kann bereits an dieser Stelle festgehalten werden, dass der Nordatlantikrat nach Art. 9 NV zur Koordinierung der Verteidigungsaufgaben fungiert. Er bildet somit das Hauptorgan des Bündnisses. Seit den Lissabonner Beschlüssen vom Februar 195274 – die unter Ziff. 7 des Komlung unterbreitet oder von ihr selbst verabschiedet werden. Eine der wichtigsten Kodifikationsverträge, die auf Vorarbeiten der ILC zurückgehen, ist die Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK, 1969). N. Wühler/I. Seidl-Hohenveldern, in: I. Seidl-Hohenveldern (Hrsg.), Völkerrecht/LdR, S. 218 f. 69 Vgl. ILC, Report on ist sixty-third session, 2011, UN Doc. Suppl. No. 10 (A/66/10), S. 54–68. 70 Vgl. ILC, Report on ist fitfty-fifth session Report, 2003, UN Doc. A/58/10, Rdnr. 38. Die von der ILC gewählte Definition der internationalen Organisation ist deshalb so eng, weil, sofern eine internationale Organisation keine Rechtspersönlichkeit hat, nur die Mitgliedstaaten, aber nicht die Organisation selbst eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit für eine völkerrechtswidrige Handlung im Kontext der Organisation treffen kann. Vgl. C. Janik, Internationale Menschenrechtsstandards, S. 9 (Fn. 35). 71 Vgl. G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht (Bd. I/2), § 105, S. 211. 72 Vgl. unter Teil 1, Kap. 1, B. 73 Vgl. unter Teil 3, Kap. 1, C. 74 Kommuniqué der 9. Sitzung des Nordatlantikrates vom 20.–25. Februar 1952, in: F.-W. Engel, Handbuch der NATO, S. 471 ff.
D. Terminologie41
muniqués die Einsetzung eines „Ständigen Rates“ vorsahen, der sich aus hauptamtlichen Vertretern der Regierungen im Botschafterrang zusammensetzt (NATO-Botschafter) – weist das Bündnis eine Organstruktur auf, die dem Charakter einer internationalen Organisation entspricht75. Seitdem genügt die Gliederung des Nordatlantikbündnisses der typischen Struktur internationaler Organisationen: Es weist mit dem Nordatlantikrat (Hauptorgan), dem Ständigen Rat (einem mit Exekutivbefugnissen ausgestatteten Organ) und dem Generalsekretariat (administratives Organ) drei Organe auf. Aufgrund dieser Handlungsinstrumente erfüllt die NATO die im Gründungsvertrag zugewiesenen Aufgaben, d. h. sie wird als Organisation selbstständig tätig. Aus diesem Grund kann sie – was auch nicht mehr angezweifelt wird – als von den Gründungsstaaten rechtlich unabhängige internationale Organisation mit eigener Rechtspersönlichkeit bezeichnet werden76. Die voranstehenden Ausführungen verdeutlichen, dass internationale Organisationen – und damit ebenso die NATO – bestimmte Kriterien und Strukturen aufzuweisen haben. Kennzeichnend ist für sie (ebenso wie für Staaten), dass es sich bei ihnen um rechtlich legitimierte Ordnungen handelt, denen ein „positiver Kompetenzgedanke“77 innewohnt, wie er in den Stichworten „Legitimation durch Verfahren“78 und „Herrschaft des Rechts“79 verdeutlicht wird. Indem diese Organisationen auf einen bestimmten Organisationszweck ausgerichtet sind, räumt ihnen nach dessen Vorgaben der Gründungsvertrag Kompetenzen80 gegenüber den Mitgliedstaaten ein und verteilt diese zwischen den Organen. Dabei unterliegen sie allerdings eindeutig dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung – sie dürfen insofern ihren Aufgabenbereich und ihre Handlungsbefugnisse nicht eigenständig erweitern und verfügen nicht über Kompetenzkompetenz in dem Sinne, dass sie sich selbst Kompetenzen zuerkennen könnten. Grundsätzlich verfügen sie (lediglich) über ebenjene Kompetenzen, die ihnen ihre Gründer im Gründungsvertrag 75 G. Warg,
Von Verteidigung zu kollektiver Sicherheit, S. 157 f. G. Nolte, Bundeswehreinsätze im kollektiven Sicherheitssystem, in: ZaöRV 54 (1994), S. 667; G. Warg, Von Verteidigung zu kollektiver Sicherheit, S. 158 m. w. N. 77 Zu diesem Ansatz H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in: VVDStRL 20 (1963), S. 89 f. 78 Grundlegend hierzu N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, passim; für die Rechtswissenschaft nur R. Zippelius, Legitimation durch Verfahren?, in: G. Paulus/ U. Diederichsen/C.-W. Canaris (Hrsg.), FS Karl Larenz, S. 293 ff. 79 Hierzu B. Tamanaha, On the Rule of Law, S. 127 ff. konkret zur internationalen Ebene; G. Hafner, The Rule of Law and International Organizations, in: in: K. Dicke et al. (Hrsg.), Weltinnenrecht, LA Jost Delbrück, S. 307 ff. 80 Hierzu umfassend und eingehend N. Weiß, Kompetenzlehre internationaler Organisationen, passim. 76 Vgl.
42 Einleitung
oder einem späteren Rechtsakt zugestehen – ausdrückliche Kompetenzzuweisung. Oftmals gibt ein Vertrag zu einer bestimmten Frage jedoch keine Auskunft. Dies bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, dass ein Tätigwerden mangels ausdrücklicher Rechtsgrundlage verboten ist. Vielmehr wird in derartigen Situationen danach gefragt, ob eine notwendige Kompetenz nicht anderweitig im Vertrag enthalten sein kann. Hierbei geht es um immanente Kompetenzen, also um die Frage, ob internationale Organisationen über eine objektive Rechtsfähigkeit verfügen, die derjenigen von Staaten entspricht. Überdies kann es sich um implizierte Kompetenzen handeln, sog. „implied power“81 oder um Kompetenzen, die aufgrund des „effet utile“82 begründet werden. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Bedeutung dieses Vorverständnisses sich durch die gesamte Untersuchung zieht und immer mitgedacht werden muss, da insbesondere einzelne Lehren der Völkerrechtswissenschaft lediglich im Rahmen von Gründungsverträgen internationaler Organisationen anerkannt werden – so etwa die Lehre der „implied powers“83.
II. Vorgehensweise zur Rechtsermittlung Die Vorgehensweise der Rechtsermittlung kann als systemtisch-chronologisch bezeichnet werden. Der eigentlichen Rechtsermittlung wird ein „Allgemeiner Teil“ vorangestellt, der die historischen Wurzeln der NATO und das heute geltende Völkerrecht aufzeigt. Dies ist zwingende Voraussetzung für eine umfassende Vertragsanalyse. Bei der vorzunehmenden Vertragsanalyse sind die beiden autoritativen Sprachfassungen des NV – Englisch und Französisch – für die Rechtsermittlung heranzuziehen. Für die Beantwortung der Rechtmäßigkeit der Anlass81 Solche „implied powers“ sind diejenigen Kompetenzen, die zur Erreichung des mit der Errichtung der internationalen Organisation und ihrer Organe angestrebten Zwecks unbedingt notwendig sind, jedoch im Gründungsvertrag nicht erwähnt werden. 82 Darunter wird verstanden, völkerrechtliche Verträge – insbesondere Gründungsverträge internationaler Organisationen – unter Zugrundelegung des Effektivitätsprinzips so auszulegen, dass derjenigen Auslegung der Vorzug gebühre, bei der der erkennbare Zweck des Vertrages und seiner Einzelvorschriften am besten erreicht werde. Vgl. R. Bernhardt, Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 96; R. Böhm, Kompetenzauslegung und Kompetenzlücken, S. 64 ff. Dieser Grundsatz ist heute in Rechtsprechung – vgl. nur IGH, Urt. v. 18. Juli 1966, ICJ-Reports 1966, S. 6 ff. (S. 48 f.), South West Africa Cases, Ethopia vs. South Africa, Liberia vs. South Africa, Second Phase – und Literatur – umfassend M. Mosiek, Effet utile und Rechtsgemeinschaft, passim m. w. N. – allgemein anerkannt. 83 Vgl. hierzu ausführlich Teil 3, Kap. 2, D.
D. Terminologie43
fälle soll der größtmögliche, gerade noch als rechtmäßig ermittelte, Rahmen als universell maximal zulässige Ausprägung der völkerrechtlichen Gewaltanwendung gelten.
III. Die für die Rechtsermittlung relevanten Fragestellungen Die völkerrechtliche Auseinandersetzung mit den zu untersuchenden Anlassfällen orientiert sich an der grundlegenden Frage, ob die von der NATO verwendete Rechtsgrundlage, samt Begründung für die jeweiligen Interven tionen – aus dem Blickwinkel des NV – rechtmäßig gewesen ist. Bei der Beurteilung dieser (Haupt-)Frage sind die vorgebrachten völkerrechtlichen Erklärungen des Bündnisses zu analysieren und unter dem Gesichtspunkt zu bewerten, ob deren Heranziehung jeweils im Einklang mit dem NV steht. Bei der Beurteilung der Rechtsgrundlage sind jeweils die anerkannten Quellen des Völkerrechts heranzuziehen, aus welchen sich die Rechtmäßigkeit grundsätzlich erschließt. Die (Haupt-)Frage umfasst eine Reihe von Fragen, die bei der Prüfung der einzelnen Anlassfälle auftreten und deren Beantwortung im Rahmen dieser Arbeit vorgenommen werden soll. Bei den Fragen handelt es sich insbesondere darum, – ob der NV die Wahrnehmung eines Mandats zu einem sog. „out of area“Einsatz grundsätzlich zulässt; – ob für das Bündnis eine Rechtsgrundlage für militärische Interventionen aus originärem NATO-Recht vorliegt, d. h., ob das Bündnis auch aus eigener, originärer Kompetenz heraus handeln kann; – ob sich aus dem NV und den zu prüfenden Anlassfällen ein Verstoß der NATO gegen zwingende völkerrechtliche Vorschriften (ius cogens) ableiten lässt; sowie – wie weit der NV ausgelegt bzw. „fortgebildet“ werden darf, damit die „Praktiken“ des Nordatlantikbündnisses als völkerrechtlich angemessenen zu bewerten wären? Neben der Prüfung der vorangestellten Fragen, soll die Problematik fokussiert werden – sofern ein Verstoß des Bündnisses gegen das in Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta verankerte Gewaltverbot, und damit gegen ius cogens zu bejahen ist –, welche Schlussfolgerungen und auch Konsequenzen daraus (völkerrechtlich) im Einzelnen zu konkludieren sind.
Teil 1
Bestandsaufnahme – historische Grundlagen zur NATO
Kapitel 1
Das System der NATO A. Die Entwicklung der NATO von der Territorial- zur Interessenverteidigung Vorab ist zu fokussieren, infolge welcher Einflüsse und weltpolitischer Gegebenheiten es zur Gründung des Nordatlantikbündnisses gekommen ist. Nachfolgend wird der Wandel in der strategischen Ausrichtung des Bündnisses, mitsamt einer überblicksartigen Betrachtung der NATO-Einsätze seit dem Ende der Sowjetunion, thematisiert. Die Darstellung der aktuell gültigen strategischen Ausrichtung des Bündnisses sowie die Grundhaltung und das Verhältnis Russlands zur NATO schließen das Kapitel ab.
I. Beweggrund und Anstoß für die Gründung der NATO Der NV wurde am 4. April 1949 in Washington D.C. von den zwölf Gründungsmitgliedern1 unterzeichnet und damit zu einem Zeitpunkt, an dem der Zweite Weltkrieg noch keine vier Jahre beendet war. Die Ursachen und Gründe für das Entstehen der NATO und damit auch des „Ost-WestKonflikts“ beruhen auf den weltpolitischen Gegebenheiten jener Zeit. Mitunter gibt es Stimmen in der Literatur, die den Beginn des „Ost-West-Konflikts“ und die Ursachen für die Gründung der NATO bereits vor dem Zweiten Weltkrieg sehen. Nach Ansicht von Ernst Nolte2 haben diese Ent1 Gründungsmitglieder der NATO sind Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien (Vereinigtes Königreich), Island, Italien, Kanada, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Portugal und die Vereinigten Staaten von Amerika (USA). 2 Prof. Dr. Ernst Nolte, * 11. Januar 1923 in Witten, * 18. August 2016 in Berlin, war ein deutscher Historiker und Philosoph. Sein Name litt unter dem sog. „Historikerstreit“. Dieser (politische) Streit entwickelte sich anhand eines Aufsatzes von Nolte, den die FAZ am 6. Juni 1986 veröffentlichte. Hierin warf er die Frage auf, ob der Holocaust eine Reaktion der Nationalsozialisten auf frühere Ausrottungsmaßnahmen und Gulags (Repressionsmaßnahmen) der Sowjetunion war. Der Sozialphilosoph Jürgen Habermas griff in der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 11. Juli 1986 neben Nolte, auch andere führende Neuzeithistoriker (namentlich Michael Stürmer, Andreas Hillgruber und Klaus Hildebrand) an, denen er „apologetische Tendenzen“ im Umgang mit dem Holocaust sowie ein „revisionistisches“ Geschichtsbild vorwarf. Vgl.
48
Teil 1, Kap. 1: Das System der NATO
wicklungen ihren Ausgangspunkt im Jahr 1917, als die USA in den Ersten Weltkrieg eintraten und in Russland aufgrund der Oktoberrevolution die Sozialistische Sowjetrepublik proklamiert wurde3. Bereits an dieser Stelle kann vorangestellt werden, dass der Entstehung des „Kalten Kriegs“4 sowie der Gründung der NATO weder eine plötzliche Aktion vorausging, noch dass sie eine unabweisbare Notwendigkeit war. Vielmehr vollzog sich diese Entwicklung allmählich und ist letztlich das Ergebnis einer Summe von Einzelentscheidungen sowie Konflikten, die das politische Klima zwischen Ost und West, insbesondere in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, abkühlen ließen5. 1. Die weltpolitische Lage nach Ende des Zweiten Weltkriegs Unter dem Eindruck und den verheerenden Wirkungen des Zweiten Weltkriegs6 stehend, waren die westlichen Alliierten7 sowie die Sowjetunion ungeachtet differenter Interessen, Absichten und Ziele zunächst gemeinsam in der Anti-Hitler-Koalition8 verbunden. Um das verbindende Ziel9 dieses hierzu umfassend R. Evans, Historikerstreit, passim; S. Kailitz, Historikerstreit, passim. 3 Vgl. hierzu die umfangreiche Studie von E. Nolte, Deutschland und der Kalte Krieg, passim; M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 18. 4 Der Begriff „Kalter Krieg“ wurde geprägt im Jahr 1947 durch das Werk von Walter Lippmann, The Cold War, passim. Vgl. T. Paterson, The Origins of Cold War, Introduction vii. 5 Vgl. M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 29. 6 Der Zweite Weltkrieg begann mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 und endete mit der bedingungslosen Kapitulation Japans am 2. September 1945. Aus der umfangreichen Literatur, die sich mit Entstehung, Entwicklung und Verlauf des Zweiten Weltkriegs befassen, seien hier alleine aus der Literatur folgende Werke genannt: M. Salewski, Deutschland und der Zweite Weltkrieg, passim; L. Gruchmann, Der Zweite Weltkrieg, passim; ders., Totaler Krieg, passim; R.-D. Mueller, Der letzte deutsche Krieg, passim; W. Michalka, Der Zweite Weltkrieg, passim; J. Keegan, Der Zweite Weltkrieg, passim; G. Weinberg, Eine Welt in Waffen, passim; I. Dear/M. Foot, The Oxford Companion to the Second World War, passim. 7 Das Vereinigte Königreich, die Vereinigten Staaten von Amerika und nach der Invasion der Alliierten in der Normandie im Juni 1944 auch (wieder) Frankreich. 8 Ausschlaggebend für die Bildung der „Anti-Hitler-Koalition“ war der deutsche Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 („Unternehmen Barbarossa“). Damit wurde das nationalsozialistische Deutschland das gemeinsame Feindbild der kapitalistischen Alliierten Großbritannien und USA sowie der kommunistischen Sowjetunion. Die USA und Großbritannien waren bereits über die gemeinsam am 9.–12. August 1941 abgehaltene Atlantik-Konferenz und der dabei verabschiedeten AtlantikCharta verbunden. Vgl. J. Gaddis, Origins of the Cold War, S. 12. 9 Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion erklärte der britische Premierminister Winston Churchill am 22. Juni 1941 in einer spontan gehaltenen Rede: „Wir
A. Die Entwicklung der NATO von der Territorial- zur Interessenverteidigung 49
ansonsten „unnatürlichen Bündnisses“10 zu erreichen, wurden gemeinsame Kriegskonferenzen11 abgehalten. Bereits zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich ab, dass, auch wegen des großen Interpretationsspielraums der Vereinbarungen, grundlegende Differenzen bestanden. Die Bündnispartner waren sich jedoch darin einig, dass ein Bruch des Bündnisses nicht während des Kriegs vollzogen werden könne. Nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs bestand zwischen den Alliierten zunächst Einigkeit dahingehend, das militärische und wirtschaftliche Potenzial Deutschlands so zu determinieren, dass von Deutschland keine Gefahr mehr für die europäischen Nachbarn ausgehen konnte12. Hierzu setzten die alliierten Besatzungsmächte als höchste Regierungsgewalt in Deutschland den Alliierten Kontrollrat13 ein. Darüber hinaus konnte die Bildung der von den USA angestrebten Welt gemeinschaft der VN umgesetzt werden. Nach zwei Weltkriegen und den Erfahrungen des Völkerbunds14 sollte eine internationale Organisation geschaffen werden, welche die Wahrung des Weltfriedens sicherstellt, bei der zwischenstaatliche Probleme beraten und Konflikte beigelegt werden konnten. Unter „Ausnutzung“ der vorherrschenden weltpolitischen Lage wurde am 26. Juni 1945 in San Francisco, sieben Wochen nach der Kapitulation Deutschlands und sechs Wochen vor dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima, durch Vertreter von 50 Nationen schließlich die VN-Charta15 unterzeichnet. haben nur ein einziges, unwiderrufliches Ziel: Wir sind entschlossen, Hitler und jede Spur des Nazi-Regimes zu vernichten“; W. Churchill, Reden, S. 134 ff. 10 T. Schieder, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 7, 1. Tb., S. 268. 11 14. – 26. Januar 1943: Die Konferenz von Casablanca zwischen Roosevelt und Churchill fand aufgrund der Schlacht um Stalingrad ohne Stalin statt. Gefordert wurde die bedingungslose Kapitulation Deutschlands; 28. November – 1. Dezember 1943: Die Konferenz von Teheran zwischen Roosevelt, Churchill und Stalin beschloss die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation Deutschlands; 4. – 11. Februar 1945: Die Konferenz von Jalta zwischen Roosevelt, Churchill und Stalin beschloss die Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen und behandelte die Polen-Frage; 17. Juli – 2. August 1945: Die Potsdamer Konferenz zwischen Stalin, Truman und Churchill (für Churchill ab 29.7. Clement R. Attlee) endete mit dem sog. Potsdamer Abkommen. Vgl. M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 195 ff. 12 M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 23. 13 Zur Geschichte des Alliierten Kontrollrates die umfangreiche Untersuchung von G. Mai, Alliierter Kontrollrat, passim. Die Untersuchung stützt sich im Wesentlichen auf die Auswertung der Archive der drei westlichen Besatzungsmächte sowie der (stark formalisierten) Protokolle der Kontrollrats-Organe. 14 Zur Geschichte des Völkerbunds W. Schücking/H. Wehberg, Die Satzung des Völkerbundes, S. 1 ff.; A. Pfeil, Der Völkerbund, S. 32 ff. Zum Völkerbund siehe auch Teil 1, Kap. 1, A. I. 3. 15 Die VN-Charta ist am 24. Oktober 1945 in Kraft getreten (BGBl. 1973 II S. 430).
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Teil 1, Kap. 1: Das System der NATO
Auf der Grundlage der VN-Charta, die Vertrauen sowie gegenseitiges Verständnis voraussetzt, soll bis dato Frieden durch gewaltlose Konfliktregelung erzielt werden. Den VN steht als höchstes Gremium der SR vor, dem gem. Art. 24 Ziff. 1 VN-Charta „die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ übertragen wurde. Der Rat besteht nach wie vor aus fünf ständigen16 und zehn nichtständigen Mitgliedern17. Ein Beschluss im SR kommt lediglich zustande, wenn keines der ständigen Mitglieder von seinem Vetorecht Gebrauch macht – und selbstverständlich alle zustimmen18. Damit wurde vorausgesetzt, dass die fünf ständigen Mitglieder in der Lage sind, in wichtigen Fragen Übereinstimmung zu erzielen. Ferner sollte ausgeschlossen werden, dass territoriale Ansprüche geltend gemacht werden können19. Alsbald zeigte sich jedoch, dass die VN nur auf den Gebieten erfolgreich tätig werden konnten, in denen keine direkten Interessen der sich nach Kriegsende gegensätzlich entwickelnden ständigen Mitglieder USA und Sowjetunion berührt waren. Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab es keine offensichtliche Spaltung zwischen den beiden Staaten. Auch wenn die Sowjetunion unter Stalin20 insbesondere die auf der Konferenz von Jalta21 erzielten Beschlüsse eigenwillig interpretierte22 sowie um16 Die vier alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkriegs (Frankreich, Großbritannien, Sowjetunion, USA) sowie die Volksrepublik China. Vgl. Art. 23 VN-Charta. 17 Vgl. hierzu die unterschiedlichen Konzepte zur Reform des SR bei S. Santos, Reform des Sicherheitsrates, S. 101 ff. sowie allgemein zur Diskussion um die Reform des SR bei L. Andreae, Reform in der Warteschleife, passim. 18 Art. 27 Ziff. 3 VN-Charta. 19 Vgl. Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta. 20 Josef Wissarionowitsch Stalin (russ. Иосиф Виссарионович Сталин), geb. als Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili (russ. Иосиф Виссарионович Джугашвили), * 6. Dezemberjul./18. Dezember 1878greg. in Gori, † 5. März 1953 in Kunzewo, war ein sowjetischer Politiker georgischer Herkunft und Diktator der Sowjetunion von 1927 bis 1953. Vom 3. April 1922 bis 16. Oktober 1952 war er Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU. Vom 6. Mai 1941 war er bis zu seinem Tode Regierungschef. Vom 21. Juli 1941 bis zum 25. Februar 1946 war er Oberster Befehlshaber der Roten Armee. 21 Die Konferenz von Jalta war das zweite von drei gemeinsamen Treffen der AntiHitler-Koalition im auf der Halbinsel Krim gelegenen Seebad Jalta. Beraten wurde das militärisch-politische Vorgehen in der Endphase des Zweiten Weltkriegs. Außerdem wurden Beschlüsse in Bezug auf die Behandlung des Deutschen Reichs und der von ihm besetzten Gebiete, über die von der USA angestrebte Gründung der Vereinten Nationen sowie über die Anerkennung der sowjetischen Interessensphäre in ostund südosteuropäischen Ländern gefasst. Vgl. dazu Bericht über die Konferenz, in: F.-W. Engel, Handbuch der NATO, S. 258 ff.; J. Dülffer, Jalta, S. 7 ff. 22 Stalin formulierte seine Vorstellungen vom besonderen Charakter des Zweiten Weltkriegs im Gespräch mit Milovan Djilas, dem Verbindungsmann des jugoslawischen Staatspräsidenten Tito in Moskau, im April 1945 wie folgt: „Dieser Krieg ist
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setzte23 und das gemeinsame Besatzungsprogramm24 der Potsdamer Konferenz zu scheitern drohte, zeigten sich in den Vereinigten Staaten bis weit hinein in das Jahr 1946 die Presse, die öffentliche Meinung und die Haltung der Regierung „überwiegend sowjetfreundlich“25. Erst die im September 1946 auf Drängen von Außenminister Byrnes26 erzwungene Entlassung des pro-sowjetischen Handelsministers Wallace27, wenige Tage nach der Stuttgarter Rede von Byrnes28 – in der dieser nicht nur an den provisorischen Charakter der Oder-Neiße-Grenze erinnert hatte – deutete auf eine Meinungsumkehr innerhalb der US-amerikanischen Regierung hin.29 Beeinflusst wohl auch durch Churchill30, der bereits am 12. Mai 1945 eine nicht wie in der Vergangenheit; wer immer ein Gebiet besetzt, erlegt ihm auch sein eigenes gesellschaftliches System auf. Jeder führt sein eigenes System ein, soweit seine Armee vordringen kann. Es kann gar nicht anders sein“, in: A. Hillgruber, Sowjetische Außenpolitik im Zweiten Weltkrieg, S. 123 f.; A. Fischer, Sowjetische Deutschland politik im Zweiten Weltkrieg, S. 134; M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 19. 23 Vgl. A. Fischer, Sowjetische Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg, S. 131 ff. zur Frage der Aufgliederung Deutschlands. 24 Im sog. Potsdamer Abkommen wurden insbesondere Beschlüsse zur Besetzung Deutschlands, über Reparationen, der Betrachtung Deutschlands als wirtschaftliche Einheit, über territoriale Fragen bzgl. der deutschen Ostgebiete, Österreich und Polen sowie der Umsiedelung deutscher Bevölkerungsteile aus den polnisch verwalteten Gebieten Deutschlands (Schlesien, Hinterpommern und Ostpreußen), der Tschechoslowakei und Ungarn gefasst. Vgl. Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Ergänzungsblatt Nr. 1, S. 13 ff. 25 J. Gaddis, Origins of the Cold War, S. 284; M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 23. 26 James Francis Byrnes, * 2. Mai 1882 in Charleston, † 9. April 1972 in Columbia, war US-amerikanischer Außenminister vom 1. Juli 1945 bis zu seinem Rücktritt am 10. Januar 1947. Das TIME Magazine wählte ihn 1946 zum „Mann des Jahres“, da er aus Sicht der Redaktion des Magazins den größten Einfluss auf die Welt in jenem Jahr hatte. 27 Henry Agard Wallace, * 7. Oktober 1888 bei Orient, Adair County, † 18. November 1965 in Danbury, war von März 1945 bis zu seinem Rücktritt am 20. September 1946 US-amerikanischer Handelsminister. Am 12. September 1946 kritisierte er in einer Rede zu den Kongresswahlen die Außenpolitik der USA. Er lehnte eine harte Politik gegenüber der Sowjetunion ab und bezeichnete die „imperialistische Politik“ Großbritanniens als störenden Faktor im Nahen Osten. Vgl. R. Alte, Die Außenpolitik und internationale Beziehungen der Tschechoslowakei, S. 152 (Fn. 321). 28 Die am 6. September 1946 von Byrnes in Stuttgart gehaltene „Hoffnungsrede für Deutschland“ (Offizieller Titel: Restatement of Policy on Germany) stellte eine Wende in der Besatzungspolitik der USA dar. In der Literatur wird die Rede auch als Abkehr der „Politik der Härte gegenüber Deutschland (…) und den Gedanken des Morgenthau-Plans“ interpretiert. Vgl. H. Küsters, Der Integrationsfriede, S. 289. 29 M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 23. 30 Sir Winston Leonard Spencer-Churchill, * 30. November 1874 in Woodstock, † 24. Januar 1965 in London, gilt als bedeutendster britischer Staatsmann des
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ernste Warnung vor dem Vordringen der Sowjetunion in Osteuropa aussprach und den Begriff des „Eisernen Vorhangs“31 verwendete32. Weit mehr Bedeutung erlangte jedoch die Rede Churchills, die er zehn Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und sieben Monate nach seinem Rücktritt, am 5. März 1946 in Anwesenheit des US-amerikanischen Präsidenten Truman33 im amerikanischen Fulton hielt.34 Diese Rede gilt gemeinhin als das Ende der Anti-Hitler-Koalition sowie als Ausgangspunkt des „Kalten Kriegs“. 2. Herbeiführen einer bipolaren Weltordnung Obwohl die Alliierten in der Anti-Hitler-Koalition über mehrere Jahre zusammengewirkt hatten, entwickelte sich von 1945 bis 1947 eine Gemengelage, welche das Vertrauen zwischen den Kriegsverbündeten endgültig zerstörte und zum Bruch des Bündnisses führte. 20. Jahrhunderts. Er war zweimal Premierminister, Erster Lord der Admiralität (Marineminister) sowie Innen- und Finanzminister. Am 10. Mai 1940 wurde er zum ersten Mal Premierminister und erwarb sich in der folgenden Zeit, insbesondere aufgrund seiner unbeugsamen Haltung im Kampf gegen Adolf Hitler, den Beinamen „Kriegspremier“. Während der Potsdamer Konferenz im Juli 1945 verlor die konservative Partei die Wahl, weshalb er am 26. Juli 1945 seinen Rücktritt bekanntgab. Nach dem erneuten Wahlsieg der Konservativen war er vom 26. Oktober 1951 bis zu seinem Rücktritt am 5. April 1955 wiederum Premierminister. Vgl. P. Alter, Churchill, S. 306 ff. 31 Der Begriff „Eiserner Vorhang“ tauchte bereits im Ersten Weltkrieg auf. Am 23. Februar 1945 wurde er durch Joseph Goebbels als Reaktion auf die Ergebnisse der Konferenz von Jalta in der Zeitschrift Das Reich übernommen. Vgl. O. Panagl/E. Ehtreiber, Wörterbuch der politischen Sprache, S. 112. 32 Vgl. Telegrafie zwischen Churchill und dem US-amerikanischen Präsidenten Truman vom 12. Mai 1945, in dem Churchill gegenüber Truman zum Ausdruck bringt, dass er in tiefer Sorge darüber ist, „wie falsch die Beschlüsse von Jalta von den Russen interpretiert werden, (…)“ und ein „(…) Eiserner Vorhang ist vor ihrer Front zugezogen worden und wir wissen nicht, was sich dahinter abspielt (…)“, in: W. Churchill, Triumph und Tragödie, S. 81; F.-W. Engel, Handbuch der NATO, S. 21. 33 Harry S Truman, * 8. Mai 1884 in Lamar, † 26. Dezember 1972 in Kansas City, war vom 12. April 1945 bis Januar 1953 der 33. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Die nach ihm benannte „Truman-Doktrin“ enthielt einen Wechsel der Außenpolitik der USA sowie die westliche Begründung für den „Ost-West-Konflikt“. 34 Im Westminster College in Fulton (Missouri) erklärte Churchill: „From Stettin in the Baltic to Trieste in the Adriatic, an iron curtain has descended across the continent. Behind that line lie all the capitals of the ancient states of central and Eastern Europe. Warsaw, Berlin, Prague, Vienna, Budapest, Belgrade, Bucharest, and Sofia, all these famous cities and the populations around them lie in the Soviet sphere and all are subject, in one form or another, not only to Soviet influence but to a very high and increasing measure of control from Moscow“. In: T. Paterson, The Origins of the Cold War, S. 2; vgl. auch A. Fontaine, History of the Cold War, S. 276 f.; W. LaFeber, Cold War, S. 39 f.
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Manche Autoren sehen bereits ab dem Zeitpunkt des Todes von Roosevelt35 am 12. April 1945 und dem Wechsel im Präsidentenamt zu Truman den Anfang vom Ende der Anti-Hitler-Koalition. Es war erkennbar, dass die neue Regierung nicht mehr in dem Maße daran interessiert war, eine strategische Kooperation mit der Sowjetunion weiterzuführen, wie sie noch unter Roosevelt erfolgte36. So kündigten die USA im August 1945 endgültig37 das Pachtund Leihabkommen (Lend-Lease-Act) mit der Sowjetunion38 – wie auch mit Großbritannien39 – und entzogen dem Land damit die materielle Hilfe, derer es zum Wiederaufbau ihres kriegszerstörten Staates bedurfte40. Entscheidender für das „Auseinanderdriften“ war allerdings die mit der Kapitulation des Deutschen Reichs eintretende Problematik, dass ein (politischer) Zugriff auf die von den Alliierten besetzten Gebiete und Einflussbereiche in Europa und Asien sowohl von amerikanisch-britischer als auch von sowjetischer Seite in der bestehenden Form nicht mehr gewollt war41. Insbesondere die Frage der Aufteilung Deutschlands sowie die von Anfang an nicht übereinstimmenden Deutschlandkonzeptionen42 der vier Siegermächte führten zunächst zur sichtbaren Paralyse des Alliierten Kontrollrates. Diese, die Nachkriegsjahre beherrschende Begleiterscheinung ließ speziell den Kontrollrat zur „Propagandabühne“43 verkommen. 35 Franklin Delano Roosevelt, * 30. Januar 1882 in Hyde Park, † 12. April 1945 in Warm Springs, war vom 4. März 1933 bis zu seinem Tod der 32. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. 36 Vgl. hierzu D. Horowitz, Kalter Krieg, passim. 37 Bereits einen Tag nach der deutschen Kapitulation, am 9. Mai 1945 wurden die Leih- und Pachtlieferungen an die Sowjetunion ohne Vorankündigung rigoros eingeschränkt. Diese Anordnung musste jedoch am 11. Mai 1945 aufgrund von Protesten in der US-amerikanischen Bevölkerung zunächst wieder rückgängig gemacht werden. A. Hillgruber, Sowjetische Außenpolitik im Zweiten Weltkrieg, S. 136. 38 Die Sowjetunion erhielt Gesamtlieferungen unter Leih und Pacht in einem Gesamtwert i. H. v. U.S.-$ 11.047.488.792,47 (Zeitwert); vgl. Übersicht in: W. Schlauch, Rüstungshilfe der USA, S. 156 f. 39 Das Vereinigte Königreich erhielt Gesamtlieferungen unter Leih und Pacht in einem Gesamtwert i. H. v. U.S.-$ 31.610.813.206,15 (Zeitwert); vgl. Übersicht in: W. Schlauch, Rüstungshilfe der USA, S. 156 f. 40 M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 24. 41 Die jeweils vorgeworfene Nichtbeachtung der auf der Konferenz von Jalta erzielten Beschlüsse wurde von den Alliierten stillschweigend hingenommen, solange der Krieg noch nicht beendet war. Vgl. A. Hillgruber, Sowjetische Außenpolitik im Zweiten Weltkrieg, S. 134 f. 42 Vom Grundsatz der einheitlichen Behandlung aller vier Besatzungszonen abweichend, wie im Potsdamer Abkommen beschlossen, wurde eine Politik der Abspaltung und Herauslösung aus den Verpflichtungen des Abkommen betrieben, die zur Separation der drei westlichen Besatzungszonen und zur Isolierung der Sowjetischen Besatzungszone führte. Vgl. S. Doernberg, Das Potsdamer Abkommen, S. 17. 43 G. Mai, Alliierter Kontrollrat, S. 1.
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Es gibt Stimmen in der Literatur, die auch die mit der Deutschland-Frage zusammenhängende Reparationsfrage als den eigentlichen Kern der deutschlandpolitischen Kontroversen und als Handlungsblockade, vor allem des Alliierten Kontrollrates, erachten44. So sei der Kontrollrat für alle vier Besatzungsmächte Instrument europäischer Machtpolitik durch „Dismemberment“ gewesen45. Auch die weiteren (Gebiets-)Auseinandersetzungen46 sowie die Differenzen im Hinblick auf die politische Kontrolle Europas und weiter Teile Asiens wurde je nach „Weltanschauung“ entweder als eine „Sowjetisierung“47 oder „Befreiung“48 Ost-, Mittel- und weiter Teile Südeuropas angesehen49. Schließlich wurde auch auf Ebene der Außenminister deutlich, dass eine Lager- bzw. Blockbildung eingesetzt hatte. Insbesondere die im Jahr 1947 in Moskau und in London abgehaltenen Außenministerkonferenzen offenbarten Differenzen, zunächst in der Reparation- sowie Deutschlandfrage und sodann in allen wesentlichen Punkten50. Insgesamt ist jedoch hervorzuheben, dass die jeweils herrschende politische Klasse in beiden Lagern durch ihre jeweilige persönliche Einstellung, ihr jeweiliges Handeln und aufgrund des vorherrschenden innenpolitischen Drucks für das Entstehen des Kalten Kriegs verantwortlich zeichnete51.
44 Ders.,
ebd., S. 9. ebd., S. 10. Allerdings nahm der Kontrollrat eine wichtige Mittlerrolle, einerseits zwischen der gemeinsamen Herrschaft der vier Siegermächte in Deutschland, andererseits in der Integration Deutschlands durch supranationale Teil(ungs)Modelle ein. Vgl. ders., ebd., S. 11. 46 Auseinandersetzungen gab es insbesondere über Osteuropa, wo die Sowjetunion einen Schutzschild „befreundeter“ Staaten aufbaute, aber auch über den Iran, wo die Sowjetunion die im Krieg besetzte Grenzprovinz Aserbaidschan nicht vereinbarungsgemäß räumen wollte; über die Türkei, wo Stalin sowjetische Stützpunkte und Ansprüche auf Provinzen erhob, die im 19. Jahrhundert zu Russland gehörten, aber nach dem Ersten Weltkrieg wieder an die Türkei abgetreten werden mussten, über Nord afrika, wo der sowjetische Außenminister Molotow eine sowjetische Beteiligung an den früheren italienischen Kolonien forderte, und über Griechenland, wo im Norden des Landes ein Guerillakampf geschürt wurde. Vgl. A. Fischer, Sowjetische Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg, S. 134; M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 23 f.; F.-W. Engel, Handbuch der NATO, S. 22. 47 Vgl. hierzu die umfassende Studie von E. Birke/R. Neumann, Die Sowjetisierung Ost-Mitteleuropas, passim. 48 Vgl. R. Brühl, Imperialistische Militärblockpolitik, S. 156 ff. 49 Vgl. A. Fischer, Sowjetische Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg, S. 134; M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 23 f.; F.-W. Engel, Handbuch der NATO, S. 22. 50 M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 196 f. 51 Vgl. J. Gaddis, Origins of the Cold War, S. 359 ff. 45 Ders.,
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Historiker debattieren die Frage des Ausbruchs des „Kalten Kriegs“ seit langem.52 Einigkeit besteht, dass dem Handeln auf der einen Seite eine Gegenreaktion auf der anderen Seite folgte und sich daraus eine Spaltung vollzog. a) Die Vorgehensweise der Flügelmächte Sowjetunion und USA beim Entstehen einer neuen Weltordnung Ab 1947 wurde sichtbar, dass der Kalte Krieg immer mehr die Form eines amerikanisch-sowjetischen Gegensatzes annahm. Es zeichnete sich ab, dass der Konflikt nicht allein um Macht und Einfluss, sondern auch um ideologische Weltbilder geführt werden würde. Dies hatte zur Konsequenz, dass die internationale Politik in ein bipolares System gezwängt wurde und den übrigen Staaten nur noch begrenzter (politischer) Spielraum blieb53. Die Vereinigten Staaten von Amerika begriffen die historisch einmalige Situation und Möglichkeit – vergleichbar mit den historischen Bedingungen des Aufstiegs Englands im 18./19. Jahrhundert zur Weltmacht und der Herausbildung des kapitalistischen Weltmarkts unter britischer Vorherrschaft – die Fiktion der „amerikanischen kapitalistischen Eliten“ eines „One-WorldKonzept“54 umzusetzen55. Demgegenüber standen für die Sowjetunion – aufgrund der Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg – die Sicherheitsbedürfnisse im Vordergrund. Deren Grundlage sollte ein Schutzschild „befreundeter“ Staaten sein. Beide Konzeptionen sind vor dem Hintergrund zu betrachten, dass die USA aus dem Zweiten Weltkrieg sowohl politisch als auch wirtschaftlich gestärkt hervorgegangen sind, während die Sowjetunion nach Ende des 52 Vgl. hierzu T. Paterson, The Origins of Cold War, passim, der eine umfassende Einführung in die Debatte liefert. 53 M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 25. Waren beide Staaten bisher „Randmächte“ der internationalen Politik, lösten sie nach dem Zweiten Weltkrieg die klassischen europäischen Großmächte als bestimmende Faktoren ab und stiegen selbst zu „Welt- und Supermächten“ auf. 54 Das „One-World-Konzept“ beruht auf einem harmonisch definierten Zusammenleben aller Mitglieder der Weltgemeinschaft auf der Basis der amerikanischen „Grundqualitäten“ von „Freier Marktwirtschaft“, Konsumgesellschaft und liberal demokratischer Verfassungsordnung. A. Oldag, Allianzpolitische Konflikte in der NATO, S. 50. 55 Pax Americana – ist ein politisches Schlagwort, mit dem plakativ auf eine Weltanschauung sowie auf ein Konzept der weltpolitischen Dominanz angespielt werden soll. Der Begriff wird verwendet, um die Lager des Kalten Kriegs und deren Einflusssphäre zu charakterisieren. Vgl. W. Loth, Die Teilung der Welt, S. 15 ff.; Allgemein zu Pax Americana: R. Steel, Pax Americana, passim.
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Kriegs zumindest wirtschaftlich geschwächt war und zusätzlich kriegsbedingt hohe Verluste an Menschen hinnehmen musste56. aa) Aufbau einer sozialistischen Staatengemeinschaft durch die Sowjetunion Die Sowjetunion erkannte in dem Umstand, dass infolge der Kapitulation Deutschlands sowie Japans57 westlich und östlich ein „riesiges Vakuum der Kräfte“ hinterlassen worden war, ebenfalls die Gelegenheit zur Entfaltung58 56 Die Sowjetunion musste 25 Millionen Tote, was 15 % der Gesamtbevölkerung ausmachte, hinnehmen. Zudem erlitt sie materielle Kriegsschäden i. H. v. U.S.-$ 35 Milliarden (westliche Angaben) bzw. U.S.-$ 128 Milliarden (sowjetische Angaben) – jeweils Zeitwert. Die USA verloren 292.131 Soldaten. 57 Japan kapitulierte nach dem Abwurf der US-amerikanischen Atombombe über Hiroshima und Nagasaki formell am 2. September 1945. 58 Hierbei sind auch diejenigen Umstände und „Erfahrungen“ der russischen (sowjetischen) Oktoberrevolution am Ende des Ersten Weltkriegs zu beachten, welche die damalige revolutionäre Sowjetregierung unter Führung Lenins (Wladimir Iljitsch Lenin, russ. Владимир Ильич Ленин, * 10.jul./22. April 1870greg. in Simbirsk, † 21. Januar 1924 in Gorki, war russischer kommunistischer Politiker und Revolu tionär, Vorsitzender der Bolschewiki-Partei und der aus ihr hervorgegangenen Kommunistischen Partei Russlands, Regierungschef der Russischen SFSR (1917–1924) und der Sowjetunion (1922–1924), als deren Begründer er gilt) machen musste, als die Entente-Mächte sich weigerten – die Truppen der Mittelmächte standen tief im Territorium des Russischen Reichs – zu diesem Zeitpunkt einen alle am Kriegsgeschehen mit Russland beteiligten Staaten betreffenden Gesamtfrieden zu schließen. So wurde im Zuge des aufflackernden Russischen Bürgerkriegs aus der anfänglichen Allianz eine militärische Intervention mit dem Ziel, das bolschewistische Regime an einem Machtzuwachs zu hindern und in der Folge zu stürzen. Das ehemalige Russische Reich wurde zu diesem Zweck zunächst in militärische Einflusssphären aufgeteilt. Lenins revolutionärer Sowjetregierung gelang es daher nur, einen Separatfrieden mit Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und der Türkei, jenen von BrestLitowsk, zu für Russland katastrophalen Bedingungen abzuschließen. In diesem Friedensdiktat verpflichtete sich die Sowjetregierung u. a. etwa 1 Mio. qkm mit etwas über 50 Mio. Einwohnern, was ungefähr einem Drittel der damaligen Gesamtbevölkerung des Russischen Reichs entsprach, abzugeben. Der Vertrag sollte indes nie zur Gänze erfüllt werden und nur von äußerst kurzer Geltungsdauer sein. Im November 1918, zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der Mittelmächte befanden sich ¾ des Sowjetterritoriums mit 82 Mio. Einwohnern in der Gebietshoheit von Gegnern des Sowjetregimes, im Besonderen von Engländern, US-Amerikanern, Serben, Finnen, Polen, Italienern, Franzosen und Japanern. Durch eine von den alliierten Mächten verhängte Wirtschaftsblockade war das auf ein kleines Gebiet eingeengte Sowjetrussland weitgehend vom internationalen Umfeld isoliert. Mit militärischen Erfolgen der bolschewistischen Führung – aber auch mit geschickter politischer Interessenpolitik – konnte der Einflussbereich des Sowjetregimes allmählich auf das gesamte Stammgebiet des ehemaligen Russischen Reichs anwachsen. Auch bilaterale Verhandlungen – im Nachgang zu den Pariser Friedensverhandlungen und der
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ihres Einflusses59. Diese geopolitischen Umstände begreifend, betrieb sie am Ende des Kriegs – aber verstärkt danach – mithilfe der Roten Armee60 eine expansive Politik ohne Krieg61. Durch die massive Stationierung von Truppen unterstrich sie ihren Machtanspruch, um auf die von ihr beanspruchten Länder und Gebiete Einfluss und Druck auszuüben. Der Schwerpunkt der „expansionistisch orientierten Politik“62 bestand dabei in der staatlichen Kontrolle der osteuropäischen Länder63. Während die westlichen Alliierten, gemäß ihrer im Krieg gegebenen Versprechen und der öffentlichen Meinung danach folgend, alleinig ihre Besatzungstruppen64 auf dem europäischen Festland beließen, hielt die SowjetGründung des Völkerbunds, zu denen das Sowjetregime mangels internationaler Anerkennung noch ausgeschlossen war – brachten zum Zwecke der Machterhaltung und internationalen Absicherung die allmähliche Wiedererstarkung der Großmacht des alten Russischen Reichs mit revolutionär geändertem Selbstverständnis, zunächst als RSFSR und nach dem Zusammenschluss mit anderen Teilen des ehemaligen Russischen Reichs als UdSSR. Diese äußerst knapp umrissene historische Charakteristik der außenpolitischen Lage des jungen Sowjetrusslands ist nötig, um ein Verständnis für die nachfolgenden Ausführungen zum Aufbau einer sozialistischen Staatengemeinschaft durch die Sowjetunion zu erlangen. Vgl. hierzu umfassend und mit vielen Originalnachweisen: M. Geistlinger, Revolution und Völkerrecht, S. 153 ff. m. w. N. 59 F.-W. Engel, Handbuch der NATO, S. 20. Vgl. auch A. Hillgruber, Sowjetische Außenpolitik im Zweiten Weltkrieg, S. 149, der zu dem Schluss gelangt, dass durch das Erstarken der USA sowie aufgrund des US-amerikanischen Atomwaffenmonopols die Grundproblematik des Zweifrontendrucks für die Sowjetunion auch nach 1945 weiter bestehen würde. 60 Als „Rote Armee“ werden das Heer und die Luftwaffe Sowjetrusslands bzw. der Sowjetunion bezeichnet. Sie konstituierte sich unmittelbar nach der „Oktoberrevolution“ am 15. Januarjul./28. Januargreg. 1918 und wurde 1991 aufgelöst. 61 G. Poser, Die NATO, S. 13; vgl. H. Hecker, Politische Geschichte Russlands, in: P. Brandt (Hrsg.), Der große Nachbar im Osten, S. 81. 62 B. Giegerich, Die NATO, S. 10. 63 Die Gefahr der „Sowjetisierung“ der Länder zwischen Ostsee und Balkan bestand bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. So warnte der französische Historiker Henri Martin in seinem 1866 erschienenen Buch „La Russie et l’Europe“ vor zukünftigem Ungemach: „(…) von einem Abschnitt der Geschichte zum anderen ist die moskowitische Herrschaft eine immer schlagende Verletzung der Grundsätze unserer Civilisation, eine stets tiefer wühlende Störung Europas, eine stätig näher heranschreitende Bedrohung der ganzen europäischen Gesellschaft geworden. Anfangend bei der Zerstörung des Rechtes der Nationalität, langt sie endlich bei der Zerstörung des Eigen thumsrechts an“. Nach der deutschen Übersetzung: H. Martin, Rußland und Europa, S. 335. 64 Am Tage der deutschen Kapitulation betrugen die alliierten Streitkräfte (USA, Großbritannien und Kanada) in Europa 4.720.000 Mann; ein Jahr später nach der Demobilisierung betrug der Bestand 879.000. Vgl. F.-W. Engel, Handbuch der NATO, S. 21; G. Poser, Die NATO, S. 13.
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union die Rote Armee auch als Besatzungsmacht auf Kriegsstärke65 und die Rüstungsproduktion auf Kriegsniveau. Zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs begann die sowjetische Expansion durch die „offene Annexion Estlands, Litauens und Lettlands sowie von Gebieten in Finnland, Polen, Rumänien, Nordostdeutschland und der östlichen Tschechoslowakei“, was zu einer Bemächtigung über 475.000 km2 Land und 23.000.000 Menschen führte.66 Nach der offiziellen Beendigung des Kriegs und der Stationierung ihrer Truppen mitten in Europa in Staaten wie Albanien, Bulgarien, Rumänien, Ost- und Mitteldeutschland, Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei, dehnte sich der Machtbereich durch die „Eroberung ohne Krieg“ signifikant aus. Die Erweiterung umfasste ein Gebiet von annähernd 1 Mio. qkm sowie ungefähr 92 Mio. Nichtrussen und einem Nationaleinkommen, das etwa die Hälfte des sowjetischen betrug67. Diese „Eroberungen auf kaltem Wege“68 vollzogen sich nach einem ähnlichen Strickmuster: In allen Ländern gelangte die kommunistische Partei durch undemokratische Verhaltensweisen an die Macht. Nach „Wahlsieg“ und Machtergreifung wurden alle jeweiligen Oppositionsparteien aufgelöst69. In Ungarn verlor die „Kleinbauernpartei“ Anfang 1947 gegen die kommunistische Partei. Dies führte am 29. Mai 1947 zum gezwungenen Rücktritt der Regierung und am 21. November 1947 zur formellen Auflösung aller Oppositionsparteien. In Bulgarien wurde der Führer der „Agrarpartei“ und der Opposition, Petkov70, beschuldigt, einen Staatsstreich geplant zu haben. Er wurde am 16. August 1947 zum Tode verurteilt und am 23. September 1947 gehängt. Am 26. August 1947 wurde die Opposition aufgelöst. Am 22. November 1947 wurde eine Regierung nach sowjetischem Muster installiert. In Rumänien wurde die „Bauernpartei“ am 10. Oktober 1947 aufgelöst. Der Vorsitzende der Bauernpartei, Maniu71, wurde am 29. Oktober 1947 zu 65 Diese betrug im Jahr 1945 über 4.000.000 Mann. Vgl. F.-W. Engel, Handbuch der NATO, S. 22. 66 Ders., ebd., S. 25. 67 Ders., ebd., S. 25. 68 Ausführlich hierzu M. Geistlinger, Revolution und Völkerrecht, S. 272 ff. der (mittels Originalquellen aus den jeweiligen Ländern) aufzeigt, dass die damaligen Ereignisse gerade nicht einem einfachen „Schema“ unterlagen – vielmehr die (historische) Wahrheit irgendwo dazwischen liegt. 69 F.-W. Engel, Handbuch der NATO, S. 26 ff. 70 Nikola Dimitrow Petkov, * 8. Juli 1893 in Sofia, † 23. September 1947, ebd. (Hinrichtung).
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lebenslanger Haft verurteilt. Schließlich musste am 1. Januar 1948 der rumänische König72 abdanken. In Polen wurde der Führer der „Bauernpartei“, Mikolajczyk73, im November 1947 gezwungen, das Land zu verlassen. Die Partei durfte keine Oppositionspartei mehr sein und wurde am 21. November 1947 aufgelöst. In der ČSSR (Tschechoslowakische (Tschecho-slowakische) Föderative Republik [ČSFR]) verstärkte sich die sowjetische „Einmischung“ aufgrund der Absicht der Prager Regierung, sich am sog. Marshall-Plan74 zu beteiligen. Auf diesen äußeren Druck hin nahm die Prager Regierung im Juli 1947 die Entscheidung zurück. Im slowakischen Teil gingen die Kommunisten gegenüber den Mitgliedern der „Demokratischen Partei“, die über die absolute Mehrheit im Parlament verfügte, im Wege eines „Denunziantenfeldzugs“ vor. Viele Mitglieder und Abgeordnete wurden verhaftet und abgeurteilt. Am 22. Februar 1948 wurde auf Moskaus Betreiben der Rücktritt von Staatspräsident Beneš75 herbeigeführt. Es folgte die Errichtung einer kommunistischen Regierung. Damit gelang es der Sowjetunion, in nicht einmal einem Jahr die Kontrolle über die Regierungen in Budapest, Bukarest, Sofia, Warschau und Prag zu erlangen. Durch sog. „Beistandsabkommen“ wurden die Staaten in politischer, wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht fest aneinander und ebenso fest an Moskau gebunden. Im Zeitraum von 1943 bis 1949 wurden insgesamt 23 solcher Verträge unterzeichnet76.
71 Iuliu Maniu, * 8. Januar 1873 in Bădăcin, † 5. Februar 1953 in Sighetu Marmației (starb in Gefangenschaft). 72 Michael I. von Rumänien (rum. Mihai I.), * 25. Oktober 1921 in Sinaia, † 5. Dezember 2017 in Anbonne (Schweiz), war von 20. Juli 1927 bis 6. Juni 1930 sowie vom 6. September 1940 bis 30. Dezember 1947 König von Rumänien. 73 Stanislaus Mikolajczyk, * 28. Juni 1901 in Holsterhausen/Westf., † 13. Dezember 1966 in Washington. 74 Zum Marshall-Plan siehe Teil 1, Kap. 1, A. I. 2. a) bb) (S. 62). 75 Eduard (Edvard) Beneš, * 28. Mai 1884 in Koschlang/Kožlany, † 3. September 1948 in Sezimovo Ústí, war tschechischer/tschechoslowakischer Politiker. Er war einer der Mitbegründer der Tschechoslowakei und zweimal deren Präsident. Vom 18. Dezember 1935 bis zum Rücktritt am 5. Oktober 1938 sowie von Mai 1945 bis zur Niederlegung des Amts am 7. Juni 1948. Er ist im deutschsprachigen Raum bekannt als „Namensgeber“ für die bis heute gültigen – und insbesondere in Deutschland, Österreich und Ungarn umstrittenen Dekrete Nr. 5/1945, Nr. 12/1945, Nr. 33/1945, Nr. 71/1945, Nr. 108/1945 – Dekrete, der insgesamt 143 „Dekrete des Präsidenten der Republik“, die zwischen dem 21. Juli 1940 und 27. Oktober 1945 erlassen wurden. 76 F.-W. Engel, Handbuch der NATO, S. 26 f.
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Letztlich war es der sowjetischen Führung unter Stalin gelungen, die vornehmend süd- und osteuropäischen Länder an den Osten anzugleichen und insoweit von West- und Mitteleuropa abzulösen77. Zuvorderst wurden die Länder wirtschaftlich in das sowjetische System integriert. Daneben erfolgte allerdings auch eine „kulturelle Enteuropäisierung“, die zu Teilen durch die zwangsweise Entfernung der (z. B. deutschen) Bevölkerungsteile „als einer der wichtigsten Klammern zum Westen erleichtert wurde“78. In der Rückschau müssen diese Handlungen ebenso aus der Perspektive betrachtet werden, dass diese eine Reaktion auf die US-amerikanischen Bedingungen des Marshall-Plans waren, welche die „Pax America“ gegen sowjetischen Einfluss zur (ausschließlichen) Dominanz bringen wollte. So hatte Stalin „politisch“ keine andere Möglichkeit als so zu agieren, wie er es gegenüber den Staaten Mittel- und Osteuropas tat, wollte er sich dem US-amerikanischen Einflussbereich entziehen. bb) Sicherung geopolitischen Einflusses jenseits des Atlantiks durch die USA Die Sichtweise der westeuropäischen Staaten sowie der USA und Kanada nach Ende des Zweiten Weltkriegs bestand darin, dass die Sowjetunion sich nicht an die auf den Kriegskonferenzen gefassten Beschlüsse hielt. Darüber hinaus befürchteten sie, dass die Sowjetunion – mit ihrer Expansionspolitik sowie durch Zuhilfenahme der Armee und der weiterhin auf Kriegsniveau tätigen Rüstungsindustrie – in der Lage gewesen wäre, in einem raschen Vorstoß den Atlantik zu erreichen79. Insbesondere die europäischen Staaten, die teilweise gerade erst von feindlicher Besatzung befreit worden waren, sahen sich nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs nunmehr durch die expansive Politik der Sowjetunion bedroht80. Um dieser Bedrohung entgegenzuwirken, übernahmen bereits zu jener Zeit die Vereinigten Staaten von Amerika eine Schutz- bzw. Garantiefunktion. Der alleinige Besitz der Atombombe stellte dies seinerzeit sicher. Darüber hinaus war den USA allerdings bewusst, dass dies der in Trümmern liegenden europäischen Wirtschaft und den im Elend lebenden Menschen nicht wieder „auf die Beine helfen“ würde81. Um das von ihr präferierte kapitalistische One-World-Konzept umzusetzen, erkannten sie, dass auch formale 77 E. Birke/R. Neumann,
Die Sowjetisierung Ost-Mitteleuropas, S. 18. ebd., S. 18. 79 Vgl. H. zu Löwenstein/V. von Zühlsdorff, Die Verteidigung des Westens, S. 63. 80 F.-W. Engel, Handbuch der NATO, S. 20; G. Poser, Die NATO, S. 13 ff.; G. Höfler, Die neue NATO, S. 8; G. Weiher, Nordatlantikpakt – Warschauer Pakt, S. 67 f. 81 H. zu Löwenstein/V. von Zühlsdorff, Die Verteidigung des Westens, S. 60. 78 Dies.,
A. Die Entwicklung der NATO von der Territorial- zur Interessenverteidigung 61
Verpflichtungen gegenüber den westeuropäischen Staaten eingegangen werden müssen82. Die europäischen Staaten versuchten zunächst selbst die durch den Krieg verlorengegangene politische Ordnung wiederherzustellen. Frankreich und Großbritannien übernahmen hierbei die Initiative und erneuerten in einem ersten Schritt alte bzw. bereits bestehende Verträge. Am 4. März 1947 unterzeichneten beide Staaten den Vertrag von Dünkirchen83. Dieser auf fünfzig Jahre befristete „Bündnis- und Beistandsvertrag“ richtete sich, was ebenfalls durch die Wahl des Orts des Vertragsschlusses ausdrückt werden sollte, primär gegen eine von den Parteien befürchtete erneute deutsche Aggression84. Darüber hinaus verpflichteten sich die Vertragsparteien zu ständigen Konsultationen hinsichtlich ihrer Wirtschaftsbeziehungen. Als sich im März 1947 abzeichnete, dass auch Griechenland in das kommunistische System eingebunden werden sollte, was unmittelbare Konsequenzen für die benachbarte Türkei und den gesamten Nahen Osten85 gehabt hätte, verkündete der US-amerikanische Präsident Truman vor dem Kongress die nach ihm benannte „Truman-Doktrin“86 und damit – uno actu – zugleich die Abkehr von der „Monroe-Doktrin“87. Auf dieser Grundlage gewährte der Kongress der Türkei und Griechenland am 15. März 1947 Finanzhilfen in Höhe von 400 Millionen Dollar. Ziel war es, den sowjetischen bzw. jugosla82 B. Giegerich,
Die NATO, S. 10 f. in: United Nations – Treaties Series Bd. 9, S. 191 ff. 84 M. Frank, Beitritt zum Nordatlantikvertrag, S. 19; F.-W. Engel, Handbuch der NATO, S. 22 f. 85 Der „Nahe Osten“ ist eine geografische Bezeichnung, die heute im Allgemeinen für arabische Staaten Vorderasiens und Israel benutzt wird. Häufig werden außerdem Zypern, die Türkei (teilweise nur Anatolien), Ägypten und der Iran eingeschlossen. Der Nahe Osten inkludiert insbesondere die Region des Fruchtbaren Halbmondes und die Arabische Halbinsel. 86 Die Kernaussage der Rede von Präsident Truman und damit der „Truman-Doktrin“ findet sich in folgendem Satz: „I believe that it must be the policy of the United States to support free peoples who are resisting attempted subjugation by armed minorities or by outside pressures“, in: Dept. of State Bulletin, Bd. 19, 1947, Suppl., S. 831, Deutsche Übersetzung: EA, Bd. 2, 1947, S. 819–820. 87 Am 2. Dezember 1823 beschrieb der 5. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, James Monroe, in seiner jährlichen Rede vor dem Kongress Prinzipien der US-amerikanischen Außenpolitik, die in der Folgezeit als Referenzpunkte für die langfristige Ausrichtung der Außenpolitik angesehen worden sind. Text der Rede Monroes: J. Moore, A Digest of International Law, Vol. 6, § 396 (S. 401–404). Deutsche Übersetzung bei: H. Kraus, Monroedoktrin, S. 37 ff. Der Monroe-Doktrin liegen die Grundprinzipien der Beschränkung der politischen Betätigungsfreiheit nichtamerikanischer Staaten in Amerika („non-colonization-principle“ und „non-interventionprinciple“) sowie die Beschränkung politischer Betätigungsfreiheit der USA in Europa zugrunde. Vgl. H. Meiertöns, US-amerikanische Doktrinen, S. 44. 83 Abgedruckt
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Teil 1, Kap. 1: Das System der NATO
wischen Druck von beiden Staaten zu nehmen88. Truman forderte eine Politik der Stärke, der George F. Kennan89, als der geistige Vater dieser Politik, den Namen „Containment“90 verlieh – Eindämmung der kommunistischen Macht ausdehnung91. Die Verkündung der Doktrin wurde von Truman am 12. März 1947 vorgenommen, just zu dem Zeitpunkt, als sich die vier alliierten Außenminister in Moskau über das weitere Schicksal Deutschlands berieten92. Dies war nunmehr der Ausgangspunkt für weitere – zunächst noch wirtschaftliche – Hilfen. Am 5. Juni 1947 forderte der US-amerikanische Außenminister, General Marshall93, in seiner Rede an der Harvard-Universität94 ein Hilfsprogramm zum Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft95. Den europäischen Regierungen fehlten auch zwei Jahre nach Beendigung des Kriegs – durch die Beschaffung von Nahrungsmitteln, Brennstoffen und anderen lebensnotwendigen Dingen – die für den Wiederaufbau dringend benötigten Geldmittel. Um die Wirtschaft in Europa wieder zu stimulieren, damit „Hunger, Armut, Verzweiflung“ überwunden werden könnten, appellierte Marshall an die europäischen Nationen, sich zu diesem Zweck zusammenzuschließen und versprach die Unterstützung der Vereinigten Staaten von Amerika96. Indem er zugleich betonte, dass sich die amerikanische Politik „nicht gegen irgendein Land oder irgendeine Doktrin“ richte, wurde dieses Angebot auch der Sowjetunion und den anderen unter sowjetischer Einflussnahme 88 M. Frank,
Beitritt zum Nordatlantikvertrag, S. 19. Frost Kennan, * 16. Februar 1904 in Milwaukee, † 17. März 2005 in Princeton, war ein amerikanischer Historiker und Diplomat. 90 Vgl. G. F. Kennan, The Sources of Soviet Conduct, in: Foreign Affairs 25 (1947), S. 566 ff.; A. Fontaine, History of the Cold War, S. 331. 91 M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 26. 92 Vgl. M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 26. Das Scheitern der Moskauer Außenministerkonferenz hatte zwei Konsequenzen: Zunächst wurde Frankreich gezwungen, seine Sonderrolle aufzugeben, die es bis dahin in der Deutschland-Frage eingenommen hatte, um sich der Politik der USA und Großbritannien anzuschließen. Außerdem ordnete der US-amerikanische Außenminister George C. Marshall nach seiner Rückkehr aus Moskau an, einen Bericht über die Lage in Europa zu erarbeiten, um daraus Empfehlungen für die weitere amerikanische Europa-Politik zu geben. Es entstand das europäische Wiederaufbau-Programm (ERP = European Recovery Program), weithin bekannt als Marshall-Plan. 93 George Catlett Marshall, Jr., * 31. Dezember 1880 in Uniontown, † 16. Oktober 1959 in Washington D.C., war ein US-amerikanischer General und Staatsmann, der durch den nach ihm benannten Marshall-Plan bekannt wurde, für den er 1953 den Friedensnobelpreis erhielt. 94 Press Release Issued, in: FRUS 1947, Vol. III, S. 237 ff. 95 ERP = European Recovery Program. 96 Vgl. FRUS 1947, Vol. III, S. 238 f. 89 George
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stehenden (ost-)europäischen Ländern unterbreitet. Während das im Marshallplan enthaltene Angebot in Westeuropa angenommen wurde, lehnte die Sowjetunion jedwede US-amerikanische Hilfe ab, da sie – nicht zu Unrecht – befürchtete, Einflussmöglichkeiten in Osteuropa zu verlieren. Deshalb zwang sie die in ihrem Einflussbereich stehenden und sich zunächst auch für das Angebot interessierenden Regierungen der Tschechoslowakei und Polens dazu, sich nicht am Marshall-Plan zu beteiligen97. Die Sowjetunion reagierte darauf Ende September 1947 mit der Gründung des Kommunistischen Informationsbüros98 – Kominform99. b) Hervortreten fundamentaler Gegensätze politisch-gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen Mit der Verkündung der Truman-Doktrin und des Marshall-Plans auf S-amerikanischer Seite sowie der Gründung des Kominform auf sowjetiU scher Seite wurde offensichtlich, dass die in den Nachkriegsjahren sich abzeichnenden weltpolitischen Veränderungen nunmehr praktisch anerkannt wurden und jegliche Bemühungen zur Wahrung oder Wiederherstellung der Anti-Hitler-Koalition beendet waren100. Vor allem in der Rede Trumans zur Verkündung der Truman-Doktrin auf westlicher Seite sowie in dem auf der Gründungstagung des Kominform gehaltenen Grundsatzreferat des Leningrader Parteisekretärs der KPdSU, Schdanow101 auf östlicher Seite – das als Pendant zur Truman-Rede angesehen wird – ließen die fundamentalen Gegensätze politisch-gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen hervortreten. Besonders wurde erstmals eine ideologische Abgrenzung und Zweiteilung bzw. eine „Zwei-Lager-Theorie“ formu97 F.-W. Engel,
Handbuch der NATO, S. 23 f. Informationsbüro der Kommunistischen und Arbeiterparteien. Die Gründungskonferenz findet unter Leitung von Schdanow und Malenkow in Szarska Poreba statt. Der Sitz ist in Belgrad. Eine umfangreiche Studie zur Kominform durch G. Adibekov, Kominform, passim. Adibekov legt in der Studie dar, dass die Gründung der Kominform nicht ausschließlich eine Gegenreaktion auf den Marshall-Plan war, sondern Stalin bereits in der ersten Nachkriegszeit die Schaffung einer neuen Organisation der internationalen kommunistischen Bewegung erwog. Vgl. G. Wettig, Rezension zu: G. Adibekov, Das Kominform und Stalins Neuordnung Europas, passim, in: H-Soz-u-Kult, 29.08.2003, abrufbar unter: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ rezensionen/2003-3-131 (zuletzt aufgerufen, am 31. Juli 2013). 99 Vgl. AdG 1947, S. 1207 ff. (1209 ff.). 100 Vgl. M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 26. 101 Andrei Alexandrowitsch Schdanow (russ. Андрей Александрович Жданов), * 14. Februarjul./26. Februargreg. 1896 in Mariupol, † 31. August 1948 in Moskau, war ein sowjetischer Politiker und enger Mitarbeiter Stalins. 98 Offiziell:
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liert, die sich mit der entwickelnden machtpolitischen bipolaren Wirklichkeit deckte102. Wörtlich hieß es in der Truman-Rede103: „[…] nearly every nation must choose between alternative ways of life. […] One way of life is based upon the will of the majority, and is distinguished by free institutions, representative government, free elections, guarantees of individual liberty, freedom of speech and religion, and freedom from political oppression. The second way of life is based upon the will of a minority forcibly imposed upon the majority. It relies upon terror and oppression, a controlled press and radio, fixed elections, and the suppression of personal freedoms. I believe that it must be the policy of the United States to support free peoples who are resisting attempted subjugation by armed minorities or by outside pressures. I believe that we must assist free people to work out their own destinies in their own way. […]“
Dagegen erklärte Schdanow104: „Je größer die Periode ist, die uns vom Kriegsende trennt, desto krasser treten zwei Hauptrichtungen in der internationalen Nachkriegspolitik hervor, die der Teilung der in der Weltarena aktiven politischen Kräften in zwei Hauptlager entspricht: das imperialistische und antidemokratische Lager einerseits und das antiimperialistische und demokratische Lager andererseits. Die führende Hauptkraft des imperialistischen Lagers stellen die USA dar […] Das Hauptziel des imperialistischen Lagers stellt die Festigung des Imperialismus dar, die Vorbereitung eines neuen imperialistischen Krieges, der Kampf gegen Sozialismus und Demokratie sowie die Unterstützung reaktionärer und antidemokratischer profaschistischer Regimes und Bewegungen […]. Das antiimperialistische Lager stützt sich auf die Arbeiterbewegung und auf die demokratische Bewegung in allen Ländern, auf die brüderlichen kommunistischen Parteien in allen Ländern, auf die Kämpfer der nationalen Befreiungsbewegung in den Kolonial- und in den abhängigen Ländern sowie auf die Hilfe aller fortschrittlichen demokratischen Kräfte, die in jedem Lande vorhanden sind. Das Ziel dieses Lagers ist der Kampf gegen die Gefahr neuer Kriege und gegen die imperialistische Expansion, die Festigung der Demokratie sowie die Ausrottung der Überbleibsel des Faschismus […] Bei der Lösung dieser Hauptaufgabe der Nachkriegsperiode fällt der Sowjetunion und ihrer Außenpolitik die führende Rolle zu“.
Nach diesen Passagen kann ein gedanklicher Summenstrich gezogen werden. Beide Reden belegen eine ideologische und politische Spaltung zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika sowie der Sowjetunion und damit der klassischen Beschreibung der Konstellation des Kalten Kriegs105. M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 27. Of State Bulletin, Bd. 19, 1947, Suppl., S. 831. 104 M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 27 (A. Schdanow, Über die internationale Lage, in: Tägliche Rundschau, 24. Oktober 1947). 105 M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 27. 102 Vgl.
103 Dept.
A. Die Entwicklung der NATO von der Territorial- zur Interessenverteidigung 65
Im Zentrum dieser Kontroverse stand Deutschland. Aufgrund des mit dieser Gegensätzlichkeit einhergehenden Scheiterns der alliierten DeutschlandPolitik hatten die Deutschen mit der sich daraus ergebenden schmerzlichen Teilung des Staates in einen westdeutschen Teilstaat Bundesrepublik106 (Deutschland) sowie in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) mit der „Deutschen Demokratischen Republik“ (DDR) die größten Konsequenzen hinzunehmen. Die Grenze zwischen den sich gegenüberstehenden Ideologien verlief mitten durch Deutschland. Die Lage Berlins in der SBZ und deren Aufteilung in vier Sektoren machte die Stadt zum „Gesicht des Kalten Krieges“. Ende März 1948 – mit der Einschränkung der Zufahrtswege in die drei Westsektoren durch die Sowjetunion – entwickelte sich die erste BerlinKrise. Aufgrund der Hilfe aus dem Marshall-Plan und der auch in den drei Westsektoren Berlins durchgeführten Währungsreform, verschärfte sich diese im Juni 1948 dahingehend, dass am 24. Juni 1948 die Zufahrtswege nach (West-)Berlin vollständig blockiert wurden und die Versorgung Berlins lediglich über eine Luftbrücke der Alliierten („Rosinenbomber“) sichergestellt werden konnte107. Die Blockade endete erst nach fast einem Jahr – am 12. Mai 1949108. In Summa wurde die Blockade Berlins als Ausgangspunkt für die Neu ordnung bzw. -organisation der Sicherheits- und Verteidigungspolitik in den „westlichen“ Staaten angesehen109. 3. Folge: Erschaffung militärischer Bündnisse zur „Friedenssicherung“ Das Einsetzen des Kalten Kriegs führte in den westlichen Staaten zu der Überzeugung, dass sowohl ein politischer als auch ein militärischer Zusammenschluss nötig sei, um sich vor äußeren Gefahren zu schützen110. So forderte der britische Außenminister Bevin111 am 21. Januar 1948 vor dem briti106 Ein westdeutscher Teilstaat konnte auch deshalb gegründet werden, da die Militärgouverneure Clay (USA) und Robertson (Großbritannien) bereits am 1. Januar 1947 die sog. Bizone schufen, in der die britischen und die US-amerikanischen Zonen zu einer wirtschaftlichen Einheit zusammengelegt wurden. 107 M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 28. Vgl. auch W. LaFeber, Cold War, S. 76 f.; A. Fontaine, History of the Cold War, S. 359 ff. 108 Vgl. A. Fontaine, History of the Cold War, S. 365. 109 Vgl. F.-W. Engel, Handbuch der NATO, S. 33. 110 Vgl. M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 28. 111 Ernest Bevin, * 9. März 1881 in Winsford, † 14. April 1951 in London, war von 13. Mai 1940 bis 23. Mai 1945 britischer Arbeitsminister und Außenminister von 27. Juli 1945 bis 9. März 1951.
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Teil 1, Kap. 1: Das System der NATO
schen Unterhaus einen westeuropäischen Zusammenschluss in Form einer „Westunion“112. Am 17. März 1948 sicherten sich Großbritannien, Frankreich und die Benelux-Staaten mit der Unterzeichnung des Brüsseler Fünf-Mächte-Vertrags113 gegenseitigen Beistand für den Fall, dass es zu einem Angriff auf einen dieser Staaten kommen würde (Art. 4 des Vertrags) und erklärten gleichzeitig die Zusammenarbeit in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht (Art. 1 bis 3 des Vertrags)114. Der Westunion stand ein aus den Außenministern bestehender „Konsultativrat“ vor (Art. 7 des Vertrags). Diesem nachgeordnet wurde ein „Westlicher Verteidigungsausschuss“ gebildet, der sich aus den jeweiligen Verteidigungsministern zusammensetzte und einen ständigen „Westverteidigungsstab“ unter Führung des britischen Generals Montgomery115 als ersten Vorsitzenden berief, sowie den Sitz des Hauptquartiers in Fontainebleau in Frankreich festlegte116. Dieser Vertrag wird wegen seiner Ausrichtung als Vorstufe des NV bezeichnet117. Am gleichen Tag richtete der US-amerikanische Präsident Truman eine Botschaft an den Kongress, in deren Rahmen er den Brüsseler-Vertrag befürwortete und zugleich die Hoffnung aussprach118, dass die USA den freien Staaten die notwendige Hilfe gewähren würde. a) NATO Am 23. März 1948 kamen in Washington D.C. Vertreter der USA, Kanadas und des Vereinigten Königreichs zum sog. Dreimächtegespräch zusammen119. Bei diesen Geheimverhandlungen war es ein wesentliches Ziel Großbritanniens, die USA und Kanada langfristig und dauerhaft in Fragen AdG 1948, S. 1335 f.; M. Frank, Beitritt zum Nordatlantikvertrag, S. 20. in: F.-W. Engel, Handbuch der NATO, S. 324 ff. Dieser Vertrag wird auch bezeichnet als „Brüsseler Pakt“ oder „Westunion“. 114 Vgl. M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 28. 115 Bernard Law Montgomery, 1. Viscount Montgomery of Alamein, * 17. November 1887 in Kennington/London, † 24. März 1976 in Alton, war ein britischer Offizier, der den Posten des britischen Generalstabschefs sowie hohe Posten bei der NATO bekleidete. 116 G. Poser, Die Nato, S. 18. 117 Vor dem Brüsseler-Vertrag unterzeichneten Frankreich und Großbritannien am 4. März 1947 den Vertrag von Dünkirchen (vgl. S. 61 Fn. 83), der bereits eine automatische Beistandspflicht beinhaltete, sich allerdings gegen die Gefahr eines wieder erstarkenden Deutschlands richtete. Vgl. B. Giegerich, Die NATO, S. 10. 118 Truman sagte wörtlich: „I am sure that the determination of the free countries of Europe to protect themselves will be matched by an equal determination on our part to help them“, in: L. Ismay, NATO, S. 9. 119 Vgl. M. Frank, Beitritt zum Nordatlantikvertrag, S. 20. 112 Vgl.
113 Vertragstext
A. Die Entwicklung der NATO von der Territorial- zur Interessenverteidigung 67
der Verteidigung Europas einzubinden120, da auf Grundlage der TrumanDoktrin eine über den Atlantik reichende (Außen-)Politik der USA initiiert worden war. Das Treffen, dessen Ergebnisse eher informellen Charakter aufwiesen, dauerte bis zum 1. April 1948 und begründete den Beginn der Verhandlung über den NV121. Bevor die USA erstmals auch in Friedenszeiten militärische Beistandsverpflichtungen eingehen konnten, musste eine verfassungsrechtliche Grundlage geschaffen werden. Eine nach Senator Vandenberg122 benannte Entschließung (Vandenberg-Resolution123), die am 11. Juni 1948 mit 64 Ja- gegen 4 Neinstimmen im Senat angenommen worden war, ebnete hierfür den Weg. Diese Entschließung war ein Meilenstein in der Geschichte der US-amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik, weil es für die USA nunmehr möglich war, sich „an regionale und kollektive Vereinbarungen, die dauerhafte und wirksame individuelle und gegenseitige Hilfeleistung vorsehen, soweit solche Vereinbarungen für die Sicherheit den Vereinigten Staaten von Bedeutung sind“124, zu beteiligen125. Dabei legte der US-amerikanische Senat großen Wert darauf, dass jener zukünftige Vertrag mit der gerade ratifizierten VN-Charta vereinbar ist, deren Vorrang gegenüber dem Vertrag von jedem Zweifel freizustellen sei126. Auch sollte keine strikte Beistandspflicht vereinbart werden, sondern die Entscheidung des Kongresses vorbehalten bleiben127. Die Dreimächtegespräche wurden am 6. Juli 1948 – nunmehr unter Beteiligung Belgiens, Frankreichs und der Niederlande – fortgesetzt128. Verhand120 B. Giegerich, Die NATO, S. 10. Zu den Verhandlungen siehe auch: E. Di Nolfo, The Atlantic Pact Forty Years Later, S. 32 f. Insbesondere sollte ein Verteidigungssystem im nordatlantischen Raum gebildet werden, das den Brüsseler Vertrag einschließt und an seine Stelle treten sollte. Vgl. G. Höfler, Die neue NATO, S. 9. 121 Vgl. M. Frank, Beitritt zum Nordatlantikvertrag, S. 20. 122 Arthur Hendrick Vandenberg, * 22. März 1884 in Grand Rapids, † 18. April 1951, ebd. 123 Entschließung Nr. 239. Deutsche Übersetzung der Resolution, in: F.-W. Engel, Handbuch der NATO, S. 344. 124 M. Frank, Beitritt zum Nordatlantikvertrag, S. 21. 125 Die Entschließung des Senats zielte insbesondere auch darauf ab, sich in regio nalen Sicherheitsorganisationen i. S. d. VN-Charta zu engagieren. 126 Vgl. US-Senatsausschuss für Auswärtige Angelegenheiten, Department of State, American Foreign Policy 1950–55, Vol. I, S. 838. 127 Siehe auch BVerfG, Urt. v. 22. November 2001, 2 BvE 6/99, Rz. 3. 128 Es wurde auf zwei Ebenen verhandelt: Im Rahmen der Exploratory Talks auf Botschafter- (alle Teilnehmer mit Ausnahme der USA) und Staatssekretärsebene sowie auf Arbeitsebene im Rahmen der sog. Working Group. Vgl. M. Frank, Beitritt zum Nordatlantikvertrag, S. 21.
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lungsergebnis war das „Washingtoner Papier“129. Allerdings erfolgte aufgrund des US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs ab dem 10. September 1948 eine fast dreimonatige Verhandlungspause, sodass die Verhandlungen – unter Einbeziehung Luxemburgs – erst ab dem 10.–24. Dezember 1948 fortgesetzt werden konnten130. Das Ergebnis dieser zweiten und dritten Verhandlungsrunde war der erste Entwurf des NV131. Die vierte Verhandlungsrunde begann am 10. Januar 1949 in Washington; ab dem 4. März auch unter Beteiligung Norwegens.132 Am 15. März 1949 wurden neben dem Vertragstext auch die Interpretationsrichtlinien festgelegt.133 Am gleichen Tag wurden ebenfalls Dänemark, Island, Italien und Portugal eingeladen, Gründungsmitglieder der NATO zu werden134. Am 18. März 1949 wurde der Vertragstext schließlich veröffentlicht und am 2. April 1949 fand in Washington eine erste Außenministerkonferenz der Vertragsstaaten statt135. Der NV wurde letztlich am 4. April 1949 in Washington von den Vertretern der zwölf Signatarstaaten unterzeichnet und innerhalb von fünf Monaten in allen Parlamenten der Mitgliedstaaten ratifiziert136. b) Warschauer Pakt (WP) Die Gründung der NATO wurde in den osteuropäischen Ländern als Bedrohung und „Kreuzzug“ gegen den Kommunismus aufgefasst. Insbesondere wurde sie als ein aggressiver Militärblock gesehen, der sich unmittelbar gegen die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Staaten richtete.137 Die Sowjetunion selbst hatte bereits im Zeitraum von 1943 bis 1949 einen sozialistischen Block auf politischem und militärischem Gebiet formiert, der durch den Abschluss von bilateralen Verträgen über „Freundschaft, Zusam129 Vgl.
FRUS 1948, Vol. III, S. 237 ff. Department of State Bulletin, 19.12.1948, S. 778. 131 FRUS 1948, Vol. III., S. 334 ff. Eine genaue und ausführliche Rekonstruktion der Gründungsvorgeschichte der NATO, in: G. von Gersdorff, Die Gründung der NATO, passim. 132 Vgl. M. Frank, Beitritt zum Nordatlantikvertrag, S. 22. 133 Vgl. FRUS 1949, Vol. IV, S. 222 f. 134 M. Frank, Beitritt zum Nordatlantikvertrag, S. 22. 135 Vgl. FRUS 1949, Vol. IV, S. 271 ff. 136 Vgl. M. Frank, Beitritt zum Nordatlantikvertrag, S. 22; M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 28; G. Poser, Die Nato, S. 19; B. Giegerich, Die NATO, S. 11. 137 Vgl. hierzu die Sichtweise der DDR: R. Brühl, Imperialistische Militärblock politik, S. 183. 130 Vgl.
A. Die Entwicklung der NATO von der Territorial- zur Interessenverteidigung 69
Quelle: A. Reimer, 2018
Abbildung 2: Geografische Übersicht über die Mitgliedstaaten der NATO (dunkelgrau) und des Warschauer Pakts (hellgrau/schraffiert). Die Schauplätze der in dieser Arbeit behandelten Konfliktherde sind in schwarz gekennzeichnet
menarbeit und gegenseitigen Beistand zwischen allen europäischen Volksdemokratien“ ein einheitliches System geschaffen hatte138. Da auch im Jahr 1949 und in den darauffolgenden Jahren die Deutschlandfrage unter den Alliierten noch immer eines der großen Konfliktfelder war, fand auf Initiative der Sowjetunion – nach dem Tod Stalins – vom 25. Januar – 18. Februar 1954 in Berlin eine Viererkonferenz der alliierten Außenminister statt. Auf dieser verlangte der sowjetische Außenminister 138 Vgl. M. Csizmas, Der Warschauer Pakt, S. 8. Alle „Freundschaftsverträge“ wurden nach dem gleichen Muster aufgebaut. Bilaterale Abkommen wurden mit der Tschechoslowakei (12. Dezember 1943), Jugoslawien (11. April 1945 bis 28. September 1949), Polen (21. April 1945), Rumänien (4. Februar 1948), Ungarn (18. Februar 1948) und Bulgarien (18. März 1948) abgeschlossen. Vgl. W. Düchs, WP-Staaten als „partieller Bundesstaat“?, S. 13 f.
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Molotow139 die Neutralisierung Deutschlands auf Basis der „Zwei-StaatenThese“ und schlug den Abschluss eines gesamteuropäischen Vertrages für die kollektive Sicherheit140 vor141. Der Vorschlag wurde von den Westmächten abgelehnt. Während die Sowjetunion in der Folge mehrere diplomatische Bemühungen142 unternahm, um für ein kollektives Sicherheitsbündnis zu werben sowie einen weiteren „militärischen Zusammenschluss Westeuropas“143 zu verhindern, trieben die USA diesen weiter voran. Nach dem Scheitern der Pläne für eine „Europäische Verteidigungsgemeinschaft“ (EVG), am 30. August 1954 durch die Ablehnung in der französischen Nationalversammlung sollte eine Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland durch die Beteiligung der Bundesrepublik am westlichen Verteidigungssystem erreicht werden. Im Rahmen der Londoner Neun-Mächte-Konferenz144 wurde von den Mitgliedern des Brüsseler Pakts zusammen mit Deutschland und Italien die Westeuropäische Union (WEU) gegründet. Nach Verabschiedung der Pariser Verträge145 und des darin enthaltenen zweiten Deutschlandvertrages 139 Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow (russ. Вячеслав Михайлович Моло тов), geb. als Skrjabin (russ. Скрябин), * 25. Februarjul./9. Märzgreg. 1890 in Kukarka, † 8. November 1986 in Moskau, war ein sowjetischer Politiker, der vom 19. Dezember 1930 bis 7. Mai 1941 Vorsitzender des Rates der Volkskommissare (Ministerpräsident) war, vom 3. Mai 1939 bis 5. März 1949 Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten (Außenminister) und vom 5. März 1953 bis 1. Juni 1956 Außenminister der Sowjetunion. 140 Ein solcher Vertrag sollte Frieden und Sicherheit gewährleisten, eine Aggression gegen irgendeinen Staat in Europa vorbeugen und die Bildung von Gruppen innerhalb europäischer Staaten verhindern. Vgl. Molotow, Reden, S. 32. Die Bestimmungen des sowjetischen Vertragsentwurfs sollten der späteren Regelung des Warschauer Vertrages als Vorbild dienen. Vgl. B. Meissner, Der Warschauer Pakt, S. 9. 141 M. Csizmas, Der Warschauer Pakt, S. 10. 142 Moskau versandte an die westlichen Regierungen jeweils diplomatische Noten am 24. Juli, 4. August und 23. Oktober 1954. Vgl. M. Csizmas, Der Warschauer Pakt, S. 10 f. 143 R. Brühl, Imperialistische Militärblockpolitik, S. 195. 144 Die Londoner Neun-Mächte-Konferenz begann am 28. September 1954 und endete mit der Unterzeichnung der sog. Londoner Akte am 3. Oktober 1954. Teilnehmerstaaten der Konferenz waren Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Kanada, Luxemburg, Niederlande, Großbritannien und die USA. Text der Schlussakte, in: F.-W. Engel, Handbuch der NATO, S. 635 ff. 145 Die Pariser Verträge wurden am 23. Oktober 1954 von den Mitgliedern der WEU, Italien und Deutschland unterzeichnet und traten am 5. Mai 1955 in Kraft. Sie beendeten das Besatzungsstatut der drei Westmächte in der BRD und stellten formal die staatliche Souveränität der BRD her, die aufgrund alliierter Vorbehaltsrechte jedoch erst ab dem 15. März 1991, mit Inkrafttreten des Zwei-plus-Vier-Vertrages, wieder vollumfänglich besteht. Insgesamt bestehen die Pariser Verträge aus 25 Teilen (Verträge, Kommuniqués, Protokolle). Insbesondere geregelt ist die Umwandlung des
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wurde der Beitritt Deutschlands zur NATO beschlossen und am 5. Mai 1955 vollzogen. Der Entschluss der Westmächte, Deutschland in die NATO einzubeziehen, wird als Schlusspunkt eines Prozesses interpretiert, welcher der Sowjetunion und ihren Verbündeten signalisierte, dass eine Wiedervereinigung Deutschlands unter Bedingungen, die auch von den osteuropäischen Regierungen akzeptiert werden können, für die nächste Zeit ausgeschlossen war146. Aufgrund dieser Entscheidungen trat bereits am 29. November 1954 in Moskau eine Rumpfkonferenz147 für „Europäische Sicherheit“ unter Teilnahme „volksdemokratischer“ Staaten zusammen, auf der am 2. Dezember 1954 von allen acht Teilnehmerstaaten148 eine Grundsatzerklärung unterzeichnet wurde, nach welcher es bei einer Ratifizierung der Pariser Verträge „gemeinsame Maßnahmen zur Organisation ihrer Streitkräfte und ihrer Kommandos sowie eine Verstärkung ihrer militärischen Kapazitäten“ erfolgen werden149. Die politische Führung der DDR unter Otto Grotewohl150 und Walter Ulbricht151 kündigte sodann am 8. Dezember 1954 die Aufstellung Brüsseler Pakts zur WEU unter Einschluss der BRD und Italiens, der direkte Beitritt der BRD als fünfzehntes NATO-Mitglied sowie die Aufstellung der Bundeswehr und die Festlegung ihres Umfangs. Vgl. R. Brühl, Imperialistische Militärblockpolitik, S. 195; Vertragstext in: F.-W. Engel, Handbuch der NATO, S. 668 ff. 146 S. Tiedtke, Die Warschauer Vertragsorganisation, S. 18; R. Remington, Warsaw pact, S. 10 f. Vgl. auch die „Deklaration der Konferenz Europäischer Länder zur Gewährleistung des Friedens und der Sicherheit in Europa“ vom 2. Dezember 1954, in: Dokumente zum Warschauer Vertrag, 1962, S. 23 ff. In der osteuropäischen Literatur wurden die Pariser Verträge auch als „völkerrechtswidrige Separatabkommen imperialistischer Mächte“ bezeichnet, die den Vereinbarungen der Anti-Hitler-Koalition auf den Konferenzen von Jalta und Potsdam widersprach. R. Brühl, Imperialistische Militärblockpolitik, S. 195. 147 Die in einer sowjetischen Note vom 13. November 1954 enthaltene Einladung zu einer gesamteuropäischen Konferenz über die kollektive Sicherheit unter Beteiligung der USA wurde nur von den sowjetischen Gefolgsstaaten angenommen, zu der auch die Volksrepublik China einen Beobachter entsandte. Vgl. B. Meissner, Der Warschauer Pakt, S. 10. 148 Teilnehmerstaaten waren Albanien, Bulgarien, Ungarn, DDR, Polen, Rumänien, Sowjetunion, Tschechoslowakei. 149 M. Csizmas, Der Warschauer Pakt, S. 11. 150 Otto Grotewohl, * 11. März 1894 in Braunschweig, † 21. September 1964 in Berlin, war ein deutscher Politiker, der vom 7. Oktober 1949 bis zu seinem Tode 1964 Ministerpräsident der „Deutschen Demokratischen Republik“ war. 151 Walter Ernst Paul Ulbricht, * 30. Juni 1893 in Leipzig, † 1. August 1973 in Groß Dölln, war ein deutscher Politiker, der die „Deutsche Demokratische Republik“ entscheidend zum sozialistischen Staat entwickelte. Für den Bau der Berliner Mauer 1961 trug er die politische Verantwortung. Legendär ist der auf einer Pressekonferenz zwei Monate vor dem Mauerbau am 15. Juni 1961 geäußerte Satz: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“.
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Teil 1, Kap. 1: Das System der NATO
„nationaler Streitkräfte“ für den Fall der Ratifizierung der Pariser Verträge an.152 Schließlich wurde am 21. März 1955 zwischen den acht Teilnehmerstaaten eine vollständige Einigung über die Prinzipien und den Abschluss eines „Freundschafts- und Beistandspakts“ erzielt153. Nach Inkrafttreten der Pariser Verträge am 5. Mai 1955 annullierte die Sowjetunion die Bündnisverträge mit Großbritannien und Frankreich. Zwei Tage nach dem Beitritt Deutschlands als 15. Mitglied der NATO begann am 11. Mai 1945 die vierte Ostblockkonferenz, welche als „Konferenz europäischer Länder zur Gewährleistung des Friedens und der Sicherheit Europas“ tituliert wurde154. Nach dreitägigen Beratungen unterzeichneten am 14. Mai 1955 die Vertreter der acht Teilnehmerstaaten den als WP155 bezeichneten „Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“156. Die kurze Aufeinanderfolge der Ereignisse Anfang Mai 1955 ist jedoch nicht allein157 als Reaktion auf den NATO-Beitritt Deutschlands zu verstehen. Der Abschluss des WP steht ebenfalls in engem Zusammenhang mit der Unterzeichnung des Österreichischen Staatsvertrages im Wiener BelvederePalast am 15. Mai 1955. Durch die Abgabe einer Neutralitätserklärung gegenüber den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs im April 1955 erhielt Österreich mit Unterzeichnung des Vertrages seine volle Souveränität zurück. Dies hatte für die Sowjetunion zur Konsequenz, dass eine Klausel in den Pariser Friedensverträgen wegfiel, die es der Sowjetunion zum Schutz ihrer Nachschublinien nach Österreich gestattete, Truppen in Ungarn und Rumänien zu stationieren158. Der Abschluss des WP diente der Sowjetunion 152 B. Meissner,
Der Warschauer Pakt, S. 10. W. Düchs, Die WP-Staaten als „partieller Bundesstaat“?, S. 12; M. Csizmas, Der Warschauer Pakt, S. 12. 154 Vgl. M. Csizmas, Der Warschauer Pakt, S. 12; B. Meissner, Der Warschauer Pakt, S. 11; W. Düchs, Die WP-Staaten als „partieller Bundesstaat“?, S. 8. 155 Nachfolgend: WP. 156 Vertragstext, in: F.-W. Engel, Handbuch der NATO, S. 783 ff. Grundpfeiler des WP waren gegenseitiger Beistand bei einem Angriff in Europa; die Nichteinmischung in Angelegenheiten von Mitgliedstaaten; die friedliche Beilegung internationaler Streitfragen sowie das Verbot der Beteiligung an anderen Bündnissystemen. 157 In der osteuropäischen Literatur wird für die Gründung des WP nicht nur die militärpolitische Notwendigkeit nach den Pariser Verträgen als Legitimationsversuch herangezogen, sondern auch die „Gesetzmäßigkeit immer engerer Zusammenschlüsse der sozialistischen Staaten“. Hingegen wird in der westlichen Literatur die Auffassung vertreten, dass der WP den Staaten Osteuropas ein politisches Tauschobjekt gegenüber der NATO in die Hand geben sollte. Vgl. S. Tiedtke, Die Warschauer Vertragsorganisation, S. 15 ff. 158 Vgl. B. Meissner, Der Warschauer Pakt, S. 12; M. Csizmas, Der Warschauer Pakt, S. 12; W. Düchs, Die WP-Staaten als „partieller Bundesstaat“?, S. 12 f. 153 Vgl.
A. Die Entwicklung der NATO von der Territorial- zur Interessenverteidigung 73
somit zunächst als völkerrechtliche Garantie, ihre Truppen in Rumänien und Ungarn belassen zu können159. Der WP trat mit der Hinterlegung sämtlicher Ratifizierungsurkunden am 4. Juni 1955 in Kraft. Er hob die bilateralen („Freundschafts“-)Verträge der Sowjetunion mit den Vertragsstaaten formell zwar nicht auf, schuf jedoch auf dieser Grundlage eine einheitliche Verteidigungskonzeption, die den „Ostblock“ erheblich in seiner militärischen Stärke festigte160. 4. Zusammenfassung Die Erschaffung der beiden161 militärischen Bündnisse NATO und WP waren das sichtbarste Ergebnis der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs herausgebildeten bipolaren Weltordnung. Waren die nunmehr als Weltmächte agierenden Staaten USA und Sowjetunion zum Ende des Zweiten Weltkriegs noch gemeinsam in der Anti-Hitler-Koalition verbunden, zeigte sich nach Ende des Kriegs zügig, dass beide Staaten im „Kampf“ um die Neuordnung der Welt diametral entgegenstehende Interessen und Methoden zur Erreichung dieses Ziels verfolgten. Die Gründung der beiden militärischen Bündnisse lässt sich letztlich als Verwirklichung der US-amerikanischen sowie sowjetischen Nachkriegsziele bezeichnen. Mit der Schaffung der beiden Bündnisse haben sowohl die Vereinigten Staaten von Amerika als auch die Sowjetunion ihren globalen Führungsanspruch durchgesetzt und von den Mitgliedern des jeweiligen Bündnisses anerkennen lassen. Das Gebiet des vormaligen Deutschen Reichs war das „Epizentrum“ der beiden Machtblöcke. Die von den Alliierten vorgenommene Gebietsaufteilung bedingte, dass nicht nur die Grenze der jeweiligen Machtblöcke mitten durch dieses Gebiet führte, sondern aus dem vormaligen Deutschen Reich zwei völkerrechtlich „eigenständige“ Staaten hervorgehen sollten, die in ihrer jeweiligen politisch-gesellschaftlichen Ausrichtung jeweils einer anderen Ideologie unterworfen wurden162.
159 M. Csizmas,
Der Warschauer Pakt, S. 12. Die WP-Staaten als „partieller Bundesstaat“?, S. 21. 161 Ein Vergleich der beiden Vertragswerke findet sich in: B. Meissner, Der Warschauer Pakt, S. 60 ff. 162 Zum völkerrechtlichen Status des Deutschen Reichs, vgl. Teil 1, Kap. 1, A. III. 160 W. Düchs,
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Teil 1, Kap. 1: Das System der NATO
II. Historische Vorstellungen der Mitgliedstaaten – der NATO-Vertrag als ausfüllungsbedürftiger „politischer“ Vertrag auf Grundlage einer Wertegemeinschaft seiner Mitgliedstaaten Sowohl der WP als auch der NV sind multilaterale völkerrechtliche Verträge163, die hinsichtlich ihrer äußeren Organisationsstruktur Übereinstimmungen aufweisen. Unterschiede offenbaren sich hingegen in der inneren Organisationsstruktur sowie in der vertraglichen und inhaltlichen Ausrichtung164. Bei einer Gegenüberstellung beider Vertragswerke zeigt sich, dass der WP die Auflösung der beiden Militärbündnisse in Aussicht stellt sowie den Beitritt nicht von einer bestimmten Gesellschaftsordnung des beitrittswilligen Staates abhängig macht (Art. 9 WP). Zudem wurde der „Modus seiner Auflösung“ (Art. 11 WP)165 geregelt. Hingegen erfordert der Beitritt zur NATO ein „eindeutiges ideologisches Bekenntnis“, wonach der beitrittswillige Staat die „Grundsätze des Vertrages erfüllen“ muss (Präambel und Art. 10 NV)166. Der NV selbst ist einer der kürzesten völkerrechtlichen Verträge. Mit seinen 14 Artikeln und einer kurzen Präambel verfügt er über generalklausel artige Formulierungen. Die Gründungsväter des Vertrages verzichteten (bewusst) darauf, alle denkbaren Tatbestände und Rechtsfolgen genau festzulegen. Dies wird auf den Einfluss des anglo-amerikanischen Rechtskreises zurückzuführen sein, der auf dem überkommenen oder sich entwickelnden Gewohnheitsrecht aufbaut und auf umfangreiche Vertragskodifizierungen verzichtet167. Die mangelnde begriffliche Präzision des NV hat zur Folge, dass die weiten Formulierungen grundsätzlich der „Ausfüllung durch politische Entscheidungen“ bedürfen168. In der Literatur finden sich daher Stimmen, die in dieser „Anpassungsfähigkeit“ politisch eine Existenzfrage sehen169. So ist es seit der Gründung das Verständnis des Nordatlantikbündnisses, sich trotz der zentralen Rolle für die Koordinierung transatlantischer Verteidigungsanstrengungen nicht allein als militärisches Bündnis zu begreifen. Der NV stellt – anders als z. B. die Anti-Hitler-Koalition – nicht das gemein163 Hierzu
umfassend unter Teil 2, Kap. 2, B. I. J. Köpfer, Vergleich zweier Bündnisse, S. 79. 165 Vgl. Art. 11 Abs. 2 WP: „(…), verliert dieser Vertrag am Tage des Inkrafttretens des Gesamteuropäischen Vertrages seine Gültigkeit“. 166 S. Tiedtke, Die Warschauer Vertragsorganisation, S. 16. 167 J. Köpfer, Vergleich zweier Bündnisse, S. 80. 168 Ders., ebd., S. 80. 169 B. Giegerich, Die NATO, S. 19 m. w. N. 164 Vgl.
A. Die Entwicklung der NATO von der Territorial- zur Interessenverteidigung 75
same Sicherheitsbedürfnis an den Anfang seiner Agenda, sondern ein umfassenderes politisch-ökonomisches Anliegen einer Stabilisierung Westeuropas170. So beschreibt171 die Präambel Grundzüge einer „westlichen“ Wertegemeinschaft, die es im Rahmen einer „Systemauseinandersetzung“ des OstWest-Konflikts zu erhalten gilt. Die Verpflichtung auf die VN-Charta schließt sich der Präambel in Art. 1 NV an. Im Art. 2 NV wird die Schaffung von Bedingungen gefordert, die geeignet sind, allgemeine Stabilität und massenhaften Wohlstand durch wirtschaftliche Zusammenarbeit zu fördern. Erst in Art. 3 NV folgt die militärische Absicht, „die eigene und die gemeinsame Widerstandskraft gegen bewaffnete Angriffe erhalten und fortentwickeln“ zu wollen172. Der NV verdeutlicht das „Dogma“ der westlichen Welt, wonach Faktoren wie die Betonung des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Fortschritts sowie die der Sicherheit und Verteidigung untrennbar einen Konnex bilden173. Mitsamt seiner Struktur und durch die geschaffene Organstruktur wird der „politisch-militärische Zweiklang“ des Bündnisses deutlich. Die NATO besteht letztlich aus souveränen Mitgliedstaaten und ihren nationalen Vertretern, Delegationen und Streitkräften sowie aus internationalen und „integrierten“, d. h. international verschmolzenen Organen, wie z. B. Stäben, Streitkräften und Kommandos. Jeder Mitgliedstaat stellt eigenes politisches und militärisches Personal zur Verfügung, welches den Weisungen der (internationalen) Organe unterliegt174. Exkurs: „Die deutsche Frage“ – Deutsche (Teil-)Staaten Um die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen beiden deutschen (Teil-) Staaten begrifflich einzuordnen, bedarf es einer näheren Erläuterung, welches „rechtliche Schicksal“175 dem deutschen Staat nach 1945 zuteil wurde. Das Deutsche Reich war zur Zeit der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht176 der Staat, der durch die Gründung des NorddeutC. Greiner/K. Maier/H. Rebhan, Die NATO als Militärallianz, S. 2. dazu in Teil 3, Kap. 1, B. 172 Vgl. C. Greiner/K. Maier/H. Rebhan, Die NATO als Militärallianz, S. 2. 173 Vgl. F.-W. Engel, Handbuch der NATO, S. 41. 174 Vgl. G. Poser, Die NATO, S. 30 f. 175 C. Raap, Die Souveränität Deutschlands, S. 57. 176 Die Kapitulation der Deutschen Wehrmacht erfolgte durch Generaloberst Al fred Jodl – zusammen mit Generaladmiral Hans-Georg von Friedeburg – am 7. Mai 1945 um 2.41 Uhr im Hauptquartier des Oberbefehlshabers der alliierten Streitkräfte Eisenhower, als in Reims die Kapitulationsurkunde unterschrieben wurde. Diskus 170 Vgl.
171 Ausführlich
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Teil 1, Kap. 1: Das System der NATO
schen Bundes 1867 entstanden und 1871 zum Deutschen Reich erweitert worden war177. Die Novemberrevolution von 1918, die zur Abschaffung der Monarchie und der Umwandlung in eine parlamentarisch-demokratische Republik führte, einschließlich der neuen „Weimarer Reichsverfassung“178 vom 11. August 1919, änderte nichts am Fortbestand des deutschen Staates. Mit der Revolution wechselte lediglich die Staats- und Regierungsform, wodurch der völkerrechtliche Status des Deutschen Reichs nicht berührt wurde179. Mit der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht am 8./9. Mai 1945180 wurde der völkerrechtliche Status des deutschen Staates ungewiss. Weitgehende181 Einigkeit bestand insoweit, dass der deutsche Staat nicht als Völkerrechtssubjekt untergegangen ist182. Durch die Ereignisse des Jahres 1945 ist keines der drei Staatselemente – Staatsgebiet, Staatsvolk, sionen entstanden um den Zeitpunkt des Inkrafttretens der Kapitulation. Während in der Kapitulationsurkunde der 9. Mai ausgewiesen war, verlangte Stalin, dass die Kapitulation am 8. Mai 1945 in Berlin, „dem Zentrum der Nazi-Aggression“, „vor dem Oberkommando aller Länder der anti-Hitlerschen Koalition“ stattfinden müsse. So fand in der einstigen Pionierschule in Berlin-Karlshorst, dem sowjetischen Hauptquartier, eine zeremonielle Wiederholung der bereits erfolgten Kapitulation statt. Am 8. Mai, genau um 24.00 Uhr wurde der Saal von den Beteiligten betreten und schließlich um 0.43 Uhr (9. Mai) die bedingungslose Kapitulation durch Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel erneut unterzeichnet. M. Salewski, Deutschland und der Zweite Weltkrieg, S. 436. Siehe auch G. Schukow, Erinnerungen und Gedanken, passim. 177 D. Blumenwitz, Friedensvertrag, S. 69; ders., Denk ich an Deutschland, S. 48; R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, § 15, S. 45. 178 Text: RGBl. 1919, S. 1383 ff. 179 D. Blumenwitz, Denk ich an Deutschland, S. 50; R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, § 15, S. 46; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, §§ 390 ff.; G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/1, § 13, S. 138. 180 Die für die deutsche Seite bestimmte Ausfertigung der Kapitulationsurkunde befindet sich in den Beständen der Abteilung Militärarchiv des Bundesarchivs: RW 4/700. Ein Faksimileabdruck der amerikanischen Überlieferung in der Publikation der National Archives, Washington D.C. (Hrsg.): World War II Surrender Documents. Germany Surrenders 1945. Washington D.C. 1976. 181 A. A. H. Kelsen, Legal Status of Germany, in: AJIL 39 (1945), S. 518 ff., der den Untergang des deutschen Staates als Völkerrechtssubjekt damit begründete, dass die vom Deutschen Reich begangenen ungeheuerlichen Verbrechen es zum „outlaw“ gemacht hätten. 182 C. Schmid, Der Parlamentarische Rat, Bd. 9, Zweite Sitzung, S. 23–27 und 33; ders., Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/I, Siebente Sitzung, S. 159 f. Ferner J. Schwalber, Der Parlamentarische Rat, Bd. 9, Dritte Sitzung, S. 90; J. Brockmann, Der Parlamentarische Rat (Bd. 9, Dritte Sitzung), S. 143; A. Süsterhenn, Der Parlamentarische Rat, Bd. 9, Sechste Sitzung, S. 186; H.-C. Seebohm, Der Parlamentarische Rat, Bd. 9, Sechste Sitzung, S. 198; W. Menzel, Der Parlamentarische Rat, Bd. 9, Zehnte Sitzung, S. 521.
A. Die Entwicklung der NATO von der Territorial- zur Interessenverteidigung 77
Staatsgewalt183 – weggefallen. Der deutsche Staat wurde lediglich handlungsunfähig184. Völkerrechtlich ergibt sich der „Nichtuntergang“ insbesondere aus der Staatenpraxis der Siegermächte, denen es seinerzeit darum ging, sich das Deutsche Reich als Kriegsschuldner zu erhalten185. Mit dem Entstehen der zwei neuen deutschen Teilstaaten im Jahre 1949 trat die Entwicklung in ein neues Stadium. Mit dem Bekenntnis jeglicher Staatsorgane des neu gegründeten westdeutschen Teilstaates zum uneingeschränkten Fortbestand des deutschen Staats186 und der Wirkung der Staatenpraxis zahlreicher (insbesondere westlicher) Staaten187 als identitätswahrend188, wurde der westdeutsche Teilstaat mit dem deutschen Staat subjekts Zu ersten Begründungen dieser sich im Schrifttum und auch in der internationalen Staatenpraxis durchsetzenden Auffassung siehe W. Geiger, Zur Genesis der Präambel des Grundgesetzes, in: EuGRZ 13 (1986), S. 121 f. und BVerfGE 77, 137 (154 ff.). 183 Sog. „Drei-Elementen-Lehre“. Diese Lehre wurde von Georg Jellinek begründet. Vgl. ders., Allgemeine Staatslehre, S. 394 ff. 184 Durch die Gefangennahme der zur Vertretung berufenen Organe (Regierung von Großadmiral Karl Dönitz) am 23. Mai 1945 und der Okkupation des gesamten Staatsgebiets verlor der deutsche Staat seine Handlungsfähigkeit. Vgl. O. Kimminich, Völkerrecht, S. 125; I. Seidl-Hohenveldern/T. Stein, Völkerrecht, Rdnr. 739. Durch die Besatzungsgewalt wurde die deutsche Staatsgewalt lediglich „überdeckt“, nicht aber beseitigt – was laut ausdrücklicher Erklärung der Alliierten keine Annexion Deutschlands darstellte. Vgl. die „Berliner Erklärung“ vom 5. Juni 1945, Text: D. Rauschning, Rechtsstellung Deutschlands, S. 15–20 (Nr. 5). 185 Vgl. D. Blumenwitz, Friedensvertrag, S. 77 ff.; ders., Deutsche Staatsangehörigkeit und deutscher Staat, in: JuS 1988, S. 610. 186 Vgl. BVerfGE 77, 137 (156 m. w. N.); D. Blumenwitz, Was ist Deutschland?, S. 34. 187 Maßgebende Dokumente sind die New Yorker Erklärung der drei Westmächte vom 18. September 1950 und ein zugleich übermitteltes „interpretative minute“ (Text: BVerfGE 77, 137 [158]). In der Erklärung heißt es, dass die westlichen Hauptsiegermächte „die Regierung der Bundesrepublik Deutschland als die einzige deutsche Regierung ansehen, die frei und legitim gebildet und daher berechtigt ist, als Repräsentantin des deutschen Volkes in internationalen Angelegenheiten für Deutschland zu sprechen“. In dem „interpretative minute“ wird klargestellt, dass die Erklärung „was based on the premise that the German state continues to exist“. Auch das Festhalten an der einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit sowie das Fortführen der vom Deutschen Reich abgeschlossenen bi- und multilateralen Verträge und das Bekenntnis zu dessen Schulden wirkte identitätsstiftend. Vgl. C. Raap, Die Souveränität Deutschlands, S. 66 f. 188 Für das Verhältnis von Bundesrepublik und DDR zu dem nicht untergegangenen deutschen Staat sind in der Völkerrechtslehre mehrere „Deutschlandtheorien“ entwickelt worden. Diese lassen sich in drei Kategorien einteilen: Die Lehre vom völkerrechtlichen Untergang Deutschlands (Debellationslehre, Dismembrationslehre), die Fortbestandstheorien (Identitätstheorien-Staatskerntheorie, Kernstaatslehre) sowie die Dachstaatstheorie (Teilordnungslehre). Hierzu ausführlich: D. Blumenwitz, Deutsche Staatsangehörigkeit und deutscher Staat, in: JuS 1988, S. 607; G. Dahm/
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identisch. Dessen Staatsgewalt erstreckte sich auf den Geltungsbereich des Grundgesetzes189, nicht aber auf das gesamte Territorium des völkerrecht lichen deutschen Staates. Die in der SBZ auf dem Gebiet des deutschen Staates gegründete DDR gehörte stets zum deutschen Staat. Auch die DDR ging ursprünglich190 vom Fortbestand des deutschen Staates aus, was sich aus Art. 1 Abs. 1 und Abs. 4 sowie aus Art. 118 Abs. 1 DDR-Verfassung vom 7. Oktober 1949191 ergibt. Auch durch den Abschluss der sog. „Ostverträge“ – vor allem durch den Grundlagenvertrag zwischen den beiden deutschen Teilstaaten vom 21. Dezember 1972192 – hat sich an dem Fortbestand des Deutschen Reichs nichts geändert. Dies ergibt sich vor allem daraus, dass durch die sog. „Unberührtheitsklausel“ des Art. 9 Grundlagenvertrag193 u. a. die „Vier-Mächte-Rechte“194 in Bezug auf Deutschland als Ganzes, also in Bezug auf den fortbestehenden deutschen Gesamtstaat, fortgeschrieben wurden.195 Dessen Auflösung z. B. durch eine endgültige Dismembration in Neustaaten – was das Entstehen völlig souveräner Neustaaten auf dem Gebiet des Altstaates voraussetzt – hätte der Zustimmung der Vier-Mächte bedurft. Eine solche erfolgte aber nicht196. Damit kann zunächst konstatiert werden, dass das Deutsche Reich nicht durch die Vorgänge in den Jahren 1945, 1949, 1955 als auch Ende der 1960er- bzw. Anfang der 1970er-Jahre als Völkerrechtssubjekt untergeganJ. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/1, § 14, S. 147 ff.; G. Teyssen, Deutschlandtheorien, S. 196 ff.; R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, § 16, S. 59 ff. 189 Im Folgenden: GG. 190 Allerdings vertrat die DDR seit Mitte der 1950er-Jahre, unterstützt von der Sowjetunion, die Debellationstheorie. Jedoch musste sie in ihren Vereinbarungen mit der Sowjetunion deren Rechte und Verantwortlichkeiten aus den sog. „Vier-MächteVereinbarungen“ (s. u.) anerkennen, die sich uneingeschränkt auf das fortbestehende Gesamtdeutschland bezogen. Vgl. R. Wittkowski, Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, S. 177. 191 Text: I. von Münch, Dokumente des geteilten Deutschland, S. 301 ff. 192 Vgl. BGBl. 1973 II, S. 423 f. 193 Dem entsprechen Art. 4 Moskauer Vertrag (vgl. BGBl. 1972 II, S. 354 f.) bzw. Art. 4 Warschauer Vertrag (vgl. BGBl. 1972 II, S. 362 f.). 194 Die Rechte der Vier Mächte (Frankreich, Großbritannien, USA, Sowjetunion) bezüglich des deutschen Staates wurden durch die gemeinsame militärische Besetzung am Ende des Zweiten Weltkriegs begründet und ihre Ausübung in mehreren Abkommen näher geregelt. Siehe hierzu: C. von Goetze, Rechte der Alliierten, in: NJW 35/1990, S. 2161 ff. Eine Übersicht über die Verträge und andere Akte zur Rechtsstellung des deutschen Staates findet sich in D. Rauschning, Rechtsstellung Deutschlands, passim. 195 Vgl. dazu im einzelnen D. Blumenwitz, Was ist Deutschland?, S. 51 ff. 196 Vgl. die Noten der Vier-Mächte zu den Ostverträgen und zum Grundlagenvertrag – BGBl. 1972 II, S. 356 ff. und 364 ff. sowie 1973 II, S. 421 ff.
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gen ist197; es aber „mangels Organisation, insbesondere mangels institutionalisierter Organe, selbst nicht handlungsfähig (war)“198. Ungeachtet des Fortbestehens des deutschen Gesamtstaates entwickelten sich seit 1949 auf dessen Gebiet die beiden deutschen Teilstaaten, die in der Völkerrechtsgemeinschaft weltweite Anerkennung als eigenständige199 Staaten erlangten, was sich durch die gleichzeitige Aufnahme beider Staaten in die VN im Juni 1973 niederschlug200. Das Verhältnis der beiden deutschen Teilstaaten zum Gesamtstaat wurde versucht mithilfe divergierender Kontinuitätstheorien – gegenüber standen sich Identitäts- und Teilordnungslehre – zu erklären. Während nach den verschiedenen Identitätstheorien die Bundesrepublik mit dem deutschen Gesamtstaat als identisch angesehen wurde, sollten sich nach der Teilordnungslehre die beiden Teilstaaten auf einer Stufe unterhalb der vollen staatlichen Souveränität unter einem gemeinsamen „Reichsdach“ gleichberechtigt gegenüberstehen201. In der Bundesrepublik setzte sich die Identitätstheorie als maßgebliche Richtlinie für das staatsrechtliche Selbstverständnis durch, welche schließlich auch völkerrechtliche Relevanz entwickelte202. Dieses wurde bereits frühzei197 So im Ergebnis auch R. Wittkowski, Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, S. 177. 198 So das Bundesverfassungsgericht (nachfolgend: BVerfG) in seinem Grundvertragsurteil, BVerfGE 36, 1 ff. (S. 16). 199 Aufgrund der „Unberührtheitsklausel“ im Grundlagenvertrag (Art. 9) wurde in der deutschen Völkerrechtsliteratur lediglich eine eingeschränkte Souveränität der beiden deutschen Teilstaaten angenommen – Bundesrepublik: D. Deiseroth, Begrenzte Souveränität, in: VerwArch 80 (1989), S. 344; O. Kimminich, Souveränität der BRD, S. 87; D. Rauschning, Fortbestand des deutschen Staates, in: Göttinger Arbeitskreis (Hrsg.), Deutschlandvertrag und Wiedervereinigung, S. 36, F. Waitz v. Eschen, Völker rechtliche Kompetenz der Vier Mächte, S. 125. DDR: F. Waitz v. Eschen, Völkerrechtliche Kompetenz der Vier Mächte, S. 143; C. Raap, Die Souveränität Deutschlands, S. 141 ff. 200 Trotz der Charakterisierung als „selbstständige“ Staaten innerhalb der Völkerrechtsgemeinschaft wurden die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten vom BVerfG wegen des Fortbestehens des deutschen Gesamtstaates nicht rein völkerrechtlicher Natur, sondern als „inter-se-Beziehung“ eingestuft, auf die grundsätzlich das Völkerrecht anzuwenden ist; vgl. BVerfGE 36, 1 ff. (S. 23 f.). 201 Vgl. zu den Theorien im Einzelnen D. Blumenwitz, Friedensvertrag, S. 71 ff. 202 So R. Wittkowski, Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, S. 178 m. w. N. (Fn. 21–24). Die Bundesrepublik führte zahlreiche Vorkriegsverträge des Deutschen Reichs als ein mit diesem identisches Völkerrechtssubjekt fort, anstatt sie als dessen Rechtsnachfolger zu übernehmen. Außerdem bekannte sich die Bundesrepublik im Londoner Schuldenabkommen völkerrechtlich zu den Schulden des Deutschen Reichs (Text: BGBl. 1953 II, S. 333 ff.; die Parteien des Abkommens gingen davon aus, dass die Bundesrepublik die Verbindlichkeiten „Deutschlands“ schuldet,
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tig auch vom BVerfG vertreten203. Anzumerken ist allerdings, dass es im „Grundvertrags-Urteil“204, aufgrund der unterschiedlichen räumlichen Ausdehnung von Deutschem Reich sowie Bundesrepublik und wegen der Beschränkung der bundesdeutschen Hoheitsgewalt auf den Geltungsbereich des GG, zunächst einschränkend von einer Teilidentität spricht. Erst seit dem „Teso-Beschluss“205 ging es völkerrechtlich, insbesondere im Hinblick auf die völkerrechtlichen Rechte und Pflichten aus Verträgen, von der allein rele vanten Subjektsidentität aus206. Aufgrund dieser Entwicklungen stellte sich die Frage nach dem völkerrechtlichen „Schicksal“ der DDR. In Betracht kam eine Sezession207. Ins besondere in den 1970er- und 1980er-Jahren wurde eine „Abspaltung“ vo rangetrieben. Völkerrechtlich scheiterte dieser sich faktisch fortentwickelnde Sezessionsversuch aber am fortbestehenden „Vier-Mächte-Status“, der sich – wie voranstehend bereits ausgeführt – auf Deutschland als Ganzes bezog. Insofern konnte eine vollendete Sezession nicht ohne die Zustimmung der Vier Mächte erfolgen. Eine derartige Zustimmung lag allerdings nicht vor. Darüber hinaus wäre eine vollständige Sezession auch nicht vom Selbstbestimmungsrecht der Völker gedeckt gewesen.208 Aus diesen vorgenannten Gründen lehnte letztlich auch das BVerfG eine vollendete Sezession ab. Mit dem zwischen den beiden deutschen Teilstaaten am 18. Mai 1990 abgeschlossenen und am 30. Juni 1990 in Kraft getretenen Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion209, der nach Satz 4 der Präambel einen bedeutenden Schritt zur Herstellung der staatlichen Einheit nach Art. 23 GG darstellte, wurde schließlich der Sezessionsversuch auch faktisch abgebrochen. Gleichwohl waren zu diesem Zeitpunkt beide Teilstaaten nach der Ratifizierung dieses Staatvertrages – der den gemeinsamen Willen zur baldi-
es wurde nicht eine Schuld- oder Haftungsübernahme für die Verbindlichkeiten eines untergegangenen Schuldners vereinbart; vgl. BVerfGE 77, S. 137 ff., 156). Aufgrund der Akzeptanz dieser Staatenpraxis durch die Staatengemeinschaft erlangte das Identitätsverhalten der Bundesrepublik völkerrechtliche Relevanz. 203 Vgl. BVerfGE 6, 309 ff. (S. 338), sog. „Konkordatsurteil“. 204 BVerfGE 36, 1 ff. 205 BVerfGE 77, 137 ff. 206 Vgl. zum „Teso-Beschluss“ D. Blumenwitz, Deutsche Staatsangehörigkeit und deutscher Staat, in: JuS 1988, S. 607 ff. 207 Eine Sezession liegt völkerrechtlich vor, wenn sich von einem rechtlich fortbestehenden Staat ein Gebietsteil loslöst und verselbstständigt. Auf diese Weise entsteht ein „neuer“ Staat, ohne dass der „alte“ Staat rechtlich untergeht. Vgl. D. Blumenwitz, Denk ich an Deutschland, S. 218. 208 R. Wittkowski, Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, S. 179. 209 Text vgl. Bulletin, Nr. 63 vom 18. Mai 1990, S. 517–544.
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gen Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands zum Ziel hatte210 und somit eine „Vorstufe“ zur deutschen Einheit darstellte – selbstständige Völkerrechtssubjekte geblieben. Die DDR hatte zu diesem Zeitpunkt lediglich gewisse Hoheitsrechte auf Institutionen der Bundesrepublik übertragen211. Aufgrund der Identität der beteiligten Völkerrechtssubjekte gab es keine sukzessionsrechtlichen Probleme212. Art. 35 des Staatsvertrages bestimmt ausdrücklich, dass er völkerrechtliche Verträge der beiden deutschen Teilstaaten mit Drittstaaten unberührt lässt. Durch den von der Volkskammer der DDR am 25. August 1990 verabschiedeten213 mit Wirkung zum 3. Oktober 1990 vollzogenen „Beitritt“ der DDR gem. Art. 23 S. 2 GG wurde die Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung vollendet214. Er wurde auf Grundlage des „Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31.8.1990“215 vollzogen216. Sukzessionsrechtlich wurde der gesamte Vorgang dahingehend bewertet, dass Art. 23 S. 2 GG vom Wortlaut her lediglich das Schicksal der Bundesrepublik bzw. der „beigetretenen Teile Deutschlands“ nach erfolgtem Beitritt regelt. Der Beitritt der DDR zum GG, d. h. zu einer Norm, war nicht möglich. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive beschreibt das BVerfG den Vorgang als „Vereinigung mit der Bundesrepublik“217. Völ-
210 Damit wurde letztlich vertraglich verankert, was schon die Bevölkerung der DDR durch die friedliche und demokratische Revolution im Herbst 1989 im Rahmen des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volks eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht hatte. 211 Vgl. Art. 3 S. 3 Gesetz über die Deutsche Bundesbank, wonach die Deutsche Bundesbank und die Bundesaufsichtsämter für das Kredit- und das Versicherungswesen (heutige BaFin) die ihnen nach diesem Vertrag und nach diesen Rechtsvorschriften zustehenden Befugnisse im gesamten Geltungsbereich des Staatsvertrages ausüben. 212 In diesem Stadium des Einigungsprozesses bildeten die beiden deutschen Teilstaaten – abgesehen von ihren besonderen inter-se-Beziehungen – lediglich eine Vertragsgemeinschaft. Eine solche Staatengemeinschaft ist mangels gemeinsamer Organe und mangels gemeinsamer politischer Angelegenheiten eine noch losere Staatenverbindung als ein Staatenbund. So R. Wittkowski, Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, S. 181 m. w. N. 213 Vgl. GBl. der DDR 1990 I, S. 1324 = BGBl. 1990 I, S. 2057. 214 Vgl. den zweiten Satz der Präambel des deutschen Grundgesetzes in der gem. Art. 4 Ziff. 1 Einigungsvertrages (nachfolgend: EinV) festgelegten Fassung (vgl. BGBl. 1990 II, S. 890). 215 BGBl. 1990 II, S. 889 ff. 216 Dieser Vertrag regelt nicht nur die Voraussetzungen des „Beitritts“, sondern in erster Linie die aus der deutschen Einigung resultierenden rechtlichen Probleme. 217 BVerfGE 36, 1 ff. (S. 29).
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kerrechtlich handelte es sich bei dem Einigungsvorgang um einen Zusammenschluss („Fusion“) von Staaten218. Als Sukzessionskategorien kamen die freiwillige Eingliederung eines Staates (DDR) in einen schon bestehenden Bundesstaat (Bundesrepublik) oder die Gründung eines neuen Bundesstaates in Betracht. Wie bereits expliziert, erfolgt die Abgrenzung zwischen diesen beiden Formen von Staatenzusammenschlüssen anhand objektiver und subjektiver Kriterien. Als objektives Kriterium dient zunächst der Wortlaut des Art. 23 S. 2 GG. Das Wort „Beitritt“ impliziert, dass „die anderen Teile Deutschlands“ sich einem Staatsgebilde anschließen – der Bundesrepublik Deutschland – welches auch nach dem Beitritt fortexistiert.219 Von entscheidenderer Bedeutung sind allerdings die subjektiven Kriterien, d. h. insbesondere der Wille der unmittelbar am Zusammenschluss beteiligten Staaten. Hierbei ist in erster Linie das Selbstverständnis der Bundesrepublik zugrunde zu legen, wonach diese erst das ist, was sie sein will, wenn die anderen Teile Deutschlands ihr angehören220. Die DDR war ein in Sezession befindlicher Staat, dessen Sezessionsversuch mit der friedlichen Revolution im Herbst 1989 beendet wurde. Diesem Selbstverständnis nach bestimmt Art. 1 Abs. 1 EinV, dass die dort genannten Länder Bundesländer der (fortbestehenden221) Bundesrepublik Deutschland werden. Das Völkerrechtssubjekt DDR findet dort keine Erwähnung mehr. Nach dem Willen der beiden deutschen Teilstaaten besteht somit die Bundesrepublik Deutschland nach dem Beitritt der DDR gem. Art. 23 S. 2 GG als Völkerrechtssubjekt um das Gebiet der fünf „neuen“ Bundesländer erweitert fort. Die DDR ging dabei als Völkerrechtssubjekt ganz und gar unter.222 Dieses Ergebnis wurde gleichfalls von der Staatengemeinschaft übernommen, die nach dem 3. Oktober 1990 völkerrechtliche Verträge mit der Bundesrepublik Deutschland und nicht mit der DDR oder einem anderen deutschen Staat abschlossen223. Auch die – deutsche – Völkerrechtsliteratur 218 Vgl. J. Frowein, Rechtliche Probleme der Einigung Deutschlands, in: EA 45 (1990), S. 233. 219 So löst sich auch keine internationale Organisation nur deshalb auf, weil ihr ein weiteres Mitglied beitritt – vgl. z. B. Art. 10 NV. 220 So die Aussage des BVerfG bei der Bestimmung von Inhalt und Bedeutung des Art. 23 GG – vgl. BVerfGE 36, 1 ff. (S. 28). 221 Anm. d. Verf. 222 R. Wittkowski, Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, S. 184. 223 Vgl. z. B. den Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion über den befristeten Aufenthalt und die Modalitäten des planmäßigen Abzugs der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland (Text: BGBl. 1991 II, S. 256 ff.) oder den Grenzbestätigungsvertrag mit Polen vom 14. November 1990 (Text: Bulletin Nr. 134 vom 16. November 1990, S. 1394).
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schließt sich diesem Ergebnis fast ausnahmslos an224. Im Verhältnis zum fortbestehenden Deutschen Reich hat die durch den „Beitritt“ erfolgte Gebietsvergrößerung der Bundesrepublik Deutschland um das Gebiet der nicht mehr existierenden DDR nichts an der Subjektsidentität zwischen dem deutschen Gesamtstaat und der Bundesrepublik Deutschland geändert. Diese setzt den im Jahr 1867 bzw. 1871 gegründeten deutschen Staat in ihrer derzeitigen Gebietsgröße fort225. Kraft des am 12. September 1990 in Moskau zwischen den beiden deutschen Teilstaaten und den Alliierten des Zweiten Weltkriegs geschlossenen „Vertrag(s) über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“ (Zwei-plus-Vier-Vertrag)226, erhielt „das vereinte Deutschland“ gem. Art. 7 Abs. 2 Zwei-plus-Vier-Vertrag die „volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten“227. Mit diesem Vertragswerk wurden die am 13. Februar 1990 auf der Konferenz der Außenminister der NATO und des 224 Vgl. z. B. die Ansichten der Teilnehmer der Sondertagung der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer im April 1990 in Berlin zusammengefasst bei G. Gornig, Deutschlands aktuelle Verfassungslage in: Der Staat 29 (1990), S. 371 ff.; D. Murswiek, Deutschlands aktuelle Verfassungslage, in: JZ 45 (1990), S. 682 ff.; vgl. ferner K. Hailbronner, Völker- und europarechtliche Fragen der deutschen Wiedervereinigung, in: JZ 45 (1990), S. 449 ff.; J. Frowein, Germany Reunited, in: ZaöRV 51 (1991), S. 333 ff.; S. Oeter, German Unification and State Succession, in: ZaöRV 51 (1991), S. 351 ff. Zu anderen sukzessionsrechtlichen Konsequenzen – im Ergebnis aber gleich – kommt E. Klein, Wiedervereinigungsklauseln der BRD, in: G. Brunner et al. (Hrsg.), Sowjetsystem und Ostrecht, FS Boris Meissner, S. 788. 225 Vgl. für viele J. Frowein, Die Verfassungslage Deutschlands im Rahmen des Völkerrechts, in: VVDStRL 49 (1990), S. 25 f. 226 Text: BGBl. 1990 II, S. 1318 ff. Eine ausführliche Kommentierung dieses auch als „Souveränitätsvertrag“ bezeichneten Abkommens nimmt D. Blumenwitz, Der Vertrag vom 12.9.1990, in: NJW 43 (1990), S. 3041 ff. vor. 227 In der völkerrechtlichen Praxis zeigt sich mitunter, dass Souveränitätserklärungen in völkerrechtlichen Verträgen einen rein politischen Charakter haben und darauf abzielen, „die in Wirklichkeit fehlende Souveränität zu verdecken“. Exemplarisch dafür steht der britisch-ägyptische Vertrag vom 28. August 1936, in dem Ägypten als „souveräner und unabhängiger Staat“ bezeichnet wurde, während das Land tatsächlich erst im Jahre 1954 unabhängig wurde. Auch in den Pariser Verträgen vom 23. Oktober 1954 wurde in Bezug auf die Souveränität der Bundesrepublik eine Formulierung gebraucht („volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten“), die durch Auslegung des gesamten Vertragstexts bedeutete, dass wegen fortgeltenden Besatzungsrechts lediglich eingeschränkte Souveränität verliehen wurde. Vgl. C. Raap, Die Souveränität Deutschlands, S. 106 f. Durch die Veröffentlichungen des US-amerikanischen Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden im Zusammenhang mit der Erfassung von Kommunikationsdaten deutscher Staatsbürger durch den US-amerikanischen Geheimdienst NSA, ist die Frage der „vollen Souveränität“ Deutschlands öffentlich erneut aufgeworfen worden. Vgl. u. a. R. Müller, in: FAZ v. 16. Juli 2013, S. 8; G. Palmberger, in: FAZ v. 20. Juli 2013, S. 9.
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WP in Ottawa ins Leben gerufenen „Zwei-plus-Vier-Gespräche“228, in deren Verlauf die „äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit, einschließlich der Fragen der Sicherheit der Nachbarstaaten“ abgeklärt werden sollten, abgeschlossen229. Das Vertragswerk enthält in Art. 5 und 6 Zwei-plus-Vier-Vertrag Regelungen zu Bündnis- und Stationierungsfragen. Gem. Art. 6 Zwei-plus-Vier-Vertrag hat das vereinte Deutschland das Recht, „Bündnissen mit allen sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten anzugehören“. Damit bildete diese Norm die Rechtsgrundlage dafür, dass die Bundesrepublik Deutschland auch in der – aktuellen – gebietserweiternden Form Mitglied der NATO bleiben konnte230.
228 Zu den „Zwei-plus-Vier-Gesprächen“ fanden im Jahr 1990 insgesamt vier Treffen der Außenminister statt: Am 5. Mai in Bonn; am 22. Juni in Berlin; am 17. Juli unter Beteiligung des Außenministers der Republik Polen in Paris und schließlich am 12. September in Moskau. 229 R. Wittkowski, Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, S. 209. 230 Die Zugehörigkeit des vereinten Deutschlands zur NATO war im Rahmen der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen eines der zentralen Probleme und wurde von der Sow jetunion zunächst strikt abgelehnt (vgl. J. Dawydow/D. Trenin, Die Haltung der Sowjetunion gegenüber der Deutschen Frage, in: EA 45 (1990), S. 260 f.). Stattdessen hatte die Sowjetunion sowohl ein Neutralitätsstatut für das vereinte Deutschland als auch eine assoziierte Mitgliedschaft eines neuen deutschen Staates in zwei Bündnissen vorgeschlagen. Erst bei den Gesprächen am 15./16. Juli 1990 in Moskau erreichte der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl die Zustimmung der Sowjetunion zur Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands in die NATO. Als Ausgleich für den reduzierten Einfluss der Sowjetunion in Deutschland und Mitteleuropa wurde die politische Zusammenarbeit durch den am 13. September 1990 in Moskau paraphierten Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit auf eine neue, intensivere Grundlage gestellt (Text: Bulletin, Nr. 133 vom 15. November 1990, S. 1379–1382; der Vertrag wurde am 9. November 1990 in Bonn von Präsident Michael Gorbatschow und Bundeskanzler Kohl unterzeichnet). Von besonderer Bedeutung ist die in Art. 3 dieses Vertrages enthaltene Gewaltverzichtsklausel, wonach Deutschland und die Sowjetunion „niemals und unter keinen Umständen als erste Streitkräfte gegeneinander oder gegen dritte Staaten einsetzen“ werden (Art. 3 Abs. 2); ferner Abs. 3: „Sollte eine der beiden Seiten zum Gegenstand eines Angriffs werden, so wird die andere Seite dem Angreifer keine militärische Hilfe oder sonstigen Beistand leisten und alle Maßnahmen ergreifen, um den Konflikt unter Anwendung der Grundsätze und Verfahren der Vereinten Nationen und anderer Strukturen kollektiver Sicherheit beizulegen“. Aufgrund der Unberührtheitsklausel in Art. 21 des Vertrages ist wohl allerdings von einem Vorrang deutscher Rechte und Pflichten aus dem NV auszugehen. Vgl. D. Blumenwitz, Der Vertrag vom 12.9.1990, in: NJW 43 (1990), S. 3046 f.; R. Wittkowski, Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, S. 235 f.
A. Die Entwicklung der NATO von der Territorial- zur Interessenverteidigung 85
III. Die jüngere Geschichte der NATO Anders als in der Phase unmittelbar nach Gründung des Nordatlantikbündnisses im Jahre 1949 – als die NATO sich ganz auf ihre Verteidigungsstra tegie konzentrierte – trat spätestens seit dem weltpolitischen Umbruch der Jahre 1989/90 ein Wandel in der Ausrichtung231 und Außendarstellung des Bündnisses ein. Während sich das Verteidigungsbündnis Ende der 1940er- und 1950erJahren im Schatten der Polarisierung der Welt zwischen Ost und West zunehmend militärisch entwickelte, fand mit dem Ende der Sowjetunion für die darauffolgende zwanzigjährige Periode des Darniederliegens der Russischen Föderation eine vorgebliche Verlagerung des Gravitationspunkts weg vom Ost-West-Konflikt hin zur Nutzung des Bündnisses für „neue Aufgaben“ jenseits der Verteidigung statt. Denn das vielfach prophezeite „Ende der Geschichte“232 trat mit Ende der Sowjetunion keineswegs ein. Stattdessen setzten mit der Globalisierung einerseits sowie einer vielfachen Abschottung andererseits zwei scheinbar gegenläufige Entwicklungen ein. Dies war wohl ein Tribut an die Ungleichzeitigkeit, die sich im Schatten des „Kampfs der Systeme“ herausgebildet hatte, deren Wurzeln aber zumeist noch weiter zurückreichen und die auch zukünftige Konfliktlinien bestimmen dürfte. Diese Tendenzen enthielten das Potenzial in sich, die zweite Prophezeiung der 1990er-Jahre zu erfüllen – den „Kampf der Kulturen“233. So wurden nach dem Zerfall der Sowjetunion alte, zu Zeiten des Ostblocks lediglich oberflächlich und kraft repressiver Staatsgewalt unterdrückte Querelen, wieder sichtbar und neue, nationalistisch oder ethnisch motivierte Grenzen gezogen, wie etwa im Vielvölkerstaat Jugoslawien234. Das Nordatlantikbündnis reagierte auf diese Entwicklungen, indem es für sich in Anspruch nahm, neben dem eigentlichen Verteidigungsauftrag auch „friedensschaffende Aufgaben“ wahrnehmen zu wollen, die ebenfalls „Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung“ inkludieren. Gleichzeitig wurden mit demokratischen Staaten in Mittel- und Osteuropa Konsultations organe abgeschlossen. Dadurch gelang es der NATO, die Anzahl der Mitgliedstaaten im Laufe der Jahre auf mittlerweile 29 zu erhöhen. Alle seit 231 Zur
strategischen Ausrichtung des Bündnisses ausführlich Teil I., Kap. 1, C. The End of History and the Last Man, passim. 233 S. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, passim. Vgl. auch J. Föh, Bekämpfung des internationalen Terrorismus, S. 112 ff. 234 Jugoslawien war das erste „Ziel“ der neuen US- und NATO „Expansionspolitik“ – unterstützt von der Europäischen Union – in der Staaten nahe der ehemaligen Sowjetunion, aber nicht formell Mitglieder des WP, mit der neuen Ausrichtung in Berührung kamen. 232 F. Fukuyama,
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Teil 1, Kap. 1: Das System der NATO
1999 dazugekommenen Mitgliedstaaten entstammen dem ehemaligen „Ostblock“. Neben dieser Erhöhung waren es die Konflikte außerhalb des Bündnisgebiets, die es „initiierte“ oder an denen es aktiv mitwirkte, und die Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind. Aber nicht nur diese Interventionen des Bündnisses prägten die jüngere Geschichte, sondern auch die weiterhin bestehenden – und seit 2005 wieder zunehmenden – „Spannungen“ mit Russland. Auslöser waren u. a. das geplante Raketenabwehrprogramm der NATO zur Erfassung und Bekämpfung gegnerischer Kurz- und Mittelstreckenraketen in Osteuropa, durch das sich Russland bedroht sah; zudem der zunehmende Einfluss des Bündnisses auf das Land, insbesondere durch die Stationierung von NATO-Truppenteilen in Osteuropa235 sowie durch das Verhalten in den Konflikten der Ukraine sowie Syrien.
IV. Die Grundhaltung und das Verhältnis Russlands zur NATO Das Verhältnis zwischen Russland und der NATO kann durchweg als diffizil bezeichnet werden. Zu Zeiten der Militärblockpolitik standen sich die beiden Militärbündnisse feindlich gegenüber, was insbesondere für das Verhältnis der beiden (zumindest damaligen) Weltmächte Sowjetunion und USA galt. Nach der welthistorisch einmaligen friedlichen „Selbstauflösung“ des sowjetischen Imperiums236 bot sich die völlig neue internationale Situa235 NATO Enhanced Forward Presence (eFP). Sie ist eine Aufrüstungsinitiative zur Sicherung der NATO-„Ostflanke“ des Bündnisses und wurde im Juli 2016 auf dem NATO-Gipfel in Warschau beschlossen. 236 Die durch die Alma-Ata-Deklaration (auszugsweise: Fundstellennachweis B, BGBl II 2007, S. 165) vom 21. Dezember 1991 aufgelöste Sowjetunion war der sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs herausbildende „Gegenpol“ der westlichen Alliierten. Russland erklärte sich Ende 1991 zum „Fortsetzerstaat“ der Sowjetunion und übernahm alle völkerrechtlichen Rechte und Pflichten der Sowjetunion. Die Entstehung der Sowjetunion geht auf das Jahr 1917 zurück. Durch die Februar revolution 1917 – bei der es zur Entmachtung des zaristischen Russlands kam – und die wenige Monate später durch die Bolschewiki unter der Führung Lenins initiierte Oktoberrevolution führte zur Ausrufung der „Russischen Sozialistischen Sowjetrepu blik“. Nach der Oktoberrevolution entwickelte sich in weiten Teilen des Landes ein Bürgerkrieg, der bis Ende 1920 andauerte. Mehrere Armeen bekämpften sich gegenseitig. Die sich gegenüberstehenden Hauptkonkurrenten waren die „Weiße“ und die „Rote Armee“, die aus den kämpferischen Auseinandersetzungen siegreich hervorging. Schließlich wurde am 19. Juli 1918 die erste Verfassung der „Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik“ (RSFSR) angenommen. Zu diesem Zeitpunkt – am Ende des Ersten Weltkriegs – befand sich nur Zentralrussland unter bolschewistischer Herrschaft. Mit dem Sieg der Roten Armee wurden benachbarte Länder (Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Ukraine und Weißrussland) in den Staatsverband „zurückgeholt“. Mit der formell im 27. Dezember 1922 vollzogenen
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tion, das Verhältnis zwischen „dem Westen“ und Russland neu zu gestalten237. Allerdings blieb eine grundlegende und zukunftsorientierte Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Russland, der NATO – aber auch den USA und der Europäischen Union –, die der tiefen Zäsur der globalen Verhältnisse gerecht würde, trotz verschiedener Anläufe, Absichtserklärungen und einzelner Vereinbarungen bisher von beiden Seiten aus. Aufseiten Russlands empfindet man bis heute eine tiefe Enttäuschung darüber, dass die historischen Leistungen Gorbatschows238 und des gesamten Landes an dem einmaligen „Abtreten“ nicht hinreichend gewürdigt wurden. So empfinden viele, dass Gorbatschows Vision vom „gemeinsamen europäischen Haus“ oder des US-amerikanischen Präsidenten Bush Sen.239 „Europe – whole und free“ auf West- und Mitteleuropa begrenzt und Russland außen vorgelassen wurde240. „Wiedervereinigung“ der jeweiligen sozialistischen Sowjetrepubliken zur „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ (UdSSR oder Sowjetunion) wurde die Sowjetunion gegründet. Diese historische Entwicklung ist jedoch nur vor der historischen Charakteristik der außenpolitischen Lage jener Zeit (Friede von Brest-Litowsk, Wirtschaftsblockade der alliierten Mächte, Ausschluss von den Pariser Friedensverhandlungen und der Gründung des Völkerbundes) nachzuvollziehen. Umfassend zu den Hintergründen der Entstehung der Sowjetunion unter Heranziehung von Originalquellen: M. Geistlinger, Revolution und Völkerrecht, S. 151 ff. In der Folge wurde im gesamten Gebiet der Sowjetunion kommunistische Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen durchgesetzt. Insgesamt setzte sich die Sowjetunion aus Russland sowie 14 weiteren europäischen und asiatischen Staaten zusammen (Im Jahre 1924 wurden Turkmenistan und Usbekistan; 1929 Tadschikistan; 1936 Kirgistan und Kasachstan; 1940 Estland, Lettland. Litauen, Moldawien und der finnische Teil von Karelien zu Sowjetrepubliken erklärt.). Ende 1991 hörte die Sowjetunion mit der Schaffung der „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ (GUS), die am 8. Dezember 1991 von Russland, der Ukraine und Weißrussland gegründet worden war, endgültig auf zu existieren. Vgl. M. Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 25 ff. und S. 105 ff.; H.-J. Torke, Historisches Lexikon der Sowjetunion, S. 305 ff. und S. 385 ff. 237 A. Brie, Russland und NATO, in: P. Brandt (Hrsg.), Der große Nachbar im Osten, S. 161. 238 Michail Sergejewitsch Gorbatschow (russ. Михаил Сергеевич Горбачёв), * 2. März 1931 in Priwolnoje (UdSSR) ist ein russischer Politiker. Er war vom 11. März 1985 bis 24. August 1991 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und vom 15. März 1990 bis 25. Dezember 1991 Staatspräsident der Sowjetunion. Durch seine Politik der Glasnost (Offenheit) und der Perestroika (Umbau) leitete er die Annäherung der Sowjetunion an den Westen und die Auflösung der Sowjetunion ein. Er erhielt 1990 den Friedensnobelpreis. 239 George Herbert Walker, * 12. Juni 1924 in Milton (Mass.), † 30. November 2018 in Houston (Texas), war ein US-amerikanischer Politiker der Republikanischen Partei und vom 20. Januar 1989 bis 20. Januar 1993 der 41. Präsident der USA. 240 A. Brie, Russland und NATO, in: P. Brandt (Hrsg.), Der große Nachbar im Osten, S. 162 f.
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Zwei Autoren des Washingtoner „Institute for National Strategic Studies“ und der Georgetown University241 machten die uneinheitliche russlandpolitische Position der westlichen Staaten anhand einer Studie sichtbar. Darin skizzierten sie die differierende Haltung des Westens gegenüber dem sog. Medwedjew-Plan, eine „Gesamteuropäische Sicherheitsgemeinschaft“ zu errichten: Während den USA eine „Weltmachtagenda“ vorschwebt, in der es die Möglichkeit einer russischen machtpolitischen Renaissance einzudämmen gilt, setzen Frankreich und Deutschland den eher positiv gegenüber Russland aber nicht aktiv agierenden „Paris-Berlin-Konsens“ entgegen. Und schließlich wird an dritter Stelle der ablehnende, vom Vereinigten Königreich assistierte „Warschau-Tallin-Konsens“ genannt, in dessen Rahmen die mittel- und osteuropäischen NATO- und EU-Mitglieder Russland weiterhin als Gefahr betrachten und daher zu einer antirussischen Politik drängen.242 Deutsche Stimmen – die im linkspolitischen Lager zu verorten sind – verweisen darauf, dass in dieser Studie das Grundproblem der westlichen Russlandpolitik seit 1990 zum Ausdruck kommt, wonach man nicht zum notwendigen radikalen Wandel bereit sei und „faktisch noch immer von ideologischen und geschichtlichen Bedrohungsperzeptionen, tiefem Misstrauen und Relikten des kalten Krieges überlagert“243 wird. Aber auch in anderen Bereichen zeigen sich nach wie vor die tiefen Gräben zwischen beiden Seiten. So litten vor allem die russisch/US-amerikanischen und multilateralen Rüstungskontroll- und Abrüstungsbemühungen. Der für die russisch/US-amerikanische nuklearstrategische Stabilität entscheidende Vertrag über die Begrenzung der Raketenabwehrwaffen (ABM)244 wurde gekündigt und auch der Kernwaffenteststopp-Vertrag (CTBT)245 trat bislang nicht in Kraft. Bezeichnend für das „Verhältnis“ ist überdies, dass die Initiative des russischen Präsidenten Medwedew246 aus dem Jahre 2008, eine „Sicherheitsgemeinschaft von Vancouver bis Wladiwostok“ zu schaffen, für 241 E. Rumer/A. Stent, Russia and the West, in: Survival: Global Politics and Strategy 51 (2009), S. 91 ff. 242 A. Brie, Russland und NATO, in: P. Brandt (Hrsg.), Der große Nachbar im Osten, S. 162. 243 Ders., ebd., S. 163. 244 Anti-Ballistic Missile Treaty. Am 13. Juni 2002 traten die USA einseitig vom Vertrag zurück, nachdem sie, wie vertraglich festgelegt, sechs Monate zuvor eine Absichtserklärung abgegeben hatten, in der sie Russland den Rücktritt ankündigten. 245 Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty. Dieser wurde von den USA bisher nicht ratifiziert (Stand: Februar 2017). 246 Dmitri Anatoljewitsch Medwedew (russ. Дмитрий Анатольевич Медведев), ́ ́ ́ * 14. September 1965 in Leningrad, ist ein russischer Politiker, der vom 7. Mai 2008 bis 7. Mai 2012 Präsident Russlands und seit dem 8. Mai 2012 Ministerpräsident der Russischen Föderation ist.
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die er am 28. November 2009 einen Vertragsentwurf247 vorlegte und die letztlich eine Hinwendung zu einem eurotransatlantischen Multilateralismus bedeuten würde, seitens der NATO- und EU-Staaten nicht weiter aufgenommen wurde248. Am problematischsten im Verhältnis zu Russland und der NATO ist jedoch die Tatsache zu nennen, dass viele Staaten Mittel- und Osteuropas den Wunsch ausdrückten, in die westliche Staatengemeinschaft – transatlantische Zusammenarbeit und volle NATO-Mitgliedschaft inbegriffen – aufgenommen zu werden249. Zehn Jahre später, im Jahr 1999, traten schließlich die Tschechische Republik, Ungarn und Polen dem Nordatlantischen Bündnis bei. Am 29. März 2004 schlossen sich weitere postkommunistische Länder wie Bulgarien, Rumänien, Slowenien, die Slowakei sowie die drei baltischen Republiken zusammen mit Zypern und Malta an.250 Seit 1. April 2009 sind Albanien und Kroatien sowie seit 5. Juni 2017 Montenegro beigetreten. Offizielle Beitrittskandidaten sind zudem Bosnien-Herzegowina und Mazedonien. War Anfang der 1990er-Jahre, nach dem unblutigen Ende der Sowjetunion, oftmals von einer „romantische(n) Periode“ die Rede, entwickelten sich die Beziehungen ab 1993/94 zunehmend schwieriger, da Russland auf Abstand zur NATO und den ehemaligen WP-Staaten ging, die in das Bündnis drängten251. War dieses Verhalten in erheblichem Maß von taktischen Überlegungen vonseiten Russlands geprägt, bedeutete dies für die NATO, dass es zunehmend schwieriger wurde zwischen Taktik und wirklichen Sicherheitsinteressen zu unterscheiden252. Da für das Nordatlantische Bündnis die Sicherheit 247 President of Russia: The draft of the European Security Treaty (unofficial translation), 29. November 2009, abrufbar unter: http://eng.kremlin.ru/news/275, zuletzt am 7. Februar 2014. 248 A. Brie, Russland und NATO, in: P. Brandt (Hrsg.), Der große Nachbar im Osten, S. 165. 249 Der „Westen“ war Symbol der Freiheit und des Wohlstands. Vgl. O. Gyárfášová, Zukunft der NATO, in: APuZ 15–16/2009, S. 28. 250 Dieser Mitgliedschaft sind Jahre der Entwicklung der Zusammenarbeit vorausgegangen. Es begann Anfang der 1990er-Jahre mit der Schaffung eines institutionellen Rahmens im Zuge des NAKR, konkreten Kooperationsaktivitäten im Rahmen der PfP und mit der Schaffung des Euro-Atlantischen Partnerschaftsrates (EAPR). Ausführlich hierzu: T. Sprungala, NATO und ehemalige WP-Staaten, in: APuZ 1999 (B 11/99), S. 40 ff. 251 Russland verurteilte jegliche Beitrittsbestrebungen der Mittel- und Osteuropäer und forderte ein besonderes Verhältnis mit dem atlantischen Bündnis ein, das dem Großmachtstatus Russlands entsprechen sollte. Russland begann die Fortsetzung bzw. Beendigung der Kooperation als Druckmittel einzusetzen, um diese Forderung nach einer Sonderbehandlung durchzusetzen. Vgl. ders., ebd., S. 43 f. 252 Die NATO musste insbesondere auf die innere Lage Rücksicht nehmen, da eine Destabilisierung Russlands nicht im Interesse der NATO lag. Vgl. ders., ebd., S. 44.
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und Stabilität des gesamten europäischen Raums Priorität besaß, war es bereit, ein Sonderverhältnis mit Russland zu etablieren. Infolgedessen wurde im Jahr 1994 die Entwicklung kooperativer Beziehungen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Partnership for Peace253 vereinbart254. Es folgten regelmäßige Treffen des NATO-Rates mit den russischen Außen- und Verteidigungsministern. Im Mai 1994 wurden die Beziehungen auf eine neue Grundlage gestellt, als die NATO und die Russische Föderation die „Grundakte über Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicher heit“255 unterzeichneten. Kernstück der Grundakte ist die Errichtung des NATO-Russland-Rates256, der als Konsultationsforum dient. Über die OSZE hinaus wurde Russland damit auf einer institutionalisierten Basis in die europäische Sicherheitsarchitektur eingebunden, auch um einer Isolation vorzubeugen257. Die Beziehungen zwischen beiden Seiten verbesserten sich in der Folge dadurch allerdings nicht – es stellten sich eher gegenteilige Tendenzen ein. Ursächlich dafür waren neben der NATO-Osterweiterung und den Balkankriegen die einseitige Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo durch westliche Staaten sowie die „Beitrittsavancen“ des Bündnisses an die Ukraine und Georgien. Die Grenze der Gemeinsamkeit wurde schließlich 2008 erreicht, als die Kaukasus-Krise in einem von Georgien „entfachten“258 Fünf253 Die Partnership for Peace ist eine 1994 ins Leben gerufene Verbindung zur militärischen Zusammenarbeit zwischen der NATO und 22 europäischen sowie asiatischen Staaten, die keine NATO-Mitglieder sind. 254 Vgl. eine Zusammenfassung der Gespräche zwischen dem NATO-Rat und dem russischen Außenminister Andrei Kosyrew am 22. Juni 1994, in: NATO Brief 4/1994, S. 5. 255 Text abgedruckt in: IP 9/1997, S. 76–84. 256 Vgl. Abschnitt II., IP 9/1997, S. 78 ff. Der NATO-Russland-Rat soll zur verbesserten Zusammenarbeit zwischen den NATO-Staaten und Russland in Fragen der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik dienen. 2002 wurde der fünf Jahre zuvor als Konsultationsforum gegründete „Gemeinsame Ständige NATO-Russland-Rat“ zum „NATO-Russland-Rat“ weiterentwickelt. Im Zuge der militärischen Konflikte kam es bereits mehrfach zur Aussetzung der Konsultationen – so im Kosovo- und Georgien-Konflikt. Zuletzt wurde im Zuge des U kraine-Konflikts im September 2014 seitens der NATO jede praktische militärische und zivile Zusammenarbeit ausgesetzt. Nach zweijähriger Pause tagte der Rat erstmalig wieder am 20. April 2016 in Brüssel. 257 T. Sprungala, NATO und ehemalige WP-Staaten, in: APuZ 1999 (B 11/99), S. 44. 258 Die offenen Kampfhandlungen begannen durch Artilleriebeschuss der Hauptstadt Südossetiens, Tskhinvali, durch georgische Streitkräfte. In Tskhinvali wurde das Hauptkommando der russischen friedenserhaltenden Truppen getroffen, was zum Einschreiten der russischen Armee führte. Daraufhin griffen aus dem Nordkaukasus russische Truppen ein, drängten die georgische Armee zurück und rückten bis ins
A. Die Entwicklung der NATO von der Territorial- zur Interessenverteidigung 91
tagekrieg zwischen Russland und Georgien um die beiden abtrünnigen Republiken Abchasien und Südossetien mündete. Die NATO unterbrach alle offiziellen Kontakte zu Russland. Es folgte eine Phase, die als „gefühlter Kalter Krieg“ zwischen beiden bezeichnet werden kann259. Eine weitere Belastung für das Verhältnis stellt der geplante US-amerikanische Raketenschild in Osteuropa (Polen, Tschechien) dar. Unabhängig von der Frage, welche Auswirkungen das unilaterale Vorgehen der USA innerhalb des Bündnisses hervorgerufen hat, sieht sich Russland durch das Raketen abwehrprojekt unmittelbar betroffen. Die Schächte für die Abfangraketen sollen – dem Vernehmen nach – technisch auch für Offensivwaffen geeignet und der Radarschirm zur Funküberwachung des russischen Territoriums imstande sein. Anzumerken ist, dass bei einer Umsetzung des Projekts erstmals seit Ende des Kalten Kriegs wieder strategische Waffen in Mitteleuropa stationiert sein würden. Russland hält die Begründung der USA – mögliche Bedrohung durch „Schurkenstaaten“ – für nicht ausreichend, und schlägt selbst „ein integriertes Warn- und Raketenabwehrsystem vor, das ganz Europa abdecken soll.“260 Auch der NATO-Russland-Rat konnte die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Eine tiefgehende Kluft wurde Ende 2007 sichtbar, als es nicht zur Verabschiedung des bilateralen Kooperationsprogramms für 2008 kam261. Zudem setzte Russland im Jahr 2007 vorübergehend den KSE-Vertrag aus und begründete diesen Schritt damit, dass „dies eine angemessene Antwort auf dessen Nichterfüllung durch andere Vertragspartner“ sei262. Diese Entwicklungen wurden auf westlicher Seite „als Bruch des Rüstungskontrollsystems und als Abkehr vom Dialog mit dem Westen verurteilt“263. Schließlich beschlossen die NATO-Außenminister am 19. August 2008 die Sitzungen des NATO-Russland-Rates auszusetzen und gemeinsame Programme und Übungeorgische Kernland vor. Bis zum Waffenstillstand am 12. August wurden insgesamt etwa 850 Menschen getötet sowie zwischen 2.500 und 3.000 Menschen verwundet. Vgl. Independent International Fact-Finding Mission on the Conflict in Georgia (IIFFMCG Report), Vol. 2, S. 223. 259 Vgl. I. Rodionow, Russland und die NATO, in: APuZ 2009 (15–16/2009), S. 34. 260 I. Rodionow, Russland und die NATO, in: APuZ 2009 (15–16/2009), S. 36. 261 Auf Betreiben der USA forderte die NATO die Annahme des Programms von der Erfüllung des Vertrages über die Begrenzung konventioneller Waffen in Europa (KSE) abhängig zu machen. Dabei hatte das russische Parlament kurz zuvor die Aussetzung des Vertrages gebilligt. In der Verknüpfung beider Punkte sahen die Russen „eine List der Amerikaner“. Ders., ebd., S. 37. 262 Diese einseitige Suspendierung erklärte der russische Präsident Putin auf einer Konferenz im russischen Verteidigungsministerium am 20. November 2007. Vgl. ders., ebd., S. 37. 263 Ders., ebd., S. 37.
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Teil 1, Kap. 1: Das System der NATO
gen nicht mehr durchzuführen. Gleiches wiederholte sich 2014 im Zuge des Ukraine-Konflikts. Nach zweijähriger Pause tagte der NATO-Russland-Rat erstmals wieder am 20. April 2016 in Brüssel, um ein diplomatisches Vorankommen zu arrangieren264. Im Zuge der Diskussionen um die Zukunft der NATO wurde im Bündnis verschiedentlich offen über eine neue Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands debattiert265. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Russland und die NATO weiterhin in gegenseitigem Misstrauen gegenüberstehen. Deutlich zutage getreten ist dies in der Auseinandersetzung über die Frage, ob und wie in den syrischen Bürgerkrieg eingegriffen werden sollte sowie in der „Affäre“ um den ehemaligen russischen Geheimdienstmitarbeiter Sergej Skripal. Was die Zukunft der Beziehungen anbetrifft, wird in der politischen Literatur266 darauf hingewiesen, dass in Bezug auf die Frage, ob ein NATOBeitritt für Russland eine denkbare Perspektive sein kann, grundsätzlich drei Perspektiven bestehen. Aufgrund des bestimmenden Einflusses der USA wird ein Beitritt in das Bündnis lediglich dann möglich sein, wenn keine Sonderrechte gewährt würden. Demnach würde ein russisches Vetorecht einen Beitritt ausschließen. Ausgehend von der russischen Perspektive ist eine Mitgliedschaft grundsätzlich nicht auszuschließen. Bei der gegenseitigen Perspektive ist die Frage zu beantworten, ob Russland militärisch, strukturell, innenpolitisch eine „NATO-Reife“ erreichen kann. Diese Frage wird durch Rodionow mit einem „vorsichtigen Ja“ beantwortet, da die Erfahrungen der letzten Jahre gezeigt haben, dass „sich die NATO-Standards unter dem Druck der Zweckmäßigkeit relativieren“. Bei Betrachtung der innenpolitischen sowie außenpolitischen Entwicklung Russlands unter Präsident Putin267 ist jedoch zu konstatieren, dass sich Russland eher als Gegenmacht des Westens begreift und sich dementsprechend 264 Vgl.
S. 1.
NZZ vom 20. April 2016, Die NATO und Moskau kommen ins Gespräch,
265 So schrieb z. B. der deutsche Außenminister Steinmeier in einem offenen Brief an den US-amerikanischen Präsidenten Obama im Jahre 2009: „Die NATO werden wir auch in Zukunft bauchen. Aber: Zu lange haben wir eine ehrliche Aufgabendiskussion durch Erweiterung und Erweiterungsfragen vertagt. Heute brauchen wir eine grundsätzliche Verständigung über die zukünftige Ausrichtung des Bündnisses“. Weiterhin forderte er den US-amerikanischen Präsidenten auf, „an einer Partnerschaft (zu) arbeiten, die den gesamten Kontinent erfasst – auch Russland“. Der Spiegel, 3/2009, S. 28. 266 I. Rodionow, Russland und die NATO, in: APuZ 2009 (15–16/2009), S. 40. 267 Wladimir Wladimirowitsch Putin (russ. Владимир Владимирович Путин), * 7. Oktober 1952 in Leningrad ist ein russischer Politiker. Er ist seit dem 7. Mai 2012 Präsident der Russischen Föderation; dasselbe Amt hatte er bereits vom 7. Mai
A. Die Entwicklung der NATO von der Territorial- zur Interessenverteidigung 93
positioniert. Anhand der weltweiten Konflikte, insbesondere derjenigen in der Ukraine sowie in Syrien, werden die jeweiligen – unterschiedlichen – Interessen (nicht nur) der Konfliktparteien, sondern vor allem auch ihrer Unterstützer sichtbar.
V. Die weltpolitische Lage im Jahr 2018 – Multipolarität Gerade weil in der aktuellen268 weltpolitischen Lage geopolitisches Denken und Handeln bei der Beurteilung internationaler Lagen ständig zunimmt, bedarf es zumindest einer überblicksartigen Darstellung der Konflikte in der Ukraine269 und in Syrien270. Anhand beider Konflikte wird deutlich, dass die 2000 bis 7. Mai 2008 inne. Vom 9. August 1999 bis 7. Mai 2000 und erneut vom 8. Mai 2008 bis 7. Mai 2012 war er Ministerpräsident Russlands. 268 Stand: April 2018. 269 Der Krieg in der Ukraine ist ein bewaffneter Konflikt, der durch stetige Schritte der Eskalation ab Februar 2014 in den ostukrainischen Oblasten Donezk und Luhansk entstand und zu einer anhaltenden internationalen, völkerrechtlichen Krise führte. Die jeweiligen Vorgänge rund um die sog. (Euro)Maidan-Bewegung sind nach Geistlinger aus verfassungsrechtlicher Perspektive, aber auch unter Heranziehung von soziologischen und politologischen Revolutionstheorien, grundsätzlich als revolutionär zu qualifizieren; in Bezug auf die (Euro)Maidan-Bewegung als Ganzes sind die Kriterien für eine (völkerrechtliche) Revolution hingegen nicht erfüllt. Im Zusammenhang mit diesem Konflikt steht auch die sog. Krimkrise, die ein politischer, zeitweilig bewaffneter Konflikt um die Halbinsel Krim war. Nach Auffassung Geistlingers haben die Vorgänge in Bezug auf die Krim historisch deutlich weiter zurückliegende Wurzeln und auch eine andere rechtliche Qualität als der Kampf um die Macht in der Ukraine. So wird sowohl im Fall der Krim als auch in den Volksrepubliken Donezk und Luhansk die ukrainische Revolution von der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Völker überlagert. Da in allen drei Regionen ein unmittelbarer geschichtlicher Zusammenhang mit der Auflösung der Sowjetunion einhergeht, hat eine völkerrechtliche Beurteilung dort anzusetzen. Im Rahmen dieser Beurteilung kommt er zu dem Ergebnis, dass aus dem Blickwinkel des Selbstbestimmungsrechts des Volkes der Krim und der Geschichte dessen Ausübung nicht als Annexion bezeichnet werden kann. Das aufseiten der Russischen Föderation die eigentlichen Motive geopolitischer und militärisch-strategischer Natur gewesen sein mögen, ändere an dem Ergebnis nicht. Umfassend und mit weiteren Quellen: M. Geistlinger, Der Beitritt der Republik Krim zur Russländischen Föderation aus der Warte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, in: AVR 52 (2014), S. 175 ff. 270 Der Bürgerkrieg in Syrien ist eine militärische Auseinandersetzung zwischen Truppen der Regierung von Präsident Baschar al-Assad und den Kämpfern vieler Oppositionsgruppen. Auslöser des Bürgerkriegs war ein friedlicher Protest im Zuge des Arabischen Frühlings Anfang 2011, der zum bewaffneten Konflikt eskaliert ist. Eine wachsende Einflussnahme von Interessengruppen aus dem Ausland gewann mit der anhaltenden Auseinandersetzung an Bedeutung. Neben dem Zustrom von Geld und Waffen kämpften auch immer mehr ausländische Freiwillige und Söldner in Syrien. Die ursprüngliche Motivation der Opposition, die Demokratisierung Syriens zu erreichen, spielt seitdem nur noch eine geringe Rolle. Stattdessen trat der Kampf
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Teil 1, Kap. 1: Das System der NATO
Tendenz zu geopolitischem Denken und Handeln nicht nur bei Welt- und Großmächten ausgeprägt ist, sondern zunehmend ebenfalls bei zahlreichen Regionalmächten. Darüber hinaus haben diese Konflikte, aufgrund der besonderen geopolitischen Bedeutung beider Regionen, sowohl einen strategischen Bezug zum Nordatlantikbündnis als auch zu Russland. Seit deren Ausbruch wird ebendies zwar nicht ausdrücklich betont, jedoch mitunter akzentuiert. Gleiches gilt für das NATO-Mitglied Türkei. Sowohl für die Türkei als auch für die Ukraine ist die Geopolitik aufgrund der veränderten „Raum-Mächte-Konstellation“ ein zentrales Thema bei der machtpolitischen Lagebeurteilung geworden. Die Türkei – angesichts ihrer Lage an der Schnittstelle geopolitischer Großräume – mit dem Bestreben, die aufsteigende Macht in Eurasien zu sein, sowie die Ukraine, in dem Versuch eines Systemwandels und dem Streben bei der Neuordnung des postsowjetischen Raums ihre internationale Position neu zu bestimmen271. Die Zukunft des postsowjetischen Territoriums wurde – wie zuvor in der Beschreibung des Verhältnisses zwischen Russland und dem Nordatlantischen Bündnis bereits dargelegt – lange Zeit zwischen der NATO und der Europäischen Union auf der einen Seite und Russland auf der anderen Seite nicht zielführend behandelt. Vornehmlich die von russischer Seite vorgelegten Vorschläge wurden vom „Westen“ nicht ausreichend geprüft. Letztlich stehen beide weltpolitischen Brennpunkte sinnbildlich auch für den im Jahr 2008 mit dem Georgien-Konflikt272 offen zutage getretenen Streit um Einfluss- und Interessensphären zwischen beiden Lagern. Diese Auseinandersetzung zeigt sich zudem nicht nur nicht nur bei diesen Konflikten, sondern auch bei jenen im Nahen und Mittleren Osten. Dies verdeutlicht, dass die vornehmlich nach dem Zweiten Weltkrieg vorgenommene „Aufteilung“ in Einfluss- und Interessensphären mit dem Ende der bipolaren Weltordnung der Anfang vom Ende war. Es ist jedoch noch nicht abschließend abzusehen, ob sich eine „West- oder Ostverschiebung“ einstellen wird oder sich aber ein „Zwischen-Europa/Asien“ entwickelt. Auch beim (transatlantischen) Blick hinüber nach Asien sind bereits globale Veränderungen auszumachen, die primär nicht das Nordatlantikbündnis betreffen. Gleichwohl bereitet vor allem Chinas zunehmend selbstbewusste Außenpolitik – vgl. deren Auftreten im Südchinesischen Meer – nicht nur den Vereinigten Staaten von Amerika, sondern auch der NATO zunehmend verschiedener Organisationen aus religiösen und ethnischen Gründen in den Vordergrund. 271 Vgl. H. Brill, Der Streit um Einflusssphären in Osteuropa, in: ÖMZ 52 (2014), S. 37. 272 Vgl. S. 90 f. (Fn. 258).
B. Die Binnenstruktur und Organisation der NATO95
Sorgen. Aber es ist nicht nur die Außenpolitik, in der sich die Gewichte verschoben haben – auch die wirtschaftlichen „Kräfteverhältnisse“ verlagern sich zunehmend. Nachdem Ende der 1990er-Jahre die sog. BRICS-Staaten273 zum zukünftigen wirtschaftlichen „Powerhouse“ auserkoren wurden, zeigt sich aktuell, dass vor allem Indien und Brasilien die in sie gesteckten Erwartungen (bisher) nicht erfüllen konnten. Als Quintessenz kann festgehalten werden, dass sich aufgrund der Globalisierung und der Veränderung der „Raum-Mächte-Konstellation“ die weltweiten Einfluss- und Interessensphären nicht mehr derartig eindeutig bestimmen lassen. Darüber sind viele Konflikte zum Vorschein gekommen, die insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg unter der sich herausbildenden bipolaren Weltordnung unterdrückt wurden. Insofern verlangt die derzeitige multipolare Welt(ordnung) bei den sich stellenden Herausforderungen andere Antworten als zu Zeiten der Existenz der Sowjetunion – dies betrifft in seinem Kern auch das Nordatlantische Bündnis.
B. Die Binnenstruktur und Organisation der NATO Das Nordatlantikbündnis ist eine mehrstufige und komplexe internationale Organisation274, die sowohl zivile als auch militärische Strukturen aufweist. Der Amtssitz der NATO ist das politische Hauptquartier des Bündnisses und der ständige Sitz des Nordatlantikrates, der sich heute – nachdem es von 1949 bis 1952 in Washington, D.C. und von 1952 bis 1967 in Paris ortsansässig war – in Brüssel befindet. Dort sind die ständigen Vertreter und nationalen Delegationen, der Generalsekretär und der internationale Stab, die nationalen militärischen Vertreter, der Vorsitzende des Militärausschusses sowie der internationale Militärstab und zahlreiche NATO-Behörden untergebracht275.
I. Die politische Struktur des Bündnisses Zur politischen (zivilen) Struktur des Bündnisses gehören der Nordatlantikrat, das NATO-Generalsekretariat mit dem Internationalen Stab, die Nukleare Planungsgruppe und einige weitere Institutionen276 (siehe nachfolgende Seite). 273 Die BRICS-Staaten sind eine Vereinigung „aufstrebender“ Volkswirtschaften. Zu diesen Staaten zählen Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. 274 Vgl. Teil 1, Kap. 1, A. I. b) aa). 275 M. Wörner, NATO-Handbuch, S. 151. 276 Vgl. D. Deiseroth, Die NATO, in: Ad Legendum 3/2017, S. 192.
Abbildung 3: Organisationsstruktur der NATO mit politischen (hellgrau) und militärischen (dunkelgrau) Organisationseinheiten
Quelle: A. Reimer, 2018
96 Teil 1, Kap. 1: Das System der NATO
B. Die Binnenstruktur und Organisation der NATO97
Der Nordatlantikrat277 ist das höchste Entscheidungsgremium innerhalb der Allianz (oberstes Entscheidungsorgan) und umfasst politische Konsultation und Koordination. Er ist eine politische Versammlung von Vertretern der Regierungen der 29 Mitgliedstaaten, die durch ihre Außenminister bzw., falls es die Tagesordnung erfordert, durch ihre Verteidigungsminister oder andere Minister vertreten werden. Bei Gipfeln oder grundsätzlichen Beratungen werden die Mitgliedstaaten durch ihre Regierungschefs vertreten. Der Rat übt seine Befugnisse auf dem zivilen und militärischen Gebiet aus278. Damit der Rat beschlussfähig sein kann, hat jede Regierung einen Ständigen Vertreter ernannt, der sie bei den ordentlichen Sitzungen des Rates vertritt. Die Sitzungen finden in der Regel wöchentlich statt279. Der Rat ist als Forum zu betrachten, in dem die Mitgliedstaaten einen weitgehenden Meinungsaustausch pflegen, ihre Politik darlegen, ihre Informationen teilen und ihr Handeln auf internationaler Ebene koordinieren können. Zugleich hat er die Aufgabe, den militärischen Behörden politische Direktiven zu geben und im Rahmen des wirtschaftlich Möglichen mit Menschenpotenzial, Material und der Infrastruktur auszustatten. Das politische NATO-Hauptquartier befindet sich seit dem 1967 von dem damaligen Staatschef General de Gaulle280 vollzogenen Austritt Frankreichs aus den militärischen Strukturen der NATO nicht mehr in Paris, sondern in Brüssel. Dort sind rund 4.000 Vollzeitkräfte beschäftigt (Stand: 2016). Im Jahr 2017 ist das Hauptquartier in einen Neubau auf dem ehemaligen Flugfeld von Melsbroek im Norden von Brüssel umgezogen281.
277 Der Nordatlantikrat (engl. North Atlantic Council, NAC) ist die einzige Institution der NATO, die explizit im NATO-Vertrag genannt wird – Art. 9 NV. 278 Darüber hinaus existiert die 1955 gegründete rechtlich selbstständige Nord atlantische Versammlung, deren ca. 200 Mitglieder von den Parlamenten der Mitgliedstaaten entsendet werden. Sie verfolgt das Ziel, den Regierungen bei ihren Entscheidungen im NATO-Rat die parlamentarische Sichtweise zu verdeutlichen. Vgl. BVerfG, Urt. v. 22. November 2001, 2 BvE 6/99, Rz. 14. 279 Der NATO-Rat tagt mindestens einmal pro Woche auf der Ebene der Ständigen Vertreter sowie zweimal pro Jahr jeweils auf der Ebene der Außen- und Verteidigungsminister. Außerdem tritt der NATO-Rat alle zwei bis drei Jahre auch auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs in sog. NATO-Gipfeltreffen zusammen. 280 Charles André Joseph Marie de Gaulle, * 22. November 1890 in Lille, † 9. November 1970 in Colombey-les-Deux-Églises, war ein französischer General und Staatsmann. Er war vom 8. Januar 1959 bis 28. April 1969 französischer Präsident der sog. Fünften Republik, die er mittels einer Verfassungsreform begründete. Die auf ihn zurückgehende politische Ideologie des Gaullismus beeinflusst die französische Republik bis heute. 281 Vgl. D. Deiseroth, Die NATO, in: Ad Legendum 3/2017, S. 192.
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Teil 1, Kap. 1: Das System der NATO
Der Generalsekretär fungiert als Vorsitzender des NATO-Rates und ist verantwortlich für die Förderung und Lenkung des Konsultations- und Entscheidungsfindungsprozesses im Bündnis (Exekutivorgan der NATO). Er wird vom NATO-Rat und damit von den Mitgliedstaaten für eine vierjährige Amtsperiode mit der Möglichkeit einer Verlängerung berufen. Er ist daneben Vorsitzender des Verteidigungsplanungsausschusses und der Nuklearen Planungsgruppe sowie Titularvorsitzender anderer hochrangiger Ausschüsse. Er kann Themen zur Erörterung und Entscheidung vorschlagen und bei Meinungsverschiedenheiten unter den Mitgliedstaaten seine Vermittlung anbieten. Er ist für die Leitung des Internationalen Stabs verantwortlich und vertritt das Bündnis als wichtigster Sprecher in seinen Beziehungen zu Mitgliedsregierungen und Medien. Der Internationale Stab als ziviler Körper der NATO besteht aus sieben großen Abteilungen und diversen Unterabteilungen, in denen insgesamt ca. 5.000 zivile Angestellte tätig sind. Er ist dem Generalsekretär unterstellt und leistet die administrative Hauptarbeit in der Allianz. Hier werden Konzepte entwickelt, Papiere vorbereitet und Handlungsstrategien überlegt bzw. umgesetzt. Zudem steht er über die Gremien in enger Abstimmung mit den Mitgliedstaaten und arbeitet unter ihrer Kontrolle. Zur politischen Struktur hinzuzuzählen ist auch die Nukleare Planungsgruppe. Sie ist seit 1967 für die Rolle der Atomwaffen im Bündnis zuständig. Frankreich gehört ihr nicht an, da es auch weiterhin auf einer eigenständigen, NATO-unabhängigen Nuklearstrategie besteht. Somit bildet die Gruppe ein Forum, in dem alle Nuklear- und Nicht-Nuklearstaaten des Bündnisses beratend an den Entscheidungen über das Nuklearpotenzial der NATO und der Entwicklung der Nuklearpolitik mitwirken können. Dabei geht es insbesondere um Aspekte der Nuklearpolitik, der Planung und Strategie sowie Fragen betreffend die Sicherheit und Überlebensfähigkeit von Kernwaffen. Diese Gruppe tritt (ein- bis zweimal jährlich) auf der Ebene der Verteidigungsminister der Mitgliedsländer oder der Ständigen Vertreter und bei Bedarf auf der Ebene der Botschafter zusammen, um sämtliche Fragen bezüglich der Rolle von Kernwaffen in der Abschreckungs- und Verteidigungspolitik der NATO zu konsultieren. Die Nukleare Planungsgruppe ist kein Entscheidungsgremium, kann jedoch Empfehlungen aussprechen.
II. Die militärische Struktur des Bündnisses Die Militärstruktur der NATO ist gekennzeichnet durch das Prinzip der integrierten Organisation und Führung sowie durch Kooperations- und Ko ordinierungsvereinbarungen unter den Mitgliedstaaten. Der im Jahr 1966 gebildete Militärausschuss (engl. Military Committee, MC) ist das oberste
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militärische Organ des Bündnisses. Er untersteht dem Nordatlantikrat unmittelbar und ist für die Gesamtleitung der militärischen Angelegenheiten der Allianz verantwortlich. Der Ausschuss gewährleistet in militärischen Fragen, die sich auf den NV beziehen, die größtmögliche Konsultation und Zusammenarbeit unter den Mitgliedstaaten. Er ist zudem das wichtigste militärische Beratungsorgan für den Generalsekretär und den Rat sowie die Nukleare Planungsgruppe. Das Gremium besteht aus den Generalstabschefs aller an der militärischen Integration beteiligten Mitgliedstaaten oder ihren Vertretern. Er tagt in der Regel wöchentlich auf Ebene der von den Stabschefs ernannten Nationalen Militärischen Vertreter (engl. National Military Representatives, NMR) und ein- bis zweimal jährlich auf Ebene der nationalen Stabschefs282. Der Militärausschuss wird von einem integrierten Internationalen Militärstab unterstützt, der sich aus zuversetzten Soldaten nationaler militärischer Einrichtungen und aus zivilem Unterstützungspersonal – insgesamt ca. 500 Personen – zusammensetzt. Als ausführendes Organ des Militärausschusses obliegt ihm die Aufgabe, für die weisungsgemäße Durchführung der Politik und der Beschlüsse des Militärausschusses zu sorgen. Darüber hinaus arbeitet er Pläne aus, leitet Studien ein und erteilt Empfehlungen zu militärischen Fragen, die Behörden, Befehlshaber oder Agenturen der Nationen oder der NATO an das Bündnis oder den Militärausschuss herantragen. Dem Militärausschuss untersteht zudem die – seit 2013 neu organisierte – militärische Kommandostruktur (engl. NATO Command Structure, NCS)283 der NATO. Damit die Streitkräfte – von denen das Bündnis kaum eigene unterhält – wirksam operieren können, wurde diese gebildet. Die Kommandostruktur unterliegt einer ständigen Anpassung und weist bis dato größere Hauptquartiere auf strategischer, operativer und taktischer Ebene auf. Alle besonders wichtigen militärischen Dienstposten sind durch US-amerikanische Generäle besetzt, die das US-amerikanische und zugleich das NATO-Militär befehligen. Die NCS, deren Verantwortlichkeit und Kommandozuständigkeit sich nicht auf die Territorien der USA und Kanadas erstreckt, besteht aus zwei Strategischen Kommandos (Strategic Commands) – dem Allied Command Operations (ACO) in Mons/Belgien und dem Allied Command Transformation (ACT) in Norfolk, Virginia/USA. Das ACO in Mons ist für die Vorbereitung, Planung und Führung von militärischen Operationen, Missionen und Aufgaben der NATO zuständig, um die strategischen Ziele des Bündnisses zu erreichen. Es leitet alle militä282 Island, das als einziges Mitgliedsland keine eigenen Streitkräfte unterhält, wird durch seinen Botschafter vertreten. 283 Die Darstellung der NATO-Kommandostruktur ist angelehnt an die Darstellung von D. Deiseroth, Die NATO, in: Ad Legendum 3/2017, S. 192 f.
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Teil 1, Kap. 1: Das System der NATO
rischen Einsätze der NATO. Den Oberbefehl hat der Supreme Allied Commander Europe (SACEUR) inne. Dieser Dienstposten ist immer mit einem US-amerikanischen General oder Admiral besetzt, der zugleich auch das Kommando der US-amerikanischen Truppen in Europa (USEUCOM) führt. Das USEUCOM in Stuttgart-Vaihingen ist eines der US-Unified Commands (z. B. außerdem USCENTCOM und USAFRICOM) der weltweit – und unabhängig von der NATO – operierenden US-amerikanischen Streitkräfte, die direkt und außerhalb der NATO-Strukturen dem „US-Joint-Chief-of-Staff“, dem US-amerikanischen Verteidigungsminister und letztlich dem US-amerikanischen Präsidenten unterstehen. Dem ACO, auch bekannt unter dem Namen SHAPE (Supreme Headquarter Allied Powers Europe) sind u. a. zwei Hauptquartiere für die operative Ebene (Joint Force Commands, JFCs) nachgeordnet – das Joint Force Command Brunssum/Niederlande und das Joint Force Command Neapel/Italien. Beide Hauptquartiere haben den Auftrag, militärische NATO-Operationen unterschiedlicher Größe und Zielrichtung von ihren Standorten aus zu planen und durchzuführen, u. U. auch von einem in das jeweilige Operationsgebiet ausgelagerten Hauptquartier (Joint Task Force Headquarter, JTFHQ) aus. Das ACT unter dem Supreme Allied Commander Transformation (SACT) ist verantwortlich für die Integration der nationalen Streitkräfte sowie die Umwandlung und permanente Anpassung des Bündnisses an neue Erfordernisse, die sog. Transformation. Befehligt wird es von dem SACT. Die NCS wird ergänzt durch die NATO-Streitkräftestruktur (NATO Force Structure), die aus den nationalen Streitkräften der Mitgliedstaaten und natio nalen oder multinationalen Hauptquartieren gebildet ist. Sie besteht derzeit aus Hauptquartieren auf drei Ebenen. Die höchste „strategische Ebene“ bilden die erwähnten „Strategischen Kommandos“ (Strategic Commands) ACO/SHAPE und ACT. ACO/SHAPE sind auf der „operativen Ebene“ (operational command) sechs Kommandos zugeordnet, von denen zwei auf der „taktischen Ebene“ von taktischen Einrichtungen unterstützt werden. Die ACO/SHAPE (und damit unter dem Kommando des SACEUR) unterstellten Taktischen Kommandos (Tactical Level Commands) befinden sich in Izmir/Türkei (Headquarters Allied Land Command, HQ LANCOM), in North wood/Vereinigtes Königreich (Headquarters Allied Maritime Command, HQ MARCOM) und in Ramstein/Deutschland (Headquarters Allied Air Command, HQ AIRCOM)284.
284 Die bisherigen Landstreitkräftekommandos in Heidelberg und Madrid wurden im April und Juni 2013 aufgelöst.
C. Die strategische Ausrichtung der NATO101
Wie bereits voranstehend angedeutet, unterhält die NATO kaum eigene Streitkräfte. Die Armeen der Mitgliedstaaten verbleiben in Friedenszeiten unter nationalem Oberbefehl. Dagegen sind die Integrierten Stäbe, die Inte grierte Luftverteidigung und die Ständigen Einsatzverbände auch in Friedenszeiten dem ACO unterstellt.
III. Andere NATO-Einrichtungen Innerhalb der politischen und militärischen Ebene existiert eine Vielzahl von Agenturen und Ausschüssen, deren Gesamtdarstellung allerdings nicht im Umfang der vorliegenden Arbeit zu leisten ist. Hinzuweisen ist allerdings auf wichtige Kooperationsgremien, wie dem nicht im NV vorgesehenen und inzwischen 50 Staaten umfassenden Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat (EAPR, engl. Euro-Atlantic Partnership Councel), darunter alle 29 Mitgliedstaaten sowie 21 mittel- und osteuropäische Staaten des ehemaligen WP, aber auch neutrale Staaten. Dieser ist auf Initiative der USA 1997 im Zuge der nach dem Ende des Kalten Kriegs erfolgten Erweiterung und damit Machtausdehnung des Bündnisses entstanden. Er ist kein NATO-Organ. Vielmehr soll er die Zusammenarbeit zwischen NATO und den Partnerstaaten koordinieren, insbesondere im Rahmen der „Partnerschaft für den Frieden“ (engl. partnership for peace, PfP), einer 1994 ins Leben gerufenen Verbindung zur militärischen Zusammenarbeit zwischen der NATO und 22 europäischen sowie asiatischen Staaten, die keine Mitglieder des Bündnisses sind. Kein NATO-Organ ist auch – der zur Beschwichtigung der russischen Kritik an der NATO-Osterweiterung285 gebildete – NATO-Russland Rat (engl. NATO-Russia Council, NRC), der im „30-Format“ zusammentritt: Russland und inzwischen 29 NATO-Staaten sollen in ihm auf der Basis der „Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der NATO und der Russischen Föderation“ vom Mai 1997 als „gleiche Partner in Bereichen gemeinsamen Interesses“286 kooperieren287.
C. Die strategische Ausrichtung der NATO Nach der inhaltlichen und strukturellen Darstellung wird sich der folgende Abschnitt der strategischen Ausrichtung des Bündnisses widmen. Die NATO 285 So
D. Deiseroth, Die NATO, in: Ad Legendum 3/2017, S. 192.
286 https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_25468.htm?selectedLocale=de
(Stand: 28. Februar 2018). 287 Nach zweijähriger Pause im Gefolge der „Krim-Krise“ tagte der NRC erstmals wieder am 20. April 2016.
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hat seit ihrer Gründung im Jahr 1949 verschiedenste Phasen durchlaufen, die sowohl innerhalb des Bündnisses, aber auch bei den Mitgliedstaaten zu einer Veränderung der politischen und zu Anpassungen der militärischen Gegebenheiten geführt haben. Maßgeblich wurden diese von den weltpolitischen Gegebenheiten der jeweiligen Zeit – frei nach Heinrich Heine: Die Zeiten ändern sich, die Probleme bleiben gleich – bestimmt. In der Geschichte der NATO haben die sog. Strategiekonzepte stets eine relevante Rolle eingenommen. Vor diesem Hintergrund stellt eine Einteilung der Strategien in Epochen und unter Zugrundelegung der Historie288 das Wirken der NATO am Deutlichsten dar. Das Bündnis hat Strategiekonzepte im Dezember 1949, Dezember 1952, Mai 1957 und Dezember 1967 sowie – als neues Strategisches Konzept – im November 1991, April 1999 und November 2010 beschlossen. Die jeweils gültige Strategie bezeichnet die sicherheitspolitische Lage, die Aufgaben der Allianz, das operationelle Konzept sowie die Struktur der Streitkräfte und die Planung der Allianz. Sie wird durch Beschlüsse des NATO-Rates umgesetzt. Die der Zeitenwende 1989/1990 folgenden Strategischen Konzepte haben gegenüber ihren geheimen Vorgängerdokumenten ein grundsätzlich anderes „Gewicht“289. Der Gründungszeitraum des Bündnisses, inmitten des Entstehens des Kalten Kriegs, war gekennzeichnet durch den Aufbau und die Festlegung der verschiedenen Funktionen der NATO-Organe. Der Schwerpunkt bestand darin, arbeitsfähige militärische Institutionen und Strukturen sowie Paradigmen und Verfahren für gemeinsame Planungen und Finanzierungen zu entwickeln290. Mit der Einordnung Deutschlands in das Militärbündnis in den Jahren 1954/55 wurde eine Verteidigungsplanung291 konzipiert, die sich an den bipolaren Gegebenheiten der Gründungszeit orientierte. 288 Eine Chronik der wichtigsten Ereignisse von 1949 bis 2003 findet sich in: A. Gheciu, NATO in the „New Europe“, S. 34 ff.; umfassend in: M. Wörner, NATOHandbuch, S. 44 ff. 289 Siehe auch BVerfG, Urt. v. 22. November 2001, 2 BvE 6/99, Rz. 16. 290 Vgl. G. Poser, Die NATO, S. 68 ff. Zunächst wurde ein Militärausschuss eingesetzt mit dem Exekutivorgan der „Ständigen Gruppe“, die aus Mitgliedern der drei alliierten Siegermächte bestand. Anschließend wurde 1950 ein Oberstes Hauptquartier mit dem amerikanischen General Dwight D. Eisenhower als erstem Obersten Alliierten Befehlshaber Europa (SACEUR) errichtet. Im Mai 1951 erfolgten die Einsetzung des Nordatlantikrates und die Bildung des gemeinsamen Sekretariats. 291 Bereits auf der Tagung des NATO-Rates vom 15.–18. September 1950 in New York City wurde vereinbart, für Europa eine Strategie der Vorneverteidigung einzuführen. Jedem Angriff ist soweit wie möglich ostwärts entgegenzutreten, um die Verteidigung aller europäischen Mitgliedsländer zu gewährleisten. Diese Strategie erforderte jedoch die Beteiligung Deutschlands. Die deutsche Beteiligung warf für einige Mitgliedstaaten, insbesondere Frankreich, Schwierigkeiten grundsätzlicher Art auf,
C. Die strategische Ausrichtung der NATO103
I. Strategie der „abgestuften Abschreckung“ Oberstes Prinzip der NATO-Strategie war von Beginn an die Abschreckung292. Nach diesem Prinzip muss das Risiko eines Angriffs für den potenziellen Gegner größer sein als der zu erwartende Gewinn. Sollte dennoch ein Angriff erfolgen, musste eine erfolgreiche Verteidigung gewährleistet sein293. Beiden Zielen sollte die 1952 vom Militärausschuss entworfene und ab 1957 geltende Strategie der „massiven Vergeltung“ (MC 14/2) gerecht werden. Diese entstand aufgrund der zu diesem Zeitpunkt vorherrschenden nuklearen Überlegenheit der USA auf der einen Seite und der konventionellen Überlegenheit der Sowjetunion in Europa auf der anderen Seite294. Konkret sah diese Strategie vor, zunächst einen feindlichen Angriff durch konventionelle Kräfte möglichst weit östlich zu verzögern, um dann die Entscheidung durch einen massiven nuklear-strategischen Gegenschlag herbeizuführen. Nicht verschwiegen werden darf, dass diese Strategie gewisse Widersprüche beinhaltete, da sie nur Erfolg versprach, solange die USA das Nuklearmonopol besitzen würden. Die sich an die Gründungs- und Strukturaufbaujahre der NATO sowie des Verlusts des Nuklearmonopols der USA anschließende Phase des Bündnisses wird als Konsolidierungsphase295 bezeichnet und erstreckt sich über den Zeitraum von 1956 bis 1967. Die in dieser Phase eingetretene Lageentwicklung sowie die Maßnahmen der NATO werden nachfolgend skizziert.
sodass es vier Jahre dauerte, bis diese Probleme gelöst werden konnten. Vgl. M. Wörner, NATO-Handbuch, S. 51. 292 Hierzu verabschiedete der NATO-Rat am 6. Januar 1950 das erste Strategische Konzept zur Verteidigung des Nordatlantikraums (DC 6/1). Am 28. März 1950 wurde die erste Verteidigungsplanung zur NATO-Strategie vom Militärausschuss genehmigt (Strategic Guidance for North Atlantic Regional Planning; MC 14). Vgl. F.-W. Engel, Handbuch der NATO, S. 64 und S. 376. 293 Die Vorneverteidigung (auch Forward Strategy, Vorgeschobene Verteidigung oder Vorwärtsstrategie) fußte auf dem am 3. Dezember 1952 vom NATO-Rat verabschiedeten modifizierten Strategischen Konzept zur Verteidigung des Nordatlantikraums (DC 6/1, ab 1952 dann MC 3/5) und den Strategischen Richtlinien MC 14/1 des Militärausschusses. Im Mai 1957 verlor sie ihre Gültigkeit und wurde durch das Strategische Konzept MC 14/2 der Massiven Vergeltung (Massive Retaliation) abgelöst. 294 J. Köpfer, Vergleich zweier Bündnisse, S. 136. 295 Vgl. G. Poser, Die NATO, S. 72; J. Köpfer, Vergleich zweier Bündnisse, S. 137.
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1. Lageentwicklung im Zeitraum von 1949–1967 Die sich den Anfangsjahren anschließende Lage entwickelte sich wechselhaft. Die Weltpolitik blieb weiterhin europazentriert. Europa und vornehmlich Deutschland sowie die DDR waren „Hauptgegenstand und -schauplatz“ des Ost-West-Konflikts, mithin auch des Kalten Kriegs296. Während sich die Wirtschaft und die Bevölkerung in den westeuropäischen Staaten infolge des Marshall-Plans ökonomisch erholten, litt der unter sowjetischer bzw. kommunistischer Führung lebende Teil (Ost-)Europas unter wirtschaftlichem Elend, was zu Unruhe in der Bevölkerung führte297. In den Tagen um den 17. Juni 1953 kam es in der DDR zu einer Vielzahl von Streiks, Demonstrationen und Protesten. Ausgangspunkt für die Proteste war die Erhöhung von Arbeitsnormen. Der Aufstand vom 17. Juni 1953 markierte neben den wirtschaftlichen Forderungen, vor allem den ungetrübten Freiheitswillen sowie den Willen zur Einheit des geteilten (Nachkriegs-) Deutschland298. Es war dabei nicht allein der Aufstand der Arbeiter, sondern vielmehr „ein spontan entstandener, schnell um sich greifender Versuch, eine Fremdherrschaft abzuschütteln“299. Im Juni 1956 kam es in Polen und im Oktober in Ungarn ebenfalls zu Unruhen. Beide wurden durch sowjetische Truppen niedergeschlagen. Auch in Nahost führte die von der UdSSR geförderte Krisenlage zu erhöhten Spannungen. Die westlichen Staaten zogen daraus die Konsequenz, dass die Sowjetunion, auch infolge des Abschlusses des WP, „ihre Politik der Durchdringung fremder Länder nun auch weltweit und unter Anwendung aller Mittel betrieb“300. In dieser Zeit entwickelte sich das sowjetische Russland zu einer atomaren Großmacht301. Ebenso betrat die Volksrepublik China „die atomare Bühne“302. Am 4. Oktober 1957 startete der sowjetische Sputnik als erster künstlicher Erdsatellit auf einer Umlaufbahn, womit das Zeitalter der Raumfahrt begann. Damit war es sodann in der Lage schwere Langstreckenflugkörper zu fertigen. Dieser technische Vorsprung löste in den westlichen Staaten ein Bedro296 J. Köpfer,
Vergleich zweier Bündnisse, S. 129. G. Poser, Die NATO, S. 67. 298 Eine umfassende Darstellung der Hintergründe und Auswirkungen des Volksaufstands findet sich in H. Hoshino, Macht und Bürger, passim. 299 R. Müller, Als das Volk aufstand, in: FAZ v. 15.06.2013, S. 1. 300 Vgl. G. Poser, Die NATO, S. 67 f. 301 Die Sowjetunion testete ihre erste Kernwaffe am 29. August 1949. Am 12. August 1953 wurde die erste Wasserstoffbombe getestet. Eine weiterentwickelte Version mit einer Sprengkraft von etwa einer Megatonne wurde 1955 gezündet. 302 Vgl. G. Poser, Die NATO, S. 72. 297 Vgl.
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hungsgefühl303 aus, da die USA nunmehr die Gewissheit hatte, dass sie mit Interkontinentalraketen von der Sowjetunion aus erreichbar waren304. Aber nicht nur der „Sputnikschock“, sondern auch die angespannte Lage aufgrund der seit 1958 anhaltenden Berlin-Krise, führte zur Aufnahme weiterer bilateraler Konsultationen zwischen den beiden Supermächten, die jedoch zu keiner Entspannung der Lage führten305. Gerade innerdeutsch führte die Berlin-Krise zu einem Anschwellen des Flüchtlingsstroms aus Ost-Berlin und der DDR nach (West-)Deutschland. Letztlich führten diese Umstände am 13. August 1961 zum Bau der Berliner Mauer quer durch die Stadt sowie dem Anlegen anderer Sperren entlang der Zonengrenzen306. Die Sowjetunion sicherte diese „Verzweiflungstat“ im September und Oktober 1961 durch 303 Das Starten des ersten künstlichen Erdsatelliten wird auch als „Sputnikschock“ bezeichnet und führte zur Gründung der NASA. Vgl. hierzu I. Polianski/M. Schwartz, Die Spur des Sputnik, passim, die sich vor allem mit den grundlegenden kulturellen Wandlungen, die aus dem Beginn der Raumfahrt resultieren, auseinandersetzen. 304 Chruschtschow erläuterte am 5. Oktober 1957, also einen Tag nach dem „Sputnikschock“, gegenüber dem diplomatischen Chefkorrespondenten der New York Times, James Reston, dass die Sowjetunion für die von ihr vorgeschlagene Doktrin der „friedlichen Koexistenz“ eintrete. Sie war die Basis für eine pragmatische Politik der Sowjetunion gegenüber dem Westen, da sie unter formeller Wahrung der ideologischen Prinzipien des Kommunismus eine Normalisierung der Beziehung zwischen kommunistischen und kapitalistischen Ländern zuließ, vgl. M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 37. In dem Bewusstsein, dass ein offen ausgetragener Krieg die Vernichtung der Menschheit bedeuten würde, musste der „Wettbewerb“ zwischen den Systemen friedlich ausgetragen werden. Kapitalismus und Sozialismus hatten die Verpflichtung zu friedlicher Koexistenz. Die Doktrin wurde mittels der „Drei-EbenenTheorie“ konkretisiert. Auf der ersten (staatlichen und diplomatischen) Ebene agieren die Staaten ohne kriegerische Absichten friedlich nebeneinander. Auf der zweiten (wirtschaftlichen) Ebene herrschte Wettbewerb, auf der dritten (ideologischen) Ebene dagegen offener Kampf. M. Keupp, Chruschtschows Reformen, S. 16. 305 Im September 1959 trafen der US-amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower und Ministerpräsident Nikita S. Chruschtschow in Camp David zusammen. Am 3./4. Juni 1961 gab es aufgrund der anhaltenden Spannungen um Berlin ein Zusammentreffen zwischen dem neuen Präsidenten John F. Kennedy und Chruschtschow in Wien. Bei diesem Treffen erneuerte die Sowjetunion ihr Berlin-Ultimatum und forderte unter anderem den Abzug der westalliierten Truppen aus Berlin. Die USA hielten diesen Forderungen eigene Bedingungen entgegen. Beide Seiten gingen auseinander, ohne eine Annäherung der Auffassungen erzielt werden konnte. Vgl. G. Poser, Die NATO, S. 73 f. 306 Während die Truppen der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR anfangs Straßensperren und Stacheldrahthindernisse errichteten, wurde alsbald daraus eine der am besten gesichertsten Grenzanlagen der Welt, die „das Symbol einer geteilten Stadt, eines geteilten Landes und des geteilten Europas wurde“, G. Höfler, Die neue NATO, S. 28. Eine ausführliche Darstellung der Hintergründe und Ereignisse rund um den Mauerbau sowie eine Darstellung und Beurteilung der beteiligten Hauptakteure findet sich in: F. Kempe, Berlin 1961, passim.
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eine Machtdemonstration mit großen Versuchsserien von Atombombenexplosionen mit Ladungen bis zu 50 Megatonnen ab. Die Lage verschärfte sich im Jahr 1962 durch die Entwicklungen in Südostasien307 und Kuba. Mit der Errichtung sowjetischer Raketenstellungen auf Kuba, die in Richtung USA ausgerichtet waren, konnte eine Eskalation zwischen den beiden Großmächten in „letzter Sekunde“ verhindert werden308. Der Kalte Krieg jedoch erreichte mit der Kuba-Krise eine neue Qualität. Näher an einer direkten militärischen Konfrontation waren beide Seiten wohl nie. Hiernach entspannte sich die Lage zunächst, was Mitte 1963 dadurch zum Ausdruck kam, dass erste Verträge über die Einrichtung eines „Roten Telefons“309 bilateral zwischen Washington und Moskau sowie über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser trilateral zwischen den USA, der UdSSR und Großbritannien geschlossen wurden. Zum Ende des Jahres 1964 begann in der Sowjetunion eine neue Ära. Ein Führungswechsel wurde vollzogen. Breschnew310 wurde Generalsekretär der KPdSU als Nachfolger des am 15. Oktober 1964 entmachteten Chruscht307 In Südostasien waren die beiden Großmächte in den Indochina-Konflikt verwickelt. Besonders der Bürgerkrieg zwischen Nord- und Südvietnam, dem die USA durch die Unterstützung des westlich orientierten Südvietnams in den 1960er-Jahren beitraten sowie die sog. „Laos-Krise“ sind im Kontext des Kalten Kriegs zu sehen. Siehe hierzu L. Freedman, Kennedy’s wars, S. 287 ff.; R. Buhite, The Far East, in: A. Schlesinger, jr. (Hrsg.), The dynamics of world power, S. 569 ff.; M. Schultze, Die Geschichte von Laos, passim. 308 Am 27. Oktober 1962 stand die Welt am Rande eines Atomkriegs. Sowjetische Atomraketen auf Kuba waren einsatzbereit. Von den 80 Marschflugkörpern mit je einem Atomsprengkopf in Hiroshima-Stärke waren drei gegen die amerikanische Basis Guantánamo in Stellung gebracht und auf einem sowjetischen U-Boot ein Nukleartorpedo scharf gemacht worden, während die amerikanischen Militärs letzte Einzelheiten für die Invasion Kubas und die Beseitigung Fidel Castros festlegten. Der atomare „Holocaust“ blieb der Welt dennoch erspart. Hierzu die ausführliche Untersuchung von R. Steininger, Kubakrise 1962, passim; D. Coleman, The Fourteenth Day, passim; B. Greiner, Kuba-Krise, passim; L. Freedman, Kennedy’s wars, S. 123 ff. 309 Hiermit wurde eine ständige Fernschreiberverbindung zwischen beiden Staaten bezeichnet. Die Verbindung wurde aufgrund der Erfahrungen aus der Kuba-Krise eingerichtet. Sie läuft über London, Kopenhagen, Stockholm, Helsinki und wurde am 30. August 1963 eröffnet. Die Verbindung hatte zum Ziel, friedensgefährdende Missverständnisse zu verhindern helfen. Vgl. M. Keupp, Chruschtschows Reformen, S. 17; G. Fahl, Salt II, S. 16. 310 Leonid Iljitsch Breschnew (russ. Леонид Ильич Брежнев), * 19. Dezemberjul. 1906/1. Januar 1907greg. in Kamenskoje, † 10. November 1982 in Moskau, war ein sowjetischer Politiker, der vom 14. Oktober 1964 bis zu seinem Tode 1982 Parteivorsitzender der KPdSU und damit Staats- und Regierungschef war.
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schow311. Zudem wurde Kossygin312 als Ministerpräsident eingesetzt. Kurz darauf, am 16. Oktober 1964 profilierte sich auch die Volksrepublik China als nukleare Großmacht, indem die erste chinesische Atombombe detonierte und 1966 die erste thermonukleare Bombe. In dieser Zeit begannen jedoch – obwohl die internationale Lage keine Ansätze für eine Lösung der Deutschlandfrage aufzeigte – zwischen den Mitgliedstaaten der NATO und des WP bilaterale Gespräche. Mit dem Ausstieg Frankreichs aus der militärischen Organisation der NATO313 kündigte sich eine deutliche Veränderung der Ost-West-Verhältnisse nicht nur in Europa an.314 2. Strategische Ausrichtung und Komponenten der Strategie Die NATO war schwerpunktmäßig zunächst damit beschäftigt, ihr „Planungssystem für die Verteidigung“ und das „Konsultationsverfahren in der Sicherheitspolitik“ auszubauen315. Auch wenn die Strategie der Vorwärtsverteidigung (Strategische Richtlinien, MC 14/1), die vom 9. Dezember 1952 bis 22. Mai 1957 galt, am 23. Mai 1957 durch das Strategische Konzept MC 14/2 (Overall Strategic Concept for the Defence of the NATO Area) abgelöst wurde, musste eine wirksame Strategie gegen den Fortschritt der Sowjetunion auf dem Gebiet der Raketentechnik sowie der nuklearen Forschung und Produktion gefunden werden. Das bedeutete in erster Linie, das „richtige“ Verhältnis von konventioneller und nuklearer Bewaffnung zu bestimmen316. Hierbei 311 Nikita Sergejewitsch Chruschtschow (russ. Никита Сергеевич Хрущёв), * 3.jul/15. April 1894greg. in Kalinowka, † 11. September 1971 in Moskau, war ein sowjetischer Politiker, der vom 14. März 1953 bis 14. Oktober 1964 Parteivorsitzender der KPdSU und vom 27. März 1958 bis 14. Oktober 1964 Staats- und Regierungschef war. 312 Alexei Nikolajewitsch Kossygin (russ. Алексей Николаевич Косыгин), * 21. Februarjul./5. Märzgreg. 1904 in Sankt Petersburg, † 18. Dezember 1980 in Moskau, war ein sowjetischer Politiker, der vom 15. Oktober 1964 bis zum 23. Oktober 1980 Ministerpräsident der Sowjetunion war. 313 Frankreich trat zum 1. Juli 1966 aus der militärischen Organisation der NATO aus. Nachdem Frankreich erfolglos versuchte, die in Frankreich stationierten USamerikanischen und kanadischen Soldaten dem französischen Kommando zu unterstellen, forderte der französische Präsident Charles de Gaulle im Februar 1966 den Abzug der alliierten Truppen und der NATO-Hauptquartiere mit der Begründung, dass durch die Stationierung fremder Streitkräfte auf französischem Boden die volle Ausübung der Souveränität nicht gewährleistet sei. 314 G. Poser, Die NATO, S. 74 f. 315 Ders., ebd., S. 75. 316 Insbesondere die zu erwartende Parität im Bereich der nuklearen Rüstung zwischen den USA und der Sowjetunion sowie der hohe sowjetische Bestand an konven-
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mussten die USA den Befürchtungen der europäischen Mitgliedstaaten gerecht werden, dass die USA wegen der nun eigenen nuklearen Verwundbarkeit strategische Kernwaffen nicht oder zu spät einsetzen werde317. Daraufhin ergriffen die USA eine Reihe von Maßnahmen, um die europäischen Partner an der Einsatzplanung für Nuklearwaffen zu beteiligen. Der 1965 gebildete „McNamara-Ausschuss“, aus dem 1966 der „Ausschuss für nukleare Verteidigung“ sowie die „Nukleare Planungsgruppe“ hervorgingen, war der bedeutendste318. Am 23. Mai 1957 wurden die Streitkräfteplanung und deren notwendige Anpassung sowie Modernisierung in Europa mit dem Dokument MC 48/2 (Measures to Implement the Strategic Concept) genehmigt. Vom 16.–19. Dezember 1957 tagte der NATO-Rat erstmals mit den Regierungschefs der Mitgliedstaaten in Paris. Es wurde beschlossen, in Europa Vorräte an nuklearen Sprengkörpern anzulegen und dem Obersten Alliierten Befehlshaber Europa ballistische Mittelstreckenraketen zur Verfügung zu stellen319. Aufgrund der erhöhten Schlagkraft der Sowjetunion im konventionellen und im nuklearen Bereich war die Strategie der „massiven Vergeltung“ im weitesten Sinne untauglich geworden. Es erfolgte 1957 eine Modifizierung der bisherigen Strategie hin zu einer Strategie der „abgestuften Abschre ckung“.320 Nach dieser Strategie sollten die NATO-Streitkräfte in Europa – durch taktische Atomwaffen verstärkt – einen Angriff als „Schild“ hinhaltend abwehren und so Zeit für Verhandlungen, vor dem äußersten Schritt des Einsatzes von Nuklearwaffen, schaffen, die notfalls als „Schwert“ die militärische Entscheidung bringen sollten. Damit wurde ein neuer Akzent in der strategischen Diskussion gesetzt, der am Schluss dieses zehnjährigen Klärungsprozesses 1967 in der Strategie der „flexiblen Erwiderung“ mündete321.
tionellen Streitkräften erforderte von der NATO neben der Abwehrbereitschaft auf allen Teilstreitgebieten auch eine sinnvolle militärische Verbindung zu den nuklearen Waffensystemen. Vgl. ders., ebd., S. 75. 317 Es stellte sich für die USA das Problem der „nuklearen Teilhabe“, d. h. der Mitentscheidung der europäischen Bündnispartner über den Einsatz der amerikanischen Nuklearwaffen. Vgl. J. Köpfer, Vergleich zweier Bündnisse, S. 138. 318 R. Brühl, Imperialistische Militärblockpolitik, S. 203. 319 Vgl. M. Wörner, NATO-Handbuch, S. 65 f.; G. Poser, Die NATO, S. 75 f. 320 Auch „Schild-und-Schwert-Theorie“ genannt. Vgl. J. Köpfer, Vergleich zweier Bündnisse, S. 137. 321 Vgl. ders., ebd., S. 137.
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II. Strategie der „flexiblen Erwiderung“ Unter dem Eindruck des Ausscheidens Frankreichs aus der militärischen Integration der NATO, die für das Militärbündnis eine Belastung darstellte, und dem Ringen um die strategische Umorientierung des Bündnisses billigte der NATO-Ministerrat auf seiner Tagung im Dezember 1967 den sog. „Harmel-Bericht“322. Der durch den belgischen Außenminister Harmel323 angeregte Bericht beeinflusste die strategische und militärische Entwicklung der NATO ab 1967 maßgeblich. Der Auftrag für den Ausschuss bestand in der „Durchführung einer umfassenden Analyse der internationalen Entwicklungen seit der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages im Jahre 1949, um den Einfluss dieser Entwicklungen auf das Bündnis festzustellen und die noch vor ihm liegenden Aufgaben zu bestimmen und dadurch das Bündnis als Faktor eines dauerhaften Friedens zu stärken“324.
Der Ausschuss gelangte zu dem Ergebnis, dass die Allianz „als dynamische und lebenskräftige Organisation“ sich ständig den wechselnden Bedingungen der Weltpolitik anpassen müsse und dass die NATO sich nun sowohl um militärische Stärke als auch um politische Entspannung („Zwei-PfeilerDoktrin“)325 bemühen solle326. Das höchste politische Ziel der NATO sei es, 322 Vgl. Bericht des Rates über die künftigen Aufgaben der Allianz – Anhang zu: Kommuniqué über die Ministertagung des Nordatlantikrates in Brüssel (13.–14. Dezember 1967), in: EA 23 (1968), S. D 75 ff. 323 Pierre Charles José Marie (seit 1991) Graf Harmel, * 16. März 1911 in Uccle/ Ukkel bei Brüssel; † 15. November 2009 in Brüssel, war ein belgischer Politiker, der vom 28. Juli 1965 bis zum 19. März 1966 Premierminister sowie vom 19. März 1966 bis 19. Dezember 1972 Außenminister war. 324 G. Poser, Die NATO, S. 77 f. 325 M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 58. 326 Wörtlich heißt es dazu im Bericht: „Die Atlantische Allianz hat zwei Hauptfunktionen. Die erste besteht darin, eine ausreichende militärische Stärke und politische Solidarität aufrechtzuerhalten, um gegenüber Aggression und anderen Formen von Druckanwendung abschreckend zu wirken und das Gebiet der Mitgliedstaaten zu verteidigen, falls es zu einer Aggression kommt. Seit ihrer Gründung hat die Allianz diese Aufgabe erfolgreich erfüllt. Aber die Möglichkeit einer Krise kann nicht ausgeschlossen werden, solange die zentralen politischen Fragen in Europa, zuerst und zunächst die Deutschland-Frage, ungelöst bleiben. Außerdem schließt die Situation mangelnder Stabilität und Ungewissheit noch immer eine ausgewogene Verminderung der Streitkräfte aus. Unter diesen Umständen werden die Bündnispartner zur Sicherung des Gleichgewichts der Streitkräfte das erforderliche militärische Potential aufrechterhalten und dadurch ein Klima der Stabilität, der Sicherheit und des Vertrauens schaffen. In diesem Klima kann die Allianz ihre zweite Funktion erfüllen: die weitere Suche nach Fortschritten in Richtung auf dauerhafte Beziehungen, mit deren Hilfe die grundlegenden politischen Fragen gelöst werden können. Militärische Sicherheit und eine Politik der Entspannung stellen keinen Widerspruch, sondern gegenseitige Er-
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„eine gerechte und dauerhafte Friedensordnung in Europa mit geeigneten Sicherheitsgarantien zu erreichen“327. „Der Weg zu Frieden und Stabilität in Europa beruht vor allem auf dem konstruktiven Einsatz der Allianz im Interesse der Entspannung. Die Beteiligung der UdSSR und der Vereinigten Staaten wird zur wirksamen Lösung der politischen Probleme Europas erforderlich sein.“328
Mit der Billigung des Harmel-Berichts gab die NATO ein Signal zur Befürwortung der Entspannungspolitik, ohne den sicherheitspolitischen Kern des Bündnisses zu vernachlässigen.329 1. Lageentwicklung im Zeitraum von 1967–1990 Der sich seit Ende 1967 abzeichnende Abbau der Spannungen zwischen den beiden Bündnissen erlitt durch den „militärischen Überfall“330 einiger WP-Staaten331 auf die Tschechoslowakei am 21. August 1968 einen schweren Rückschlag332. Damit wurde deutlich, dass die Sowjetunion das in den gänzung dar. Die kollektive Verteidigung ist ein stabilisierender Faktor in der Welt politik. Sie bildet die notwendigen Voraussetzungen für eine wirksame, auf größere Entspannung gerichtete Politik“. 327 Vgl. Bericht des Rates über die künftigen Aufgaben der Allianz – Anhang zu: Kommuniqué über die Ministertagung des Nordatlantikrats in Brüssel (13./14. Dezember 1967), in: EA 23 (1968), S. D 76. 328 Vgl. Bericht des Rates über die künftigen Aufgaben der Allianz – Anhang zu: Kommuniqué über die Ministertagung des Nordatlantikrats in Brüssel (13./14. Dezember 1967), in: EA 23 (1968), S. D 76. 329 Damit sprach sich die NATO bereits für Entspannung aus, als die „bündnispolitische Konsolidierung“ noch ausstand, während der WP seine „blockpolitische Konsolidierung“ abwartete, bevor er sich zu einer Kooperation mit dem Westen durchrang. Vgl. M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 59. 330 G. Poser, Die NATO, S. 79. 331 Angeführt von den Streitkräften der Sowjetunion beteiligten sich außerdem die WP-Mitgliedstaaten Bulgarien, Polen und Ungarn an der Invasion der Tschecho slowakei. Die DDR war an der Invasion nicht beteiligt. Zwar unterstanden einzelne Truppenverbände dem sowjetischen Oberkommando, jedoch wurden die DDR-Truppen nicht aktiv an der Invasion beteiligt. Vgl. T. Diedrich, Im Dienste der Partei, S. 488 f. 332 Dieses historische Ereignis, das als „Prager Frühling“ bekannt geworden ist und auf eine Weiterführung des Begriffs „Tauwetter Periode“ aus dem Romantitel „Tauwetter“ von Ilja Ehrenburg zurückgeht, beschreibt zwei Gegebenheiten. Einerseits die Reformversuche der kommunistischen Partei der Tschechoslowakei unter Alexander Dubcek („Sozialismus mit menschlichem Antlitz“) sowie die gewaltsame Niederschlagung dieses Versuchs in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 durch die einmarschierenden WP-Truppen. Am 26. August musste das in der Gesamtheit verhaftete und in die Sowjetunion verbrachte Politbüro im sog. „Moskauer Protokoll“ die Rücknahme der eingeleiteten Reformen versprechen. Dubcek wird
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Nachkriegsjahren praktizierte Konzept der Machtausdehnung, auch unter Zuhilfenahme militärischer Gewalt, nicht geändert hatte333. Ungeachtet dieser Machtdemonstration wurde von den NATO-Staaten weiterhin ein Signal der Entspannung ausgesandt. Bereits auf der Ministertagung des NATO-Rates am 24. und 25. Juni 1968 in Reykjavik wurde beschlossen, „mit anderen interessierten Staaten konkrete und praktische Schritte im Bereich der Rüstungskontrolle zu erkunden“334. Das Endziel einer dauerhaften Friedensordnung in Europa erfordere eine Atmosphäre des Vertrauens und konnte nur schrittweise erreicht werden. Im Bewusstsein des offensichtlichen und beträchtlichen Interesses aller europäischer Staaten an diesem Ziel äußerten die Minister, dass Maßnahmen auf diesem Gebiet einschließlich ausgewogener und beiderseitiger Truppenverminderungen zu einer Verminderung der Spannung und einer weiteren Verringerung der Kriegsgefahr beitragen könnten. Da die Sicherheit der NATO-Länder und die Aussichten auf beiderseitige Truppenverminderungen geschwächt würden, wenn nur die NATO Verminderungen vornähme, betonten die Minister die Notwendigkeit, „dass das militärische Gesamtpotential der NATO nicht vermindert werden sollte, es sei denn im Rahmen eines nach Umfang und zeitlichem Ablauf ausgewogenen Systems beiderseitiger Truppenverminderungen“335. Mit diesem Vorschlag intendierten die NATO-Staaten, die vom WP angebotenen Verhandlungen über europäische Sicherheit auf eine substanzielle Grundlage zu stellen und gleichzeitig die Entspannungsbereitschaft der WP-Staaten zu testen336. Das „Signal von Reykjavik“, wie die Erklärung über beiderseitige Truppenverminderungen bald genannt wurde, war zusammen mit dem HarmelBericht die Wende der NATO zur Entspannungspolitik, der ab 1969 der Durchbruch ermöglicht wurde337.
schließlich im April 1969 zugunsten von einem moskautreuen Nachfolger abgesetzt. Eine umfassende Studie über die Hintergründe und Auswirkungen erfolgt durch R. Veser, Prager Frühling, passim sowie in S. Karner, Prager Frühling, passim. 333 Vgl. G. Poser, Die NATO, S. 79 f. 334 Erklärung der Außenminister und Vertreter der am NATO-Verteidigungsprogramm beteiligten Länder über beiderseitige und ausgewogene Truppenverminderung – Anhang zu: Kommuniqué über die Ministertagung des Nordatlantikrats am 24. und 25. Juni 1968 in Reykjavik, in: EA 23 (1968), S. D 360. 335 Erklärung der Außenminister und Vertreter der am NATO-Verteidigungsprogramm beteiligten Länder über beiderseitige und ausgewogene Truppenverminderung – Anhang zu: Kommuniqué über die Ministertagung des Nordatlantikrats am 24. und 25. Juni 1968 in Reykjavik, in: EA 23 (1968), S. D 360. 336 M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 60. 337 Ders., ebd., S. 60.
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Aufseiten der NATO war ausschlaggebend, dass die USA seit dem Eingreifen in den Zweiten Weltkrieg weltweite Verpflichtungen eingegangen waren, bei deren Erfüllung ein „hoher Blutzoll“, wie z. B. in Korea und Vietnam, gezahlt wurde.338 Mit der „Nixon Doktrin“339 wurde sodann die Grundlage für den Abbau des militärischen Engagements geschaffen. Der Erklärung der Prinzipien war eine Situationsbeschreibung der US-amerikanischen Position vorausgegangen, die Präsident Nixon340 in Bezug zum Grundkonflikt des Kalten Kriegs setzte, in dem die USA weiterhin andere Staaten unterstützen würden, aber die Art und Weise der Unterstützung verändert werden müsse341. Neben dem Abbau des weltpolitischen Überengagements der Vereinigten Staaten von Amerika und einer Neuordnung der Beziehungen zu den Verbündeten mussten in einem zweiten Schritt auch die Verbindungen zur Sowjetunion und China verbessert werden. Darüber hinaus war ein erklärtes Ziel, die „nukleare Rüstungskontrolldiplomatie“ mit der UdSSR zur Errichtung eines neuen weltpolitischen Gleichgewichts im Rahmen der Entspannungspolitik zu verwirklichen342. G. Poser, Die NATO, S. 80. „Nixon-Doktrin“ ist vor dem Hintergrund und im Zusammenhang mit dem Vietnamkonflikt zu sehen. Trotz 550.000 US-amerikanischer Soldaten 1969 in Vietnam gelang es den Amerikanern nicht, die militärische Oberhand zu gewinnen. Die Bezeichnung „Nixon-Doktrin“ wurde von Präsident Nixon in einer öffentlichen Rede am 3. November 1969 selbst verwendet. Danach weist die Nixon-Doktrin drei Prinzipien auf: Dass die USA alle vertraglichen Verpflichtungen einhalten werden („First, the United States will keep all of its treaty commitments.“). Für den Fall einer Bedrohung eines alliierten Staates durch eine Nuklearmacht das Zur-Verfügung-Stellen eines „Schildes“ („Second, we shall provide a shield if a nuclear power threatens the freedom of a nation allied with us or of a nation whose survival we consider vital to our security.“). Den Kern der Doktrin stellt im Falle einer anderen, nicht nuklearen Aggression, die militärische und ökonomische Hilfe in Übereinstimmung mit den vertraglichen Verpflichtungen der USA dar, sofern dies von dem Staat gewünscht werde. Jedoch erwartet die USA, dass der Staat, der die Hilfe empfängt, die Hauptlast der Verteidigung trägt („Third, in cases involving other types of aggression we shall furnish military and economic assistance when requested in accordance with our treaty commitments. But we shall look to the nation directly threatened to assume the primary responsibility of providing the manpower for its defense.“) Vgl. H. Meiertöns, U.S.-amerikanische Doktrinen, S. 152 f. 340 Richard Milhous Nixon, * 9. Januar 1913 in Yorba Linda, † 22. April 1994 in New York City, war vom 20. Januar 1969 bis zu seinem Rücktritt („Watergate“) am 9. August 1974 der 37. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. 341 Vgl. H. Meiertöns, U.S.-amerikanische Doktrinen, S. 153. Die „Nixon-Dok trin“ war seit der „Truman-Doktrin“ die erste umfassende, nicht regional beschränkte Doktrin US-amerikanischer Sicherheitspolitik. Die „Nixon-Doktrin“ besagt, welchen Umfang die Anwendung von Gewalt im Einzelfall annehmen soll und nicht die Frage, unter welchen Umständen diese Gewaltanwendung erfolgen soll. Vgl. ebd., S. 161. 342 M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 61. 338 Vgl. 339 Die
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In der Folge ergriffen die USA die politische Initiative, um diesen Wandel in der Welt herbeizuführen. Der Sowjetunion wurden Verhandlungen angeboten, um das atomare Risiko durch Selbstbeschränkung besser kontrollieren zu können, u. a. durch ein wirtschaftlich-wissenschaftliches Kooperationsangebot. Dies eröffnete die Möglichkeit für eine Entspannungspolitik, was auch die anderen NATO-Staaten ermutigen sollte, daran mitzuwirken. Daher forderten die USA ihre Alliierten auf, gemeinsam ein Konzept für eine neue internationale Ordnung zu entwickeln. Sie forderten konkrete Maßnahmen zur Entwicklung des Nordatlantikbündnisses sowie „bindende Verpflichtungen für Kooperation und Lastenverteilung im Bündnis“. Schließlich nahmen die USA Gespräche mit China auf, womit sich für die europäischen NATO-Staaten günstigere Begleitumstände für die eigene Sicherheitslage eröffneten, da sich die UdSSR nun auch nach Osten orientieren musste. Insgesamt führten diese Aktivitäten zu einer veränderten machtpolitischen Struktur in der Welt343. Entscheidender in dieser Zeit war jedoch, dass den beiden Supermächten USA und Sowjetunion zunehmend bewusst wurde, dass sie sich durch die beidseitig vorhandenen strategischen Waffensysteme zu „Grenznachbarn“344 entwickelt hatten. Diese Bezeichnung schuf Fahl aufgrund der Erkenntnis, dass „nicht die Unabhängigkeit der Staaten, sondern ihre wechselbezügliche Abhängigkeit voneinander Garant der einzelstaatlichen Sicherheit ist“345. Die in der Folgezeit durchgeführten Verhandlungen über eine Verbesserung der Maßnahmen zur Ausschaltung des Risikos eines Kriegsausbruchs sowie die daraufhin unterzeichneten Abkommen346 waren nach Fahl Ausdruck des „komplexen sozialen Phänomen[s] der Grenznachbarschaft“347. 343 Diese Veränderungen betrafen nicht nur die machtpolitische Expansion Moskaus, sondern auch die Interpretation der kommunistischen Ideologie. G. Poser, Die NATO, S. 80. 344 Diese Form der „Nachbarschaft“ zeichnet sich dadurch aus, dass nicht territoriale sondern vorrangig strategische Grenzen zwischen die Staaten getreten sind. Durch atomgetriebene Unterseeboote, fliegende Kommandozentralen und militärischen Kommando- und Beobachtungssatelliten ist der klassische Territorialverband eingespannt in ein Bezugssystem mit strategischen Größen. Dieses „Minimalwerden von Raum und Zeit in der Verschränkung strategischer Waffensysteme“ ist der Indikator für die strategische Grenznachbarschaft. G. Fahl, SALT II, S. 10. 345 Ders., ebd., S. 10. Die theoretische Vorlage für die von Fahl gebrauchte Kennzeichnung der Beziehung zwischen den Supermächten als strategische Grenznachbarschaft wurde 1971 durch N. Luhmann in seiner Abhandlung „Die Weltgesellschaft“ als die „Aufgabe des Raumprinzips“ bezeichnet. 346 Auf dem Gebiet der Ausschaltung des Risikos eines Kriegsausbruchs durch Unfall, technisches Versagen oder Missverständnis sowie zur Verfeinerung des Krisenmanagements wurden folgende Abkommen geschlossen: – ein Abkommen zur Verbesserung des „Heißen Drahtes“, am 30. September 1971 – ein Abkommen zur Verminderung der Gefahr des Ausbruchs eines Nuklearkrieges infolge eines nuklearen Unfalls, am 30. September 1971
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In diesem Bewusstsein erkannten beide Weltmächte, dass die Existenz von Kernwaffen neue Bedingungen für die Machtausübung und eine Einschränkung der militärischen Konfliktregelungen schuf. Eine neue Form zwischenstaatlichen Krisenmanagements („kooperative Rüstungssteuerung“) wurde eingeführt. Diese Maßnahmen trugen zur Stabilisierung der beiden nuklearen Weltmächte und zur Erhaltung sowie Sicherung des Weltfriedens bei, von der auch Drittländer profitierten348. Nach der Phase der militärischen Abschreckung folgte nunmehr auf Grundlage der vorgegebenen militärischen Strukturen die Zeit der sog. Entspannungspolitik. In Europa war die Deutschlandfrage nach wie vor der wesentliche Kern des Ost-West-Konflikts. Mit dem Regierungswechsel Anfang der 1970erJahre ging von Deutschland eine „Ära der Verhandlungen“ aus. In Übereinstimmung mit dem US-amerikanischen Präsidenten Nixon war das Ziel der Außenpolitik der ab 1969 regierenden sozial-liberalen Koalition unter Bundeskanzler Brandt349 vor allem die Verständigung mit dem Osten350. Diese Politik führte zur Bestätigung des territorialen Status quo in Europa. Durch die Ostverträge wurden zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion, Polen, der DDR und der Tschechoslowakei ein Gewaltverzicht vereinbart sowie „praktische Regelungen für die noch offenen Grenz- und Statusfragen gefunden“. Mit dem Viermächte-Abkommen wurde auch die vier SektorenStadt Berlin in den Prozess einbezogen. Diese Abkommen zusammen mit der Erklärung der WP-Staaten, Gespräche über eine beiderseitige Truppenverminderung in Mitteleuropa abzuhalten, bildeten schließlich auch die Voraussetzung für die Einberufung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Der mehrjährige KSZE-Prozess, dessen Abschluss – ein
Abkommen zur Vermeidung von Zwischenfällen auf und über dem offenen Meer, am 26. Mai 1973 und – ein Abkommen zur Verhinderung von Nuklearkriegen, am 22. Juni 1973. 347 G. Fahl, SALT II, S. 16. 348 M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 99. 349 Willy Brandt (geb. als Herbert Ernst Karl Frahm), * 18. Dezember 1913 in Lübeck, † 8. Oktober 1992 in Unkel, war vom 22. Oktober 1969 bis zu seinem Rücktritt am 6. Mai 1974 der vierte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Vom 1. Dezember 1966 bis zum 20. Oktober 1969 war er Bundesaußenminister und Stellvertreter des Bundeskanzlers. Für seine „Ostpolitik“ erhielt er 1971 den Friedensnobelpreis. 350 Die Bundesrepublik begann eine aktive Ostpolitik weit vor der Kanzlerschaft Brandts. Unter Bundeskanzler Konrad Adenauer wurde bereits am 13. September 1955 die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Sowjetunion vereinbart. In den 1960er-Jahren hat es unter Bundeskanzler Ludwig Erhard und seinem Außenminister Gerhard Schröder den Versuch einer stärkeren Öffnung nach Osten gegeben. Beide waren jedoch nicht bereit, die „Deutsche Demokratische Republik“ als gleichberechtigt in den Normalisierungsprozess einzubeziehen. Vgl. M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 105.
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1. August 1975 die Verabschiedung der Schlussakte von Helsinki351 bildete, übte ebenso wie die Ostverträge einen signifikanten Einfluss auf die Entwicklung der Ost-West-Beziehungen aus. Es sollte mehr Klarheit über die gegnerischen Absichten geschaffen und Misstrauen beseitigt werden352. Allerdings konnten weder die Schlussakte von Helsinki noch die in den folgenden Jahren abgehaltenen Konferenzen eine Einigung in der Frage der Streitkräfteverminderung hervorbringen. Es schien vielmehr so, dass beide Supermächte Ende der 1970er-Jahre bereit waren –ebenso wie die meisten europäischen Staaten – sich mit den bestehenden Strukturen abzufinden, die seit dem Zweiten Weltkrieg für Frieden gesorgt hatten. Das Fundament der weltweiten bipolaren Sicherheitsarchitektur bestand aus den militärischen Garantien der nuklearen Weltmächte sowie den sich gegenseitig neutralisierenden Militärbündnissen353. Am Ende des Jahrzehnts unterbrach die Invasion der UdSSR in Afghanistan354 die positiven Entwicklungen der Ost-West-Entspannung. Aus westlicher Sicht war die Invasion der Beweis, dass „die Sowjetunion Entspannung in einem höchst restriktiven Sinne interpretierte und ihr extrem interventionistisches Handeln in Gebieten fortsetzen würde, wo es nach ihren Vorstellungen um ihre politischen, ideologischen oder sicherheitspolitischen Interessen ging“355. Der Konflikt überschattete die XXII. Olympischen Sommer351 Die Schlussakte von Helsinki war ein gelungener Abschluss der KSZE, an der 35 Staaten (7 WP-Staaten, 13 neutrale Staaten und 15 NATO-Staaten [inkl. USA und Kanada]) teilnahmen. In diesem Dokument wurden sicherheitspolitische Aspekte festgelegt. In einem Katalog von zehn Prinzipien, die einen Gewaltverzicht, eine Erklärung über die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa und ein Bekenntnis zu den Menschenrechten und zum Selbstbestimmungsrecht der Völker enthielten, kodifizierten die Teilnehmerstaaten Verhaltensregeln, von denen sie sich in ihren gegenseitigen Beziehungen leiten lassen wollen. 352 Vgl. M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 128 f. 353 Vgl. ders., ebd., S. 129. 354 Am 25. Dezember 1979 intervenierte die Sowjetunion in den seit April 1978 andauernden Konflikt in Afghanistan. Der Ursprung des Konflikts lag in der Übernahme der Macht durch die kommunistische Volkspartei Afghanistans (DVPA) am 27. April 1978. Durch die betriebene Säkularisierung sowie die Vertreibung ehemals privilegierter Gruppen kam es zu einem breiten Widerstand, der aufgrund verschiedenster Ereignisse im September 1979 eskalierte. Im Zuge der Intervention setzte die Sowjetunion eine neue kommunistische Führung ein. Daraufhin begann ein zehn Jahre andauernder Krieg zwischen der von der Sowjetunion gestützten Zentralregierung und den Widerstandsgruppen der Mudschahidin. Der Krieg verursachte ungefähr 1,5 Millionen afghanische Todesopfer und die Verwüstung eines Großteils des Landes. Die Sowjetunion zog mit ihren Truppen am 15. Februar 1989 aus Afghanistan ab. Im Jahr 1992 folgte der Zusammenbruch des afghanisch-kommunistischen Regimes. 355 M. Wörner, NATO-Handbuch, S. 121.
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spiele in Moskau sowie vier Jahre später die XXIII. Olympischen Spiele in Los Angeles, bei denen die Supermächte jeweils die Spiele des Gegners boykottierten. Anfang der 1980er-Jahre gab es auch in Europa wieder politische Un ruhen. In Polen bestand aufgrund einer großen Streikwelle 1980 die Gefahr einer Intervention der Sowjetunion, was die beachtlichen Fortschritte der Entspannungspolitik wieder ernsthaft in Frage gestellt hätte. Die Befürchtung bestand darin, dass die Sowjetunion Polens Recht auf territoriale Integrität und Unabhängigkeit verletzen könnte. Durch das am 31. August 1980 zwischen dem Danziger Streikkomitee und Vertretern der polnischen Regierung geschlossene Danziger Abkommen356 konnte diese Gefahr gebannt werden. Es waren die ersten Verträge, in denen eine kommunistische Regierung die Opposition legalisierte357. Diese unerwarteten Entwicklungen nährten nicht nur in Polen den Geist der Hoffnung und des Optimismus358. Am 11. März 1985 führte der Tod von Generalsekretär Tschernenko359 auch in der Sowjetunion zu einem bedeutsamen Wandel im Führungsstil. Michael Gorbatschow wurde zu seinem Nachfolger ernannt. Mit Gorbatschow hielt in der Sowjetunion der Politikstil von „Glasnost“ (russ.: Offenheit) und „Perestroika“ (russ.: Umbau) Einzug, womit eine Annäherung der Widersacher eingeleitet wurde. Durch die friedliche Revolution in der DDR und andere Auflösungserscheinungen360 des gesamten Ostblocks Ende 1989 erklärte Gorbatschow – wie sich später zeigen sollte, zu früh – „bei Regierungskonsultationen“ am 2. und 3. Dezember 1989 auf dem sowjetischen Kreuzfahrtschiff „Maxim Gorki“ vor Malta gegenüber dem US-amerikanischen Präsidenten Bush, dass „der Kalte Krieg zu Ende ist“.
356 Die polnische Regierung ließ im Rahmen des Danziger Abkommen die Bildung einer unabhängigen Gewerkschaft unter dem Namen „Solidarnosc“ (Solidarität) zu und erkannte sie amtlich an. Ihr Anführer Lech Walesa, wurde zu einer international bekannten Persönlichkeit. 357 Vgl. hierzu G. Kriwanek, Polen, S. 94 ff. 358 M. Wörner, NATO-Handbuch, S. 128. 359 Konstantin Ustinowitsch Tschernenko (russ. Константин Устинович Чер ненко), * 11. Septemberjul./24. Septembergreg. 1911 in Bolschaja Tes, † 10. März 1985 in Moskau war ein sowjetischer Politiker, der vom 13. Februar 1984 bis zu seinem Tod Parteichef der KpdSU (Generalsekretär) sowie als Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets das Staatsoberhaupt der Sowjetunion war. 360 Vor allem der sog. Samtenen Revolution in der Tschechoslowakei sowie der Rumänischen Revolution 1989.
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2. Strategische Ausrichtung und Komponenten der Strategie Ab 1967 begann die Phase der Koexistenz von Rüstung und Entspannung. Auf Grundlage der Harmel-Studie beschloss im Dezember 1967 der NATORat ein neues Strategisches Konzept sowie einen Fünfjahres-StreitkräftePlan. Die neue Strategie der „flexiblen Erwiderung“ berücksichtigte die Entwicklungen seit 1956 und verband konventionelle und nukleare Waffensysteme zu einem Instrumentarium, das zusammen mit allen politischen Mitteln geeignet sein würde, flexibel auf alle Arten der Androhung oder Anwendung von militärischer Gewalt zu antworten und Aggressionen im vordersten Verteidigungsraum aufzufangen361. Damit erhielt die Aktivität der NATO durch das Doppelkonzept von „Verteidigung und Entspannung“ eine neue Ausrichtung – getreu dem Motto: Stillstand schadet! Es wurde am 14. Dezember 1967 im Bericht über „Die künftigen Aufgaben der Allianz“362 verkündet. Der Bericht wies der NATO in Ziffer 5 zwei Hauptfunktionen zu: Zum einen die Aufgabe, „eine ausreichende militärische Stärke und politische Solidarität aufrechtzuerhalten, um gegenüber Aggressionen und anderen Formen von Druckanwendung abschreckend zu wirken und das Gebiet der Mitgliedstaaten zu verteidigen, falls es zu einer Aggression kommt“. Zum anderen „die weitere Suche nach Fortschritten in Richtung auf dauerhafte Beziehungen, mit deren Hilfe die grundlegenden politischen Fragen gelöst werden können“, da „die Möglichkeit einer Krise […] nicht ausgeschlossen werden (kann), solange die zentralen politischen Fragen in Europa, zuerst und zunächst die Deutschlandfrage, ungelöst bleiben“. Die Kernthese des Dokuments lautete: „Militärische Sicherheit und eine Politik der Entspannung stellen keinen Widerspruch, sondern eine gegenseitige Ergänzung dar.“363
Die sich durch das gewaltsame Vorgehen mehrerer WP-Staaten gegen die Tschechoslowakei und die anschließende Stationierung sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei im Jahr 1968 ergebenden Umstände bedeuteten nach Einschätzung der NATO eine erhöhte Bedrohungslage. In der Folge wurde eine Verstärkung der militärischen Verteidigungsanstrengungen unternommen364, die im Einklang mit der verabschiedeten Strategie der „flexiblen Erwiderung“ stand, da sie eine stärkere Betonung der konventionellen Streitkräfte vorsah. Lediglich durch den Ausbau der konventionellen Streitkräfte 361 G. Poser,
Die NATO, S. 83; M. Wörner, NATO-Handbuch, S. 87. vollständige Bericht in: G. Poser, Die NATO, S. 120 ff.; M. Wörner, NATO-Handbuch, S. 432 ff. 363 J. Köpfer, Vergleich zweier Bündnisse, S. 140. 364 Der NATO-Rat beschloss Anfang 1969 eine Erhöhung der Personalstärken der bestehenden Verbände, die Ergänzung und Modernisierung der Ausrüstung, die Intensivierung der Ausbildung und die Verbesserung der konventionellen Kampfkraft der taktischen Luftstreitkräfte. Diese Maßnahmen wurden in den Streitkräfte-Plan der NATO für 1969 bis 1973 einbezogen. 362 Der
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war eine lückenlose Abschreckung im Sinne der Strategie und die Möglichkeit gegeben, unter verschiedenen militärischen Mitteln – konventionell wie nuklear – zu wählen365. Ein entscheidender Schritt zu verstärkten Verteidigungsanstrengungen innerhalb der NATO wurde mit der Formierung der Europäischen Gruppe366 (EUROGROUP) unternommen. Diese informelle Gruppierung bildete sich im Herbst 1968 auf Initiative Großbritanniens, um im Rahmen des Bündnisses die besonderen europäischen Aspekte der Sicherheitspolitik zu koordinieren und ihre Maßnahmen für die militärische Verteidigung zu rationalisieren. Sie setzte sich zum Ziel, durch eine aktive Rolle der Europäer und zusätz liche europäische Leistungen die Stationierung US-amerikanischer Truppen zu erleichtern und durch Zusammenarbeit sowie gemeinsame Projekte auf den Gebieten Rüstung, Logistik, Infrastruktur und Ausbildung ihre finanziellen Mittel effektiver zu verwenden367. Neben den im Bündnis getroffenen Entscheidungen kündigte der USamerikanische Präsident Nixon im Februar 1969 in Brüssel eine Ära der Verhandlungen mit der UdSSR an. Die Staaten des WP reagierten darauf im März mit der „Budapester Erklärung“, in der sie die frühere sowjetische Idee der kollektiven Sicherheit aller Staaten Europas aufnahmen368. Damit signalisierten beide Supermächte, eine politische Entspannung zwischen beiden „Blöcken“ herbeiführen zu wollen. Die Regierungen der NATOStaaten konzentrierten sich in der Folge auf bilaterale und multinationale Aktionen, um eine Verbesserung des Ost-West-Verhältnisses zu erreichen. Wegweisende Schritte fanden hierbei mit dem Abschluss der sog. Ostverträge statt. Da jedoch nur die beiden Supermächte über ein umfassendes nukleares Rüstungspotenzial verfügten, wurden die Gespräche und Verträge, die das nuklearstrategische Kräfteverhältnis und die Verhinderung atomarer Auseinandersetzungen zum Gegenstand hatten, weitgehend bilateral vorgenommen369. Mit der Entspannungspolitik wurde versucht, die Risiken, die sich aus der politischen und militärischen Konfrontation ergaben, einzugrenzen und eine weitere Verschärfung zu vermeiden370. Dafür mussten neue Formen „zwischenstaatlichen Krisenmanagements“ gefunden werden. Hieraus entwickelte 365 J. Köpfer,
Vergleich zweier Bündnisse, S. 141. europäische Mitgliedstaaten bildeten die EUROGROUP: Belgien, Dänemark, Bundesrepublik, Griechenland, Großbritannien, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Türkei. 367 G. Poser, Die NATO, S. 100. 368 Ders., ebd., S. 85. 369 J. Köpfer, Vergleich zweier Bündnisse, S. 140. 370 M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 128. 366 Zehn
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sich zwischen beiden Weltmächten eine bilaterale Rüstungskontrollpolitik, die das Ziel adressierte, das nukleare Gleichgewicht zu stabilisieren. Auf der Grundlage des „Teststoppvertrages“371 von 1963 sowie des „Nichtverbreitungsvertrages“372 von 1968 begannen im November 1969 die „Gespräche über die Begrenzung der strategischen Rüstungen“ (SALT)373 zwischen beiden Supermächten. Da die beiden vorangegangenen Verträge zur Erhaltung eines „Kernwaffenoligopols“ führten374, ging es für beide Staaten nun darum, durch „kooperative Rüstungssteuerung“ die strategische Rüstungsentwicklung zu regulieren und in ihrem Wachstum herabzumindern.375 Insbesondere die Nichtkernwaffenstaaten setzten ihre Hoffnung darin, dass aus einem politisch-strategischen Denken eine „Definierung von Pflichten“376 resultiert. Die erste Runde der SALT-Verhandlungen (SALT-I) begann am 16. April 1970 in Genf und wurde am 26. Mai 1972 mit den Rüstungskontrollabkommen von Moskau abgeschlossen377. Durch den Abschluss des Vertrages wurde eine nukleare Stabilisierungswirkung zumindest für die nächsten fünf Jahre erzielt. Durch die Befristung des Abkommens auf fünf Jahre – bis 1977 –, konnten beide Seiten Erfahrungen im Umgang mit Rüstungskontrollverhandlungen und deren Einhaltung sammeln378. Das nukleare Wettrüsten wurde durch SALT-I jedoch nicht beendet, da das Interimsabkommen weiterhin die Möglichkeit zu quantitativer Aufrüstung 371 Vertrag über ein Verbot der Kernwaffenversuche in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser vom 5. August 1963, in: EA 18 (1963), S. D 407 f. 372 Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen, in: EA 23 (1968), S. D 321 ff. 373 Engl.: Strategic Arms Limitation Talks. 374 Durch den Teststoppvertrag und den Nichtverbreitungsvertrag wurde den bestehenden Atommächten nichts untersagt, im Gegensatz zu allen Nichtkernwaffenstaaten, die bei Unterzeichnung zu einer freiwilligen Selbstbeschränkung bei gleichzeitiger Anerkennung des Rechts der Atommächte führte, ihre Atomrüstung weiter auszudehnen, wenn sie dies für nötig oder zweckmäßig hielten. M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 74 f. 375 Ders., ebd., S. 99. 376 So der damalige Bundesaußenminister Willy Brandt, der in einer Rede am 3. September 1968 auf einer Konferenz der Nichtkernwaffenstaaten in Genf die Erwartung äußerte, dass die Kernwaffen-Mächte Pflichten definieren sollten, denen sie sich zu unterwerfen haben. Vgl. W. Brandt, Der Wille zum Frieden, S. 205. 377 Das Rüstungskontrollabkommen beinhaltete einen Vertrag über die Begrenzung von ballistischen Raketenabwehrsystemen (ABM), ein Interimsabkommen zur Begrenzung von strategischen Offensivwaffen und ein Protokoll zum Interimsabkommen, in dem Einzelheiten über Umfang und Verfahren der Begrenzung strategischer Offensivwaffen festgelegt waren. Vgl. G. Fahl, SALT II, S. 161 ff. 378 Vgl. M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 78.
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bot und befristet war. Die zweite Runde der SALT-Verhandlungen (SALT-II), die am 25. September 1973 in Genf begann, befasste sich mit der Fortschreibung des Interimsabkommens und mit der Ausdehnung der Rüstungskon trollpolitik auf die qualitativen Dimensionen des Rüstungswettlaufs, die bei SALT-I ausdrücklich ausgeklammert worden waren379. Diese Ziele wurden mit dem Wiener SALT-Abkommen380 vom Juni 1979 lediglich partiell erreicht381 – insbesondere da keine Begrenzung des qualitativen Wettrüstens vereinbart werden konnte und die strategischen Nuklearpotenziale nicht angetastet wurden382. Die bilaterale Rüstungspolitik hatte entsprechende Auswirkungen auf die Strategie der NATO. So fasste die NATO, ungeachtet der sich abzeichnenden Entspannung zwischen den beiden Supermächten, 1970 zunächst den Entschluss, den Rückstand in der konventionellen Verteidigung im Verhältnis zum WP durch das Programm „Alliance Defence for the 70s“ (AD 70) zu beseitigen383. Allerdings entstand im Zuge der Entspannungspolitik innerhalb des Bündnisses ein Erosionsprozess, dem der US-amerikanische Außenminister Kissinger384 1973 mit einer Rede in den USA entgegentrat, indem er die Verbündeten zu einer neuen „Atlantik Charta“ aufrief. Die Zusammen arbeit innerhalb des Bündnisses verschlechterte sich abermals durch unzureichende Konsultations- und Gegenmaßnahmen im Zuge des im Oktober 1973 ausgebrochenen Nahost-Kriegs385. Im Dezember 1973 erreichten Zusammen379 Ders.,
ebd., S. 99. 18. Juni 1979 wurde der SALT-II-Vertrag, ein Zusatzprotokoll, eine gemeinsame Erklärung über den Fortgang der Verhandlungen sowie ein Dokument mit einer Präzisierung der im SALT-II-Vertrag verwendeten technischen Begriffe unterzeichnet. 381 Eine Dokumentation des SALT-Vertragswerks findet sich bei G. Fahl, SALT II, S. 90 ff. Die Kritik an dem Vertragswerk endete auch nicht mit dessen Unterzeichnung. Eine Ratifizierung des Vertrages durch den US-amerikanischen Senat fand nie statt. Vgl. hierzu W. Pordzik, SALT II, in: EA 33 (1978), S. 517 ff. 382 Die USA brauchten kein Waffensystem abzugeben, und der Sowjetunion, die 300 ihrer Raketen reduzieren mussten, sich aber in einem Umstrukturierungsprozess ihres strategischen Potenzials befand, wurde erlaubt, die Umrüstung fortzusetzen und ihre Angriffsfähigkeit zu verstärken. M. Görtemaker, Entspannungspolitik, S. 92. 383 Vgl. G. Poser, Die NATO, S. 86. 384 Henry Alfred Kissinger (geb. als Heinz Alfred Kissinger), * 27. Mai 1923 in Fürth, ist ein US-amerikanischer Politikwissenschaftler und Politiker deutscher Herkunft, der vom 22. September 1973 bis zum 20. Januar 1977 Außenminister der USA war. Für das Friedensabkommen in Vietnam erhielt er 1973 zusammen mit Lê Đức Thọ den Friedensnobelpreis. 385 Jom-Kippur-Krieg vom 6. Oktober 1973 bis zum Waffenstillstand am 22./ 24. Oktober 1973. Angriff Ägyptens und Syriens auf Israel (Sinai und Golanhöhen, die Israel sechs Jahre zuvor erobert hatte) am islamischen Fest des Propheten und dem Jom-Kippur-Tag (höchster jüdischer Feiertag). Die VN riefen in der S/RES/338 380 Am
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halt und Solidarität innerhalb der NATO einen Tiefpunkt. Ausschlaggebend hierfür waren signifikante Unterschiede der Interessenlagen bei der Bewältigung des Nahost-Konflikts sowie ungleichartige Tendenzen in der Entspannungspolitik. Nach der Entspannung im Krisengebiet und in dem Bewusstsein, dass die multilaterale Zusammenarbeit in der NATO für alle Beteiligten vorteilhafter gegenüber bilateralen Abkommen und Initiativen sei, wurde im Juni 1974 eine „Erklärung über die Atlantischen Beziehungen“386 unterzeichnet, die den gemeinsamen politischen Willen zur Partnerschaft im Bündnis bekräftigte387. Die Strategie in der dritten Entwicklungsstufe fußte letztlich auf dem politischen Konzept von „Verteidigung und Entspannung“ zur Beruhigung im Ost-West-Konflikt. Grundlegende Änderungen am militärischen Konzept wurden infolgedessen nicht mehr vorgenommen. Für die Aufstellung und Umsetzung dieser Strategie bedurfte es vieler Jahre. Parallel wurde das politische Bestreben nunmehr auch darauf ausgerichtet, eine gesamteuropäische Sicherheitskonferenz herbeizuführen. Die Abhaltung einer solchen Sicherheitskonferenz geht auf das Bestreben der Sowjetunion zurück, das sich bis in die 1960er-Jahre zurückverfolgen lässt388. Am 22.11.1972 begannen in Helsinki unter Teilnahme aller europäischen Staaten, mit Ausnahme Albaniens sowie der USA und Kanadas, Vorgespräche über eine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE)389. Ziel der Konferenz war es, die zwischen Ost und West bestehenden Spannungen abzubauen und das Leben der von der europäischen Teilung betroffenen Menschen zu erleichtern390. Die Vorgespräche endeten mit der Verabschiedung der „Schlussempfehlungen der Helsinki-Konsultationen vom 8.6.1973“391. Dies erfolgte im Rahmen der ersten Phase der KSZE, auf der vom 3.–7. Juli 1973 in Helsinki tagenden Konferenz der Außenminister.
(1973), v. 22. Oktober 1973 die Parteien zum Waffenstillstand auf, der sodann am 22. Oktober (Nordfront) bzw. am 24. Oktober (Südfront) eingetreten ist. 386 Erklärungen über die Atlantischen Beziehungen, verabschiedet von den Außenministern der Mitgliedstaaten des Nordatlantischen Bündnisses am 19. Juni 1974 in Ottawa, unterzeichnet von den Regierungschefs dieser Staaten am 26. Juni 1974 in Brüssel, in: EA 29 (1974), S. D 339–341. 387 G. Poser, Die NATO, S. 89. 388 Vgl. M. Wenig, Streitbeilegung durch OSZE, S. 27. 389 Zur Entstehung und Entwicklung der KSZE siehe W. von Bredow, Der KSZEProzess, passim. 390 M. Wenig, Streitbeilegung durch OSZE, S. 28. 391 Auswärtiges Amt, Dokumentation zum KSZE-Prozess, S. 33 ff. Es wurde der Ablauf der Konferenz, die zu behandelnden Themen und die anzuwendenden Verfahrensregeln festgelegt.
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In der zweiten Phase wurde in mehreren Kommissionen in Genf das Abschlussdokument ausgearbeitet. Dieses wurde auf dem Treffen der Staatsund Regierungschefs der KSZE-Teilnehmerstaaten vom 30. Juli bis zum 1. August in Helsinki unter dem Titel „Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“392 unterzeichnet393. Das Kernstück der Schlussakte sind die in einem Prinzipienkatalog zusammengefassten zehn Prinzipien zur Regelung eines friedlichen Zusammenlebens in Europa394. Um eine Überprüfung der Bestimmungen in der Schlussakte sowie eine Weiterführung des eingetretenen Entspannungsprozesses zu gewährleisten, kam es bis 1990 zu drei KSZE-Folgekonferenzen395 auf Außenministerebene396. Trotz der Entspannungspolitik und den Bemühungen um eine friedliche Koexistenz der beiden Machtblöcke nahm nach Auffassung der NATO das Ungleichgewicht in der nuklearen Bewaffnung zu397. Um die „weitere Wirksamkeit der Strategie der Vorneverteidigung und flexiblen Reaktion, 392 EA 30 (1975), S. D 437–484. Die Schlussakte gliedert sich in drei Abschnitte: Fragen der Sicherheit in Europa; Zusammenarbeit in den Bereichen der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Technik sowie der Umwelt; Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen. 393 Die Schlussakte von Helsinki ist kein völkerrechtlicher Vertrag, sondern eine außerrechtliche zwischenstaatliche Abmachung. Grund dafür war die nicht vorhandene Absicht der Unterzeichner, mit der Schlussakte Rechte und Pflichten nach Völkerrecht zu begründen. So T. Schweisfurth, KSZE-Schlußakte, in: ZaöRV 36 (1976), S. 695 f. 394 M. Wenig, Streitbeilegung durch OSZE, S. 28. 395 1. Nachfolgekonferenz in Belgrad (Oktober 1977 – März 1978), 2. Nachfolgekonferenz in Madrid (November 1980 – September 1983), 3. Nachfolgekonferenz in Wien (November 1986 – Januar 1989). 396 Beim vierten Folgetreffen in Helsinki (März – Juli 1992) wurde auf der Gipfelerklärung die KSZE als regionale Sicherheitsorganisation i. S. d. VIII. Kapitel der VN-Charta betrachtet. Die durch die KSZE ausgelösten Entwicklungen machten es schließlich notwendig, die KSZE im Dezember 1994 auf dem Treffen der Staats- und Regierungschefs in Budapest in eine internationale Organisation, die OSZE, umzuwandeln. Während sie bisher nur als eine periodisch tagende Konferenz aufgrund der Helsinki-Akte bestand, die keine rechtlich verbindenden Regelungen enthielt, setzten mit der Pariser Charta für ein Neues Europa von 1990 erste Ansätze für neue Strukturen und das Ablegen des Konferenzcharakters ein. Vgl. H. Köck/P. Fischer, Das Recht der Internationalen Organisationen, S. 384 f.; I. Seidl-Hohenveldern/G. Loibl, Internationale Organisationen, Rdnr. 0251. Siehe hierzu auch die umfangreiche Untersuchung von J. Bortloff, OSZE, passim. 397 Von der NATO wird hervorgehoben, dass die Sowjetunion seit 1979 die Entwicklung und Stationierung von SS-20-Raketen in unvermindertem Umfang fortgesetzt habe und dass sich damit die nuklearen Kräfteverhältnisse in Europa weiter zugunsten des WP verschoben haben. Vgl. NATO, Handbuch, S. 117 f. Unstreitig ist, dass die Sowjetunion in den 1960er- und 70er-Jahren ihre nuklearstrategischen Waffenkontingente ausbaute und die Parität mit den USA erreicht hatte. Zu Beginn der 1980er-Jahre verfügte die Sowjetunion über ein umfangreiches Arsenal strategischer
C. Die strategische Ausrichtung der NATO123
auf der die Abschreckungspolitik des Bündnisses beruht, zu gewährleisten“398, verabschiedeten die Außen- und Verteidigungsminister des Bündnisses auf einer Sondersitzung am 12. Dezember 1979 den sog. „Doppelbeschluss“. Gemäß dem Kommuniqué der Sondersitzung beschloss die NATO die Stationierung neuer nuklearer Mittelstreckenraketen399 auf westeuropäischem Boden bis Ende des Jahres 1983 einzuleiten, wenn nicht bis dahin parallel laufende Rüstungskontrollverhandlungen (INF) zwischen beiden Weltmächten ein „stabileres, umfassendes Gleichgewicht bei geringeren Beständen an Nuklearwaffen auf beiden Seiten“400 erzielt haben würden. Der Doppelbeschluss umfasste damit sowohl die Stationierung als auch die Rüstungskontrolle. Im Rahmen der Abschreckungsstrategie der Flexiblen Antwort (Flexible Response) hat sich die NATO damit für einen möglichen Ersteinsatz von Nuklearwaffen entschieden, der die „Vorbedachte Eskalation“ einleiten würde401. Die „Vorbedachte Eskalation“ umfasst den Einsatz von Nuklearwaffen in und für Europa. Entsprechend ihren unterschiedlichen Reichweiten und Einsatzcharakteristiken sollte ein breites Spektrum demonstrativer und taktisch-nuklearer Optionen, die sich nach Intensität, Tiefe des Einsatzraums und Zielkategorien unterscheiden, geschaffen werden402. Nach Ansicht der NATO hatte die Stärkung der nuklearen Abschreckungs- und Verteidigungskomponente eine herausragende Bedeutung, weil damit eine entscheidende Verbindung zwischen der konventionellen Verteidigung und den strategischen Nuklearwaffen der USA, „der äußersten Garantie der Sicherheit des Westens“, hergestellt wurde403. Allerdings war das zentrale Argument der NATO Nuklearwaffen, welche Ziele in den USA und den westeuropäischen Mitgliedstaaten abdeckte. A. Oldag, Allianzpolitische Konflikte in der NATO, S. 92 f. 398 NATO, Handbuch, S. 118. 399 Als Mittelstreckenraketen gelten Systeme oberhalb der strategischen Reichweite von 1.000 km und unterhalb der Reichweite von 6.000 km. 400 Kommuniqué der Sondersitzung der Außen- und Verteidigungsminister der NATO am 12. Dezember 1979 in Brüssel, Bulletin, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Nr. 154, 18. Dezember 1979. 401 „Die vorbedachte Eskalation soll einen Angriff dadurch abwehren, dass die Qualität des Abwehrkampfes durch den Einsatz nuklearer Waffen verändert oder der Konflikt räumlich ausgedehnt wird. Dem Angreifer soll durch den politisch kontrollierten selektiven Einsatz nuklearer Waffen deutlich gemacht werden, dass Erfolgschance und Risiko für ihn nicht mehr in einem tragbaren Verhältnis stehen“. Weißbuch 1979: Zur Sicherung der Bundesrepublik Deutschland und zur Entwicklung der Bundeswehr, Hrsg. Bundesminister der Verteidigung (Bonn, 1979), S. 123. 402 Vgl. K.-P. Stratmann, NATO-Strategie, S. 36 ff.; A. Oldag, Allianzpolitische Konflikte in der NATO, S. 95. 403 Kommuniqué über die 30. Ministertagung der Nuklearen Planungsgruppe der NATO in Gleneagles (Schottland) am 20. und 21. Oktober 1981, in: EA 37 (1982), D 136.
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Teil 1, Kap. 1: Das System der NATO
zum Doppelbeschluss – die angebliche Überlegenheit der Sowjetunion im Bereich der nuklearen Mittelstreckensysteme – nicht unumstritten404. Zu Beginn der 1980er-Jahre zeigte sich verstärkt, dass durch die verschiedenartigen Interessen der USA und der westeuropäischen Mitgliedstaaten zentrale Punkte in der gemeinsamen Sicherheitspolitik Gegenstand anhaltender Kontroversen war405 – insbesondere ist auf das dazu ergangene Urteil des BVerfG (sog. Pershing II-Urteil)406 zu verweisen. Schließlich ist es nicht alltägliche Gerichtspraxis bei einem Urteil, dass allein die abweichende Meinung eines Richters (Mahrenholz) bereits mehr als 20 Seiten Urteilsbegründung umfasst407. Dennoch wurde die Verwirklichung des Doppelbeschlusses Ende des Jahres 1983 erreicht, als die Stationierung von Pershing-Raketen408 und Marschflugkörpern Schritt für Schritt in die Tat umgesetzt wurde. So wurden bspw. am 23. November 1983 erste Teile für landgestützte Marschflugkörper nach Großbritannien und Deutschland geliefert409. 404 Vgl. A. Oldag, Allianzpolitische Konflikte in der NATO, S. 88 m. w. N. Während eine Reihe von Analysen und Kräftevergleichen, die häufig von politisch der NATO nahestehenden Instituten veröffentlicht worden sind, die Argumentation zum Doppelbeschluss unterstützten und diesen als notwendige Modernisierungsmaßnahme zur Wiederherstellung des Gleichgewichts einschätzten, wurden insbesondere von Arbeiten der Friedensforschung Zweifel geäußert. 405 So unterstützten die westeuropäischen NATO-Staaten Ende der 1970er-Jahre vehement eine nukleare Nachrüstung, wohingegen sich zu Beginn der 1980er-Jahre erhebliche Zweifel mehrten. Denn neben der Realisierung bestimmter nuklearer Kriegsführungsoptionen wurde erkannt, dass der Doppelbeschluss dem politischen Interesse diente, den US-amerikanischen Führungsanspruch in der westlichen Allianz zu verstärken. A. Oldag, Allianzpolitische Konflikte in der NATO, S. 94. 406 Urteil v. 18. Dezember 1984, Az. 2 BvE 13/83; BVerfGE 68, 1. 407 Abweichende Meinung des Richters Mahrenholz zum Urteil vom 18. Dezember 1984 – 2 BvE 13/83; BVerfGE 68, 111–132. Die Bedeutung dieses Urteils bemisst sich auch daran, dass der Abdruck des Urteils in der Entscheidungssammlung des BVerfG abweichend von der zeitlichen Reihenfolge erfolgte. 408 Im Rahmen des Doppelbeschlusses kam es zur Stationierung von Mittelstreckenraketen des Typ Pershing II und Cruise Missile. Während beim Vorgängermodell Pershing I a die Reichweite mit 740 km angegeben wurde, verfügte die Pershing II über eine Reichweite von ca. 1.850 km sowie über eine punktgenaue Treffergenauigkeit. So erlaubt eine elektronische Endphasenlenkung die Durchführung von Kurskorrekturen auch nach Wiedereintritt des Projektils in die Erdatmosphäre. Vgl. The Modernization of NATO’s Long Range Theater Nuclear Forces, Report Prepared for the Subcommittee on Europe and the Middle East of the Committee on Foreign Affairs U.S. House of Representatives, Congressional Research Service (Washington/D.C., 1980), S. 42; A. Oldag, Allianzpolitische Konflikte in der NATO, S. 93. 409 Mit der Entscheidung des Deutschen Bundestages am 22. November 1983, der Stationierung von Pershing II-Raketen zuzustimmen, wurden seitens der Sowjetunion die Verhandlungen über eine Kürzung der nuklearen Mittelstreckensysteme (INF) abgebrochen und bis Januar 1985 formell ausgesetzt. Vgl. NATO, Handbuch, S. 148.
C. Die strategische Ausrichtung der NATO125
Allerdings führten die militärstrategischen Implikationen des NATO- Doppelbeschlusses zu unaufhebbaren allianzpolitischen Dissonanzen, da an die militärische und abschreckungspolitische Funktion der neuen nuklearen Mittelstreckenraketen unterschiedliche Erwartungen geknüpft worden waren410. Im November 1984 billigte der Verteidigungs-Planungsausschuss weitere Aspekte der Strategie der flexiblen Reaktion. Das sogenannte FOFA-Dokument411 diente der Wiederherstellung der „flexible Response-Strategie“. Die FOFA zielte darauf ab, dafür Sorge zu tragen, dass die NATO die Fähigkeit besitzt, schnellstmöglich auf die nach der ersten Welle nachfolgenden weiteren Wellen (sog. Folgestaffeln) vorzugehen. Es sollte verhindert werden, dass durch den WP unmittelbare militärische Fakten geschaffen werden, ehe die NATO ihre eigenen Verstärkungen einsetzen oder durch Konsultation die Entscheidung treffen kann, mit anderen Mitteln zu reagieren. Das Konzept stellte ein Mittel dar, die Abschreckung weiter zu stärken und die Strategie wirksamer einzusetzen. Sie bedeutete keine Änderung des Schwerpunkts dieser Strategie.412 Die Verteidigungsplanung der NATO zur See basierte auf dem 1981 geschaffenen Konzept für Operationen der Seestreitkräfte, das kompatibel war mit dem allgemeinen Konzept der Abschreckung in Friedenszeiten und der Vorneverteidigung sowie flexiblen Antwort im Kriegsfalle. Das Konzept umfasst drei grundlegende operative Prinzipien: „Eindämmung, d. h. die sowjetischen Flotten sollen darin gehindert werden, die offene See zu erreichen; Verteidigung in der Tiefe, d. h. die Bereitschaft, sowjetische Seestreitkräfte in allen Gebieten von ihren Heimathäfen bis zu Seeverbindungslinien des Bündnisses zu stellen, und Aufrechterhaltung der Initiative, d. h. rasche und entscheidende Bekämpfung sowjetischer Kräfte, wo immer NATO-Interessen bedroht sind“.413
410 So wurde aus der Perspektive der westeuropäischen Staaten „Eskalationswille“ demonstriert. Der Hinweis auf die Irrationalität eines Nuklearkriegs zwischen Ost und West erschien zugleich als gemeinsamer Nenner rüstungskontrollpolitischer Stabilisierung zwischen Ost und West. Allerdings wurden dadurch weitere Kriegsführungsoptionen formuliert, die einen engeren Spielraum für rüstungskontrollpolitische Vereinbarungen ließen. A. Oldag, Allianzpolitische Konflikte in der NATO, S. 102. 411 Long Term Planning Guideline for Follow-on Forces Attack (Langfristige Planungsrichtlinie für den Angriff auf Folgestaffeln). 412 Die Änderungen stützten sich auf neue Technologien, z. B. Systeme für eine bessere Zielerfassung, raschere Informationsverarbeitung und eine wirksame Bekämpfung von festen und mobilen Zielen in Bereichen weit hinter den unmittelbaren Kampftruppen. 413 NATO, Handbuch, S. 154 f.
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Teil 1, Kap. 1: Das System der NATO
Am 8. Dezember 1987 unterzeichneten schließlich414 Reagan415 und Gorbatschow den INF-Vertrag, mit dem weltweit alle US-amerikanischen und sowjetischen landgestützten nuklearen Mittelstreckenraketen der Reichweiten von 500 bis 5.000 km innerhalb von drei Jahren abgeschafft werden sollten416. Es war das erste Abkommen, das eine tatsächliche Verringerung und nicht nur eine Begrenzung von Kernwaffen erzielte417. Die europäische Revolution von 1989/90 setzte alle strategischen Verabredungen der NATO außer Kraft. Die Sowjetunion stimmte zu, die Deutschen in die Einheit zu entlassen und ihre Streitkräfte „aus dem westlichen Vorfeld“ auf das eigene Gebiet zurückzuziehen418. Eine Vielzahl von Gipfeltreffen dokumentiert diese Phase419.
III. Konzept der „Friedens- und Stabilitätssicherung“ Mit der europäischen Revolution der Jahre 1989/90 begann eine neue Epoche in der weltweiten Sicherheitspolitik. Durch Niedergang und Zerfall der Sowjetunion wurde ebenfalls das Ende des von ihr beherrschten Militärbündnisses eingeleitet. Im „Hurricane of Change“ des Jahres 1991 implodierte die UdSSR, was zur Auflösung des WP, des sowjetrussischen Imperiums sowie des sozialistischen Rechtskreises führte420. Die militärischen Strukturen des WP wurden am 31. März 1991, das Bündnis selbst am 1. Juli 1991 formell aufgelöst. Diese Vorgänge führten zu einem Wettlauf von Europäischer Union und NATO – in der Zeit einer daniederliegenden Russischen Föderation – so rasch wie möglich, den eigenen Einflussbereich zu Ungunsten der Russischen Föderation auszudehnen und sich unmittelbar bis zur russischen Grenze heran zu formieren.
414 Die formellen Verhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion über nukleare Mittelstreckenraketen begannen am 30. November 1981 in Genf. Am 1. Juni 1988 erfolgte die Unterzeichnung der Ratifizierungsurkunden in Moskau. 415 Ronald Wilson Reagan, * 6. Februar 1911 in Tampico, † 5. Juni 2004 in Bel Air, war vom 20. Januar 1981 bis zum 20. Januar 1989 der 40. Präsident der Vereinigten Staaten. 416 Vgl. T. Stamm-Kuhlmann, in: ders./R. Wolf (Hrsg.), Raketenrüstung, S. 124. 417 Die USA zerstörten vertragsgemäß 846, die Sowjetunion insgesamt 1.846 Raketen, bei gleichzeitiger Kontrolle der anderen Seite. Die letzte Rakete wurde im Mai 1991 demontiert. 418 U. Weisser, NATO ohne Feindbild, S. 58 f. 419 Ausführlich hierzu ders., ebd., S. 59 ff. 420 So W. Vitzthum, Russland und das Völkerrecht, in: AVR 54 (2016), S. 250.
C. Die strategische Ausrichtung der NATO127
1. Lageentwicklung im Zeitraum von 1990–1999 Mit der Annahme der Erklärung von Alma-Ata hörte die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) zum 31. Dezember 1991 auf zu existieren421. Die UdSSR ging durch Dismembration ihrer dahin noch vorhandenen Republiken als Völkerrechtssubjekt unter422. An ihre Stelle trat die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS)423. Das Abkommen über die Gründung dieser Gemeinschaft wurde als offenes Abkommen konzipiert, um insbesondere den Beitritt sämtlicher Mitgliedstaaten der ehemaligen UdSSR sicherzustellen424. Neben den drei Gründungsmitgliedern schlossen sich ebenfalls acht425 weitere Staaten als gleichberechtigte Gründungsmitglieder an. Am 22. Januar 1993 wurde die Charta der GUS426 unterzeichnet. Das Ziel ist eine „nahezu allumfassende Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten“427. Die Gemeinschaft besteht bis dato – sie ist eine regionale internationale Organisation mit einer beträchtlichen Zahl von Verträgen mit zumeist allerdings unterschiedlich vielen Vertragspartnern. Russland und seine Grenzen entsprechen seither ungefähr den Grenzen des Moskauer Reichs Mitte des 17. Jahrhunderts428. Zudem wurde das Recht neu gefasst. Russland trat dem Europarat und der Europäischen Menschenrechtskonvention (1998) bei. Schließlich gründete es im Jahr 2015 die Eurasische Wirtschaftsunion, fast eine Kopie der Europäischen Union429. 421 Die Sowjetunion ist mit der Schaffung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) am 21. Dezember 1991 durch Unterzeichnung der Erklärung von elf der fünfzehn Republiken – die baltischen Staaten sowie Georgien waren nicht zugegen – aufgelöst worden. Vgl. EA 47 (1992), S. D 305 f. Dieser actus contrarius führte auch zur Aufhebung des Gründungsvertrages der UdSSR. 422 V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 5, Rdnr. 19. 423 Am 8. Dezember 1991 schlossen Russland, die Ukraine und Weißrussland das Minsker Abkommen über die Gründung der GUS. Vgl. hierzu auch M. Geistlinger, Der Beitritt der Republik Krim zur Russländischen Föderation aus der Warte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, in: AVR 52 (2014), S. 178 f. m. w. N. zum geschichtlichen Zusammenhang der Auflösung der Sowjetunion. 424 V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 34, Rdnr. 17. 425 Aserbaidschan, Armenien, Kasachstan, Kirgisistan, Moldau, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan. 426 EA 48 (1993), S. D 431 ff. 427 Vgl. Art. 2, 4 und 19 GUS-Charta. V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 34, Rdnr. 21. 428 Vgl. zum Moskauer Reich W. Vitzthum, Russland und das Völkerrecht, in: AVR 54 (2016), S. 244 f. Zum heutigen Russland hinzugekommen sind später erworbene Gebiete im Nordkaukasus, im Fernen Osten, in Ostpreußen. Heute umfasst Russland drei Viertel des Territoriums und die Hälfte der Bevölkerung der Sowjetunion. 25 Millionen ethnische Russen leben außerhalb der Grenzen Russlands. 429 „Eurasismus“ dagegen ist eine in den 1920er-Jahren entstandene Bewegung, die einen „dritten Kontinent“ zwischen Europa und Asien imaginierte. Im 21. Jahr-
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Teil 1, Kap. 1: Das System der NATO
Durch die friedliche Revolution im November 1989 in der DDR wurde die faktische Einparteienherrschaft der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) beendet und eine neue Verfassung erzwungen430. Am 18. März 1990 fanden die ersten freien Volkskammerwahlen statt431. Diese Umstände boten nicht nur die Voraussetzungen, um eine Wiedervereinigung der beiden deutschen (Teil-)Staaten zu erzielen432, sondern auch zu der Klärung, wie die Vier-Mächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten in Bezug auf Deutschland als Ganzes und die deutschen Ostgrenzen in der Zukunft gelöst werden könnten433. Aufgrund der beschränkten Souveränität der beiden deutschen (Teil-)Staaten434 erforderte die Herstellung der Einheit das Einvernehmen mit den VierMächten. Dieses Einvernehmen wurde mit dem am 12. September 1990 von den Außenministern der beiden deutschen (Teil-)Staaten und der Vier-Mächte in Moskau unterzeichneten „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“ (Zwei-plus-Vier-Vertrag)435 erzielt436. Mit der Ratifizierung „endete“ die Periode der Besatzung Deutschlands als eines besiegten Staates, der für den Zweiten Weltkrieg verantwortlich war. Gleichzeitig kam es zur ersten NATO-Osterweiterung, indem das Gebiet der ehemaligen DDR mit dem Beitritt politisch NATO-Territorium wurde437. hundert wurde sie in ein antiwestliches Eurasiertum umgeformt. Vgl. W. Vitzthum, Russland und das Völkerrecht, in: AVR 54 (2016), S. 250. 430 Vgl. R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, § 17, S. 67 f. 431 Durch das Verfassungsgesetz zur Bildung von Ländern in der DDR vom 22. Juli 1990 konstituierten sich fünf Länder: Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. 432 Die Teilung Deutschlands war in Europa ein einzigartiger Vorgang. Außerhalb Europas erfolgte eine Teilung Koreas (1945) und Vietnams (1955). 433 Die Kriegs- und Nachkriegsvereinbarungen der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, insbesondere die Potsdamer Beschlüsse vom 2. August 1945, sahen eine Regelung der sich aus der Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg ergebenden Fragen in einem Friedensvertrag vor. Vgl. Ziffer X. der Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin (Potsdamer Protokoll). 434 Vgl. hierzu den Exkurs in Teil 1, Kap. 1, A. II. 435 BGBl. II 1990, S. 1317 ff. 436 Vertragspartei sollte auf deutscher Seite bereits das vereinte Deutschland sein. Dieses hat den Vertrag ratifiziert, der am 15. März 1991 in Kraft getreten ist (BGBl. II 1991, S. 587). 437 Militärisch gab es bis zum endgültigen Abzug der sowjetischen Streitkräfte im Jahre 1994 eine Sonderregelung. Gem. Art. 5 Abs. 1 Zwei-plus-Vier-Vertrag durften „ausschließlich deutsche Verbände der Territorialverteidigung stationiert sein, die nicht in Bündnisstrukturen integriert“ waren, „denen deutsche Streitkräfte auf dem übrigen deutschen Territorium zugeordnet sind“. Somit durften die auf dem Territorium der ehemaligen DDR stationierten Bundeswehrsoldaten erst zum 1. Januar 1995 in die Bündnisstruktur der NATO integriert werden.
C. Die strategische Ausrichtung der NATO129
Während die Revolution in Deutschland friedlich ablief, vollzogen sich Veränderungen anderenorts kriegerisch. Ein Beispiel dafür zeigt das ehemalige Jugoslawien, dessen Konflikte in den 1990er-Jahren zu einer Reihe miteinander verflochtener nicht-internationaler und international bewaffneter Konflikte führten, darunter der 10-Tage-Krieg Ende Juni 1991 in Slowenien mit dem Ziel, den Abzug der Jugoslawischen Volksarmee und damit die staatliche Unabhängigkeit durchzusetzen; der Krieg in Kroatien im Sommer 1991 sowie die völkerrechtswidrigen Militäroperationen der kroatischen Armee im Sommer und Herbst 1995 zur gewaltsamen Rückeroberung des bis dahin von aufständischen Serben besetzten Gebiets unter dem Namen „Srpska Krajina“; der Krieg in Bosnien-Herzegowina von April 1992 bis November 1995 sowie schließlich der bewaffnete Aufstand einer kosovarischen Befreiungsarmee unter dem (albanisch-sprachigen) Akronym UÇK mitsamt der NATO-Intervention 1999438. 2. Ziele und Komponenten des Strategischen Konzepts 1991 Schnell nach ihrer Annahme setzte die NATO de facto alle strategischen Verabredungen, insbesondere die auf dem Gipfeltreffen am 30. Mai 1989 vorgenommenen439, außer Kraft. In der Londoner Erklärung440 vom 5./6. Juni 1990441 kündigte die NATO an, eine neue Militärstrategie auszuarbeiten und die Strategie der flexiblen Antwort durch eine Strategie ersetzen zu wollen, „die Nuklearkräfte wahrhaft zu Waffen des letzten Rückgriffs macht“442. Zudem sollte die integrierte Vorneverteidigung – mitten in Deutschland – 438 Ausführlich zu den Ursachen für die Eskalation der Gewalt J. Marko, in: T. Giegerich/A. Proelß, Krisenherde, S. 123 ff. 439 Im Zuge der Entspannungspolitik und den „inneren Zerreißproben“ des Bündnisses verabschiedete die NATO ein Gesamtkonzept, wie Verteidigungsfähigkeit und Rüstungskontrolle in der Zukunft zu erreichen seien. Das Konzept machte den Versuch, die strategische Funktion der nuklearen und konventionellen Streitkräfte unter den veränderten Bedingungen nuklearstrategischer Parität und der Eliminierung des nuklearen Mittelstreckenpotenzials neu zu definieren, zugleich den Weg für weitere Abrüstungsverhandlungen auf nuklearem und konventionellen Feld zu öffnen. Die beschlossene Modernisierung der nuklearen Kurzstreckenraketen vom Typ Lance, deren Lagerung und Einsatz weitgehend auf deutschem Territorium begrenzt wäre, forderte die deutsche Bündnis-Loyalität heraus. Vgl. dazu ausführlich U. Weisser, NATO ohne Feindbild, S. 56 ff. 440 Diese Erklärung erweist sich als „Schlüsseldokument“ für den Weg der NATO zu einem neuen Selbstverständnis und zu einer neuen Strategie zu gelangen. U. Weisser, NATO ohne Feindbild, S. 60. 441 „Londoner Erklärung“ der Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitgliedstaaten vom 5.–6. Juni 1990 in London, in: EA 45 (1990), S. D 456–460. 442 EA 45 (1990), S. D 459, Ziff. 18 a. E.
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durch ein Konzept ersetzt werden, das auf die Verteidigung an den Grenzen der Allianz ausgerichtet war – und noch immer ist443. Im November 1991 wurde schließlich ein „Neues Strategisches Konzept“444 vorgelegt445. Ebendieses besaß drei Grundpfeiler: die Aufrechterhaltung der Fähigkeit zur kollektiven Verteidigung; Dialog mit den ehemaligen Gegnern des WP sowie Kooperation mit allen Staaten Europas446. Durch Dialog und Kooperation wollte die NATO die Sicherheit und Stabilität des gesamten europäischen Kontinents erhöhen und die Staaten Mittelund Osteuropas beim Transformationsprozess unterstützen. Zudem sollte das Bündnis auf dem Gebiet der präventiven Konfliktverhütung und des Konfliktmanagements stärker als bisher Aufgaben übernehmen. Auf dem NATO-Gipfel im November 1991 wurde der Aufbau eines „Nordatlantischen Kooperationsrats“ (NAKR) angeregt447. Die konstituierende Sitzung des NAKR fand am 20. Dezember 1991 in Brüssel mit 25 Teilnehmerstaaten448 statt. Die Anzahl vergrößerte sich bis auf 40 Staaten. Obwohl durch vertrauensbildenden Dialog und Zusammenarbeit die Ziele verwirklicht werden konnten, war die NATO gegenüber den Mitgliedern des NAKR zurückhaltend hinsichtlich einer möglichen Erweiterung des Bündnisses. Die Kritik449 an dieser Position führte dazu, dass das Konzept der Partnerschaft für den Frieden450 entwickelt wurde, mit dem den Staaten Mittel- und Osteuropas eine Beitrittsperspektive geboten werden sollte451. Das PfP-Konzept wurde schließlich auf dem NATO-Gipfel im Januar 1994 verabschiedet452 und sollte im Rahmen des NAKR eingebunden werden. Für U. Weisser, NATO ohne Feindbild, S. 61. der Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitgliedstaaten am 7. und 8. November 1991 in Rom mit Verabschiedung des neuen Strategischen Konzepts, in: EA 47 (1992), S. D 52–64. 445 Nach Varwick entstand dadurch die „NATO II“. Vgl. J. Varwick, Zwischen Verteidigungsallianz und Weltpolizei: die NATO, in: Informationen zur politischen Bildung 326/2015, S. 56. 446 T. Sprungala, NATO und ehemalige WP-Staaten, in: APuZ 1999 (B 11/99), S. 39. 447 Erklärung von Rom über Frieden und Zusammenarbeit, in: EA 47 (1992), S. D 64–70, hier S. D 67. Der Vorschlag geht auf eine Initiative des US-amerikanischen Außenministers Baker und des deutschen Außenministers Genscher vom 2. Oktober 1991 zurück. 448 16 NATO-Staaten, sechs Mitglieder des ehemaligen WP und die drei baltischen Staaten. 449 Insbesondere der mitteleuropäischen und baltischen Staaten. 450 Partnership for Peace (PfP). 451 T. Sprungala, NATO und ehemalige WP-Staaten, in: APuZ 1999 (B 11/99), S. 40 f. 443 Vgl.
444 Gipfelkonferenz
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die eingeladenen Länder bestand nach ihrem Beitritt zur PfP nunmehr die Möglichkeit, mit der NATO individuelle Partnerschaftsprogramme auszuarbeiten453. Zugleich mehrten sich Stimmen innerhalb der NATO, die eine Erweiterung forderten. Aus diesem Grund wurde eine Studie in Auftrag gegeben, welche die Aufnahmemodalitäten klären und festlegen sollte. Die Studie bildete eine wichtige Vorstufe auf dem Weg zum Madrider Gipfel im Juni 1997, auf dem Tschechien, Polen und Ungarn aufgefordert wurden, dem Bündnis beizutreten454. Dieser Gipfel offenbarte jedoch dreierlei: Militärische Anstrengungen der Kandidaten ohne adäquate demokratische Reformen genügen für einen Beitritt nicht. Zweitens wurde mit dem Wegfall des ehemaligen Hauptwidersachers sichtbar, dass dessen bedrohender Druck von außen, der die Mitglieder oft zu einer Konsensbildung „gezwungen“ hatte, nunmehr fehlte. Dies zeigte sich in dem Disput, ob drei oder fünf (daneben noch Rumänien und Slowenien) Staaten eingeladen werden sollten. Und Drittens war das Verhältnis455 der NATO zu Russland noch immer von entscheidender Bedeutung, sodass die drei baltischen Staaten nicht zum Beitritt aufgefordert wurden456. Auf Grundlage des 1991 verabschiedeten neuen Strategischen Konzepts sollten nunmehr Militärinterventionen auch außerhalb des Bündnisgebiets („out of area“) möglich sein, sofern die Mitgliedstaaten ihre Sicherheitsinteressen bedroht sehen. 3. Lageentwicklung im Zeitraum von 1999–2010 Mit den Luftangriffen der NATO im Zuge des Kosovokriegs sowie mit den Terroranschlägen in den Vereinigten Staaten von Amerika am 11. Sep452 Die Erklärung der Staats- und Regierungschefs vom 11. Januar 1994 sowie das Rahmendokument sind abgedruckt, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 3 vom 17. Januar 1994. 453 Die fünf Zielsetzungen der Partnerschaft waren: Transparenz der Verteidigungsplanung, demokratische Kontrolle der Streitkräfte, Entwicklung der Bereitschaft zu Einsätzen unter der Ägide der VN, Entwicklung kooperativer militärischer Beziehungen mit der NATO sowie Verbesserung der Interoperabilität der Streitkräfte. 454 Vor dem Beitritt wurde die Kooperation mit den Partnerstaaten zunächst vertieft und erweitert. Zur Vertiefung der Kooperation im Rahmen des PfP wurde mit der Schaffung des Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat (EAPR) anstelle des NAKR eine neue Ebene errichtet. Ziel dieser „vertieften PfP“ war es, den Partnern einen größeren Umfang an Mitsprache und mehr Beteiligung bei der Beschlussfassung einzuräumen. T. Sprungala, NATO und ehemalige WP-Staaten, in: APuZ 1999 (B 11/99), S. 42. 455 Vgl. hierzu Teil 1, Kap. 1, A. IV. 456 T. Sprungala, NATO und ehemalige WP-Staaten, in: APuZ 1999 (B 11/99), S. 43.
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Teil 1, Kap. 1: Das System der NATO
tember 2001 begann eine weitere Epoche457 in der Geschichte der NATO. Erstmals in seiner Historie sollte das Bündnis nach den Terroranschlägen den Bündnisfall gem. Art. 5 NV ausrufen. Auf die massiven ethnischen Vertreibungen der Kosovo-Albaner seit dem Sommer 1998 reagierte die NATO mit einer „Humanitären Intervention“. Dieser nicht durch eine SR-Resolution legitimierte Militäreinsatz des Bündnisses rief ein erhebliches politisches wie völkerrechtliches Echo hervor, verstieß er doch gegen geltendes Völkerrecht458. Aufgrund der Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA erklärte das Nordatlantikbündnis erstmals in seiner Geschichte – unter Verletzung des NV und der VN-Charta, wie im Folgenden zu zeigen sein wird – den Bündnisfall. Der gestiegenen Gefahr durch den sich nun offen zeigenden internationalen Terrorismus hatte die NATO zunächst wenig entgegenzusetzen. Getrieben von den durch die Anschläge auf das World Trade Center paralysierten US-Amerikanern, folgte im Jahr 2003 der NATO-Einsatz in Afghanistan.459 Zu einer Zerreißprobe innerhalb des Bündnisses kam es aufgrund der Irak-Krise 2002/2003. Die Vereinigten Staaten beschuldigten den Irak, gegen VN-Auflagen verstoßen zu haben. Die Ausführungen des USamerikanischen Außenministers Powell460 reichten nicht, um den SR von der Notwendigkeit eines Kriegseinsatzes zu überzeugen461. Die USA versuchten nunmehr im Rahmen einer „Koalition der Willigen“462 eine Unterstützung auf breiter Basis zu erlangen. Diese Pläne der USA und die Vorbereitungen auf einen entsprechenden Einsatz stürzten die NATO in eine tiefe Krise. Die Frage, ob in der Türkei präventiv Abwehrsysteme bereitgestellt werden, damit sie sich im Falle eines Angriffs gegen den Irak gegen eventuelle Gegenangriffe wehren kann, legten Frankreich und Belgien ein Veto ein. Später folgte auch Deutschland463. Am 20. März 2003 wurde der Irak zunächst gezielt aus der Luft bombardiert. 457 Von Varwick als „NATO III“ bezeichnet. Vgl. J. Varwick, Zwischen Verteidigungsallianz und Weltpolizei: die NATO, in: Informationen zur politischen Bildung 326/2015, S. 56. 458 Ausführlich hierzu unter Teil 1, Kap. 2, B. und Teil 4, Kap. 2. 459 Ausführlich hierzu unter Teil 1, Kap. 2, C. und Teil 4, Kap. 3. 460 Colin Luther Powell, * 5. April 1937 in New York City ist ein ehemaliger General der U.S.-Army. Er war vom 20. Januar 2001 bis 26. Januar 2005 Außenminister der Vereinigten Staaten. 461 Insbesondere Deutschland, als im SR vertretenes NATO-Mitglied sowie Frankreich und Russland lehnten eine entsprechende Ermächtigung ab. 462 Zunächst umfasste die Koalition der Willigen 43 Staaten. Im Juni 2006 hatten 36 Staaten Truppen im Irak stationiert. 463 Allerdings erst nach Fristablauf, wonach es formell ungültig ist, jedoch politisch Brisanz besaß.
C. Die strategische Ausrichtung der NATO133
Eine Bodenoffensive folgte. Der Angriff auf den Irak erfolgte ohne Autorisierung durch den SR. Offiziell erklärten die USA am 1. Mai 2003 die Kampfhandlungen – aber nicht den Kriegszustand – für beendet464. 4. Ziele und Komponenten des Strategischen Konzepts 1999 Auf dem NATO-Gipfel in Washington vom 23.-25. April 1999 feierte die NATO ihr fünfzigjähriges Bestehen. Sichtbarstes Zeichen für den seit einem Jahrzehnt bestehenden Wandel auf dem „Jubiläumsgipfel“ war die Teilnahme der drei neuen Mitgliedstaaten Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik – alles ehemalige WP-Staaten. Aufgrund der großen Änderungen in der weltweiten und insbesondere europäischen Sicherheitsarchitektur nahmen die Mitgliedstaaten auch zur Kenntnis, dass das 1991 beschlossene Strategische Konzept zunehmend überholt zu sein schien465. Da eine dergestalte Konzeption aufgrund ihres öffentlichen Charakters keine detaillierten militärischen Ausführungen erlaubt, wurden die militärischen Planungen weiterhin lediglich in grundlegender Form dargestellt. Es kam zu einer grundsätzlichen inhaltlichen Auseinandersetzung über die künftigen Aufgaben der NATO. Im Wesentlichen drehte sich die Diskussion um drei Themenschwerpunkte: Die Frage, ob die NATO für über die Selbstverteidigung hinausgehende Militäreinsätze – also für „friedenswahrende oder – schaffende“ Operationen – zwingend die Legitimation der VN oder der OSZE bedarf. Zudem welche die künftige Kernfunktion des Bündnisses sein wird und wie es sich mit der Strategie des Ersteinsatzes von Kernwaffen verhält466. Die erste Frage erhielt ihre Aktualität durch die Ereignisse im Kosovo. Während Frankreich bei regionalen Krisen unbedingt für ein Mandat des SR oder der OSZE plädierte, fürchteten insbesondere die USA „eine unzulässige Einschränkung des Handlungsrahmens der Atlantischen Allianz“.467 Die Vereinigten Staaten zielten vielmehr darauf ab, die VN-Charta – insbesondere das dort verankerte Gewaltmonopol des SR – revolutionär zu ändern.
464 Eine detaillierte Übersicht des Kriegsverlaufs findet sich in W. Sofsky, Der Krieg im Irak, S. 181 ff. Einen ganzheitlichen Überblick über das Geschehen vom Überfall auf den Irak bis zum Irak-Krieg 2003 bieten H. von Sponeck/A. Zumach, Irak, S. 109 ff. 465 Vgl. K.-H. Kamp, Das neue Strategische Konzept der NATO, in: APuZ 1999 (B 11/99), S. 19. 466 Ausführlich ders., ebd., S. 21 ff. 467 Ders., ebd., S. 21.
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Teil 1, Kap. 1: Das System der NATO
Das in der Folge entstehende sechste Strategische Konzept setzte sich wie das Vorgängerdokument aus vier Hauptteilen zusammen468. In Teil 1 über „Zweck und Aufgaben des Bündnisses“ wird die im Washingtoner Vertrag von 1949 niedergeschriebene „Raison d’etre“ der NATO, Freiheit und Sicherheit aller ihrer Mitglieder mit politischen und – falls erforderlich – militärischen Mitteln zu gewährleisten, bekräftigt469. Gleichzeitig werden die fünf grundlegenden Sicherheitsaufgaben der NATO beschrieben: Sicherheit; Konsultation; Abschreckung und Verteidigung; Krisenbewältigung und Partnerschaft470. Insbesondere betont die Allianz erstmals, dass sie sich im Rahmen der Krisenbewältigung auch außerhalb des Territoriums der Mitgliedstaaten engagieren wird471. In Teil 2 „Strategische Perspektiven“ wird auf den Wandel im strategischen Umfeld seit dem Ende des Kalten Kriegs eingegangen. Ohne geografische Bezüge werden dabei sicherheitspolitische Herausforderungen und Risiken benannt472. Weiterhin werden die weltweite Verbreiterung waffenfähiger Technologien und die Verwundbarkeit der Informationssysteme moderner Gesellschaften als Gefahrenquellen aufgeführt473. 468 Zweck und Aufgaben des Bündnisses; Strategische Perspektiven; Der Sicherheitsansatz im 21. Jahrhundert und Richtlinien für die Streitkräfte der Allianz. Vgl. hierzu: NATO Press Release (updated 4. Mai 1999), Das Strategische Konzept des Bündnisses, abrufbar unter: http://www.nato.int/docu/pr/1999/p99-065d.htm (zuletzt aufgerufen, am 10. Juni 2017). 469 Vgl. Ziffer 6, in der es heißt: „Auf der Grundlage der gemeinsamen Werte Demokratie, Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit strebt das Bündnis seit seiner Gründung eine gerechte und dauerhafte Friedensordnung in Europa an. Dies wird es auch weiterhin tun“. 470 Vgl. G. Höfler, Die neue NATO, S. 93. 471 Vgl. Ziffer 10 in Bezug auf die Stärkung der Sicherheit und Stabilität des euroatlantischen Raums, in der es heißt: „Krisenbewältigung: Es steht bereit, von Fall zu Fall und im Konsens, im Einklang mit Artikel 7 des Washingtoner Vertrages zu wirksamer Konfliktverhütung beizutragen und sich bei der Krisenbewältigung aktiv einzusetzen, einschließlich durch Krisenreaktionseinsätze“. 472 Vgl. Ziffer 20 in der es heißt: „Zu diesen Risiken gehören Ungewissheit und Instabilität im und um den euro-atlantischen Raum sowie die mögliche Entstehung regionaler Krisen an der Peripherie des Bündnisses, die sich rasch entwickeln könnten. Einige Länder im und um den euro-atlantischen Raum sehen sich ernsten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Schwierigkeiten gegenüber. Ethnische und religiöse Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten, unzureichende oder fehlgeschlagene Reformbemühungen, die Verletzung von Menschenrechten und die Auflösung von Staaten können zu lokaler und selbst regionaler Instabilität führen. Die daraus resultierenden Spannungen könnten zu Krisen führen, die die euro-atlantische Stabilität berühren, sowie zu menschlichem Leid und bewaffneten Konflikten. Solche Konflikte könnten, indem sie auf benachbarte Staaten einschließlich NATO-Staaten übergreifen oder in anderer Weise, auch die Sicherheit des Bündnisses oder anderer Staaten berühren“. 473 Vgl. Ziffer 23.
C. Die strategische Ausrichtung der NATO135
In Teil 3, über den „Sicherheitsansatz im 21. Jahrhundert“, wird der bisherige (weit gestreute) sicherheitspolitische Ansatz der Allianz bestätigt474. Das gemeinsame Ziel besteht darin, „eine europäische Sicherheitsarchitektur aufzubauen, in deren Rahmen der Beitrag des Bündnisses zu Sicherheit und Stabilität des euro-atlantischen Raums und der Beitrag der anderen internationalen Organisationen einander ergänzen und sich gegenseitig verstärken, sowohl bei der Vertiefung der Beziehungen zwischen den euro-atlantischen Staaten und bei der Bewältigung von Krisen“475.
Aus dieser Beschreibung wird deutlich, dass die NATO sich nun endgültig nicht mehr als Verteidigungs- sondern als Sicherheitsbündnis ansieht. Für den Bereich Konfliktverhütung und Krisenbewältigung wird ausgeführt, dass die NATO in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen weiter bemüht ist, „Konflikte zu verhüten oder, sollte eine Krise auftreten, in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht zu deren wirksamer Bewältigung beitragen, einschließlich durch die Möglichkeit der Durchführung von nicht unter Artikel 5 fallenden Krisenreak tionseinsätzen“476.
Somit wird den VN für das Mandat für entsprechende Krisenreaktionseinsätze die primäre Verantwortung zugewiesen. Gleichzeitig werden derartige Einsätze der NATO auch ohne Mandat der VN nicht ausgeschlossen477. Weiterhin wird Partnerschaft, Zusammenarbeit und Dialog als ein Mittel zur Förderung von Sicherheit und Stabilität im euro-atlantischen Raum angesehen. Forum und Rahmen für diesen Dialog soll weiterhin der EAPR bieten.478 Unter dessen Schirm bleibt auch weiterhin die PfP bestehen, die der Hauptmechanismus für den Aufbau praktischer Sicherheitsbeziehungen und für die Verbesserung der Interoperabilität zwischen der NATO und ihren Partnern sein sollen. In den Außenbeziehungen der NATO werden jene zu Russland, der Ukraine und zu den Ländern des Mittelmeerraums hervorgehoben479. Die Aussagen zu Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreiterung betonen das „Streben nach der Verbesserung von Sicherheit und Stabilität auf dem geringstmöglichen Streitkräfteniveau, das mit der Fähigkeit des Bündnisses zur Gewährleistung der kollektiven Verteidigung und zur Erfüllung der ganzen Bandbreite seiner Aufgaben vereinbar ist“480. 474 Vgl.
Ziffer 25.
475 Ziffer 25. 476 Ziffer 31. 477 Vgl.
G. Höfler, Die neue NATO, S. 95.
478 Ziffer 33 ff. 479 Ziffer 36 ff. 480 Ziffer 40.
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Teil 1, Kap. 1: Das System der NATO
In Teil 4 „Richtlinien für die Streitkräfte der Allianz“ sind die Grundsätze der Bündnisstrategie festgelegt481. Die Aufgaben der Streitkräfte im Rahmen der Allianz482 umfassen danach: Abschreckung; Verteidigung; Wahrung oder Wiederherstellung der territorialen Unversehrtheit der Mitgliedstaaten und im Falle eines Konflikts die rasche Beendigung des Kriegs; Konfliktverhütung; Krisenreaktionseinsätze und die Unterstützung anderer internationaler Organisationen483. Im Absatz „Richtlinien für das Streitkräftedispositiv der Allianz“484 werden schließlich Umfang, Bereitschaftsgrad und Verfügbarkeit im Hinblick auf die Erfüllung der möglichen Aufgaben behandelt. Während der Großteil der nationalen Streitkräfte auf einem niedrigen Bereitschaftsgrad gehalten werden kann, bedarf es hingegen für mögliche Krisenreaktionseinsätze rasch verfügbarer Kräfte485. Hinsichtlich des Einsatzes von Nuklearwaffen486 wird zu guter Letzt festgehalten, dass die Wahrscheinlichkeit des Einsatzes in „äußerste Ferne“ gerückt ist. Gleichwohl wird darauf verwiesen, dass nukleare Streitkräfte der Wahrung des Friedens und der Verhinderung jeder Art von Krieg dienen. Die wesentliche Aufgabe der nuklearen Komponente der NATO sei es, einen Angreifer im Ungewissen darüber zu lassen, wie die NATO auf einen militärischen Angriff reagieren würde, sodass ein Angriff jeglicher Art auf das Bündnis das Risiko unkalkulierbar und somit unannehmbar machen487. Zusammenfassend stellt das strategische Konzept vom April 1999 – zeitgleich intervenierte die NATO militärisch in Jugoslawien – ein Konsens papier dar, in dem die neuen Aufgaben und Instrumente des Bündnisses in allgemeiner Form beschrieben wurden. Sie sind durch ein hohes Maß an Flexibilität und Interpretierbarkeit gekennzeichnet. Die NATO sollte nach diesem Konzept „größer, schlagkräftiger und flexibler“ werden488. Im 481 Vgl. Ziffer 41 ff. Genannt werden Solidarität und strategische Einheit; Unteilbarkeit der Sicherheit aller Mitgliedstaaten; Gewährleistung der notwendigen Fähigkeiten der Streitkräfte des Bündnisses zur kollektiven Verteidigung, für den Beitrag zur Konfliktverhütung, für die Durchführung von Krisenreaktionseinsätzen und für die Förderung der Zusammenarbeit mit Partnern; die transatlantische Bindung und die faire Aufteilung der Aufgaben, Risiken und Verantwortlichkeiten. G. Höfler, Die neue NATO, S. 96. 482 Vgl. Ziffer 47 ff. 483 G. Höfler, Die neue NATO, S. 97. 484 Vgl. Ziffer 51 ff. 485 G. Höfler, Die neue NATO, S. 97. 486 Vgl. Ziffer 62 ff. 487 G. Höfler, Die neue NATO, S. 97 f. 488 J. Varwick, Das neue Strategische Konzept der NATO, in: APuZ 2010 (50/2010), S. 25.
C. Die strategische Ausrichtung der NATO137
Schwerpunkt kam zur klassischen Kernfunktion der Bündnisverteidigung nun neu die Krisenbewältigung im euro-atlantischen Raum hinzu.
IV. Konzept: „Aktives Engagement, Moderne Verteidigung“ Das Nordatlantikbündnis hat im Laufe seiner Geschichte mehrere Phasen und Strategieänderungen vollzogen489. Es versteht sich nun nicht mehr nur als klassisches Verteidigungsbündnis, sondern zunehmend als eine militärisch-politische Organisation, die, neben der Wahrung der Sicherheit in den Mitgliedstaaten, auch weltweit für Stabilität sorgt490. Innerhalb des Bündnisses wird jedoch befürchtet, dass durch diese Vielschichtigkeit ein Füreinandereinstehen wie in Zeiten der gemeinsamen Bedrohung kaum noch vorzufinden sein wird491. Strategisch wird, insbesondere in US-amerikanischen Debatten, das zukünftige Ziel formuliert, die NATO zu einem globalen Bündnis der Demokratien (Alliance of Democracies) auszubauen und damit bewusst in Konkurrenz zu den VN zu treten492. Auch wenn dieses Konzept im Bündnis keine Mehrheit finden wird, ist seit der Zeitenwende 1989/90 festzustellen, dass nicht mehr die Absicht vorherrscht „die NATO zu haben, um sie nicht einsetzen zu müssen, sondern vielmehr die NATO zu verändern, um sie einsetzen zu können“493. Eine derartige Veränderung setzte zunächst politisch voraus, dass die Mitgliedstaaten bei der Einschätzung sicherheitspolitischer Probleme übereinstimmen. Nachdem sich das Bündnis selbst als „globaler Ordnungsfaktor“ in Stellung brachte, bedeutete die „strategische Konsensbildung“ eine enorme Herausforderung494. In Gänze ist der „Rollenfindungsprozess“ auch weiterhin nicht abgeschlossen. Nach langen Vorarbeiten und Richtungsdebatten konnte sich im Jahr 2010 auf ein bis dato gültiges neues Strategisches Konzept geeinigt werden. Mit der Verabschiedung auf dem Gipfeltreffen am 489 Auch wenn seit dem Strategischen Konzept von 1991 die Strategien öffentlich zugänglich sind, unterliegen die detaillierten militärpolitischen Vorgaben auch weiterhin der Geheimhaltung. 490 In der Politikwissenschaft werden in diesem Zusammenhang die Begriffe „System kollektiver Verteidigung“ für Verteidigungsbündnis und „System kollektiver Sicherheit“ für ein Instrument zur internationaler Krisenbeherrschung verwendet. Vgl. J. Varwick, NATO als Weltpolizist, in: APuZ 2009 (15–16/2009), S. 3 und S. 8. 491 Dies hat auch mit den Veränderungen innerhalb der Binnenstruktur der NATO zu tun, da sich die Entscheidungsprozesse durch die Aufnahme neuer Mitglieder erschwert haben. Ders., ebd., S. 3 f. 492 Vgl. I. Daalder/J. Goldgeier, Global NATO, in: Foreign Affairs, 85 (2006), S. 105 ff. 493 J. Varwick, NATO als Weltpolizist, in: APuZ 2009 (15–16/2009), S. 7 f. 494 Ders., ebd., S. 8.
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Teil 1, Kap. 1: Das System der NATO
19. und 20. November 2010 in Lissabon verständigten sich die Staats- und Regierungschefs der 28 Mitgliedstaaten auf einen zentralen gemeinsamen Sicherheitsansatz für das nächste Jahrzehnt495. 1. Lageentwicklung seit dem Jahr 2010 Die Lage seit 2010 wurde zunächst maßgeblich geprägt durch die Ereignisse um den sog. „Arabischen Frühling“496. Im Zuge dessen kam es am 14. Januar 2011 aufgrund gewaltsamer öffentlicher Proteste in Tunesien zur Flucht des autokratisch regierenden Präsidenten Ali497 nach Saudi-Arabien sowie zum Rücktritt des ebenfalls autokratisch regierenden Staatspräsidenten Ägyptens Mubarak498 am 11. Februar 2011. Die „Arabellion“ erfasste überdies Libyen, wo es ebenfalls zum Aufstand gegen den dort herrschenden Diktator Gaddafi499 kam, der sich zu einem Bürgerkrieg ausweitete. Am 17. März 2011 billigte der SR die Errichtung einer Flugverbotszone über Libyen zum Schutz der Bevölkerung. Die NATO reagierte in dieser Lage mit einem internationalen Militäreinsatz und wandelte so den anfänglichen Bürgerkrieg zu einem international bewaffneten Konflikt500.
495 Die jeweilige Strategie bildet die Basis für die Entwicklung der Verteidigungspolitik, des operationellen Konzepts, der Struktur der Streitkräfte und der kollektiven Verteidigungsplanung des Bündnisses. J. Varwick, Das neue Strategische Konzept der NATO, in: APuZ 2010 (50/2010), S. 23. 496 Als „Arabischer Frühling“ (Arabellion) wurde eine im Dezember 2010 beginnende Serie von Protesten, Aufständen und Revolutionen in der arabischen Welt bezeichnet, welche sich, beginnend mit der Revolution in Tunesien, in Staaten im Nahen Osten (Arabische Halbinsel) und in Nordafrika (Maghreb), gegen die dort autoritär herrschenden Regime und die politischen und sozialen Strukturen dieser Länder richteten. 497 Zine el-Abidine Ben Ali (arab. ) يلع نب نيدباعلا نيز, * 3. September 1936 in Sousse, war vom 7. November 1987 bis zu seiner Flucht nach Saudi-Arabien am 14. Januar 2011 der autokratisch regierende Staatspräsident Tunesiens. Das Amt übernahm er durch einen Putsch. Während seiner 23-jährigen Diktatur entwickelte er mit seiner Familie ein, das gesamte Land umfassendes, kleptokratisches System. 498 Muhammad Husni Mubarak (arab. )كرابم ينسح دمح, * 4. Mai 1928 in Musaliha, † 19. September 2018 in Dschidda, war vom 14. Oktober 1981 bis zu seinem Rücktritt am 11. Februar 2011 der autokratisch regierende Staatspräsident der Arabischen Republik Ägypten. Er regierte das Land durchweg im Ausnahmezustand. 499 Muammar Muhammad Abdassalam Abu Minyar al-Gaddafi (arab. رمعم )يفاذقلا, * 19. Juni 1942 in/bei Sirte, † 20. Oktober 2011 in/bei Sirte, war seit einem unblutigen Militärputsch vom 1. September 1969 Staatsoberhaupt Libyens. Als Revolutionsführer bestimmte er von 1979 bis zu seiner Tötung durch einen französischen Geheimdienstagenten diktatorisch die Politik Libyens. 500 Ausführlich zu den NATO-Maßnahmen unter Teil 1, Kap. 1, D. II.
C. Die strategische Ausrichtung der NATO139
Aber nicht nur in Nordafrika, sondern auch in Syrien gab es ab März 2011 wochenlange Bürgerproteste, die sich seitdem durch die Aktivitäten der NATO und Verbündeten von einem Bürgerkrieg zu einem international bewaffneten Konflikt und auch „Flächenbrand“ in der Region – samt Flüchtlingsströmen nach Europa – entwickelten und deren Ende auch im Jahr 2018 noch nicht abzusehen ist. Neben den Umstürzen in der arabischen Welt beschäftigte das Bündnis auch wieder verstärkt das Verhältnis zu Russland. Nachdem die Präsidenten der Vereinigten Staaten und Russlands am 8. April 2010 in Prag den bis 2020 gültigen NEW-START-Vertrag über Maßnahmen zur weiteren Reduzierung und Begrenzung der strategischen Angriffswaffen501 unterzeichneten, säte die Ankündigung des Nordatlantikbündnisses, in Osteuropa einen Raketenabwehrschirm zu installieren, neues Misstrauen. Während insbesondere die USA behaupteten, Zweck des Systems sei der Schutz vor jeglicher Raketenbedrohung durch den Iran, glaubt Russland, dass ein derartiger Raketenschild ihre atomare Abschreckung untergraben würde. Russland drohte mit einem Präventivschlag, wenn das Bündnis mit seinem Plan fortführe, in Osteuropa ein Raketenabwehrschirm zu errichten. Die ersten Schritte zur Umsetzung erfolgten mit der Inbetriebnahme der ersten Raketen-Abwehr-Station am 12. Mai 2016 im südrumänischen Deveselu und wird mit der zweiten Raketen-Abwehr-Station in Polen, nahe der „russischen“ Exklave Kaliningrad, im Jahr 2018 abgerundet. Weiterhin wird das Verhältnis durch die Vorgänge im Ukraine-Konflikt belastet. Durch kleine aber stetige Schritte der Eskalation entwickelte sich dort ab Februar 2014 ein bewaffneter Konflikt. Am 11. März 2014 erklärte sich die Halbinsel Krim für unabhängig von der Ukraine. Fünf Tage später erfolgte ein Referendum für den Anschluss an Russland. Zudem streben Separatisten im Osten der Ukraine (Donbas) die Abspaltung vom Rest des Landes an. Während die NATO die Politik der Ukraine trägt, unterstützt Russland die Kräfte im Osten des Landes, welche die „Maidan-Bewegung“ im Zuge der noch nicht zu Ende gekommenen ukrainischen Revolution nicht mittragen. Im Kern geht es jedoch auch in diesem Konflikt um die Bewahrung bzw. Gewinnung von Einflusssphären502. Gleiches gilt für den seit 2014 bestehenden Bürgerkrieg in Syrien.
501 Der NEW-START-Vertrag sieht eine Reduzierung der Anzahl der Sprengköpfe von 2.200 auf je 1.550 und die Anzahl der Trägersysteme von 1.600 auf 800 vor. 502 Vgl. Teil 1, Kap. 1, A., V.
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2. Ziele und Komponenten des Strategischen Konzepts 2010 Nach Auffassung von Varwick knüpft das (siebente) Strategische Konzept „Aktives Engagement, Moderne Verteidigung“503 – im Vergleich zu den Konzepten von 1991 und 1999 – aufgrund seiner Kürze und Prägnanz an den NV an, „der mit 14 Artikeln in nicht mehr als 23 Sätzen ein Dokument von bemerkenswerter Klarheit“ ist. Als Kernaufgabe wird in dem Konzept „die Wahrung der Freiheit und der Sicherheit der Mitgliedstaaten mit politischen und militärischen Mitteln in den drei Bereichen kollektive Verteidigung (collective defence), Krisenmanagement (crisis management) und kooperative Sicherheit (cooperative secur ity) genannt“.504 Anschließend werden die Sicherheitslage und die Herausforderungen für die Zukunft beschrieben505. Die Gefahr eines konventionellen Angriffs auf das NATO-Gebiet wird dabei als gering eingeschätzt. He rausforderungen für die Allianz ergeben sich vielmehr aus der Verbreitung ballistischer Raketen, von Nuklearwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen, Terrorismus einschließlich der Verfügungsgewalt von Terrorgruppen über nukleare, chemische, biologische oder radiologische Kapazitäten, Instabilitäten an den NATO-Grenzen und Angriffen auf die Informationstechnologie einzelner Staaten oder des Bündnisses. Weiterhin wird dargelegt, dass alle Staaten in wachsendem Maße auf offene und zuverlässige Kommunikation, Transport und Transit angewiesen sind und der internationale Handel, die Energiesicherheit und der Wohlstand davon abhingen. Darauf folgt eine kurze Problemanalyse der nachfolgend aufgeführten Bereiche samt einer Reihe von konkreten Ansatzpunkten und Maßnahmen zur Bearbeitung dieser Probleme. Der Bereich „Verteidigung und Abschreckung“506 bildet nach wie vor ein Kernelement der Strategie. Abschreckung soll auf einer Mischung von nuklearen und konventionellen Fähigkeiten basieren. Klarstellend wird angeführt, dass, solange Nuklearwaffen auf der Welt existieren, auch die NATO eine nukleare Allianz bleiben wird. Es werden zugleich Maßnahmen507 vorgestellt, die sicherstellen sollen, dass die NATO ein breites Spektrum an notwendigen Fähigkeiten zur Verfügung hat, um Bedrohungen der Sicherheit 503 „Active Engagement, Modern Defence“. Strategic Concept for the Defence and Security of the Members of the North Atlantic Treaty Organisation adopted by Heads of State and Government in Lisbon, online: http://www.nato.int/cps/en/natohq/ official_texts_68580.htm (zuletzt aufgerufen, am 10. Dezember 2014). 504 Vgl. Strategisches Konzept, Ziff. 4. 505 Vgl. Ziffer 7–15. 506 Ziffer 16–19. 507 Ziffer 19.
C. Die strategische Ausrichtung der NATO141
abzuschrecken und zu verteidigen. Zu diesen gehören die Befähigung zur Durchführung von Operationen mit robusten, mobilen und einsetzbaren Truppen sowie die Begabung, dem vollen Spektrum an konventionellen und aufkommenden Sicherheitsrisiken mit Training, Planung und Informationsaustausch zu begegnen508. Ebenso wird der Aufbau eines Raketenabwehrsystems, die Fähigkeit zur Verteidigung gegen chemische, biologische, radiologische, nukleare und Cyberangriffe sowie die Fähigkeit zur Terrorismusbekämpfung und zum Schutz vor kritischer Energieinfrastruktur angekündigt. Im Bereich „Krisenmanagement“509 wird dargelegt, dass aus Krisen und Konflikten außerhalb des Bündnisgebiets direkte Bedrohungen für die NATO resultieren können. Daher wird sich das Bündnis gegebenenfalls engagieren, um Krisen zu verhüten, zu managen, Postkonfliktsituationen zu stabilisieren und den Wiederaufbau zu unterstützen510. Als Maßnahmen wurde die Verbesserung der militärischen Fähigkeiten zur Aufstandsbekämpfung und die stärkere Berücksichtigung ziviler Aspekte der Konfliktbearbeitung vorgeschlagen511. Der Bereich „Kooperative Sicherheit“512 umfasst neben den Bereichen Rüstungskontrolle, Abrüstung, Nichtverbreitung sowie dem Bekenntnis zur grundsätzlichen Bereitschaft der Aufnahme neuer Mitglieder insbesondere den Bereich Partnerschaften. Durch die Zusammenarbeit mit anderen internationalen Organisationen (VN, EU sowie Nichtregierungsorganisationen)513 will das Nordatlantikbündnis einen vernetzten Sicherheitsansatz verfolgen. Es findet sich darüber hinaus ein Bekenntnis zur Partnerschaft mit Ländern aus aller Welt. Alle Staaten werden eingeladen, sich mit der NATO in Sicherheitsfragen abzusprechen und Einfluss auf die Operationen zu nehmen. Explizit angesprochen wird das Verhältnis zu Russland, dem eine strategische Partnerschaft sowie die Kooperation bei Fragen des gemeinsamen Interesses wie etwa Raketenabwehr, Terrorismus-, Drogen- und Pirateriebekämpfung angeboten werden. Neu ist, dass eine gemeinsame Bedrohungsanalyse vorgenommen werden soll514. 508 J. Varwick, Das neue Strategische Konzept der NATO, in: APuZ 2010 (50/2010), S. 28. 509 Ziffer 20–25. 510 Vgl. Ziffer 20. 511 Die Maßnahmen waren und sind nicht unumstritten zwischen den Mitgliedstaaten. Die im Konzept formulierten Punkte (vgl. Ziffer 25) bedürfen der genaueren Interpretation durch die Mitgliedstaaten. J. Varwick, Das neue Strategische Konzept der NATO, in: APuZ 2010 (50/2010), S. 28. 512 Ziffer 26–38. 513 Vgl. Ziffer 31 f. 514 Ebd., Ziffer 33 f.
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Mit der Strategie unternimmt das Bündnis den Versuch, sich mit neuen Fähigkeiten und Partnern auf neuartige Bedrohungen in einer sich wandelnden Welt einzustellen515. Hierzu hat sie im Brüsseler Hauptquartier eine „Abteilung für aufkommende Sicherheitsrisiken“ eingerichtet, die keine operativen Aufgaben wahrnimmt, jedoch die vielschichtigen aktuellen sicherheitspolitischen Themen analysieren soll. Gleichzeitig wird im Konzept festgehalten, dass die Abwehr neuer Bedrohungen nicht mehr pauschal unter Art. 5 NV fällt. Vielmehr wird auf Art. 4 NV – Konsultation – Bezug genommen, der jedoch nicht den gleichen „Verbindlichkeitsgrad“ aufweist516. Zusammenfassend gelangt Varwick zu dem Ergebnis, dass das Nordatlantische Bündnis die klassische Bündnisverteidigung keineswegs aufgegeben hat, sich „künftig aber verstärkt um neuere Bedrohungen kümmern will“517. Vor allem sagt er voraus, dass „eine eindeutige Festlegung der strategischen Reichweite wie zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes“ nicht mehr möglich ist und die NATO „künftig noch in viel stärkerem Maße von ihrem tatsächlichen Handeln (oder Nicht-Handeln) geprägt sein wird als von festgelegten, strategischen Leitlinien“518.
V. Derzeitige und zukünftige Ausrichtung der NATO Aktuell – 2018 – richtet sich fast die gesamte Aufmerksamkeit des Nordatlantikbündnisses auf seine östlichen Außengrenzen. Hintergrund ist der nach wie vor vorherrschende „Bürgerkrieg“ in Syrien und die damit in Gang gesetzte Flüchtlingskrise sowie der Vorwurf der westlichen Staaten an Russland, im Rahmen des Ukraine-Konflikts die Annexion der Halbinsel Krim sowie die Destabilisierung der Ostukraine betrieben zu haben. Die östlichen NATO-Mitgliedstaaten befürchten seitdem ebenfalls ein wie auch immer geartetes Eingreifen Russlands. Unter diesen Vorzeichen fand auch am 4. und 5. September 2014 in Newport/Wales das NATO-Gipfeltreffen statt. Es wurde die Einrichtung einer 515 J. Varwick, Das neue Strategische Konzept der NATO, in: APuZ 2010 (50/2010), S. 29. 516 In Ziffer 5 wird ausgeführt: „NATO remains the unique and essential transatlantic forum for consultations on all matters that affect the territorial integrity, political independence and security of its members, as set out in Article 4 of the Washington Treaty“. 517 Die NATO hat nunmehr kodifiziert und auf eine allseits akzeptierte Grundlage gestellt, dass sie kein „einseitiges Militärbündnis“, sondern eine „zunehmend lockere Analyseplattform für eine breite Palette an sicherheitspolitischen Themen (…) zur operativen Gestaltung konkreter sicherheitspolitischer Szenarien“ darstellt. J. Varwick, Das neue Strategische Konzept der NATO, in: APuZ 2010 (50/2010), S. 29. 518 Ders., ebd., S. 29.
C. Die strategische Ausrichtung der NATO143
Krisen-Eingreiftruppe sowie ein Aktionsplan für Osteuropa verabschiedet519. Beherrschendes Thema war jedoch das Verhältnis zu Russland. Nachdem die NATO bis zur Ukraine-Krise mit Russland durchaus ehrgeizige Ziele verfolgte, wovon Grundlagendokumente520 und Kooperationsangebote521 – freilich alle NATO und US-amerikanisch dominiert und an die Erwartung der russischen Unterordnung gekoppelt – zeugen, zerstob der Wunsch nach „strategischer Partnerschaft“ nun regelrecht. Bei der Bewertung der Gründe werden neben der „anhaltenden Machtassymetrie zwischen den USA und Russland“ (man sollte wohl besser sagen, dem Bemühen der USA, die allein dominierende Macht zu sein) vor allem das Fehlen eines „stabilen Fundament[s] gemeinsamer Interessen“ herangezogen. So fehlte es dem NRR an einem „Leuchtturmprojekt“. Zudem war keine gemeinsame Überzeugung vorhanden, wie die bilateralen Beziehungen und die angestrebte euro-atlantische Sicherheitsordnung aussehen sollen. So forderte Russland ein gleichrangiges Mitsprache- und Vetorecht in jeglichen zentralen sicherheitspolitischen Fragen des Kontinents und darüber hinaus, dass der postsowjetische Raum als exklusive Einflusssphäre Russlands anerkannt wird. Dem wollte die NATO nicht zustimmen – es stellt grundlegende Prinzipien, wie das Recht auf freie Bündniswahl zur Disposition.522 Dieser ordnungspolitische Konflikt, der sowohl eine machtpolitische als auch eine ideologische Dimension aufweist, verstärkte sich zunehmend. Mit dem Ausbruch der Ukraine-Krise wurde das Scheitern sichtbar. Fraglich ist, welche Handlungsoptionen daraus erwachsen. In der politikwissenschaftlichen Literatur werden drei Szenarien diskutiert. Als denkbar erscheint eine 519 The Wales Declaration on the Transatlantic Bond (http://www.nato.int/cps/en/ natohq/official_texts_112985.htm, zuletzt aufgerufen am 15. Juli 2015) 520 Politischer Ordnungsrahmen für das bilaterale Verhältnis ist die „Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der NATO und der Russischen Föderation“ vom Mai 1997. In diesem Dokument, das den kooperativen Geist beider Seiten in den 1990er-Jahren widerspiegelt, vereinbarten diese nicht nur zahlreiche Felder der Zusammenarbeit, sondern beschrieben auch ihre Sicht aufeinander: Die NATO und Russland würden einander nicht länger als Gegner betrachten. Stattdessen strebten sie gemeinsam danach, eine „starke, stabile und dauerhafte Partnerschaft“ aufzubauen. Im Gegenzug für die damals bereits eingeleitete erste Runde der NATO-Osterweiterung erhielt Russland die politische Zusicherung, dass die Allianz unter den gegebenen Umständen weder Nuklearwaffen noch ständig substanzielle Kampftruppen in den neuen Mitgliedstaaten stationieren werde. 521 Einen weiteren Schritt zur Vertiefung der Kooperation gingen beide Seiten im Jahr 2002, als sie den NATO-Russland-Rat (NRR) schufen. Darin wollten beide Seiten nicht nur über eine Vielzahl sicherheitspolitischer Fragen beraten, sondern auch an deren Lösung gemeinsam arbeiten. Diese Kooperation fand auch Eingang in das Strategische Konzept 2010 – kooperative Sicherheit auch mit Nicht-NATO-Staaten. 522 M. Kaim/M. Klein, NATO-Russland-Beziehungen, in: SWP-aktuell 58 (2014), S. 2.
144
Teil 1, Kap. 1: Das System der NATO
Eindämmungspolitik, eine Politik der friedlichen Koexistenz oder eine Rückversicherungspolitik für die östlichen NATO-Mitgliedstaaten, verbunden mit der Aufrechterhaltung des Kooperationsangebots an Russland.523 Auf dem NATO-Gipfel am 8. und 9. Juli 2016 in Warschau524 wurde schließlich deutlich, dass durch den Beschluss der NATO, vier (multinationale) Bataillone im Baltikum und in Polen zu stationieren, das Verhältnis zu Russland auch weiterhin eines der bestimmenden Themen des Bündnisses bleiben wird – neben all den anderen Krisenherden auf der Welt.
D. Zusammenfassung Zusammenfassend ist mit Blick auf die Entwicklung des Bündnisses seit dem NATO-Gipfel 1991 in Rom zu konstatieren: Zwar blieb die NATO auf die Verteidigung ihrer Mitglieder ausgerichtet, definierte ihre Aufgaben jedoch wie folgt525: – Bestätigung der traditionellen Aufgabe, weiterhin als transatlantisches Bindeglied zwischen den USA und Europa zu fungieren; – Stabilität bei der Auflösung der ehemaligen Staaten der Sowjetunion zu sichern („Krisenmanagement“); – die Erweiterung des Bündnisses durch neue Mitglieder und flankierende „Partnerschafts-Abkommen“ zu organisieren; – militärische Kapazitäten für „humanitäre Interventionen“ außerhalb des nordatlantischen Gebietes aufzubauen („out of area or out of business“) – wenn möglich mit, wenn nötig ohne die VN; – die Balkan-Region zu stabilisieren und neu zu ordnen; – „Schurkenstaaten“ (insbesondere Irak, Libyen, Syrien, Iran, Nordkorea) einzudämmen und zu bekämpfen mit dem Ziel, dort einen „Systemwechsel“ zu bewirken. Seit dem Gipfeltreffen 1999 kamen weitere selbstgesetzte Aufgaben hinzu, insbesondere um, wie es hieß, den Gefahren des Terrorismus zu begegnen. Weitere Aufgaben der NATO wurden unter Führung der USA von den Mitgliedstaaten hinzugesetzt: die Sicherung des „ungehinderten globalen Zugangs zu Resourcen (Öl, Rohstoffe etc.) und von wichtigen Verkehrs- und 523 Dies.,
ebd., S. 3. hierzu das Warsaw Summit Communiqué, abrufbar unter: http://www. nato.int/cps/en/natohq/official_texts_133169.htm?selectedLocale=en (zuletzt aufgerufen, am 17. August 2015). 525 Aufzählung siehe auch bei D. Deiseroth, Die NATO, in: Ad Legendum 3/2017, S. 194. 524 Vgl.
D. Zusammenfassung145
Handelswegen sowie die Absicht, sich den Herausforderungen von Cyberwar defensiv und eigenaktiv zu stellen. Seit dem Lissabonner Gipfeldokument 2010 heißt es ganz offiziell, „die Sicherheit“ der Mitgliedstaaten hänge in wachsendem Maße von „lebenswichtigen Kommunikations-, Transport- und Transitlinien, auf denen der internationale Handel, die Energiesicherheit und der Wohlstand beruhen“, ab. Damit wurde die Absicht bekräftigt, auch die wirtschaftlichen Interessen der NATO-Staaten wahrnehmen zu wollen, und sei es mit militärischen Mitteln. Insofern ist das Nordatlantikbündnis zwischenzeitlich zu einem nicht nur regional, sondern auch global operationsfähigen Einsatz- und Interventionsbündnis mit überlegenen militärischen Kräften526 umgebaut worden527.
526 Von den weltweiten jährlichen Rüstungsausgaben i. H. v. ca. 1,7 Billionen USDollar im Jahr 2017 entfielen etwa 1 Billion – also ca. 65 % – auf die NATO und ihre Mitgliedstaaten. Vgl. dazu www.sipri.org/databases/milex. 527 D. Deiseroth, Die NATO, in: Ad Legendum 3/2017, S. 194 f.
Kapitel 2
Einsätze der NATO seit Ende der Sowjetunion Mit der Auflösung des WP und dem Zerfall der Weltmacht Sowjetunion wurde für die NATO als Gegenpol des Kalten Kriegs „eine Einbuße an militärischer Relevanz und politischer Bedeutung“ prognostiziert528. Wie voranstehend aufgezeigt, verstand es die NATO neue Konflikte zu generieren, zu schüren und in der Folgezeit mit den jeweils verabschiedeten Strategischen Konzepten sich aus den neuen Verhältnissen – auch jenseits der östlichen Bedrohung – selbst neu zu erfinden, sich neuen Aufgaben zuzuwenden und die Ausweitung ihrer Mitgliederanzahl voranzutreiben. Bereits Anfang des Jahres 1993 erklärte NATO-Generalsekretär Wörner529, dass das westliche Bündnis zur „wichtigsten Quelle“ von „regionaler, ja sogar globaler Stabilität“ aufgestiegen sei530. An dieser Stelle sollen die Interventionen des Nordatlantikbündnisses und die im Verlauf der Arbeit zu untersuchenden Anlassfälle überblicksartig dargestellt und beschrieben werden.
A. Bosnienkrieg – die Operation „Deliberate Force“ Der erste Kampf- und „out of area“-Einsatz seit Bestehen des Nordatlantikpakts erfolgte in Bosnien-Herzegowina. Hintergrund dieses Einsatzes war der Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) Anfang der 1990er-Jahre.
528 G. Hellmann/R. Wolf, Wider die schleichende Erosion der NATO, in: JfP 1993, S. 286. 529 Manfred Hermann Wörner, * 24. September 1934 in Stuttgart, † 13. August 1994 in Brüssel, war vom 1. Juli 1988 bis zu seinem Tode Generalsekretär der NATO. Vorher war er vom 4. Oktober 1982 bis zum 18. Mai 1988 deutscher Verteidigungsminister. 530 G. Hellmann/R. Wolf, Wider die schleichende Erosion der NATO, in: JfP 1993, S. 286.
A. Bosnienkrieg – die Operation „Deliberate Force“147
Quelle: A. Reimer, 2018
Abbildung 4: Zeitstrahl der behandelten Konflikte in Bosnien, dem Kosovo, in Afghanistan und Libyen (dunkelgrau) und die entsprechenden NATO-Interventionen (hellgrau). Historische Ereignisse, die als Meilensteine oder Wendepunkte für den Verlauf eines oder mehrerer Konflikte gelten, sind durch Rahmen hervorgehoben
I. Hintergrund des bewaffneten Eingreifens der NATO 1. Der Zerfall der Republik Jugoslawien Der Zerfall der Republik Jugoslawien mitsamt der Zuspitzung des politischen Konflikts begann spätestens nachdem die slowenische und kroatische Delegation den 14. Parteitag des Bundes der Kommunisten im Jahre 1990 im Streit verlassen hatte. Die staatliche Klammer des kommunistischen Re gierungssystems war damit auch in Jugoslawien weggefallen“.531 Im April/ Mai 1990 führten die ersten freien Wahlen in den Teilrepubliken Slowenien und Kroatien zum Sieg nichtkommunistischer Parteien. Diese Vorgänge – die letztlich zur Gründung unabhängiger Staaten führten – verdeutlichten, dass es beiden in der Folge gelungen war, den Übergang von Teilen eines multiethnischen Staates hin zu selbstständigen Staaten, jeweils auf dem Boden des 531 J. Marko, Bosnien-Herzegowina und Kosovo, in: T. Giegerich/A. Proelß (Hrsg.), Krisenherde, S. 129.
148
Teil 1, Kap. 2: Einsätze der NATO seit Ende der Sowjetunion
Selbstbestimmungsrechts der Völker (im völkerrechtlichen und nicht bloß verfassungsrechtlichen Verständnis) erfolgreich durchgesetzt zu haben532. Auf die am 25. Juni 1991 erklärte Unabhängigkeit533 Sloweniens und Kroatiens folgten kämpferische Auseinandersetzungen in beiden Teilrepubliken mit der jugoslawischen Bundesarmee. Der Auftrag der Bundesarmee lautete, die Wiedererrichtung der jugoslawischen Grenz- sowie Zollhoheit und damit die Aufrechterhaltung der staatlichen Einheit Jugoslawiens zwangsweise durchzusetzen534. Im Herbst 1991 fiel in Belgrad eine Entscheidung, die für Kroatien und insbesondere Bosnien-Herzegowina existentielle Folgen nach sich zog. An die Stelle der gewaltsamen Erzwingung eines Verbleibens Kroatiens und Sloweniens im jugoslawischen Bundesstaat trat die militärische Verwirklichung der Schaffung eines als Restjugoslawien bezeichneten Großserbiens, das die strategische Infrastruktur des alten Jugoslawiens und alle Gebiete mit „zuverlässiger“, d. h. serbischer, Bevölkerung umfasst. Die Spannungen eskalierten, als Ende Januar 1992 – mit der Mehrheit der muslimischen und kroatischen (katholischen) Abgeordneten – das Parlament in Sarajevo beschloss, eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit und Souveränität Bosnien-Herzegowinas abzuhalten535. Die Entschiedenheit der bosnischen Bosnier gegen den Willen der serbischen Bosnier unabhängig zu werden, war der historische Auslöser für die bewaffneten Konflikte in und um Bosnien-Herzegowina. Unmittelbar nach Bekanntgabe der Ergebnisse der Volksabstimmung kam es zu der von den Serben angekündigten Revolte, die zunächst mit vereinzelten Sprengstoffanschlägen und sodann durch den Einsatz der Jugoslawischen Volksarmee (JVA) aufseiten der Serben an Intensität zunahm536. Die Aner532 Vgl. hierzu M. Geistlinger, Der Beitritt der Republik Krim zur Russländischen Föderation aus der Warte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, in: AVR 52 (2014), S. 188 ff., der dort auch am Beispiel Sloweniens darlegt, wie der Akt der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Völker (völkerrechtlich) zu bewerten ist. 533 Am 15. Januar 1992 wurden Slowenien und Kroatien von der Europäischen Gemeinschaft (EG) anerkannt und am 22. Mai 1992 in die VN aufgenommen. Zu den völkerrechtlichen Aspekten der Unabhängigkeitserklärungen und den nachfolgenden Kämpfen, M. Wenig, Streitbeilegung durch OSZE, S. 184 ff. 534 Zu den kämpferischen Auseinandersetzungen in Slowenien und dem Krieg in Kroatien ausführlich ders., ebd., S. 184–204. 535 Das Referendum vom 24. Februar 1992 wurde allerdings von der serbischen Volksgruppe, die etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachte, boykottiert. Vielmehr riefen Angehörige der serbischen Volksgruppe am 7. April 1992 eine „Serbische Republik Bosnien-Herzegowina“ mit der Hauptstadt Banja Luka aus. 536 M. Wenig, Streitbeilegung durch OSZE, S. 207; D. Rezac, Militärische Intervention als Problem des Völkerrechts, S. 82.
A. Bosnienkrieg – die Operation „Deliberate Force“149
kennung Bosnien-Herzegowinas durch westliche Staaten im April 1992 – obwohl die bosnische Zentralregierung zu keinem Zeitpunkt die tatsächliche Kontrolle über das gesamte Staatsgebiet besaß – und die darauf erfolgte Ausrufung der „Serbischen Republik Bosnien-Herzegowina“, mit der Hauptstadt Banja Luka, durch die Serben führten zur endgültigen militärischen Eskalation. In den nachfolgenden Wochen gelang es den serbischen Aufständischen mit Unterstützung der JVA über zwei Drittel des bosnischen Territoriums zu kontrollieren, während die bosnischen Muslime lediglich ein kleines Gebiet rund um die Hauptstadt Sarajewo halten konnten537. Analog zum Vorgehen in Kroatien verfolgten die serbischen Streitkräfte auch in Bosnien die Schaffung rein serbischer Gebiete durch sog. „ethnische Säuberungen“. Allerdings war die Bevölkerung Bosniens weitestgehend „durchmischt“ angesiedelt, sodass es zu Massenvertreibungen kam.538 Die bosnische und kroatische Seite agierte in den Gebieten, die unter ihre effektive Kontrolle kamen, auf dieselbe Art und Weise. Durch dieses Vorgehen wurden von allen drei beteiligten Seiten schwere Verletzungen grundlegender Menschenrechte sowie des humanitären Völkerrechts begangen539. In der Folge blieben sämtliche internationalen Vermittlungsbemühungen zur Be endigung der kriegerischen Auseinandersetzung auf diplomatischer Ebene weitestgehend ohne entsprechende Wirkung. 2. Die Entwicklung der Politik des SR unter Einbeziehung der NATO Die im Rahmen der vorliegenden Arbeit zu untersuchende NATO-Operation „Deliberate Force“ wird verständlicher, wenn die für das bewaffnete 537 M. Wenig, Streitbeilegung durch OSZE, S. 208. Zudem kontrollierten die mit den Muslimen verbündeten Kroaten den Süden des Landes, agierten aber autonom von der bosnischen Zentralregierung in Sarajewo. Vgl. D. Rezac, Militärische Intervention als Problem des Völkerrechts, S. 82. 538 Zugleich kam es bei diesen „ethnischen Säuberungen“ zu willkürlichen Tötungen und Hinrichtungen, Vergewaltigungen und der Errichtung von Gefangenenlagern für Zivilisten. 539 Vgl. M. Pape, Humanitäre Intervention, S. 215 f. Die Menschenrechtsverstöße durch Einheiten der bosnischen Serben wurden nicht zuletzt durch die Anklageschrift des internationalen Tribunals für Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien gegen Radovan Karadzic, den Präsidenten der bosnisch-serbischen Verwaltung in Pale bzw. der selbsternannten Serbenrepublik, und gegen Ratko Mladić, den Kommandeur der Armee der bosnischen Serben, illustriert. Danach haben sich diese beiden vor dem Internationalen Tribunal Angeklagten neben anderen Verbrechen des Völkermords gem. Art. 4 Abs. 2 a, b, c und Art. 7 Abs. 3 des Status des Tribunals und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit gem. Art. 5 und Art. 7 Abs. 1 und Abs. 3 des Statuts schuldig gemacht. Vgl. S. Hille, Die gegenseitige Anerkennung, in: ZöR 51 (1996), S. 213.
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Teil 1, Kap. 2: Einsätze der NATO seit Ende der Sowjetunion
Eingreifen in Bosnien-Herzegowina notwendige Entwicklung der Politik des SR in den Jahren von 1992 bis 1995 – punktuell – aufgezeigt wird. Der SR griff bereits in seiner ersten Resolution (S/RES/713 [1991])540 zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien auf Kapitel VII der VN-Charta541 zurück, um ein allgemeines und vollständiges Waffenembargo über das gesamte Gebiet der zu diesem Zeitpunkt völkerrechtlich noch bestehenden SFRJ zu ver hängen542. Von Relevanz für die weitere Entwicklung in Bosnien-Herzegowina war die – zunächst – für Kroatien geschaffene Blauhelmtruppe543 UNPROFOR (United Nations Protect Forces), die den Auftrag544 hatte, sicherzustellen, dass über den Flughafen von Sarajewo humanitäre Hilfe erfolgen konnte. In der S/RES/770 (1992)545 traf der SR sodann die für die Anwendung von Kapitel VII der VN-Charta notwendige Feststellung des Vorliegens einer Friedensbedrohung546: „[…] the situation in Bosnia and Herzegovina constitutes a threat to international peace and security and the provision of humanitarian assistance in Bosnia and Herzegovina is an integral element in the Council’s effort to restore international peace and security in the area, […]“547.
Gleichzeitig wurde der Wortlaut der Resolution von der NATO als Fundament für eine multilaterale Militäraktion zur Durchsetzung der humanitären Hilfe gedeutet. So wurden die Mitgliedstaaten aufgefordert, „[to] take […] all measures necessary to facilitate in coordination with the United Nations the delivery of humanitarian assistance“548. 540 S/RES/713 (1991), v. 25. September 1991. Seit dieser Resolution befasste sich der SR bis zum 15. Januar 1996 in nicht weniger als 92 Resolutionen mit den kriegerischen Auseinandersetzungen und ihren Folgen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens. Vgl. T. Christakis, L’ONU, le Chapitre VII et la Crise Yougoslave, S. 205. 541 Zu den Voraussetzungen der Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der VNCharta siehe Teil 2, Kap. 1, B. II. 1. 542 Vgl. H. Endemann, Kollektive Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung humanitärer Normen, S. 214; D. Rezac, Militärische Intervention als Problem des Völkerrechts, S. 83. 543 Als Blauhelmtruppen oder Friedenstruppen der VN werden militärische Einheiten bezeichnet, die von den Mitgliedsländern der VN für Friedenssicherungseinsätze (peacekeeping operations) bereitgestellt werden und unter dem Kommando der VN stehen. Sie unterliegen nicht dem Kapitel VII der VN-Charta. 544 Vgl. S/RES/758 (1992), v. 8. Juni 1992. 545 S/RES/770 (1992), v. 13. August 1992. 546 Vgl. Art. 39 VN-Charta. 547 S/RES/770 (1992), fünfte Begründungserwägung der Präambel. 548 S/RES/770 (1992), Ziffer 6.
A. Bosnienkrieg – die Operation „Deliberate Force“151
Unter Berufung auf S/RES/770 (1992) wurde mit S/RES/776 (1992)549 die UNPROFOR vom SR mit der Sicherung der humanitären Hilfslieferungen für ganz Bosnien-Herzegowina beauftragt550. In der Folgezeit wurde das Mandat weiter ausgedehnt – es beinhaltete die Kontrolle der Grenzen Bos niens (S/RES/787 [1992]551) sowie die Einhaltung des vom SR verhängten Flugverbots über Bosnien (S/RES/781 [1992]552). Zu den serbisch besetzten Gebieten – mithin etwa zwei Drittel des Territoriums von Bosnien-Herzegowina – hatten die Truppen jedoch weitestgehend keinen Zugang, sodass eine direkte Einwirkungsmöglichkeit zur Einhaltung der „ethnischen Säuberungen“ nicht erfolgen konnte553. Um schließlich die drohende Eroberung bosnischer Muslimenklaven554 durch serbische Einheiten zu verhindern, erklärte der SR diese Gebiete in der S/RES/824 (1993)555 zu Sicherheitszonen („safe areas“).556 Allerdings hielten die serbischen Angriffe unvermindert an, woraufhin der SR das Mandat in den Sicherheitszonen mit der S/RES/836 (1993)557 insoweit erweiterte, dass sowohl Drittstaaten als auch „regional organisations or arrangements“ – gemeint war offenbar von Anfang an das Nordatlantikbündnis – ermächtigt wurden, die stationierten VN-Einheiten (UNPROFOR)558 bei der Durchset549 S/RES/776
(1992), v. 14. September 1992. Kollektive Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung humanitärer
550 H. Endemann,
Normen, S. 220. 551 S/RES/787 (1992), v. 16. November 1992. 552 S/RES/781 (1992), v. 9. Oktober 1992. 553 M. Pape, Humanitäre Intervention, S. 225. 554 Hierbei handelt es sich um das Gebiet um die Städte Sarajewo, Tuzla, Zepa, Goražde, Bihać sowie Srebrenica. Vgl. D. Rezac, Militärische Intervention als Pro blem des Völkerrechts, S. 82. 555 S/RES/824 (1993), v. 6. Mai 1993. 556 Die bosnischen Serben wurden hierin zur Einstellung der bewaffneten Angriffe und jeder anderen feindseligen Handlung gegen diese Sicherheitszonen und zum Abzug aller militärischen und paramilitärischen Einheiten aus diesen Städten auf eine Entfernung, aus der sie keine Gefahr mehr für deren Sicherheit und die Sicherheit der Bewohner darstellen, aufgefordert. Vgl. S/RES/824 (1993), Ziffer 4.(a). Dieser Abzug sei von 50 Militärbeobachtern der VN zu überwachen, vgl. Ziffer 4.(a) i. V. m. Ziffer 6. 557 S/RES/836 (1993), v. 4. Juni 1993. 558 United Nations Protection Force – Die UNPROFOR wurde ermächtigt, zusätzlich zu dem in den S/RES/770 (1992) und S/RES/776 (1992) festgelegten Mandat, in Durchführung des in Ziffer 5 beschriebenen Mandats und zur Selbstverteidigung, als Antwort auf die Bombardierung der Sicherheitszonen durch irgendeine der Parteien oder auf bewaffnete Einfälle in die Zonen oder im Falle einer vorsätzlichen Behinderung der Bewegungsfreiheit der UNPROFOR oder geschützter humanitärer Konvois in den Zonen oder in deren Umgebung, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, einschließlich der Anwendung von Gewalt. Darüber hinaus wurde beschlossen, dass
152
Teil 1, Kap. 2: Einsätze der NATO seit Ende der Sowjetunion
zung des Schutzzonenkonzepts zu unterstützen559. Vergleichbares galt für die Durchsetzung des über Bosnien-Herzegowina geltenden Flugverbots. Auch hier ermächtigte der SR durch S/RES/816 (1993) die Staaten zur Überwachung und schließlich dazu, zu dessen Durchsetzung „all necessary mea sures“ zu ergreifen560. Überwacht wurde das Flugverbot letztlich durch die NATO, die hierfür im Rahmen der Operation „Deny Flight“ unter anderem zwei AWACS-Aufklärungsflugzeuge einsetzte. Dessen ungeachtet kam es zu weiteren Verletzungen des Luftraums über Bosnien-Herzegowina561. die Mitgliedstaaten einzelstaatlich oder durch regionale Organisationen oder Abmachungen, unter Aufsicht des SR und vorbehaltlich der engen Koordinierung mit dem Generalsekretär und der UNPROFOR, in den Sicherheitszonen und in deren Umgebung in der Republik Bosnien-Herzegowina alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen können, unter Einsatz von Luftstreitkräften, um die UNPROFOR bei der Erfüllung ihres in den Ziffer 5 und 9 festgelegten Mandats zu unterstützen. Vgl. S/RES/836 (1993), Ziffer 9 und 10. 559 Die UNPROFOR-Einheiten hatten die grundsätzliche Legitimation des SR, gegen die bosnischen Serben vorzugehen. Allerdings waren diese Einheiten lediglich als leicht bewaffnete Peacekeeping-Einheiten ausgestattet, sodass ihnen zur Ausführung des Mandats die erforderlichen schweren Waffen fehlten. Denn auch nach Erlass der S/RES/836 (1993) war insbesondere die bosnische Hauptstadt Sarajewo weiterhin schweren serbischen Artillerieangriffen ausgesetzt. Als schließlich am 5. Februar 1994 bei einem serbischen Artillerieangriff auf Sarajewo 68 Menschen auf dem Marktplatz der Stadt umgekommen waren, setzte der NATO-Rat am 9. Februar 1994, auf Bitten des Generalsekretärs der VN und auf Grundlage von S/RES/836 (1993), Ziffer 10 sowie seines eigenen Beschlusses vom August 1993 (vgl. EA, 7/1994, S. D 229 f.), den bosnischen Serben ein Ultimatum, ihre schweren Waffen innerhalb von zehn Tagen auf einen Abstand von 20 Kilometern vom Zentrum Sarajevos, ausgenommen ein Gebiet im Umkreis von zwei Kilometern um das Zentrum von Pale, oder sie der Kontrolle der UNPROFOR zu unterstellen, andernfalls würden Luftangriffe gegen serbische Stellungen in oder um Sarajevo erfolgen. Vgl. AdG 1994, S. 38702 ff. 560 M. Pape, Humanitäre Intervention, S. 232. 561 Laut Mitteilung des Generalsekretärs der VN betrug die Zahl der Luftraumverletzungen bis zum 18. Januar 1994 bereits 1222. Zum bewaffneten Eingreifen kam es jedoch nur im Ausnahmefall. Zu ersten Luftoperationen – und damit zum ersten Kampfeinsatz seit Bestehen der NATO – kam es am 28. Februar 1994. Ein AWACSFrühwarnflugzeug klärte südlich der Stadt Banja Luka unautorisierte serbische Flugzeuge auf und forderte diese zum Verlassen der Flugverbotszone auf. Als diese, statt auszuweichen, mit Bombenabwürfen begannen, wurden vier der sechs serbischen Kampfflugzeuge von zwei US-amerikanischen Jagdflugzeugen (F-16) abgeschossen. Nachdem die Serben in der Folge die VN-Sicherheitszone weiterhin unter Beschuss nahmen sowie sämtliche, auch die mit Russland ausgehandelten Waffenstillstandsvereinbarungen brachen und schließlich am 22. April 1994 bis an den Stadtkern von Goražde vorgedrungen waren, stellte der NATO-Rat den Serben am gleichen Tag ein Ultimatum zum Rückzug ihrer Truppen aus einem Umkreis von drei Kilometern um das Zentrum von Goražde. Gleichzeitig wurde Goražde – ohne entsprechendes Mandat der VN – von der NATO ebenso zur militärischen Sperrzone erklärt. Bei Ablauf des
A. Bosnienkrieg – die Operation „Deliberate Force“153
Die zuvor aufgezeigten Maßnahmen konnten aber nicht verhindern, dass die Sicherheit der Bevölkerung in den zu Schutzzonen deklarierten Gebieten nicht gewährleistet werden konnte. Aufgrund der Schwere und Vielzahl von Vorfällen562 beschlossen die Außen- und Verteidigungsminister von NATO und WEU563 sodann auf einer Konferenz vom 3.–16. Juni 1995 in Paris die Aufstellung einer bis zu 12.500 Mann starken Schnellen Eingreiftruppe (Rapid Reaction Force – RRF) zum Schutz der UNPROFOR-Soldaten. Der SR setzte diesen Konferenzbeschluss am 16. Juni 1995 – bei Stimmenthaltung Russlands und Chinas – „acting under the present mandate“ für die UNPROFOR-Truppen mit der S/RES/998 (1995) um564. Die bosnischen Serben setzten trotz dieser Maßnahmen ihre Angriffe gegen die Schutzzonen mit aller Härte fort. Am 12. Juli 1995 „überrannten“ sie Srebrenica; am 19. Juli 1995 auch Zepa. Die in den beiden Städten vorgenommenen „ethnischen Säuberungen“565 gipfelten – wie später nachgewiesen werden konnte – in Massenhinrichtungen Tausender männlicher Muslime. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen änderte die NATO ihre Strategie ebenfalls und setzte die zuvor bereits mehrfach gemachten Drohungen in die Tat um: Am 24. Juli 1995 wurden erste Einheiten der RRF566 nach Sarajewo verlegt, um die Versorgung der belagerten Stadt zu sichern und Angriffe auf die UNPROFOR abzuwehren. Einen Tag später stimmte der NATO-Rat Operationsplänen für massive Luftschläge gegen die Serben zu – sofern diese auch gegen die Schutzzone Gorazde vorrücken sollten. Zugleich gab der Generalsekretär der VN, Boutros-Ghali567, dem Drängen des Bündnisses Ultimatums am 27. April 1994 hatten die Serben die NATO-Forderung nach Rückzug ihrer schweren Waffen erfüllt, sodass es keine weiteren Luftoperationen gab. 562 Bosnische Serben führten im November 1994 eine erfolgreiche Offensive gegen die als Schutzzone ausgewiesene Enklave. 563 Die Westeuropäische Union (WEU; frz. UEO) war ein kollektiver militärischer Beistandspakt, der am 23. Oktober 1954 von Frankreich, dem Vereinigten Königreich, Belgien, den Niederlanden, Luxemburg, der Bundesrepublik Deutschland und Italien gegründet wurde. Die WEU ging aus dem Brüsseler Pakt hervor, in dem Frankreich, Großbritannien und die Benelux-Staaten bereits Mitglied waren. Am 31. März 2010 teilte die Ratspräsidentschaft der WEU mit, dass die Organisation aufgelöst wird. Dies wurde bis Ende Juni 2011 vollzogen. 564 S/RES/998 (1995), v. 16. Juni 1995, Ziffer 10. 565 Es kam zu einer deutlichen Zunahme von Vergewaltigungen muslimischer und kroatischer Frauen, strafrechtlich nicht verfolgter Morde und anderer Gewalttätigkeiten gegenüber der nichtserbischen Bevölkerung sowie zu Vertreibungen. Vertreter des VN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) sprachen von serbischem „Staatsterrorismus“. Vgl. AdG 1994, S. 39421. 566 320 britische Soldaten und 500 französische Fremdenlegionäre. 567 Boutros Boutros-Ghali (arab. )يلاغ سرطب سرطب, * 14. November 1922 in Kairo; † 16. Februar 2016 ebd., war ein ägyptischer Diplomat und Politiker, der vom
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Teil 1, Kap. 2: Einsätze der NATO seit Ende der Sowjetunion
nach, eine Änderung des sog. „Zwei Schlüssel-Prinzips“ – das den Kooperationsmechanismus zwischen den VN und der NATO regelte – vorzunehmen. Nunmehr sollte der Oberbefehlshaber der VN-Truppen im ehemaligen Jugoslawien – der französische General Janvier – allein entscheiden, ob Kampfflugzeuge des Bündnisses angefordert werden. Am 1. August entschied der NATO-Rat, die Schutzzonen Goražde, Bihać, Sarajewo und Tuzla durch Luftstreitkräfte zu sichern568. Daraus folgend verschlechterte sich die militärische Lage der bosnischen Serben im August 1995 zusehends. Zunächst mussten die verbündeten kroatischen Serben eine vernichtende militärische Niederlage hinnehmen, als binnen einiger Tage die Armee Kroatiens die Schutzzone der VN unter Bruch des Waffenstillstandsabkommens „überrannte“ und die „Serbische Republik Krajina“ in Kroatien eroberte. Gleichzeitig gelang es den bosnischen Regierungstruppen, die seit drei Jahren bestehende serbische Belagerung der Schutzzone Bihać zu durchbrechen. Am 28. August 1995 forderte ein Granatenangriff in Sarajewo 37 Tote. Einen Tag später kündigte Boutros-Ghali NATO-Luftschläge an und bezog sich in seiner Erklärung ausdrücklich auf den verheerenden Granatenangriff vom Vortag.
II. Die NATO-Maßnahmen 1. Die Operation „Deliberate Force“ Die NATO-Luftangriffe begannen in den frühen Morgenstunden des 30. August 1995. In diesem bis dahin größten Militäreinsatz in der Geschichte des Bündnisses wurden serbische Stellungen bei Sarajewo, Pale, Tuzla und Goražde angegriffen. Militärische und strategische Ziele der Operation „Deliberate Force“ waren serbische Kommandozentralen, Radaranlagen, Muni tionslager, Fernmeldeeinrichtungen, Luftabwehrstellungen und Kasernen. In Anbetracht dessen, dass der serbische Präsident Milošević569 bereits einen Tag nach Beginn der Angriffe Verhandlungsbereitschaft signalisierte, 1. Januar 1992 bis 31. Dezember 1996 sechster Generalsekretär der Vereinten Nationen war. 568 D. Rezac, Militärische Intervention als Problem des Völkerrechts, S. 86. 569 Slobodan Milošević, * 20. August 1941 in Požarevac; † 11. März 2006 in Den Haag war ein serbischer Politiker. Er war vom 23. Juli 1997 bis zum 5. Oktober 2000 der 3. Präsident der Bundesrepublik Jugoslawien und vom 11. Januar 1991 bis zum 23. Juli 1997 Präsident Serbiens. Noch während seiner Amtsausübung wurde er als erstes Staatsoberhaupt von einem Kriegsverbrechertribunal wegen Völkermords angeklagt.
A. Bosnienkrieg – die Operation „Deliberate Force“155
wurde die Offensive am 1. September 1995 ausgesetzt – allerdings am 5. September wieder aufgenommen, da die bosnischen Serben ein Ultimatum570 verstreichen ließen. Nachdem die bosnischen Serben letztlich doch den Abzug ihrer schweren Waffen betrieben, setzte die NATO am 14. September 1995 die Luftangriffe aus. Im Zuge der Verhandlungsbemühungen des VN-Sondergesandten Holbrooke571 wurde seitens der Vereinigten Staaten von Amerika am 5. Oktober ein Waffenstillstand angekündet, der am 11. Oktober in Kraft trat. Dieser ebnete den Weg zu den im US-amerikanischen Dayton am 1. November 1995 beginnenden Friedensgesprächen – unter Beteiligung der Präsidenten Kroatiens, Bosniens und Serbiens. Schließlich wurde am 21. November 1995 sowohl von kroatischer, bosnischer als auch von serbischer Seite ein „Allgemeines Rahmenabkommen für den Frieden in Bosnien-Herzegowina“572 paraphiert. Dies führte am 14. Dezember 1995 in Paris zur Unterzeichnung des Friedensabkommens von Dayton573. Die Kernforderungen lauteten: Bosnien-Herzegowina als einen Staat zu erhalten, die Bewegungsfreiheit aller Einwohner zu garantieren und die Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimatorte zu ermöglichen574. 2. S/RES/1031 (1995) – IFOR Am 15. Dezember 1995 wurde S/RES/1031 (1995)575 verabschiedet. Sie bildete die Rechtsgrundlage für die militärische Umsetzung sämtlicher im Abkommen von Dayton getroffenen Vereinbarungen durch die Peace Implementation Force (IFOR)576, welche der politischen Kontrolle des NATO-Rates 570 VN und NATO hatten die bosnischen Serben aufgefordert, ihre schweren Waffen aus der 20-Kilometer-Sperrzone rund um Sarajewo abzuziehen. 571 Richard Charles Albert Holbrooke, * 24. April 1941 in New York City, † 13. Dezember 2010 in Washington, D.C., war ein US-amerikanischer Diplomat, Publizist und Zeitungsverleger. International bekannt wurde er als Sondergesandter für den Balkan in den 1990er-Jahren. Er gilt als „Architekt“ des Dayton-Abkommens, mit dem der Bosnienkrieg beigelegt wurde. Von 2009 bis zu seinem Tod war er Sondergesandter für Afghanistan und Pakistan. 572 Abgedruckt in IP 1/1996, S. 80–93. 573 Das Abkommen war ein territorialer und politischer Kompromiss mit einem organisatorisch-institutionellen Überbau über den durch die NATO-Luftintervention und den Zangenangriff kroatischer und bosnischer Regierungstruppen am Boden erzielten Waffenstillstand. Die Vision des Abkommens (vgl. Art. I) war, einen multi ethnischen Staat in Bosnien-Herzegowina wiederaufzubauen. 574 F.-J. Meiers, Von IFOR zu FOFOR, in: IP 11/1996, S. 59. 575 S/RES/1031 (1995), v. 15. Dezember 1995. 576 In S/RES/1031 (1995), Ziffer 19 wurde die Befugnis von der UNPROFOR auf die IFOR übertragen.
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unterstand und militärisch vom Supreme Allied Commander Europe (SACEUR) geführt wurde577. Die Umsetzung der von der NATO entwickelten Operationspläne zur Durchführung des militärischen Teils des Friedensabkommens verliefen planmäßig578. Gleichzeitig wurde auch die zivile Komponente durch IFOR unterstützt579. 3. S/RES/1088 (1996) – SFOR Aufgrund der Fortschritte bei der Wiederherstellung des Friedens in Bosnien-Herzegowina sowie dem Wiederaufbau des Landes wurde am 12. Dezember 1996 S/RES/1088 (1996)580 verabschiedet. Die Resolution ermächtigte die NATO zur Einsetzung einer multinationalen Stabilisierungstruppe (Stabilization Force – SFOR) als Rechtsnachfolgerin von IFOR581. Ihr Auftrag war die Verhinderung von Feindseligkeiten, die Stabilisierung des Friedens und die Normalisierung der Verhältnisse im Land nach dem Krieg. Zudem sicherte SFOR insbesondere die Durchführung freier Wahlen582.
B. Kosovokrieg – die Operation „Allied Force“ Die Entwicklung des bewaffneten Konflikts im Kosovo vollzog sich in mehreren Dimensionen583. Auslöser des Konflikts im Kosovo waren – wie in Bosnien-Herzegowina – im Wesentlichen ethnische Konflikte, da serbische und kosovo-albanische Bevölkerungsteile das Kosovo gemeinsam besiedel577 Die NATO stellte eine aus bis zu 60.000 Soldaten und zivilem Personal bestehende multinationale Truppe aus allen damaligen 16 Mitgliedstaaten und zunächst weiteren 16 Nicht-NATO-Staaten – darunter auch Russland – (Estland, Finnland, Lettland, Litauen, Österreich, Polen, Rumänien, Russland, Schweden, Tschechien, Ukraine und Ungarn als PfP-Staaten sowie Ägypten, Jordanien, Malaysia und Marokko) zusammen. 578 Diese Pläne enthielten insbesondere Maßnahmen zur Überwachung des Abkommens und auch die kontrollierte Abgabe der schweren Waffen und der Munition durch die ehemaligen Kriegsparteien. 579 7.000 Pioniere von IFOR unterstützen den Wiederaufbau des schwer zerstörten Landes. Vor allem wurden die Stromversorgung und die Straßen instandgesetzt, Brücken erreichtet, Wasserleitungen gebaut und Minenfelder geräumt. Vgl. G. Höfler, Die neue NATO, S. 111. 580 S/RES/1088 (1996), v. 12. Dezember 1996. 581 Vgl. S/RES/1088 (1996), Ziffer 18. 582 G. Höfler, Die neue NATO, S. 111. 583 Einen guten Überblick über die Gesamtproblematik der Kosovo-Krise findet sich in: Das Parlament, Thema: Die Balkan-Krise, 32–33/1999, sowie in: Das Parlament, Thema: Nationale Minderheiten in Europa, 34/1999. Ausführlicher hierzu: C. von Kohl/W. Libal, Kosovo, passim; N. Malcom, Kosovo, passim.
B. Kosovokrieg – die Operation „Allied Force“157
ten und die albanische Bevölkerung nach Unabhängigkeit von Serbien strebte.
I. Die Entwicklung des Kosovo-Konflikts bis zur Intervention der NATO 1. Der politische Hintergrund des Konflikts Hintergrund dieses Konflikts ist das Verhältnis der im Kosovo584 überwiegend lebenden albanischen Volksgruppe zur jugoslawischen beziehungsweise serbischen Staatsgewalt. Die albanische Bevölkerung wollte unabhängig werden. Nachdem Tito585 – der am 29.11.1945 als Ministerpräsident die kommunistische Volksrepublik Jugoslawien ausrief – in der jugoslawischen Verfassung von 1963 dem Kosovo Verfassungsgarantien für seine Autonomie zubilligte und diese mit der Verfassung von 1974 weiter ausbaute586, entspannte sich die Situation zwischen beiden Lagern. Die Phase relativer Stabilität endete jedoch mit dem Tod Titos im Jahre 1980. Die Auseinandersetzungen um den Status des Kosovo verstärkten sich 1987 weiter, als die kommunistische Partei Serbiens und ihr Vorsitzender, Milošević, als Reaktion auf die Unabhängigkeitsbestrebungen und bewaff584 Das Kosovo war als alter Teil Serbiens gemeinsam mit diesem seit dem 15. Jahrhundert Teil des Osmanischen Reichs. Nach den beiden Balkankriegen 1912/13 wurde das Kosovo als Teil Serbiens vom Osmanischen Reich unabhängig. Gemeinsam mit Serbien wurde das Kosovo im Jahr 1918 Teil des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen, das sich seit 1927 Jugoslawien nannte. Als nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Sozialistische Föderative Volksrepublik Jugoslawien (SFRJ) gegründet wurde, erhielt das Kosovo den Status einer autonomen Provinz der neu gegründeten sozialistischen Republik Serbien. Jugoslawien war ein Bundesstaat der in sechs Republiken (Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Montenegro, Mazedonien, Serbien und Slowenien) gegliedert war. Vgl. P. von Hülsen, Die VN als Gesetzgeber im Kosovo, S. 8. 585 Josip Broz Tito, * 7. Mai 1892 in Kumrovec; † 4. Mai 1980 in Ljubljana war ein jugoslawischer kommunistischer Politiker. Er war vom 2. November 1944 bis zum 29. Juni 1963 Ministerpräsident der kommunistischen Volksrepublik Jugoslawien und vom 14. Januar 1953 bis zu seinem Tod diktatorischer Staatspräsident Jugoslawiens. 586 Die autonomen Provinzen Vojvodina und Kosovo wurden den Teilrepubliken weitgehend gleichgestellt. Sie entsandten eigene Vertreter in die obersten jugoslawischen Bundesorgane. Sie durften sich eigene Verfassungen geben und erhielten in einigen Bereichen das Gesetzgebungsrecht. Es konstituierten sich Parlamente, es wurden Regierungen gebildet und eine eigene Gerichtsbarkeit eingerichtet. Allerdings erfuhren sie keine vollständige Aufnahme als jugoslawische Teilrepubliken. Vgl. P. von Hülsen, Die VN als Gesetzgeber im Kosovo, S. 8 f.
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nete Übergriffe auf serbische Polizeistationen durch Kosovo-Albaner, die Abschaffung der Autonomierechte des Kosovo und der Vojvodina forderten587. Ab 1988 begann Milošević auch gegen seine politischen Gegner vorzugehen. Zunächst setzte er die in der Mehrzahl mit Kosovo-Albanern besetzte Parteiführung der Kommunistischen Partei des Kosovo ab und setzte Gefolgsleute an ihre Stelle. Sodann hob das serbische Parlament den Autonomiestatus des Kosovo auf und reduzierte den Verfassungsstatus das Kosovo auf den einer einfachen serbischen Provinz588. Je massiver die kosovarischen Abspaltungsbemühungen wurden, desto mehr kam es zu politischen „Manövern“ auf serbischer Seite, welche die Rechtstellung der Albaner im Kosovo signifikant verschlechterten. Albaner wurde der Zugang zu Bereichen der Verwaltung und des Arbeitslebens verwehrt. Kulturelle Einrichtungen wurden geschlossen, albanische Zeitungen und Fernsehprogramme eingestellt oder eingeschränkt. Zudem waren willkürliche Übergriffe serbischer Sicherheitskräfte auf Kosovo-Albaner und militärische Anschläge der Kosovaren auf serbische Einrichtungen an der Tagesordnung. Der im Zuge der kosovarischen Bemühungen um Abspaltung entstandene Schattenstaat sollte die Bildung halbstaatlicher Strukturen und Einrichtungen die Legitimation der serbischen Herrschaft über das Kosovo allmählich untergraben589. Der bewaffnete Widerstand der Kosovo-Albaner begann im Frühjahr 1996, als die Befreiungsarmee des Kosovo (Ushtria Çlirimtare e Kosovës – UÇK) erstmals in Erscheinung trat und sich zu mehreren Anschlägen auf Polizeistationen im Kosovo bekannte. Ab Herbst 1997 wurden erstmals auch serbische und jugoslawische Sicherheitskräfte direkt angegriffen590. Dies führte Ende Februar 1998 zu einer Gegenoffensive, im Zuge derer im zentralkosovarischen Raum Drenica viele Dörfer zerstört und Zivilisten getötet wurden sowie zum ersten Mal eine große Zahl von Zivilisten zur Flucht gezwungen wurde. Nunmehr nahm sich auch die internationale Gemeinschaft des Konflikts an und forderte einen Waffenstillstand im Kosovo. Es gelang allerdings nicht, 587 Ders.,
ebd., S. 9. AdG 1990, S. 34786 A (1); F. Schmidt, Kosovo 1989 bis 1999, in: K. Clewig/J. Reuter (Koord.), Der Kosovo Konflikt, S. 189. 589 Vgl. N. Malcolm, Kosovo, S. 348. 590 Die Aktionen der UÇK entsprachen von 1996 bis Jahresbeginn 1998 der Vorgehensweise einer politisch motivierten Terrororganisation – gezielte einzelne Attacken auf Posten der serbischen Streitkräfte. Seit Anfang 1998 erhielt die UÇK immer mehr die Struktur einer Guerillabewegung, die sich aufgrund der Unterstützung breiter Bevölkerungsgruppen sukzessive zur Volksarmee der Kosovo-Albaner entwickelte. D. Rezac, Militärische Intervention als Problem des Völkerrechts, S. 105. 588 Vgl.
B. Kosovokrieg – die Operation „Allied Force“159
die UÇK zum Zugeständnis einer Waffenruhe zu bewegen. Stattdessen nutzte sie die Einstellung der Kampfhandlungen der jugoslawischen Sicherheitskräfte aus, um weitere Landgewinne zu erzielen. Letztlich war die UÇK der Übermacht der jugoslawischen Einheiten aber hilflos ausgeliefert. Die Situation verschlechterte sich auf dramatische Weise, als im März 1998 serbische Polizeieinheiten bei einer friedlich verlaufenden Demonstration 25 KosovoAlbaner erschossen. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Zahl der Flüchtlinge schon mit etwa 300.000 angegeben. Die EU-Staaten richteten nunmehr eine Beobachtergruppe ein. Der Blick der Weltöffentlichkeit und der internationalen Staatengemeinschaft richtete sich auf die Vorgänge, die sich in der Provinz abspielten591. 2. Die Entwicklung der Politik des SR und der NATO Um dieser Situation entgegenzutreten, verhängte der SR mit der S/RES/ 1160 (1998) – gestützt auf Kapitel VII VN-Charta – ein Waffenembargo gegen die Bundesrepublik Jugoslawien592. Dort zeigte der SR die weitere in Aussicht gestellte politische Vorgehensweise auf, indem er die Gewaltexzesse sowohl der serbischen Seite als auch der UÇK verurteilte593 und zudem feststellte, dass er nach Kapitel VII der VN-Charta tätig werden würde. Gleichfalls bekräftigte er, dass im Fall des Ausbleibens von Fortschritten hinsichtlich einer friedlichen Lösung zusätzliche Maßnahmen erwogen werden594. In dieser Resolution findet sich erstmals die in späteren Resolutionen wiederholte Formel, „that the principles for a solution of the Kosovo problem should be based on the territorial integrity of the Federal Republic of Yugoslavia […], and that such a solution must also take into account the rights of the Kosovar Albanians and all who live in Kosovo, […], which would include a substantially greater degree of autonomy and meaningful self-administration“595.
Zusätzlich zum Waffenembargo beschloss der SR mit der S/RES/1186 (1998) die Stationierung einer Friedensmission in Mazedonien, um den KonP. Zygojannis, Die Staatengemeinschaft und das Kosovo, S. 27. (1998), v. 31. März 1998. Die Aufforderung zum friedlichen Dialog sowie das Verhängen eines Waffenembargos erfolgt in Ziffer 4 und 8. 593 „(…) condemning the use of excessive force by Serbian police forces against cicilians and peaceful demonstrators in Kososvo, as well as acts of terrorism by the Kosovo Liberation Army (…)“, S/RES/1160 (1998), dritte Begründungserwägung der Präambel. 594 „(…) will lead to consideration of additional measures (…)“, S/RES/1160 (1998), Ziffer 19. 595 S/RES/1160 (1998), Ziffer 5. 591 Vgl.
592 S/RES/1160
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flikt einzudämmen596. Obwohl sich dieser weiter verschärfte, lief das Mandat der UNPREDEP bereits Ende 1998 aus und wurde nicht verlängert, da China von seinem Vetorecht Gebrauch machte597. In der Folge beschränkte sich der SR in den verabschiedeten Resolutionen598 darauf, die humanitäre Lage im Kosovo zu verurteilen sowie eine Beendigung der Kämpfe und eine sofortige Aufnahme des Dialogs zu fordern. In der S/RES/1199 (1998) drückte er seine tiefe Besorgnis über das Ausmaß der Kampfhandlungen und die dadurch bevorstehende humanitäre Katastrophe im Kosovo aus599. Insbesondere das Vorgehen der serbischen Sicherheitskräfte – das nach Einschätzung der VN bereits zu diesem Zeitpunkt zur Vertreibung von über 230.000 Menschen geführt hatte – wurde hervorgehoben600. Der SR wiederholte seine Forderung für einen Autonomiestatus und erweiterte Selbstverwaltung für das Kosovo unter Respektierung der territorialen Integrität der SFRJ. Parallel stufte er die Lage weiter als unter Kapitel VII der VN-Charta fallend ein und forderte ein sofortiges Ende der Kampfhandlungen601. Zudem wies er erneut daraufhin, dass er zusätzliche Maßnahmen zur Wiederherstellung des Friedens erwägen werde, falls beide Resolutionen nicht beachtet werden sollten. Die S/RES/1203 (1998) erging auf Initiative – dies bezeichnend für die Rolle des SR insgesamt – Dritter. Ausschlaggebend war das Abkommen zwischen dem Generalstabschef der Bundesrepublik Jugoslawien und dem Su preme Allied Commander, Europe (SACEUR) der NATO vom 15. Oktober 1998, sowie jenes zwischen dem Außenminister der Bundesrepublik Jugoslawien und dem Vorsitzenden der OSZE über die Errichtung der Kosovo Verification Mission – KVM602, die nach den Erfahrungen im Bosnienkrieg durch 596 S/RES/1186 (1998), v. 21. Juli 1998. Die United Nations Preventive Deployment Force (UNPREDEP) hatte den Auftrag, die Grenzen von Albanien und Mazedonien mit der Bundesrepublik Jugoslawien zu überwachen und Verstöße gegen das Waffenembargo zu melden. 597 Vgl. P. von Hülsen, Die VN als Gesetzgeber im Kosovo, S. 16. 598 S/RES/1199 (1998), v. 23. September 1998; S/RES/1203 (1998), v. 24. Oktober 1998 und S/RES/1239 (1998), v. 14. Mai 1999. 599 S/RES/1199 (1998), zehnte Begründungserwägung der Präambel. 600 Das beschriebene Ausmaß der Vertreibung war bereits ein halbes Jahr vor Beginn der NATO-Invention eingetreten. Vgl. hierzu S. Stadlmeier, Völkerrechtliche Aspekte des Kosovo-Konflikts, in: ÖMZ 37 (1999), S. 570 – mit dem Hinweis, dass dies viele Kommentatoren geflissentlich übergangen hätten. 601 Vgl. ders., ebd., S. 570, der diese Einstufung als Sofortmaßnahme i. S. v. Art. 40 VN-Charta qualifiziert. 602 Die Kosovo Verification Mission war eine Mission der OSZE, deren Ziel vor allem die Überwachung polizeilicher Maßnahmen und die Überprüfung der Bewegungsfreiheit von Beobachtern und humanitären Organisationen war. Die Einrichtung
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eine NATO-Eingreiftruppe (Extraction Force – EXFOR) im Notfall abgesichert und evakuiert werden sollten. Der SR bekräftigte in dieser Resolution erneut seine Grundposition zur Erreichung einer politischen Lösung, verurteilte sämtliche Gewalttaten und stellte ausdrücklich eine Bedrohung des Friedens fest603. Schließlich – wohl im Bewusstsein des Verlusts seines Initiativrechts – hielt er es für erforderlich, explizit zu bekräftigen, dass ihm die primäre Verantwortung für Frieden und Sicherheit unter der VN-Charta zukommt604. Darüber hinaus war bemerkenswert und für die völkerrechtliche Lage der EXFOR nicht unbedeutend, dass der SR im Rahmen der Erwägung von Sicherheitsgarantien für die KVM da rauf hinwies605, dass im Notfall Maßnahmen zur Sicherstellung der Bewegungsfreiheit und Sicherheit der Mission notwendig sein könnten („[…] action may be needed to ensure their safety and freedom of movement […]“).606 Parallel zu den Resolutionen des SR agierte das Nordatlantische Bündnis vor Einleitung militärischer Maßnahmen auf politischer Ebene. So bekräftigte der NATO-Rat die Unterstützung des Bündnisses für eine politische Lösung, die unter Wahrung der territorialen Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien einen besseren Status für das Kosovo und den Schutz der Menschenrechte aller seiner Bewohner sicherstellen sollte. Zur Umsetzung beauftragte er die militärische Führung der NATO, „[…] to assess and develop […] a full range of options with the missions, based on the relevant legal basis, of halting or discruting a systematic campaign of violent repression and expulsion in Kosovo“607.
Bemerkenswert an diesem Auftrag zur Ausarbeitung von Optionen zur Eindämmung der systematischen Unterdrückung und Vertreibung war die Bezugnahme auf die relevante rechtliche Begründung608. der Mission wurde am 25. Oktober 1998 vom Ständigen Rat der OSZE auf Grundlage der S/RES/1203 (1998) beschlossen. Einzelheiten der Mission wurden im Abkommen zwischen OSZE und der Bundesrepublik Jugoslawien vom 16. Oktober 1998 geregelt. 603 S/RES/1203 (1998), achte, neunte und 14. Begründungserwägung sowie a. E. der Präambel. 604 S/RES/1203 (1998), siebente Begründungserwägung der Präambel. 605 S/RES/1203 (1998), Ziffer 9. 606 Vgl. auch G. Reicherter, Rechtsgrundlagen des Kosovo-Konflikts, S. 22. 607 Statement on Kosovo, Issued at the Meeting of the North Atlantic Council in Defence Ministers Session v. 11. Juni 1998, Press Release M-NAC-D-1 (98) 77, Ziff. 4, Zweiter Unterstrich – http://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_25969. htm?selectedLocale= en (zuletzt aufgerufen, am 25. Oktober 2013). 608 Zu diesem Zeitpunkt ging die NATO davon aus, dass mehrere rechtliche „Optionen“ für ein militärisches Vorgehen vorlagen. Vgl. G. Reicherter, Rechtsgrund lagen des Kosovo-Konflikts, S. 23.
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Nachdem sich beide Seiten weiterhin schwere Kämpfe lieferten, wurde die Bosnien-Kontaktgruppe609 aktiv. Sie beschloss Ende Januar 1999, die Konfliktparteien zu Verhandlungen im Sinne der Konferenz von Dayton einzuberufen610. Diese Verhandlungen fanden schließlich im Februar 1999 in Rambouillet bei Paris statt. Nach Vorstellung der internationalen Gemeinschaft war insbesondere eine weitreichende Selbstverwaltung des Kosovo zur Bewältigung des Konflikts vorgesehen611. Im gleichen Zeitraum zu den Verhandlungen von Rambouillet formulierte der NATO-Rat die Grundposition des Bündnisses und die Ziele einer etwaigen Militäraktion612. Darin bekräftigte er in Übereinstimmung mit dem SR, dass die Lage im Kosovo noch immer eine fortgesetzte Bedrohung für Frieden und Sicherheit in der Region darstelle. Das Nordatlantische Bündnis verlangte die Beachtung der S/RES/1160 (1998), S/RES/1199 (1998) und S/RES/1203 (1998) und hob hervor, grundsätzlich aktiv darauf hinzuwirken („[…] it [NATO] stands ready to act […]“613). Gleichzeitig wurde auf die Vorschläge der Kontaktgruppe und den Rambouillet-Prozess – der zu einer übergangsweisen politischen Lösung des Kosovo führen sollte614 – Bezug genommen und auf dieser Grundlage die eigentliche Strategie der NATO festgelegt: „4. The crisis in Kosovo remains a threat to peace and security in the region. NATO’s strategy is to halt the violence and support the completion of negotiations on an interim political settlement for Kosovo, thus averting a humanitarian catastrophe. Steps to this end must include acceptance by both parties of the summons to begin negotiations at Rambouillet by 6 February 1999 and the completion of the negotiations on an interim political settlement within the specified timeframe; full and immediate observance by both parties of the cease-fire and by the FRY authorities of their commitments to NATO, including by bringing VJ and Police/ 609 Diese hat sich erst im März 1997 auch mit dem Kosovo-Konflikt befasst und bestand aus Vertretern der USA, Russlands, Frankreichs, Großbritanniens, Deutschlands und Italiens. 610 Um eine Teilnahme der Parteien sicherzustellen, wurde den Serben mit Luftangriffen und den Kosovo-Albanern mit dem Entzug der internationalen Unterstützung gedroht. Vgl. P. Zygojannis, Die Staatengemeinschaft und das Kosovo, S. 28 f. 611 Die militärische Umsetzung sollte – nach „Annex B“ des Rambouillet-Abkommens – durch die Präsenz einer „militärisch-robusten“ Friedenstruppe unter NATOKommando gesichert werden. Eine Übersicht zu den Verhandlungen findet sich bei M.-J. Calic, Die Jugoslawienpolitik des Westens seit Dayton, in: APuZ 1999 (B 34/ 99), S. 27 f. 612 Statement by the North Atlantic Council on Kosovo v. 30. Januar 1999, Press Release (1999) 012 012 – http://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_27459. htm?selectedLocale =en (zuletzt aufgerufen, am 25. Oktober 2013). 613 Ebd., Ziffer 1. 614 „(…) NATO gives full support to the Contact Group strategy of negotiations on an interim political settlement which are to be completed within the specified timeframe (…)“. Ebd., Ziffer 2.
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Special Police force levels, force posture and activities into strict compliance with the NATO/FRY agreement of 25 October 1998; and the ending of excessive and disproportionate use of force in accordance with these commitments. 5. If these steps are not taken, NATO is ready to take whatever measures are necessary in the light of both parties’ compliance with international commitments and requirements, including in particular assessment by the Contact Group of the response to its demands, to avert a humanitarian catastrophe, by compelling compliance with the demands of the international community and the achievement of a political settlement. The Council has therefore agreed today that the NATO Secretary General may authorise air strikes against targets on FRY territory. The NATO Secretary General will take full account of the position and actions of the Kosovar leadership and all Kosovar armed elements in and around Kosovo in reaching his decision on military action. NATO will take all appropriate measures in case of a failure by the Kosovar Albanian side to comply with the demands of the international community. […] 7. NATO’s decisions today contribute to creating the conditions for a rapid and successful negotiation on an interim political settlement which provides for an enhanced status for Kosovo, preserves the territorial integrity of the FRY and protects the rights of all ethnic groups. NATO is resolved to persevere until the violence in Kosovo has ended, and a political solution has been reached“615.
In dieser Erklärung umreißt die NATO, dass es sich nach ihrer Auffassung nur um eine Humanitäre Intervention handeln konnte („to avert a humanitarian catastrophe“616) und deren Ziele im Wesentlichen durch die Erzwingung einer politischen Lösung erreicht werden sollten617. Gegenstand dieser Strategie des Bündnisses – und im Vertragstext von Rambouillet entsprechend niedergelegt – war vor allem, die „Bewegungsfreiheit“ der NATO auf das gesamte Gebiet Serbiens auszudehnen und Serbien mittels eines Ultimatums im Hinblick auf den Vertragsschluss massiv unter Druck zu setzen. Darüber hinaus scheute man im Bündnis auch nicht davor zurück, die serbische Seite zu diskreditieren618. Auf diese „Bedingungen“ konnte sich Serbien letztlich nicht einlassen, sodass einer „politischen“ Lösung kein Erfolg beschieden war619. 615 Ebd.,
Ziffer 4, 5 und 7. Ziffer 5. 617 Vgl. S. Stadlmeier, Völkerrechtliche Aspekte des Kosovo-Konflikts, in: ÖMZ 37 (1999), S. 572; G. Reicherter, Rechtsgrundlagen des Kosovo-Konflikts, S. 24. 618 So behauptete der US-amerikanische OSZE-Missionschef Wiliam Walker, dass die Serben in Račak ein Massaker verübt haben sollten (sog. „Massaker von Račak“), was nachweislich nicht den Tatsachen entsprach. Siehe hierzu H. Loquai, Medien als Weichensteller zum Krieg, in: H. Gießmann/K. Tudyka (Hrsg.), Dem Frieden dienen, S. 153 ff. 619 Der zwischen den Konfliktparteien verhandelte Vertragstext („Interim Agreement for Peace and Self-Government in Kosovo“), wurde somit lediglich von der kosovo-albanischen Seite akzeptiert, nicht jedoch von der serbisch-jugoslawischen. 616 Ebd.,
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In der Folge setzte die NATO620 ihren bereits im September 1998 gefassten Beschluss621 wieder in Kraft, Luftangriffe gegen „das Gebiet der BRJ“622 durch den NATO-Generalsekretär anordnen zu lassen. Nunmehr drängten die USA im Atlantischen Bündnis darauf, weitere Maßnahmen zu ergreifen, um Belgrad unter Druck zu setzen. Nach Ansicht der USA trug die jugoslawische Regierung unter Milošević die alleinige Schuld daran, dass es bisher zu keinem Abkommen gekommen war und die Situation623 im Kosovo sich weiter verschlechterte. Das Bündnis versuchte durch Erörterungen und Konsultationen letztlich doch noch ein Abkommen zu implementieren624. Unabhängig davon, wurden in den NATO-Gremien Anfang/Mitte März 1999 schließlich alle Vorbereitungen für eine militärische Operation abgeschlossen. Am 23. März 1999 unterrichtete der US-amerikanische Sondergesandte Holbrooke den NATO-Rat über sein erfolgloses Gespräch mit Milo šević.625 Dadurch konnte das Abkommen nie formell in Kraft treten (seine Bestimmungen wurden vom SR in der Resolution S/RES/1244 [1999] nach dem „Einlenken“ Jugoslawiens und dem Ende der NATO-Luftschläge ausdrücklich als Grundlage einer politischen Lösung bezeichnet und mit Modifikationen umgesetzt). Ein Teil der vertraglichen Regelungen des Abkommensentwurfs enthielt die Verfassung des Kosovo sowie die Prämisse der Wiedererteilung des Autonomiestatus der Region. Vgl. G. Reicherter, Rechtsgrundlagen des Kosovo-Konflikts, S. 25; P. Zygojannis, Die Staatengemeinschaft und das Kosovo, S. 29; M.-J. Calic, Die Jugoslawienpolitik des Westens seit Dayton, in: APuZ 1999 (B 34/99), S. 28. 620 Ausführlich zu den vier Entwicklungsphasen des NATO-Engagements H. Loquai, Der Kosovo-Konflikt, S. 95 ff. 621 Der NATO-Rat fasste am 24. September 1998 den Beschluss, Jugoslawien aus der Luft anzugreifen und zum Einlenken zu zwingen. Der NATO-Rat stimmte zu, die Stufe ACTWARN (Activation Warning) im NATO-internen Mobilisierungssystem auszulösen. Damit konnte der NATO-Oberbefehlshaber Europa die Mitgliedsländer offiziell auffordern, diejenigen Kontingente zu melden, mit denen sie sich an der Militäraktion beteiligen würden. Dieser Beschluss wurde jedoch ausgesetzt, als die jugoslawische Regierung die Kampfhandlungen im Kosovo einstweilen einstellte. Vgl. G. Joetze, Der letzte Krieg in Europa?, S. 36; H. Loquai, Der Kosovo-Konflikt, S. 98. 622 Durch diese diplomatische Formel wurde der Anschein der Ausgewogenheit erweckt, weil sich die Androhung der Gewalt auch gegen die UÇK richtete. Die USamerikanische Außenministerin Albright erklärte jedoch nachträglich, dass sie die Entscheidung des NATO-Rates unterstütze, „falls Belgrad die Forderungen der internationalen Gemeinschaft nicht erfüllt“. H. Loquai, Der Kosovo-Konflikt, S. 102. 623 Die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen stieg bis März 1999 auf 440.000 – zusätzlich zu 250.000 Binnenvertriebenen. Vgl. A. Rieks/D. Weigold, Der KosovoKonflikt, in: J. Krause (Hrsg.), Kosovo, S. 20. 624 Den NATO-Staaten ging es hierbei insbesondere um zwei Punkte: Der Implementierungsstil musste durch den NATO-Rat verabschiedet werden, und es musste die Einheitlichkeit der Führung (unity of command) sichergestellt sein. Die Implementierungstruppe sollte damit von der NATO politisch kontrolliert und militärisch geführt werden. H. Loquai, Der Kosovo-Konflikt, S. 103 f.
B. Kosovokrieg – die Operation „Allied Force“165
SACEUR-General Wesley Clark erhielt am 23. März 1999 den Befehl – unter Bekräftigung der dargelegten Strategie – die Luftoperationen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien zu beginnen.
II. Die Operation „Allied Force“ Die militärische Intervention der NATO begann schließlich am 24. März 1999 mit der Operation „Determined Force“ bzw. „Allied Force“ (ab 26. März), bei der an insgesamt 74 Tagen Luftangriffe gegen strategische und militärische Ziele in Serbien, später auch gegen die Militär- und Polizeieinheiten in der Provinz Kosovo selbst geführt worden sind626. Außer Griechenland, Island und Luxemburg sowie den neu beigetretenen Mitgliedstaaten Polen, Tschechien und Ungarn nahmen alle NATO-Staaten an der Operation teil. Die Einsätze der Luftwaffe – deren größter Gesteller die USA waren – erfolgten von Stützpunkten in Italien, Deutschland, Frankreich und Großbritannien sowie von Flugzeugträgern in der Adria aus627. Die Luftoperationen konnten allerdings nicht unterbinden, dass die Vertreibungen systematisch weitergingen. Die Zahl aller Menschen, die ihre Heimat verloren hatten, stieg auf 1,4 Millionen628. Trotz der militärischen Intervention wurde weiterhin um eine politische Lösung des Konflikts gerungen. Der beim G-8-Außenministertreffen am 13. April 1999 vorgestellte sog. „Fischer-Plan“ diente dabei als Grundlage für die sog. „Petersberger Erklärung“ vom 6. Mai 1999. Nach umfangreichen Verhandlungen629 erkannte Milošević letztlich am 2. Juni 1999 die Forderun625 Am 22. März 1999 stimmte der NATO-Rat der Autorisierung des Generalsekretärs zur Auslösung der Luftoperationen zu, machte jedoch die konkrete Auslösung von einer weiteren Zustimmung des NATO-Rates abhängig, womit der NATO-Rat die politische Kontrolle über weitere Eskalationsschritte behielt. H. Loquai, Der KosovoKonflikt, S. 104 f. 626 P. von Hülsen, Die VN als Gesetzgeber im Kosovo, S. 17; P. Zygojannis, Die Staatengemeinschaft und das Kosovo, S. 29 f. 627 In Österreich fand sich ungeachtet zahlreicher offizieller rhetorischer Solidaritätsbekundungen für den NATO-Einsatz keine Bereitschaft, sich an der NATO-Militäraktion gegen die Bundesrepublik Jugoslawien zu beteiligen. Vielmehr sperrte es seinen Luftraum für die Kampfflugzeuge des Bündnisses. Dies insbesondere vor dem Hintergrund des Neutralitätgesetzes. D. Rezac, Militärische Intervention als Problem des Völkerrechts, S. 110. 628 A. Rieks/D. Weigold, Der Kosovo-Konflikt, in: J. Krause (Hrsg.), Kosovo, S. 20. 629 Innerhalb der Verhandlungen kam es zu entscheidenden Verschlechterungen der politischen und militärischen Rahmenbedingungen für die Führung der Bundesrepublik Jugoslawien. Das Haager Kriegsverbrechertribunal gab am 27. Mai 1999 bekannt, dass gegen Milošević, den serbischen Präsidenten Milan Milutinović, den Vize-
166
Teil 1, Kap. 2: Einsätze der NATO seit Ende der Sowjetunion
gen und Regelungen der Petersberger Erklärung an630. Kurz darauf wurde für deren Umsetzung das Militärtechnische Abkommen (MTA) mit Belgrad ausgehandelt und am 9. Juni 1999 unterzeichnet631. Die jugoslawischen Sicherheitskräfte verließen infolgedessen am 10. Juni 1999 das Kosovo. Am gleichen Tag setzte die NATO die Luftangriffe auf Jugoslawien aus, woraufhin der SR die S/RES/1244 (1999)632 verabschiedete633. Die ersten Einheiten der NATO-geführten Kosovo Force (KFOR) und ein Vorauskommando der VN rückten am 11. Juni 1999 in das Kosovo ein. Insgesamt flog die NATO in elf Wochen 37.465 Einsätze, von denen jedoch kaum 30 Prozent Angriffe im eigentlichen Sinne darstellten. Nach Darstellung des Bündnisses wurden sämtliche der jugoslawischen Raffineriekapazitäten zerstört; 65 Prozent der serbischen Munitionsproduktionsmöglichkeiten beschädigt oder zerstört, inklusive der Hälfte der Sprengstoffmunition; 40 Prozent der serbischen Panzerfahrzeugproduktion und Reparaturkapazitäten beschädigt oder zerstört; 70 Prozent der Flugzeugzulieferungs- und Reparaturkapazitäten beschädigt oder zerstört; 70 Prozent der Straßenbrücken und die Hälfte der Eisenbahnbrücken entlang der Donau zerstört und die Eisenbahnverbindung nach Montenegro komplett unterbrochen. Die den jugoslawischen Streitkräften zugefügten Verluste wurden mit 85 Prozent der MIG 29 (14 von 16 Stück); 35 Prozent der MIG 21 (24 Stück); bis zu 450 Artilleriegeschütze und Granatwerfer und ungefähr 220 gepanzerte Fahrzeuge sowie Panzer beziffert. Die Zahl der Gefallenen auf jugoslawischer Seite werden von der NATO auf 4.500 geschätzt und die der Verwundeten mit 6.000 angegeben. Die Verluste der Kosovaren – aufgrund von Massakern – werden mit 10.000 Personen geschätzt. Die NATO hatte den Verlust eines F-117A Tarnkappenbombers und eines Jagdflugzeugs vom Typ premier der SFRJ (BRJ) Nikola Šainović, den jugoslawischen Generalstabschef Dragoljub Ojdanić und den serbischen Innenminister Vlajko Stojiljković Anklage erhoben wurde. Damit war Milošević genommen worden, für ein Einlenken politische Zugeständnisse fordern zu können. Weiterhin negativ wirkte sich für die serbische Führung aus, dass Russland am 2. Juni 1999 der Forderung der USA nachgab, dass die NATO den Kern der künftigen Friedenstruppe stellen sollte. D. Rezac, Militärische Intervention als Problem des Völkerrechts, S. 110. 630 A. Rieks/D. Weigold, Der Kosovo-Konflikt, in: J. Krause (Hrsg.), Kosovo, S. 20. 631 Die Annahme des Abkommens entsprach weitestgehend den Grundbedingungen des geplanten Rambouillet-Abkommens. Darüber hinaus sah es jedoch die Stationierung einer NATO-Truppe vor und bedeutete eine Einschränkung der Souveränität der Provinz Kosovo. Es erfolgte im weiteren Verlauf die Einrichtung einer Übergangsverwaltung (UNMIK). Vgl. P. Zygojannis, Die Staatengemeinschaft und das Kosovo, S. 30. 632 S/RES/1244 (1999), v. 10. Juni 1999. 633 G. Joetze, Der letzte Krieg in Europa?, S. 160.
C. Krieg in Afghanistan – die Operation „Enduring Freedom“ 167
F-16 zu verzeichnen. Gefallene im unmittelbaren Kampfeinsatz wurden nicht verzeichnet634.
C. Krieg in Afghanistan – die Operation „Enduring Freedom“ I. Zum Vorgeschehen Am 11. September 2001 um 08:45 Uhr Ortszeit raste eine entführte Verkehrsmaschine der American Airlines in den nördlichen der beiden Türme des World Trade Center und explodierte. Kurz danach, 18 Minuten später, flog eine Linienmaschine der United Airlines in den Südturm635. Um 09:43 Uhr Ortszeit desselben Morgens stürzte eine Maschine der United Airlines in das Pentagon und zerstört den Südflügel des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums. Eine weitere Maschine derselben Luftfahrtgesellschaft stürzte wenig später in Pennsylvania auf einem Feld ab636. Bereits kurz nach den Anschlägen präsentierten die US-amerikanischen Geheimdienste Osama Bin Laden637 als Hauptverdächtigen und Drahtzieher der Anschläge, der schon seit dem Abzug der Sowjetunion 1989 aus Afghanistan den Vereinigten Staaten von Amerika mit dem „Heiligen Krieg“ drohte und sich, geschützt durch die Taliban638, in Afghanistan aufhalten sollte. Die USA forderten die Taliban zur Auslieferung Bin Ladens auf – ohne Erfolg.
634 D. Rezac,
Militärische Intervention als Problem des Völkerrechts, S. 112 f. Türme hielten den durch das brennende Kerosin entstandenen Temperaturen nur kurze Zeit stand und stürzten wenig später in sich zusammen. Normalerweise arbeiten rund 50.000 Menschen in den Türmen. Da es morgens war und die Türme nicht sofort in sich zusammenbrachen, starben „nur“ etwa 2.600 Menschen in den Türmen. 636 Vermutlich sollte dieses Flugzeug in das Weiße Haus oder den Landsitz des US-amerikanischen Präsidenten gesteuert werden. Warum dies misslang, konnte bisher nicht geklärt werden. 637 Usāma ibn Muhammad ibn Awad ibn Lādin (arab. ندال نب ةماسأ), * vermutlich zwischen März 1957 und Februar 1958 in Riad; † 2. Mai 2011 in Abbottabad, war ein saudi-arabischer, seit 1994 staatenloser Terrorist. Er war Gründer und Anführer der Gruppe Al-Qaida. 638 Da Afghānistān da Talibān Islāmi Tahrik (paschtunisch: نابلاط د ناتسناغفا د )ِکیرحت یمالسا, sind eine deobandisch-islamische Miliz, welche von September 1996 bis Oktober 2001 weite Teile Afghanistans beherrschte. Nach dem Abzug der Sowjetunion im Jahr 1988 verfiel das Land in einen Bürgerkrieg, bei dem sich 1996 die Bürgerkriegsfraktion der radikal-islamischen Taliban durchsetzte. Sie eroberten Kabul und konnten große Teile des Landes unter ihre Kontrolle bringen. Gleichzeitig gewährten sie Osama Bin Laden und der Al-Qaida-Organisation Unterschlupf. 635 Beide
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Teil 1, Kap. 2: Einsätze der NATO seit Ende der Sowjetunion
Noch am Abend des 11. September 2001 rief der US-amerikanische Präsident Bush639 den „Krieg gegen den Terror“ aus.640 Am selben Abend erklärte der deutsche Bundeskanzler Schröder641 die „uneingeschränkte Solidarität“ der Bundesrepublik Deutschland und bezeichnete die Terroranschläge als „Kriegserklärung gegen die gesamte zivilisierte Welt“.642 Insgesamt starben in Folge der Anschläge über 3.000 Menschen643.
II. Die NATO-Maßnahmen 1. S/RES/1368 und 1373 (2001) – „Operation Enduring Freedom“ Als Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 wurden einen Tag später durch den SR die S/RES/1368 (2001) sowie am 28. September 2001 S/RES/1373 (2001) verabschiedet644. Darüber hinaus rief das Nordatlantikbündnis – zum ersten Mal in seiner Geschichte – den Verteidigungsfall gem. Art. 5 NV aus645. Da der Hauptsitz Al-Qaidas646 in Afghanistan beheimatet war und die AlQaida mit den dort herrschenden Taliban eine „symbiotische Beziehung“647 639 George Walker Bush, * 6. Juli 1946 in New Haven (Conn.), war der 43. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika in der Zeit vom 20. Januar 2001 bis 20. Januar 2009. 640 Er benutzt hier noch den Terminus „war against terrorism“. In seiner „Adress to a Joint Session of Congress Following 9/11 Attacks“ vom 20. September 2001 spricht er dann vom „war on terror“, http://www.americanrhetoric.com/speeches/gw bush911jointsessionspeech.htm (zuletzt aufgerufen, am 13. März 2014). 641 Gerhard Fritz Kurt Schröder, * 7. April 1944 in Mossenberg-Wöhren, ist ein ehemaliger Politker und Rechtsanwalt. Er war vom 27. Oktober 1998 bis 22. November 2005 der siebte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. 642 http://www.documentarchiv.de/brd/2001/rede_schroeder_terror-usa.html (zuletzt aufgerufen, am 13. März 2014). 643 Zu den Anschlägen vom 11. September gibt es unzählige Literatur. Hier sei nur S. Aust, 11. September, passim, genannt. 644 S/RES/1368 (2001) v. 12. September 2001; S/RES/1373 (2001) v. 28. September 2001. 645 Statement by the North Atlantic Council, 12. September 2001, http://www.nato. int/docu/pr/2001/p01-124e.htm (zuletzt aufgerufen, am 13. März 2014). 646 Al-Qaida (arab. )ةدعاقلا, ist ein loses, weltweit operierendes Terrornetzwerk meist sunnitischer islamistischer Organisationen, das seit 1993, meist in Verbindung mit Bekennerschreiben, zahlreiche Terroranschläge in mehreren Staaten verübt hat, und mit zahlreichen weltpolitischen Ereignissen im Zusammenhang steht. Viele der von dem Netzwerk verübten Anschläge gelten als terroristischer Massenmord an Zivilisten. Am 2. Mai 2011 wurde der Gründer und ideologische Anführer der Organisation, Osama Bin Laden, bei der Operation Neptune’s Spear in Abbottabad, rund
C. Krieg in Afghanistan – die Operation „Enduring Freedom“ 169
bildeten, konzentrierte sich der internationale Druck auf das Land am Hindukusch. Der US-amerikanische Präsident Bush erklärte bereits am Abend der Anschläge vom 11. September im Pentagon, dass nicht nur die Terroristen selbst, sondern auch die Staaten, die ihnen Unterschlupf gewähren, mit massiven Schritten zu rechnen hätten: „We will make no distinction between the terrorists who committed these acts and those who harbor them“648.
Diese Drohung war maßgeblich gegen die Taliban gerichtet. In seiner am 20. September 2001 gehaltenen Rede forderte er diese dazu auf, ihre Unterstützung für Al-Qaida aufzugeben: „Deliver to United States authorities all the leaders of al Qaeda who hide in your hand. Release all foreign nationals, including American citizens, you have unjustly imprisoned. Protect foreign journalists, diplomats, and aid workers in your country. Close immediately and permanently every terrorist training camp in Afghanistan, and hand over every terrorist, and every person in their support structure, to appropriate authorities. Give the United States full access to terrorist training camps, so we can make sure they are no longer operating“649.
Die Taliban weigerten sich jedoch, diese Bedingungen zu erfüllen.650 Mit der zweiten Resolution (S/RES/1373 [2001]) wiederholte der SR den Hinweis auf das Selbstverteidigungsrecht651. Darüber hinaus wurden die Staaten aufgefordert, die Reisefreiheit und die Finanzierung der Terroristen zu unterbinden. Da die Taliban dem nicht nachkamen, begann eine US-amerikanisch geführte Koalition am 7. Oktober 2001 im Rahmen der Operation Enduring 50 km von der pakistanischen Hauptstadt Islamabad entfernt, durch US-amerikanische Einsatzkräfte getötet. 647 So das Auswärtige Amt, Fragen und Antworten zum deutschen Beitrag in der internationalen Koalition gegen den Terrorismus, Pressemitteilung des Auswärtigen Amts vom 12. November 2001; zit. nach D. Steiger, Folterverbot und der „Krieg gegen den Terror“, S. 28. 648 G. W. Bush, Rede vom 11. September 2001, http://www.nationalcenter.org/ BushGW91101Address.html (zuletzt aufgerufen, am 14. März 2014). 649 http://www.americanrhetoric.com/speeches/gwbush911jointsessionspeech.htm (zuletzt aufgerufen, am 14. März 2014). Gleichzeitig kündigte er an, dass die USamerikanischen Streitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft gesetzt werden. 650 Taliban: „we will retaliate if US attacks“, in: The Guardian, 14. September 2004, http://www.theguardian.com/world/2001/sep/14/afghanistan.september111 (zuletzt aufgerufen, am 14. März 2014); L. Harding/E. MacAskill/R. Norton-Taylor, Defiant Taliban ready for war, in: The Guardian, 18. September 2001, http://www.the guardian.com/world/2001/sep/18/politics.september11 (zuletzt aufgerufen, am 14. März 2014). 651 Dies geschah, obwohl weitestgehend feststand, dass Al-Qaida die Verantwortung trug und das Selbstverteidigungsrecht bis dato immer gegen Staaten angewandt und auch so verstanden wurde. Ausführlich hierzu Teil 4, Kap. 3, I.
170
Teil 1, Kap. 2: Einsätze der NATO seit Ende der Sowjetunion
Freedom (OEF)652 mit Luftangriffen auf Al-Qaida-Lager und militärischen Einrichtungen der Taliban in Afghanistan. In einer nächsten Etappe653 erfolgte ab dem 8. November 2001 eine Bodenoffensive zusammen mit der Nordallianz654, deren Ziel die Eroberung der Hauptstadt Kabul655 und der Provinzhauptstädte Kandahar656 sowie Kunduz und der Sturz der Taliban war657. Bereits am 27. November 2001 trafen sich die Führer Afghanistans mit Vertretern der westlichen Staaten auf dem Petersberg bei Bonn zur ersten Petersberger Afghanistan-Konferenz658, um eine Nachkriegsordnung für Afghanistan zu entwerfen. In dem Petersberger Abkommen vom 5. Dezember 2001659 einigte man sich auf die Einsetzung einer Interimsregierung unter Präsident Karzai660, der Ausarbeitung einer Verfassung und der Vorbereitung von Wahlen sowie der Entsendung einer internationalen Truppe661. 652 Die OEF ist die einzige und größte Großoperation des von den USA ausgerufenen Krieges gegen den Terrorismus, die in vier Regionen durchgeführt wurde (Afghanistan, Horn von Afrika, den Philippinen und in Afrika innerhalb und südlich der Sahara). Vgl. hierzu die Rede von Präsident G. W. Bush vom 7. Oktober 2001, mit der die OEF begann: http://www.globalsecurity.org/military/library/news/2001/10/mil011007-usia01.htm (zuletzt aufgerufen, am 13. März 2014). 653 Einen detaillierten Überblick über den Verlauf des Konflikts bietet H. Krech, Der Afghanistan-Konflikt 2001, S. 23 ff. 654 Die Nordallianz oder auch das unter Vereinte Front sowie deren offiziellem Namen Nationale Islamische Vereinigte Front zur Rettung Afghanistans bekannte Bündnis, war ein gegen die Taliban gerichtetes militärisches und politisches Bündnis. 655 Am 12. November 2001 wurde Kabul eingenommen. 656 Am 7. Dezember 2001 wurde die einstige Taliban-Hochburg Kandahar eingenommen. 657 Mit der Einnahme der Hauptstadt Kabul war der Krieg zugunsten der Alliierten entschieden, vgl. B. Woodward, Bush at War, S. 312 f. Eine ausführliche Beschreibung des Afghanistan-Kriegs erfolgt auch bei B. Lambeth, Air Power Against Terror, passim. 658 Die Afghanistan-Konferenz ist eine seit dem Jahr 2001 unregelmäßig wiederkehrende Zusammenkunft zur Koordinierung des politischen und wirtschaftlichen Aufbaus Afghanistans. 659 Agreement on Provisional Arrangements in Afghanistan Pending the Re-establishment of Permanent Government Institutions, http://reliefweb.int/report/afghanis tan/agreement-provisional-arrangements-afghanistan-pending-re-establishment-perma nent (zuletzt aufgerufen, am 14. März 2014). 660 Hamid Karzai (pers. )يزرك دماح, * 24. Dezember 1957 in Karz, ist ein afghanischer Politiker, der vom 4. Dezember 2001 bis 29. September 2014 Präsident Afghanistans war. 661 Am 11. Juni 2002 trat die traditionelle afghanische Große Versammlung (Loja Dschirga) zusammen, die eine neue Regierung bestimmte. Am 4. Januar 2004 wurde die neue Verfassung Afghanistans durch eine weitere Loja Dschirga angenommen. Die dadurch ermöglichten ersten Präsidentschaftswahlen Afghanistans gewann Hamid
C. Krieg in Afghanistan – die Operation „Enduring Freedom“ 171
2. S/RES/1386 (2001) – ISAF Die Umsetzung der mit dem Petersberger Abkommen vereinbarten Ziele erfolgte durch Truppenpräsenz der westlichen Staaten. Eine Internationale Sicherheitsbeistandstruppe für Afghanistan662 wurde durch S/RES/1386 (2001)663 damit beauftragt, der afghanischen Interimsregierung Schutz zu gewähren und beim Wiederaufbau des Landes zu unterstützen. Nachdem zunächst einzelne Staaten das Mandat führten, übernahm dieses am 9. August 2003 die NATO. Das zunächst auf das Gebiet Kabuls und seine Umgebung beschränkte ISAF-Mandat wurde mit der S/RES/1510 (2003)664 auf das gesamte Gebiet Afghanistans ausgeweitet. Im Juni 2004 beschloss die NATO auf ihrem Gipfeltreffen in Istanbul, das erweiterte Mandat wahrzunehmen665. Dies betraf bis Mitte 2006 zunächst den Norden und Westen des Landes; sodann übernahm ISAF am 31. Juli 2006 auch die Verantwortung für die Südregion sowie am 5. Oktober 2006 für die Ostregion Afghanistans. In diesen Landes teilen mit schwieriger Sicherheitslage waren zuvor allein die Vereinigten Staaten von Amerika und sie unterstützende weitere Staaten im Rahmen der OEF tätig. Aufgrund der Ausweitung von ISAF überschnitt sich dessen Einsatzgebiet mit dem der – institutionell voneinander getrennten – OEF666. Ungeachtet anhaltender Gewalt beschlossen die NATO-Staaten bei ihrem Gipfel in Lissabon im November 2010667, dass die Verantwortung für die Sicherheit in Afghanistan bis Ende 2014 an die einheimischen Sicherheitskräfte übertragen werden sollte. Seit dem 1. Januar 2015 besteht die ISAFNachfolgemission Resolute Report668, die der Ausbildung und Beratung der afghanischen Sicherheitskräfte dient.
Karzai am 9. Oktober 2004. Die erste Parlamentswahl fand am 18. September 2005 statt. Vgl. D. Steiger, Folterverbot und der „Krieg gegen den Terror“, S. 31. 662 International Security Assistance Force – ISAF. 663 S/RES/1386 (2001) v. 20. Dezember 2001. 664 S/RES/1510 (2003) v. 13. Oktober 2003. 665 Vgl. NATO Istanbul Summit Comminiqué, Ziff. 3 ff.; http://www.nato.int/docu/ pr/2004/p04-096e.htm (zuletzt aufgerufen, am 15. März 2014). 666 Siehe hierzu auch die ausführlichen Angaben in BVerfGE 118, 244 (245 ff.) – Afghanistan-Einsatz. 667 Vgl. NATO Lisbon Summit Declaration, Ziff. 3f.; http://www.nato.int/cps/en/ natohq/official_texts_68828.htm (zuletzt aufgerufen, am 15. März 2014). 668 Vgl. hierzu: http://www.nato.int/cps/de/natohq/topics_113694.htm (zuletzt aufgerufen, am 15. März 2014).
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D. Konflikt in Libyen – die Operation „Unified Protector“ I. Zum Vorgeschehen Im Zuge des Arabischen Frühlings669 brach im Februar 2011 auch in ibyen ein Bürgerkrieg aus. Unzufriedene Jugendliche, junge Erwachsene, L Modernisierer und Reformer670 auf der einen Seite sowie die „alte Garde“671, erstarkende Islamisten und Stammesführer auf der anderen Seite schufen eine Gemengelage, die ab Mitte Februar 2011 die Aufstände zu einem Bürgerkrieg werden ließen. Der diesem zugrunde liegende Unmut – der Libyen von Ägypten und Tunesien aus erreichte – wurde primär ausgelöst durch den Wunsch der Menschen nach Mitbestimmung672. Die Situation wandelte sich vom Protest zu einem Bürgerkrieg, als libysche Sicherheitskräfte in den „Tagen des Zorns“ nach dem 18. Februar 2011 mehrere Menschen erschossen673. In Libyen lag der Schwerpunkt seit Beginn der Auseinandersetzungen auf der Neuverteilung der Macht regionaler Gruppierungen gegen den herrschen-
669 Als Arabischer Frühling werden die Protestwellen im Nahen Osten und in Nordafrika bezeichnet, die alle in Verbindung mit der Selbstverbrennung von Mohammed Bouazizi in Tunesien stehen. Er zündete sich am 17. Dezember 2010 vor der Stadtverwaltung von Sidi Bouzid selbst an, um damit gegen Polizeiwillkür und Beamtenkorruption zu protestieren. Diese Tat wurde von Zeugen gefilmt und über das Internet sowie den Fernsehsender Al-Jazeera verbreitet. Daraufhin protestierten Bürger vor der Stadtverwaltung. Die Proteste erfassten das ganze Land und führten schließlich zur Flucht von Präsident Ben Ali. Auch in Ägypten politisierten sich die Demonstranten nach der Revolution in Tunesien zunehmend. Am 25. Januar 2011 münden verschiedene Widerstände in Massenkundgebungen am Tahrir-Platz. Als „Tag des Zorns“ markiert das Datum den Beginn der ägyptischen Revolution. Nach gewaltsamen Protesten wird am 11. Februar 2011 der Rücktritt von Präsident Husni Mubarak bekanntgegeben. Bei den Wahlen im Dezember 2011/Januar 2012 werden die Muslimbrüder stärkste Kraft und Mohammed Mursi zum Präsidenten gewählt. Er wird am 3. Juli 2013 vom Militär abgesetzt. 670 Die Reformer, bei denen Saif al-Islam al-Gaddafi den systemimmanenten Reformflügel innerhalb Libyens Elite darstellte, verkörperten Reformansätze wie die Umwandlung der Staats- in eine Marktwirtschaft und die damit einhergehende Eta blierung von Regeln im politischen, juristischen und ökonomischen System. 671 Die „alte Garde“ hat ihren Rückhalt vornehmlich im Verwaltungs- und Sicherheitsapparat. 672 Allerdings sind die Entwicklungen und Ereignisse, die sich in Tunesien und Ägypten im Winter 2010/11 abgespielt haben nicht vergleichbar mit der libyschen Situation. Während dort breite Bevölkerungsschichten und Nutznießer des Systems gegen die Regime protestierten, war die „Massenbasis“ für eine Umwälzung in Libyen schmaler. Vgl. A. Pradetto, Intervention in Libyen, IP 4/2011, S. 53 f. 673 Vgl. A. Rinke, Libyen-Frage, IP 4/2011, S. 45.
D. Konflikt in Libyen – die Operation „Unified Protector“173
den Gaddafi-Clan674. Für die Entwicklung im Kampf um die Macht war zweierlei kennzeichnend: Zum einen gab es gewalttätige Aktionen sowohl vom Gaddafi-Regime als auch von den Anti-Gaddafi-Demonstranten. Zum anderen war es für die Proteste charakteristisch, dass neben libyschen auch ausländische Akteure von Anfang an in „unterstützender Funktion“ mitwirkten675. Daneben knüpfte die Anti-Gaddafi-Bewegung Kontakte zum Ausland, um ihre Ambitionen international abzustützen. Vollends dramatisch wurde die Situation in Libyen, als die Gegenkräfte in Benghazi am 27. Februar 2011 eine Gegenregierung gründeten und den „Nationalen Übergangsrat“ als politische Vertretung bildeten. Daraufhin entwickelten sich Kooperationen zwischen dem Übergangsrat in Benghazi und den Regierungen in Paris und London. Namentlich der französische Staatspräsident Sarkozy676 drängte auf eine diplomatische Anerkennung des Übergangsrates und westliche militärische Unterstützung677. Aufgrund des beidersei tigen gewaltsamen Vorgehens sowie der westlichen Unterstützung für die „Gegenregierung“ entwickelte sich innerhalb Libyens eine Dynamik, die zur Gewalteskalation führte678. Den „Racheakten“ der Gaddafi-Truppen hatten die von der Gegenregierung eilig bewaffneten Jugendlichen wenig entgegenzusetzen. Gleichzeitig flohen Zehntausende Libyer und Ausländer679.
674 Allerdings ist das Organisations- und Durchsetzungspotenzial der regionalen Gegenkräfte wie auch der demokratischen und der islamistischen Opposition sowie der protestierenden Jugendlichen relativ schwach, gleichzeitig aber durch ein hohes Maß an Gewalt geprägt. A. Pradetto, Intervention in Libyen, IP 4/2011, S. 54. 675 Insbesondere der US-amerikanische Auslandsgeheimdienst CIA, der britische Auslandsgeheimdienst MI6 sowie diverse militärische Spezialeinheiten. Vgl. ders., ebd., S. 55. 676 Nicolas Paul Stéphane Sarközy de Nagy-Bocsa, * 28. Januar 1955 in Paris, ist ein französischer Politiker, der vom 16. Mai 2007 bis zum 15. Mai 2012 der 23. Staatspräsident der Französischen Republik war. 677 Bereits Ende Februar 2011 beraten der französische und US-amerikanische Präsident sowie der britische Premierminister über „Sanktionen und andere Optionen“ gegen das libysche Regime. 678 Ein ausschlaggebender Grund war die französische Anerkennung des Übergangsrates als offizielle Staatsvertretung und die Entsendung eines Botschafters nach Benghazi, woraufhin in Tripolis alle diplomatischen Kontakte mit Frankreich abgebrochen wurden. Dieses Vorgehen stellte aber sowohl die Verbündeten in der NATO als auch in der EU vor vollendete Tatsachen. 679 A. Pradetto, Intervention in Libyen, IP 4/2011, S. 54 ff.
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Teil 1, Kap. 2: Einsätze der NATO seit Ende der Sowjetunion
II. Die NATO-Maßnahmen Aufgrund der zuvor beschriebenen Entwicklung der Situation in Libyen reagierte der SR mit zwei Resolutionen. Beide Resolutionen berufen sich dabei auf Kapitel VII der VN-Charta. 1. S/RES/1970 (2011) Mit der S/RES/1970 (2011)680 wurden Wirtschaftssanktionen gegen den nordafrikanischen Staat verhängt. Diese umfassten ein Waffenembargo, ein Reiseverbot für Muammar al-Gaddafi681 und einige seiner Familienmitglieder sowie hochrangige Angehörige seiner Regierung. Bankkonten Libyens und der Personen auf der Liste in der Anlage der Resolution wurden eingefroren. Der SR wies die libyschen Behörden an, mit dem IStGH zu kooperieren, welcher die Ereignisse in dem Land seit dem 15. Februar 2011 untersucht. Mit dem Resolutionstext geht der SR davon aus, dass die „weitverbreiteten und systematischen Angriffe, die derzeit in der Libysch-Arabischen Dschamahirija gegen die Zivilbevölkerung stattfinden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichkommen können“. Der SR verlangte mit der Resolution ein sofortiges Ende der Gewalt und Schritte, die geeignet sind, „die berechtigten Forderungen der Bevölkerung“ zu erfüllen. Die VN fordern die libyschen Behörden auf, Maßnahmen zu ergreifen, um die Sicherheit ausländischer Personen in Libyen zu gewährleisten und denen die Ausreise zu erleichtern, welche das Land verlassen wollen. Überdies wurde verlangt, dass Libyen ausländischen humanitären und medizinischen Helfern die Einreise zu ermöglichen und eine sichere Lieferung von Hilfsgütern sicherzustellen hatte. 2. S/RES/1973 (2011) – „Operation Unified Protector“ Mit dem Argument, dass man es nicht zulassen könne, dass Gaddafi „sein eigenes Volk ermordet“, warb die französische Regierung schließlich für eine internationale militärische Unterstützungsaktion gegen die Truppen des Gaddafi-Regimes. Am 17. März 2011 verabschiedete dazu der SR die S/RES/1973 (2011)682. 680 S/RES/1970
(2011) v. 26. Februar 2011. Muhammad Abdassalam Aby Minyar al-Gaddafi (arab. رمعم )يفاذقلا, * 19. Juni 1942 in Sirte, † 20. Oktober 2011 bei Sirte, war seit dem unblutigen Militärputsch vom 1. September 1969 Staatsoberhaupt Libyens. Von 1979 bis 2011 bestimmte er als Revolutionsführer diktatorisch die Politik Libyens. 682 S/RES/1973 (2011) v. 17. März 2011. 681 Muammar
D. Konflikt in Libyen – die Operation „Unified Protector“175
Auf Grundlage dieser Resolution begann am 19. März 2011 eine Koalition – angeführt von Frankreich, dem Vereinigten Königreich und den USA – im Rahmen der „Operation Odyssey Dawn“ mit der Bombardierung Li byens683. Am 31. März 2011 ging das Kommando auf die NATO im Rahmen der „Operation Unified Protector“ über. Innerhalb der siebenmonatigen Intervention wurden 26.500 Lufteinsätze mit insgesamt 9.500 Bombardierungen geflogen684. Die Liquidierung des Revolutionsführers Gaddafi am 20. Oktober 2011 beendete die militärische Intervention. 3. Responsibility to Protect Mit der Umsetzung von S/RES/1973 (2011) und der Bekräftigung der Solidarität mit dem libyschen Volk sowie der Behauptung dessen legitimen Anspruch auf Demokratie und Freiheit zu unterstützen, durch die entsprechenden – vorwiegend westlichen – Staaten, gab man an, das Konzept der Schutzverantwortung685 (Responsibility to Protect – R2P) umgesetzt zu haben. Mit der zunehmenden Dauer des Militäreinsatzes wuchs allerdings die internationale Kritik am Vorgehen in Libyen. China686 warnte im SR vor einer willkürlichen Interpretation der beiden Resolutionen sowie vor mandatswidrigen Handlungen und betonte, dass allein das libysche Volk über die inneren Angelegenheiten und das Schicksal Libyens entscheiden dürfe. Von russischer Seite687 wurde moniert, dass das Mandat mit der Bombardierung ziviler Einrichtungen und der Tötung von Zivilisten missachtet worden sei. Und Südafrika688 ermahnte wiederholt, dass die Intention der S/RES/1973 (2011) auf den Schutz von Zivilisten gerichtet gewesen sei – und nicht auf einen Regimewechsel sowie die Tötung bestimmter Personen. Des Weiteren seien mögliche Völkerrechtsverbrechen bei der Umsetzung der Resolution ebenso durch den IStGH untersuchen zu lassen, wie die Taten des Gaddafi-Regimes689.
683 J. Wagner, Der Libyen-Krieg und die Interessen der NATO, in: J. Becker/ G. Sommer (Hrsg.), Der Libyen-Krieg, S. 113. 684 Ders., ebd., S. 113. 685 Umfassend zu den Voraussetzungen und der rechtlichen Bewertung der R2P unter Teil 4, Kap. 4, A. 686 VN-Dok. S/PV.6528 v. 4. Mai 2011, S. 10. 687 VN-Dok. S/PV.6531 v. 10. Mai 2011, S. 9; VN-Dok. S/PV.6620 16. September 2011, S. 3. 688 VN-Dok. S/PV.6566 v. 27. Juni 2011, S. 4; S/PV.6595, 28. Juli 2011, S. 4. 689 VN-Dok. S/PV.6528, 4. Mai 2011, S. 11.
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Teil 1, Kap. 2: Einsätze der NATO seit Ende der Sowjetunion
Insgesamt führte das militärische Eingreifen der westlichen Staaten sowie der NATO dazu, dass – entgegen dem Inhalt des Resolutionsentwurfs, dessen Zweck explizit darin bestand, Zivilisten vor Angriffen zu schützen – grundlegende politische Änderungen daraus hervorgingen. Eine politische wie wirtschaftliche Stabilisierung und damit auch verbesserte Sicherheitslage für die Bevölkerung wurde – auch bis dato (2018) – jedoch nicht erzielt.
Teil 2
Grundlagen der Gewaltanwendung im geltenden Völkerrecht
Kapitel 1
Das völkerrechtliche Gewaltregelungsregime Um eine Untersuchung sowie Bewertung der zuvor dargelegten Anlassfälle im Rahmen der vorliegenden Arbeit anhand des NV vornehmen zu können, muss zunächst – quasi als Vorfrage der zur Rechtsermittlung zu beantwortenden Fragen – jene nach den völkerrechtlichen Grundlagen der Gewaltanwendung beantwortet werden. Die Beantwortung dieser Frage umfasst neben der grundsätzlichen Darstellung des völkerrechtlichen Gewaltregelungsregimes, insbesondere diejenige nach dem rechtlichen Rahmen, welcher dem Nordatlantikbündnis dafür zur Verfügung steht.
A. Die Entwicklung des Gewaltverbots und seiner Ausnahmen Das Prinzip des Gewaltverbots im Umgang der Völker und der souveränen Staaten untereinander ist keine Selbstverständlichkeit. Gewalt war vor der völkerrechtlichen „Revolution“ des Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta ein anerkanntes Mittel der Politik der Völker und Staaten sowie ihrer völkerrechtlichen Gestaltung1. So bildeten Recht und Gewalt in der europäischen Rechtstradition keinen „antagonistischen Gegensatz“. Es galt seit jeher, dass Gewalt, die andere in ihren Rechten nicht international verletzen will, als legitim2 empfunden wurde3. Das moderne völkerrechtliche Gewaltregelungsregime – samt des kodifizierten Gewaltverbots – beruht entwicklungsgeschichtlich auf der seit Beginn des 20. Jahrhunderts vorgenommenen Einschränkung des subjektiven Gewaltrechts zunächst auf formeller Seite und sodann mit dem Briand-
1 Noch 1912 schreibt Paul Heilborn im Handbuch des Völkerrechts: „Will ein Staat sein eigenes Selbst einsetzen, so darf er jederzeit Krieg beginnen. Die Gewalt ist also im Staatenverkehr unbedingt gestattet (…)“ P. Heilborn, Grundbegriffe des Völkerrechts, in: F. Stier-Somlo (Hrsg.), Handbuch des Völkerrechts, Erster Band, S. 23. Vgl. auch A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 80 und § 1337. 2 Bereits Cicero stellte die Frage, was gegen Gewalt ohne Gewalt getan werden könnte: „Quid enim est, quod contra vim sine vi fieri possit?“, M. T. Cicero, Epistulae ad Familiares, XII, 3. 3 T. Menk, Gewalt für den Frieden, S. 46 f.
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Teil 2, Kap. 1: Das völkerrechtliche Gewaltregelungsregime
Kellog-Pakt4 auch auf materieller Seite. Dies bedeutete letztlich das Ende des freien Kriegsführungsrechts.5
I. Der Zeitraum seit Gründung der Vereinten Nationen Mit Gründung der VN6 und der Geltung der VN-Charta wurde die Entwicklung bis 1945, insbesondere die Umkehrung der Regel-Ausnahme-Systematik, entschieden weitergeführt7. Dieses chartiale Regelungswerk stellt bis heute den mit Abstand wichtigsten und hochrangigsten völkerrechtlichen Vertrag dar, dessen universelle Geltung als „law-making treaty“ unbestritten ist und mitunter als „Verfassung der internationalen Gemeinschaft“ bezeichnet wird8. Dies ist insofern hervorzuheben, da alle Mitgliedstaaten das darin enthaltene Gewaltregime anerkannt haben und – soweit Gewaltanwendung erlaubt wird – in ihre Passivlegitimation eingewilligt haben9.
4 Gesetz zu dem Vertrag über die Ächtung des Krieges, abgedr. in RGBl 1929 II, S. 97–101; General Pact for the Renunciation of War, v. 27. August 1928, abgedr. in: AJIL 22 (1928), Official Documents, S. 171–173. Der Briand-Kellog-Pakt (benannt nach dem US-amerikanischen Außenminister Frank Billings Kellog und dem französischen Außenminister Aristide Briand) bzw. der entsprechende Vertrag steht formell noch immer in Geltung, wenngleich er in Anbetracht der sowohl materiell als auch in Zahl der Signatare weitergehenden VN-Charta in der Praxis kaum noch bemüht wird. Vgl. M. Kühn, Unilaterale präventive Gewaltanwendung, S. 132 f. 5 Das beginnende 19. Jahrhundert markierte in Lehre und Praxis die endgültige Abkehr vom Konzept des gerechten Krieges („bellum iustum“) – welches sich über die mittelalterliche Moraltheologie bis zur römischen Kriegslehre zurückverfolgen lässt – hin zum Konzept der freien Kriegsführung („liberum ius ad bellum“). Dieses zeichnete sich dadurch aus, dass über die Souveränität der (beiden) Kriegsparteien hinaus keine materiellen Anforderungen an die Entscheidung zum Ersteinsatz von Waffen bestanden. Nachdem die Idee des gerechten Krieges keine spezifisch völkerrechtliche Bedeutung erlangte, entfaltete das liberum ius ad bellum erstmals eine tatsächliche rechtliche Relevanz. Allerdings diente das freie Kriegsführungsrecht nicht dazu, daraus eine Rezeption bzw. Fortentwicklung „prächartialen Rechts“ abzuleiten. Eine ausführliche Darstellung erfolgt bei H. Wehberg, Krieg und Eroberung, S. 11 ff.; F. Dickmann, Friedensrecht und Friedenssicherung, S. 91 ff.; M. Kühn, Unilaterale präventive Gewaltanwendung, S. 102 ff. 6 Vgl. hierzu bereits Teil 1, Kap. 1, A. I. Zur Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg siehe auch S. Stadlmeier, Dynamische Interpretation der dauernden Neutralität, S. 78 ff. 7 Der Regelungskomplex der VN-Charta soll im Folgenden nur skizziert werden, da er im Hinblick auf die den Untersuchungszusammenhang betreffenden Aspekte in Teil 4 einer eingehenden Betrachtung unterzogen wird. 8 R. Bernhardt, in: B. Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN, Vol. II, Art. 103, Rdnr. 37. 9 M. Kühn, Unilaterale präventive Gewaltanwendung, S. 168.
A. Die Entwicklung des Gewaltverbots und seiner Ausnahmen 181
1. Das Gewaltverbot Seit der Gründung der VN bildet Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta die Schlüsselnorm. Sie hat folgenden Wortlaut: „All members shall refrain in their international relations from the threat or use of force against the territorial integrity or political independence of any state, or in any other manner inconsistent with the Purposes of the United Nations“.
In ihr ist das Gewaltverbot normiert, das im Mittelpunkt des gegenwärtigen Gewaltregelungsregimes steht und – im Kern – ebenfalls im Völkergewohnheitsrecht verankert10 ist. Darüber hinaus zählt es zum ius cogens11 und ist somit nicht verwirkbar12. Die Bedeutung des in der Norm enthaltenen Gewaltverbots leitet sich aus dem – im Vergleich zum Briand-Kellog-Pakt und der Völkerbundsatzung – höheren Abstraktionsgrad und der tatbestandlichen Reichweite ab. So wurde der normativ geprägte Begriff „Krieg“ durch das rein deskriptive Tatbestandsmerkmal der „Gewalt“ ersetzt. Während der Begriff des Kriegs juristisch kaum bestimmbar ist und eher eine Zustandsbeschreibung mitsamt einer wertenden Betrachtung darstellt, knüpft das Gewaltverbot nicht mehr an die Folge der Gewaltanwendung an, sondern verbietet schlicht das Handlungsmittel13. Durch diese Umstellung sind Umgehungen und Ausflüchte in erheblichem Maß eingeschränkt14. Zugleich wurde nicht nur die Anwendung, sondern bereits die Androhung von Gewalt verboten, sodass sämtliche konkreten Handlungsalternativen in Bezug auf das Handlungsmittel15 abgedeckt wurden16. 10 Vgl. I. Brownlie, International Law and the Use of Force by States, S. 113, der in Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta die bloße Kodifikation einer bereits vor Gründung der Vereinten Nationen bestehenden völkergewohnheitsrechtlichen Regelung sieht. Die wohl h. M. vertritt dagegen die Auffassung, dass sich das völkergewohnheitsrecht liche Gewaltverbot aus der Norm entwickelt hat: A. Randelzhofer, in: B. Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN, Vol. I, Art. 2 (4), Rdnr. 61 ff. 11 Zum zwingenden Völkerrecht (ius cogens) ausführlich unter Teil 4, Kap. 5, B. 12 Ganz h. M., vgl. nur statt vieler J. Frowein, Stichwort: „Jus Cogens“, in: R. Bernhardt et al., EPIL III (1997), S. 66 f.; W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 16, Rdnr. 51; K. Doehring, Völkerrecht, § 3, Rdnr. 281. 13 Zum Wandel des Kriegsbegriffes S. Stadlmeier, Dynamische Interpretation der dauernden Neutralität, S. 107 ff. 14 Gleichwohl wird auch die Zufügung anderer Übel als Verletzung des Gewaltverbots zu qualifizieren sein – z. B. erheblicher wirtschaftlicher Druck durch das Verhängen von Handelsembargos oder Boykotte, massive grenzüberschreitende Umweltverschmutzungen oder das Absperren von der Wasserzufuhr. Vgl. D. Dicke, Die Intervention mit wirtschaftlichen Mitteln im Völkerrecht, passim. 15 Neben der physischen Gewalt fallen unter Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta auch „wirtschaftliche“ oder „politische“ Gewalt, die (physisch gewaltfreie) Verletzung des
182
Teil 2, Kap. 1: Das völkerrechtliche Gewaltregelungsregime
Nach dem Wortlaut des Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta sind vom Gewaltverbot prinzipiell Gewaltanwendungen innerhalb der Staatsgrenzen nicht erfasst. Es ist den Staaten lediglich „in their international relations“ eine Gewaltanwendung untersagt. Demnach wird das gewaltsame Niederschlagen von Aufständen, Unruhen etc. innerhalb des eigenen Staatsterritoriums nicht vom Gewaltverbot umfasst. In derartigen Situationen sollen ausländische Staaten zur militärischen Unterstützung angefordert werden dürfen. Hingegen stellt die Unterstützung von Aufständischen durch einen fremden Staat einen Verstoß gegen das Gewaltverbot dar.17 Verbotene Gewalt ist damit lediglich die von einem Staat zu verantwortende Gewalt, welche sich gegen einen anderen Staat18 richtet. Private, d. h. nicht einem Staat zurechenbare Gewalt ist grund sätzlich vom Gewaltverbot nicht erfasst19; es sei denn, sie stellt verschleierte – ausgelagerte – staatliche Gewalt dar. Resümierend bedeutet die Norm des Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta – neben dem Willen der Staatengemeinschaft, Gewalt als Konfliktlösungsmechanismus grundsätzlich abzulehnen – gegenüber den bis dato geltenden völkerrecht lichen Regelungen einen „dreifachen Fortschritt“. Sie verbietet Gewalt und nicht bloß den Krieg. Darüber hinaus ist das Verbot nicht auf die tatsächliche Anwendung von Gewalt beschränkt, da es auch die Gewaltandrohung einschließt. Entscheidend ist, dass die Bestimmung in den „internationalen Beziehungen“ der Mitglieder, also auch gegenüber Nichtmitgliedern gilt20.
Selbstbestimmungsrechts oder schwere Menschenrechtsverletzungen. Vgl. hierzu nur A. Randelzhofer, in: B. Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN, Vol. I, Art. 2 (4), Rdnr. 17 ff. 16 M. Kühn, Unilaterale präventive Gewaltanwendung, S. 169. 17 Vereinzelt wird im Schrifttum die Auffassung vertreten, dass eine solche Hilfe eines Fremdstaates in Fällen zulässig sei, in denen es für solche Aufstände und Unruhen eine mehrheitliche Unterstützung in der Bevölkerung gibt. Eine solche Hilfeleistung müsse dann jedoch als ein Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker und gegen die politische Unabhängigkeit des Landes gesehen werden. Vgl. H. Neuhold, Internationale Konflikte, S. 88 ff.; K. Doehring, Intervention im Bürgerkrieg, in: F. Kroneck/T. Oppermann (Hrsg.), FS Wilhelm Grewe, S. 445 ff.; O. Schachter, The Right of States to Use Armed Forces, in: MLR, Vol. 82 (1984), S. 1641 ff. 18 Dies ist bei der Verletzung fremden Staatsgebiets, bspw. durch Einmarsch, sowie bei Angriffen auf militärische Außenpositionen, wie Kriegsschiffe oder Militärflugzeuge, der Fall. Diplomatische Vertretungen stellen eine Ausnahme dar. Sie sind nicht mit dem Territorium des Entsendestaates gleichzustellen. Gewalt gegen solche Außenvertretungen stellt eine Verletzung der Regeln über den Schutz diplomatischer Missionen dar; jedoch ist dies keine Verletzung des Gewaltverbots. 19 M. Bothe, in: W. Vitzthum/A. Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 8. Abschn., Rndr. 11. 20 Vgl. H. Neuhold, in: A. Reinisch (Hrsg.), Österreichisches Handbuch des Völkerrechts, Bd. I, Rdnr. 1667.
A. Die Entwicklung des Gewaltverbots und seiner Ausnahmen 183
2. Die drei normierten Ausnahmen Dem Gewaltverbot setzt die Charta materiell drei Tatbestände gegenüber, nach denen die Anwendung von Gewalt völkerrechtlich zugelassen wird. Hierbei handelt es sich um Kollektivmaßnahmen gem. Art. 39, 42 VN-Charta, Selbstverteidigungsmaßnahmen gem. Art. 51 VN-Charta sowie die sog. Feindstaatenklauseln21 gem. Art. 53 Abs. 1 S. 2 2. HS i. V. m. Art. 107 VNCharta. Da sich diese drei normierten Ausnahmen nur an die Mitgliedstaaten (Verpflichtungsadressaten), nicht aber an die Organisation selbst richten, sind kollektive Zwangsmaßnahmen (Art. 39, 42 VN-Charta) richtigerweise nicht als Ausnahme, sondern als das Gewaltverbot flankierende Sanktionsmechanismen einzuordnen22. Bereits an dieser Stelle ist jedoch zu erwähnen, dass ungeachtet eines allgemein anerkannten Gewaltverbots die genannten Ausnahmetatbestände für militärische Gewaltausübung in ihrer jeweiligen Ausprägung in der interna tionalen Praxis zu den umstrittensten Problemen des Völkerrechts gehören. Diese Probleme bilden somit die Grundlage für diese Untersuchung.
II. Zusammenfassung Mit Gründung der VN und der Geltung der VN-Charta wurde die Entwicklung bis 1945, insbesondere die Umkehrung der Regel-Ausnahme-Systematik, entschieden weitergeführt. Dieses chartiale Regelungswerk stellt bis heute den mit Abstand wichtigsten und hochrangigsten völkerrechtlichen Vertrag dar. Schlüsselnorm ist Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta – in ihr ist das Gewaltverbot normiert. Sie verbietet Gewalt und nicht bloß den Krieg. Darüber 21 Dieser Begriff („Enemy State“) zielt auf die Festlegungen der Charta in den Art. 53 und 107 VN-Charta. „Feindstaat“ ist danach „jeder Staat, der während des Zweiten Weltkriegs Feind eines Unterzeichners dieser Charta war“. Diese Definition erfasst nicht nur Deutschland und Japan, sondern auch deren Verbündete Bulgarien, Finnland, Rumänien, Ungarn sowie Thailand. Österreich und Korea sind nicht erfasst, weil sie ihre Souveränität schon vor Kriegsbeginn verloren haben. Fraglich ist, ob die Eigenschaft „Feindstaat“ mit der Aufnahme eines der genannten Länder in die Vereinten Nationen entfallen ist. In Bezug auf Deutschland – bei den anderen Ländern besteht wohl keine tatsächliche praktische Relevanz – ist eine auf diese Klausel gestützte theoretisch denkbare Intervention einer der vier Siegermächte, mit Abschluss des „2+4-Vertrags“ und dessen Inkrafttreten am 15. März 1991 (wohl) gegenstandslos geworden. In diesem Vertrag verpflichtet sich „das vereinte Deutschland“, dass es „keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen“ (BGBl. II (1990), S. 1318 – Art. 2 [Verbot des Angriffskriegs]). Eine derartige Selbstbindung ist im internationalen Recht überaus selten. M. Eisele, Die Vereinten Nationen, S. 239 f. 22 Vgl. hierzu ausführlich R. Voigtländer, Notwehrrecht und kollektive Verantwortung, S. 58 ff.
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Teil 2, Kap. 1: Das völkerrechtliche Gewaltregelungsregime
hinaus ist das Verbot nicht auf die tatsächliche Anwendung von Gewalt beschränkt, da es auch die Gewaltandrohung einschließt. Von hoher Relevanz ist, dass die Bestimmung in den „internationalen Beziehungen“ der Mitglieder, also auch gegenüber Nichtmitgliedern gilt.23
B. Das Gewaltregelungsregime der Vereinten Nationen Wie soeben expliziert, besteht seit Gründung der VN in der VN-Charta eine generelle Verbotsnorm für Gewalt (Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta), sofern die Charta nicht selbst eine Ausnahme vorsieht. Nachfolgend wird aufgezeigt, welche Befugnisse und Mittel den VN zur Verfügung stehen, „to maintain international peace and security“ (Präambel).
I. Das universelle System kollektiver Sicherheit der Vereinten Nationen Die VN werden als „Prototyp“ eines Systems kollektiver Sicherheit bezeichnet. Grundsätzlich zeichnet sich ein derartiges System dadurch aus, dass es mit einem Mechanismus bzw. Organ ausgestattet ist, dem die Mitgliedstaaten die Befugnis übertragen haben, auf eine Aggression oder sonstigen Rechtsbruch mit militärischer Gewalt oder anderen Zwangsmaßnahmen zu reagieren. Das Adjektiv „kollektiv“ bedeutet diesbezüglich zweierlei: Einerseits soll das Recht, über Gewalt respektive Zwangsmaßnahmen zu entscheiden, nicht mehr von einzelnen Staaten, sondern von den im System organisierten Staaten gemeinsam ausgeübt werden. Dem steht nicht entgegen, dass die Mitgliedstaaten die „Ausführungskompetenz“ auf ein Organ dieses Systems übertragen. Andererseits richten sich die Zwangsmaßnahmen gemeinhin lediglich gegen ein Mitglied des Systems24. Zur Erfüllung der Aufgabe der Friedenswahrung verfügen die VN über das Recht, „to take effective collective measures for the prevention and removal of threats to the peace, and for the suppression of acts of aggression or other breaches or the peace“ (Art. 1 Ziff. 1 VN-Charta). 23 Einen allgemeinen Überblick über das Recht der bewaffneten Konflikte (Das Kriegs- und Humanitätsrecht) liefert S. Stadlmeier, in: A. Reinisch (Hrsg.), Österreichisches Handbuch des Völkerrechts, Bd. I, S. 663 ff. 24 In diesem Punkt unterscheidet sich ein System kollektiver Sicherheit von einem Verteidigungsbündnis, das grundsätzlich gegen außerhalb des Bündnisses stehende Staaten gerichtet ist. Nicht ausgeschlossen wird dadurch, dass Verteidigungsbündnisse zugleich regionale Systeme kollektiver Sicherheit sind oder sich zu solchen weiterentwickeln.
B. Das Gewaltregelungsregime der Vereinten Nationen185
Die diesbezügliche Kompetenzzuweisung erfolgt in Art. 24 Abs. 1, Art. 34 und Kapitel VII der VN-Charta. Da Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit auf entsprechende Lagen und Situationen kaum schnell und wirksam reagieren könnten, ist in Art. 24 Abs. 1 VN-Charta geregelt, dass „its Members confer on the Security Council primary responsibility for the maintenance of international peace and security, and agree that in carrying out its duties under this responsibility the Security Council acts on their behalf“.
Diese Norm hat zur Folge, dass dem SR Rechtspositionen und Vertretungsmacht zum Zwecke seiner Aufgabenerfüllung eingeräumt werden25. Sie bildet letztlich den Kerngedanken kollektiver Sicherheit ab. Darüber hinaus beschreibt die Bestimmung zum einen das Verhältnis zu den Mitgliedern als auch zu anderen Organen der VN26, insbesondere der GV, und verdeutlicht die (kompetenzrechtlich) hervorgehobene exekutive Stellung des SR – „primary responsibility“. Zum anderen bildet sie die Grundlage für die in Art. 25 VN-Charta übernommene Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Beschlüsse des SR anzunehmen und durchzuführen27. In Bezug auf die Friedenssicherung verfügt die GV lediglich über ergänzende und keinesfalls subsidiäre Kompetenzen. Zwar verfügt sie über ein umfassendes Erörterungsrecht (Art. 10 VN-Charta), aber das Recht zur Abgabe von Empfehlungen (Art. 11 Ziff. 1 und 2 VN-Charta) steht unter dem Vorbehalt, dass der SR in einer Streitigkeit oder Situation nicht die ihm zugewiesenen chartialen Aufgaben wahrnimmt (Art. 12 Ziff. 1 VN-Charta)28.
II. Die Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der VN-Charta Die zentrale Stellung des SR wird in Kapitel VII der Charta sichtbar. Es enthält die Sonderbefugnisse, von denen er zur Wahrung oder Wiederherstellung des Friedens Gebrauch machen kann. Ihnen kommt im Gewaltregelungsregime der VN besondere Bedeutung zu. Der Anwendungsbereich der Art. 41 und 42 VN-Charta („Kapitel VII-Maßnahmen“) ist immer – aber 25 Gegen diese Auffassung J. Delbrück, in: B. Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN, Art. 24, Rdnr. 11. Überzeugender ist jedoch die Auffassung, nach der die Mitgliedstaaten einen Teil ihrer Souveränität dem SR untergeordnet haben (Art. 24, Rdnr. 11, Fn. 31 f.). 26 J. Delbrück, in: B. Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN, Art. 24, Rdnr. 1 und 3. 27 M. Kühn, Unilaterale präventive Gewaltanwendung, S. 215 f., der in Art. 25 VN-Charta eine „Ratstreue“ der übrigen Mitglieder der Vereinten Nationen statuiert sieht. 28 W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 53, Rdnr. 1 ff. (S. 1101 ff.).
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Teil 2, Kap. 1: Das völkerrechtliche Gewaltregelungsregime
auch nur dann eröffnet – wenn der SR die Feststellung nach Art. 39 VNCharta trifft, dass eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt.29 Eine Sonderstellung in Kapitel VII nimmt Art. 51 VN-Charta ein. 1. Voraussetzungen der Art. 39, 41 und 42 VN-Charta Dem Verständnis der Gründungsväter der Charta nach sollte eine Friedensbedrohung oder ein Friedensbruch i. S. d. Art. 39 VN-Charta vorliegen, wenn in den internationalen Beziehungen unmittelbar Gewalt angedroht oder angewendet wird. Von den unzähligen Möglichkeiten einer Gefahr für den Weltfrieden sollte nur die letzte Phase, d. h. die akute Gefahr, dass physische Gewalt i. S. d. Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta ausbricht, erfasst sein.30 Ein Fall von Gewaltanwendung begründet zugleich einen Fall von Aggression, worauf der SR allerdings – trotz eindeutiger Fälle31 – bisher nicht abgestellt hat32. Stattdessen stellt er auf den Begriff des Friedens ab, der ihm als unbestimmter Rechtsbegriff ein weites Auslegungsfeld eröffnet. So zeigt sich in der Praxis, dass der SR vermehrt von einem „negativen“ Friedensbegriff – der durch die Abwesenheit eines gewaltsamen, zwischenstaatlichen Konflikts gekennzeichnet ist – abrückt, und Bestandteile des „positiven“ Friedensbegriffes zugrunde legt33, womit der Tatbestand seine festen Umrisslinien zunehmend verloren hat34. 29 J. Föh,
Bekämpfung des internationalen Terrorismus, S. 128 f. die umfassende Darstellung und Auslegung bei J. Arntz, Der Begriff der Friedensbedrohung in Satzung und Praxis der VN, S. 24 ff. und 64. 31 Selbst im eindeutigen Fall der Annektion Kuwaits durch den Irak im Jahr 1990 wurde kein Gebrauch vom Begriff der Aggression gemacht. 32 Dies liegt unter anderem darin begründet, dass unterschiedliche Auffassungen zur generellen Definition dieses Begriffs bestehen, denen (macht-)politische Motive zugrunde liegen und bereits i. R.d. Resolution zur Aggressionsdefinition der GV und dann erneut anlässlich der Arbeiten am Statut des IStGH offen zutage getreten sind; siehe dazu W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 53, Rdnr. 9 f. 33 Eine diesbezügliche ausdrückliche Formulierung enthält die Erklärung des Präsidenten des SR vom 31. Januar 1992, die das Ergebnis einer Sitzung vom selben Tag dokumentiert, die erstmals und bislang einmalig auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs abgehalten wurde, wodurch diese Aussage ihr besonderes Gewicht erhalten hat. Es heißt darin: „The absence of war and military conflicts amongst states does not in itself ensure international peace and security. The non-military sources of instability in the economic, social, humanitarian and ecological fields have become threats to peace and security“, Dokument S/23500 vom 31.1.1992. Diese Aussage suggeriert, dass jegliche Anknüpfung an die Ausübung oder Androhung physischer (militärischer) Gewalt als Mindestvoraussetzung für Art. 39 VN-Charta aufgehoben worden zu sein scheint. Bislang ist der SR jedoch (noch) nicht dazu übergegangen, sämtliche der vorgenannten Bedrohungen auch tatsächlich in seiner Resolutions-Pra30 Siehe
B. Das Gewaltregelungsregime der Vereinten Nationen187
So hat der SR insbesondere seit Ende des Kalten Kriegs auch Sachverhalte als Friedensbedrohung i. S. d. Art. 39 VN-Charta anerkannt, die ausschließlich einen innerstaatlichen Hintergrund hatten, indem auf das diesen Situa tionen innewohnende Gefährdungspotenzial für andere Regionen abgestellt wurde. Zu einem späteren Zeitpunkt hat er selbst das potenzielle Übergreifen des Konflikts mit internationalen Auswirkungen aufgegeben und damit ein Eingreifen in den präventiven Bereich vorverlagert.35 Gleichlaufend hat er auf der anderen Seite auch die nachgelagerte Regelung von „Post-Konflikt“Situationen an sich gezogen36. Diese Vorgehensweise hat die Grenzen zwischen Kapitel VI (friedliche Beilegung von Streitigkeiten) und Kapitel VII der Charta sowie auch den Kompetenzbereichen der unterschiedlichen Organe mehr und mehr verwässert37. Jene Entwicklung lässt die Weite der Eingriffsbefugnisse erahnen, die dem SR in den Fällen des Art. 39 VN-Charta zur Verfügung stehen. In der Praxis haben sich die Verhängung von (Wirtschafts-)Sanktionen nach Art. 41 VNCharta und die Ausübung oder Autorisierung militärischer Gewalt nach Art. 42 VN-Charta als wichtigste Handlungsoptionen herausgestellt. Die chartiale Auflistung der differenten Eingriffsmöglichkeiten ist allerdings nicht abschließend. Das zeigt die Errichtung von UNCC sowie ICTY bzw. ICTR, wobei umstritten ist, ob diese innerhalb des Kompetenzrahmens des SR und damit rechtmäßig ergangen sind38.
xis aufzugreifen. Das Dokument belegt jedoch nachhaltig, dass Wirtschaftsmaßnahmen (Art. 41 VN-Charta) unter den Gewaltbegriff der VN-Charta fallen. 34 J. Föh, Bekämpfung des internationalen Terrorismus, S. 129 und 282. Vgl. hierzu auch M. Bothe, in: W. Vitzthum/A. Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 8. Abschn., Rdnr. 43 f. 35 Beispielhaft hierfür ist die Entwicklung im Falle Somalias von S/RES/733 (1992) zu S/RES/794 (1992). 36 So durch die Errichtung der UN Compensation Commission (UNCC), die über Schadensersatzansprüche gegen den Irak nach dessen Einmarsch in Kuwait entscheidet (S/RES/687 [1991]), oder die Schaffung der Internationalen Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien (ICTY, S/RES/827 [1993]) bzw. Ruanda (ICTR, S/ RES/955 [1994]), deren Aufgabe es ist, die Beteiligten in den dortigen Konflikten strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. 37 W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 53, Rdnr. 10 f.; J. Föh, Bekämpfung des internationalen Terrorismus, S. 129 f. 38 J. Föh, Bekämpfung des internationalen Terrorismus, S. 294 ff. Föh folgt dabei der Ansicht, dass das Fehlen einer expliziten Rechtsgrundlage in der Charta für diese Errichtung letztlich als durch die Praxis und die ganz überwiegende Zustimmung vonseiten der Staatengemeinschaft als geheilt angesehen werden kann (S. 296 m. N. in Fn. 668).
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Teil 2, Kap. 1: Das völkerrechtliche Gewaltregelungsregime
2. Normativer Rahmen Auch wenn die Eingriffsvoraussetzungen auf der „Tatbestandsseite“ nicht besonders umfassend sind und das Handlungsermessen auf der „Rechtsfolgenseite“ zugleich weitreichende Gestaltungsmöglichkeiten offenbart, entscheidet auch der SR nicht im „luftleeren Raum“39. Der IGH-Richter Jennings hat dies wie folgt beschrieben: „[A]ll discretionary powers of decision-making are necessarily derived from the law, and are therefore governed and qualified by the law […]. It is not logically possible to claim to represent the power and authority of the law, and at the same time, claim to be above the law“40.
Hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals Friedensbedrohung ist der SR auch weiterhin an den ursprünglichen negativen – d. h. engen – Friedensbegriff gebunden, um einen gewissen Handlungsrahmen abzustecken. Es müssen die folgenden Voraussetzungen erfüllt sein. Zunächst muss dem bedrohten Rechtsgut in den Augen der gesamten Staatengemeinschaft ein hoher Stellenwert zukommen, dessen Gefährdung zweitens eine gewisse Intensität aufweist und drittens müssen grenzüberschreitende Auswirkungen von der Situation ausgehen. Schließlich soll viertens eine einzelfallbezogene Abwägung zwischen den staatlichen Souveränitätsinteressen – d. h. Souveränitätsgarantien – und den Grundwerten der internationalen Gemeinschaft vorzunehmen sein41. Neben den geschriebenen Merkmalen bleibt der SR auch an die zentralen allgemeinen Rechtsgrundsätze gebunden, die jeder Rechtsordnung für deren Funktionieren immanent sind42. Insbesondere das Willkürverbot sowie das Gebot der Verhältnismäßigkeit sind von hoher Relevanz. Der Grundsatz von Treu und Glauben – der in Art. 2 Ziff. 2 VN-Charta normiert ist – verbietet missbräuchliches Verhalten43. Dies gilt ebenfalls für den SR, der – wie bereits festgestellt – einen weiten Kompetenzrahmen besitzt, allerdings durch Art. 24 Ziff. 2 VN-Charta verpflichtet ist „[i]n dis charging these duties […] act in accordance with the Purposes and Principles of the United Nations“. Dergestalt wird sichergestellt, dass auch er nicht 39 R. Wolfrum, The Attack of September 11, 2001, in: MPUNYB 7 (2003), S. 1 ff., 11; M. Herdegen, Die Befugnisse des UN-Sicherheitsrates, S. 9. 40 R. Jennings, Dissenting Opinion in Lockerbie, ICJ Reports 1998, S. 99 ff. und S. 110. 41 M. Herdegen, Die Befugnisse des UN-Sicherheitsrates, S. 16, 23; J. Föh, Bekämpfung des internationalen Terrorismus, S. 131. 42 Ausführlich H. Mosler, Stichwort: „General Principles of Law“, in: R. Bernhardt et al. (Hrsg.), EPIL II (1995), S. 511 ff. 43 W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 12, Rdnr. 20.
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willkürlich vorgehen darf und insbesondere seinen Feststellungen nach Art. 39 VN-Charta nur sachgemäße Erwägungen zugrunde legen darf44. Darüber hinaus heißt es in Art. 42 VN-Charta: „Should the Security Council consider the measures provided for in Article 41 would be inadequate or have proved to be inadequate or have proved to be inadequate, it may take such action […] as may be necessary […]“.
Daraus folgt, dass jene Handlungsalternativen, die dem SR bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 39 VN-Charta als Rechtsfolgen zur Verfügung stehen, in ihrer Anordnung gestaffelt sind. Somit sind anfänglich möglichst nicht-militärische Maßnahmen zu ergreifen und „erst in einem zumindest gedanklich nachfolgenden Schritt“ darf es zu militärischen Maßnahmen kommen, die wiederum nach dem jeweiligen Grad ihrer Erforderlichkeit abzustufen sind45. Dessen ungeachtet sind die Feststellung einer Friedensbedrohung und damit die normative Konkretisierung der Eingriffsvoraussetzungen des Art. 39 VN-Charta die Angelegenheit des SR selbst. Bei Würdigung des Sachverhalts kommen ihm eine Einschätzungsprärogative und ein Prognosespielraum zugute, die erst bei evident fehlerhaften Beurteilungen überschritten sind. Dies führt letztlich zu der Frage, inwieweit die Rechtmäßigkeit von Maßnahmen des SR überprüft werden kann. Grundsätzlich besitzt auch der IGH keine ausdrückliche Kompetenz, die Einhaltung der Satzung durch andere Organe zu kontrollieren46. Er kann lediglich – nur von den Organen selbst, nicht von den betroffenen Staaten – um Rechtsgutachten gebeten werden. Ob er auch im Rahmen zwischenstaatlicher Streitigkeiten, für die er zuständig ist, als „Inzidentfrage“ die Rechtmäßigkeit von Maßnahmen des SR überprüfen kann, ist umstritten. Vor diesem Hintergrund ist nicht zu vermeiden, dass die Auslegungs- und Entscheidungspraxis umstritten bleibt, und sich erst im Laufe der Zeit ein Konsens entwickelt, der bestimmte Auslegungen des Art. 39 VN-Charta oder anderer Normen außer Streit stellt47.
44 J. Delbrück, in: B. Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Art. 24, Rdnr. 11. J. Föh, Bekämpfung des internationalen Terrorismus, S. 132. 45 J. Föh, Bekämpfung des internationalen Terrorismus, S. 132; J. Delbrück, Staatliche Souveränität und die neue Rolle des SR, in: Verfassung und Recht in Übersee 26 (1993), S. 6 ff. (S. 20). 46 V. Gowlland-Debbas, in: A. Zimmermann et al. (Hrsg.), The Statue oft he ICJ, Art. 7, Rdnr. 42 ff. 47 M. Bothe, in: W. Vitzthum/A. Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 8. Abschn., Rdnr. 45.
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Teil 2, Kap. 1: Das völkerrechtliche Gewaltregelungsregime
3. Das (kollektive) Selbstverteidigungsrecht i. S. d. Art. 51 VN-Charta Unter die in Kapitel VII der VN-Charta normierten Zwangsmaßnahmen fällt gleichfalls das in Art. 51 VN-Charta normierte (kollektive) Selbstverteidigungsrecht. Blickt man auf die Entstehungsgeschichte dieser Bestimmung48, wird deutlich, dass Art. 51 VN-Charta eine besondere Funktion im System der VN zukommt. Speziell die Aufnahme der Norm in Kapitel VII – welches dem „Kollektivmechanismus“ des SR unterliegt – verdeutlicht dies. Dadurch stellt Art. 51 VN-Charta eine abschließende Spezialregelung für die kollektive Selbstverteidigung „nach innen und außen“49 dar und ist somit für das Nordatlantikbündnis von herausragender Bedeutung; sie stellt den völkerrechtlichen Rechtfertigungsgrund für die Existenz der NATO dar. 4. Durchführung der Beschlüsse des SR Einer notwendigen Vertiefung bedarf schließlich der Aspekt, wie und auf welcher Grundlage die „Kapitel VII-Beschlüsse“ des SR durchzuführen und umzusetzen sind. Aus Art. 48 VN-Charta ergibt sich grundsätzlich die – bereits in Art. 25 VN-Charta enthaltene – Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Beschlüsse des SR durchzuführen. Dabei stellt Art. 48 VN-Charta klar, dass der SR je nach den Umständen nicht nur alle, sondern auch nur einige Mitgliedstaaten mit der Durchführung von Zwangsmaßnahmen beauftragen kann. Über Art. 48 Abs. 2 VN-Charta gilt dies auch für Interantionale Organisationen wie dem Nordatlantikbündnis.50 Grundlegende Bedeutung im Rahmen dieser Arbeit erlangt Art. 48 VNCharta unter Berücksichtigung des Art. 103 VN-Charta. So regelt Art. 103 VN-Charta: „In the event of a conflict between the obligations of the Members of the United Nations under the present Charter and their obligations under any other international agreement, their obligations under the present Charter shall prevail.“
Diese Norm legt eine Rangordnung zwischen [den] Verpflichtungen – einerseits aus Verpflichtungen der VN-Charta, andererseits aus anderen inter48 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Art. 51 VN-Charta, insbesondere seiner Einordnung in das System der VN sowie mit dem Inhalt und Umfang des (kollektiven) Selbstverteidigungsrechts, erfolgt im Rahmen der vorliegenden Arbeit unter Teil 2, Kap. 2, C. 49 C. Walter, VN und Regionalorganisationen, S. 90. 50 Vgl. B.-O. Bryde, in: B. Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Art. 48, Rdnr. 1 ff.
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nationalen Übereinkünften – fest. Hierbei ist von entscheidender Bedeutung, dass nicht einfach die VN-Charta stets Vorrang habe, sondern ausschließlich Verpflichtungen aus dieser („obligations […] under the present Charter“; „obligations […] en vertu de la présente Charte“). Für Verpflichtungen die sich unmittelbar aus der VN-Charta ergeben, wie etwa die Verpflichtung zur friedlichen Beilegung aller Streitigkeiten, ist dies weitestgehend unproblematisch. Darüber hinaus betrifft der Regelungsinhalt dieser Norm aber auch die Organe der VN, denen die Zuständigkeit eingeräumt ist, verbindliche Entscheidungen zu treffen. Dies gilt vor allem für Entscheidungen des SR nach Kapitel VII der VN-Charta. Soweit wie Art. 25 und 48 VN-Charta die Mitgliedstaaten bzw. internationale Organisationen zur Beachtung der Entscheidungen des SR verpflichten, reicht insoweit auch die Vorranregelung des Art. 103 VN-Charta. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass die Anwendung dieser Norm ausgeschlossen ist, soweit Organe der VN lediglich unverbindliche Empfehlungen verabschieden. Insofern ist bei Resolutionen des SR sehr genau zu prüfen, ob darin tatsächlich Verpflichtungen enthalten sind.51 Bei den Anlassfällen die Gegenstand dieser Arbeit sind, kann bereits an dieser Stelle konstatiert werden, dass alle maßgeblichen Resolutionen52 des SR lediglich Ermächtigungen und/oder Autorisierungen, aber keine Verpflichtungen i. S. d. Art. 103 VN-Charta zum Einsatz militärischer Zwangsmaßnahmen beinhalten.53 Und hier liegt die eigentliche Crux und schafft erst das Grundproblem, dem letztlich die gesamte Arbeit gewidmet ist: Eine harte Verpflichtung – die der SR wie zuvor ausgeführt, gem. Art. 48 VN-Charta auch selektiv aussprechen könnte – hätte gem. Art. 103 VN-Charta Vorrang vor anderen völkerrechtlichen Verträgen, womit die Entwicklungsgrenzen eines völkerrecht lichen Vertrages wie dem NV irrelevant wären. Eine „bloße“ Ermächtigung, die in der Regel das Ergebnis eines politischen Kompromisses im SR ist, „profitiert“ hingegen nicht von der auf Verpflichtungen beschränkten Vorrangregel des Art. 103 VN-Charta und schafft damit erst das Grundproblem, dem sich die vorliegende Arbeit widmet. 51 Vgl. R. Bernhardt, in: B. Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Art. 103, Rdnr. 6 ff.; E. Klein/S. Schmahl, in: W. Vitzthum/A. Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 4. Abschn., Rdnr. 150 die bei gefassten Beschlüssen des SR, die keine bloßen Empfehlungen darstellen, von ihrer Verbindlichkeit ausgehen. 52 Vgl. Teil 1, Kap. 2. 53 Die Resolutionen beinhalten gleichwohl eine Unterstützung desselben; so beispielhaft S/RES/1973 (2011) zur Errichtung einer No Fly Zone im libyschen Luftraum – „authorizes“ („ermächtigt“, Ziff. 8) und „calls upon“ („fordert“, Ziff. 9) stellen Ermächtigungen/Forderungen, aber keine Verpflichtungen des SR dar.
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III. Bewaffnetes Eingreifen regionaler Organisationen nach Kapitel VIII der VN-Charta Über die Zwangsmaßnahmen des Kapitel VII der VN-Charta hinaus ist auch die Möglichkeit des SR von Bedeutung, über Art. 53 Ziff. 1 VN-Charta regionale Organisationen „zur Durchführung von Zwangsmaßnahmen unter seiner Autorität“ in Anspruch zu nehmen. Hierbei kann er sich einer Regionalorganisation gleichsam als Hilfsorgan bedienen. Sofern die Voraussetzungen des Art. 39 VN-Charta durch ihn festgestellt wurden, kann eine Regionalorganisation auf ausdrückliche und vorherige Ermächtigung hin (militärische) Zwangsmaßnahmen ergreifen. Die Entscheidung über die Inanspruchnahme der Ermächtigung und die Ausführung der Maßnahmen im Rahmen des Mandats liegt dann jeweils bei der Regionalorganisation. Diese erhält dabei einen gewissen Freiraum, während dem SR ein in Art. 54 VN-Charta normiertes Kontrollrecht verbleibt. Insofern hat die Regionalorganisation eine Berichtspflicht gegenüber dem SR hinsichtlich jeglicher gegenwärtiger und beabsichtigter Maßnahmen zur Friedensbewahrung. Dem SR steht es darüber frei, eine erteilte Ermächtigung jederzeit zu widerrufen. Entscheidend ist, dass Kapitel VIII der VN-Charta einzig die Streitbeilegung innerhalb einer Regionalorganisation betrifft. Militärische (Zwangs-) Maßnahmen sind damit nur gegenüber dessen Mitgliedern zulässig. Daher ist es bis dato auch zu keinem praktischen Anwendungsfall der Durchführung militärischer Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VIII der VN-Charta – im Gegensatz zu den Maßnahmen nach Kapitel VII – gekommen. Regionalorganisationen i. S. d. Kapitel VIII der VN-Charta sind derzeit die OAS54, die AU55, die Arabische Liga56 sowie die OSZE. 54 Die Organisation Amerikanischer Staaten (engl. Organization of American States, OAS; span. Organización de los Estados Americanos; OEA; frz. Organisation des États Américains, OEA; port. Organização dos Estados Americanos, OEA) ist eine am 30. April 1948 in Bogotá gegründete (internationale) Regionalorganisation, die ihren Hauptsitz in Washington, D.C. hat. Mitglieder sind 35 unabhängige Staaten Nord- und Südamerikas. 55 Die Afrikanische Union (arab. داحتالا يقيرفألا, engl. African Union; frz. Union africaine; port. União Africana) ist eine (internationale) Regionalorganisation, die im Jahr 2002 die Nachfolge der Organisation für afrikanische Einheit (OAU) angetreten hat. Hauptsitz der Organisation ist Addis Abeba (Äthiopien). Das Panafrikanische Parlament befindet sich in Johannesburg (Südafrika). Mitgliedstaaten der AU sind alle international allgemein anerkannten Staaten Afrikas – außer Marokko; das im September 2016 erneut ein Aufnahmegesuch gestellt hat. 56 Die Arabische Liga (arab. ةيبرعلا لودلا ةعماجdschāmiʿat ad-duwal alʿarabiyya; Liga der arabischen Staaten, LAS) ist eine am 22. März 1945 in Kairo gegründete (internationale) Regionalorganisation arabischer Staaten, wo sie auch ih-
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1. Die NATO als Regionalorganisation i. S. d. Kapitel VIII der VN-Charta? In der Völkerrechtsliteratur ist nach wie vor umstritten, ob die NATO als Regionalorganisation einzugruppieren ist und damit unter die speziellen Regelungen des VIII. Kapitels der VN-Charta fällt. Seit der Gründung des Nordatlantikbündnisses wird vertreten, dass die NATO entweder als ein evident auf kollektive Selbstverteidigung ausgerichtetes Defensivbündnis (vgl. Art. 5 NV) oder aber als eine – die VN auf regionaler Ebene ergänzende57 – Regionalorganisation anzusehen sei. 2. Die Selbsteinordnung des Bündnisses bei der Gründung Das Nordatlantikbündnis selbst hat sich nie als Regionalorganisation i. S. v. Kapitel VIII der VN-Charta gesehen. Vielmehr wurde betont, dass die NATO eine Selbstverteidigungsallianz sei, die sich auf das in Kapitel VII der VN-Charta geregelte Selbstverteidigungsrecht (Art. 51 VN-Charta) berufen könne. Seinerzeit wollten die Mitgliedstaaten insbesondere der weiten Berichtspflicht – und damit einer möglichen Offenlegung geheimer Verteidigungspläne58 – nach Art. 54 VN-Charta entgehen. Zudem befürchteten sie, dass das Bündnis jegliche (militärischen) Zwangsmaßnahmen ausschließlich mit Genehmigung des SR vornehmen könne.59 Insofern erklärte der USamerikanische Außenminister Dulles60 sieben Jahre nach Gründung des Bündnisses (1956), dass die NATO keine Regionalorganisation sei. Diese Sichtweise ging auch zurück auf das Jahr 1949, als sich im USamerikanischen Senat während der Debatte über den NV Außenminister Acheson61 gegen die Einordnung des Bündnisses als Regionalorganisation wandte und es ausschloss, dass die Allianz Zwangsmaßnahmen außerhalb der Selbstverteidigung vornehmen werde: ren Sitz hat. Sie besteht aus 22 Mitgliedern – 21 Nationalstaaten Afrikas und Asiens, sowie dem international nicht vollständig anerkannten Staat Palästina, der durch die PLO vertreten wird. 57 R. Pernice, Sicherung des Weltfriedens durch Regionale Organisationen und die VN, S. 32 f.; W. Büscher, Völkerrechtliche Regionalpakte, S. 111. 58 R. Yalem, Regionalism and World Order, S. 60. 59 Vgl. auch L. Vierucci, WEU: A Regional Partner of the UN?, S. 37 ff. 60 John Foster Dulles (* 25. Februar 1888 in Washington, D.C.; † 24. Mai 1959 ebd.) war ein US-amerikanischer Politiker, der vom 26. Januar 1953 bis 22. April 1959 Außenminister war. 61 Dean Gooderham Acheson (* 11. April 1893 in Middletown, Conn.; † 12. Oktober 1971 in Sandy Spring, Maryland) war ein US-amerikanischer Politiker, der vom 21. Januar 1949 bis 20. Januar 1953 Außenminister war.
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„Under the North Atlantic Treaty nobody proposes to take enforcement action, aggressive action, preliminary action, any sort of action at all, except defensive, after an attack has occurred“62.
Letztlich beruhte im Gründungsstadium das ganze Selbstverständnis der NATO eben nicht darauf, dass es nach Kapitel VII und VIII der VN-Charta den Frieden sichern wollte, sondern ausschließlich durch Abschreckung und Selbstverteidigung unter Berufung auf Art. 51 VN-Charta agieren wollte63. Diese Sichtweise änderte sich spätestens mit der Zeitenwende 1989/90, als unter den Mitgliedstaaten erneut die Diskussion ausbrach, ob das Bündnis als Regionalorganisation anzusehen sei, so wie dies auch die Mitgliedstaaten der OSZE in Bezug auf diese Organisation getan hatten. Während sich die USamerikanische Regierung für eine Selbsterklärung aussprach, wandte sich unter anderem die deutsche Regierung dagegen. Eine Einigung konnte nicht erzielt werden, sodass eine Selbsterklärung ausblieb.64 In einer Erklärung gegenüber dem VN-Generalsekretär65 erklärten die Mitgliedstaaten der NATO die Bereitschaft, mit OSZE und VN zusammenzuarbeiten – einen direkten Bezug zu Kapitel VIII der VN-Charta enthält die Erklärung jedoch nicht. Im Zuge dieser Diskussion wurde schließlich die von Nolte in einem Aufsatz im Jahr 1994 als „Urproblem“66 der VN-Charta bezeichnete Frage nach der Rechtsstellung von Staatengruppen im VN-Friedenssicherungssystem sowie des Verhältnisses von Art. 51 zu Kapitel VIII der VN-Charta neu „aufgerollt“. Der Aufsatz bereitet – zumindest in der deutschsprachigen Völkerrechtsliteratur – den Boden für die in den folgenden Jahren umgesetzte Aufgaben- und Kompetenzerweiterung des Nordatlantikbündnisses. In dem Aufsatz stellt er die in der VN-Charta vorherrschende präzise Unterscheidung zwischen Organisationen zur kollektiven Selbstverteidigung (gegen einen äußeren Feind – wie die NATO oder auch WP) und Organisationen zur Gewährleistung der Sicherheit der Mitglieder untereinander infrage. Während Erstere ihre Grundlage in Art. 51 VN-Charta haben, finden Letztere diese als Regionalorganisationen in Kapitel VIII der VN-Charta. Nach Nolte sei bei dieser Einordnung aber nicht „richtig berücksichtigt“ worden, dass bei den Verhandlungen zur VN-Charta „nicht so klar zwischen verschiedenen Typen internationaler Organisationen mit Sicherheitsfunktiobei A. Goodhardt, North Atlantic Treaty, in: RdC 79 (1951-II), S. 220. H. Kühne, Friedenssicherung durch regionale Organisationen, S. 177. 64 Ders., ebd., S. 177. 65 Vgl. An Agenda for Peace: Preventive Diplomacy, Peacemaking and PeaceKeeping, in: UN. Doc. S/25996 vom 15. Juni 1993, S. 18 (Ziff. 3). 66 So G. Nolte, Die „neuen Aufgaben“ von NATO und WEU, in: ZaöRV 54 (1994), S. 95 ff. 62 Zit. 63 So
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nen unterschieden“ wurde67. Unter Heranziehung der implied powers-Lehre68 legt er sodann in Bezug auf die NATO dar, warum jene normierte historische Sichtweise – Begrenzung der vertraglichen Handlungsmittel auf kollektive Selbstverteidigung und politische Konsultationen – „heute jedoch zu eng“ sei69. Bei den Ausführungen, warum auch das Bündnis als eine Regional organisation einzuordnen sei, argumentiert Nolte häufig losgelöst von den normierten Regelungen des NV und unternimmt eine Vielzahl von Wertungen, die sich an der (westlichen) „Formel“ von Demokratie und Menschenrechten orientiert. Auch nach Walter70 sei der Begriff der Regionalorganisation grundsätzlich weit zu fassen. Dies folge sowohl aus dem Wortlaut des Art. 52 Abs. 1 als auch aus der Entstehungsgeschichte der VN-Charta. Bei der Gegenüberstellung von Organisationen kollektiver Selbstverteidigung (Art. 51 VN-Charta) und Organisationen kollektiver Sicherheit (Kapitel VIII der VN-Charta) werde übersehen, dass weder Art. 51 VN-Charta eine „Außenrichtung“ verlangt, noch Art. 52 Abs. 1 VN-Charta von einer „Binneneinrichtung“ ausgeht. Aus diesem Grunde sind nach seiner Auffassung alle Organisationen, die sich mit gemeinsamer Sicherheitspolitik befassen, als Regionalorganisationen anzusehen. Erst auf einer „zweiten Ebene“ bedarf es der Unterscheidung von kollektiver Sicherheit und kollektiver Selbstverteidigung, weil auch bei Regionalorganisationen verschiedene Funktionen auseinanderzuhalten sind – aus diesem Grund ist eine Zuordnung auf unterschiedliche Rechtsgrundlagen vorzunehmen. Insofern gibt es drei Funktionen zu unterscheiden: Art. 51 VN-Charta beinhalte eine abschließende Spezialregelung für den Fall eines „bewaffneten Angriffs“ auf einen Mitgliedstaat zur kollektiven Selbstverteidigung „nach innen und außen“, die eine Anwendung des VIII. Kapitels der VN-Charta ausschließe. Bei einem Vorgehen gegen einen Mitgliedstaat im Rahmen eines von der Regionalorganisation vorgesehenen Mechanismus der kollektiven Sicherheit sind die Voraussetzungen des Art. 53 Abs. 1 VN-Charta zu beachten. Schließlich ist von einer „Sicherheit im Außenbereich“ zu sprechen, wenn eine Organisation friedenssichernd tätig wird, ohne dass ein „bewaffneter Angriff“ auf einen Mitgliedstaat vorliegt, und ohne dass die von den Maßnahmen betroffenen Staaten Mitglieder der Organisation sind. Auch diesbezüglich sind die Vorschriften von Kapitel VIII der VN-Charta anzuwenden. Damit zeigt sich, dass mit dem Ende der bipolaren Weltordnung – neben den politischen Ambitionen – auch in der (westlichen) Völkerrechtslehre der 67 Ders.,
ebd., S. 97. Teil 3, Kap. 2, D. I. 69 Ders., ebd., S. 104. 70 C. Walter, VN und Regionalorganisationen, S. 47 ff., 89 f. 68 Vgl.
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Grundstein für weitergehende Kompetenzen der NATO gelegt wurde. Gleichwohl ist anzumerken, dass die Einordnung des Nordatlantikbündnisses als Regionalorganisation in der Literatur nicht eindeutig vorgenommen wurde. 3. Zwischenergebnis und Schlussfolgerung Ob es sich bei der NATO um ein reines kollektives Selbstverteidigungsbündnis oder auch zugleich um eine regionale Abmachung bzw. Einrichtung i. S. v. Kapitel VIII der VN-Charta handelt, wird in der Völkerrechtslehre unterschiedlich beurteilt. Gegen eine Annahme als Regionalorganisation sprechen Entstehungsgeschichte und das Konzept des VIII. Kapitels der VN-Charta. Der Einsatz derartiger Organisationen dient dazu, eine friedliche Streitbeilegung vorrangig auf regionaler Ebene zu suchen, bevor der SR mit der Angelegenheit betraut wird (vgl. Art. 52 Ziff. 2 VN-Charta). Darunter sind Bündnisse kollektiver Sicherheit zu verstehen, die im Rahmen ihres Aufgabenbereichs primär für die Gewährleistung des Friedens gegen Bedrohungen von innerhalb und außerhalb des Bündnisses zuständig sind. Die NATO zielt hingegen als Verteidigungsbündnis nach dem NV vorrangig auf die Abwehr eines Aggressors von außerhalb der Organisation ab. Somit ist das Nordatlantikbündnis nicht als Regionalorganisation zu qualifizieren.
C. Keine Rechtfertigungsgründe für den Einsatz militärischer Gewaltaußerhalb des Rechts der VN Es wurde zuvor aufgezeigt71, dass innerhalb des Gewaltregelungsregimes der VN das Gewaltmonopol beim SR liegt. Wenngleich die Befugnisse des SR nicht unbegrenzt72 sind, verfügt er jedoch hinsichtlich der Möglichkeit, militärische Maßnahmen anzuordnen, über eine außerordentlich weitgefasste Kompetenz. In der Zusammenschau von Art. 24 Abs. 1 („primary responsibility for the maintenance oft international peace and security“) und Art. 39, 42 VN-Charta wird die bereits vom kanadischen Report on the United Nations Conference on International Organization73 zu entnehmende Aussage bestätigt, nach der die Gewaltanwendung des SR die Regelausnahme zum Gewaltverbot darstellt.74 Gleichzeitig sind die den (insbesondere ständigen) Mitgliedern des SR eingeräumten Befugnisse, gegenüber den anderen – prin71 Vgl.
Teil 2, Kap. 1, B. beachten ist insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. 73 „The result of this paragraph (Art. 2 Ziff. 4 CVN) is hat force may be used only under the authority of the Organization and only in order to prevent and to remove threats to the peace, and to supress aggressors“. 74 M. Kühn, Unilaterale präventive Gewaltanwendung, S. 218 m. w. N. 72 Zu
C. Keine Rechtfertigungsgründe für den Einsatz militärischer Gewalt 197
zipiell gleichberechtigten – Staaten nur im vereinbarten, eng definierten Rahmen der VN-Charta gerechtfertigt. Die in der Charta geregelte gleiche Teilhabe der Mitgliedstaaten, die durch die Zuweisung bestimmter Befugnisse an die grundsätzlich repräsentativ zu besetzenden Organe gewahrt werden soll, darf nicht zur Ausnahme verkehrt werden. Fokussiert man diesbezüglich die Praxis des SR, wird deutlich, dass eine derartige Teilhabe nicht hinreichend vorherrscht. Insbesondere seit Anfang der 1990er-Jahre wurde eine veränderte Praxis des SR sichtbar. Während sich der SR in den Anfangsjahren angesichts der Bipolarität der Welt zwischen Ost und West (bzw. Sowjetunion und USA) weitestgehend selbst blockierte75, trat er nach 1989/90 in eine Phase der Kooperation und Aktion ein, um der ihm von Beginn an zugedachten Rolle innerhalb der VN gerecht zu werden bzw. noch darüber hinauszugehen. Offenkundig machte der SR dies – auf Betreiben der USA, des Vereinigten Königreichs und Frankreichs an einem am „Boden liegenden“ Russland und einem abwartenden China – in der historischen Sitzung vom 31. Januar 1992, die erstmals auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs stattfand. In der abschließenden Erklärung S/23500 stellte der SR-Präsident nachdrücklich fest: „The members of the Security Council consider that their meeting is a timely recognition of the fact that there are new favourable international circumstances under which the Security Council has begun to fulfil more effectively is primary responsibility for the maintenance of international peace and security“76.
Der SR hat entsprechend dieser Beschreibung in der Folge gehandelt. Alleine die stark angestiegene Nummerierung77 seiner Resolutionen steht für 75 Gleichwohl ergriff auch die GV die Initiative, um Handlungsfähigkeit und -willen der VN zu demonstrieren. Am deutlichsten brachte es die GV durch ihre U niting for Peace-Resolution von 1950 (A/RES/377 V vom 3. November 1950) zum Ausdruck, mit der sie in Fällen von Friedensbrüchen die Befugnis für sich in Anspruch nahm, anstelle des SR Maßnahmen zu empfehlen, die bis zur Anwendung militärischer Gewalt reichen sollten. Zwischen 1956 und 1997 fanden in insgesamt zehn Fällen Notstandssondertagungen der GV statt – zu einer Empfehlung militärischer Zwangsmaßnahmen kam es dabei jedoch jeweils nicht. Andere Beispiele für die Verlagerung des „Gravitationspunkts“ vom SR zur GV sind die sog. „Argentinische These“ zur Aufnahme neuer Mitglieder und die Verlängerung der Amtszeit von Generalsekretär Trygve Lie allein durch die GV. Vgl. J. Föh, Bekämpfung des internationalen Terrorismus, S. 112 m. w. N. 76 S/23500 v. 31. Januar 1992, S. 2. 77 In der Zeit zwischen 1946 und 1989 von 1 bis 646 und in den wenigen Jahren zwischen 1990 und Ende 2014 von 647 bis 2.195. Damit hat sich die Zahl der durchschnittlich pro Jahr verabschiedeten Resolutionen von 15 auf über 60 erhöht. In den ersten 44 Jahren (1946–1989) wurden zudem nur 24 Resolutionen unter Kapitel VII der VN-Charta erlassen. Seit 1993 wird diese Zahl Jahr für Jahr erreicht (vgl. den Bericht The UN Security Council and the Rule of Law, A/63/69 – S/2008/270 v. 7. Mai 2008, S. 1).
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diese verstärkten Aktivitäten. Gleichwohl machte Koskenniemi darauf aufmerksam, dass dies – nunmehr mit umgekehrten Vorzeichen – die zweite konstitutionelle Krise der VN zur Folge haben sollte78. Es war nicht, wie im Falle des Uniting for Peace, die GV, welche die primäre Ordnungsfunktion des SR an sich zu ziehen versuchte, sondern der SR, der sich mit der Herstellung internationaler Gerechtigkeit die ureigene Funktion der GV auf die Agenda schrieb. Dieses – auf den ersten Blick – „ehrenwerte Unterfangen“ führte in der praktischen Umsetzung zu erheblichen Gefahren für die Ausgewogenheit des Systems der internationalen Staatengemeinschaft. Denn die wenigen Mitglieder des SR können auf diese Weise universelle Werte, Maßnahmen sowie Regeln festlegen und sich zu ihrer Durchsetzung „harter“ (Zwangs-)Mittel bedienen, die für diese „weichen“ und allgemeinen Zwecke nicht bestimmt sind. Aus diesem Grund gibt es Stimmen in der Literatur, die überspitzt formulieren, dass die vermeintliche Gerechtigkeit schnell zur „Tyrannei“79 zu werden droht. Denn die Sonderbefugnisse, die den – insbesondere ständigen – Mitgliedern des SR gegenüber den anderen, prinzipiell gleichberechtigten Staaten eingeräumt werden, finden eine Rechtfertigung nur im vereinbarten, eng definierten Rahmen „und dürfen die Regel der gleichen Teilhabe, die durch die Zuweisung bestimmter Befugnisse an die grundsätzlich repräsentativ besetzten Organe gewahrt wird, nicht zur Ausnahme verkehren, sodass in deren Befugnisse eingegriffen würde“80.
Gleichwohl herrschte nach der Zeitenwende, insbesondere in der west lichen Welt, mehr denn je die Auffassung, dass es einer durchsetzungsfähigen Organisation der VN bedurfte, sollte mit dem – vorläufigen – Ende des OstWest-Konflikts keineswegs das vielfach prophezeite „Ende der Geschichte“81 eintreten. Allerdings setzten auch danach wieder gegensätzliche Entwicklungen ein: die Globalisierung einerseits sowie eine vielfache Abschottung auf der anderen Seite. Zurückzuführen ist dies auf die Ungleichzeitigkeit, die durch den „Kampf der Systeme“ hervorgerufen wurde, deren Anfänge aber oftmals weiter in der Geschichte zurückliegen und auch weiterhin die Konfliktlinien bestimmen dürften82. Diese Tendenzen tragen nicht nur das Potenzial in sich – wie sich in dem Agieren von Terrororganisationen wie A l-Qaida 78 M. Koskenniemi, The Police in the Temple. Order, Justice and the UN: A Dialectical View, in: EJIL 6 (1995), S. 325 f., 341. 79 Von der „Tyrannei der Mehrheit“ im Hinblick auf die Gruppe der 77 („G 77“) zur „Tyrannei der Minderheit“ nach Erstarken des SR, vgl. G. Abi-Saab, Membership and Voting in the United Nations, in: H. Fox (Hrsg.), The Changing Constitution of the United Nations, S. 19 und 30. 80 J. Föh, Bekämpfung des internationalen Terrorismus, S. 113 f. 81 F. Fukuyama, The End of History and the Last Man, passim. 82 Außerdem ist anzumerken, dass die USA den SR – auch aufgrund der politischen und insbesondere wirtschaftlichen „Schwächephase“ Russlands vor sich her-
C. Keine Rechtfertigungsgründe für den Einsatz militärischer Gewalt 199
und Islamischer Staat deutlich zeigt –, die zweite Vorhersehung der 1990erJahre zu erfüllen, den „Kampf der Kulturen“. Für die Sicherheit der Staatengemeinschaft zeigte sich in der Folge, dass immer dort – häufig betrieben von den USA und ihren Verbündeten – Pro bleme entstehen, wo Globalisierung und Entstaatlichung nicht gewollt und geplant verlaufen. Diese Entwicklungen erfassen auch die militärische Gewalt. So treten vielfach nichtstaatliche Akteure auf, die nicht selten in internationalen Netzwerken verbunden sind und angesichts der Überlegenheit staatlicher Streitkräfte nicht auf zwischenstaatliche Konfrontationen drängen, sondern versuchen, mit einer „kleinteiligen“ Taktik Erfolg zu erlangen. Diese Elemente stehen für das Aufkommen und die Verbreiterung des globalisierten Terrorismus83. Bei Betrachtung des gesamten Zeitraums seit Beendigung des Kalten Kriegs zeigt sich aber, dass die in der VN-Charta geregelte gleiche Teilhabe der Mitgliedstaaten aufgrund der beherrschenden Stellung des SR und seiner (ständigen) Mitglieder – und hier vor allem der USA, die letztlich gescheitert sind mit ihrem Versuch, den SR revolutionär zu ändern – nicht gegeben war. In diesem gesamten Zeitraum kam es gleichwohl zu keiner Änderung der VN-Charta. Aus diesem Grund gilt noch immer die ursprüngliche Fassung der Charta, wonach es außerhalb der im vorherigen Abschnitt aufgezeigten Rechtsgrundlagen keine Rechtfertigungsgründe für den Einsatz militärischer Gewalt geben kann. Alle zulässigen Zwangsmaßnahmen finden sich in Kapitel VII der VN-Charta; darüber hinaus gibt es keine völkerrechtlich verbindlichen Rechtfertigungsgründe.
I. Repressalien Unter Repressalien versteht man „Maßnahmen eines Völkerrechtssubjekts gegenüber einem anderen Völkerrechtssubjekt, die an sich rechtswidrig wären, welche aber, da Folgemaßnahmen einer von der Gegenseite begangenen Rechtsverletzung als nicht rechtswidrig betrachtet werden, wenn und soweit sie zur Veranlassung der Abstellung dieser Rechtsverletzung ergriffen werden und hierzu geeignet sind“84. trieben. Wenn das Gremium nicht die entsprechenden Beschlüsse fasste, operierten die Vereinigten Staaten oftmals auch einfach an ihm vorbei. 83 Vgl. J. Delbrück, The Fight Against Global Terrorismus, in: GYIL 44 (2001), S. 9, 20; R. Falk, The Great Terror War, S. 53. 84 F. Berber, Friedensrecht, S. 95; A. Bruer-Schäfer, Der Internationale Strafgerichtshof, S. 181. Der deutsche Bundesgerichtshof „definiert“ (BGHSt 23, 103 [107 f.]) Repressalien als völkerrechtswidriges Verhalten, das von einem Völkerrechtssubjekt als Beugemittel gegenüber dem völkerrechtswidrigen Verhalten eines anderen Völkerrechtssubjekts eingesetzt wird.
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Teil 2, Kap. 1: Das völkerrechtliche Gewaltregelungsregime
Völkerrechtswidrig sind hingegen Gegenrepressalien, da sich die Rechtmäßigkeit der Repressalie gerade aus der Antwort auf eine Völkerrechtsverletzung ergibt85. Nur wenn die Gegenrepressalie als Reaktion auf einen Repressalienexzess folgt, soll diese ausnahmsweise zulässig sein, da der Repressalienexzess selbst ein völkerrechtliches Delikt ist86. Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Repressalie ist ein zeitlich ihr vorausgehendes völkerrechtliches Unrecht. Ist ein derartiges nicht gegeben, ist die Repressalie rechtswidrig und selbst völkerrechtliches Delikt87. Vorbedingung für die rechtmäßige Ausübung der Repressalie ist gem. Art. 24 ILC-Entwurf88 ferner, dass an den anderen Staat eine vorherige Aufforderung ergangen ist, seine völkerrechtswidrige Handlung einzustellen bzw. wiedergutzumachen – mit dem Ergebnis, dass diese abgelehnt wurde. Erst wenn der andere Staat dem nicht nachkommt und eine Wiedergut machung des Unrechts ablehnt, können von höchster politischer Ebene erlassene Repressalienmaßnahmen verfügt werden89. Wurde das beabsichtigte Ziel mit der Anwendung einer Repressalie erreicht, so ist von weiteren Repressalien abzusehen90. Zudem muss die rechtmäßige Repressalie grundsätzlich gewaltfrei sein und bezüglich der vorausgegangenen Völkerrechtsverletzung den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit entsprechen91. Eine präventive Anwendung von Repressalien ist nach herrschender Auffassung rechtswidrig92. Darüber hinaus ist zwischen den zu Friedenszeiten einsetzbaren Friedensrepressalien und den Kriegsrepressalien zu unterscheiden93. Im Gegensatz zu den Friedensrepressalien, die lediglich von Subjekten des Völkerrechts verhängt werden dürfen, können Kriegsrepressalien hingegen auch von Nicht-Völkerrechtssubjekten ausgeübt werden94. Aufgrund des völkerrecht85 W. Wengler,
Völkerrecht (Bd. 1), S. 520. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 1344. 87 A. Bleckmann, Völkerrecht, Rn. 1091. 88 Vgl. A/RES/56/83 der GV v. 12. Dezember 2001 zur Verantwortlichkeit der Staaten für völkerrechtswidrige Handlungen. 89 H.-J. Schlochauer, Entwicklung des völkerrechtlichen Delikts, in: AVR 16 (1974/75), S. 274; R. Wolfrum, Zur Durchsetzung des humanitären Völkerrechts, in: D. Fleck (Hrsg.), Handbuch des humanitären Völkerrechts in bewaffneten Konflikten, Kap. 12, Ziff. 1206. 90 K. Doehring, Völkerrecht, § 21 II, Rdnr. 1032. 91 M. Herdegen, Völkerrecht, § 59, Rdnr. 6. 92 M. Schröder, in: W. Vitzthum/A. Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 7. Abschn., Rn. 119 m. w. N. 93 Ders., ebd., Rn. 116. 94 So H. Seitz, Die Kriegsrepressalie, S. 4. 86 Vgl.
C. Keine Rechtfertigungsgründe für den Einsatz militärischer Gewalt 201
lichen Gewaltgewaltverbots dürfen gewaltsame Maßnahmen im Rahmen der Friedensrepressalie – die Gewohnheitsrecht darstellt – nicht ergriffen werden95. Trotz der Entwicklung des humanitären Völkerrechts hin zur Einschränkung der Zulässigkeit von Repressalien kann unter engen Voraussetzungen auch weiterhin die Tötung von Menschen zulässig sein – neben der Berechtigung zur Zerstörung von Sachgütern96. Der Umfang der völkerrechtlichen Legitimation der Repressalie ist jedoch umstritten97. Insbesondere durch das 1. Zusatzprotokoll der Genfer Abkommen98, das bestimmte Personengruppen oder Objekte99 für repressalienfest erklärt100, führte zur Einengung des Anwendungsbereichs der Maßnahmen. Ausgenommen sind insbesondere solche Personen, die vom humanitären Völkerrecht geschützt werden, sowohl in einem internationalen als auch in einem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt. Zusammenfassend lassen sich aus Rechtsprechung und Literatur fünf a llgemeine Kriterien für die Zulässigkeit von Repressalien entnehmen: 1. Sie müssen von der obersten Staats- oder Militärführung angeordnet sein. 2. Der Grundsatz der Proportionalität bzw. Verhältnismäßigkeit muss gewahrt sein, d. h., die Repressalien dürfen ihrem Umfang nach nicht in einem Missverhältnis zur gegnerischen Rechtsverletzung und auf der anderen Seite auch ihrer Art nach keine Größenordnung aufweisen, die jener Rechtsverletzung unvergleichbar ist. 3. Sie dürfen lediglich als Ultima Ratio und nach vorheriger Androhung eingesetzt werden. 4. Sie sind nur zwecks Rechtsdurchset95 Vgl. hierzu auch A/RES/2625 (XXV) v. 24. Oktober 1970 der GV – Erklärung über Grundsätze des Völkerrechts betreffend freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen (Friendly Relations Declaration). 96 A. Eser, „Defences“ in Strafverfahren wegen Kriegsverbrechen, in: K. Schmoller (Hrsg.), FS Otto Triffterer, S. 771. 97 Ausführlich zum Streitstand C. Nill-Theobald, „Defences“ bei Kriegsverbrechen, S. 299 ff. 98 ZusProt I bis III – Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen (GA) vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte, angenommen am 8. Juni 1977. 99 Wie bspw. Verwundete, Kranke, Schiffbrüchige, Sanitäts- und Seelsorgepersonal und die von ihnen benutzten Objekte (Art. 46 GA I; Art. 47 GA II; Art. 20 ZusProt I), Kriegsgefangene (Art. 13 Abs. 3 GA III) oder Zivilpersonen und zivile Objekte (Art. 33 Abs. 3 GA IV; Art. 51 Abs. 6; Art. 52 Abs. 1; Art. 54 Abs. 4 ZusProt I) sowie Kulturgut (Art. 52 Abs. 1; Art. 53 lit. c ZusProt I; Art. 4 Abs. 4 der Kulturgutkonvention). 100 K. Ipsen, in: ders., Völkerrecht, § 63, Rn. 12 f.; S. Oeter, Kampfmittel und Kampfmethoden, in: D. Fleck (Hrsg.), Handbuch des humanitären Völkerrechts in bewaffneten Konflikten, Kap. 4, Ziff. 476.
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Teil 2, Kap. 1: Das völkerrechtliche Gewaltregelungsregime
zung bzw. -wiederherstellung zulässig. 5. Ferner müssen sie Erwägungen der Menschlichkeit Rechnung tragen101.
II. Staatennotstand und völkerrechtliche Notwehr Als Notstand wird in Art. 24 ILC-Entwurf102 eine Situation definiert, in der eine Person aufgrund einer Notsituation ohne vernünftige Handlungsalternative handelt, um ihr eigenes oder das Leben ihr anvertrauter Menschen zu retten. Auch hierbei darf der verantwortliche Staat die Notlage nicht selbst verursacht haben. Zudem darf das Handeln nicht eine vergleichbare oder noch größere Gefahr bei dem betroffenen Staat verursachen – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Im Unterschied zur höheren Gewalt besteht bei dem Notstand noch die Möglichkeit des völkerrechtsgemäßen Handelns, jedoch verbunden mit der hohen Wahrscheinlichkeit der Selbstvernichtung. Notstand und Notwehr sind ebenso wie im nationalen Recht auch auf völkerrechtlicher Ebene anerkannt103. Hierbei handelt es sich um „defences“ des Staates selbst; wenn die Existenz des Staates durch eine schwere Gefahr bedroht wird, sind die obersten Organe berechtigt, die entsprechenden Notmaßnahmen einzuleiten und in fremde Rechtsgüter einzugreifen104. Die Notwehr ist gegenüber der Repressalie begrifflich enger auszulegen, da sie nur gegen ein aggressives Verhalten gerichtet werden darf, während die Repressalie gegen jede Rechtsverletzung eingesetzt werden darf. Ein weiterer wesentlicher Unterschied besteht darin, dass – abgesehen von den zuvor beschriebenen Ausnahmen – bei der Repressalie keine Gewalt angewandt werden darf, hingegen die Notwehr bei der Abwehr eines bewaffneten Angriffs auf das Mittel der Gewaltanwendung zurückgreift105. Im Vergleich zur individuellen Notwehr im nationalen Recht soll im Völkerrecht die gewaltsame Abwehr, also die Notwehr gegen eine Aggression mit militärischen Mitteln lediglich dann zulässig sein, wenn der Angriff selbst eine bewaffnete Aktion gegen den sich wehrenden Staat darstellt. Solange kein militärischer Angriff erfolgt, darf hiernach nicht mit militärischen 101 D. Neulinger,
Recht auf Selbstverteidigung, S. 154. A/RES/56/83 der GV v. 12. Dezember 2001 zur Verantwortlichkeit der Staaten für völkerrechtswidrige Handlungen. 103 Im Wesentlichen entsprechen die einzelnen Voraussetzungen des völkerrecht lichen Notstands denen des natonalen Rechts. Vgl. A. Eser, „Defences“ in Strafverfahren wegen Kriegsverbrechen, in: K. Schmoller (Hrsg.), FS Otto Triffterer, S. 765 und A. Bruer-Schäfer, Der Internationale Strafgerichtshof, S. 182. 104 A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 1290. Vgl. auch T. Fischer, StGB, § 34, Rdnr. 34. 105 K. Doehring, Völkerrecht, § 21 III, Rdnr. 1040. 102 Vgl.
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Maßnahmen Abwehr geleistet werden106. Gleichzeitig besteht, wie im Repressalienrecht, auch im völkerrechtlichen Notwehrrecht der Grundsatz der Proportionalität zwischen Selbstverteidigungs- und Angriffshandlung107. Die Bedeutung des Staatennotstands und der völkerrechtlichen Notwehr besteht vor allem darin, dass – gerade weil die völkerrechtlichen Verbrechen letzten Endes durch Einzelpersonen, praktisch durch die obersten Befehlshaber, begangen werden – bei Zulässigkeit dieser „defences“ auch diese Individuen legitimiert sein müssen108.
III. Der Irrläufer der bewaffneten „Humanitären Intervention“ Nicht nur im deutschen nationalen Recht liegt das Rechtsmittel der Nothilfe vor109. Auch im Völkerrecht wird darüber gestritten, ob es ein solches Rechtsinstitut gibt. Die Befürworter einer völkerrechtlichen Nothilfe sehen eine solche im Rahmen der bewaffneten Humanitären Intervention110. 1. Der Begriff der „Humanitären Intervention“ Bereits vorweg sei angemerkt, dass bei diesem Instrumentarium nicht nur die meisten Stellungnahmen sehr politisch „gefärbt“ sind, sondern vor allem eine Begriffsverwirrung anstelle einer klaren Differenzierung vorherrscht. In der politikwissenschaftlichen Debatte wird unter der Humanitären Intervention „ein auf Gewaltmittel gestütztes Eingreifen eines oder mehrerer Staaten in einen anderen Staat“ verstanden, „um dort nennenswerten Bevölkerungsteilen, die durch besonders brutale Gewalt massiv bedroht werden, zu helfen“.111 Eine eindeutigere Differenzierung nimmt die juristische Definition vor, welche die „klassische“ Humanitäre Intervention als das gewaltsame Eingreifen in die Souveränität eines anderen Staates beschreibt, das dem Ziel dienen soll, ohne dessen Zustimmung – und ohne Zustimmung des SR – massive Menschenrechtsverletzungen zu verhindern oder zu beseitigen112. 106 Ders.,
ebd., § 21 III, Rdnr. 1040 ff. Allgemeines Völkerrecht, S. 277. 108 D. Neulinger, Recht auf Selbstverteidigung, S. 156. 109 Vgl. hierzu T. Fischer, StGB, § 32, Rdnr. 11 ff. 110 Zur Geschichte der Humanitären Intervention, vgl. B. Simms/D. Trim, Humanitarian Intervention: A History, passim. 111 B. Zangl, Humanitäre Intervention, in: M. Ferdowsi (Hrsg.), Internationale Politik, S. 106. 112 D. Deiseroth, „Humanitäre Intervention“ und Völkerrecht, in: NJW 52 (1999), S. 3084; K. Doehring, Völkerrecht, § 20, Rdnr. 1008; M. Pape, Humanitäre Intervention, S. 83; H. Fischer, Humanitäres Völkerrecht und Humanitäre Intervention, in: 107 P. Fischer/H. Köck,
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Gemein ist beiden Definitionen, dass der militärische Einsatz als solcher bei einer Humanitären Intervention nie das Ziel, sondern lediglich das Mittel zur Beendigung von schwersten Menschenrechtsverletzungen sein soll113. Ein Eingreifen auf Einladung des betroffenen Staats114 oder das Handeln Privater115 scheiden als Humanitäre Intervention aus. Des Weiteren ist zu differenzieren, ob es sich um eine Intervention zur Rettung fremder Staatsangehöriger oder um eine Rettung eigener Staatsangehöriger im Ausland (sog. Non-Combattant Evacuation Operations [NEO]) handelt116. Die Intervention zur Rettung eigener Staatsangehöriger auf fremdem Staatsgebiet wird von einigen Autoren als völlig unzulässig erachtet117. Andere Autoren hingegen sehen eine Rechtfertigung für derartige Interven tionen aufgrund der Verletzung von Schutzpflichten des Staates, in dem die Ausländer festgehalten werden; oder aber, dass die Intervention gar nicht auf eine fremde Staatsgewalt, sondern auf eine kriminelle Gruppierung abziele118. Eine weitere Unterscheidung ist dahingehend vorzunehmen, ob es sich bei einer Humanitären Intervention zur Rettung anderer Menschen um eine vom SR autorisierte oder um eine unilateral beschlossene Maßnahme handelt119. Der SR hat die Möglichkeit, gegen ein als Bedrohung oder Bruch des Friedens qualifiziertes Verhalten eines Staates – nach Ausschöpfung aller fried lichen Mittel – auch militärische Sanktionen zu verhängen. Hierzu sind geV. Matthies (Hrsg.), Frieden durch Einmischung?, S. 98; C. Greenwood, Gibt es ein Recht auf humanitäre Intervention?, in: EA 48 (1993), S. 93; W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 52, Rdnr. 49 ff.; M. Herdegen, Völkerrecht, § 34, Rdnr. 55. 113 I. Liebach, Die unilaterale humanitäre Intervention, S. 63; C. Stadler, Über Wesen und Wert der Humanitären Militärischen Intervention, in: G. Gustenau (Hrsg.), Humanitäre militärische Intervention zwischen Legalität und Legitimität, S. 8. 114 H. Endemann, Kollektive Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung humanitärer Normen, S. 4. 115 A. Pauer, Die humanitäre Intervention, S. 6. 116 Vgl. U. Beyerlin, Stichwort: „Humanitarian Intervention“, in: R. Bernhardt et al., EPIL III (1982), S. 212; K. Schmidseder, Internationale Interventionen und Crisis Response Operations, S. 154. 117 A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 473; H.-J. Heintze, Interventionsverbot, Interventionsrecht und Interventionspflicht im Völkerrecht, in: E. Reiter (Hrsg.), Maßnahmen zur internationalen Friedenssicherung, S. 185. 118 Vgl hierzu: Case concerning military and paramilitary activities in and against Nicaragua (Nicaragua vs USA), in: ICJ Reports 1986, S. 14. Gleichwohl müssen solche Operationen in jedem Fall auf den Hauptzweck, also auf die Rettung der gefährdeten Personen, begrenzt sein und eine Gewaltanwendung sollte möglichst vermieden werden. Ferner soll eine Gewaltanwendung in jedem Fall dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterliegen. 119 Vgl. C. Tomuschat, Die Zukunft der Vereinten Nationen, in: EA 47 (1992), S. 49.
C. Keine Rechtfertigungsgründe für den Einsatz militärischer Gewalt 205
wohnheitsrechtlich keine direkt dem SR unterstellten Truppen erforderlich; vielmehr werden Staaten zur Gewaltanwendung ermächtigt. 2. Mangelnde Rechtfertigung Humanitärer Interventionen Generell ist nach wie vor umstritten, ab wann innerstaatliche Vorgänge eine Bedrohung oder einen Bruch des Friedens i. S. v. Art. 39 VN-Charta auslösen. In der Literatur wird das Vorliegen „massiver Verletzungen fundamentaler Menschenrechte“ gefordert120, während der SR diesen regelmäßig u. a. als bedroht ansieht, wenn Völkermord oder sog. ethnische Säuberungen Fluchtbewegungen nach sich ziehen, die auf Nachbarstaaten übergreifen121. Wie bereits an vorheriger Stelle angesprochen, zeigt sich in der politischen Realität, dass der SR – aufgrund des Vetorechts der ständigen Mitglieder – oftmals beschlussunfähig bzw. -unwillig ist. Daraus erwächst der grundlegende Streitstand: Dürfen einzelne Staaten bei Handlungsunfähigkeit des SR als Ultima Ratio auch unilateral Gewalt anwenden? Die h. M. verneint dies mit dem Hinweis auf das in Art. 2 Ziff. 4 VNCharta normierte Gewaltverbot und die daraus resultierende Missbrauchsgefahr122. Innerhalb der VN-Charta findet sich keine Rechtsgrundlage für militärische Maßnahmen im Rahmen einer Humanitären Intervention. Auch eine Gleichsetzung von massiven Menschenrechtsverletzungen mit einem bewaffneten Angriff, welcher das Recht auf Selbstverteidigung nach Art. 51 VNCharta auslösen könnte, erscheint hiernach fernliegend123. Die Gegenauffassung rechtfertigt eine unilaterale Humanitäre Intervention im Falle eines sich gerade ereignenden Genozids, zum einen mit der naturrechtlichen Begründung, dass keine Rechtsordnung dazu verurteilen dürfe, einem Völkermord zuzusehen. Zum anderen mit einer teleologischen Einschränkung des in Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta verankerten Gewaltverbots; oder auch einfach mit neuem, die Charta überlagerndem Gewohnheitsrecht, dem120 Vgl. C. Greenwood, Gibt es ein Recht auf humanitäre Intervention?, in: EA 48 (1993), S. 93 ff.; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 1208; W. Heinz, Schutz der Menschenrechte durch humanitäre Intervention?, in: APuZ 43 (B12– 13/1993), S. 3 ff. 121 Vgl. D. Senghaas, Weltinnenpolitik, in: EA 47 (1992), S. 650. Siehe auch Teil 2, Kap. 1, B. II. 122 Vgl. D. Deiseroth, „Humanitäre Intervention“ und Völkerrecht, in: NJW 52 (1999), S. 3085 mit einer exemplarischen Aufzählung der Autoren dieses Standpunkts. 123 Vgl. auch M. Bothe, in: W. Vitzthum/A. Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 8. Abschn., S. 662; a. A. C. Kreß, Staat und Individuum in Krieg und Bürgerkrieg – Völkerrecht im Epochenwandel, in: NJW 52 (1999), S. 3081 f.
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Teil 2, Kap. 1: Das völkerrechtliche Gewaltregelungsregime
zufolge dieses Recht bereits vor der Verabschiedung der Charta bestanden habe und das allgemeine Gewaltverbot relativiere.124 Letztere Argumentation ist jedoch äußerst strittig und lässt sich insbesondere nicht aus der Staatenpraxis seit 1945 ableiten125. Als weitere Begründungsansätze werden der in allen innerstaatlichen Rechtsordnungen vorhandene Nothilfegrundsatz oder auch das heute anerkannte Selbstbestimmungsrecht der Völker – das Völkern partielle Völkerrechtssubjektivität verleiht und sie im Falle eines Genozids in die Lage versetzt, ähnlich einem angegriffenen Staat um Hilfe zu bitten – angeführt. Fraglich ist nunmehr, welcher Ansicht zu folgen ist. Werden beide Ansichten gegeneinander abgewogen, so muss man – der reinen Lehre folgend – zu der Auffassung gelangen, dass aufgrund fehlender Normierung in der VN-Charta die Humanitäre Intervention ohne Autorisierung durch den SR einen Verstoß gegen das Gewaltverbot begründet. Auch wenn dadurch bestimmte Bevölkerungsgruppen vor einer rücksichtslosen Verletzung ihrer Menschenrechte und blutigen Unterdrückung geschützt werden könnten, ist eine derartige Humanitäre Intervention nach Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta ein bewaffneter (militärischer) Angriff, der unter das Gewaltverbot zu subsumieren ist. Auch eine Rechtfertigung über das Gewohnheitsrecht kommt nicht in Betracht, da es an der hierfür notwendigen staatlichen Praxis und auch an der Rechtsüberzeugung fehlt. Als staatliche Praxis gelten hierbei lediglich diejenigen militärischen Maßnahmen nach Inkrafttreten der VN-Charta. Ohne bereits Feststellungen und Ergebnisse vorwegzunehmen, hat sich keiner der eingreifenden Staaten jemals auf ein Recht zur Humanitären Intervention berufen. Es wurden vielmehr in unterschiedlicher Weise andere rechtliche Konstruktionen zur Rechtfertigung der Maßnahmen genutzt. Von einer durch Rechtsüberzeugung getragenen Praxis der Humanitären Intervention als Ausnahme zum völkerrechtlichen Gewaltverbot zu sprechen, ist in der Konsequenz daher verfehlt126. Festzuhalten bleibt somit, dass die Humanitäre Intervention nach h. L. gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot verstößt und so124 D. Blumenwitz, Die humanitäre Intervention, in: APuZ 44 (26–27/1994), S. 3 ff.; J. Isensee, Weltpolizei für Menschenrechte, in: JZ, 50 (1995), S. 421. 125 H. Fischer, Humanitäres Völkerrecht und Humanitäre Intervention, in: V. Matthies (Hrsg.), Frieden durch Einmischung?, S. 99. 126 So auch die überwiegende Literaturauffassung, vgl. K. Hailbronner, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, in: D. Schindler/ders., Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 26 (1986), S. 99; M. Bothe, The Legitimacy of the Use of Force to Protect Peoples and Minorities, in: C. Brölmann et al. (Hrsg.), Peoples and Minorities in International Law, S. 289 ff.; a. A. R. Lillich, Humanitarian Intervention through the United Nations: Towards the Development of Criteria, in: ZaöRV 53 (1993), S. 560 ff.
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mit als völkerrechtswidrig anzusehen ist127. Darüber hinaus kann sie bis dato auch nicht als Völkergewohnheitsrecht bezeichnet werden128.
127 A. Randelzhofer, in: B. Simma (Hrsg.), Charta der Vereienten Nationen, Art. 2 Ziff. 4, Rdnr. 53 und 55; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 473; I. Brownlie, International Law and the Use of Force by States, S. 265 ff.; U. Beyerlin, Stichwort: „Humanitarian Intervention“, in: R. Bernhardt et al., EPIL III (1982), S. 212 f.; P. Kunig, Das völkerrechtliche Gewaltverbot, in: Jura 20 (1998), S. 667. 128 W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 52, Rdnr. 51 ff.; K. Doehring, Völkerrecht, § 20, Rdnr. 1008 ff.; G. Seidel, Quo vadis Völkerrecht?, in: AVR 41 (2003), S. 456 f.
Kapitel 2
Der rechtliche Rahmen der NATO A. Die Bindung internationaler Organisationen an das Völkerrecht Neben der Darstellung der völkerrechtlichen Rechtsquellen für die Gewaltanwendung ist zu eruieren, inwieweit internationale Organisationen – und damit auch das Nordatlantikbündnis129 – an die jeweiligen (Rechts-) Quellen gebunden sind. Hierbei ist zunächst – quasi als Vorfrage der zur Rechtsermittlung zu beantwortenden Fragen – auch jene nach den Quellen des Völkerrechts zu beantworten. Denn nur eine existente Rechtsquelle kann Grundlage der Rechtsermittlung sein. Andere Bezugspunkte mit völkerrechtlich beachtlichem Inhalt, ohne jedoch eigene Rechtsquellenbeschaffenheit zu besitzen, können hingegen nicht als Anknüpfungspunkt herangezogen werden. Sie dienen stattdessen der Rechtsfindung innerhalb einer Quelle. Ein systematisches Vorgehen muss demgemäß zwischen Rechtsquelle als Anknüpfungspunkt – quasi als Zugang zu einer Rechtsgrundlage – und ihrem jeweiligen Argumentationsinhalt unterscheiden130. Das – neuzeitliche131 – Völkerrecht hat seit jeher einen schweren Stand gehabt: Erwachsen aus den politisch-philosophischen Ideen132, sah es sich nach Anerkennung und Festigung im Zeitalter des Westfälischen Friedens133 129 Vgl. 130 Vgl.
Einl., D. I. auch B. Schiffbauer, Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht,
S. 217 f. 131 Zur – streitigen – Verwendung des Völkerrechtsbegriffes auch in Bezug auf die antiken und mittelalterlichen Erscheinungsformen der Rechtsbeziehungen zwischen Herrschaftsverbänden vgl. nur K.-H. Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, S. 1 f. 132 Insbesondere der spanischen Spätscholastiker Francisco de Vitoria (ca. 1483– 1546) und Francisco Suárez (1548–1617) sowie der Vertreter der rationalistischen Naturrechtslehre Hugo Grotius (1583–1645) und Samuel von Pufendorf (1632–1694); zu diesen und weiteren „Klassikern“ des Völkerrechts sehr lesenswert E. Reibstein, Völkerrecht I – Von der Antike bis zur Aufklärung, S. 237 ff. (III. Die Völkerrechtsklassiker und ihre Epoche). 133 Die Bedeutung des Westfälischen Friedens von 1648 für das „klassische“ europäische Völkerrecht (ius publicum europaeum) wird bis heute kontrovers behandelt;
A. Die Bindung internationaler Organisationen an das Völkerrecht 209
bereits bald wieder massiven Angriffen ausgesetzt. So handelte Hegel134 – als einer der großen „Völkerrechtsleugner“135 des 19. Jahrhunderts – in konsequenter Verfolgung seiner Apotheose des Staates das Völkerrecht in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (1821) unter der Überschrift „Das äußere Staatsrecht“ ab. Daneben konnte das Völkerrecht nach der sog. „analytical jurisprudence“ des englischen Rechtspositivisten John Austin136 (1790–1859) in Ermangelung einer souveränen Zwangsmacht lediglich moralische Geltung beanspruchen. Noch 1961 betrachtete Herbert Hart137 in seinem vielbeachteten Werk „The Concept of Law“ die Frage: „Is international law really law?“ angesichts des weitgehenden Fehlens „sekundärer Regeln“ (secondary rules), z. B. über die Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit auf internationaler Ebene als unausweichlich. Und im Zuge des Irak-Krieges fragte Frowein „Ist das Völkerrecht tot?“138 – dabei Thesen aufgreifend (und entschieden zurückweisend!), die zuvor US-amerikanische Völkerrechtler, etwa Michael Glennon139, verlautbart haben140. Die – nicht selten ideologisch motivierten – Bedenken gegenüber dem Völkerrecht überzeugen allerdings nicht. Denn bereits im staatlichen Bereich herrscht keine Einmütigkeit über den Rechtsbegriff141. Daher kann dem Völkerrecht unter nicht allseits anerkannter rechtstheoretischer Konzeption seine Normativität abgesprochen werden. So ist die Kritik, die auf einen – vermeintlichen – Mangel an einem effektiven Sanktionsinstrumentarium abstellt, denn auch mit Schwierigkeiten konfrontiert, die es bereitet, die Geltung des Rechts aus dem Zwang zu begründen142. Zudem hat das Völkerrecht – das vgl. dazu K.-H. Ziegler, Die Bedeutung des Westfälischen Friedens von 1648 für das europäische Völkerrecht, in: AVR 37 (1999), 129 ff. sowie D. Kennedy, A World of Struggle, S. 21 f. 134 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 7, §§ 330 ff. 135 M. Rau, Völkerrechtsquellen, in: J. Menzel et al. (Hrsg.), Völkerrechtsprechung, S. 78. 136 J. Austin, Lectures on Jurisprudence or the Philosophy of Positive Law, in: R. Campell (Hrsg.), S. 182 f. 137 H. Hart, The Concept of Law, S. 213 ff. 138 J.A. Frowein, Ist das Völkerrecht tot?, in: FAZ v. 23. Juli 2003, Nr. 168, S. 6. 139 M. Glennon, Why the Security Council Failed, in: Foreign Affairs 82 (2003), S. 16 ff.; vgl. auch ders., Der Traum, in: FAZ v. 25. Juni 2003, Nr. 144, S. 7; ferner früher T. Franck, Who Killed Article 2 (4)?, in: AJIL 64 (1970), S. 809 ff. 140 M. Rau, Völkerrechtsquellen, in: J. Menzel et al. (Hrsg.), Völkerrechtsprechung, S. 78. 141 Einführend B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie, Rdnr. 48 ff. 142 Vgl. nur G. Radbruch, „Rechtsphilosophie“ (1932), in: R. Dreier/S. Paulson (Hrsg.), S. 80 f.; für eine eingehende Auseinandersetzung mit der sog. Befehls- oder Imperativentheorie O. Höffe, Politische Gerechtigkeit, S. 138 ff.
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Teil 2, Kap. 2: Der rechtliche Rahmen der NATO
als „primitive Rechtsordnung“143 zwar in der Tat traditionell keine arbeits teilig funktionierenden Organe für die Erzeugung, Anwendung und Durchsetzung seiner Normen kennt – schon immer über Sanktionen verfügt, die hinsichtlich ihres Gehalts durchaus vergleichbar mit denen des staatlichen Rechts sind. Hinsichtlich der Wirksamkeit bzw. geltungstheoretisch gesprochenen Anerkennung, dürfte es ebenfalls nicht „schlecht bestellt sein“; so die berühmte Sentenz Louis Henkins: „It is probably the case that almost all nations observe almost all principles of international law and almost all of their obligations almost all of the time“144.
Zu unterscheiden von der Problematik der Rechtsqualität des Völkerrechts ist die Frage der Einheitlichkeit der Völkerrechtsordnung. Dies betrifft weniger die unterschiedlichen vertraglichen Bindungen, denen die Staaten als die nach wie vor primären Völkerrechtssubjekte unterworfen sind. Vielmehr mangelt es – in Anlehnung an ein gewichtiges Wort Häberles145 – in der „offenen Gesellschaft der Völkerrechtsinterpreten“ an einer zur autoritativen (Letzt-)Auslegung des Völkerrechts befugten, für Kohärenz in den internationalen Beziehungen sorgenden, zentralen Instanz. Auch wenn sich in einzelnen völkerrechtlichen Teilordnungen im Zuge der seit einigen Jahren zu verzeichnenden Proliferation von Streitbeilegungsorganen (eine jedoch nur selten obligatorische) internationale Gerichtsbarkeit etabliert. Damit geht nach Ansicht vieler Beobachter die Gefahr einer (weiteren) Fragmentarisierung des Völkerrechts einher146. Darüber hinaus sagt die Normativität des Völkerrechts als solches noch nichts darüber aus, welche Rechtssätze des Völkerrechts in concreto Geltung beanspruchen können147. Somit ist der Blick auf den Kanon der Quellen zu richten, aus denen Erkenntnisse über den Inhalt des Völkerrechts gewonnen werden können. Durch die Tendenz der Völkerrechtswissenschaft zur „Abmarkung historischer Wendepunkte“148 geriet immer auch die völkerrechtliche Rechtsquellenlehre in Bewegung. Insbesondere seit der – auch für die vorliegende ArH. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 323. How Nations Behave, 2. Aufl. (1979), S. 47; zit. nach M. Rau, Völkerrechtsquellen, in: J. Menzel et al. (Hrsg.), Völkerrechtsprechung, S. 78 f. 145 P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: JZ 30 (1975), S. 297 ff. 146 Vgl. M. Rau, Völkerrechtsquellen, in: J. Menzel et al. (Hrsg.), Völkerrechtsprechung, S. 79 m. w. N. 147 Vgl. hierzu die späteren Ausführungen um die Geltung und die Reichweite des zwischenstaatlichen Gewaltverbots. 148 A. Kemmerer, Die Stimme der Hegemonen, in: FAZ v. 30. März 2016, Nr. 74, S. N4. 143 So
144 L. Henkin,
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beit bedeutenden – (welt-)politischen Zeitenwende 1989/90 sowie im Zuge der Globalisierung, wodurch sich wirtschaftliche, politische und soziale Entgrenzungsphänomene manifestier(t)en, werden die Prozesse über Wesen und Funktionsweise des Völkerrechts als des Rechts der zwischenstaatlichen Beziehungen grundlegend infrage gestellt. Dies betrifft die tradierten Völkerrechtsquellen und mündet in Diskussionen über eine „Erweiterung der Quellenkategorien“ des Völkerrechts149.
149 Umfassend hierzu W. Weiß, Rechtsquellen des Völkerrechts in der Globalisierung, in: AVR 53 (2015), S. 220 ff. Dieser legt dar, dass sich – bedingt durch die Globalisierung – die Akteure und Prozesse völkerrechtlicher Regelentstehung sich in quantitativer und vor allem in qualitativer Hinsicht verändern. Damit einhergehend sei die völkerrechtliche Rechtsquellenlehre – ohnehin „nie ein Ort des Stillstands“ – in Bewegung gekommen. Seiner Auffassung nach betreffen die Veränderungen die Ausweitung der traditionellen Quellenkategorien etwa um Mechanismen zentralisierter Rechtsetzung, Mehrheitsverträge oder soft law. Neue völkerrechtliche Quellen kategorien bilden diese Veränderungsprozesse ab und verdeutlichen sie. Gleichwohl soll erst bei einer Kategorisierung in Normkategorien eine Klärung ihrer innerstaat lichen Rechtswirkung erfolgen. Zudem wird nach Weiß durch diesen Veränderungsprozess auch die fortwährend aktuelle Debatte um Geltungsgrund und Legitimation des Völkerrechts beibehalten. Er zeigt auf, dass die Veränderungsprozesse die wechselseitige Bezogenheit von Konzeptionen des Wesens und des Geltungsgrunds des Völkerrechts einerseits und der Rechtsquellenlehre andererseits erkennbar werden lassen. So bewirken die Veränderungen seiner Auffassung nach bei der völkerrechtlichen Rechtsquellenlehre Rückwirkungen auf diese grundlegenden Vorstellungen und umgekehrt. Darüber hinaus verschieben sie in der völkerrechtlichen Regelentstehung den Geltungsgrund und die Legitimation des Völkerrechts von einer reinen Konsens- und Staatswillenorientierung hin zu einer Begründung normativer Bindungen völkerrechtlicher Akteure aus einer inhaltlichen, stärker wertgebundenen Legitimationsorientierung. Dies steht aus seiner Sicht auch im Einklang mit der Idee einer internationalen Gemeinschaft, die sich auch von einer reinen Staatenorientierung löst. So spricht zwar Art. 53 WVK noch von Staatengemeinschaft, während das neuere Abkommen über Staatenverantwortlichkeit – erweiternd – in Art. 42 und 48 auf eine „international community“ verweist (vgl. auch C. Walter, (Inter)national Governance in verfassungsrechtlicher Perspektive, in: A. Heritier et al. [Hrsg.], European and International Regulation after the Nation State, S. 35). Die in der Gegenwart zu beobachtende Legitimationsorientierung des Völkerrechts verändert damit seiner Meinung nach das Völkerrecht aber nicht nur in materieller Hinsicht, indem neue völkerrechtliche Rechte und Pflichten statuiert werden, sondern beeinflusst auch die Entstehungsweise völkerrechtlicher Normen und damit die völkerrechtliche Rechtsquellenlehre: Es geht nicht mehr nur um den Willen der Staaten. Somit wird nach Weiß‘ Auffassung deutlich, dass das Völkerrecht über eine rein genossenschaftliche Konstruktion ohne inhaltliche Anforderung an sein Recht hinausgewachsen ist.
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Unbestritten sind im Völkerrecht grundsätzlich150 drei Rechtsquellen anerkannt – völkerrechtliche Verträge151, Völkergewohnheitsrecht152 und allge150 Zu weiteren möglichen Rechtsquellen s. W. Graf Vitzthum, in: ders./A. Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 1. Abschn., Rdnr. 148 ff.; T. Stein/C. v. Buttlar, Völkerrecht, Rdnr. 24. 151 Völkerrechtliche Verträge sind alle zwischen zwei oder mehreren Völkerrechtssubjekten getroffenen Vereinbarungen auf völkerrechtlicher Ebene. Sie gelten als Hauptrechtsquelle des Völkerrechts. Ihr Inhalt ist schriftlich fixiert (vgl. Art. 2 (1) lit. a WVK) und ihre Auslegung durch die auch gewohnheitsrechtlich anerkannten Regelungen der WVK – zumindest in Bezug auf Staaten vorgezeichnet. Da Verträge grundsätzlich nur inter partes wirken, besteht bei ihnen kein Anspruch auf universelle Geltung. Etwas anderes gilt – auch wenn diese Unterscheidung in Teilen der Lehre als wiederholt angesehen wird – für law-making treaties qualifizierte Verträge (vgl. W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 10, Rdnr. 7. Allerdings veranschaulichen sie die Rolle völkerrechtlicher Verträge als Völkerrechtsquelle am besten und sollen daher hier beibehalten werden. In diesem Sinne auch A. Pellet, in: A. Zimmermann et al. [Hrsg.], The Statue of the ICJ, Art. 38, Rdnr. 202, der zwar an einer für den IGH relevanten Typenunterscheidung von Verträgen zweifelt, gleichwohl aber die Existenz inhaltlich unterschiedlicher Vertragskategorien bestätigt). Diese Verträge enthalten, wie nationale Gesetze, abstrakt-generelle Regelungen für die Zukunft im Verhältnis zu einer Vielzahl von Vertragsparteien und erledigen sich daher nicht durch die Erfüllung eines in ihnen bestimmten Ziels (vgl. J. Crawford, Brownlie’s Principles, S. 31 f.). Exemplarisch hierfür steht die VN-Charta, die als multinationaler Vertrag in der Weltgemeinschaft als eine Art Verfassung angesehen wird. Darüber hinaus können sich law-making treaties über ihren ohnehin schon multinationalen Adressatenkreis universell bindend fortentwickeln, wenn sich ihre Regelungen gewohnheitsrechtlich festigen (vgl. B. Schiffbauer, Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht, S. 223). Aber auch nicht als law-making treaties konzipierte Vereinbarungen können sich auf diese Weise zu Völkergewohnheitsrecht fortentwickeln, oder zumindest als manifestierter Ausdruck staatlicher Rechtsüberzeugung ein Bestandteil hiervon losgelösten Gewohnheitsrechts sein (W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 17, Rdnr. 22; A. Pellet, in: A. Zimmermann et al. [Hrsg.], The Statue of the ICJ, Art. 38, Rdnr. 203). Letztlich ist damit auf Inhalt und Adressatenkreis abzustellen, um völkerrechtliche Verträge als unmittelbar heranzuziehende Rechtsquelle bewerten zu können. 152 Das Völkergewohnheitsrecht ist aufgrund nicht vorhandener zentraler Rechtssetzungsinstanzen weiterhin die bedeutendste Rechtsquelle der Völkerrechtsordnung (W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 17, Rdnr. 1; M. Shaw, International Law, S. 69 ff.; B. Schlütter, Developments in Customary International Law, S. 10), wird aber gleichwohl als „theoretical minefield“ (M. Koskenniemi, The Pull of the Mainstream, in: MLR 88 (1990), S. 1947) gefürchtet sowie als „full of mysteries“ (J. Klabbers, International Organizations, in: E. Cannizaro/P. Palchetti [Hrsg.], Customary International Law on the use of force, S. 179) beschrieben. Denn anders als bei völkerrechtlichen Verträgen, deren Geltung unmittelbar mit dem Konsensprinzip begründet werden kann und deren Rechtsanwendung durch den (in der Regel) geschriebenen Vertragstext greifbar wird, bedarf es bei der Entstehung und Geltung gewohnheitsrechtlicher Normen eines besonderen Nachweises (W. Heint-
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schel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, vor § 17, Rdnr. 3 f.). Unabhängig davon wird in der Literatur weitestgehend einhellig die Auffassung vertreten, dass das Völkergewohnheitsrecht auch für internationale Organisationen gilt (unter Vielen: I. Seidl-Hohenveldern/G. Loibl, Internationale Organisationen, Rdnr. 1512; P. Sands/ P. Klein, Bowett’s Law of International Institutions, Rdnr. 14–037; T. Irmscher, UNMission in Kosovo, in: GYIL 44 [2001], S. 366; M. Bothe/T. Marauhn, Kosovo and East Timor, in: C. Tomuschat [Hrsg.], Kosovo and the International Community, S. 237; E. David, Le Droit International Applicable aux Organisations Internationales, in: M. Dony/A. de Walsche [Hrsg.], FS Michel Waelbroeck [Bd. I], S. 20. Auch der EuGH hat in seiner Rspr. angenommen, dass die EU das Völkergewohnheitsrecht beachten müsse, ohne entsprechende Vorschrift in den Verträgen; EuGH, Racke GmbH & Co. vs. Hauptzollamt Mainz, C-162/96, Rdnr. 46; Ankagemijndihheden vs. Poulsen und Daiva Navigations, C-286/90, Rdnr. 9). Die Frage nach dem Geltungsgrund des Völkergewohnheitsrechts kommt dahingehend einer „Glaubensfrage“ der internationalen Völkerrechtsdogmatik gleich. Einigkeit besteht darüber, dass die konstituierenden Elemente einer völkergewohnheitsrechtlichen Norm aus Art. 38 Abs. 1 lit. b IGH-Statut zu entnehmen sind (W. Vitzthum, in: ders./A. Proelßl [Hrsg.], Völkerrecht, 1. Abschn., Rdnr. 131). Die Vorschrift bestimmt, dass zu den Rechtsquellen, die der IGH bei der Entscheidung der ihm unterbreiteten Streitigkeiten anwendet, auch das internationale Gewohnheitsrecht zählt, das „als Ausdruck einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung“ umschrieben wird (aber die Formulierung ist insoweit ungenau, als dass nicht das Völkergewohnheitsrecht Ausdruck des Bestehens einer „allgemeinen, als Recht anerkannten Übung“ sei, sondern vielmehr umgekehrt, das Bestehen einer solchen Übung gerade konstitutiv für das Völkergewohnheitsrecht ist, A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 552; W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 17, Rdnr. 2). Daraus kann zunächst abgeleitet werden, dass es für die Bildung einer gewohnheitsrechtlichen Norm zweier Elemente bedarf: eine gewisse Praxis als objektives Element sowie eine mit dieser Übung einhergehende Rechtsüberzeugung als subjektives Element. Höchst umstritten ist dagegen, ob für die Entstehung einer gewohnheitsrechtlichen Norm beide Elemente konstitutiv sind und wie sie zueinander in Beziehung zu setzen sind. Auf der einen Seite gibt es Autoren, welche das Völkergewohnheitsrecht als stillschweigenden Vertrag (pactum tacitum) oder als einseitige Erklärung, die eine Selbstbindung erzeugt, ansehen, wonach die Praxis nur Beweismittel für das Vorliegen eines entsprechenden Vertrages und kein konstiutives Element ist. Ebenso wie die Autoren, die einem „starken Souveränitätsdenken“ verpflichtet sind, haben auch die Vertreter der naturrechtlichen und historischen Rechtsschulen das Verständnis, indem sie bei ihrer „transzendental(en)“ Begründung von einer Norm ausgehen, die durch die Praxis lediglich bestätigt wird. Bei beiden Ansätzen tritt das objektive Element in den Hintergrund (C. Janik, Internationale Menschenrechtsstandards, S. 433 f. m. w. N.). Der rechtssoziologische Ansatz setzt dagegen auf die tatsächliche Übung zur Bildung einer völkergewohnheitsrechtlichen Norm und erklärt dies damit, dass sich eine Norm gerade durch länger andauernde, weitverbreitete, gleichförmige Verhaltensweise der Mehrheit der Staaten ausbildet. Für eine flexiblere Gewichtung sowohl des subjektiven als auch des objektiven Elements treten die Vertreter einer Konsenstheorie ein. Aus ihrer Perspektive entsteht eine Gewohnheitsrechtsnorm nicht nur durch ausdrückliche oder konkludente Zustimmung, sondern bereits, wenn ein bestimmtes Verhalten von einem betroffenen Staat hingenommen werde (acquiescence), was ei-
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nen entsprechenden subjektiven Tatbestand – oder dessen Fiktion – voraussetzt (U. Fastenrath, Lücken im Völkerrecht, S. 99; C. Janik, Internationale Menschenrechtsstandards, S. 434 m. w. N.) Diese Ansätze vertreten auch die Autoren, die im Vertrauensprinzip den Verpflichtungsgrund des Völkergewohnheitsrechts sehen. Danach wird die berechtigte Erwartung der betroffenen Rechtssubjekte darauf gestützt, dass das zukünftige Verhalten in der gewohnten Einheitlichkeit verläuft. Dies setzt eine gleichförmige Staatspraxis voraus, die ihrerseits Anlass zur Vertrauensbildung als opinio iuris gibt und damit die Verbindlichkeit der Übung begründet (J. Müller, Vertrauensschutz im Völkerrecht, S. 78 ff.). Demgegenüber wählt Kelsen einen philosophischen Ansatz, wonach der Geltungsgrund des Völkergewohnheitsrechts in einer metajuristischen, der Rechtsordnung vorverlagerten Norm zu sehen ist. Sie lautet: „The states ought to behave as they have customarily behaved“ (H. Kelsen, General Theory of Law and State, S. 369). Er verzichtet somit auf das Element der opinio iuris (H. Kelsen, Théorie du droit international coutumier, in: RITD 1939, S. 263 ff.). Letztlich konnte sich keine der Ansichten – die wiederum ebenfalls zahlreiche Modifikationen beinhalten (A. Verdross, Völkergewohnheitsrecht, in: ZaöRV 29 (1969), S. 636 ff. (Überblick über die „klassischen“ Theorien); B. Schlütter, Developments in Customary International Law, S. 9 ff. (Überblick auch über die „zeitgenössischen“ Ansätze) – in Gänze durchsetzen. Es besteht jedoch Übereinkunft darüber, dass alle Theorien einen „richtigen Kern“ haben (A. Verdross, Völkergewohnheitsrecht, in: ZaöRV 29 (1969), S. 636; U. Fastenrath, Lücken im Völkerrecht, S. 100). Auch wenn die Gewichtung des subjektiven gegenüber dem objektiven Element ferner Gegenstand der wissenschaftlicher Debatte ist, wird beim derzeitigen Zugang zum Völkergewohnheitsrecht zwischen einem „klassischen“ und einem „modernen“ Verständnis unterschieden: Beide grenzen sich im Wesentlichen darin voneinander ab, dass das klassische Verständnis „induktiv vorgeht und vor allem auf den Nachweis einer sich allmählich entwickelnden Staatspraxis zielt“, wohingegen das moderne Verständnis „Normen aus einer sich möglicherweise sehr rasch bildenden Rechtsüberzeugung deduzieren und die tatsächliche Praxis als nachrangig erachten“ (T. Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht, S. 476 f.). Darüber hinaus lässt sich zwischen dem gängigen Verständnis der opinio iuris als „Glaube an die Rechtmäßigkeit“ oder Bewusstsein der Rechtmäßigkeit (J. Kammerhofer, Customary International Law, in: EJIL 15 (2004), S. 534 f.; J. Beckett, Prole gomena, in: EJIL 16 [2005], S. 234) und der Konzeption der Rechtsüberzeugung als normative Absicht, dass ein bestimmtes Verhalten als rechtmäßig angesehen werden soll, unterscheiden. Nach traditioneller Ansicht bezieht sich die opinio iuris unmittelbar auf die Praxis; beide stehen in einem synthetischen Verhältnis zueinander. Die als Willenselement verstandene opinio iuris steht dagegen neben der Praxis. Jene „Aggregation“ der Elemente eröffnet theoretisch die Möglichkeit, das relative Defizit eines Elements durch das andere zu kompensieren. Zudem wird das Völkergewohnheitsrecht auf der Grundlage des voluntaristischen Verständnisses der opinio iuris nicht mehr induktiv, sondern durch Interpretation ermittelt, weil es aus dem äußeren Verhalten und den Verlautbarungen eines Staates auf seine normative Absicht schließt (T. Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht, S. 477 f. m. w. N.). Zusammenfassend besteht Völkergewohnheitsrecht aus von Rechtsüberzeugung (opinio iuris sive necessitatis) getragener Staatenpraxis in Form allgemeiner Übung (usus) (ausführlich A. Pellet, in: A. Zimmermann et al. [Hrsg.], The Statute of the ICJ, Art. 38, Rdnr. 205 ff.; T. Stein/C. v. Buttlar, Völkerrecht, Rdnr. 122 ff. Die geäu-
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meine Rechtsgrundsätze153. Subsidiär wird zudem als Hilfs- oder Erkenntnisquellen auf richterliche Entscheidungen und Lehrmeinungen zurückgegrifßerte Rechtsüberzeugung soll sich dabei von bloßen Floskeln abgrenzen und die allgemeine Übung von lediglich erwogenen, aber nicht umgesetzten Rechtsstandards unterscheiden (G. Postema, Custom in international law, in: A. Perreau-Saussine/J. Murphy (Hrsg.), The Nature of Customary Law: Legal, Historical and Philosophical Perspectives, S. 279 ff.). Entsprechend definiert der IGH Gewohnheitsrecht in ständiger Rechtsprechung seit dem Libyen/Malta-Festlandsockel-Fall wie folgt: „It is of course axiomatic that the material of customary international law is to be looked for primarily in the actual practice and opinio juris of States (…)“ (ICJ Rep. 1985, S. 29, Abschn. 27; Hervorh. im Original). Grundsätzlich tritt durch Gewohnheitsrecht eine universelle Bindungswirkung gegenüber der gesamten Staatenwelt ein und nicht etwa nur gegenüber den mit Rechtsüberzeugung praktizierenden Staaten (W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 17, Rdnr. 25 ff. Dieser Umstand wird von J. Wiegandt, Internationale Rechtsordnung oder Machtordnung?, in: ZaöRV 71 [2011], S. 64 ff., als Argument für die erhöhte Einflussnahmemöglichkeit auf die Völkerrechtsentwicklung durch politisch potentere Staaten – de lege ferenda – herangezogen, was aber auf die lex lata gerade keinen Einfluss hat; s. dazu auch T. Ruys, ‚Armed Attack‘ and Art. 51, S. 45 f.). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt nur dann – und auch nur in Bezug auf einzelne Staaten –, wenn sich der jeweilige Staat als persistent objector gegen die Entwicklung von Gewohnheitsrecht ausdrücklich und beständig wehrt (J. Crawford, Brownlie’s Principles, S. 11; W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 17, Rdnr. 26. Die Figur des persistent objector ist zugleich, wie Wiegandt, Internationale Rechtsordnung oder Machtordnung?, in: ZaöRV 71 [2011], S. 31 [S. 65], zu Recht anmerkt, ein taugliches Korrektiv gegen eine erhöhte Machtausübung politisch einflussreicherer Staaten). 153 Allgemeine Rechtsgrundsätze nach Art. 38 (1) lit. c IGH-Statut sind nicht zu verwechseln mit allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts. Letztere ergeben sich aus dem geltenden Völkergewohnheitsrecht und sind daher nicht als selbstständige Rechtsquelle, sondern als Teil des Völkergewohnheitsrechts zu qualifizieren (W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 18, S. 488 f.; J. Crawford, Brownlie’s Principles, S. 19). Hingegen zählen zum allgemeinen Völkerrecht neben dem Völkergewohnheitsrecht nach h. M. auch die „von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze“ gem. Art. 38 Abs. 1 lit. (c) IGH-Statut. Es finden sich in der Literatur noch immer Autoren, die diese Völkerrechtsquelle entweder nicht als formelle Rechtsquelle anerkennen (G. Tunkin, General Principles of Law, in: R. Marcie et al. [Hrsg.], Intern. FS Alfred Verdross, S. 531; G. Arangio-Ruiz, General Assembly of the United Nations, in: RdC 137 [1972-III], S. 496) oder aber deren Existenz unterschlagen (vgl. R. Jennings, The Identification of International Law, in: B. Cheng [Hrsg.], S. 4; A. Boyle, Relationship of Treaties and Soft Law, in: ICLQ 48 [1999], S. 901). Schließlich werden in der älteren Literatur unter allgemeinen Rechtsgrundsätzen (oftmals) naturrechtliche Grundsätze vermutet (A. von Verdross, Les principes généraux du droit, in: RdC 52 [1935-II], S. 204; W. Jenks, The Common Law of Mankind, S. 169. Für ein „modernes“ naturrechtliches Verständnis zeitgenössische Autoren, G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/1, § 4, S. 64 f.) Orientiert man sich an der heutigen Auffassung, so lassen sich die allgemeinen Rechtsgrundsätze in drei Gruppen einteilen (vgl. H. Mosler, Stichwort „Generales
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Principles of International Law“, in: R. Bernhardt et al. [Hrsg.], EPIL II [1995], S. 511 f.; S. Kadelbach/T. Kleinlein, Überstaatliches Verfassungsrecht, in: AVR 44 [2006], S. 255; C. Janik, Internationale Menschenrechtsstandards, S. 490 ff.): Zunächst solche Prinzipien, die jeder Rechtsordnung immanent sind (Beispiele hierfür sind Rechtssätze wie pacta sunt servanda, das Verbot des venire contra factum proprium oder der Grundsatz des guten Glaubens. Der Geltungsgrund solcher Prinzipien ist entweder rein pragmatischer Natur – notwendige Grundvoraussetzung für das Funktionieren einer jeden Rechtsordnung – oder auch der Rechtslogik entnommen (H. Mosler, Stichwort „Generales Principles of International Law“, in: R. Bernhardt et al. [Hrsg.], EPIL II (1995), S. 513 f.; S. Kadelbach/T. Kleinlein, Überstaatliches Verfassungsrecht, in: AVR 44 [2006], S. 255 ff.; W. Vitzthum, in: ders./A. Proelß [Hrsg.], Völkerrecht, 1. Abschn., Rdnr. 142.), sodann die den internationalen Beziehungen selbst entnommen sind (Beispiele hierfür sind die Staatensouveränität oder die Gleichheit der Staaten, also solche Prinzipien – Eckpfeiler der Völkerrechtsordnung, wie sie sich auch in der VN-Charta wiederfinden – die in keinem anderen Rechtssystem als dem des Völkerrechts existieren, für dieses aber von grundlegender Bedeutung sind. H. Mosler, Stichwort „Generales Principles of International Law“, in: EPIL II, S. 511 f.; S. Kadelbach/T. Kleinlein, Überstaatliches Verfassungsrecht, in: AVR 44 [2006], S. 255 ff.; siehe auch den weitergehenden Ansatz bei T. Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht, S. 633 ff.) oder die schließlich in foro domes tico (hierunter fallen Prinzipien, die den innerstaatlichen Rechtsordnungen entlehnt sind). Diese seien durch wertende Rechtsvergleichung zu ermitteln und auf ihre Übertragbarkeit auf die Völkerrechtsordnung hin zu untersuchen. Dabei wird das allgemeine Konsenserfordernis nicht aufgehoben, sondern die von einer entsprechenden Überzeugung getragene Übung – im Unterschied zum Völkergewohnheitsrecht – aus der einheitlichen Anerkennung in foro domestico abgeleitet. Aufgrund der Schwierigkeiten bei der praktischen Ermittlung wird ihnen nur eine „lückenfüllende Funktion“ zugeschrieben. A. von Verdross, Les principes généraux du droit, in: RdC 52 (1935-II), S. 204 f.; H. Mosler, Stichwort „Generales Principles of International Law“, in: R. Bernhardt et al. (Hrsg.), EPIL II (1995), S. 511 f.; S. Kadelbach/T. Kleinlein, Überstaatliches Verfassungsrecht, in: AVR 44 (2006), S. 255 ff.; W. Vitzthum, in: ders./A. Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 1. Abschn., Rdnr. 142; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 606; W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 17, Rdnr. 1 ff. Darüber hinaus sollen auch Resolutionen der VN-Generalversammlung allgemeine Rechtsgrundsätze zu entnehmen sein (dies wird damit begründet, dass der Geltungsgrund dieser Rechtsquelle in der Anerkennung durch die Staaten liege, die äußere Form, in der sich Staaten zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen bekennen, aber unerheblich sei.) A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 606; ausführliche Kritik bei A. Bleckmann, Methodenlehre des Völkerrechts, S. 29 f. Gegenüber dem Völkervertragsrecht und dem Völkergewohnheitsrecht sind die allgemeinen Rechtsgrundsätze in der Regel subsidiär. Allerdings wird man sowohl das Völkervertragsrecht als auch das Völkergewohnheitsrecht anhand der allgemeinen Rechtsgrundsätze auslegen müssen, da diese einen höheren Wertrang als die anderen Rechtsquellen aufweisen und weil sie auf die gemeinsame Wertordnung der Mitgliedstaaten der Völkergemeinschaft zurückgreifen (A. Bleckmann, Völkerrecht, Rdnr. 237 a. E.).
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fen154. Diese Quellen sind seit Bestehen des StIGH155 durch Art. 38 seines Statuts156 allgemeingültig157 und heute auf die wortlautgleiche Nachfolge regelung des Art. 38 (1) IGH-Statut158 zurückzuführen. Weiterhin sind Rechtsquellen denkbar, soweit sie nicht unter die drei bereits genannten fallen und Übereinstimmung hinsichtlich ihrer jeweiligen Bindungswirkung besteht159. Exemplarisch hierfür sind sowohl Akte der GV als auch Resolutionen des SR. Da Erstere – gem. Art. 10 bis 14 VN-Charta – lediglich empfehlenden Charakter aufweisen160, kommen sie als eigene Rechtsquelle nicht in Betracht. Allerdings kann aus ihnen durchaus Gewohnheitsrecht erwachsen161. Resolutionen des SR hingegen entfalten – zumindest wenn sie nach Kapitel VII der VN-Charta getroffen wurden – gem. Art. 25 154 Im Überblick statt vieler W. Vitzthum, in: ders./A. Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 1. Abschn., Rdnr. 113 ff. 155 Der StIGH existierte als erstes permanentes Weltgericht von September 1922 bis April 1946 und war Vorgänger des IGH, dazu ausführlich O. Spiermann, in: A. Zimmermann et al. (Hrsg.), ICJ, Historical Introduction, Rdnr. 1 ff., sowie A. Pellet, ebd., Art. 38, Rdnr. 4 ff. 156 Statut des Ständigen Internationalen Gerichtshofs, RGBl 1927 II, S. 236–261. 157 Vgl. B. Roscher, Briand-Kellog-Pakt, S. 41. Vor Inkrafttreten des StIGH-Statuts entwickelten sich die Völkerrechtsquellen gewohnheitsrechtlich, wobei wiederum die dem Völkergewohnheitsrecht zugrunde liegende Staatenpraxis erst im beginnenden 19. Jahrhundert an völkerrechtlicher Bedeutung gewann. Das Bestehen dieser Rechtsquellen kann somit seit dieser Zeit als gesichert gelten. B. Schiffbauer, Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht, S. 218 (Fn. 7). 158 Statut des Internationalen Gerichtshofs, BGBl. 1973 II, S. 505–531. Art. 38 (1) IGH-Statut zählt nach gemeingültiger Auffassung die ersten drei unstreitig anerkannten Rechtsquellen des Völkerrechts auf. Die Norm lautet in ihrer autoritativen englischen Fassung: The Court, whose function is to decide in accordance with international law such disputes as are submitted to it, shall apply: a. international conventions, whether general or particular, establishing rules expressly recognized by the contesting states; b. international custom, as evidence of a general practice accepted as law; c. the general principles of law recognized by civilized nations; d. subject to the provisions of Article 59, judicial decisions and the teachings of the most highly qualified publicists of the various nations, as subsidiary means for the determination of rules of law. Die für gleichermaßen verbindlich erklärten – autoritativen – Sprachfassungen des IGH-Statuts als Bestandteil der VN-Charta (vgl. Art. 92 VN-Charta) sind gem. Art. 111 VN-Charta die chinesische, französische, russische, englische und spanische Version; auch wenn gem. Art. 39 (1) IGH-Statut die offiziellen Amtssprachen des Gerichtshofs Französisch und Englisch sind. Dazu M. Kohen, in: A. Zimmermann et al. (Hrsg.), The Statue of the ICJ, Art. 39, Rdnr. 2 und 22. 159 W. Vitzthum, in: ders./A. Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 1. Abschn., Rdnr. 148. 160 Vgl. Teil 2. Kap. 1, B., I. 161 W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 17, Rdnr. 23.
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Teil 2, Kap. 2: Der rechtliche Rahmen der NATO
VN-Charta unmittelbare Bindungswirkung für ihre Adressaten162. Eine allgemein verbindliche Quelle sind sie jedoch nicht, da sie sich aufgrund ihrer auf den Adressatenkreis beschränkten Bindungswirkung nicht an die gesamte Staatenwelt richten. Gleichwohl können durch sie zum Ausdruck vorgebrachte Argumentationslinien Erkenntnisse über den Inhalt von Gewohnheitsrecht liefern oder als allgemeine Rechtsgrundsätze interpretiert werden163 (einseitige Rechtsgeschäfte). Hinsichtlich dieser aufgezeigten tradierten Rechts(erkenntnis)quellen des Völkerrechts wurde bereits zu Zeiten des StIGH-Statuts in der Völkerrechtswissenschaft darüber gestritten, ob es ein Rangverhältnis unter den einzelnen Rechtsquellen gibt164. Dies ist für die Rechtsermittlung insoweit von Bedeutung, dass bei einer bestehenden Rangfolge die Reihenfolge der Quellenbearbeitung vorgegeben wäre. Die aufzählende Nennung der Quellen in Art. 38 (1) IGH-Statut könnte aus systematischen Gesichtspunkten als Hinweis auf eine absteigende Hierarchie gewertet werden, insbesondere da sich lit. d. als letzter Aufzählungspunkt explizit subsidiär gegenüber lit. a.–c. verhält. Zudem könnte auch eine „wesensmäßige Betrachtung“ der Quellen zu diesem Ergebnis führen. So bilden Verträge (lit. a.) die „erkennbar am besten auszuwertende und am bestimmtesten ausgeformte Rechtsquelle“, da zwischen den Parteien ein „unmittelbares, in Zeit und Ausmaß genau festgelegtes Rechtsverhältnis“ begründet wird. Das Gewohnheitsrecht bestimmt sich anhand fester Vorgaben165, „entwickelt sich jedoch weniger konkret und sichtbar als Verträge und ist nur unter deutlich höherem Aufwand nachweisbar“. Allgemeine Rechtsgrundsätze sind bereits nach dem Wortlaut „allgemein“. Zugleich erfordert ihre Ermittlung einen „Rückgriff auf sämtliche weltweit zu verzeichnenden Rechtsordnungen“ und damit einen erheblich höheren Aufwand bei zugleich nur abstrakter Analyse166. Daraus könnte der Grundsatz des Vorrangs des Vertragsrechts als lex specialis167 vor den beiden anderen Rechtsquellen abgeleitet werden – gleichwohl steht diese Auffassung im Widerspruch zur Judikatur des IGH und zur h. L., nachdem die drei primären Rechtsquellen als gleichrangig zu bewerten sind.
162 E. Klein/S. Schmahl, in: W. Vitzthum/A. Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 4. Abschn., Rdnr. 150 f. Vgl. auch Teil II. Kap. 1, B., I. 163 B. Schiffbauer, Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht, S. 219. 164 Zur Historie R. Billib, Die allgemeinen Rechtsgrundsätze, S. 168 ff. 165 S. u. Teil 2, Kap. 2, A. (S. 212 ff., Fn. 150). 166 S. u. Teil 2, Kap. 2, A. (S. 215 f., Fn. 151). 167 W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 21, Rdnr. 2.
A. Die Bindung internationaler Organisationen an das Völkerrecht 219
Daneben ist als Hauptfrage dieses Abschnitts zu klären, inwieweit internationale Organisationen – und damit auch das Nordatlantikbündnis – an die einzelnen Quellen gebunden sind. Unstreitig ist bei völkerrechtlichen Verträgen – aufgrund der Inter-partesWirkung – eine (völkerrechtliche) Bindung für alle Signatare gegeben. Nicht so eindeutig ist diese Frage in Bezug auf das allgemeine Völkerrecht zu beantworten. Heute geht die ganz h. M. davon aus, dass internationale Organisationen an das allgemeine Völkerrecht, also das Völkergewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze,168 gebunden sind.169 Diese Entwicklung erfolgte in mehreren Stufen170. Bei den VN wurde die grundsätzliche Möglichkeit einer Bindung internationaler Organisationen an das Völkerrecht bereits im Reparation for In juries-Gutachten des IGH von 1949 angelegt. Darin heißt es: „(B)y entrusting certain functions to it, with the attendant duties and responsibilities, (the Member States) have clothed it with the competence required to enable those functions to be effectively discharged“171.
Daraus leitete der Gerichtshof ab, dass die VN über eine eigene Rechtspersönlichkeit verfügen, um sogleich hinzuzufügen: „That is not the same as saying that it is a State, which is certainly is not, or that its legal personality and rights and duties are the same as those of a state […]. It does not even imply that all its rights and duties must be upon the international plane, any more than all the rights and duties of a state must be upon that plane. What it does mean is that it is a subject of international law and capable of possessing international rights and duties, and that it has capacity to maintain its rights by bringing international claims“172. 168 R. Higgins, Development of International Law, S. 1; G. Dahm/J. Delbrück/ R. Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/1, § 4, S. 51. Andere Autoren benutzen diesen Begriff ausschließlich mit Blick auf das Völkergewohnheitsrecht, s. B. Cheng, Custom, in: R. Macdonald/D. Johnston (Hrsg.), The Structure and Process of International Law, S. 526 und 548; M. Mendelson, The Formation of Customary International Law, in: RdC 272 (1998), S. 193. 169 So bereits H. Schermers, International Institutional Law, Vol. II, S. 628 ff.; C. Schreuer, Bindung internationaler Organisationen, in: K. Ginther et al. (Hrsg.), Völkerrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Realität, FS Karl Zemanek, S. 226, relativierend auf S. 241; M. Hirsch, Responsibility of International Organizations, S. 17; G. Hafner, The rule of Law and International Organizations, in: K. Dicke et al. (Hrsg.), Weltinnenrecht, LA Jost Delbrück, S. 309. 170 Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung Janiks, die in ihrer Arbeit die Bindung internationaler Organisationen an internationale Menschenrechtsstandards untersucht: C. Janik, Internationale Menschenrechtsstandards, S. 424 ff. 171 IGH, Reparation for Injuries Suffered in the Service of the United Nations, Advisory Opinion, ICJ Rep. 1949, S. 174 (179). 172 Ebd., S. 179.
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Teil 2, Kap. 2: Der rechtliche Rahmen der NATO
Danach ist eine internationale Organisation, sofern sie Völkerrechtspersönlichkeit besitzt, nicht automatisch mit einem Staat gleichzusetzen, aber zumindest in der Lage („capable of“), Trägerin von Rechten und Pflichten zu sein, ohne dass diese den Rechten und Pflichten eines Staates gleichen müssen. Auch wenn in dem Gutachten keine vollwertige Gleichstellung mit Staaten hergestellt wird, so impliziert die Zuerkennung von Völkerrechtssubjektivität, dass die Regeln des Völkerrechts grundsätzlich auch auf internationale Organisationen anwendbar sind, soweit sie sich übertragen lassen.173 Unter welchen Voraussetzungen eine dergestalte Übertragung möglich ist, wann eine internationale Organisation also in der Lage ist, Trägerin völkerrechtlicher Rechte und Pflichten zu sein, und um welche Rechte und Pflichten es sich dabei handelt, hat der IGH allerdings nicht beantwortet. Anknüpfungspunkt könnte die der internationalen Organisation übertragene Aufgabe sein, da sich die partielle Völkerrechtsfähigkeit gerade durch das beschränkte Mandat – entsprechend dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung – der Organisation begründen lässt. Daher werden sich die jeweiligen Rechte und Pflichten von Organisation zu Organisation unterscheiden174. Diese differenzierte Herangehensweise scheint der IGH mit dem WHOGutachten 1980175 scheinbar aufgegeben zu haben. Hier stellte er fest: „International organizations are subjects of international law and, as such, are bound by any obligations incumbent upon them under general rules of international law, under their constitutions or under international agreements to which they are parties“176.
Dies wurde von Teilen in der Literatur so gelesen, dass internationale Organisationen kraft Völkerrechtspersönlichkeit an das allgemeine Völkerrecht gebunden seien177. Allerdings lässt diese Interpretation außer Acht, dass ihnen nach dem Gutachten die Verpflichtungen zunächst obliegen müssen („any obligations incumbent upon them“). Heutzutage wird eine Bindung von internationalen Organisationen an das allgemeine Völkerrecht sowohl von weiten Teilen der Rechtsprechung und auch der Literatur als „fait acquis“ angenommen und nicht weiter thematisiert.178 173 P.-M. Dupuy/Y. Kerbrat, Droit international public, Rdnr. 136; J. Combacau/ S. Sur, Droit international public, S. 715. 174 P.-M. Dupuy/Y. Kerbrat, Droit international public, Rdnr. 166. 175 IGH, Interpretation of the Agreement of 25 March 1951 between the WHO and Egypt, Advisory Opinion, ICJ Rep. 1980, S. 73 ff. 176 Ebd., S. 89 f., Tz. 37. 177 P. Sands/P. Klein, Bowett’s Law of International Institutions, Rdnr. 14–37; I. Cameron, Human Rights, in: NJIL 72 (2003), S. 178. 178 E. David, Le Droit International Applicable aux Organisations Internationales, in: M. Dony/A. de Walsche (Hrsg.), FS Michel Waelbroeck (Bd. I), S. 5 mit Beispielen aus der Rechtsprechung des EuGH.
A. Die Bindung internationaler Organisationen an das Völkerrecht 221
Allerdings bezeugt die Völkerrechtssubjektivität lediglich das „Potenzial für eine Rechtsbindung“, nicht aber eine automatische vollumfängliche Bindung an das allgemeine Völkerrecht. Nach Auffassung von Janik müssen jedoch weitere Begründungselemente als die bloße Rechtssubjektivität hinzutreten179.
I. Autonome Bindung an das Völkergewohnheitsrecht Die h. M. geht heute davon aus, dass eine völkergewohnheitsrechtliche Norm als solche anerkannt ist, wenn sie auf einer von einer entsprechenden Rechtsüberzeugung getragenen Praxis beruht. Zudem soll maßgebend sein, dass neben Staaten auch internationale Organisationen an der von einer entsprechenden Rechtsüberzeugung getragenen Übung teilhaben, die zur Bildung von Gewohnheitsrecht geführt hat und es weiter fortbildet.180 Sofern diese Umstände vorliegen, soll gleichsam angenommen werden, dass auch die Staatengemeinschaft die Geltung des Völkergewohnheitsrechts für internationale Organisationen anerkennt181. Hingegen wird in der Literatur auch weiterhin darum gerungen, ob das Gewohnheitsrecht ausschließlich als zwischen Staaten gebildetes Recht182 zu betrachten ist und damit nicht auf andere Völkerrechtssubjekte ausgeweitet werden könne183. Diese Ansicht scheint jedoch unvereinbar mit dem Reparation for Injuries- und dem WHO-Gutachten. Denn in beiden Gutachten wurde anerkannt, dass internationale Organisationen eigene Rechtssubjekte sind und darüber hinaus im WHO-Gutachten bestätigt, dass sie Verpflichtungen 179 C. Janik,
Internationale Menschenrechtsstandards, S. 427. B. Simma, Völkergewohnheitsrecht, S. 38: „Die geltenden Gewohnheitsrechtsnormen stellen (…) ‚Momentaufnahmen‘ aus diesem Prozeß dar, wobei der ‚Moment‘ nach dem Grad der Dynamik der Rechtsentwicklung auf dem betreffenden zwischenstaatlichen Lebensgebiet kürzer oder länger währt“; M. Mendelson, The Formation of Customary International Law, in: RdC 272 (1998), S. 192: „The process of customary law is a continuing one which does not stop when the rule has emerged“. 181 C. Janik, Internationale Menschenrechtsstandards, S. 438. 182 Insbesondere weil das objektive Element der „allgemeinen Übung“ in Art. 38 Abs. 1 lit. b IGH-Statut auf die Übung der Staaten reduziert und deshalb synonym mit der „Staatenpraxis“ verwandt wird; vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 559 und § 562. 183 Andere Autoren betonen, dass der Wortlaut von Art. 38 Abs. 1 lit. b IGH-Statut offenlässt, ob es sich bei der „allgemeinen Übung“ nur um die Übung von Staaten handeln soll. Vgl. C. Tomuschat, Obligations Arising for States Without or Against Their Will, in: RdC 241 (1993-IV), S. 279; A. Peters, Völkerrecht-AT, S. 77, die den Begriff der „Staatenpraxis“ auch für internationale Organisationen mitdenken. Wiederum andere sprechen terminologisch von der Praxis der Völkerrechtssubjekte, vgl. W. Vitzthum, in: ders./A. Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 1. Abschn., Rdnr. 131; oder von der Praxis der Staaten und der anderen Völkerrechtssubjekte, M. Mendelson, The Formation of Customary International Law, in: RdC 272 (1998), S. 188 und 245. 180 Vgl.
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des allgemeinen Völkerrechts, so auch des Völkergewohnheitsrechts, obliegen können. Die Teilhabe am Normbildungsprozess soll jedoch – anders als bei Staaten – nicht in allen Bereichen möglich sein, sondern jeweils abhängig von der internationalen Organisation und dem Rechtsgebiet. Bleckmann ist der Auffassung, dass das Völkergewohnheitsrecht per Analogieschluss auch auf internationale Organisationen anwendbar sei184, da auch im Völkerrecht ein allgemeiner Gleichheitssatz bestehe, demzufolge die Rechtsordnung Gleiches gleich behandeln müsse185. Andere Autoren entgegnen, dass eine Teilnahme internationaler Organisationen an der Bildung des Völkergewohnheitsrechts entbehrlich sei, da es einen Grad an Selbständigkeit erreicht habe, dass es alle Völkerrechtssubjekte binde. So postuliert Tomuschat, dass das allgemeine Völkerrecht „einen Ordnungsrahmen bildet, der für die internationalen Beziehungen in ihrer Gesamtheit bestimmend“ ist und somit jedes Rechtssubjekt automatisch bindet186. Auch Clapham vertritt, dass internationale Organisationen bei der Entstehung von Völkergewohnheitsrecht von den Staaten als Empfänger mitgedacht wurden187. Wie bereits erwähnt, besteht in weiten Teilen der Literatur heutzutage generell Einigkeit dahingehend, dass auch internationale Organisationen als „Co-Autoren“ des Völkergewohnheitsrechts in Betracht kommen188. Insbesondere Entschließungen der GV der VN werden für die Entstehung von völkergewohnheitsrechtlichen Normen als mitentscheidend erachtet189. Verallgemeinern lässt sich die Rolle, die sie bei der Erzeugung von Völkergewohnheitsrecht spielen, allerdings nicht. Denn ob die „Handlung einer Internationalen Organisation als Organpraxis der Organisation oder als Teil der Staatenpraxis bzw. opinio iuris ihrer Mitgliedstaaten zählt, hängt von der Art 184 A. Bleckmann, Verbindlichkeit des allgemeinen Völkerrechts, in: ZaöRV 37 (1977), S. 113 ff. 185 Ders., ebd., S. 115. 186 C. Tomuschat, Die EU und ihre völkerrechtliche Bindung, in: EuGRZ 34 (2007), S. 4. 187 A. Clapham, Human Rights Obligations of Non-State Actors, S. 87; „The obligations arise because the international legal order considers these rights and obligations as generally applicable and binding on every entity that has the capacity“ (Hervorh. durch Verf.). 188 H. Schermers, The Legal Bases of International Organization Action in: R.-J. Dupuy (Hrsg.), Handbook on International Organizations, S. 402; A. Bleckmann, Verbindlichkeit des allgemeinen Völkerrechts, in: ZaöRV 37 (1977), S. 113; K. Schmalenbach, Stichwort: „International Organizations or Institutions, General Aspects“, in: EPIL 2006, online edition, Tz. 79 (zuletzt aufgerufen, am 15.02.2014); a. A. H. Mosler, International Society as a Legal Community, in: RdC 140 (1974-IV), S. 160. 189 H. Schermers, The Legal Bases of International Organization Action in: R.-J. Dupuy (Hrsg.), Handbook on International Organizations, S. 402.
A. Die Bindung internationaler Organisationen an das Völkerrecht 223
der Handlung ab, davon, welches Organ gehandelt hat190 und wie der Willensbildungsprozess in einem Organ verläuft.“ Deshalb bedarf es einer genauen Untersuchung, ob eine Rechtshandlung einer internationalen Organisation als echte Organisationspraxis aufgefasst werden kann. Generell können sie aber als Co-Autoren des Völkerrechts bezeichnet werden191. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass sowohl die verschiedenar tigen Geltungsgründe für das Völkergewohnheitsrecht als auch die entsprechend variierenden Voraussetzungen einer Bindung von Staaten an inter nationales Gewohnheitsrecht dem Grunde nach auf internationale Organisa tionen übertragbar sind. Die in der Literatur formulierten Vorschläge für eine andere Bewertung der Bindung an Völkergewohnheitsrecht von internationalen Organisationen gegenüber Staaten überzeugen nicht.
II. Autonome Bindung an allgemeine Rechtsgrundsätze Hinsichtlich der Übertragbarkeit auf internationale Organisationen bestehen keine grundsätzlichen Bedenken – insbesondere gegenüber den zuvor erstgenannten Gruppen. Denn Rechtsgrundsätze, die jeder Rechtsordnung immanent sind und Teil der Völkerrechtsordnung sein sollen, müssen sich auch automatisch auf alle Völkerrechtssubjekte erstrecken. Dementsprechend kann ebenfalls für die den internationalen Beziehungen entnommenen allgemeinen Rechtsgrundsätze, die sich gerade für die Völkerrechtsordnung herausgebildet haben und alle Völkerrechtssubjekte binden, nichts anderes gelten192. Damit ist für internationale Organisationen ebenfalls eine Bindung an die allgemeinen Rechtsgrundsätze gegeben.
190 So unterscheidet Akehurst danach, ob es sich (um) ein Organ handelt, das mit Repräsentanten aller Mitgliedstaaten besetzt ist – dessen Verhalten möchte er den Mitgliedstaaten zurechnen – oder ob dies, wie beim VN-Sekretariat, nicht der Fall ist, vgl. M. Akehurst, Custom as a Source of International Law, in: BYIL 47 (1974–1975), S. 11. 191 C. Janik, Internationale Menschenrechtsstandards, S. 451. 192 C. Janik, Internationale Menschenrechtsstandards, S. 496 ff. Janik widmet sich zudem der Frage, ob dies auch für die Übertragbarkeit der in foro domestico entstandenen allgemeinen Rechtsgrundsätze gilt. Obgleich sie hier zu dem Ergebnis gelangt, dass für die so entstandenen Prinzipien allgemeine Rechtsgrundsätze abgeleitet werden können, die auch Geltung für internationale Organisationen beanspruchen, plädiert sie für eine Modifikation bei der Herleitung.
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Teil 2, Kap. 2: Der rechtliche Rahmen der NATO
III. Autonome Bindung an das „ius cogens“ Wie voranstehend ausgeführt, ist eine Bindung internationaler Organisa tionen an die Rechtsquellen des Völkergewohnheitsrechts sowie der allgemeinen Rechtsgrundsätze gegeben. Gleichwohl soll abschließend auch ihre Bindung an das ius cogens erörtert werden. Neben den überwiegend dispositiven Normen des Völkerrechts gelten einige zwingende Normen (ius cogens)193, von denen die Völkerrechtssubjekte aufgrund der grundlegenden Bedeutung nicht – auch nicht durch vertragliche Vereinbarungen – abweichen dürfen. Daher ist jede Völkerrechtsnorm – sei sie vertraglicher, gewohnheitsrechtlicher Natur oder allgemeiner Rechtsgrundsatz – rechtlich unwirksam, wenn sie inhaltlich mit einer Ius-cogensNorm unvereinbar ist194. Welche Völkerrechtsnormen zwingenden (Norm-) Charakter besitzen, wird trotz der Regelung in der WVRK nicht benannt und ist weitestgehend umstritten195. Allgemein können sie als Normen definiert werden, die im Interesse der gesamten Staatengemeinschaft bestehen und tief im allgemeinen Rechtsbewusstsein verankert sind196. Ob eine Norm dazu zählt, richtet sich ebenfalls nach Struktur und Zielsetzung des Völkerrechtssystems der jeweiligen Epoche. Konsens besteht darin, dass das Gewalt- und Interventionsverbot sowie die Wahrung der grundlegenden Menschenrechte, wie sie in der Ächtung konkreter internationaler Verbrechenstatbestände – wie Völkermord, Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, Verbrechen gegen die Menschlichkeit – konkretisiert sind, dazugehören197. In Bezug auf die Bindung des ius cogens herrscht in der Literatur weitgehend Einigkeit, dass zwingendes Völkerrecht auch internationale Organisa tionen bindet198. Wie bereits bei den zuvor untersuchten Rechtsquellen unterscheiden sich lediglich die gefundenen Begründungsansätze199. 193 Vgl.
hierzu unter Teil 4, Kap. 5, B. von Heinegg, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 15, Rdnr. 36. 195 Zwar führt Art. 53 S. 2 WVRK auf, wann eine Norm zwingend ist, allerdings ohne entsprechende Nennung einer konkreten Norm. 196 A. Verdross, Die Quellen des universellen Völkerrechts, S. 27; S. Hobe, Völkerrecht, S. 180. 197 S. Hobe, Völkerrecht, S. 180; W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 15, Rdnr. 36; siehe hierzu auch Teil 4, Kap. 5, B. 198 K. Schmalenbach, Stichwort: „International Organizations or Institutions, General Aspects“, in: EPIL 2006, online edition, Tz. 79 (zuletzt aufgerufen, am 15.02.2015); H. Schermers, The Legal Bases of International Organization Action, in: R.-J. Dupuy (Hrsg.), Handbook on International Organizations, S. 402; E. David, Le Droit International Applicable aux Organisations, in: M. Dony/A. de Walsche (Hrsg.), FS Michel Waelbroeck (Bd. I), S. 20. 199 Vgl. C. Janik, Internationale Menschenrechtsstandards, S. 530 ff. 194 W. Heintschel
B. Rechtsgrundlagen und Hauptvereinbarungen der NATO 225
B. Rechtsgrundlagen und Hauptvereinbarungen der NATO Nachdem die Bindung internationaler Organisationen – und damit auch des Nordatlantikbündnisses – an die Rechtsquellen des Völkerrechts erörtert wurde, ist in einem nächsten Schritt darzulegen, wie die Rechtsgrundlagen und Hauptvereinbarungen des Verteidigungsbündnisses völkerrechtlich einzuordnen sind. Alle Quellen des Völkerrechts nach Art. 38 IGH-Statut gelten dabei für die NATO kraft deren Völkerrechtssubjektivität und, soweit sie als Verträge von den Mitgliedstaaten des Bündnisses oder der NATO selbst eingegangen worden sind, als Völkergewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze, die ihrem Inhalt nach auf internationale Organisationen anwendbar sind. Seit Anfang der 1990er-Jahre wurden mehrere „Strategische Konzepte“ und eine Vielzahl von Gipfelerklärungen verabschiedet. Fraglich ist, inwieweit die Konzepte und Erklärungen – neben dem NV – rechtliche Verbindlichkeit erlangt haben oder ob sie andernfalls lediglich als politisch oder moralisch verbindliche Dokumente bezeichnet werden können. Da sich jeweils die politischen und tatsächlichen Umstände geändert haben, die zur Erarbeitung der entsprechenden Dokumente geführt haben, gilt es, die rechtliche Qualität und Relevanz zu untersuchen und ggf. deren Stellung im Völkerrecht zu untersuchen.
I. Der NATO-Vertrag Der NV vom 4. April 1949 ist unstrittig ein multinationaler Vertrag i. S. d. Art. 1 WVK. Art. 2 Abs. 1 lit. a. WVK definiert „Vertrag“ als „[…] an international agreement concluded between States in written form and governed by international law, whether embodied in a single instrument or in two or more related instruments and whatever ist particular“.
Der Nordatlantikvertrag erfüllt sämtliche dieser Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 2 Abs. 1 a) WVK, obwohl gem. Art. 3 WVK die Merkmale der Schriftform und des Abschlusses durch Staaten nicht notwendige Voraussetzungen für das Bestehen eines Vertrages sind, sondern lediglich Anwendungsvoraussetzung für die WVK. Damit ist dieser als völkerrechtlicher Vertrag i. S. d. Art. 38 Abs. 1 lit. a IGH-Statut zu qualifizieren.
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Teil 2, Kap. 2: Der rechtliche Rahmen der NATO
II. Die „Strategischen Konzepte“ Im Zuge der erfolgten Neuausrichtung des Nordatlantikbündnisses nach den weltpolitischen Umwälzungen Anfang der 1990er-Jahre verabschiedete das Bündnis Strategische Konzepte200, welche die sicherheitsbezogenen Aufgaben des Bündnisses konkreter als im NV bestimmten. Bei den Strategischen Konzepten handelt es sich jeweils um sekundäres Gemeinschaftsrecht, das grundsätzlich auf dem primären Gemeinschaftsrecht (NV) fußt und mit diesem übereinstimmen muss. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, handelt es sich um ein Problem ultra vires201 und eine vertragswidrige Praxis, die mangels einer sie tragenden Rechtsüberzeugung nicht zu Völkergewohnheitsrecht werden kann. Somit ist darzulegen, ob die Strategischen Konzepte als Völkergewohnheitsrecht qualifiziert werden können. Wie im vorherigen Abschnitt ausführlich dargelegt, setzt die Umwandlung von zuvor rechtlich unverbindlichen Regeln in Völkergewohnheitsrecht einerseits eine konstante Staatenpraxis (usus) und andererseits eine sie tragende Rechtsüberzeugung (opinio iuris sive necessitatis) voraus. Auch bei dieser Rechtsquelle ist letztlich entscheidend, ob eine Staatenpraxis vorliegt, die von der Überzeugung getragen ist, dass das jeweilige Verhalten rechtlich verbindlich ist. Zu beantworten ist somit, ob in den „Strategischen Konzepten“ für die Mitgliedstaaten Verpflichtungen enthalten sind, aus denen völkerrechtliche Pflichten entspringen. Grundlage der Strategischen Konzepte war die – unter dem Eindruck der veränderten politischen Weltlage abgegebene – Londoner Erklärung vom 6. Juni 1990202, auf der die im Nordatlantikrat versammelten Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten beschlossen, eine umfassende Neugestaltung des Bündnisses einzuleiten. So kam es bereits im November 1991 zu einem neuen Strategischen Konzept (1991)203, welches einen „breit angelegten sicherheitspolitischen Ansatz“204 deklarierte. Allerdings benennt das Konzept keine konkreten Maßnahmen des Nordatlantikbündnisses zur Reaktion auf derartige sicherheitspolitische Risiken205. Insoweit gehen aus diesem Konzept keine völkerrechtlichen Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten einher. 200 Vgl.
hierzu Teil 1, Kap. 1, C. III. und IV. auf den Fall von Kompetenzüberschreitungen unter Teil 4, Kap. 1, B. 202 „Londoner Erklärung“ der Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitgliedstaaten vom 5.–6. Juli 1990 in London; abgedruckt in: EA 17/1990, D 456–460. 203 Vgl. Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitgliedstaaten am 7. und 8. November 1991 in Rom mit Verabschiedung des neuen Strategischen Konzepts, in: EA 47 (1992), S. D 52–64. 204 Ziffer 15. 205 Vgl. H. Sauer, Neues Konzept – alte Fragen, in: ZaöRV 62 (2002), S. 319. 201 Eingehend
B. Rechtsgrundlagen und Hauptvereinbarungen der NATO 227
Die programmatische Grundausrichtung des 1991er-Konzepts wurde auch beim Strategischen Konzept (1999)206 beibehalten, welches die Staats- und Regierungschefs auf der Tagung des Nordatlantikrates am 23. und 24. April 1999 in Washington anlässlich des 50. Jahrestags der NATO billigten. Der breite sicherheitspolitische Ansatz wird bekräftigt, indem insbesondere „Unterdrückung, ethnische Konflikte, wirtschaftliche Not, der Zusammenbruch politischer Ordnungen sowie die Verbreiterung von Massenvernichtungswaffen“ als komplexe neue Risiken für euro-atlantischen Frieden und Stabilität genannt werden207. Hinzu kamen jedoch Neuerungen, die unter dem Stichwort „Konfliktverhütung und Krisenbewältigung“ konkrete Per spektiven für den zukünftigen Handlungsspielraum des Bündnisses beschrieben. So ist das Bündnis in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen darum bemüht, „Konflikte zu verhüten oder, sollte eine Krise auftreten, in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht zu deren wirksamer Bewältigung beitragen, einschließlich durch die Möglichkeit der Durchführung von nicht unter Art. 5 fallenden Krisenreak tionseinsätzen“208.
Dies hat zur Konsequenz, dass innerhalb des Bündnisses die Vorstellung vorherrscht, die politischen und militärischen Möglichkeiten der NATO bei der Bewältigung von Krisen mittels Krisenreaktionseinsätzen aktiv einzusetzen. Unabhängig vom Willen der an dem NATO-Gipfel teilnehmenden Staats- und Regierungschefs, ist dies als Aufgabenerweiterung zu qualifizieren, da der NV „Krisenreaktionseinsätze“ nicht vorsieht.209 Auch im Schrifttum wurde die rechtliche Qualifizierung des 99er-Konzepts kontrovers diskutiert210. Unabhängig davon ist allerdings zu konstatieren, dass die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten einem Strategiepapier zugestimmt haben und dabei bekräftigten, dass die Ziele und Zwecke des Bündnisses die gleichen blieben. Das sagt zwar nichts darüber aus, ob die Handelnden nicht dennoch meinten, für die Mitgliedstaaten völkerrechtliche Verpflichtungen einzugehen. Aber es verdeutlicht, dass eine Herbeiführung dessen gerade nicht zwingend gewollt war211.
206 Abgedruckt in: Bulletin Nr. 24 v. 3. Mai 1999, S. 221–222; https://www.nato. int/cps/en/natohq/official_texts_27433.htm?mode=pressrelease (zuletzt aufgerufen, am 20. November 2013). 207 Abschnitt 3 des Konzepts. 208 Vgl. H. Sauer, Neues Konzept – alte Fragen, in: ZaöRV 62 (2002), S. 320; vgl. Ziffer 31 des Konzepts. 209 So auch T. Bauer-Savage, Die völkerrechtliche Verwandlung der NATO, S. 69 f. 210 Hierzu ausführlich unter Teil 3, Kap. 2, B. 211 A. A. T. Bauer-Savage, Die völkerrechtliche Verwandlung der NATO, S. 69 f.
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Teil 2, Kap. 2: Der rechtliche Rahmen der NATO
Im Rahmen des Strategischen Konzepts 2010212 wird das Bündnis – wie bereits ausgeführt – als ein „multipler Sicherheitsanbieter“ beschrieben, dem „eine eindeutige Festlegung der strategischen Reichweite wie zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes unmöglich“ ist213. Als Kernaufgabe werden „die Wahrung der Freiheit und der Sicherheit der Mitgliedstaaten mit politischen und militärischen Mitteln in den drei Bereichen kollektive Verteidigung (collective defence), Krisenmanagement (crisis management) und kooperative Sicherheit (cooperative security) genannt“.214 Insgesamt ist aber auch dieses Konzept zunächst einmal als Strategiepapier einzuordnen, ohne Herbeiführung konkreter Verpflichtungen seitens der Mitgliedstaaten. Im Ergebnis sind die Strategischen Konzepte des Nordatlantikbündnisses damit nicht als völkergewohnheitsrechtliche Rechtsquellen zu qualifizieren. Darüber hinaus scheidet auch eine Qualifizierung als allgemeine Rechtsgrundsätze aus. Letztlich besitzen die Strategischen Konzepte keine eigenständige völkerrechtliche Rechtsquellenqualität.
III. Die Gipfelerklärungen Wie zuvor bei den Strategischen Konzepten bereits ausgeführt, könnte es sich auch bei den Gipfelerklärungen215 der Staats- und Regierungschefs grundsätzlich um sekundäres Gemeinschaftsrecht handeln, wenn deren Vor212 Vgl. „Active Engagement, Modern Defence“. Strategic Concept for the Defence and Security of the Members of the North Atlantic Treaty Organisation adopted by Heads of State and Government in Lisbon, online: http://www.nato.int/cps/en/ natohq/official_texts_68580.htm (zuletzt aufgerufen, am 10. Dezember 2014). 213 J. Varwick, Neue Strategische Konzept der NATO, in: APuZ 2010 (50/2010), S. 29. 214 Vgl. Strategisches Konzept, Ziff. 4. 215 Seit der historischen Zeitenwende und dem „Epochenjahr“ 1989 gab es folgende (Gipfel-)Erklärungen der Staats- und Regierungschefs: „Londoner Erklärung“ vom 6. Juni 1990; „Erklärung von Rom über Frieden und Zusammenarbeit“ auf der NATOGipfelkonferenz vom 7. und 8. November 1991 in Rom; Erklärung auf der NATOGipfelkonferenz vom 10. und 11. Januar 1994 in Brüssel; „Grundakte“ NATO-Russland vom 27. Mai 1997 in Paris; „Erklärung von Madrid“ vom 8. und 9. Juli 1997; „Kommuniqué anlässlich des 50. Jahrestages der NATO“ vom 23. und 24. April 1999; Erklärung „NATO-Russland-Beziehungen“ vom 28. Mai 2002 in Rom; Erklärung vom 21. und 22. November 2002 in Prag; „Kommuniqué“ vom 28. und 29. Juni 2004 in Istanbul; „Gipfelerklärung von Riga“ vom 29. November 2006; „Gipfelerklärung von Bukarest 2008“ vom 2.–4. April 2008; Erklärungen auf dem NATO-Gipfel in Straßburg/Kehl vom 3. und 4. April 2009; Erklärungen auf dem NATO-Gipfel in Lissabon vom 19. und 20. November 2010; Erklärungen auf dem NATO-Gipfel in Chicago vom 20. und 21. Mai 2012. Alle Gipfelerklärungen sind abrufbar unter: http://www.nato. diplo.de/Vertretung/nato/de/06/Gipfelerklaerungen/Gipfelerkl_C3_A4rungen.html (zuletzt aufgerufen, am 22. November 2013).
C. Der völkerrechtliche Zugang der NATO zu militärischen Maßnahmen 229
aussetzungen vorliegen. Allerdings fehlt es bereits an einem Rechtsbindungswillen der jeweils beteiligten Staats- und Regierungschefs bzw. der von ihnen vertretenen Staaten, sodass die Gipfelerklärungen lediglich Auslegungsvereinbarungen bzw. Konkretisierungserklärungen zum NV darstellen. Insoweit sind sie unterhalb der Vertragsschwelle einzuordnen. Zudem kann aus ihnen – was zu einem späteren Zeitpunkt ausführlich dargelegt216 wird – auch kein Völkergewohnheitsrecht abgeleitet werden.
C. Der völkerrechtliche Zugang der NATO zu militärischen Maßnahmen In diesem Abschnitt wird dargestellt, auf welcher völkerrechtlichen Grundlage die NATO den Zugang zu militärischen Maßnahmen erhält. Vor dem Hintergrund, dass in Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta ein allgemeines zwischenstaatliches Gewaltverbot kodifiziert ist, wird erörtert, welche Handlungsoptionen dem Nordatlantikbündnis im System der VN217 zur Verfügung stehen.
I. Der Art. 51 VN-Charta als Rechtfertigungsgrund der Existenz und völkerrechtliche Ermächtigungsnorm für militärische Interventionen der NATO In der VN-Charta sind vier Tatbestände218 enthalten, nach denen die Anwendung von Gewalt zulässig ist. Für das Nordatlantikbündnis hat dabei das in Art. 51 VN-Charta normierte Recht der Staaten zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung – welches wegen des unbeschränkten Kriegführungsrechts der Staaten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkriegs allenfalls friedensrechtlich eine Rolle spielte219 – 216 Vgl.
Teil 3, Kap. 2, B. I. der Zusammenschau von Art. 24 Abs. 1 VN-Charta („Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“) und Art. 39, 42 VN-Charta (Feststellung, ob Bedrohung oder Bruch des Friedens oder Angriffshandlung vorliegt; Militärische Sanktionen) ergibt sich – auch wenn die Befugnisse des SR nicht grenzenlos sind – die Annahme, nach der die Gewaltanwendung des SR die Regelausnahme zum Gewaltverbot darstellt. M. Kühn, Unilaterale präventive Gewaltanwendung, S. 218 m. w. N. 218 Das ist das Recht auf Ausübung von Selbstverteidigung (Art. 51 VN-Charta), das Recht des SR, kollektive Zwangsmaßnahmen zu ergreifen (Art. 42 ff. VN-Charta), das Recht von Regionalorganisationen, Zwangsmaßnahmen zu ergreifen (Art. 53 VNCharta) und die Sonderrechte gegenüber ehemaligen Feindstaaten (Art. 53 Ziff. 1 S. 2, Art. 107 VN-Charta). 219 I. Brownlie, International Law and the Use of Force by States, S. 424; D. Bowett, Self-Defense in International Law, S. 272. 217 Aus
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Teil 2, Kap. 2: Der rechtliche Rahmen der NATO
eine herausragende Bedeutung. Die englische Sprachfassung lautet wie folgt: „Nothing in the present Charter shall impair the inherent right of individual or collective self-defence if an armed attack occurs against a Member of the United Nations, until the Security Council has taken measures necessary to maintain international peace and security. Measures taken by Members in the exercise of this right of self-defence shall be immediately reported to the Security Council and shall not in any way affect the authority and responsibility of the Security Council under the present Charter to take at any time such action as it deems necessary in order to maintain or restore international peace and security“.
Diese Norm lässt das gewohnheitsrechtlich anerkannte Notwehrrecht220 der Staaten in seinem Kern unberührt. Gleichwohl bestehen aufgrund der Entstehungsgeschichte221 dieser Norm differente Auffassungen hinsichtlich 220 Vgl.
hierzu Teil 2, Kap. 1, C. II. Selbstverteidigungsrecht war gewohnheitsrechtlich seit jeher anerkannt, auch wenn z. B. in der Völkerbundsatzung auf eine Kodifizierung des Selbstverteidigungsrechts verzichtet wurde. Ihre Voraussetzungen hatten durch den damaligen USamerikanischen Außenminister Daniel Webster anlässlich des Caroline-Zwischenfalls von 1837 – bei dem das amerikanische Dampfschiff Caroline von britischen Truppen zerstört und zwei US-amerikanische Staatsbürger getötet wurden und dessen Hintergrund in der kanadischen Rebellion gegen die britische Kolonialherrschaft zu finden ist – die folgende, bis heute fortwirkende Formulierung (sog. „Webster-Formel“) gefunden, wonach Selbstverteidigung dann zulässig ist, wenn eine unmittelbare, überragende Notwendigkeit zur Selbstverteidigung, die keine Wahl der Mittel und keine Zeit zu weiterer Überlegung lässt, gegeben ist und die ergriffenen Maßnahmen nicht abwegig oder exzessiv sind („[…] the necessity of self-defence, instant, overwhelming, leaving no choice of means, and no moment for deliberation […] did nothing unreasonable or excessive […]“). Hierzu umfassend J. Wolf, Caroline Case, passim; C. Kreß/B. Schiffbauer, Erst versenkt, dann zu Völkerrecht erhoben, in: JA 8–9/2009, S. 611 ff.; B. Schiffbauer, Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht, S. 256 ff.; M. Kühn, Unilaterale präventive Gewaltanwendung, S. 153 ff.; T. Gill, The Temporal Dimension of Self-Defense, in: M. Schmitt/J. Pejic (Hrsg.), International Law and Armed Conflict, FS Yoram Dinstein, S. 125, der darauf hinweist, dass es sich um einen „Vorfall“ und keinen „Fall“ i. e. S. handelt, da der Sachverhalt nie vor einem rechtlich implementierten Spruchkörper verhandelt wurde. Der Austausch der jeweiligen Rechtsansichten zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich erfolgte – wie die letztliche Streitbeilegung – ausschließlich auf diplomatischem Wege. Rechtlich bedeutsam wurde die Selbstverteidigung mit dem Briand-Kellogg-Pakt, der im feierlichen Verzicht auf den „Krieg als Werkzeug nationaler Politik“ – auch wenn außer dem Verlust der vertraglichen Vorteile keine Sanktionen vorgesehen waren – das Verbot und damit die Völkerrechtswidrigkeit eines solchen Kriegs impliziert (vgl. Art. 1 Gesetz zu dem Vertrag über die Ächtung des Krieges, RGBl. 1929 II, S. 97; R. Derpa, Das Gewaltverbot der Satzung der VN, S. 100; I. Brownlie, International Law and the Use of Force by States, S. 424). Als zu verteidigende Rechtsgüter werden – als Ausfluss der naturrechtlichen Identifizierung des Territoriums mit dem menschlichen Körper (vgl. D. Bowett, Self-Defense in International Law, S. 29 m. w. N.) – vor allem die drei konstitutiven Elemente des Staates genannt (vgl. „Drei221 Das
C. Der völkerrechtliche Zugang der NATO zu militärischen Maßnahmen 231
der Rechtsnatur und der Reichweite. Im Ergebnis inkludiert Art. 51 VNCharta somit eine abschließende Spezialregelung für die kollektive Selbstverteidigung „nach innen und außen“, wodurch die Anwendung von Kapitel VIII der VN-Charta auf diese Funktion ausgeschlossen wird. Für ein Vorgehen gegen einen Mitgliedstaat im Rahmen eines von einer Regionalorganisation vorgesehenen Mechanismus der kollektiven Sicherheit sind hingegen die Voraussetzungen des Art. 53 Ziff. 1 VN-Charta zu beachten.222 Nachfolgend werden Inhalt und Umfang des (kollektiven) Selbstverteidigungsrechts spezifisch fokussiert. 1. Inhalt und Umfang des (kollektiven) Selbstverteidigungsrechts Nach der systematischen Einordnung des kollektiven Selbstverteidigungsrechts im Rahmen der VN-Charta sind nunmehr die Voraussetzungen und Rechtsfolgen des Art. 51 VN-Charta darzustellen. Begrifflich wird unter dem Recht zur kollektiven Selbstverteidigung die Befugnis eines Staates verstanden, einem mit Waffengewalt angegriffenen Staat im Wege der Nothilfe Beistand zu leisten, wobei es unerheblich ist, ob der hilfeleistende Staat sich in der konkreten Situation selbst einem das Recht zur individuellen Selbstverteidigung begründenden bewaffneten Angriff ausgesetzt sieht oder nicht223. Seinem Zweck nach dient es dem Schutz von Rechten, die Einzelstaaten zustehen und von diesen auf eigene Initiative hin ausgeübt werden können224. Anhand des Wortlauts von Art. 51 VN-Charta, der „das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ normiert, wird in Teilen der (anglo-amerikanischen) Literatur die Ansicht vertreten, das Selbstverteidigungsrecht extensiv auszulegen. Danach soll das völkerrechtlich anerkannte Selbstverteidigungs- und Selbsthilferecht eines jeden Staates nicht eingeschränkt sein, weshalb Art. 51 VN-Charta lediglich eine deklaratorische Funktion zukomme.225 Andere (kontinental-europäische) Stimmen in Elementen-Lehre“ – Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt – von Georg Jellinek, in: G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 13. Kapitel, S. 394 ff.). „Insoweit entspricht dem klassischen territorialen Konzept der Aggression die klassische territoriale Konzeption der Selbstverteidigung, die eine Beschränkung des Verteidigungsrechts auf die Abwehr physischer, d. h. in der Regel militärischer Gewalt bedingt (…) aber nicht zwingend (ist)“ (R. Derpa, Das Gewaltverbot der Satzung der VN, S. 101). 222 C. Walter, VN und Regionalorganisationen, S. 90. 223 A. Randelzhofer, in: B. Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Art. 51, Rdnr. 32; H. Fischer, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 59, Rdnr. 41; I. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rdnr. 1787. 224 H. Körbs, Friedenssicherung durch die VN nach Kapitel VIII, S. 175 f. 225 D. Bowett, Self-Defense in International Law, S. 22 ff., 146 ff. und 184 ff.
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der Literatur plädieren allerdings dafür, Art. 51 VN-Charta restriktiv auszu legen. So habe die VN-Charta das völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Recht auf Selbstverteidigung präzisieren wollen, indem es die Ausnahme vom Gewaltverbot lediglich gegen bewaffnete Angriffe erlaube, die sich gegen die Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit eines Staates richten226. Das „naturgegebene Recht zur Selbstverteidigung“ habe lediglich eine klarstellende Funktion, da das in Art. 51 VN-Charta normierte Selbstverteidigungsrecht grundsätzlich auch den Nichtmitgliedstaaten zusteht227. Orientiert man sich an den gesetzten Zielen der VN-Charta – insbesondere dem Friedensgebot – dann ist den europäischen Vertretern zu folgen, um nicht das universelle Gewaltverbot des Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta „leerlaufen“ zu lassen. a) Der „bewaffnete Angriff“ i. S. d. Art. 51 VN-Charta Die Geltendmachung des Selbstverteidigungsrechts setzt voraus, dass ein Staat dem „bewaffneten Angriff“ eines anderen Mitgliedstaates der VN ausgesetzt ist. Dieser „Schlüsselbegriff“ des Selbstverteidigungsrechts und seine Auslegung entscheiden darüber, inwieweit einzelstaatliche Gewaltanwendung zulässig ist228. Der Begriff des Angriffs findet sich in der VN-Charta in Art. 1 Ziff. 1, 39, 51 und 53; allerdings ohne jede Präzisierung. Die am 14. Dezember 1974 durch die GV der VN229 erfolgte Definition des Begriffs „Aggression“ ist insgesamt lediglich bedingt aussagekräftig. Zum einen haben Resolutionen der GV gegenüber jenen des SR eine schwächere Bindungswirkung – gleichwohl sind sie dabei nicht bloß politisch verbindlich. Zum anderen ist die Resolution zur Konkretisierung des Begriffs der Angriffshandlung („act of aggression“) in Art. 39 VN-Charta und nicht zur Definition des „bewaffneten Angriffs“ i. S. d. Art. 51 VN-Charta ergangen230. Nicht nur deshalb existiert 226 A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 470; I. Brownlie, Interna tional Law and the Use of Force by States, S. 251 ff.; D. Blumenwitz, Das universelle Gewaltanwendungsverbot, in: BayVBl. 1986, S. 738. 227 D. Schindler, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, in: ders./ K. Hailbronner (Hrsg.), Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 26 (1986), S. 17. 228 A. Randelzhofer, in: B. Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Art. 51, Rdnr. 15. 229 Resolution 3314 (XXIX) vom 14. Dezember 1974, in: EA 30 (1975), D 318–D 320. 230 D. Blumenwitz, Das universelle Gewaltanwendungsverbot, in: BayVBl. 1986, S. 738; A. Randelzhofer, in: B. Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Art. 51, Rdnr. 16; K. Kersting, Anmerkungen zur Aggressionsdefinition der VN, in: NZWehrr. 23 (1981), S. 132 f.
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bis dato keine allgemein akzeptierte Begriffsbestimmung des „bewaffneten Angriffs“. Gleichwohl besteht Einigkeit darüber, dass der Begriff gegenüber dem der „Angriffshandlung“ enger ist. Denn würde in jeder Aggressionshandlung auch ein bewaffneter Angriff gesehen werden, wäre die nach der Konzeption der VN-Charta angestrebte Friedenssicherung gefährdet. Insoweit verlangt ein „bewaffneter Angriff“ mehr als eine Aggression. Darunter kann allerdings nicht jegliche Gewaltanwendung i. S. d. Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta subsumiert werden, sondern nur solche (militärische) Gewaltanwendung, die eine „gewisse Intensität“ erreicht hat.231 Die Resolution 3314 (XXIX) der GV ist daher – trotz der genannten Einschränkungen – nützlich für die Auslegung232 des Begriffs des „bewaffneten Angriffs“, da in Art. 3 der Resolution einzelne „Angriffshandlungen“ aufgezählt werden, die als „bewaffnete Angriffe“ i. S. d. Art. 51 VN-Charta zu qualifizieren sind233. Dies gilt für die in Art. 3 a) der Resolution enthaltene Invasion oder den Angriff durch Streitkräfte eines Staates auf dem Gebiet eines anderen Staates – ebenso wie für die in Art. 3 b) der Resolution genannte Beschießung oder Bombardierung fremden Gebiets. Dies jedoch alles unter der Voraussetzung, dass die militärischen Handlungen einen „größeren Umfang“ erreichen234 – was bei Invasionen regelmäßig der Fall sein dürfte; wohingegen „Angriffe“, „Beschießungen“ und „Bombardierungen“ nicht ausnahmslos eine entsprechende Intensität erreichen. Auch die in Art. 3 c) der Resolution aufgeführte Blockade ist als bewaffneter Angriff zu qualifizieren235, wenn sie 231 Kleinere Grenzzwischenfälle und auch verbotene Einflüge fremder Flugzeuge (Ausnahme Kampfflugzeuge) sollen für die Auslösung des Selbstverteidigungsrechts nicht ausreichend sein. Andererseits ist es auch nicht erforderlich, dass Truppen die Grenze überschreiten; D. Blumenwitz, Das universelle Gewaltanwendungsverbot, in: BayVBl. 1986, S. 739. 232 Eine Gleichsetzung der in Art. 3 der Aggressionsdefinition aufgeführten Schädigungshandlungen mit einem „bewaffneten Angriff“ i. S. d. Art. 51 VN-Charta, wie sie Kersting (K. Kersting, Anmerkungen zur Aggressionsdefinition der VN, in: NZWehrr. 23 (1981), S. 143) vornimmt, ist jedoch abzulehnen; D. Blumenwitz, Das universelle Gewaltanwendungsverbot, in: BayVBl. 1986, S. 739. 233 A. Randelzhofer, in: B. Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Art. 51, Rdnr. 20. 234 So ist die ebenfalls in Art. 3 a) der Resolution genannte „militärische Besetzung als Folge einer solchen Invasion oder eines solchen Angriffs (…) (und die) gewaltsame Einverleibung (fremden Gebiets)“ nicht zwingend als „bewaffneter Angriff“ zu bewerten, da diese Handlungen – wie z. B. Okkupation und Annexion – nicht notwendigerweise die Anwendung von militärsicher Gewalt einschließen. A. Randelz hofer, in: B. Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Art. 51, Rdnr. 21. 235 Dabei ist unerheblich, ob die Sperrung des Zugangs der Häfen und Küsten durch See-, Luft- oder Landstreitkräfte erfolgt.
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„effektiv“236 aufrechterhalten wird. Zwar ist die Definition lediglich auf den Zugang zu Küsten und Häfen eines Staates beschränkt. Aber auch die Sperrung des Durchgangsverkehrs zur offenen See über Land ist als ein bewaffneter Angriff i. S. d. Art. 51 VN-Charta einzustufen, wenn die Blockade durch das Abschneiden aller Verbindungswege zu einer der militärischen Invasion gleichstehenden Beeinträchtigung führt. Weiterhin führt Art. 3 d) der Resolution auf, dass Angriffe auf Land-, See- oder Luftstreitkräfte oder auf die zivile See- oder Luftflotte eines anderen Staates als „Angriffshandlungen“ zählen und als „bewaffneter Angriff“ zu bewerten sind, sofern auch hier die Gewaltanwendung einen größeren Umfang erreicht hat237. Schließlich werden in Art. 3 e) bis g)238 der Resolution weitere Angriffshandlungen definiert, nach denen ebenfalls ein das Selbstverteidigungsrecht des Art. 51 VN-Charta auslösender „bewaffneter Angriff“ angenommen werden kann239. Letztlich wird – trotz der Definition in der Resolution 3314 (XXIX) – die Feststellung, ob ein „bewaffneter Angriff“ vorliegt, immer anhand des Einzelfalls zu beurteilen sein240. b) Die „präventive“ Selbstverteidigung Neben der inhaltlichen Ausgestaltung ist die Frage zu beantworten, wie weit das Selbstverteidigungsrecht zielt. Umstritten ist insbesondere, ab wel236 K. Kersting,
Bündnisfall und Verteidigungsfall, S. 72. besteht Einigkeit darüber, dass Kriegsschiffe oder Kampfflugzeuge, die auf hoher See bzw. im hoheitsfreien Luftraum durch fremde Streitkräfte angegriffen werden, sich unter Anwendung von militärischer Gewalt verteidigen dürfen. Ebenso soll dies für im Ausland befindliche militärische Einheiten eines Staates gelten, die durch Streitkräfte des Aufenthaltsstaates oder eines dritten Staates angegriffen werden. A. Randelzhofer, in: B. Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Art. 51, Rdnr. 23 m. w. N. 238 In Art. 3 e) der Resolution werden die Verletzung von Stationierungsabkommen sowie in Art. 3 f) die Überlassung des eigenen Staatsgebiets für Angriffshandlungen eines dritten Staates aufgeführt, dessen praktische Relevanz jedoch gering ist. Nach Art. 3 g) der Resolution zählt auch die Beteiligung an der Gewaltanwendung militärisch organisierter nichtstaatlicher Verbände als Angriffshandlung. Es ist anerkannt, dass bestimmte Arten der „indirekten Gewaltanwendung“ (vgl. hierzu D. Schindler, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, in: ders./K. Hailbronner [Hrsg.], Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 26 [1986], S. 32 ff.) unter den Begriff des „bewaffneten Angriffs“ fallen, was auch der IGH im Nicaragua-Urteil v. 27. Juni 1986 (vgl. ICJ Reports 1986 [Anm. 15], 14 [103], § 195) bestätigt hat. 239 Umfassend zur inhaltlichen Ausgestaltung des Begriffs „bewaffneter Angriff“ A. Randelzhofer, in: B. Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Art. 51, Rdnr. 21 ff. m. w. N. 240 Bezogen auf die in dieser Arbeit zu untersuchenden Anlassfälle, ausführlich unter Teil 4, Kap. 3, A. II. 2. a). 237 Es
C. Der völkerrechtliche Zugang der NATO zu militärischen Maßnahmen 235
chem Zeitpunkt Staaten Selbstverteidigungsmaßnahmen gegen einen bewaffneten Angriff zulässigerweise ausüben dürfen. Die Frage des Zeitpunkts betrifft vor allem die grundsätzliche Problematik, ob vorbeugende bzw. präventive Selbstverteidigungsmaßnahmen zulässig sind. So geht die „präventive“ Verteidigung auf die Vorstellung zurück, dass der Staat das Recht haben muss, sich zu schützen, indem er einer Situation zuvorkommt, in der es zu spät sein kann, um sich wirksam zu schützen241. Allerdings spricht der (deutsche) Wortlaut von Art. 51 VN-Charta auf den ersten Blick gegen die Zulässigkeit jeder Art präventiver Verteidigung. Denn die Vorschrift besagt, dass das Selbstverteidigungsrecht der Staaten lediglich im „Falle eines bewaffneten Angriffs“ zulässig sein soll. Gegen eine derartige Sichtweise wird zunächst angeführt, dass diese nicht durch Art. 2 der Aggressionsdefinition242 der GV gestützt wird. Zwar ist auch dort festgelegt, dass die erste Anwendung von bewaffneter Gewalt den Prima-facie-Nachweis für das Vorliegen einer Aggression begründet. Gleichwohl wird daraus geschlossen, dass ein absolutes Verbot eines Präventivschlags nicht ableitbar ist, da Art. 2 der Resolution ebenfalls besagt, dass der SR „angesichts anderer bedeutender Umstände“ berechtigt ist, in einer derartigen Situation keine Angriffshandlung anzunehmen. Insofern kann ein Präventivschlag in besonderen Ausnahmesituationen – d. h. letztlich nur im Falle eines bevorstehenden militärischen Angriffs243 – gerechtfertigt werden244. Ferner ist im Rahmen ebendieser Problematik auf zwei Veröffentlichungen einzugehen, die sich umfassend mit der präventiven bzw. vorbeugenden Selbstverteidigung auseinandergesetzt haben245. Es handelt sich hierbei um 241 K. Kersting, Bündnisfall und Verteidigungsfall, S. 96 f.; K. Hailbronner, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, in: D. Schindler/ders. (Hrsg.), Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 26 (1986), S. 80. 242 Vgl. Resolution 3314 (XXIX) v. 14. Dezember 1974, in: EA 30 (1975), D 319. 243 Erforderlich soll nach der berühmten Formulierung Websters im Caroline Zwischenfall eine Situation sein „in which the necessity of self-defence, instant, overwhelming, leaving no choice of means, and no moment for deliberation“. Nicht ausreichend sollen hingegen Drohungen mit dem Einsatz militärischer Mittel, die Errichtung militärischer Stützpunkte oder Raketenbasen, die Mobilmachung von Truppen oder demonstrative Truppenbewegungen sein. Ein Grenzfall dürfte ein mit militärischen Demonstrationen unterstütztes Ultimatum sein. 244 L. Wildhaber, Gewaltverbot und Selbstverteidigung, in: W. Schaumann (Hrsg.), Völkerrechtliches Gewaltverbot und Friedenssicherung, S. 153 f.; K. Hailbronner, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, in: D. Schindler/ders. (Hrsg.), Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 26 (1986), S. 80 f. 245 Daneben gibt es eine weitere Monografie aus dem Jahr 2007: M. Kunde, Der Präventivkrieg, passim.
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Teil 2, Kap. 2: Der rechtliche Rahmen der NATO
die Arbeiten Kühns246 sowie Schiffbauers247, die beide jeweils untersuchen, ob und in welchem Maße ein Recht zur präventiven Selbstverteidigung besteht. Konkret lautet Kühns Forschungsfrage, „ob und ggf. in welchem Umfang im Rahmen des gegenwärtigen Gewaltregelungsregimes248 ein – unilaterales – Recht zur präventiven Gewaltanwendung mit Blick auf die Gefahr eines bewaffneten Angriffes bzw. eines nicht-staatlichen Angriffsgeschehens existiert“. Er unterteilt den Untersuchungsgegenstand in vier Einzelkonzepte249, um die möglichen konkreten Rechtsgrundlagen250 dahingehend zu untersuchen. Nach Auslegung von Art. 51 VN-Charta gelangt er zu dem Schluss, „dass das vertragsrechtliche Selbstverteidigungsrecht – ohne Berücksichtigung einer späteren Übung – lediglich ein Recht zur interzipierenden251 Selbstverteidigung gewährt“. Einen über die interzipierende Selbstverteidigung hinausgehenden zeitlichen Anwendungsbereich verneint er, sodass lediglich gewaltsame Verteidigungshandlungen gedeckt sind, „die ein Staat nach Beginn eines bewaffneten Angriffes, aber noch vor Eintritt des Angriffserfolges unternimmt“252. 246 M. Kühn,
Unilaterale präventive Gewaltanwendung, passim. Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht, passim. 248 Unter Gewaltregelungsregime wird dabei die Gesamtheit der „rules relating to the use of force in international relations“ (IGH, Military and Paramilitary Activities (Nicaragua/USA), Urt. v. 27. Juni 1986, ICJ Rep. 1986, S. 98, § 187) verstanden, also Art. 2 Ziff. 4, Art. 39 ff., Art. 51, Art. 53 und Art. 107 VN-Charta sowie korrespondierende bzw. ergänzende gewohnheitsrechtliche Normen. Das ‚ius in bello‘ bleibt dagegen ausgeklammert. 249 Namentlich in die interzipierende Selbstverteidigung, die antizipierte Verteidigung und die präemptive Verteidigung soweit die bereits manifestierte, konkrete oder abstrakte Gefahr eines Angriffs i. S. d. Art. 51 VN-Charta von einem Staat ausgeht oder diesem zurechenbar ist. Zudem in die präemptive Gewaltanwendung soweit die tatbestandliche Gefahrenlage in der abstrakten Gefahr eines nichtstaatlichen (einem solchen auch nicht zurechenbaren) Angriffsgeschehens besteht. M. Kühn, Unilaterale präventive Gewaltanwendung, S. 98 ff. 250 Kühn gelangt zu dem Ergebnis, dass die VN-Charta „(lediglich) ein formell abschließendes Gewaltregelungsregime darstellt“, sodass auch Rechtsgrundlagen außerhalb der VN-Charta bestehen können. Letztlich aber alleine das Selbstverteidigungsrecht – vertraglich wie gewohnheitsrechtlich – als Rechtsgrundlage in Betracht zu ziehen ist. Ders., ebd., S. 464 f. 251 Der von Yoram Dinstein geprägte Begriff der interceptive self-defence bezeichnet das engste Verständnis und stellt genau genommen die Schnittstelle zwischen reaktiver und präventiver Selbstverteidigung dar. Er umfasst nur die Verteidigungshandlungen, die ein Staat nach Beginn eines bewaffneten Angriffs i. S. d. Art. 51 VN-Charta, aber noch vor Eintritt des Angriffserfolgs unternimmt. Damit ist das Konzept nach Kühns Auffassung „semi-präventiv“: Es ist reaktiv im Hinblick auf die Angriffshandlung, es ist antizipierend präventiv hinsichtlich des Angriffserfolgs. Ders., ebd., S. 99. 252 Ders., ebd., S. 465. 247 B. Schiffbauer,
C. Der völkerrechtliche Zugang der NATO zu militärischen Maßnahmen 237
Schiffbauer erforscht in seiner völkerrechtsdogmatischen und praxisanalytischen Arbeit, „ob (F1) und ggf. zu welchem Ausmaß (F2)“ vorbeugende Selbstverteidigung tatsächlich rechtmäßig sein kann. Bei der Rechtsermittlung des Art. 51 VN-Charta253 zeigt er anhand einer Vertragsauslegung durch Wortlautanalyse der fünf autoritativen Sprachfassungen254 der Bestimmung, dass divergierende Ergebnisse255 zutage treten. Hierbei legt er nicht den „schwer zu differenzierenden Gesamtrekurs auf den Text von Art. 51 (VN-Charta) en bloc“ zugrunde, sondern betrachtet einzelne „Schlüsselbegriffe“. Daraus entwickelt er „zwei verästelte Herleitungsstränge zur […] Beantwortung von (F1) sowie ggf. zur Ausmaßbestimmung i. S. v. (F2)“.256 So werden die entscheidenden Formulierungen der fünf Sprachfassungen in einen unmittelbaren257 und einen mittelbaren258 Ansatz aufgeteilt. Er gelangt schließlich zu dem Ergebnis, dass sowohl der unmittelbare als auch der mittelbare Ansatz zu positiven Feststellungen führen und ein explizites Verbot vorbeugender Selbstverteidigung ausschließen. Über den mittelbaren Ansatz, der die grundsätzliche Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbst253 Eine Darstellung der theoretischen Grundlagen, insbesondere eine Bestandsaufnahme sowie eine Rechtsermittlung zur vorbeugenden Selbstverteidigung im geltenden Völkerrecht stellt er voran. 254 Schiffbauer hält es für nicht ausreichend, zur Interpretation nur die englische und französische Sprachfassung der VN-Charta – obgleich sie die Arbeitssprachen der VN-Gründungskonferenz in San Francisco waren – heranzuziehen. Vielmehr müssen die gem. Art. 111 VN-Charta als gleichermaßen für verbindlich erklärten – autoritativen – Sprachfassungen der VN-Charta (Chinesisch, Französisch, Russisch, Englisch und Spanisch) gelten. Die Heranziehung des in den neueren Abkommen etablierten Arabisch hält er – und widerspricht sich damit selbst – für bedeutungslos, auch wenn Arabisch heute neben den fünf autoritativen Sprachen der VN-Charta die sechste offizielle Arbeitssprache der VN-GV ist. Vgl. B. Schiffbauer, Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht, S. 96 und S. 292 m. w. N. 255 Er kommt zu dem Ergebnis, dass die grundsätzliche Geltung des Selbstverteidigungsrechts – d. h. ohne Differenzierung zwischen reaktiver und vorbeugender Selbstverteidigung – ohne Divergenz besteht. Divergenzen ermittelte er jedoch in Bezug auf die Eigenschaften des Selbstverteidigungsrechts sowie dessen Auslöservorbehalt. Ders., ebd., S. 305 f. 256 Ders., ebd., S. 448 und 309 f. 257 Als unmittelbar wird der Ansatz verstanden, welcher den Schlüsselbegriff zum Auslöservorbehalt einer Selbstverteidigungslage aus Art. 51 SVN aufgreift (z. B. englisch: „occurs“). Dieser kann grundsätzlich ein neues Recht zu vorbeugender Selbstverteidigung begründen oder aber ein solches explizit ausschließen. Ders., ebd., S. 448 und 310 ff. 258 Als mittelbar wird der Ansatz verstanden, welcher sich auf den aus Art. 51 SVN ermittelten Schlüsselbegriff zu den Eigenschaften des vertraglichen Selbstverteidigungsrechts bezieht (z. B. englisch: „inherent right“) und damit das vor In-KraftTreten der VN-Charta gültige Selbstverteidigungsrecht fortgelten lassen kann. Ders., ebd., S. 448 und 319 ff.
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Teil 2, Kap. 2: Der rechtliche Rahmen der NATO
verteidigung zum Zeitpunkt der Gründung der VN unter Einbeziehung des zuvor gültigen Rechts bejaht, definiert er ihr Ausmaß alternativ anhand der absoluten Imminenz-, Evidenz- und Indikationstheorie259. Gleichwohl Schiffbauer davon überzeugt ist, dass das Institut des Selbstverteidigungsrechts „als solches unbestritten anerkannt ist“ und „zugleich eine Fülle von nicht evident unvertretbaren Theorien zur Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung existiert“, bedarf es aus seiner Sicht zugleich auch „positiver260“ Regelungen aus dem geltenden Völkerrecht261. So konstatiert er, dass die Staatenpraxis zu vorbeugender Selbstverteidigung nach 1945 das Ergebnis der textorientierten Auslegung bestätigt, wonach vorbeugende Selbstverteidigung nach der absoluten Imminenz-, Evidenzund Indikationstheorie rechtmäßig ist. Dagegen soll die Gewaltanwendung nach der Latenztheorie262 illegal sein, wohingegen ein Verbot vorbeugender
259 Es handelt sich dabei um sog. ereignisspezifische Theorien. Gemeinsamer Ursprung aller ereignisspezifischer Theorien ist die sog. Gegenwärtigkeitstheorie, nach der ein Ereignis als Auslöser einer Selbstverteidigungslage stets gegenwärtig sein muss, sodass eine vorbeugende Selbstverteidigung unter keinen Umständen z ulässig ist. Abweichend davon werden die zeitpunktorientierte sowie die wahrscheinlichkeitsorientierte ereignisspezifische Theorie vertreten. Ders., ebd., S. 162 ff. m. w. N. Die absolute Imminenztheorie zählt zu den zeitpunktorientierten ereignisspezifischen Theorien, die an die zeitliche Nähe des Auslösers einer Selbstverteidigungslage anknüpft. Demnach ist vorbeugende Selbstverteidigung rechtmäßig, „wenn bei ungehindertem Geschehensablauf in naher Zukunft ein eine reaktive Selbstverteidigungslage auslösendes Ereignis sicher eintreten würde“. Ders., ebd., S. 166. Hingegen zählen die Evidenz- als auch die Indikationstheorie zu den wahrscheinlichkeits-orientierten ereignisspezifischen Theorien. Sie knüpfen nicht an die zeitliche Nähe des Auslösers einer Selbstverteidigungslage an, sondern an die Wahrscheinlichkeit dessen umgehender Verwirklichung. Nach der Evidenztheorie ist vorbeugende Selbstverteidigung rechtmäßig, „wenn bei ungehindertem Geschehensablauf jederzeit ein eine reaktive Selbstverteidigungslage auslösendes Ereignis mit sich aufdrängend hoher Wahrscheinlichkeit eintreten könnte“. Dagegen stellt die Indikationstheorie weniger hohe Anforderungen an den Grad der Wahrscheinlichkeit des gegenwärtigen Eintritts eines Schadensauslösers, da sie hierfür keine fast an Sicherheit grenzende, sondern nur eine hinreichende Wahrscheinlichkeit fordert. Ders., ebd., S. 172 f. 260 „Positiv“ bedeutet danach nicht notwendigerweise eindeutig; sondern ist zu verstehen, als ein feststellbares, wenn auch streitbares Merkmal in Abgrenzung zu ergebnisneutralen (Nicht-)Bewertungen. Ders., ebd., S. 216. 261 Relevant ist die seit der Gründung der VN zu verzeichnende Staatenpraxis im Hinblick auf vorbeugende Selbstverteidigung als Fortentwicklung des Völkergewohnheitsrechts wie auch als spätere Praxis in Ansehung von Art. 51 VN-Charta. 262 Die Latenztheorie gehört zur Gruppe der wahrscheinlichkeitsorientierten ereignis-spezifischen Theorien und erlaubt bereits dann vorbeugende Selbstverteidigungsmaßnahmen, „wenn bei ungehindertem Geschehensablauf jederzeit ein eine Selbstverteidigungslage auslösendes Ereignis aufgrund einer latenten Gefahr eintreten könnte“. Ders., ebd., S. 181.
C. Der völkerrechtliche Zugang der NATO zu militärischen Maßnahmen 239
Selbstverteidigung nach der relativen Imminenztheorie263 nicht festgestellt werden konnte. Untermauert wird dies nach seiner Sicht auch durch die Rechtsprechung des IGH und die jüngeren Entwicklungen innerhalb der VN264. Zusammenfassend formuliert er, dass die „vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht grundsätzlich legal [ist]; eine rechtmäßige vorbeugende Selbstverteidigungslage [ist] alternativ unter den Voraussetzungen der absoluten Imminenztheorie, der Evidenztheorie oder der Indikationstheorie anzunehmen“265.
Neben der grundsätzlichen Zustimmung können die gefundenen Ergebnisse vereinfacht auch dergestalt interpretiert werden, dass einseitige Gewaltanwendungen in den internationalen Beziehungen auf ein Mindestmaß zu beschränken sind – worauf letztlich auch Art. 51 VN-Charta ausgelegt ist. Allerdings scheint es äußerst fraglich, ob die Abgrenzung der einzelnen Konzepte und Theorien in der Praxis darstellbar sein wird. Schließlich muss anhand objektiver Kriterien überprüft werden können, ob ein Angriff unmittelbar bevorsteht. Allerdings darf die Beantwortung dieser Frage den einzelnen Staaten – „nach seinem Gutdünken“ – nicht überlassen bleiben. Denn wie Randelzhofer hervorhebt, könnte sich die „Möglichkeit des Ermessensmißbrauchs“ auftun und auch die Begrenzung des Selbstverteidigungsrechts „aus den Angeln“ gehoben werden266. Im Ergebnis ist Art. 51 VN-Charta daher „eng“ im Sinne eines Verbots der präventiven Selbstverteidigung zu interpretieren267. So ist Selbstverteidigung erst dann zulässig, wenn der „bewaffnete Angriff“ bereits eingesetzt hat.
263 Die relative Imminenztheorie zählt zu den zeitpunktorientierten ereignis spezifischen Theorien und erlaubt vorbeugende Selbstverteidigung, „wenn bei ungehindertem Geschehensablauf in absehbarer Zeit ein eine Selbstverteidigungslage auslösendes Ereignis sicher eintreten würde, wobei der frühestmögliche Zeitpunkt der vorbeugenden Selbstverteidigungshandlung in abgestuftem Verhältnis zu dem Schädigungsausmaß des auslösenden Ereignisses zu bestimmen ist“. Ders., ebd., S. 169. 264 So zeichnet die IGH-Rechtsprechung wie auch die Staatenpraxis seit 2001 eine Entwicklung des Völkerrechts auf eine Ausweitung legaler vorbeugender Selbstverteidigung auch nach der relativen Imminenztheorie; gegenwärtig gehört diese jedoch noch nicht zum „völkerrechtlichen Besitzstand“. Ders., ebd., S. 449 f. 265 Ders., ebd., S. 450. 266 A. Randelzhofer, in: B. Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Art. 51, Rdnr. 34. 267 Vgl. I. Brownlie, International Law and the Use of Force by States, S. 275 ff.; A. Randelzhofer, in: B. Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Art. 51, Rdnr. 34; K. Kersting, Bündnisfall und Verteidigungsfall, S. 100 ff.
240
Teil 2, Kap. 2: Der rechtliche Rahmen der NATO
c) Das Erfordernis der „Unmittelbarkeit“ und „Proportionalität“ Eine weitere Frage die sich im Zusammenhang mit der Selbstverteidigung stellt, ist, ob die in der Selbstverteidigung erfolgende Gewaltanwendung unmittelbar dem Angriff folgen muss oder ob sie auch zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt werden kann. So wird das Erfordernis der Unmittelbarkeit von einem Teil in der Literatur bejaht, da die Selbstverteidigung als Notwehrhandlung lediglich zulässig sei, „solange ein Angriff im Gange ist, dagegen nicht mehr, wenn der Angreifer die Feindseligkeiten eingestellt hat“268. Eine andere Ansicht betont hingegen, dass einem Staat, der Ziel eines bewaffneten Angriffs geworden ist, das Recht zur Selbstverteidigung nicht abgesprochen werden darf, wenn er zunächst versucht, auf friedlichem Wege eine Lösung herbeizuführen und militärische Maßnahmen erst anwendet, wenn dieser Versuch gescheitert ist. Zudem wird hervorgebracht, dass gegen einen Angreiferstaat, der zwar die bewaffneten Angriffe eingestellt hat, jedoch noch das Staatsgebiet des angegriffenen Staates besetzt hält, jederzeit militärische Gewalt angewandt werden dürfe, da der Angriff potenziell noch andauere269. Bei der Beurteilung, ob eine Unmittelbarkeit der Selbstverteidigungshandlung vorliegen muss, ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einzubeziehen270. Denn das Selbstverteidigungsrecht stellt – wie bereits expliziert – eine Ausnahme des unter Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta normierten Gewaltverbots dar und darf gem. Art. 51 VN-Charta lediglich im Falle eines bewaffneten Angriffs geltend gemacht werden. Es darf somit nur bis zu dem Zeitpunkt ausgeübt werden, bis das Ziel – die Abwehr des bewaffneten Angriffs – erreicht ist. Daraus folgt ferner, dass jeweils auch nur solche Abwehrmaßnahmen und -mittel eingesetzt werden dürfen, die zur Abwehr des Angriffs erforderlich 268 D. Schindler, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, in: ders./K. Hailbronner (Hrsg.), Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 26 (1986), S. 16 m. w. N. 269 O. Schachter, The Right of States to Use Armed Force, in: MLR 82 (1984), S. 1636. 270 Art. 51 VN-Charta nennt diesen Grundsatz zwar nicht ausdrücklich als eine Schranke des Selbstverteidigungsrechts. Dadurch kann aber nicht geschlossen werden, dass dieses für das Selbstverteidigungsrecht anerkannte Prinzip durch Art. 51 VN-Charta beseitigt wurde. So auch der IGH im Nicaragua-Urt. v. 27. Juni 1986, der die Geltung des Proportionalitätsprinzips für das gewohnheitsrechtliche Selbstverteidigungsrecht ausdrücklich bestätigt hat (ICJ Reports 1986, 14 [94], § 176). Nach h. M. unterliegt daher auch die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts nach Art. 51 VN-Charta dem Proportionalitätsprinzip. Vgl. dazu I. Brownlie, International Law and the Use of Force by States, S. 261–264; J. Delbrück, Stichwort: „Proportional ity“, in: R. Bernhardt et al. (Hrsg.), EPIL III (1997), S. 1141; A. Randelzhofer, in: B. Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Art. 51, Rdnr. 37.
C. Der völkerrechtliche Zugang der NATO zu militärischen Maßnahmen 241
sind271. Somit wird sich die Selbstverteidigung in der Regel auf defensive Aktionen beschränken müssen und ein Angriff mit konventionellen Mitteln lediglich die Ausnahme darstellen272. Zusammenfassend lässt sich formulieren, dass Selbstverteidigungshandlungen durchführbar sein müssen, solange der Angriff noch andauert. Gleichwohl dürfen Auswahl und Mittel der Verteidigung nicht außer Verhältnis zur Schwere der Angriffshandlung stehen, insbesondere müssen die eingesetzten Verteidigungsmittel zur Abwehr des Angriffs notwendig sein273. 2. Zwischenergebnis Wie ausgeführt, kommt Art. 51 VN-Charta bei den von der VN-Charta vorgesehenen Ausnahmetatbeständen eine „Schlüsselrolle“ zu. Auch die Tatsache, dass die Auslegung einzelner Tatbestandsmerkmale zu verschiedensten Auslegungsergebnissen führt, beeinträchtigt nicht die (völker)rechtliche Relevanz der Vorschrift. So steht jedoch außer Frage, dass das Vorliegen der Voraussetzungen im Einzelfall nicht endgültig der „Selbstinterpretation“ des Aktivlegitimation beanspruchenden Staates unterliegt, sondern im Wege der Drittbeurteilung überprüfbar ist274. Es lässt sich aus der VN-Charta grundsätzlich keine Grundlage für ein Recht zur präventiven Gewaltanwendung ableiten; ausgenommen und erlaubt sind jene Verteidigungshandlungen, die ein Staat nach Beginn eines bewaffneten Angriffs i. S. d. Art. 51 VN-Charta, aber noch vor Eintritt des Angriffserfolgs unternimmt. Und schließlich sind die Selbstverteidigungsmaßnahmen nur durchführbar, solange der Angriff noch andauert.
II. Das Wechselverhältnis von Art. 51 VN-Charta und NV („Verweisklausel“) Nachdem nun ausführlich das in Art. 51 VN-Charta anerkannte Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung dargestellt worden ist, ist die Bedeutung des Verweises des Art. 5 NV auf Art. 51 VN-Charta zu erörtern. Art. 5 NV hat folgenden Wortlaut:
271 D. Schindler, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, in: ders./ K. Hailbronner (Hrsg.), Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 26 (1986), S. 17. 272 L. Wildhaber, Gewaltverbot und Selbstverteidigung, in: W. Schaumann (Hrsg.), Völkerrechtliches Gewaltverbot und Friedenssicherung, S. 153 f. 273 Vgl. auch ICJ Reports 1986 (Nicaragua vs. USA), 14 (103, 122), §§ 194, 237. 274 M. Kühn, Unilaterale präventive Gewaltanwendung, S. 219 m. w. N.
242
Teil 2, Kap. 2: Der rechtliche Rahmen der NATO
„The Parties agree that an armed attack against one or more of them in Europe or North America shall be considered an attack against them all and consequently they agree that, if such an armed attack occurs, each of them, in exercise of the right of individual or collective self-defence recognised by Article 51 of the Charter of the United Nations, will assist the Party or Parties so attacked by taking forthwith, individually and in concert with the other Parties, such action as it deems necessary, including the use of armed force, to restore and maintain the security of the North Atlantic area. Any such armed attack and all measures taken as a result thereof shall immediately be reported to the Security Council. Such measures shall be terminated when the Security Council has taken the measures necessary to restore and maintain international peace and security“.
Aus den US-amerikanischen Quellen geht hervor, dass mit dem Verweis auf Art. 51 VN-Charta eine Verknüpfung zur VN-Charta hergestellt werden sollte. Zusätzlich sollte mit der Bestimmung, wonach die Hilfeleistung – zu der sich die Mitgliedstaaten in Art. 5 NV verpflichten – „in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ zu erfolgen habe, bewirkt werden, dass der NV mit der VN-Charta vereinbar sei275. Damit sollte Art. 5 NV nicht nur rechtsdogmatisch mit der VN-Charta in Einklang gebracht werden, sondern auch rechtspolitisch in das Sicherheitssystem der VN einbinden.276 Nach Hagemann277 ist daher völkerrechtlich zu klären, ob und auf welche Weise der NV mit dem Verweis seines Art. 5 NV auf Art. 51 VN-Charta in die Rechtsordnung der VN eingefügt wurde und schließlich, ob die Norm mit der VN-Charta vereinbar ist. Wie bereits festgestellt, soll Art. 51 VN-Charta ermöglichen, dass Regionalpakte bei einem bewaffneten Angriff selbstständig die erforderlichen Abwehrmaßnahmen ergreifen können, solange bis der SR selbst die entsprechenden Maßnahmen ergriffen hat. Art. 5 NV ist gleichfalls bemüht, sich innerhalb dieses Rahmens zu bewegen. So verpflichtet er die Mitgliedstaaten zur Vornahme von Zwangsmaßnahmen, aber nur im Fall eines bewaffneten Angriffs. Gleichzeitig normiert er in Abs. 2, dass die Maßnahmen einzustellen seien, wenn der SR seinerseits das Nötige zur Wahrung und Wiederherstellung des Friedens vorkehre, und verpflichtet darüber hinaus die NATOStaaten – durchaus im Sinne des Art. 51 VN-Charta –, den SR über die ergriffenen Maßnahmen zu informieren.
275 M. Hagemann, Der Atlantikpakt und die Satzung der VN, in: AVR 2 (1950), S. 391. Vgl. auch Teil 2, Kap. 2, C. I. 276 Ders., ebd., S. 391. 277 Ders., ebd., S. 391 ff.
C. Der völkerrechtliche Zugang der NATO zu militärischen Maßnahmen 243
So gelangt er zu dem Schluss, dass der NV zunächst einmal „ein kollektiver Hilfeleistungspakt für den Fall eines bewaffneten Angriffs“ darstellt und darüber hinaus „ein subsidiäres Friedenssicherungssystem im Rahmen der Vereinten Nationen, in Gestalt eines kollektiven Sicherheitssystems unterster Stufe, abgestützt auf den Art. 51 der Satzung“278. Auch andere Autoren279 konstatieren, dass der NV eine derartige doppelte Funktion besitzt. Demnach sieht Art. 5 NV eine „Hilfeleistungspflicht“ für den Fall eines bewaffneten Angriffs vor und „die Staaten nur dazu verpflichtet, den SR nachträglich von den ergriffenen Verteidigungsmaßnahmen in Kenntnis zu setzen. Dies geht auf Art. 51 SVN als Ermächtigungsgrundlage zurück“280. Im Ergebnis bedürfen daher die aufgrund dieses Artikels vorgenommenen Akte nicht der Mitwirkung des SR. Zugleich genügt es, den SR von diesen Maßnahmen erst nachträglich in Kenntnis zu setzen. Daraus wird geschlossen, dass der NV mit der VN-Charta vereinbar ist.281 Voraussetzung einer solchen doppelten Funktion ist allerdings, dass zunächst ein deckungsgleiches Verständnis der Voraussetzungen eines „bewaffneten Angriffs“ besteht und diese nicht subjektiv von der NATO bestimmt werden können – zum anderen, dass die NATO nicht unter Kapitel VIII der VNCharta fällt282. Schließlich lassen – wie anfangs bereits ausgeführt – die Stellungnahmen der Mitgliedstaaten erkennen, dass Art. 51 VN-Charta die Grundlage für die Bildung des Nordatlantikpakts ist. Besonders deutlich brachte der britische Außenminister Bevin diese Auffassung in einer Rede vor dem Unterhaus zum Ausdruck: „The Treaty is not a regional arrangement under Chapter VIII of the Charter. The action which it envisages it not enforcement action in the sense of Article 53 of the Charter at all. The Treaty is an arrangement between certain states for collective self-defense as foreseen by Article 51 of the Charter. It is designed to secure the Parties against aggression from outside until such time as the Security Council has taken the necessary measures“283.
In dem voranstehenden Zitat wird ebenfalls die grundsätzliche Diskussion über die Qualifizierung der NATO aufgegriffen. Sowohl in der Anfangszeit des Bündnisses als auch nach Ende der Bipolarität wurde darüber debattiert, inwieweit das Konzept des Art. 51 VN-Charta und jenes des Kapitels VIII 278 Ders.,
ebd., S. 403. NATO-Vertrag und VN-Charta, S. 4; D. Bowett, Self-Defense in International Law, S. 219. 280 G. Meier, Der bewaffnete Angriff, S. 182. 281 Ders., ebd., S. 182. 282 Zu dieser Qualifizierung der NATO eingehend in Teil 2, Kap. 1, B. III. 283 Zit. bei G. Bebr, Regional Organizations, in: AJIL 49 (1955), S. 180. 279 W. Beckett,
244
Teil 2, Kap. 2: Der rechtliche Rahmen der NATO
der VN-Charta sowie das gegenseitige Verhältnis dieser Vorschriften in Bezug auf das Nordatlantikbündnis zueinander stehen. Im NV selbst sind keinerlei Verbindungen zu den die Regionalorganisationen betreffenden Bestimmungen des Kapitels VIII der VN-Charta ersichtlich. Demzufolge wurde nicht geklärt, ob die NATO eine Regionalorganisation in dem dort vorausgesetzten Sinne darstellt oder nicht. Seit der Anfangszeit der VN herrschte daher auch große Unsicherheit und Streit darüber, ob die auf Art. 51 VN-Charta gestützten Staatenverbindungen als kollektive Verteidigungsbündnisse allein anhand dieser Norm gemessen werden sollten, ob sie Regionalorganisationen nach Kapitel VIII der VN-Charta oder gar beides wären284. Dieser Meinungsstreit über die rechtliche Qualifizierung der kollektiven Verteidigungsbündnisse brachte primär zwei Hauptmeinungen hervor, die Verteidigungsbündnisse wie die NATO entweder als ein allein auf Art. 51 VN-Charta gestütztes Bündnis zur kollektiven Selbstverteidigung oder aber als eine auch an den Vorschriften des Kapitels VIII der VN-Charta zu messende Regionalorganisation zu qualifizieren suchten.285 Angesichts der Bedeutung dieser Diskussion und in Anbetracht der zu untersuchenden Tatsache, dass das Nordatlantikbündnis seit dem Ende des Kalten Krieges die Rolle auf dem Gebiet der Friedenssicherung neu „definiert“ und in diesem Zusammenhang den Willen bekundet hat, sich aktiv an Friedenssicherungsmaßnahmen der VN zu beteiligen, hat dieser Streit seither erneut an Aktualität gewonnen. Obwohl in der Literatur keine eindeutige Tendenz auszumachen ist, argumentieren die Befürworter einer Anwendbarkeit der Vorschriften des VIII. Kapitels auch bei Verteidigungsbündnissen vornehmlich damit, dass weder die „Entstehungsgeschichte“ von Kapitel VIII noch „systematische Erwägungen“ gegen eine solche Einstufung sprechen286. Darüber hinaus zeige die „Organpraxis“ der VN nach Ende des Kalten Krieges, dass „nunmehr sowohl die NATO als auch die WEU zumindest indirekt als Regionalorganisation anerkannt werden“287. Fasst man diese Argumente zusammen, ist für eine Einordnung der NATO unter Kapitel VIII der VN-Charta lediglich entscheidend, welche Funktionen von ihr wahrgenommen werden. 284 W. Hummer/M. Schweitzer, in: B. Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Art. 52, Rdnr. 44. 285 Vgl. hierzu die umfassende Darstellung des Streitstands bei C. Walter, VN und Regionalorganisationen, S. 58 ff.; G. Warg, Von Verteidigung zu kollektiver Sicherheit, S. 36 ff.; H. Körbs, Friedenssicherung durch die VN nach Kapitel VIII, S. 229 ff. 286 Vgl. G. Warg, Von Verteidigung zu kollektiver Sicherheit, S. 49; C. Walter, VN und Regionalorganisationen, S. 125. 287 G. Warg, Von Verteidigung zu kollektiver Sicherheit, S. 49.
D. Fazit245
Allerdings war es letztlich zuvorderst das Selbstverständnis des Bündnisses selbst, durch Abschreckung und Selbstverteidigung unter Berufung auf Art. 51 VN-Charta die Sicherheit der Mitgliedstaaten zu garantieren – die Friedenssicherung war es zumindest in den Jahren der Blockkonfrontation nicht. Und auch nach Beendigung des Kalten Kriegs stand die Gewährleistung der Sicherheit der Mitgliedstaaten im Vordergrund. Ob Friedenssicherungsmaßnahmen außerhalb der Abschreckung und Selbstverteidigung vom NV gedeckt sind, ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Im Ergebnis sind daher – wie bereits zuvor aufgezeigt – unter Bezugnahme auf Art. 51 VN-Charta grundsätzlich nur diejenigen Verteidigungshandlungen völkerrechtlich nicht zu beanstanden, die ein Staat nach Beginn eines bewaffneten Angriffs i. S. d. Art. 51 VN-Charta, aber noch vor Eintritt des Angriffserfolgs unternimmt und nur solange durchführbar sind, solange der Angriff noch andauert288. Ob auch andere Maßnahmen darunter fallen, und damit eine mögliche Qualifizierung als Regionalorganisation, wird im Verlauf der vorliegenden Arbeit beantwortet.
D. Fazit: Die Handlungsmöglichkeiten der NATO im Rahmen der kollektiven Verteidigung Im vorangegangenen Abschnitt wurde aufgezeigt, dass Art. 51 VN-Charta für die NATO als Verteidigungsbündnis die völkerrechtliche Grundlage für militärische Maßnahmen bildet. Neben einer historischen Einordnung des Selbstverteidigungsrechts wurden insbesondere Inhalt und Umfang des (kollektiven) Selbstverteidigungsrechts dargestellt. Schließlich wurde aufgezeigt, dass zwischen dem NV und Art. 51 VN-Charta ein Wechselverhältnis besteht, welches besagt, dass die aufgrund dieses Artikels vorgenommenen Maßnahmen nicht der Mitwirkung des SR bedürfen. Zugleich genügt es, den SR von diesen Akten erst nachträglich in Kenntnis zu setzen. Zwingende Voraussetzung dafür ist jedoch immer, dass das Verständnis in Bezug auf die einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen und deren Vorliegen bei allen Beteiligten deckungsgleich sind.
288 Im Ergebnis übereinstimmend D. Deiseroth, Die NATO, in: Ad Legendum 3/2017, S. 189 ff.
Teil 3
Militärische Handlungskomponenten der NATO – Bestandsaufnahme und Rechtsermittlung
Kapitel 1
Bestand und Inhalt der NATO-Grundsätze und -Verpflichtungen A. Methodischer Ansatz der Vertragsanalyse I. Die Auslegung und Analyse des NV Um den NV auszulegen, sind zunächst die Auslegungsregeln für den als offenen Kollektivertrag1 anzusehenden NV festzustellen. Generell gehört das Recht der Auslegung völkerrechtlicher Verträge zu den komplexeren Themen des Völker(vertrags)rechts. Ein wesentliches Problem ist dabei die Pluralität der interpretierenden Akteure unterschiedlicher Autorität ohne zentrale Kontrollinstanz2. Zum Verständnis und zur besseren Einordnung sollen infolgedessen zunächst die für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge relevanten Normen dargestellt und deren Verhältnis zueinander erläutert werden. Die hier vorzunehmende Darstellung bildet letztlich ebenfalls die Grundlage für die in Teil IV dieser Untersuchung vorzunehmende Begutachtung und Bewertung der Anlassfälle. 1. Die völkerrechtliche Auslegungslehre nach den Art. 31 ff. WVK Die in den Art. 31 ff. WVK kodifizierten Auslegungsregeln stellen die anerkannte Auslegungslehre für den Bereich völkerrechtlicher Verträge dar. Die durch die International Law Commission (ILC) ausgearbeitete Wiener Konvention über das Recht der Verträge (WVK) wurde nach der zweiten internationalen Konferenz in Wien am 23. Mai 1969 angenommen und trat am
1 Ähnlich wie die VN-Charta stellt auch der NV einen interpretationsfähigen multinationalen Vertrag dar. In diesem Sinne J. Ignarski, Stichwort „NATO“, in: EPIL (6), S. 268 und für die VN-Charta R. Macdonald, The United Nations Charter, in: ders./D. Johnston (Hrsg.), The Structure and Process of International Law, S. 893. 2 Vgl. M. Bos, Theory and Practice of Treaty Interpretation (Teil 1 und 2), in: NILR XXVII (1980), 1, S. 27 f.; S. Sur, L’interpretation en droit international public, S. 99.
250 Teil 3, Kap. 1: Bestand u. Inhalt der NATO-Grundsätze und -Verpflichtungen
27. Januar 1980 in Kraft3. In ihrem III. Teil enthält die WVK den Abschnitt 3 zur Auslegung von Verträgen. Von Bedeutung sind dabei insbesondere Art. 31 und 32 WVK. Die Auslegungslehre der WVK bildet den kodifizierten Ausdruck der völkerrechtlichen Auslegungslehre und soll demgemäß im Rahmen der Unter suchung als Grundlage und Maßstab der weiteren methodologischen Betrachtungen dienen. Dieser Stellenwert der WVK als maßgeblicher Ausdruck der herrschenden Auslegungslehre ist jedoch nicht unbestritten. Die WVK ist formell lediglich auf einen geringen Bereich des Vertragsbestands anwendbar4. Dies resultiert zum einen daraus, dass sie bisher durch recht wenige Staaten ratifiziert5 wurde6, zum anderen daraus, dass Art. 4 WVK ihre Rückwirkung auf diejenigen Verträge, die vor dem Inkrafttreten der WVK geschlossen wurden, ausschließt. Unmittelbar findet die WVK daher auf einen Großteil der Verträge keine Anwendung7 – so auch den NV. Damit stellt sich die Frage, ob die Auslegung der nicht unmittelbar erfassten Verträge keinerlei rechtlicher Bindung oder gewohnheitsrechtlicher Regeln unterliegt8. Die internationalen Gerichte9 – insbesondere der EGMR10 und der IGH – haben mittlerweile die WVK als gewohnheitsrechtlich geltend anerkannt und 3 Siehe zur Entstehung und Gründen zur Erarbeitung der WVK R. Gardiner, Treaty Interpretation, S. 69 ff.; U. Linderfalk, On the Interpretation of Treaties, S. 6 f. 4 Zu den Gründen im Einzelnen siehe auch A. Aust, Modern Treaty Law and Practice, S. 6 ff. 5 Siehe dazu P.-M. Dupuy, La convention de Vienne sur le droit des traités à l’épreuve de la practique: quel bilan trente ans aprés son entrée en vigueur?, in: RBDI 39 (2006), S. 411, der insoweit betont, dass die Auslegungen der WVK trotz der beharrlichen Weigerung von 85 Staaten, diese zu ratifizieren, dennoch unumgänglich seien bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge. 6 Einige NATO-Staaten, wie z. B. Frankreich und die Vereinigten Staaten von Amerika, haben das Abkommen bis zum heutigen Tage nicht ratifiziert. W. Vitzthum, in: ders./A. Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 1. Abschn., Rdnr. 115. 7 Vgl. K. Schmalenbach, in: O. Dörr/dies. (Hrsg.), VCLT, Art. 4, Rdnr. 11 ff. 8 Siehe zur gesamten Problematik eingehend K. Schollendorf, Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge in der Spruchpraxis des Appellate Body der WTO, S. 79 ff. 9 Siehe insoweit erstmalig für die Rechtsprechung des IGH: Case concerning the Arbitral Award of 31 July 1989 (Guinea-Bissau v. Senegal), Judgment of 12 November 1991, ICJ Rep. 1991, 53 ff., 69 f., para. 48; danach siehe nur Case concerning the territorial dispute (Libyan Arab Jamahiriya/Chad), Judgment of 3 February 1994, ICJ Repot 1994, 6 ff., 21 f., para. 41; Case concerning Avena and other Mexican Nationals (Mexico v. United States of America), Judgment of 31 March 2004, ICJ Reports 2004, 37; m. w. N. K. Böth, Evolutive Auslegung, S. 81 (Fn. 5). 10 Siehe zur Anwendung der WVK durch den EGMR P.-M. Dupuy, La convention de Vienne sur le droit des traités à l’épreuve de la practique: quel bilan trente ans aprés son entrée en vigueur, in: RBDI 39 (2006), S. 417 f.
A. Methodischer Ansatz der Vertragsanalyse251
wenden die darin enthaltenen Auslegungsregeln ebenfalls auf die übrigen Verträge an. Auch in der völkerrechtlichen Literatur wird ihre gewohnheitsrechtliche Geltung angenommen.11 Die in Art. 31 ff. WVK enthaltenen Regeln werden im Wesentlichen als Kodifizierung12 der zuvor durch die internationale Gerichtspraxis und die Dogmatik herausgearbeiteten allgemeinen Auslegungsgrundsätze angesehen13. Daher wird überwiegend angenommen, dass sie auch dann herangezogen werden können, wenn sie nicht unmittelbar zur Anwendung kommen14. Gleichwohl ist zu bemerken, dass nicht sämtliche durch die Gerichtspraxis entwickelten Prinzipien und Regeln aufgenommen wurden. Die ILC15 bemerkt dazu, dass die Praxis internationaler Gerichte reich an Prinzipien und Maximen zur Auslegung sei und die Anwendung nahezu jedes Auslegungsgrundsatzes aus den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen durch Äußerungen internationaler Gerichte gestützt werden könne. Das Ziel der Kodifikation wird von der ILC jedoch wie folgt benannt: 11 Siehe nur W. Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 353; K. Schollendorf, Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge in der Spruchpraxis des Appellate Body der WTO, S. 79 und S. 89 ff.; R. Gardiner, Treaty Interpretation, S. 12; M. Herdegen, Interpretation in International Law, in: R. Wolfrum (Hrsg.), EPIL VI (2012), S. 261; U. Linderfalk, On the Interpretation of Treaties, S. 7; S. Kadelbach, in: B. Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN, Interpetation, Rdnr. 8; O. Dörr, in: ders./K. Schmalenbach (Hrsg.), VCLT, Art. 31, Rdnr. 6 ff. m. w. N. sowie A. Boyle/ C. Chinkin, The Making of International Law, S. 191; J. Crawford, Brownlie’s Principles, S. 367 f.; W. Vitzthum, in: ders./A. Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 1. Abschn., Rdnr. 123 m. w. N.; G. Ress, Verfassung und völkerrechtliches Vertragsrecht, in: K. Hailbronner/ders./T. Stein (Hrsg.), Saat und Völkerrechtsordnung, FS Karl Doehring, S. 852. Dafür sprachen auch bereits die letztlich eindeutigen Positionen auf der Wiener Konferenz zur Kodifikation des völkerrechtlichen Vertragsrechts, vgl. H. Neuhold, WVK 1969, in: AVR 15 (1971/1972), S. 27 ff. 12 Zur Kodifikation von Völkergewohnheitsrecht durch die WVK umfassend M. Villiger, VCLT, Issues, Rdnr. 52 ff. 13 H. Köck, Vertragsinterpretation und Vertragsrechtskonvention, S. 95; I. Sinclair, The Vienna Convention on the Law of Treaties, S. 19; M. Yasseen, L’interprétation des traités d’après la Convention de Vienne sur le droit des traités, in: RdC 151 (1976-III), S. 16; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 774 ff.; T. Schweisfurth, Völkerrecht, S. 173 f.; dazu, dass von den nun in der WVK entahltenen Regeln jedenfalls bereits vor der Kodifizierung in der WVK umfassend Gebrauch gemacht wurde: J.-M. Sorel, Art. 31, in: O. Corten/P. Klein (Hrsg.), Les Conventions de Vienne sur le droit des traités, S. 1296. 14 K. Böth, Evolutive Auslegung, S. 81 f., die zudem aufzeigt, dass es Stimmen in der Literatur gibt, die für die Annahme von Völkergewohnheitsrecht bisher nicht den Nachweis der hierfür erforderlichen Staatenpraxis – insbesondere von der Rechtsprechung – als erbracht ansehen. Dieser Problematik haben sich mit besonderer Intensität Kai Schollendorf und Georg Ress gewidmet, vgl. K. Böth, Evolutive Auslegung, S. 82 f. 15 ILC Final Draft, Art. 27, 28, in: R. Wetzel/D. Rauschning (Hrsg.), VCLT – Travaux Preparatoires, S. 250.
252 Teil 3, Kap. 1: Bestand u. Inhalt der NATO-Grundsätze und -Verpflichtungen
„[…] [t]o isolate and codify the comparatively few general principles which appear to constitute general rules for the interpretation of treaties“16.
Nicht in die WVK aufgenommen wurden demnach diejenigen Regeln und Maximen zur Vertragsauslegung, deren allgemeine Gültigkeit im Sinne eines Konsenses der Vertragsparteien sich nicht feststellen ließ. In Anbetracht dessen erscheint es zutreffend, die einstimmige Annahme der Art. 31, 32 WVK in der Schlussabstimmung17 dergestalt zu deuten, dass die Vertragsstaaten damit die Kodifizierung bereits anerkannter bestehender Regeln in der Vertragsauslegung bestätigt haben18. Dieser Konsens der Vertragsstaaten hinsichtlich der Art. 31 und 32 WVK stellt darüber hinaus erstmalig eine ausdrückliche und konkrete Äußerung der „Herren der Verträge“ darüber dar, wie völkerrechtliche Verträge auszulegen sind19. Es liegt somit ein von den Vertragsstaaten angenommener schriftlicher Regelungskatalog vor, der für alle Auslegungsobjekte des Völkerrechts in gleicher Weise deutliche Maßgaben zum Auslegungsvorgang enthält20. 2. Die allgemeinen Auslegungsregeln der Art. 31 und 32 WVK Für die relevante Auslegung einzelner Vertragsvorschriften sind die Art. 31 ff. WVK von Bedeutung21. Der Art. 31 WVK inkludiert eine „Allgemeine Auslegungsregel“ und Art. 32 WVK eine Regel über „ergänzende Auslegungsmittel“, falls Art. 31 WVK zu keinem eindeutigen Ergebnis führen sollte22. Auf mehrsprachige Verträge findet zudem Art. 33 WVK Anwendung. 16 Dies.,
ebd., S. 250 f. wurde mit 97:0:0, Art. 32 mit 101:0:0 Stimmen angenommen: ILC Final Draft, Art. 27, 28, in: R. Wetzel/D. Rauschning (Hrsg.), VCLT – Travaux Preparatoires, S. 256. 18 Siehe dazu, dass die einstimmige Annahme als Zeichen dafür zu werten ist, dass die Vertragsstaaten damit bereits bestehende Regeln angenommen haben, den damaligen Präsidenten des IGH Eduardo Jeménez de Aréchaga, International Law in the Past Third of a Century, in: RdC 159 (1978-I), S. 42. 19 A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 775. 20 K. Böth, Evolutive Auslegung, S. 83 f. m. w. N. 21 Hierzu umfassend H. Köck, Vertragsinterpretation und Vertragsrechtskonvention, passim; O. Dörr, in: ders./K. Schmalenbach (Hrsg.), VCLT, Art. 31 f., jeweils Rdnr. 1 ff.; M. Villiger, VCLT, Art. 31 f., jeweils Rdnr. 1 ff.; vgl. auch N. Matz, Koordinierung völkerrechtlicher Verträge, S. 288 ff., sowie E. Zoller, The Law Applicable to the Preemption Doctrine, in: ASIL Proc. 98 (2004), S. 335. 22 H. Köck, Vertragsinterpretation und Vertragsrechtskonvention, S. 83 ff.; O. Dörr, in: ders./K. Schmalenbach (Hrsg.), VCLT, Art. 31, Rdnr. 5 ff.; M. Villiger, VCLT, Art. 31, Rdnr. 7 ff. 17 Art. 31
A. Methodischer Ansatz der Vertragsanalyse253
a) Art. 31 Abs. 1 WVK Der Art. 31 Abs. 1 WVK positiviert die grammatikalische, systematische und teleologische23 Auslegungsmethode24. Die Auslegung wird von dem Grundsatz von Treu und Glauben begleitet25. Dieser materielle völkerrechtliche Grundsatz26 wird für die Auslegung jedoch lediglich hervorgehoben27. Seine Beachtung fließt schon aus dem in Art. 26 WVK28 niedergelegten Prinzip „pacta sunt servanda“, da die redliche Einhaltung eines Vertrages seine gutgläubige Auslegung voraussetzt29. Die Gutglaubensvorgabe eröffnet daher keinen eigenen Weg zum Verstehen eines Vertrages. Vielmehr ordnet der Grundsatz ein Verbot des Missbrauchs an, das für jede der in Art. 31 Abs. 1 WVK genannten Auslegungsmethoden gilt30. b) Art. 31 Abs. 2–Abs. 4 WVK Der Art. 31 Abs. 1 WVK wird durch die ihm folgenden drei Absätze weiter konkretisiert. Der zweite Absatz31 legt fest, was zum Zusammenhang 23 Die teleologische Auslegung hat sprachlich ihren Ursprung in dem griechischen Wort telos, welches „das Ziel“ bedeutet. 24 G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht (Bd. I/3), § 153 II. 1. a), 2., S. 640 ff.; in der Literatur werden werden diese Auslegungsmethoden auch Auslegungsregeln genannt. Vgl. E. Greschek, Evolutive Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 44 (Fn. 151 m.w.N). Der Untersuchung liegt diese Unterscheidung der Begriffe „Auslegungsregel“ und „Auslegungsmethode“ zugrunde. Mit dem Begriff „Auslegungsregel“ sind die Regelungen in Art. 31 und Art. 32 WVK gemeint. Der Begriff „Auslegungsmethode“ kennzeichnet dagegen den Wortlaut, die Systematik, den Sinn sowie die Entstehungsgeschichte eines völkerrechtlichen Vertrages. 25 Art. 31 Abs. 1 WVK lautet: „Ein Vertrag ist nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen.“ 26 W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 12, Rdnr. 17 und 20. 27 K. Doehring, Völkerrecht, § 5, Rdnr. 390. 28 Art. 26 WVK (Pacta sunt servanda) lautet: „Ist ein Vertrag in Kraft, so bindet er die Vertragsparteien und ist von ihnen nach Treu und Glauben zu erfüllen“. 29 I. Sinclair, The Vienna Convention on the Law of Treaties, S. 119; O. Dörr, in: ders./K. Schmalenbach (Hrsg.), VCLT, Art. 31, Rdnr. 60 f. 30 I. Sinclair, The Vienna Convention on the Law of Treaties, S. 120; G. Dahm/ J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht (Bd. I/3), § 153 II. 1., S. 640; O. Dörr, in: ders./ K. Schmalenbach (Hrsg.), VCLT, Art. 31, Rdnr. 60 f.; W. Vitzthum, in: ders./A. Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 1. Abschn., Rdnr. 123; W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 12, Rdnr. 17 und 20. 31 Art. 31 Abs. 2 WVK lautet: „Für die Auslegung eines Vertrags bedeutet der Zusammenhang außer dem Vertragswortlaut samt Präambel und Anlagen a) jede sich auf den Vertrag beziehende Übereinkunft, die zwischen allen Vertragsparteien anlässlich des Vertragsabschlusses getroffen wurde;
254 Teil 3, Kap. 1: Bestand u. Inhalt der NATO-Grundsätze und -Verpflichtungen
einer völkervertraglichen Norm gehört. Der dritte Absatz32 stellt bestimmte Erklärungen der Parteien diesem Zusammenhang gleich33. Beide Absätze nehmen auf ein Verhalten Bezug, das außerhalb des Vertragstexts liegt. Zum Zusammenhang einer Norm gehören demnach die Regelungen des Vertrages selbst, wobei die Präambel und die Anlagen zum Text gehören. Die Gleichstellung der Präambel mit dem Text erklärt ihre Schlüsselstellung bei der Auslegung34. Nach Art. 31 Abs. 2 WVK gehört ferner eine Erklärung, die anlässlich des Vertragsschlusses aufgegeben worden ist und außerhalb des Texts steht, unter den folgenden drei Voraussetzungen dazu: Erstens muss die Erklärung entweder genau zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses erfolgen oder zumindest mit dem Vertragsschluss zeitlich eng zusammenhängen. Zweitens muss sich die Erklärung „auf den Vertrag beziehen“, d. h., im sachlichen Zusammenhang zum Vertrag stehen. Drittens müssen alle Parteien der Erklärung zustimmen.35 Der zweite Absatz umfasst damit ausdrücklich eine authentische Auslegung durch die Parteien, die zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses abgegeben wird36. Nach Art. 31 Abs. 3 WVK finden bei der Auslegung auch Erklärungen Berücksichtigung, die außerhalb des Texts liegen und welche die Parteien nach Abschluss des Vertrages abgegeben haben. Dazu gehören „jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrages oder die Anwendung seiner Bestimmungen“ und „jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht“. Beide Absätze unterscheiden sich nicht nur in zeitlicher Hinsicht voneinander. Inhaltlich grenzen sie sich darin ab, dass Abs. 3 eine Übereinstimmung b) jede
Urkunde, die von einer oder mehreren Vertragsparteien anlässlich des Vertragsabschlusses abgefasst und von den anderen Vertragsparteien als eine sich auf den Vertrag beziehende Urkunde angenommen wurde.“ 32 Art. 31 Abs. 3 WVK lautet: „Außer dem Zusammenhang sind in gleicher Weise zu berücksichtigen a) jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrages oder die Anwendung seiner Bestimmungen; b) jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht; c) jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz.“ 33 Vgl. M. Herdegen, Interpretation in International Law, in: R. Wolfrum (Hrsg.), EPILVI (2012), S. 262 ff. 34 F. Berber, Friedensrecht, S. 480. 35 E. Greschek, Evolutive Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 50. 36 O. Dörr, in: ders./K. Schmalenbach (Hrsg.), VCLT, Art. 31, Rdnr. 65.
A. Methodischer Ansatz der Vertragsanalyse255
„über die Auslegung“ fordert, im zweiten Absatz dagegen von einer „sich auf den Vertrag beziehende[n]“ Erklärung die Rede ist37. Der dritte Absatz fordert damit einen weniger engen sachlichen Bezug zum Vertrag. Es soll reichen, wenn die Staaten ihr Verhalten von einem Vertrag als erfasst ansehen. Ein Hinweis auf den Vertrag muss nicht erfolgen38. Die Buchstaben a) und b) unterscheiden sich darin, dass a) eine „Übereinkunft“ und b) nur eine „Übereinstimmung“ fordert. Eine bestimmte Form der Erklärung soll für beide nicht erforderlich sein. Eine „spätere Übung“ soll ein faktisches Verhalten voraussetzen, das die Vertragsparteien akzeptieren. Somit umfasst Art. 31 Abs. 3 WVK jede nach Vertragsschluss vereinbarte authentische Auslegung. Zudem stellt Buchstabe c) „jede[n] in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare[n] einschlägig[n] Völkerrechtssatz“ dem Zusammenhang des Vertrages gleich. Das bedeutet, dass ein Vertrag nie isoliert, sondern immer in einer Zusammenschau mit anderen Völkerrechtsnormen, die für die Parteien von Bedeutung sind, auszulegen ist. Im Unterschied zu den Buchstaben a) und b) ist ein konkreter Bezug zum Vertrag dabei nicht erforderlich39. Daraus folgt im Hinblick auf die Auslegung zweier möglicherweise in Konflikt stehender Verträge jedoch nicht, dass diese grundsätzlich miteinander in Einklang zu bringen sind. Allerdings ist allgemein anerkannt, dass Verträge im Einklang mit dem bestehenden Völkerrecht auszulegen sind und dieses nicht verletzen sollten40.
W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 12, Rdnr. 13. Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 189; O. Dörr, in: ders./ K. Schmalenbach (Hrsg.), VCLT, Art. 31, Rdnr. 78: „In principle, any action, or even interaction, of parties with a view to implementing the treaty will have to be considered. (…) (T)he notion of ‚practice‘ comprises any external behavour of a subject of international law, here insofar as it is potentially revealing of what the party accepts as the meaning of a particular treaty provision. No particular form is required, so that official statements or manuals, diplomatic correspondence, press releases, transactions, votes on resolutions in international organizations are just as relevant as national acts of legislation or judicial decisions. In fact, ‚practice‘ in this respect is not limited to the central government authorities of States, rather any public body acting in an official capacity can contribute to demonstrating the state’s position towards ist treaty commitments“. 39 O. Dörr, in: ders./K. Schmalenbach (Hrsg.), VCLT, Art. 31, Rdnr. 89 f. 40 IGH, Urt. v. 26. November 1957, ICJ Report 1957, 125, 142; Right of Passage over Indian Territory – Preliminary Objections (Portugal/Indien): „It is a rule of interpretation that a text emanating from a Government must, in principle, be interpreted as producing and as intended to produce effects in accordance with existing law and not in violation of it“. 37 Vgl.
38 W. Karl,
256 Teil 3, Kap. 1: Bestand u. Inhalt der NATO-Grundsätze und -Verpflichtungen
Schließlich bestimmt Art. 31 Abs. 4 WVK41, einer Norm ausnahmsweise „eine besondere Bedeutung […] beizulegen, wenn feststeht, dass die Vertragsparteien dies beabsichtigt haben“. Die Parteien können die besondere Bedeutung sowohl ausdrücklich als auch implizit festlegen. Sie kann etwa aus der Legaldefinition, einer nachvertraglichen gemeinsamen Übung oder aus den vorbereitenden Arbeiten zum Vertrag erfolgen. Ferner kann sich eine besondere Bedeutung bereits aus dem Kontext und dem Sinn eines Vertrages ergeben42. Aus dem Umkehrschluss folgt, dass einer Norm ihre gewöhnliche Bedeutung zukommt, wenn die Parteien ihr vorher keine besondere Bedeutung zugewiesen haben43. Die gewöhnliche Bedeutung findet sich im allgemeinen Sprachgebrauch wieder44. Die Grundlage der Auslegung ist somit die semantische Sprachebene45. c) Art. 32 WVK Art. 32 WVK46 legt als „ergänzende Auslegungsmittel“ „insbesondere die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses“ fest. Die Aufzählung dieser zwei Regelbeispiele schließt weitere Hilfsquellen nicht aus47. Vielmehr sind alle Umstände zu berücksichtigen, die zum Abschluss des Vertrages führten48. Dazu gehören beispielsweise Vorentwürfe, Verhandlungsprotokolle, Sitzungsberichte sowie Begründungen49 aus dem 41 Art. 31 Abs. 4 lautet: „Eine besondere Bedeutung ist einem Ausdruck beizulegen, wenn feststeht, dass die Vertragsparteien dies beabsichtigt haben“. 42 O. Dörr, in: ders./K. Schmalenbach (Hrsg.), VCLT, Art. 31, Rdnr. 105 ff. 43 Ders., ebd., Rdnr. 38 ff. 44 Ders., ebd., Rdnr. 41 ff. 45 Vgl. U. Fastenrath, Lücken im Völkerrecht, S. 177 und S. 167 f.; die Semantik beschäftigt sich mit der Beziehung von sprachlichem Ausdruck und sprachlich Ausgedrücktem. Die Bedeutung von Wörtern wird danach durch Sprachkonventionen festgelegt. Da Definitionen in Lexika nur eine begrenzte Autorität haben, geschieht dies nicht schriftlich oder sonst ausdrücklich. Sprachkonventionen sind vielmehr in der gewöhnlichen Verwendungsweise in der Lebens- und Sprachpraxis zu erkennen. 46 Art. 32 WVK lautet: „Ergänzende Auslegungsmittel, insbesondere die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses, können herangezogen werden, um die sich unter Anwendung des Artikels 31 ergebende Bedeutung zu bestätigen oder die Bedeutung zu bestimmen, wenn die Auslegung nach Artikel 31 a) die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel lässt oder b) zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt“. 47 R. Bernhardt, Interpretation and Implied (Tacit) Modification of Treaties, in: ZaöRV 27 (1967), S. 491 und 502. 48 Ders., ebd., S. 502. 49 Vgl. G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht (Bd. I/3), § 153 II. 4. a), S. 646, die feststellen, dass „von einem weiten Begriff auszugehen (ist)“.
A. Methodischer Ansatz der Vertragsanalyse257
gesamten historischen Umfeld der beteiligten Staaten50. Diese Quellen bestätigen entweder den Vertragsinhalt oder stellen wertvolle Hilfen für sein Verständnis dar51, „wenn die Auslegung nach Art. 31 […] die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel lässt oder […] zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt“. Die WVK sieht die historische Auslegung, d. h. die Auslegung einer Norm mithilfe ihrer Entstehungsgeschichte52, somit – lediglich – zusätzlich vor53. 3. Der Auslegungsvorgang nach der WVK Die WVK geht im Grundsatz von einem einheitlichen Auslegungsvorgang aus; nicht von mehreren getrennten Interpretationsvorgängen mit divergierenden Ergebnissen, von denen am Ende eine als die einschlägige angesehen wird. Notwendig für den Auslegungsvorgang ist damit die gleichzeitige Anwendung der Auslegungsregeln54. Die Auslegungsregeln55 der Art. 31 f. 50 I. Sinclair, The Vienna Convention on the Law of Treaties, S. 119; G. Dahm/ J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht (Bd. I/3), § 153 II.4.b), S. 646 f. 51 R. Jennings/A. Watts, Oppenheim’s International Law (Vol. 1: Parts 2 to 4), S. 1276. 52 Weil als ergänzende Auslegungsmittel nur die Umstände der Entstehungsgeschichte eines völkerrechtlichen Vertrages gelten, wird Art. 32 WVK die historische Auslegungsregel genannt; vgl. M. Herdegen, Interpretation in International Law, in: R. Wolfrum (Hrsg.), EPIL VI (2012), S. 263 (Rdnr. 16 f.); G. Dahm/J. Delbrück/ R. Wolfrum, Völkerrecht (Bd. I/3), § 153 II. 4. a), S. 645 f.; U. Fastenrath, Lücken im Völkerrecht, S. 184. Die der historischen Vertragsentwicklung folgende Auslegung wird auch genetische Interpretation genannt; so A. Bleckmann, Völkerrecht, Rdnr. 343. 53 E. Greschek, Evolutive Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 52 f. 54 Vgl. M. Bos, Theory and Practice of Treaty Interpretation (Teil 1 und 2), in: NILR XXVII (1980), S. 145. 55 Nehls nimmt bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen eine Unterscheidung in Auslegungsregeln mit Bezügen zur völkerrechtlichen Rechtspraxis und den völkerrechtswissenschaftlich geprägten Auslegungsregeln vor. In der völkerrechtlichen Rechtspraxis ist die Gleichwertigkeitsregel der zentrale Auslegungsgrundsatz. Die Arbeitssprachenregel dient als wichtigster Gegenpol zur gleichwertigen Betrachtung der Vertragstexte. Die Klarheitsregel ist eine besondere Ausprägung der Arbeitssprachenregel. Die Gemeinsame-Nenner-Regel wird als Übergang vom Suprematsverständnis zur harmonischen Auslegung sowie die Ausgewogenheitsregel als Versuch der Realisierung des Reziprozitätsgedankens bei mehrsprachigen Verträgen angesehen. Sodann werden die Einheitsregel und die Kontextregel angewandt. Als völkerrechtswissenschaftlich geprägte Auslegungsregeln gelten die Einklangregel, die Günstigkeitsregel, die Belastetenregel als besondere Ausprägung des Auslegungsgrundsatzes verba ambigua accipiuntur contra proferentem für mehrsprachige Verträge, die Bezugsregel, die Landessprachenregel, die Gerichtssprachenregel, die Mehrheitsregel sowie die kombinatorische Anwendung der Auslegungsregeln. Umfassend hierzu B. Nehls, Die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge, S. 60 ff.
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WVK beantworten jedoch nicht die eng miteinander verbundenen Grund fragen der Auslegung: Gibt es eine Hierarchie der Auslegungsmethoden? Existiert ein einziges, objektiv richtiges Auslegungsergebnis, auf das verschiedene Interpreten unabhängig voneinander kommen müssen? Der Wortlaut von Art. 31 WVK enthält grundsätzlich keinerlei Hinweise auf eine allgemeine Hierarchie der Auslegungsmethoden – Wortlaut, Telos und Kontext.56 Derartige Hinweise finden sich auch nicht in der Rechtsprechung des IGH. Zwar hat er in verschiedenen Urteilen die Auslegung nach dem Wortlaut besonders hervorgehoben oder exklusiv zur Anwendung gebracht57. Ob sich darin jedoch ein Bekenntnis zur Hierarchie ableiten lässt, ist fraglich. Darüber hinaus liegen keine ausreichenden Hinweise dafür vor, dass sich eine Hierarchie aus dem Völkergewohnheitsrecht ergeben könnte. Allgemein anerkannt ist jedoch, dass der Wortlaut der logische Ausgangspunkt einer jeglichen Auslegung ist58 und ihm somit, wenn auch kein theoretischer, so doch ein faktischer Vorrang zukommt: Jeder Interpret betrachtet zunächst den Wortlaut, versucht seine Bedeutung zu erfassen und stellt sich erst dann die Frage, ob die „herausdestillierten“ Tatbestandsmerkmale und Rechtsfolgen in Anbetracht von Sinn und Zweck der Norm sowie ihrer systematischen Umgebung bestehen können59. Insofern kommt es bei den verschiedenen Regimes des Völkerrechts zu sehr unterschiedlichen Auslegungsergebnissen, sodass es kaum möglich sein wird, den immer gleichen Auslegungsmethoden für jede Art von Regime Vorrang einzuräumen. So wird etwa der Telos bei der Auslegung des Gründungsvertrages einer internationalen Organisation oftmals eine wichtigere Rolle spielen als bei der Interpretation einer Bestimmung in einem bilateralen Grenzvertrag60. Etwas anderes gilt freilich für die travaux préparatoires61 und die in Art. 31 WVK nicht aufgezählten Auslegungsmethoden. Diese treten gem. Art. 32 WVK hinter die des Art. 31 WVK zurück und sind lediglich bestätigend zu berücksichtigen oder dann, wenn Art. 31 WVK die Bedeutung im Dunkeln lässt. Diese Einschränkung dürfte angesichts des prägenden Einflusses der WVK auf die Völkerrechtspraxis und einer entsprechenden Tendenz in der internationalen Rechtsprechung inzwischen auch völkergewohnheitsrechtlich gelten62. 56 G. Nolte,
Introduction, in: ders. (Hrsg.), Treaties and Subsequent Practice, S. 1 f. Libya v. Chad, ICJ Reports 1994, 6, 21; Legality of the Use of Force (Serbia and Montenegro v. Belgium), Preliminary Objections, ICJ Reports 2004, 279, 318. 58 M. Villiger, VCLT, Art. 31, Rdnr. 9. 59 C. Peters, Praxis internationaler Organisationen, S. 32. 60 T. Satō, Evolving Constitutions of International Organizations, S. 231. 61 Vgl. Art. 31 WVK sowie S. Hobe, Einführung in das Völkerrecht, S. 201 f. 57 IGH,
A. Methodischer Ansatz der Vertragsanalyse259
Wenn es keine eindeutige Hierarchie der Auslegungsmethoden gibt, ist es insofern schwer vorstellbar, dass für jedes Auslegungsproblem eine eindeutige Lösung existiert, zu der alle Interpreten unabhängig voneinander kommen müssten63. In dieser Hinsicht ist demgemäß anzunehmen, dass es – auf absehbare Zeit – keine einheitliche Auslegung geben wird. Dies ist jedoch angesichts der in völkerrechtlichen Verträgen üblichen langen Verhandlungsprozesse, die oftmals zu unbestimmten Formelkompromissen führen sowie aufgrund der zahlreichen Auslegungsinstanzen, die unterschiedlicher nicht sein könnten,64 wohl auch nicht mehr als eine Idealvorstellung. Nach wie vor funktioniert das Völkerrecht in wesentlichen Aspekten dezentral; d. h., es gibt dezentrale Rechtssetzung und dezentrale Rechtsdurchsetzung. Gleichwohl sollte im Rahmen der Auslegung – ungeachtet zahlreicher Akteure, die das Vertragsrecht in differierenden Zusammenhängen unterschiedlich zur Anwendung bringen – das Bestreben vorherrschen, eine zumindest „im Kern“ einheitliche Auslegung zu erzielen. Ansonsten besteht gerade in Bezug auf militärische Interventionen die Gefahr, dass das Völkerrecht in einem „anarchischen System“ endet65. Was bedeuten diese Feststellungen nun für den Auslegungsprozess im Rahmen der verbindlichen Auslegung durch die Vertragsparteien (sog. authentische Auslegung) selbst. Diese Frage ist gerade für eine Untersuchung, die sich auch mit der späteren Praxis auseinandersetzt, von besonderer Relevanz. Denn die Auslegung in ihrem Licht wird ebenso wie die Auslegung anhand späterer Übereinkünfte in Art. 31 Abs. 3 lit. a WVK von vielen Stimmen mit authentischer Auslegung gleichgesetzt66. Zunächst könnte man zu der Feststellung gelangen, dass die Verbindlichkeit einer bestimmten Auslegung nicht bedeutet, dass sie auch das einzige mögliche Auslegungsergebnis inkludiert. Wesentlich diffiziler ist jedoch die Frage, ob durch authentische Auslegung nicht doch eine Hierarchie der Auslegungsmethoden geschaffen wird, indem Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK grund62 M. Villiger,
VCLT, Art. 32, Rdnr. 13. Unity or Uniformity?, in: LJIL 27 (2014), S. 83; R. Gardiner, Treaty Interpretation, S. 6 f.; U. Linderfalk, On the Interpretation of Treaties, S. 4 f. und S. 373 f., Linderfalk bezeichnet das treffend als die „one-rightanswer-thesis“. 64 Staaten, internationale Gerichte, Schiedsgerichte, Organe internationaler Organisationen, Vertragsorgane, Völkerrechtswissenschaftler – um nur die völkerrechtlich anerkannten Interpreten zu nennen. 65 C. Peters, Praxis Internationaler Organisationen, S. 33. 66 YBILC 1966 II, 221 f.; differenziert ILC Draft Conclusion 2, ILC Report on the work of its sixty-fifth session, UN Doc. A/68/10 (2013), 9, 12, 22; W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 12, Rdnr. 2; H. Köck, Vertragsinterpretation und Vertragsrechtskonvention, S. 43 f.; M. Villiger, VCLT, Art. 31, Rdnr. 16. 63 H. Aust/A. Rodiles/P. Staubach,
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sätzlich Vorrang vor den anderen Auslegungsmethoden in Art. 31 WVK eingeräumt wird. In der völkerrechtlichen Literatur wird vertreten, dass das Ergebnis einer authentischen Auslegung Vorrang vor allen anderweitig erzielten Auslegungsergebnissen haben soll67. Eine Auslegung, die von den Parteien, also den Schöpfern des Vertrages stammt, kann grundsätzlich nicht von vertragsfernen Akteuren konterkariert werden, auch nicht unter Berufung auf die übrigen Auslegungsmethoden des Art. 31 Abs. 3 WVK. Es ist jedoch keineswegs zwingend, dass die Anwendung des Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK immer die Berücksichtigung einer authentischen Auslegung bedeutet68. So sieht es anscheinend auch der IGH: Zwar existieren mehrere Urteile, bei denen spätere Praxis entscheidungserheblich war und die anderen Gesichtspunkte der Auslegung weitgehend verdrängt hat69. In zahlreichen anderen Urteilen spielt spätere Praxis aber eine untergeordnete, unterstützende Rolle in der Argumentation des Gerichts70. Ein Beleg dafür, dass eine spätere Praxis der Vertragsparteien nach Ansicht des IGH nicht immer das Maß aller Dinge darstellt, ist der Fall Costa Rica v. Nicaragua: Dort zeigt der IGH die Möglichkeit einer späteren Praxis auf, entschied sich dann aber doch für eine „dynamische“ Auslegung, ohne weiter auf Art. 31 Abs. 3 lit. b einzugehen71. Dem IGH zu folgern, errichtet die authentische Auslegung also keine generelle Hierarchie der Auslegungsmethoden; auch nicht zugunsten von Art. 31 Abs. 3 WVK. Eine ähnliche Auffassung vertritt – neuerdings – auch die ILC. Sie bezeichnet spätere Übereinkünfte und spätere Praxis als „authentic means of interpretation“, was für sie jedoch nicht gleichbedeutend mit „authentic interpretation“ ist72. Späteren Übereinkünften komme diese Qualität „ipso facto“ zu, späterer Praxis jedoch nur, wenn sie „the common understanding of the parties as to the meaning of the terms (of the treaty)“ widerspiegelt.73 67 U. Linderfalk, On the Interpretation of Treaties, S. 170; A. Orakhelashvili, The Interpretation of Acts and Rules in Public International Law, S. 514; P. Reuter, Introduction to the Law of Treaties, Rdnr. 138. 68 W. Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 194; U. Linderfalk, On the Interpretation of Treaties, S. 170. 69 Z. B. IGH, Temple of Preah Vihear (Cambodia v. Thailand), ICJ Reports 1962, 6, 22 ff.; Namibia, Advisory Opinion, ICJ Reports 1971, 16, 22. 70 IGH, Competence of Admission, Advisory Opinion, ICJ Reports 1950, 4, 8 f.; Border and Transborder Armed Actions (Nicaragua vs. Honduras), Jurisdiction and Admissibility, ICJ Reports 1988, 69, 87 f.; Pulau Ligitan and Pulau Sipadan (Indonesia v. Malaysia), ICJ Reports 2002, 625, 665, 668. 71 IGH, Costa Rica v. Nicaragua, ICJ Reports 2009, 213, 242 f. 72 ILC Report on the work of its sixty-fifth session, UN Doc. A/68/10 (2013), 9, 22. 73 Ebd., 23.
A. Methodischer Ansatz der Vertragsanalyse261
Dabei hält die ILC jedoch eine Auslegung mit dieser Qualität nicht grundsätzlich für verbindlich, sondern lediglich dann, wenn die Parteien dies eindeutig so beabsichtigen74. Im Übrigen besitze sie eine „specific authority“ bzw. sei sie „more less authoritative“75. Dieser Ansatz ermöglicht, dass bei Bestimmung der Interpretationsrelevanz späterer Übereinkünfte und Praxis noch differenzierter auf den Parteiwillen zurückgegriffen werden kann, indem er von drei Bedeutungsstufen ausgeht: spätere Praxis, die nicht das gemeinsame Verständnis der Parteien widerspiegelt; spätere Praxis und Übereinkünfte, bei denen das der Fall ist und die daher besonders autoritativ sind; schließlich spätere Praxis und Übereinkünfte, die eine als verbindlich gewollte Auslegungsübereinkunft der Parteien darstellen. Zweifelhaft ist allerdings, ob dieser Grad an Differenzierung erforderlich ist und welche Aussagekraft er besitzt. Denn wenn die Parteien so weit gehen, ein subsequent agreement nach Art. 31 Abs. 3 lit. a WVK zu schließen, das ausdrücklich ein bestimmtes Auslegungsergebnis vorzieht, sind kaum Konstellationen vorstellbar, in denen diesem Ergebnis nach ihrem Willen keine Verbindlichkeit zukommen soll. Die ILC scheint sich der Unbestimmtheit des Konzepts „authentic means of interpretation“ bewusst zu sein, wenn sie wenig konkret von „specific authority“ spricht, oder solche Praxis als „more or less authoritative“ bezeichnet76. Es bleibt zu resümieren, dass die WVK grundsätzlich von einem einheitlichen Auslegungsvorgang sowie einer gleichzeitigen Anwendung der Auslegungsregeln ausgeht. Darüber hinaus lässt sich aus Art. 31 WVK allerdings weder eine Hierarchie der Auslegungsmethoden noch eine Festlegung auf ein einzig richtiges Auslegungsergebnis herleiten. Dies hat zur Folge, dass die Verbindlichkeit einer bestimmten Auslegung nicht bedeutet, das einzig mögliche Auslegungsergebnis zu sein. Insofern zeigt auch die Rechtsprechung des IGH sowie die Stellungnahmen der ILC, dass auch die authentische Auslegung keine generelle Hierarchie der Auslegungsmethoden errichtet; auch nicht zugunsten von Art. 31 Abs. 3 WVK. 4. Die zwei autoritativen Sprachfassungen des NV Wie bereits erwähnt, findet auf mehrsprachige Verträge Art. 33 WVK Anwendung. Diese Norm regelt explizit die Auslegung mehrsprachiger völker-
74 Ebd.,
21 f. 21 f. 76 Ebd., 21 f.; C. Peters, Praxis Internationaler Organisationen, S. 36 f. 75 Ebd.,
262 Teil 3, Kap. 1: Bestand u. Inhalt der NATO-Grundsätze und -Verpflichtungen
rechtlicher Verträge und hat folgenden Wortlaut (Art. 33 – Interpretation of Treaties authenticated in two or more languages): 1. When a treaty has been authenticated in two or more languages, the text is equally authoritative in each language, unless the treaty provides or the parties agree that, in case of divergence, a particular text shall prevail. 2. A version of the treaty in a language other than one of those in which the text was authenticated shall be considered an authentic text only if the treaty so provides or the parties so agree. 3. The terms of the treaty are presumed to have the same meaning in each authentic text. 4. Except where a particular text prevails in accordance with paragraph 1, when a comparison of the authentic texts discloses a difference of meaning which the application of articles 31 and 32 does not remove, the meaning which best reconciles the texts, having regard to the object and purpose of the treaty, shall be adopted.
Beim NV handelt es sich um einen mehrsprachigen Vertrag i. S. v. Art. 33 Abs. 1 WVK. Somit ist vor der eigentlichen Auslegung nach Art. 31 f. WVK auf die Besonderheiten für Vertragstexte mit zwei oder mehr autoritativen77 Sprachfassungen78 gem. Art. 33 WVK zu achten79. Der Wert dieser Vorschrift wird im völkerrechtlichen Schrifttum unterschiedlich bewertet.80 a) Die Normstruktur von Art. 33 WVK Nach Nehls81 lässt sich Art. 33 WVK grob einteilen in die Festlegung des Auslegungsmaßstabs auf der einer Seite sowie den eigentlichen Auslegungsregeln.82 Lediglich Letztere sind als Methodenanweisung bestimmt, wie eine Textdivergenz zwischen authentischen Vertragstexten vom Rechtsanwender 77 Für gleichermaßen verbindlich erklärte Sprachfassungen werden als autoritativ bezeichnet und entsprechen i. d. R. (nicht aber notwendigerweise) den jeweils authentischen Vertragstexten, vgl. S. Rosenne, „Authentic Text“, in: R. Bernhardt et al. (Hrsg.), Völkerrecht als Rechtsordnung, FS Hermann Mosler, S. 780 ff. Zu autorita tiven Sprachfassungen am Beispiel der VN-Charta, M. Hilf, in: B. Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN, Art. 111, Rdnr. 1 ff. 78 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird die Bezeichnung „Sprachfassung“ verwendet. 79 Vgl. B. Schiffbauer, Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht, S. 291, der darauf hinweist, dass dieses Erfordernis weitgehend unbeachtet bleibt. 80 So etwa J. Mössner, Die Auslegung mehrsprachiger Staatsverträge, in: AVR 15 (1972), S. 302, der die Auffassung vertritt, dass Art. 33 WVK für die Auslegung mehrsprachiger Verträge kaum witerhilft. Anders aber etwa A. Rest, Rechtsbegriffe, S. 161, der Art. 33 WVK einen gewissen Wert als Richtlinie für den Interpreten nicht abspricht. 81 Umfassend zur Normstruktur von Art. 33 WVK: B. Nehls, Die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge, S. 222 ff. m. w. N. 82 Ders., ebd., S. 60 ff.
A. Methodischer Ansatz der Vertragsanalyse263
aufzulösen ist. Art. 33 Abs. 1 und Abs. 2 WVK lassen sich der Festlegung des Auslegungsmaßstabs zuschreiben, während Art. 33 Abs. 3 und Abs. 4 WVK die eigentlichen Auslegungsregeln aufstellen.83 aa) Art. 33 Abs. 1 WVK Art. 33 Abs. 1 WVK ist als Kodifizierung der gewohnheitsrechtlich bestehenden Gleichwertigkeitsregel aufzufassen.84 Das Tatbestandsmerkmal „authenticated“ macht deutlich, dass zwei oder mehr Vertragstexte vorliegen müssen, welche das Verfahren der Authentifizierung in Art. 10 WVK85 durchlaufen haben. Insofern sind es im Grundsatz lediglich die authentischen Vertragstexte, welche nach dieser Norm für die Auslegung gleichermaßen als verbindlich anzusehen sind.86 bb) Art. 33 Abs. 2 WVK Art. 33 Abs. 2 WVK spricht im Gegensatz zu Art. 33 Abs. 1 WVK nicht von einem Vertragstext sondern einer Sprachfassung. Diese ist in ihrer Wertigkeit nicht mit authentischen Vertragstexten gleichzusetzen, weshalb sie für die Auslegung grundsätzlich nicht verbindlich ist.87 Die Vorschrift bezieht sich damit auf die sog. offiziellen Texte und amtlichen Übersetzungen sowie deren grundsätzlich untergeordnete Rangordnung in Bezug zu den authentischen Texten. Insofern bekräftigt dieser Absatz das hierarchische Verhältnis ausdrücklich, wonach nur bei einer einschlägigen Vertragsbestimmung oder Parteiabrede auch eine nicht-authentische Sprachfassung berücksichtigt werden darf.88 83 J. Mössner, Die Auslegung mehrsprachiger Staatsverträge, in: AVR 15 (1972), S. 297; M. Villiger, VCLT, Art. 33, Rdnr. 8. 84 So O. Dörr, in: ders./K. Schmalenbach (Hrsg.), VCLT, Art. 33, Rdnr. 12; M. Villiger, VCLT, Art. 33, Rdnr. 5. 85 Art. 10 – Authentication of the text: The text of a treaty is established as authentic and definitive: (a) by such procedure as may be provided for in the text or agreed upon by the States participating in its drawing up; or (b) failing such procedure, by the signature, signature ad referendum or initialling by the representatives of those States of the text of the treaty or of the Final Act of a conference incorporating the text. 86 Vgl. O. Dörr, in: ders./K. Schmalenbach (Hrsg.), VCLT, Art. 33, Rdnr. 13. 87 O. Dörr, in: ders./K. Schmalenbach (Hrsg.), VCLT, Art. 33, Rdnr. 28; M. Villiger, VCLT, Art. 33, Rdnr. 7, der noch hinzufügt, dass es aus diesem Grund nicht notwendig sei, einen Ausgleich zwischen einem authentischen Vertragstext und einer nicht-authentischen Sprachfassung zu suchen. 88 O. Dörr, in: ders./K. Schmalenbach (Hrsg.), VCLT, Art. 33, Rdnr. 29, der zutreffend von einem Regel-Ausnahme-Verhältnis hinsichtlich authentischer Vertragstexte
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Vor allem die Heranziehung amtlicher Übersetzungen – ohne zumindest gleichzeitige Berücksichtigung wenigstens eines authentischen Vertragstextes – ist nicht mit Art. 33 Abs. 2 WVK vereinbar.89 cc) Art. 33 Abs. 3 WVK Art. 33 Abs. 3 WVK hat die Einheitsregel kodifiziert, wonach der völkerrechtliche Vertrag ungeachtet der verschiedensprachigen Vertragstexte als eine Einheit zu betrachten ist.90 Die völkergewohnheitsrechtliche Geltung der Einheitsregel wurde zudem vom IGH bestätigt.91 Insofern kann diese Vorschrift als inhaltsgleich mit mit der völkergewohnheitsrechtlichen Einheitsregel verstanden werden, da sie sachlich nicht über diese hinausgeht. Dies gilt – nach überwiegender Auffassung – vor allem für die Berechtigung, auf die inhaltliche Richtigkeit eines authentischen Vertragstextes bei der Auslegung zu vertrauen und nicht im Ausgangspunkt die verschiedenartigen Texte miteinander vergleichen zu müssen.92 dd) Art. 33 Abs. 4 WVK Art. 33 Abs. 4 WVK regelt die entscheidene Methodenanweisung für die Auflösung textlicher Divergenzen in mehrsprachigen Verträgen93. Wie diese Methodenanweisung im Einzelnen verstanden werden kann, wird im Schrifttum unterschiedlich beurteilt94. Dies ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass diese Norm methodische Fragen aufwirft, die den Zusammenhang zur vermuteten inhaltlichen Übereinstimmung der Texte nach Art. 33 Abs. 3 WVK betreffen. Anknüpfend daran betrifft es die Problematik der und nicht-authentischer Sprachfassung für die Festlegung des Auslegungsmaßstabs ausgeht. 89 Vgl. hierzu B. Nehls, Die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge, S. 223 (Fn. 815) m. w. N. zur Kritik an der Entscheidung des OVG NordrheinWestfalen, Urt. v. 9. Oktober 2007 – 15 A 1596/07 (DVBl. 2007, S. 1442 [1443]), in welcher das OVG in fehlerhafter und unreflektierter Weise die nicht-verbindliche deutsche Übersetzung für die Auslegung heranzog. 90 Vgl. J. Mössner, Die Auslegung mehrsprachiger Staatsverträge, in: AVR 15 (1972), S. 300; M. Villiger, VCLT, Art. 33, Rdnr. 8; O. Dörr, in: ders./K. Schmalenbach (Hrsg.), VCLT, Art. 33, Rdnr. 30. 91 IGH, Kasikili/Sedudu Island (Botswana v. Namibia), ICJ Reports 1999, 1045 (§ 25). 92 M. Villiger, VCLT, Art. 33, Rdnr. 8; O. Dörr, in: ders./K. Schmalenbach (Hrsg.), VCLT, Art. 33, Rdnr. 30. 93 B. Nehls, Die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge, S. 224. 94 Siehe nur J. Mössner, Die Auslegung mehrsprachiger Staatsverträge, in: AVR 15 (1972), S. 300 f., der verschiedene Deutungsmöglichkeiten darlegt.
A. Methodischer Ansatz der Vertragsanalyse265
Widerlegung der Vermutung der inhallichen Übereinstimmung der Texte.95 Eine fehlende Übereinstimmung kann jedoch nur durch einen Sprachvergleich der verschiedenen Texte aufgedeckt werden („when a comparison of the authentic text discloses a difference of meaning“96). Dies führt zwangsläufig zu der Frage, ab welchem Zeitpunkt verschiedenartige Texte miteinander verglichen werden müssen – vor allem vor dem Hintergrund, dass der Rechtsanwender nach der überwiegenden Ansicht gem. Art. 33 Abs. 3 WVK auf die inhaltliche Richtigkeit eines authentischen Vertragtextes vertrauen zu dürfen.97 Daneben verweist Art. 33 Abs. 4 WVK auf die allgemeinen Auslegungsregelungen in Art. 31 und Art. 32 WVK. Dies verdeutlicht, dass die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge nicht isoliert von den allgemeinen Auslegungsregeln vorgenommen werden kann. Die Abhandlung der in Abs. 4 genannten „reconciliation“ setzt eine erfolglose Anwendung von Art. 31, 32 WVK voraus („does not remove“). b) Das Verhältnis von Art. 33 WVK zu den allgemeinen Auslegungsregeln Das Tatbestandsmerkmal „which the application of articles 31 and 32 does not remove“ verdeutlicht, dass eine bestehende Textdivergenz zunächst durch die Anwendung dieser allgemeinen Auslegungsvorschriften aufzulösen ist. Nach Hilf ist Art. 33 Abs. 4 WVK daher als Auffangvorschrift zu charakterisieren.98 Gleichwohl ist damit nicht geklärt, warum der Rechtsanwender erneut auf die allgemeinen Auslegungsvorschriften zurückgreifen soll, wenn er nach dem Vergleich der verschiedensprachigen Vertragstexte zu der Überzeugung gekommen ist, dass die vermutete inhaltliche Übereinstimmung i. S. v. Art. 33 Abs. 3 WVK nicht mehr vorliegt. Zu dieser Überzeugung kann er nur dann gelangt sein, wenn er bereits in Anwendung der allgemeinen Auslegungsregeln die jeweilige Wortbedeutung in den verschiedenen Sprachen erschlossen hat. Darüber hinaus ist fraglich, ob eine aufgelöste Textdivergenz in Anwendung von Art. 31 und Art. 32 WVK sich von einer mittels „reconciliation“ i. S. v. Art. 33 Abs. 4 WVK unterscheidet – und ob hier methodisch überhaupt eine „trennscharfe Grenze“ zwischen der Anwendung von Art. 31, 95 O. Dörr, in: ders./K. Schmalenbach (Hrsg.), VCLT, Art. 33, Rdnr. 33; M. Villiger, VCLT, Art. 33, Rdnr. 8. 96 Die unterschiedliche Verwendung der Begriffe „divergence“ in Abs. 1 und „difference of meaning“ in Abs. 4 hat keine besonderen Relevanz, da sich aus der Entstehungsgeschichte von Art. 33 WVK ergibt, dass keine Unterschiede beabsichtigt waren, siehe J. Mössner, Die Auslegung mehrsprachiger Staatsverträge, in: AVR 15 (1972), S. 300 (Fn. 130); M. Villiger, VCLT, Art. 33, Rdnr. 10. 97 B. Nehls, Die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge, S. 225. 98 Siehe M. Hilf, Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 75.
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32 WVK und der „reconciliation“ i. S. v. Art. 33 Abs. 4 WVK gezogen werden kann.99 Die scheinbar zweifache Anwendung der allgemeinen Auslegungsregeln erscheint lediglich auf den ersten Blick redundant. Nach Nehls rührt die Vorstellung, dass der Verweis auf die allgemeinen Auslegungsregeln in Art. 33 Abs. 4 WVK redundant sei, maßgeblich von einem unzutreffenden Bild „der ersten Bezugnahme auf die allgemeinen Auslegungsregeln zu Beginn der Ausbildung“. So sei die Anwendung von Art. 33 Abs. 4 WVK als solche, „weil der Rechtsanwender nach einer Methodenanweisung zur Auflösung textlicher Divergenzen sucht […] – anders als das Verfahren der ‚reconciliation‘ als letzte Möglichkeit – nicht von einer erfolglosen Anwendung von Art. 31, 32 WVK bedingt. Die Konsultation von Art. 33 Abs. 4 WVK gibt damit dem Rechtsanwender nochmal die Gelegenheit, sich selbst zu hinterfragen, inwieweit er das Potential der allgemeinen Auslegungsregeln zur Auflösung der Textdivergenz voll ausgeschöpft hat.“100 Gleichwohl wirft die Anwendung und Auslegung von Art. 33 Abs. 4 WVK im System der Auslegungsvorschriften der Art. 31–33 WVK die meisten Fragen auf. Eine grundsätzliche – und damit im Kern die Thematik der Mehrsprachigkeit betreffende – Schwierigkeit ist das Verständnis des Tatbestandsmerkmals „comparison of the authentic texts“. In Anbetracht der postulierten Einheit des Vertrags hat sich ein „präventiver“ bzw. „prophylaktischer“ Vergleich der verschiedensprachigen Vertragstexte bei der Redaktion von Art. 33 WVK nicht durchgesetzt; dennoch bestand Einigkeit, dass der Vergleich als neues Element bei der Auslegung mehrsprachiger Verträge hinzuzutreten hat.101 Insofern wird von Art. 33 WVK der Zeitpunkt des Textvergleichs offen gelassen – sowohl die Kommentierung der Entwürfe der International Law Commission, als auch Literatur und Rechtsprechung geben hierüber keine eindeutige Auskunft.102 Darüber hinaus ist auch der Begriff „reconciliation“ auslegungsbedürftig. Einerseits wie dieses Verfahren ablaufen soll und außerdem, weshalb „recon99 Vgl. B. Nehls, Die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge, S. 226 m. w. N. 100 Diese Einschätzung decke sich auch mit der Charakterisierung der relevanten Rechtsprechung, wonach die allgemeinen Auslegungsregeln zur Untermauerung des gefundenen Auslegungsergebnisses ausgereicht hätten und ein Bezug auf das Verfahren der „reconciliation“ in Art. 33 Abs. 4 WVK gar nicht notwendig war. Ders., ebd., S. 229 m. w. N. 101 Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. II, S. 63 (Art. 75 [6]): „The existence of more than one authentic text clearly introduces a new element – comparison of the texts – into the interpretation of the treaty.“ 102 Umfassend hierzu M. Hilf, Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 73 ff.
A. Methodischer Ansatz der Vertragsanalyse267
ciliation“ am Ziel und Zweck des Vertrages ausgerichtet werden soll, wenn die Ermittlung desselben über Art. 31, 32 WVK gescheitert ist.103 Im Hinblick auf die nähere Bestimmung des Zeitpunkts des Textvergleichs sind im völkerrechtlichen Schrifttum lediglich bei Hilf einige Aspekte dazu zu finden. Dieser verweist unter anderem auf die Auffassungen von Berber und Hardy, wonach bereits im Zweifelsfall bei jeder Unklarheit eines Textes die anderen Vertragstexte vergleichend herangezogen werden müssen oder erst eine Auseinandersetzung zwischen den Vertragsparteien abgewartet werden müsse.104 Dagegen zeigt die Auswertung neuerer Judikatur, dass sich „eine Tendenz zugunsten eines Textvergleichs vor der eigentlichen Auslegung abzeichnet“.105 Die wiederholte Bezugnahme auf „object and purpose“ in Art. 33 Abs. 4 WVK hat ebenfalls einige Diskussionen hervorgerufen.106 Entscheidend für die Methodik dieser „doppelten“ Regelungstechnik soll daher das relative normative Gewicht von Ziel und Zweck als Auslegungskriterium sein. Stellt sich bei der Ermittlung der Wortbedeutung eines Vertragsbegriffes „auf der ersten Stufe“ ein Bedeutungsunterschied heraus, so muss sich die Ermittlung von Ziel und Zweck nun aus einer neuen Perspektive ergeben: Nach Nehls kann auf der Ebene der Mehrsprachigkeit dieser nur durch eine Gesamtbetrachtung der Texte erfolgen, was auch zur Folge haben kann, „dass der ursprünglich ermittelte Zweck eines Vertrages basierend auf dem Wortlaut eines Vertragsbegriffes in einer Vertragssprache überdacht werden muss.“107 Angedeutet wird diese unterschiedliche normative Gewichtung von Ziel und Zweck im Wortlaut von Art. 31 Abs. 1 WVK und Art. 33 Abs. 4 WVK allerdings nur im Ansatz.108 c) Zwischenergebnis und Schlussfolgerung Im für diese Arbeit relevanten Kontext soll letztendlich unabhängig vom zuvor dargelegten Streitstand zur generellen Anwendung von Art. 33 WVK 103 Ders.,
ebd., S. 101. ebd., S. 80 f. Nehls weist jedoch darauf hin, dass man bei den von Hilf Bezug genommenen Autoren vergeblich nach einer solchen Aussage sucht. B. Nehls, Die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge, S. 231. 105 B. Nehls, Die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge, S. 234 ff. m. w. N. 106 Grundlegende Kritik an dieser Regelungstechnik durch M. Hilf, Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 101. 107 B. Nehls, Die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge, S. 240 f. m. w. N. 108 Vgl. die unterschiedlichen Formulierungen „in the light of“ in Art. 31 Abs. 1 WVK und „having regard“ in Art. 33 Abs. 4 WVK. 104 Ders.,
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ein Vergleich der autoritativen Sprachfassungen des jeweiligen Artikels des NV lediglich im Falle einer durch Interpretation zu bereinigenden Unklarheit des Texts einer Norm erfolgen. Dann gelten die Vorgaben aus Art. 33 Abs. 4 WVK, wonach bei Feststellung eines wesentlichen Bedeutungsunterschieds bestimmter Begriffe zunächst im Rahmen der üblichen Interpretationsregeln nach Art. 31 f. WVK versucht wird, eine einheitliche Bedeutung zu erzielen. Gelingt dies nicht oder nicht eindeutig, gilt diejenige Bedeutung als maßgeblich, welche – ebenso qualifiziert teleologisch109 – nach Ziel und Zweck des Vertrages die einzelnen Wortlaute am besten miteinander in Einklang bringt110. Der teleologischen Auslegung kommt folglich beim Vergleich divergierender Sprachfassungen eine besondere Rolle zu111. Gem. Art. 14 NV sind die autoritativen und damit gleichermaßen verbindlichen Sprachfassungen des NV die englische und französische112. Aus der Vorgabe des Art. 33 Abs. 1 WVK, dass jede Sprachfassung ohne jede Einschränkung als maßgeblich gilt, ergibt sich nach der herrschenden sog. „Lehre der untrennbaren Einheit“ der Grundsatz des einheitlichen Sinns113. Daran ist auch die Vermutung von Art. 33 Abs. 3 WVK zu messen, dass den entsprechenden Begriffen in jeder autoritativen Sprachfassung dieselbe Bedeutung widerlegbar114 unterstellt wird115. Eine derartige Vermutung führt jedoch nicht zum Ausschluss116 interlingualen Textvergleichs, sondern gibt 109 Ders., ebd., S. 101 f., sieht in dieser Norm einen gewissen Widerspruch, weil sie u. a. erst nach Scheitern der in Art. 31 Abs. 1 WVK angeordneten teleologischen Auslegung zur Anwendung kommen und zu einer Lösung führen soll. Nach B. Schiffbauer, Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht, S. 294 (Fn. 43) ist der teleologische Ansatz in Art. 33 Abs. 4 WVK jedoch schon seinem Wortlaut nach („reconcile“ statt „interpret“) nur ein Hilfsmittel der primären Anordnung, um divergierende Sprachfassungen miteinander in Einklang zu bringen, und nicht etwa als eine unmittelbare Auslegungsregel wie in Art. 33 Abs. 1 WVK formuliert anzusehen. 110 Vgl. O. Dörr, in: ders./K. Schmalenbach (Hrsg.), VCLT, Art. 33, Rdnr. 34 ff. 111 M. Villiger, VCLT, Art. 33, Rdnr. 11 f. 112 Die (wenn auch amtliche) Übersetzung des NV in die deutsche Sprache ist für eine verbindliche Wortlaut-Auslegung hingegen irrelevant. Vgl. W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 12, Rdnr. 23. 113 M. Hilf, Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 70 ff.; J. Mössner, Die Auslegung mehrsprachiger Verträge, in: AVR 15 (1972), S. 282 f. 114 M. Hilf, Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 73. 115 J. Mössner, Die Auslegung mehrsprachiger Staatsverträge, in: AVR 15 (1972), S. 300 sowie O. Dörr, in: ders./K. Schmalenbach (Hrsg.), VCLT, Art. 33, Rdnr. 30 f. 116 Da sich die ILC beim Entwurf der WVK nicht dazu durchringen konnte, grundsätzlich einen Sprachenvergleich vor jeder Interpretation anzuordnen (vgl. M. Villiger, VCLT, Art. 33, Rdnr. 8), wirkt sich die stattdessen verabschiedete Lösung auf den Prima-facie-Beweis der Einheitlichkeit aus. Nach B. Schiffbauer, Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht, S. 293 (Fn. 34) lässt die bloße Tatsache, dass ein Sprachenvergleich nicht explizit angeordnet ist, nicht die Schlussfolgerung
A. Methodischer Ansatz der Vertragsanalyse269
dem Grundsatz einer sinngemäß einheitlichen Auslegung – soweit möglich – Vorrang. Daher sollte die Vermutung regelmäßig auf ihre konkrete Bestätigung hin untersucht werden. Insbesondere da sich Unterschiede in den jeweiligen Sprachfassungen niemals ganz vermeiden lassen117.
II. Der satzungsrechtliche Kompetenzrahmen Schließlich sind alle NATO-Organe an den Aufgaben- und Kompetenzrahmen des NV, als auch den der VN-Charta, gebunden. Im NV – als multilateralem Vertrag – sind die Ziele und Grundsätze des Nordatlantikbündnisses verankert und zum anderen Organe benannt, durch die die Organisation handelt; die also mit der Verwirklichung jener Ziele und Grundsätze betraut sind. Zwar ist es in erster Linie der NATO-Rat, der die durch den NV sowie die VN-Charta grundsätzlich vorgegebenen Grenzen in der Praxis im konkreten Einzelfall zu bestimmen hat. Gleichwohl darf er ungeachtet seines Wesens als politisches Organ und bei aller „Priorität des Politischen“118 seine Entscheidungen nicht auf der Grundlage rein politischer Erwägungen und ohne Rücksicht auf die anderen Organe bzw. die VN-Charta treffen. Die Kompetenzen, die den NATO-Organen jeweils verliehen sind, sollen ihnen ermöglichen, ihre Funktion, die Aufgaben der Nordatlantikorganisation wahrzunehmen, zu erfüllen. Der NV hat allerdings keine trennscharfe Kompetenz- und Funktionsverteilung in dem Sinne vorgenommen, dass sich jeweils nur ein einziges Organ mit bestimmten Angelegenheiten befassen dürfe und zu diesbezüglichem Handeln befugt wäre. Eine entsprechende Regelung gibt es genau genommen nur in Art. 9 NV, die dem NATO-Rat zum Zwecke der Erörterung von Gegenständen, welche die Ausführung des NV betreffen, weitestgehende Handlungsfreiheiten einräumt. Darüber hinaus ist ein Zusammenwirken der Organe notwendig, um die Organisationsziele zu erreichen. Insgesamt ist bei der Struktur jedoch nicht von einem klassischen staatsrechtlichen Verständnis im Hinblick auf die Gewaltenteilung der Organe auszugehen.
seiner Verzichtbarkeit zu. Vielmehr birgt das Unterlassen eines Sprachenvergleichs die Gefahr, bei einer konkreten Widerlegbarkeit der Vermutung zu einer ungenauen und unvollständigen Auslegung zu gelangen. Unabhängig von der Ausgangsvermutung sollte daher jede autoritative Sprachfassung zumindest nicht ignoriert werden. 117 M. Hilf, Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 20 ff. 118 Vgl. Abb. 3: Organisationsstruktur der NATO mit politischen und militärischen Organisationseinheiten (S. 96).
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Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll der Fokus darauf ausgerichtet werden, inwieweit der Kompetenzrahmen der NATO(-Organe) auf Grundlage des NV letztendlich „angepasst“ werden kann119.
B. Ziel und Zweck des Bündnisses ausgehend vom NV In diesem Abschnitt soll der Bezugspunkt der Betrachtung der jeweilige Regelungsbereich der NATO-Normen sein. Der Regelungsbereich der 14 NATO-Normen sowie der Präambel umfasst drei thematische Komplexe – zu diesen zählen Aufgabenfeld, Einsatzgebiet und Handlungsprinzipien. Die Komponente mit der Bezugnahme zur Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit der Mitgliedstaaten sowie der kollektiven Verteidigung sind der klassische NATO-Regelungsbereich. Daneben bestehen auch andere Aufgabenfelder, die Gegenstand der Betrachtung sind. Das Einsatzgebiet des Bündnisses ist das nordatlantische Gebiet. Inwieweit eine Erweiterung des Einsatzgebiets möglich ist, wird ebenfalls dargestellt120. Welchen Handlungsprinzipien die NATO dabei folgt, wird im Anschluss daran ausgeführt.
I. Aufgabenfeld Das Aufgabenfeld der NATO ist sowohl in der Präambel als auch in verschiedenen Artikeln des NV dargelegt121. Hierbei bildet Art. 5 NV gewissermaßen den Konvergenzpunkt des Vertrages. Er enthält das Versprechen der Mitgliedstaaten, sich im Verteidigungsfall gegenseitig Beistand zu leisten. Diese Beistandspflicht im Rahmen der kollektiven Selbstverteidigung stellt eines der herausgehobenen Aufgabenfelder dar. 1. „Präambel“ – Gewährleistung der Freiheit und Sicherheit aller Mitgliedstaaten mit militärischen und nichtmilitärischen Mitteln Die Präambel hat folgenden Wortlaut122: 119 Vgl.
hierzu ausführlich unter Teil 3, Kap. 2, D. unter Teil 3, Kap. 1, B. II. 2. 121 Vgl. hierzu T. Bauer-Savage, Die völkerrechtliche Verwandlung der NATO, S. 28 ff. 122 „Die Parteien dieses Vertrages bekräftigen erneut ihren Glauben an die Ziele und Grundsätze der Satzung der Vereinten Nationen und ihren Wunsch, mit allen Völkern und Regierungen in Frieden zu leben. Sie sind entschlossen, die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewähr120 Siehe
B. Ziel und Zweck des Bündnisses ausgehend vom NV271
„The Parties to this Treaty reaffirm their faith in the purposes and principles of the Charter of the United Nations and their desire to live in peace with all peoples and all governments. They are determinded to safeguard the freedom, common heritage and civilisation of their people, founded on the principles of democracy, individual liberty and the rule of law. They seek to promote stability and well-being in the North Atlantic area. They are resolved to unite their efforts for collective defence and for the preservation of peace and security. They therefore agree to this North Atlantic Treaty“.
Im ersten Satz der Präambel wird sowohl der Glaube an die Ziele und Grundsätze der VN-Charta als auch der Wunsch „mit allen Völkern und Regierungen in Frieden zu leben“ bekräftigt. Diese allgemeine Formulierung wird in den nachfolgenden Sätzen ein wenig mehr konkretisiert. Im vierten Satz heißt es, dass das Ziel des NV die Vereinigung der mitgliedschaftlichen „Bemühungen für die gemeinsame Verteidigung und die Erhaltung des Friedens und der Sicherheit“ ist. Zudem wird aus den Sätzen drei und vier deutlich, dass die Parteien mehr als ein reines Verteidigungsbündnis errichten wollen. In Satz drei heißt es: „They seek to promote stability and well-being in the North Atlantic area“.
Das englische Verb „to promote“ (= deutsch: für etwas werben, etwas voranbringen, vorantreiben) verdeutlicht hierbei noch mehr als die deutsche Übersetzung „fördern“, dass die Vertragspartner selbstständig und nicht nur im Kollektiv handeln und reagieren wollen123. Dadurch dass Verteidigung nur eine Reaktion auf einen (gegenwärtigen) Angriff sein kann und die Parteien für sich selbst eine aktive Rolle in Anspruch nehmen, „machen sie deutlich, dass das Bündnis nicht auf diese passive, defensive Rolle beschränkt sein soll“124. Zudem soll die „stability“ (= deutsch: Stabilität) und nicht – wie es in der deutschen Übersetzung heißt – die „innere Festigkeit“ gefördert werden. Stabilität erfordert ein aktives „Handlungsprogramm“ und ist nicht lediglich eine einzelne Reaktion auf einen bestimmten Vorfall, „sondern beschreibt eine auf Dauer angelegte friedliche Gesamtlage“125. Auch die nicht näher definierte Verwendung des englischen Verbs „to safe guard“ im zweiten Satz (in der deutschen Übersetzung „gewährleisten“) bringt die Unbestimmtheit zum Ausdruck, unter der sich angesichts einer leisten. Sie sind bestrebt, die innere Festigkeit und das Wohlergehen im nordatlantischen Gebiet zu fördern. Sie sind entschlossen, ihre Bemühungen für die gemeinsame Verteidigung und für die Erhaltung des Friedens und der Sicherheit zu vereinigen. Sie vereinbaren daher diesen Nordatlantikvertrag.“ 123 T. Bauer-Savage, Die völkerrechtliche Verwandlung der NATO, S. 29. 124 Ders., ebd., S. 29. 125 Ders., ebd., S. 29.
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Vielzahl möglicher Gefährdungen theoretisch alle Optionen zum Schutz der Rechtsgüter und der Mitgliedstaaten herleiten lassen. Allerdings ist zu beachten, dass der Präambel nach der WVK keine eigenständige Rolle bei der Auslegung eines Vertrages zukommt, sondern grundsätzlich der gesamte Vertragstext samt Präambel und Anlagen zu berücksichtigen ist – vgl. Art. 32 Abs. 2 WVK. 2. Art. 5 NV – Kollektive Verteidigung In Art. 5 NV wird die Funktion der NATO als kollektives Verteidigungsbündnis deutlich. Er lautet126: „The Parties agree that an armed attack against one or more of them in Europe or North America shall be considered an attack against them all and consequently they agree that, if such an armed attack occurs, each of them, in exercise of the right of individual or collective self-defence recognised by Article 51 of the Charter of the United Nations, will assist the Party or Parties so attacked by taking forthwith, individually and in concert with the other Parties, such action as it deems necessary, including the use of armed force, to restore and maintain the security of the North Atlantic area. Any such armed attack and all measures taken as a result thereof shall immediately be reported to the Security Council. Such measures shall be terminated when the Security Council has taken the measure necessary to restore and maintain international peace and security“.
Art. 5 NV wird auch als „Kernstück des Vertrags“127 bezeichnet. In ihm legen die Mitgliedstaaten den sog. „Bündnisfall“ fest, indem sie vereinbart haben, einen „bewaffneten Angriff gegen einen oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als einen Angriff gegen sie alle“ zu betrachten. 126 „Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten. Vor jedem bewaffneten Angriff und allen daraufhin getroffenen Gegenmaßnahmen ist unverzüglich dem Sicherheitsrat Mitteilung zu machen. Die Maßnahmen sind einzustellen, sobald der Sicherheitsrat diejenigen Schritte unternommen hat, die notwendig sind, um den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit wiederherzustellen und zu erhalten.“ 127 NATO, Handbuch, S. 28; G. Poser, Die NATO, S. 25.
B. Ziel und Zweck des Bündnisses ausgehend vom NV273
Vordergründig besteht dadurch für die Mitgliedstaaten bei einem bewaffneten Angriff eine Beistandsverpflichtung zu unverzüglichem gemeinsamem Handeln. Bei genauer Betrachtung wird deutlich, dass die Mitgliedstaaten sich dahingehend verpflichtet haben, solche Maßnahmen zu ergreifen, die „sie für erforderlich halten, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten“. Ob und wenn ja welche Maßnahmen die einzelnen Mitgliedstaaten treffen, liegt einzig in ihrem Ermessen128. Die Unterstützung durch andere Mitgliedstaaten/Bündnispartner ist insofern keineswegs verbürgt129. Aus diesem Grunde besteht nach Bauer-Savage für die Mitgliedstaaten „keine Beistandsverpflichtung, sondern vielmehr ein Bei standsversprechen“130. Nichtsdestotrotz wird mit dem Beistandsversprechen eine starke politische Zusammengehörigkeit bekundet. Eine Einschränkung im Hinblick auf kollektive Verteidigungs- und Angriffsanweisungen besteht, wie oben bereits erwähnt, darin, dass diese nur dem Zweck dienen dürfen, „die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten“. Dies bedeutet nichts anderes, als dass bei Wiederherstellung der Sicherheit des nordatlantischen Gebiets keine weiteren Anweisungen getroffen werden dürfen. Eine zeitliche Beschränkung sieht zudem Art. 5 Abs. 2 NV vor, wonach alle Maßnahmen einzustellen sind, „sobald der Sicherheitsrat diejenigen Schritte unternommen hat, die notwendig sind, um den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit wiederherzustellen und zu erhalten“. 3. Art. 2 – Engagement bei der Entwicklung friedlicher und freundlicher internationaler Beziehungen Durch Art. 2 NV wird ausgeführt, dass die Tätigkeiten der NATO nicht auf die kollektive Verteidigung beschränkt sind. Vielmehr wird der Ansatz der „westlichen Welt“ hervorgehoben, wonach sozialer, wirtschaftlicher und politischer Fortschritt einhergehen mit Fragen der Sicherheit und Verteidigung131. Dazu Art. 2 NV im Wortlaut132: 128 T. Bauer-Savage, Die völkerrechtliche Verwandlung der NATO, S. 31; NATO, Handbuch, S. 28. 129 Vgl. hierzu A. Botticelli, Article V, in: STLR 26 (2002), S. 58; M. Goldberg, Article Five of the North Atlantic Treaty, in: BICLR 26 (2003), S. 91. 130 T. Bauer-Savage, Die völkerrechtliche Verwandlung der NATO, S. 31. 131 Vgl. F.-W. Engel, Handbuch der NATO, S. 41. 132 „Die Parteien werden zur weiteren Entwicklung friedlicher und freundschaftlicher internationaler Beziehungen beitragen, indem sie ihre freien Einrichtungen festigen, ein besseres Verständnis für die Grundsätze herbeiführen, auf denen diese Einrichtungen beruhen, und indem sie die Voraussetzungen für die innere Festigkeit und das Wohlergehen fördern. Sie werden bestrebt sein, Gegensätze in ihrer interna-
274 Teil 3, Kap. 1: Bestand u. Inhalt der NATO-Grundsätze und -Verpflichtungen
„The Parties will contribute toward the further development of peaceful and friendly international relations by strengthening their free institutions, by bringing about a better understanding of the principles upon which these institutions are founded, and by promoting conditions of stability and well-being. They will seek to eliminate conflict in their international economic policies and will encourage economic collaboration between any or all of them“.
Zusammengefasst werden hier Maßnahmen genannt, welche die Hauptaufgabe der NATO verbreitern und das Bündnis als Organisation betreffen und nicht den Mitgliedstaaten als „Parteien“ alleine obliegen133. Die NATO soll demnach einen Beitrag „zur weiteren Entwicklung friedlicher und freundschaftlicher internationaler Beziehungen“ leisten. Das in dem Satz genannte Verb „beitragen“ impliziert jedoch, dass es weitere Akteure gibt, die bei der Entwicklung internationaler Beziehungen mitwirken.134 Damit können neben der NATO jedoch ausschließlich die einzelnen Mitgliedstaaten im „Binnenverhältnis“ gemeint sein. Würden andere Völkerrechtssubjekte darüber einbezogen werden, müsste man den NV als einen Vertrag zulasten Dritter qualifizieren135. Setzt man diesen Abschnitt jedoch ins Verhältnis zum Kernstück des Vertrages, der kollektiven Verteidigung, wird deutlich, dass Art. 2 NV zu einer Erweiterung des Aufgabenfelds des Nordatlantikbündnisses im Inneren führt. Was jedoch alles von den „Beiträgen“ umfasst ist, muss – immer dann, wenn es relevant wird – als Einzelfall behandelt werden. Dem Sicherheitsbegriff des NV wohnt jedoch kein über die gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen hinausgehendes, eigenständiges militärisches Element inne.136 4. Art. 1, 7 und 8 NV – mögliche Restriktionen des Aufgabenfelds Wie bereits angedeutet und auch anhand der vorherigen Ausführungen zu den einzelnen Vertragsartikeln dargelegt, enthält der NV generalklauselartige Formulierungen. Eine Festlegung auf Aufgaben, die dem Bündnis unzweifelhaft zukommen, ist schwierig. Aufgrund dieser Feststellung ist zu überlegen, wie diese einzugrenzen sind. Einzig in Betracht kommen dafür die Art. 1, 7 und 8 NV, als eine mögliche Restriktion des Aufgabenfelds. Zuerst zu Art. 1 NV, dieser lautet137: tionalen Wirtschaftspolitik zu beseitigen und die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen einzelnen oder allen Parteien zu fördern.“ 133 T. Bauer-Savage, Die völkerrechtliche Verwandlung der NATO, S. 32. 134 Ders., ebd., S. 32. 135 Zu dieser Problematik auch Teil 3, Kap. 2, E. und Teil 4, Kap. 5, C. 136 C. Hillgruber, Die Fortentwicklung völkerrechtlicher Verträge als staatsrecht liches Problem, in: J. Isensee/H. Lecheler (Hrsg.), Freiheit und Eigentum, FS Walter Leisner, S. 58.
B. Ziel und Zweck des Bündnisses ausgehend vom NV275
„The Parties undertake, as set forth in the Charter of the United Nations, to settle any international dispute in which they may be involved by peaceful means in such a manner that international peace and security and justice are not endangered, and to refrain in their international relations from the threat or use of force in any manner inconsistent with the purposes of the United Nations“.
Sowohl aus diesem Satz als auch aus dem ersten Satz der Präambel des NV kann geschlussfolgert werden, dass vom NV ausschließlich Maßnahmen gedeckt sind, die im Einklang mit der VN-Charta stehen138. Auch in Art. 7 NV wird die Majorität der VN-Charta und des SR betont. So legt dieser fest139: „This Treaty does not affect, and shall not be interpreted as affecting in any way the rights and obligations under the Charter of the Parties which are members of the United Nations, or the primary responsibility of the Security Council for the maintenance of international peace and security“.
Zuletzt erklären und verpflichten sich die Mitgliedstaaten in Art. 8 NV dazu140: „Each Party declares, that none of the international engagements now in force between it and any other of the Parties or any third State is in conflict with the provisions of this Treaty, and undertakes not to enter into any international engagement in conflict with this Treaty“.
Damit besteht zusammenfassend für das Bündnis zumindest eine Handlungseinschränkung dahingehend, dass sämtliche Tätigkeiten und Maßnahmen im Einklang mit der VN-Charta stehen müssen141.
137 „Die Parteien verpflichten sich, in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen, jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu regeln, dass der internationale Frieden, die Sicherheit und Gerechtigkeit nicht gefährdet werden, und sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar ist.“ 138 T. Bauer-Savage, Die völkerrechtliche Verwandlung der NATO, S. 33; NATO, Handbuch, S. 27. Vgl. hierzu auch die vorherigen Ausführungen unter Teil 2, Kap. 2, C. 139 „Dieser Vertrag berührt weder die Rechte und Pflichten, welche sich für die Parteien, die Mitglieder der Vereinten Nationen sind, aus deren Satzung ergeben, oder die in erster Linie bestehende Verantwortlichkeit des Sicherheitsrats für die Erhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit, noch kann er in solcher Weise ausgelegt werden.“ 140 „Jede Partei erklärt, dass keine der internationalen Verpflichtungen, die gegenwärtig zwischen ihr und einer anderen Partei oder einem dritten Staat bestehen, den Bestimmungen dieses Vertrages widerspricht und verpflichtet sich, keine diesem Vertrag widersprechende internationale Verpflichtung einzugehen.“ 141 T. Bauer-Savage, Die völkerrechtliche Verwandlung der NATO, S. 33. Vgl. hierzu auch Teil 2, Kap. 2, C. und D.
276 Teil 3, Kap. 1: Bestand u. Inhalt der NATO-Grundsätze und -Verpflichtungen
II. Einsatzgebiet Nachfolgend soll dargestellt werden, wo das Nordatlantikbündnis tätig werden darf und welches Einsatzgebiet der NV vorgibt.142 Im NV wird häufig die Umschreibung „nordatlantisches Gebiet“ genutzt und könnte damit sowohl de facto als auch de iure als Beschränkung des Einsatzgebiets der NATO dienen. 1. Art. 6 NV – nordatlantisches Gebiet Es ist zu prüfen, ob Art. 6 NV143 eine Definition des Begriffs „nordatlantisches Gebiet“ enthält. Dieser hat folgenden Wortlaut144: „For the purpose of Article 5, an armed attack on one or more of the Parties is deemed to include an armed attack: – on the territory of any of the Parties in Europe or North America, on the Algerian Departments of France145, on the territory of or on the Islands under the jurisdiction of any of the Parties in the North Atlantic area north of the Tropic of Cancer; – on the forces, vessels, or aircraft of any of the Parties, when in or over these territories or any other area in Europe in which occupation forces of any of the Parties were stationed on the date when the Treaty entered into force or the Mediterranean Sea or the North Atlantic area north of the Tropic of Cancer“.
Zunächst ist festzuhalten, dass Art. 6 NV eine Definition für ein bestimmtes Gebiet enthält. Diese Definition bezieht sich jedoch darauf, wann ein bewaffneter Angriff auf eine oder mehrere der Parteien vorliegt. Indem der Definition der Begriff „nordatlantisches Gebiet“ innewohnt, ist auch ein hierzu ders., ebd., S. 34 f. der anlässlich des Beitritts Griechenlands und der Türkei durch Art. 2 des Protokolls zum Nordatlantikvertrag geänderten Fassung vom 22. Oktober 1951. 144 „Im Sinne des Artikels 5 gilt als bewaffneter Angriff auf eine oder mehrere der Parteien jeder bewaffnete Angriff − auf das Gebiet eines dieser Staaten in Europa oder Nordamerika, auf die algerischen Departments Frankreichs, auf das Gebiet der Türkei oder auf die Gebietshoheit einer der Parteien unterliegenden Inseln im nordatlantischen Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses; − auf die Streitkräfte, Schiffe oder Flugzeuge einer der Parteien, wenn sie sich in oder über diesen Gebieten oder irgendeinem anderen europäischen Gebiet, indem eine der Parteien bei Inkrafttreten des Vertrages eine Besatzung unterhält oder wenn sie sich im Mittelmeer oder im nordatlantischen Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses befinden.“ 145 Am 16. Januar 1963 stellte der Rat fest, dass die Bestimmungen des Nord atlantikvertrages betreffend die ehemaligen algerischen Departments Frankreichs mit Wirkung vom 3. Juli 1962 gegenstandslos geworden sind. 142 Vgl. 143 In
B. Ziel und Zweck des Bündnisses ausgehend vom NV277
gleichzeitiges Heranziehen der Definition zur räumlichen Beschreibung angezeigt,146 da ansonsten wiederum von einem Vertrag zulasten Dritter ausgegangen werden müsste. Die in Art. 6 NV enthaltene Formulierung „nördlich des Wendekreises des Krebses“ bezieht sich zudem ausschließlich auf Schiffe und andere Wasserfahrzeuge und ist keinesfalls als generelle Begrenzung des „nordatlantischen Gebiets“ zu verstehen. 2. Art. 10 NV – Erweiterung des Einsatzgebiets durch Beitritt weiterer Staaten Auch in Art. 10 NV wird der Begriff „nordatlantisches Gebiet“ verwendet. Er lautet wie folgt147 „The Parties may, by unanimous agreement, invite any other European State in a position to further the principles of this Treaty and to contribute to the security of the North Atlantic area to accede to this Treaty. Any State so invited may become a Party to the Treaty by depositing its instrument of accession with the Government of the United States of America. The Government of the United States of America will inform each of the Parties of the deposit of each such instrument of accession“.
Art. 10 NV regelt dementsprechend die Aufnahme neuer Mitglieder in das Bündnis. Eine entsprechende Vergrößerung des „nordatlantischen Gebiets“ erfolgt somit bei der Aufnahme neuer Mitgliedstaaten. Wie zuvor bereits ausgeführt, ist das „nordatlantische Gebiet“ insoweit auf das Territorium der Mitgliedstaaten beschränkt.
III. Zusammenfassung Die Exegese des NV führt zu der Feststellung, dass das Aufgabenfeld des Nordatlantikbündnisses nicht allein auf die kollektive Selbstverteidigung beschränkt ist. Verschiedene andere Ausdrücke und Formulierungen lassen erkennen, dass die NATO auch andere Aufgaben im Binnenverhältnis im Zusammenhang mit der Förderung von Stabilität und Sicherheit sowie der ErT. Bauer-Savage, Die völkerrechtliche Verwandlung der NATO, S. 34. Parteien können durch einstimmigen Beschluss jeden anderen europäischen Staat, der in der Lage ist, die Grundsätze dieses Vertrags zu fördern und zur Sicherheit des nordatlantischen Gebiets beizutragen, zum Beitritt einladen. Jeder so eingeladene Staat kann durch Hinterlegung seiner Beitrittsurkunde bei der Regierung der Vereinten Staaten von Amerika Mitglied dieses Vertrages werden. Die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika unterrichtet jede der Parteien von der Hinterlegung einer solchen Beitrittsurkunde.“ 146 A. A. 147 „Die
278 Teil 3, Kap. 1: Bestand u. Inhalt der NATO-Grundsätze und -Verpflichtungen
haltung von Frieden und Sicherheit abdeckt. Insbesondere soll das Bündnis einen Beitrag zur „Entwicklung friedlicher und freundschaftlicher internationaler Beziehungen“ leisten. Das gesamte Aufgabenfeld wird dabei jedoch durch die Vorgaben der VN-Charta begrenzt. Dagegen wird das Einsatzgebiet der NATO nicht weiter definiert. Der NV spricht einzig vom „nordatlantischen Gebiet“ – ohne weitere Erläuterung. Im Ergebnis sind die Maßnahmen des Bündnisses jedoch auf das Territorium der Mitgliedstaaten beschränkt – ansonsten müsste der NV als ein Vertrag zulasten Dritter zu qualifizieren sein/qualifiziert werden.
C. Die grundlegenden Handlungsprinzipien ausgehend vom NV Der NV weist nicht nur Ausführungen zu den Zielen und dem Zweck der NATO auf, sondern enthält ebenfalls Elemente, die Richtschnur für die zwischenstaatlichen Beziehungen der Bündnispartner darstellen sowie Handlungsprinzipien des Bündnisses regeln. Die drei bestehenden grundlegenden Handlungsprinzipien werden nachfolgend untersucht.
I. Souveräne Gleichheit der Mitgliedstaaten Das Nordatlantikbündnis kann so verstanden werden, dass dieses ein Bündnis beschreibt, welches aus souveränen Staaten besteht, die auf allen Feldern – auch der Außenpolitik – ihre Unabhängigkeit behalten haben, sowie ferner als ein Bündnis, bei dem alle Mitgliedstaaten „gleiche Rechte und die gleiche Stimme im Rat ohne Rücksicht auf ihre Größe, Bevölkerungszahl oder ihrer globalen oder regionalen Verpflichtungen“ haben148. Ob sich diese Beschreibung tatsächlich aus dem NV konkludieren lässt, gilt es nachfolgend zu untersuchen. Im NV selbst finden sich keine Ausführungen zur „souveränen Gleichheit“149 der Bündnispartner. Vielmehr bekennen sich die Mitgliedstaaten bereits in der Präambel des NV zu den Zielen und Grundsätzen der VN-Charta. Sieht man in diesem Bekenntnis auch einen Verweis in die VN-Charta, so normiert diese den Grundsatz der Staatensouveränität und der Gleichheit der Staaten in Art. 2 Ziff. 1 VN-Charta. So bedeutet Souveränität im völkerrechtlichen Sinne, dass ein Staat keiner anderen Autorität
148 NATO,
Handbuch, S. 207. Grundsatz der souveränen Gleichheit, siehe V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 5, Rdnr. 254 ff. 149 Zum
C. Die grundlegenden Handlungsprinzipien ausgehend vom NV 279
als jener des Völkerrechts untersteht150 und selbst die summa potestas innehat151. Ebenfalls als Bestandteil der Souveränität wird mehrheitlich die Gleichheit der Staaten bezeichnet152. Auch wenn Bleckmann abweichend153 den Gleichheitssatz als selbstständig in engster Beziehung zum Souveränitätsprinzip stehend sieht, ist diese Unterscheidung letztlich nicht von entscheidender Bedeutung, da der Gleichheitssatz und das Souveränitätsprinzip so eng miteinander verbunden sind, dass man zu keiner unterschiedlichen Beurteilung der Sachverhalte kommen wird154. Der Grundsatz der souveränen Gleichheit selbst gehört zu den ältesten Rechten von Staaten, da das Völkerrecht seit jeher ein Recht unter Gleichen war, obgleich die Staaten in tatsächlicher Hinsicht keineswegs gleich sind155. So geht das Völkerrecht im Grundsatz – so wie das Nordatlantikbündnis auch – nicht vom Mehrheits-, sondern vom Einstimmigkeitsprinzip aus. Damit hat die Stimme des kleinsten (Mitglied-)Staates ebenso viel Gewicht wie die Stimme des größten und stärksten Mitglieds156. Dieser in der VN-Charta sowie im NV normierte Grundsatz ist jedoch lediglich formeller Natur, da sich eine faktische Gleichheit der Staaten daraus nicht zwangsläufig ableiten lässt. Es existieren eine Vielzahl von Abkommen – so letztlich auch der NV –, die auf die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der (Mitglied-)Staaten Rücksicht nehmen157. Resümierend kann angemerkt werden, dass das von der NATO übernommene Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten in jeder Beziehung dem Völkerrecht entspricht.
150 H. Kelsen/R. Tucker,
Principles of International Law, S. 248 f. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 32. 152 I. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rdnr. 1443. 153 A. Bleckmann, in: B. Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Art. 2 Ziff. 1, Rdnr. 6. 154 Vgl. J. Bortloff, OSZE, S. 178. 155 V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 5, Rdnr. 254. 156 „one State, one vote“; siehe V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 5, Rdnr. 254. Darüber hinaus hat der Grundsatz der souveränen Gleichheit zur Folge, dass es kein allgemeines Prinzip des Völkerrechts gibt, das die Staaten verpflichtet, Hoheitsakten, die von anderen Staaten erlassen worden sind, überhaupt Wirksamkeit zu verschaffen sowie das Recht gewährt, zur freien Wahl und Entwicklung eines gesellschaftlichen und politischen Systems. 157 V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 5, Rdnr. 260. Beispielhaft sind das „Vetorecht“ der ständigen Mitglieder des SR, die Stimmengewichtung im Internationalen Währungsfonds und in der Weltbank nach der Finanzeinlage sowie die Repräsentanz der Mitgliedstaaten in der Beratenden Versammlung des Europarates nach der Bevölkerungszahl (s. Art. 26 der Satzung des Europarates) sowie die Vorzugsstellung der zehn wichtigsten Industrienationen in Art. 7 der IAO-Satzung. 151 Vgl.
280 Teil 3, Kap. 1: Bestand u. Inhalt der NATO-Grundsätze und -Verpflichtungen
II. Konsultation, Zusammenarbeit und Solidarität Die Zusammenarbeit auf transatlantischer Ebene bildet das politische Fundament des Bündnisses158. Exemplarisch dafür stehen die politischen Konsultationen, die innerhalb des Bündnisses auf unterschiedlichen Ebenen159 stattfinden. Die aus diesen Konsultationen erwachsenden Entscheidungen, die abschließend im NATO-Rat getroffen werden, betreffen die Umsetzung des NV und die Politik des Nordatlantikbündnisses. Als zivile Organisation tagt das Gremium auf drei Ebenen: Ständige Vertreter, Außenminister, Staatsund Regierungschefs. Unter Vorsitz des NATO-Generalsekretärs debattieren die Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten wöchentlich über alle politischen Fragen, die ihre jeweiligen Regierungen oder sie selbst für behandelnswert halten. Diese Zusammenkünfte weisen ein Minimum an Formalität auf. Das Gespräch soll „frei und offen“ sein160. Darüber hinaus ist der Rat befugt, weitere Gremien für Konsultationen zu legitimieren161. Konsultation, Zusammenarbeit sowie die Solidarität im politischen und im militärischen Bereich sind charakteristische Merkmale des Bündnisses. Bereits in den ersten Jahren nach der NATO-Gründung wurden Informationsund Konsultationspflichten vereinbart, durch die eine wirksame Zusammenarbeit auf den einzelnen Gebieten überhaupt erst möglich wurde. Die Mitgliedstaaten koordinierten beispielsweise bereits im Mai 1950 ihre Auffassungen darüber, wie ein Verteidigungsbeitrag der Bundesrepublik Deutschland am besten gestaltet und wie die Mitwirkung Griechenlands und der Türkei innerhalb des Bündnisses geregelt werden könnte. Zudem wurde ein Meinungs- und Informationsaustausch über die Politik der kommunistischen Länder geführt162. Im April 1954 wurde obendrein beschlossen, dass die Mitgliedstaaten dem NATO-Rat alle politischen Informationen zuleiten sollten, die für die anderen Mitgliedstaaten von Interesse sein konnten163. Aus diesen Maßnahmen heraus entwickelte sich die Überzeugung, dass das Bündnis fester verknüpft werden müsse, was im Mai 1956 zur Schaffung 158 G. Hauser,
Die NATO, S. 21. Ebene der Außenminister und Verteidigungsminister (regelmäßige Tagungen); auf Ebene der NATO-Botschafter im NATO-Rat (wöchentlich); auf Ebene der NATO-Botschafter im Rahmen informeller Beratungen (v. a. wenn es um grundsätz liche Fragen geht); permanente Konsultationen des NATO-Rates in Krisensituationen und in Form von „habits of cooperation“, die auf eine Vielzahl von Kontakten auf multilateraler und bilateraler Ebene beruhen. G. Hauser, Die NATO, S. 35. 160 NATO, Handbuch, S. 213. 161 Ebd., S. 213. 162 Ebd., S. 207 f. 163 Ebd., S. 208. 159 Auf
C. Die grundlegenden Handlungsprinzipien ausgehend vom NV 281
des „Ausschuss(es) für nichtmilitärische Zusammenarbeit“ führte164. Dieser Ausschuss165 erhielt den Auftrag, „den Rat über Mittel und Wege zu beraten, wie die Zusammenarbeit in der NATO auf nichtmilitärischen Gebieten verbessert und ausgeweitet und eine stärkere Einigkeit in der Atlantischen Gemeinschaft entwickelt werden könnte“166.
Durch den Ausschuss wurde erstmals die große Bedeutung der politischen Konsultation im Nordatlantikbündnis hervorgehoben und sollte damit die weitere Entwicklung prägen167. Dieses war jedoch nur der erste Schritt, im Laufe der Jahre entstanden noch weitere Gremien168 für die formellen politischen Konsultationen. Unabhängig von diesen Entwicklungen, ist und bleibt der NATO-Rat das Zentrum der politischen Konsultationen. Hier sollen die Zusammenkünfte zur Herbeiführung eines allgemeinen Einvernehmens unter allen Mitgliedstaaten führen. Jeder Mitgliedstaat ist berechtigt, mit eigenen Erfahrungen und Auffassungen an die einzelnen Fragen heranzugehen. Dies setzt freilich voraus, dass zwischen den Bündnispartnern eine „enge politische Zusammenarbeit“ besteht169. Nach Auffassung der NATO wird dies erreicht, indem „alle Mitgliedsregierungen über die Politik ihrer Partner und über die ihr zugrunde liegenden Überlegungen voll und ganz unterrichtet sind“170. Letztlich entsteht eine echte Koordination und Zusammenarbeit dann, wenn neben dem Informationsaustausch, speziell auf Regierungsebene, auch ein Meinungsaustausch stattfindet. Eine „systematische politische Konsultation“– wie sie dem Bündnis „vorschwebt“171 – lässt sich hingegen nicht aus dem NV herleiten. Art. 4 NV lautet172: „The Parties will consult together whenever, in the opinion of any of them, the territorial integrity, political independence or security of any of the Parties is threatened“.
164 Ebd.,
S. 208. auch als „Dreierausschuss“ oder „Drei Weisen“ bezeichnet. 166 Siehe Text des Berichts des Dreierausschusses, angenommen vom NATO-Rat am 13. Dezember 1956, Kap. I Ziff. 1, in: NATO, Handbuch, S. 411 ff. 167 NATO, Handbuch, S. 208. 168 Z. B. der Politische Ausschuss, Arbeitsgruppen von Regionalexperten, Ad-hocArbeitsgruppen oder Sonderberatungsgruppen. 169 NATO, Handbuch, S. 207. 170 Ebd., S. 207. 171 Ebd., S. 207. 172 „Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht sind.“ 165 Häufig
282 Teil 3, Kap. 1: Bestand u. Inhalt der NATO-Grundsätze und -Verpflichtungen
Dieser Artikel enthält somit lediglich eine Konsultationspflicht für den Fall einer Bedrohung der territorialen Integrität, der politischen Unabhängigkeit oder der Sicherheit173. Für alle anderen Bereiche enthält der NV keine – grundsätzliche – Pflicht zu Konsultationen. Wie aufgezeigt, war die Staatenpraxis im „nordatlantischen Raum“ allerdings in Bezug auf Konsultationen von Beginn an sehr weit fortgeschritten. Denn die höchste Form der Vertrauensbildung entsteht durch die gemeinsame Analyse von Risiken.174 Die Frage hierbei ist jedoch, ob dieses Vorgehen auch vom NV gedeckt war. Das ist dann zu bejahen, wenn man diese „vertrauensbildenden Maßnahmen“ als gemeinsame spätere Praxis (vgl. Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVK) der Mitgliedstaaten im Innenverhältnis betrachtet.
III. Konsensprinzip Neben den bereits angeführten Grundsätzen gilt als weiteres Prinzip innerhalb der NATO, dass Entscheidungen im Rat nicht mit Stimmenmehrheit, „sondern durch allgemeinen Konsens getroffen“175 werden. Dies entspricht dem Charakter des Bündnisses als internationaler Organisation freier und unabhängiger Staaten ohne supranationalen Charakter176. Das hat zur Konsequenz, dass alle „Entscheidungen und deren Implementierung (auch) von allen Mitgliedern in der notwendigen Weise mitgetragen werden müssen“177. Das Konsensprinzip178 ist dabei ein allgemein etabliertes Instrument im internationalen Verhandlungsprozess179. Dadurch wird das Gewicht weg von der Sachabstimmung hin zur Prozedur gelegt, mit der versucht wird, alle er173 Der Artikel wurde anlässlich der Irak-Krise im Februar 2003 erstmals öffentlich herangezogen, als die türkische Regierung die anderen Bündnispartner um Unterstützung bat bei der Verteidigung des Landes im Falle eines Angriffs des Irak auf ihr Territorium. Die USA waren zu dieser Zeit in Vorbereitung auf einen Angriff zum Sturz des Regimes von Saddam Hussein. Dieses Ansinnen stürzte die NATO in eine tiefe Krise, da die Diskussion um einen Militäreinsatz gegen den Irak sowohl die NATO, als auch die EU gespalten hatte (Dänemark, Vereinigte Königreich, Italien, Niederlande, Spanien befürworteten eine militärische Intervention; Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Schweden lehnten dies vehement ab). Anders ist es jedoch im Syrien-Konflikt. Hier agiert die Türkei ohne jedwede Einbeziehung des Bündnisses. 174 G. Hauser, Die NATO, S. 35. 175 NATO, Handbuch, S. 207. 176 H. Köck/P. Fischer, Das Recht der Internationalen Organisationen, S. 403. 177 Dies., ebd., S. 403. 178 Hierzu ausführlich: H. Ballreich, „Konsens“ im Völkerrecht, in: R. Bernhardt et al. (Hrsg.), Völkerrecht als Rechtsordnung, FS Hermann Mosler, S. 1 ff. 179 E. Klein/S. Schmahl, in: W. Vitzthum/A. Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 4. Abschn., Rdnr. 135.
E. Die innerstaatliche Relevanz der NATO-Verpflichtungen 283
heblichen Einwände im Vorhinein beiseite zu räumen180, sodass die Mitgliedstaaten den Beschluss mittragen, auch wenn er ihrer Auffassung nicht vollständig entspricht. Der Prozess der Herbeiführung eines allgemeinen Einverständnisses unter den Bündnispartnern, von denen jeder mit eigenen Erfahrungen und Vorstellungen an die einzelnen Fragestellungen herangeht, erfordert ein kooperatives Miteinander sowie Vertrauen. Zentrale Voraussetzung für ein gemeinsames Einvernehmen ist insofern, dass die Parteien die jeweiligen Positionen des Anderen (aner-)kennen und verstehen181.
D. Fazit: Aufgabenbereich und Handlungsbefugnisse Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass das Aufgabenfeld des Nordatlantikbündnisses nicht allein auf die kollektive Selbstverteidigung beschränkt ist, sondern auch andere Aufgaben im Binnenverhältnis im Zusammenhang mit der Förderung von Stabilität und Sicherheit sowie der Erhaltung von Frieden und Sicherheit abgedeckt. Das gesamte Aufgabenfeld wird aber durch die Vorgaben der VN-Charta begrenzt. Zudem sind die jeweiligen Maßnahmen der NATO auf das Territorium der Mitgliedstaaten beschränkt. Die Handlungsbefugnisse des Bündnisses haben sich dabei an den im NV festgelegten Handlungsprinzipien – wie etwa dem Konsensprinzip – auszurichten. Eine systematische politische Konsultation der Mitgliedstaaten lässt sich nicht aus dem NV herleiten. Jedoch ist in den Fällen der Bedrohung der territorialen Integrität, der politischen Unabhängigkeit oder der Sicherheit von einer Konsultationspflicht gem. Art. 4 NV auszugehen.
E. Die innerstaatliche Relevanz der NATO-Verpflichtungen – am Beispiel des Mitgliedstaates Bundesrepublik Deutschland Neben völkerrechtlichen Normen haben die einzelnen Mitgliedstaaten des Nordatlantikbündnisses – insbesondere im Fall der Entsendung von Streitkräften außerhalb des eigenen Staatsgebiets – oftmals auch innerstaatliche Regelungen zu beachten. Eine Darstellung sämtlicher mitgliedstaatlicher Regelungen würde den Rahmen dieser Arbeit zu sehr erweitern, sodass sich die Untersuchung im Folgenden auf die Bundesrepublik Deutschland beschränken soll. 180 Vgl. H. Ballreich, „Konsens“ im Völkerrecht, in: R. Bernhardt et al. (Hrsg.), Völkerrecht als Rechtsordnung, FS Mosler, S. 8 f. 181 NATO, Handbuch, S. 207.
284 Teil 3, Kap. 1: Bestand u. Inhalt der NATO-Grundsätze und -Verpflichtungen
Deutschland sieht sich bei der Frage der Rechtmäßigkeit eines bewaffneten Einsatzes der Bundeswehr182 im Ausland gleich mehreren rechtlichen Schranken ausgesetzt. Neben dem Völkerrecht begrenzt insbesondere das Grundgesetz (GG)183 sowie BVerfG den Einsatz der Bundeswehr. Neben den Normen haben auch die Urteile des obersten deutschen Verfassungsgerichts nach Art. 31 BVerfGG bindende Wirkung für die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie für alle Gerichte und Behörden184. Im (Verfassungs-)Streit um den Einsatz deutscher Soldaten in Somalia und der Beteiligung an militärischen Maßnahmen der VN-Friedensinitiative im ehemaligen Jugoslawien forderte das BVerfG im sog. Streitkräfteurteil („AWACS I“)185 den Gesetzgeber „zur Operationalisierung und Effektivierung des konstitutiven Parlamentsvorbehalts“ auf186. In seinerzeit nicht unumstrittener Art und Weise entwickelte das BVerfG den grundsätzlich für jedweden bewaffneten Auslandseinsatz der Bundeswehr notwendigen konstitutiven Parlamentsvorbehalt. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte die Bundeswehr „nur“ innerhalb des NATO-Gebiets, wenn nicht überhaupt nur zur Landesverteidigung, eingesetzt werden187. Zugleich schien bei „out-of-area“-Einsätzen188 sogar das Grundgesetz aufzuhören. Seither bedarf der Einsatz deutscher Streitkräfte im Ausland grundsätzlich der vorherigen konstitutiven Einwilligung des Deutschen Bundestages189. Hergeleitet hat das BVerfG den Parlamentsvorbehalt aus der deutschen Verfassungstradition seit 1918 und aus einer Reihe wehrrechtlicher Vorschriften – konkret: Art. 59a a. F., 45a, 45b, 87a 182 Als Bundeswehr werden die Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet. Die Gründung der Bundeswehr am 5. Mai 1955 ging einher mit der Wiederbewaffnung Deutschlands nach Ende der Hitlerdiktatur. Am 12. November 1955 wurden die ersten 101 Freiwilligen vereidigt. 183 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, BGBl. 1949, Nr. 1, S. 1–19; zuletzt geändert durch das Gesetz vom 13. Juli 2017, BGBl. I, S. 2347. 184 Allerdings sind diese Norm, Normbegründung und Normfolgen im Unterschied zum Gesetzestext textlich weniger streng geschieden; sie sind in den Entscheidungsgründen meist eng mit miteinander verwoben. A. Gilch, Das Parlamentsbeteiligungsgesetz, S. 8. 185 BVerfGE 90, 286 („AWACS I“), Urt. v. 12. Juli 1994. 186 BVerfGE 90, 286, 388 ff.; A. Gilch, Das Parlamentsbeteiligungsgesetz, S. 4. 187 Vgl. J. Isensee, Auslandseinsätze der Bundeswehr, in: DVParl-Forum, Protokoll v. 4. Juni 2003, S. 1. 188 Der Begriff „out-of-area“ definiert ein Gebiet, in dem Streitkräfte nicht systemkonform eingesetzt werden dürfen, da es außerhalb des Geltungsbereichs des NV liegt. A. A. D. Blumenwitz, Parlamentsheer, in: F. Majoros et al. (Hrsg.), Politik – Geschichte, Recht und Sicherheit, FS Gerhard Ritter, S. 311 (Fn. 2). 189 Der Deutsche Bundestag ist das Parlament der Bundesrepublik Deutschland mit Sitz im Reichstagsgebäude in Berlin. Er wird im (bundes-)deutschen politischen System als einziges Verfassungsorgan direkt vom Staatsvolk gewählt, vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG i. V. m. Art. 38 GG.
E. Die innerstaatliche Relevanz der NATO-Verpflichtungen 285
Abs. 1 S. 2, 115a GG190. Während dieser Akt in der Literatur191 ausdrückliche Zustimmung erfahren hat, wurde er mehrheitlich sowohl in der Begründung als auch im Ergebnis abgelehnt192. Letztlich führte dieser Prozess zur Verabschiedung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes (ParlBG)193. Dieses Gesetz regelt heute die Beteiligung der Legislative in Deutschland an der Entscheidung über den Einsatz von bewaffneten Streitkräften194.
I. Die Vorgaben des Grundgesetzes Das Grundgesetz verfügt über keine ausdrückliche Norm, die eine Entsendung der Bundeswehr ins Ausland regelt. Allerdings normiert Art. 96 Abs. 2 GG, dass Wehrstrafgerichte für ins Ausland entsandte Truppen eingerichtet werden können. Im Umkehrschluss lässt sich daraus ableiten, dass die Verfassung bzw. der Verfassungsgeber die Entsendung von Streitkräften ins Ausland verfassungsrechtlich nicht ausgeschlossen hat. 1. Der Ausgangspunkt – Art. 87a Abs. 2 GG Den Anknüpfungs- bzw. Ausgangspunkt bei der Frage der Entsendung von Bundeswehrsoldaten ins Ausland bildet Art. 87a Abs. 2 GG. Darin heißt es, dass Streitkräfte, außer zur Verteidigung, nur dann eingesetzt werden dürfen, soweit dieses das Grundgesetz ausdrücklich zulässt195. 190 BVerfGE
90, 286, 318 ff.; A. Gilch, Das Parlamentsbeteiligungsgesetz, S. 8. bei C. Lutze, Parlamentsvorbehalt, in: DÖV 56 (2003), S. 973
191 Nachweise
m. w. N. (Fn. 8). 192 C. Lutze, Parlamentsvorbehalt, in: DÖV 56 (2003), S. 973. Beispielhaft hierzu die forsche Kritik von J. Isensee, Auslandseinsätze der Bundeswehr, in: DVParl- Forum, Protokoll v. 4. Juni 2003, S. 10 f.: „Ich lasse noch einmal das Orakel von Karlsruhe hier zu Wort kommen: Zunächst einmal hat das Verfassungsgericht angesichts der Schwierigkeit, dass ein Parlamentsvorbehalt gilt und nicht etwa der Gesetzgeber Zuständigkeiten zwischen Parlament und Regierung hin und her schieben kann, eine ungeschriebene Verfassungsnorm aufgedeckt und aus einer Lückentheorie unter Bemühung der Geschichte der Grundgesetzänderungen sowie mit Griff in das verfassungshistorische Museum des 19. Jahrhundert das ‚Parlamentsheer‘ geschaffen, ein Produkt der konstitutionellen Monarchie, das in dieser Form in der parlamentarischen Demokratie etwas fremdartig wirkt“. 193 Gesetz über die parlamentarische Beteiligung bei der Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland – Parlamentsbeteiligungsgesetz (ParlBG), vom 18. März 2005, BGBl. I, S. 775. 194 Für die im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Gesetzes aufgetretenen Fragestellungen die umfassende Untersuchung von A. Gilch, Das Parlamentsbeteiligungsgesetz, passim. 195 In Art. 87a Abs. 1 S. 1 GG ist die primäre Aufgabe der Streitkräfte geregelt: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf“.
286 Teil 3, Kap. 1: Bestand u. Inhalt der NATO-Grundsätze und -Verpflichtungen
Die Auslegung ebendieser Norm führte zu erheblichen verfassungsrecht lichen Kontroversen. Trotz des richtungsweisenden Streitkräfteurteils196 aus dem Jahre 1994 war weiterhin unklar, wie insbesondere die Begriffe „Verteidigung“ und „Einsatz“ verfassungsrechtlich auszulegen sind. Obwohl der Einsatzbegriff auch bis dato keiner einheitlichen Auslegung unterliegt, ist unstrittig, dass Auslandseinsätze der Bundeswehr darunter zu subsumieren sind197. Beim Verteidigungsbegriff besteht ein Konsens dahingehend, dass ein weit gefasstes (materielles) Verständnis anzuwenden ist198. Jeder Einsatz ist danach als „Verteidigung“ zu betrachten, der dazu dient, den übernational geschützten Frieden zu sichern und zu verteidigen199. 2. Einsätze im Rahmen von Systemen kollektiver Sicherheit – Art. 24 Abs. 2 GG Über Art. 87a GG wird auch der Einsatz deutscher Streitkräfte im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit, dem Deutschland gem. Art. 24 Abs. 2 GG beitreten kann, nicht ausgeschlossen200. Doch was ist ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit? Da dieser völkerrechtliche Begriff in keinem völkerrechtlichen Vertrag definiert ist, sind Struktur und Inhalt nicht abschließend geklärt201. Umstritten ist insbesondere die Frage, ob darunter lediglich Systeme verstanden werden sollen, in denen sich Mitgliedstaaten zur friedlichen Beilegung ihrer Streitigkeiten sowie zum gegenseitigen Nichtangriff und damit zur Sicherheit verpflichten; den typischen Anwendungsfall bilden hier die VN. Oder ob 196 BVerfGE
90, 286 („AWACS I“). A. Gilch, Das Parlamentsbeteiligungsgesetz, S. 40. 198 Vgl. hierzu Verteidigungspolitische Richtlinien für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung vom 21. Mai 2003, S. 19, Ziff. 4.: „Die Neugewichtung der Aufgaben der Bundeswehr und die daraus resultierenden konzeptionellen und strukturellen Konsequenzen entsprechen dem weiten Verständnis von Verteidigung, das sich in den letzten Jahren herausgebildet hat“. Generell zum Verteidigungsbegriff: M. Kutscha, „Verteidigung“, in: KJ 37 (2004), S. 228 ff. 199 Auch Vorbereitungsmaßnahmen können unter den Begriff der „Verteidigung“ fallen, wenn sie einen entsprechenden Zweck verfolgen. So diente die Verlegung von Jagdbombern in die Türkei während des 2. Golfkrieges zur Vorbereitung der eventuell erforderlich werdenden Bündnisverteidigung der Türkei und war damit selbst als Maßnahme der Verteidigung einzustufen. Vgl. M. Wild, Auslandseinsätze der Bundeswehr, in: DÖV 53 (2000), S. 625. 200 Darüber hinaus findet sich eine ausdrückliche Zulassung eines Einsatzes der Bundeswehr außer zur Verteidigung i. S. v. Art. 87a Abs. 2 GG in Normen, die den Einsatz im Inland betreffen: Art. 87a Abs. 3 und 4 sowie Art. 35 Abs. 2 und 3 GG. 201 Zum Begriff „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“, vgl. R. Streinz, in: M. Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 24, Rdnr. 61 ff. 197 Vgl.
E. Die innerstaatliche Relevanz der NATO-Verpflichtungen 287
auch solche (Selbstverteidigungs-)Systeme wie die NATO, die eine gegenseitige Unterstützung im Falle eines von außen erfolgten Angriffs auf einen Mitgliedstaat vorsehen, dazugehören. Das BVerfG hat in der Streitkräfteentscheidung202 im fünften Leitsatz ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit wie folgt qualifiziert: „5.a) Ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG ist dadurch gekennzeichnet, dass es durch ein friedensicherndes Regelwerk und den Aufbau einer eigenen Organisation für jedes Mitglied einen Status völkerrechtlicher Gebundenheit begründet, der wechselseitig zur Wahrung des Friedens verpflichtet und Sicherheit gewährt. Ob das System dabei ausschließlich oder vornehmlich unter den Mitgliedstaaten Frieden garantieren oder bei Angriffen von außen zum kollektiven Beistand verpflichten soll, ist unerheblich. b) Auch Bündnisse kollektiver Selbstverteidigung können Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne von Art. 24 Abs. 2 GG sein, wenn und soweit sie strikt auf die Friedenswahrung verpflichtet sind“.
Damit hat das BVerfG das Nordatlantikbündnis in die Definition des verfassungsrechtlichen Begriffs des „Systems gegenseitiger kollektiver Sicher heit“203 einbezogen, soweit es dem maßgeblichen Kriterium des Art. 24 Abs. 2 GG, der Friedenswahrung, dient204. Des Weiteren hatte das BVerfG in diesem Urteil auch zu klären, in welchem Verhältnis Art. 24 Abs. 2 GG und Art. 87a Abs. 2 GG zueinander stehen205. Dem Wortlaut nach zu urteilen, hat es schließlich den Anschein, dass Art. 87a Abs. 2 GG eine Sperrwirkung für ein militärisches Tätigwerden im Rahmen von kollektiven Sicherheitssystemen enthält206. Unter Anwendung des systematisch-historischen Auslegungsgrundsatzes führte das Gericht im ersten Leitsatz207 dazu abschließend bestimmend aus: „Art. 24 Abs. 2 GG ermächtigt den Bund, sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einzuordnen. Diese Ermächtigung be202 BVerfGE
90, 286 („AWACS I“). völkerrechtlichen Einordnung dieses nicht eigenständigen verfassungsrechtlichen Terminus technicus siehe unter Teil 4, Kap. 1, A. I. 3. 204 Vgl. dazu auch A. Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, Art. 24 II, Rdnr. 21, der die NATO ebenfalls als ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit i. S. v. Art. 24 Abs. 2 GG qualifiziert. 205 Diese höchstrichterliche Klärung erfolgte erst Mitte der 1990er-Jahre, da die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Auslandseinsätzen der Bundeswehr bis zur Zeitenwende 1989 nur vereinzelt Thema der staatsrechtwissenschaftlichen Diskussion war. Vgl. M. Wild, Auslandseinsätze der Bundeswehr, in: DÖV 53 (2000), S. 622. 206 Vgl. hierzu die Darstellung der wissenschaftlichen Diskussion, in: M. Schultz, Auslandsentsendung der Bundeswehr, S. 292 ff. m. w. N. 207 BVerfGE 90, 286, 345 („AWACS I“). 203 Zur
288 Teil 3, Kap. 1: Bestand u. Inhalt der NATO-Grundsätze und -Verpflichtungen
rechtigt den Bund nicht nur zum Eintritt in ein solches System und zur Einwilligung in damit verbundene Beschränkungen seiner Hoheitsrechte. Sie bietet vielmehr auch die verfassungsrechtliche Grundlage für die Übernahme der mit der Zugehörigkeit zu einem solchen System typischerweise verbundenen Aufgaben und damit auch für eine Verwendung der Bundeswehr zu Einsätzen, die im Rahmen und nach den Regeln dieses Systems stattfinden“.
Anzunehmen ist ferner, dass durch diese Klarstellung seitens des BVerfG nicht ausgeschlossen wird, dass Einsätze der Bundeswehr, die nicht unter Art. 24 Abs. 2 GG fallen, aber im „Wortzusammenhang“ mit Art. 87a Abs. 2 GG stehen, auch verfassungskonform sein können208. Neben der Auslegung des Streitkräfteurteils ist nunmehr darzulegen, wie sich die Situation in der Bundesrepublik Deutschland in Bezug auf den typischen Anwendungsfall eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit – den VN– darstellte. Deutschland ist auf der Grundlage von Art. 24 Abs. 2 GG am 18. September 1973 den VN – ohne Vorbehalt in Bezug auf den Einsatz von Streitkräften – beigetreten. Damit übernahm es sämtliche Pflichten aus der VN-Charta, insbesondere auch den Einsatz von Truppen unter dem politischen und militärischen Kommando des SR i. S. v. Art. 43 VNCharta209. Unabhängig von der Art und Weise der Einsätze im Rahmen der VN, an denen die Bundeswehr beteiligt ist – z. B. im Rahmen von „PeaceKeeping-Operations“ –, bedarf es der ausdrücklichen Zustimmung des Deutschen Bundestages210. Indem die NATO durch das BVerfG ebenso als ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit anerkannt wurde211 – gleichwohl aus dem NV eine Vielzahl von Bündnisverpflichtungen für Deutschland einhergehen – bedarf es nun auch für sämtliche Einsätze unter NATO-Führung der Zustimmung des Deutschen Bundestages. 208 D. Blumenwitz, Parlamentsheer, in: F. Majoros et al. (Hrsg.), Politik – Geschichte, Recht und Sicherheit, FS Gerhard Ritter, S. 321. „Verwendungen der Bundeswehr außerhalb des ‚Einsatz‘begriffes von Art. 87a GG sind – wie im Inland so auch im Ausland – uneingeschränkt zulässig. Es handelt sich bei ihnen in aller Regel um unbewaffnete Aktionen, die deshalb auch nicht den Parlamentsvorbehalt des BVerfG auslösen“. M. Wild, Auslandseinsätze der Bundeswehr, DÖV 53 (2000), S. 624; BVerfGE 90, 286, 388. 209 Allerdings gibt es bisher keine Sonderabkommen i. S. v. Art. 43 VN-Charta, sodass etwaige Einsätze keine Rolle spielen. Vgl. A. Gilch, Das Parlamentsbeteiligungsgesetz, S. 47. 210 BVerfGE 90, 286, 387. Unerheblich ist, ob den Truppen Zwangsbefugnisse nach Kapitel VII der VN-Charta eingeräumt werden oder ob es sich um sog. „Blauhelmtruppen“ handelt. 211 BVerfGE 90, 286 (351): „Damit ist die NATO durch ein friedensicherndes Regelwerk und den Aufbau einer Organisation gekennzeichnet, die es zulassen, sie als System gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG zu bewerten“.
E. Die innerstaatliche Relevanz der NATO-Verpflichtungen 289
3. Die Anforderungen aus Art. 59 Abs. 2 GG Im Bereich internationaler Bündnisverträge ist zudem Art. 59 Abs. 2 GG212 zu berücksichtigen. Diese Norm – die ausschließlich den innerstaatlichen Bereich betrifft – grenzt die „Organkompetenzen von Regierung und Parlament in der Außenpolitik“213 voneinander ab214. Der Zweck von Art. 59 Abs. 2 GG ist der Schutz vor der Begründung irreversibler völkerrechtlicher Verpflichtungen. Insbesondere die Frage, ob und inwieweit informelle Fortbildungen von Bündnisverträgen eines parlamentarischen Zustimmungsgesetzes bedürfen, führt zur Beachtung dieser Norm bei der Entsendung deutscher Streitkräfte ins Ausland im Rahmen von VN- oder NATO-Missionen.
212 Art. 59 Abs. 2 GG hat folgenden Wortlaut: „Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, bedürfen der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes. Für Verwaltungsabkommen gelten die Vorschriften über die Bundesverwaltung entsprechend“. 213 M. Wild, Auslandseinsätze der Bundeswehr, in: DÖV 53 (2000), S. 629. 214 Gleichwohl ist unter Bezugnahme auf den Treaty-override-Beschluss des BVerfG vom 15. Dezember 2015 (BVerfGE 141, 1) in der Literatur die Diskussion über die theoretischen Grundlagen des Verhältnisses von völkerrechtlichen Verträgen zum Staatsrecht neu entflammt; siehe hierzu umfassend und mit weiteren Nachweisen L. Kirchmair, Ist Art. 59 Abs. 2 GG tatsächlich dualistisch?, in: ZöR 72 (2017), S. 515 ff. Die von Kirchmair aufgeworfene Frage wird aus seiner Sicht „leider viel zu oft ganz simpel als Ausgangspunkt einer jeden Analyse angenommen“. Er stellt dieses Diktum infrage und kommt zu dem Ergebnis, dass Art. 59 Abs. 2 GG nicht zwangsläufig dualistisch ist. Ausgangspunkt der Fragestellung um das Verhältnis von internationalem und nationalem Recht ist die im Jahr 1899 erschienene Monografie „Völkerrecht und Landesrecht“ von Heinrich Triepel (H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, passim). Er eröffnete mit diesem Werk die Debatte zum Verhältnis von internationalem und nationalem Recht. Um potenzielle Normkonflikte zwischen Völkerrecht und Landesrecht systematisch einzuordnen, soll gemäß des Triepelschen Dualismus eine scharfe Trennung zwischen beiden Rechtsordnungen erfolgen. Die Gegenposition der monistischen „Einheit des rechtlichen Weltbildes“ (A. von Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, passim) wurde kurz darauf verfasst. Bekannte Denker dieser Schule waren insbesondere Hans Kelsen und Alfred Verdross. Die grundsätzliche praktische Relevanz dieser Fragestellung liegt darin begründet, dass das Völkerrecht in die nationale Sphäre „eingeführt“ werden muss, um dort seine Wirkung zu entfalten. Aus heutiger Sicht haben sich beide Theorien angenähert; gleichwohl sind Unterschiede nach wie vor vorhanden. Insofern gelangt Kirchmair zu dem Schluss, „dass die Gleichschaltung des völkerrechtlichen Inkrafttretens und der innerstaatlichen Verbindlichkeit des völkerrechtlichen Vertrags einer dualistischen Trennung der Völkerrechtsordnung und der nationalen Rechtsordnung nicht entspricht. Vielmehr ist die innerstaatliche Ermächtigung Bedingung für die völkerrechtliche Ratifikation“; L. Kirchmair, Ist Art. 59 Abs. 2 GG tatsächlich dualistisch?, in: ZöR 72 (2017), S. 525.
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Allerdings: Die bloße Durchführung einer gemeinsamen Militäraktion erzeugt grundsätzlich noch keine völkerrechtlichen Bindungen; diese können jedoch durch ausdrückliche oder konkludente Vereinbarungen hervorgebracht werden, respektive bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht215. Bei Vorliegen einer solchen Bindung – und nur dann – erfordert dies ein Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 GG216. Hinsichtlich der NATO-Einsätze ist in Deutschland immer wieder die Diskussion aufgekommen, ob jene Militäraktionen unter Führung der NATO außerhalb der Regeln des Systems liegen, welche der Deutsche Bundestag per Zustimmungsgesetz 1955217 nach Art. 59 Abs. 2 GG als Handlungsrahmen für die deutsche Staatsgewalt akzeptiert hat218. Diese Debatte erfolgte im Zusammenhang mit der „Weiterentwicklung“ des NV, worauf an anderer Stelle219 einzugehen sein wird. 4. Zwischenfazit Zusammenfassend bleibt anzumerken, dass der verfassungsrechtliche Verteidigungsauftrag, den einseitig von deutschen Staatsorganen angeordneten Einsatz deutscher Streitkräfte, grundsätzlich auf die Zwecke der Territorialund Personalverteidigung sowie Katastrophenschutz beschränkt ist. Im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme richtet sich ihr Einsatz hingegen nach deren sicherheitspolitischer Zweckbestimmung. Sie können dadurch zu Aufgaben herangezogen werden, die sie einseitig verfassungsrechtlich nicht erfüllen dürften, da die jeweiligen kollektiven Sicherheitssysteme ihren (Verteidigungs-)Zweck nach Maßgabe ihrer Gründungsverträge und nicht nach nationalem Verfassungsrecht bestimmen220.
215 M. Wild,
Auslandseinsätze der Bundeswehr, DÖV 53 (2000), S. 629. verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Militäreinsätzen berührt dagegen als solche den Regelungsbereich von Art. 59 GG nicht; Art. 59 Abs. 2 und Art. 24 Abs. 2 GG betreffen ganz unterschiedliche und unabhängig voneinander zu beurteilende Regelungsbereiche. 217 BGBl. II 1955, S. 256. 218 Vgl. hierzu das Kurzgutachten von A. Fischer-Lescano vom 20. März 2007 hinsichtlich der Beteiligung Deutschlands am ISAF-Mandat, abrufbar unter: http:// www.fb6.uni-bremen.de/uploads/ZERP/AFL/Publikationen/Lescano_ Gutachten_ Zu stimmungsbeduerftigkeit2007.pdf (zuletzt aufgerufen, am 19. März 2014). 219 Siehe hierzu ausführlich unter Teil 3, Kap. 2. 220 A. Gilch, Das Parlamentsbeteiligungsgesetz, S. 74. Diese verfassungsrechtliche Selbstdisziplinierung entspricht auch der Grundintention des Grundgesetzes: einseitiges militärisches Agieren lediglich im Rahmen der Territorial- und Personalverteidigung, andere Einsatzziele nur gemeinsam mit anderen Staaten. 216 Die
E. Die innerstaatliche Relevanz der NATO-Verpflichtungen 291
II. Die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts Neben dem bereits angesprochenen Grundsatzurteil221 sind weitere Entscheidungen des BVerfG anzuführen, die für die Auslandseinsätze der Bundeswehr Relevanz aufweisen. Im Jahr 2001, kurz nach den Anschlägen auf das World Trade Center, hatte das höchste deutsche Gericht darüber zu entscheiden, ob die Zustimmung der Bundesregierung zu den Beschlüssen über das neue Strategische Konzept der NATO auf der Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs am 23. und 24. April 1999 in Washington, ohne Einleitung eines Zustimmungsverfahrens beim Deutschen Bundestag, gegen Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG verstoßen und damit Rechte des Deutschen Bundestages verletzt würde222. Dies schloss insbesondere die Frage mit ein, ob mit dem neuen Strategischen Konzept (1999) auch eine „strukturübersteigende Fortentwicklung des NATO-Vertrages“ einhergeht. Auch wenn das BVerfG letztlich entschied, dass das neue Strategische Konzept (1999) „weder ein förmlich noch ein konkludent zu Stande gekommener Vertrag“223 sei und es aus diesem Grund bei Nichtvorliegen einer Vertragsänderung zu keiner besonderen Zustimmung des Deutschen Bundestages bedarf224, rief dieses Urteil in der Literatur kritische Reaktionen hervor225. In einer weiteren Entscheidung musste das BVerfG sodann über die Entsendung deutscher Streitkräfte ins Ausland entscheiden. Der diesbezügliche Beschluss des Gerichts ist vor dem Hintergrund des Irak-Kriegs226 ergangen. 221 BVerfGE
90, 286, 345 („AWACS I“). 104, 151, Urt. v. 22. November 2001. 223 BVerfGE 104, 151, 6. Leitsatz. 224 BVerfGE 104, 151, 2. Leitsatz. 225 Vgl. hierzu allgemein H.-J. Cremer, Rechtsprechung des BVerfG, in: R. Geiger (Hrsg.), Neuere Probleme der parlamentarischen Legitimation im Bereich der auswärtigen Gewalt, S. 11 ff. m. w. N. 226 Die sog. „Irak-Frage“ (Aussetzung der Waffeninspektionen nach 1998) gewann nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wieder an Aktualität. Vor allem die USA und das Vereinigte Königreich bemühten sich um eine Resolution des SR. Am 8. November 2002 erließ der SR die Resolution 1441 (2002), in der er nach Kapitel VII der Charta tätig wurde und unter Bezugnahme auf die Resolutionen 660 (1990), 661 (1990), 678 (1990), 686 (1991), 687 (1991), 688 (1991), 707 (1991), 715 (1991), 986 (1995), 1284 (1999) und 1382 (2001) feststellte, dass der Irak noch immer seinen Verpflichtungen aus den vorangegangenen Resolutionen erheblich verletze und ihnen nunmehr unverzüglich gegenüber der neuen VN-Waffeninspektionskommission UNMOVIC sowie der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) nachzukommen habe. Der SR wies den Irak darauf hin, dass bei weiteren Verletzungen insbesondere die Resolution 678 vom 29. November 1990 die Mitgliedstaaten ermächtige, alle erforderlichen Mittel der Resolution 660 vom 2. August 1990 zu ergreifen, 222 BVerfGE
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Im sog. Streitkräfte-Beschluss vom 25. März 2003 (AWACS II)227 hatte das Gericht zu entscheiden, ob der Einsatz deutscher AWACS-Aufklärungsflugzeuge über türkischem Hoheitsgebiet – auf Grundlage eines Unterstützungsersuchens des NATO-Mitglieds Türkei gem. Art. 4 NV228 – gegen mögliche irakische Luftangriffe der Zustimmung des Deutschen Bundestages bedurfte und damit unter den konstitutiven Parlamentsvorbehalt gefallen wäre. Die Bundestagsfraktion der Freien Demokratischen Partei (FDP), die wie die CDU/CSU-Bundestagsfraktion229 für eine Zustimmungsbedürftigkeit des AWACS-Einsatzes plädierte, wollte mit „dem Gang nach Karlsruhe“ erreichen, dass der Einsatz deutscher Soldaten durch ein Bundestagsmandat230 auf eine klare Rechtsgrundlage gestellt wird. Allerdings lehnte das BVerfG den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab, ohne materiellrechtlich zu entscheiden, ob die Beteiligung deutscher Soldaten am AWACSEinsatz in der Türkei vor und während des Irak-Kriegs der konstitutiven Zustimmung des Bundestages bedurft hätte231.
um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit in der Region wiederherzustellen. Schon bald nach der Verabschiedung der Resolution zeichnete sich ab – die USA, GB, Spanien, Bulgarien vertraten die Ansicht, der Irak habe seine ihm mit der Resolution 1441 eingeräumte letzte Chance nicht wahrgenommen – dass es im Irak zu einer militärischen Auseinandersetzung kommen würde. Schließlich begann der Krieg mit der Operation Iraqi Freedom am 20. März 2003 mit den gezielten Bombardements in Bagdad. Die „Koalition der Willigen“ (in erster Linie USA, GB und Australien) eroberte und besetzte schließlich den gesamten Irak. Am 9. April 2003 wurde die Regierung von Diktator Saddam Hussein entmachtet. Am 1. Mai 2003 erklärte der US-amerikanische Präsident Bush das „Ende der Hauptkampfhandlungen“. Eine ausführliche Darstellung des Verlaufs des Irak-Krieges, in: C. Ziegler, Kosovo- und IrakKrieg, S. 55 ff. 227 BVerfGE 108, 34, Beschl. v. 25. März 2003. 228 Ein Einsatz im Rahmen von Art. 4 NV stellt zwar keine klassische Landesverteidigung im Sinne des Grundgesetzes dar, fällt aber unter die verfassungsrechtlich zulässige Einsatzform der sog. „non-Article-5-missions“. Es handelt sich bei der Entsendung in die Türkei um eine Beistandsleistung der NATO-Mitgliedstaaten in einer konkreten Bedrohungssituation für einen Mitgliedstaat. Vgl. A. Fischer-Lescano, AWACS-Einsatz, in: NVwZ 12 (2003), S. 1474 ff. m. w. N. 229 Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist die Gemeinschaft der Abgeordneten der Christlich Demokratischen Union (CDU) und der Christlich Sozialen Union (CSU) im Deutschen Bundestag. 230 Die damalige Bundesregierung, die sich aus der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und Bündnis 90/Die Grünen bildete, war dagegen der Auffassung, dass der Einsatz auf Basis der Entscheidung des Verteidigungsplanungsausschusses der NATO vom 19. Februar 2003 erfolgte und damit innerhalb des NATOGebietes durch die Bündnisverpflichtungen gedeckt sei. 231 Vgl. BVerfGE 108, 34. Aus dem Zweiten Senat war lediglich Richter Sommer beteiligt, der auch 1994 über die AWACS-I-Entscheidung geurteilt hat.
E. Die innerstaatliche Relevanz der NATO-Verpflichtungen 293
Da das Gericht nicht in der Sache „entschied“, sondern ausdrücklich dem Hauptsacheverfahren die Klärung der Frage vorbehielt, wie weit der konstitutive Parlamentsvorbehalt im Wehrverfassungsrecht wirklich reiche, war auch im Jahr 2003 nicht hinreichend geklärt, was der Begriff „Einsatz bewaffneter Streitkräfte“ im Sinne des Grundsatzurteils von 1994 wirklich bedeutet232. Nachdem die Regierung ankündigte, keine gesetzgeberischen Schritte einzuleiten, war es erneut die FDP-Fraktion, die zunächst innerhalb der vom BVerfG gesetzten Frist Klage in der Hauptsache einlegte und sodann am 12. November 2003 einen Entwurf eines Auslandseinsätzemitwirkungsge setzes in den Deutschen Bundestag einbrachte233. Erst am 23. März 2004, also ein Jahr nach dem „AWACS-II“-Beschluss und zehn Jahre nach dem „AWACS-I“-Grundsatzurteil des BVerfG, brachte auch die Regierungskoalition den E ntwurf eines Parlamentsbeteiligungsgesetzes234 in das Parlament 232 Gleichwohl begründet das Gericht in ungewöhnlich ausführlicher Form, warum es den Antrag in der Hauptsache nicht für offensichtlich unbegründet hält. Im Wortlaut der Entscheidung heißt es: „In der gegenwärtigen geopolitischen Lage ist nicht auszuschließen, dass die Verlegung von Teilen des NATO-AWACS-Verbandes, an dem deutsche Soldaten in größerer Zahl beteiligt sind, in die Türkei einen Einsatz darstellt, der die konstitutive Zustimmung des Bundestages erfordert. (…) In einem Hauptsacheverfahren bedarf es der Klärung, wie weit der unmittelbar Kraft Verfassung geltende, konstitutive Parlamentsvorbehalt im Wehrverfassungsrecht reicht. Der konstitutive Parlamentsvorbehalt ist in der Begründung auf das historische Bild eines Kriegseintritts zugeschnitten (vgl. BVerfGE 90, 286 [383]). Unter den heutigen politischen Bedingungen, in denen Kriege nicht mehr förmlich erklärt werden, steht eine sukzessive Verstrickung in bewaffnete Auseinandersetzungen dem offiziellen Kriegseintritt gleich. Deshalb unterliegt grundsätzlich jeder Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte der konstitutiven parlamentarischen Mitwirkung. (…) (Abs.) Im Haupt sacheverfahren ist deshalb der Frage nachzugehen, wann ein „Einsatz bewaffneter Streitkräfte“ anzunehmen ist, insbesondere wann deutsche Soldaten „in bewaffnete Unternehmungen einbezogen“ sind (vgl. BVerfGE 90, 286 [387 f.]). Für den konkreten Fall ist etwa zu klären, ab wann und inwieweit der Einsatz in integrierten NATOVerbänden zu einem den Parlamentsvorbehalt auslösenden Einsatz wird, wenn diese Verbände den Luftraum eines Bündnismitglieds überwachen, dessen Staatsgebiet unmittelbar an ein kriegsbefangenes Territorium angrenzt, oder wenn sich die Überwachung darüber hinaus auf das Territorium eines an dem bewaffneten Konflikt beteiligten Staates erstreckt.“ (BVerfGE 108, 34 [42 f.]) Darüber hinaus gibt das Gericht weitere Gedankenanstöße: „Ferner könnte klärungsbedürftig sein, inwieweit auch eine mittelbare Einbeziehung in bewaffnete Unternehmungen den Parlamentsvorbehalt auslöst. Dies gilt insbesondere im vorliegenden Fall, wenn Entwicklungen möglich sind, dass der Bündnispartner, dessen Gebiet zu sichern ist, selbst zu einer kriegsführenden Partei wird“. (BVerfGE 108, 34 [42 f.]). 233 FDP-Entwurf vom 12. November 2003 zum AuslandseinsätzemitwirkungsG, BT-Drs. 15/1985. 234 Koalitionsentwurf von SPD und Bündnis 90/Die GRÜNEN vom 23. März 2004 zum ParlamentsbeteiligungsG, BT-Drs. 15/2742.
294 Teil 3, Kap. 1: Bestand u. Inhalt der NATO-Grundsätze und -Verpflichtungen
ein. Am 24. März 2005 trat schließlich das Gesetz über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland (ParlBG) in Kraft, das Form und Ausmaß der parlamentarischen Beteiligung näher regelt235 und letztlich Rechtssicherheit schuf. In seinem Urteil236 zum Hauptsacheverfahren („AWACS III“) entschied das BVerfG am 7. Mai 2008, dass die wehrverfassungsrechtlichen Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages in Form des konstitutiven Parlamentsvorbehalts für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte verletzt wurden, indem die Bundesregierung es unterlassen hat, die Zustimmung zur Beteiligung deutscher Soldaten an Maßnahmen der NATO zur Luftüberwachung der Türkei vom 26. Februar bis zum 17. April 2003 einzuholen. Insgesamt bestätigte es mit diesem Urteil seine Rechtsprechung aus dem Streitkräfteurteil, wonach der konstitutive Parlamentsvorbehalt eingreift, wenn nach dem jeweiligen Einsatzzusammenhang und den einzelnen rechtlichen und tatsächlichen Umständen die Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete Auseinandersetzungen konkret zu erwarten ist. Schließlich hatte das BVerfG im Jahre 2007 darüber zu urteilen237, ob der Beschluss des Bundestages vom 9. März 2007 zur Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (ISAF) die Rechte des Deutschen Bundes tages aus Art. 59 Abs. 2 GG verletzte. Zu klären war insbesondere, ob die Bundesregierung an einer Fortentwicklung des NV über dessen gesetzlichen Ermächtigungsrahmen hinaus mitgewirkt und dadurch Rechte des Deutschen Bundestages aus Art. 59 Abs. 2 GG verletzt hat. 235 Nach § 1 Abs. 2 ParlBG bedarf der Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes der Zustimmung des Deutschen Bundestages. Den Einsatzbegriff regelt § 2 ParlBG wie folgt: „(1) Ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte liegt vor, wenn Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in bewaffnete Unternehmungen einbezogen sind oder eine Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung zu erwarten ist. (2) Vorbereitende Maßnahmen und Planungen sind kein Einsatz im Sinne dieses Gesetzes. Sie bedürfen keiner Zustimmung des Bundestages. Gleiches gilt für humanitäre Hilfsdienste und Hilfsleistungen der Streitkräfte, bei denen Waffen lediglich zum Zweck der Selbst-verteidigung mitgeführt werden, wenn nicht zu erwarten ist, dass die Soldatinnen oder Soldaten in bewaffnete Unternehmungen einbezogen werden“. Weiterhin regelt § 4 Abs. 1 ParlBG, dass die parlamentarische Zustimmung bei „Einsätzen von geringer Intensität und Tragweite“ in einem einfachen Verfahren erteilt werden kann. Solche Einsätze liegen nach § 4 Abs. 2 ParlBG vor, wenn die Zahl der eingesetzten Soldatinnen und Soldaten gering ist, der Einsatz aufgrund der übrigen Begleitumstände erkennbar von geringer Bedeutung ist und es sich nicht um die Beteiligung an einem Krieg handelt. 236 BVerfGE 121, 135 (AWACS III), Urt. v. 7. Mai 2008. 237 BVerfGE 118, 244, Urt. v. 3. Juli 2007.
E. Die innerstaatliche Relevanz der NATO-Verpflichtungen 295
Das Gericht entschied, dass keine Verletzung der Rechte des Deutschen Bundestages vorlag, da „der NATO-geführte ISAF-Einsatz in Afghanistan der Sicherheit des euro-atlantischen Raums dient und sich damit innerhalb des Integrationsprogramms des NATO-Vertrages bewegt, wie es der Deutsche Bundestag im Wege des Zustimmungsgesetzes zu diesem Vertrag mitverantwortet“238.
Unter Hinweis auf sein Urteil vom 22. November 2001239, wonach das Strategische Konzept von 1999 nicht über das vertragliche Integrationsprogramm hinaus fortgebildet worden sei, führte es weiter aus, dass ein Einsatz außerhalb des Bündnisgebiets keine Praxis darstellt, „die über die Konzeption des Strategiekonzepts von 1999 hinausgeht“240. Insbesondere deshalb kam es zu der Einschätzung, dass es an einer Verletzung des Deutschen Bundestages in seinem Recht aus Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG durch Verstoß gegen den in Art. 24 Abs. 2 GG vorgegebenen Zweck der Friedenswahrung fehlt, da die tatsächliche Vollziehung des Einsatzes keine Anhaltspunkte für eine „strukturelle Abkopplung der NATO von ihrer in Art. 24 Abs. 2 GG festgelegten Zweckbestimmung“ liefert241. Es bleibt zu resümieren, dass das BVerfG, insbesondere mit dem Streitkräfteurteil im Jahr 1994, den Grundstein für die Verabschiedung des ParlBG gelegt hat. Der Deutsche Bundestag hat seither ein Regelwerk an der Hand, dass zum einen das Verfahren bezüglich des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte im Ausland regelt sowie zum anderen Rechtssicherheit schafft.
III. Zusammenfassung Die innerstaatliche Relevanz der NATO-Verpflichtungen wurde am Beispiel des Mitgliedstaates Bundesrepublik Deutschland erörtert. Während die politischen Organe der NATO (NATO-Rat etc.) gegenüber den Mitgliedstaaten nach den einschlägigen völkerrechtlichen Regelungen und Abmachungen keine Durchgriffsrechte in den innerstaatlichen Bereich haben, ist dies bei den militärischen Kommandostellen anders. Deren Aufgaben und Befugnisse sowie diejenigen der NATO-Oberbefehlshaber sind zwar in keinem völkerrechtlichen Vertrag geregelt. Die Grundlage der „militärischen Integration“ ist vielmehr ein Beschluss des NATO-Rates vom 23. Oktober 1954, der seinerseits auf Abschnitt IV der am 3. Oktober 1954 verabschiedeten Schlussakte (nebst deren Anlage V) der Londoner Neunmächtekonferenz beruht. Das 238 BVerfGE
118, 244, 263. 104, 151. 240 BVerfGE 118, 244, 265. 241 BVerfGE 118, 244, 270. 239 BVerfGE
296 Teil 3, Kap. 1: Bestand u. Inhalt der NATO-Grundsätze und -Verpflichtungen
BVerfG hat angenommen, der deutsche Gesetzgeber habe durch seine 1955 erfolgte Billigung des deutschen Beitritts zum NV der Sache nach auch der Eingliederung deutscher Streitkräfte in integrierte Verbände der NATO zugestimmt.242 Unabhängig von der „militärischen Integration“ begrenzt in Deutschland neben dem Völkerrecht vor allem das Grundgesetz sowie in praxi das BVerfG – nach Art. 31 BVerfGG haben dessen Urteile bindende Wirkung für alle Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte – den bewaffneten Einsatz der Bundeswehr. Ausgehend vom sog. Streitkräfteurteil im Jahre 1994, bei dem das BVerfG den für jedweden bewaffneten Auslandseinsatz der Bundeswehr notwendigen konstitutiven Parlamentsvorbehalt entwickelte, wurde im Jahr 2005 das ParlBG verabschiedet, welches die Beteiligung der Legislative in Deutschland an der Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte regelt. Das Grundgesetz selbst gibt in Art. 87a Abs. 2 GG vor, dass Streitkräfte „außer“ zur Verteidigung „nur“ dann eingesetzt werden dürfen, soweit es das GG ausdrücklich zulässt. Dadurch wird jedoch nicht der Einsatz deutscher Streitkräfte im Rahmen eines „Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ – dem Deutschland nach Art. 24 Abs. 2 GG beitreten kann – ausgeschlossen. Das BVerfG hat im Streitkräfteurteil die NATO mit in die Definition dieses verfassungsrechtlichen Begriffs einbezogen, wenn es dem maßgeblichen Kriterium des Art. 24 Abs. 2 GG, der Friedenswahrung, dient. Darüber hinaus ist die ausschließlich den innerstaatlichen Bereich betreffende Norm des Art. 59 Abs. 2 GG von grundlegender Bedeutung. Insbesondere bei der Frage, ob und inwieweit informelle Fortbildungen von Bündnisverträgen eines parlamentarischen Zustimmungsgesetzes bedürfen, führt zur Beachtung dieser Norm bei der Entsendung deutscher Streitkräfte ins Ausland im Rahmen von VN- oder NATO-Missionen. Das BVerfG hatte seit Ende der Blockkonfrontation mehrfach über den Einsatz deutscher Streitkräfte ins Ausland und die damit zusammenhängenden Fragen zu entscheiden. Neben dem bereits erwähnten Streitkräfteurteil aus dem Jahr 1994 musste es zwischen 2001 und 2008 wiederholt darüber urteilen, ob die Bundesregierung an der Fortentwicklung des NV mitgewirkt hat und insoweit Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages verletzt wurden.
242 Vgl.
D. Deiseroth, Die NATO, in: Ad Legendum 3/2017, S. 193 m. w. N.
Kapitel 2
Abwandlung sowie Änderung des NV durch Mitgliedstaaten A. Die Vertragsänderung Nachdem im vorherigen Kapitel Bestand und Inhalt der NATO-Grundsätze und -Verpflichtungen dargelegt wurden, soll in diesem Kapitel nunmehr untersucht werden, inwieweit völkerrechtlich eine Abwandlung bzw. Änderung des NV durch die Mitgliedstaaten möglich ist. Zunächst wird darzulegen sein, was völkerrechtlich unter einer Vertragsänderung zu verstehen ist, um sodann im Rahmen einer „Einzelfallprüfung“ zu untersuchen, ob durch die Handlungen des Nordatlantikbündnisses seit Ende der bipolaren Weltordnung Vertragsänderungen am NV einhergegangen sind.
I. Terminologie Die Vertragsänderung ist als Vorgang zu definieren, „der sowohl auf die Änderung des förmlichen Vertragsinstruments als auch der durch den Vertrag geschaffenen Rechtslage oder Norm gerichtet sein kann“.243 Neben dieser „begrifflichen Doppelseitigkeit“ werden Ausdrücke – wie „Revision“, „Vertragsabänderung“, „Berichtigung“, seltener „Novellierung“ – verwendet, bei denen oftmals nicht inhaltlich differenziert wird. Dem entsprechen weitestgehend die englischen und französischen Ausdrücke amendment bzw. amendement sowie modification. Der Begriff „Revision“ wird seit der Zwischenkriegszeit mit dem Bestreben assoziiert, eine Änderung ungerechter und ungleicher Verträge zu erreichen244. Gleichwohl ist dies auch ein Grund gewesen, diesen in der WVK nicht mehr zu verwenden. Vielmehr haben sich die ILC und in ihrem Gefolge die Erschaffer der Vertragsrechtskonvention für den Ausdruck amendment (engl.; franz.: amendement) entschieden, womit zum einen relativ unbedeutende Teiländerungen als auch allgemeine Revisionen von Verträgen bezeich-
243 W. Karl,
Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 18. Introduction to International Law, S. 468.
244 J. Starke,
298 Teil 3, Kap. 2: Abwandlung sowie Änderung des NV durch Mitgliedstaaten
net werden245. Allerdings soll nach dem ILC-Entwurf zur WVK amendent als „eine förmliche Änderung des Vertrags“ definiert werden, „die darauf gerichtet ist, die Bestimmungen des Vertrages mit Wirkung für alle Vertragsparteien abzuändern“246. Damit soll es sich um eine beabsichtigte Änderung handeln, die im Wege eines förmlichen Verfahrens zustande kommt und, zumindest der Anlage nach, alle Vertragsparteien erfasst. Dem amendment steht die modification gegenüber als Sammelbezeichnung für die formlosen Änderungen des Vertrages. Modification bezeichnet außerdem die Änderung einzelner vertraglicher Rechtsbeziehungen (inter se), die das Vertragsinstrument selbst unberührt lässt.247
II. Arten der Vertragsänderung Die soeben aufgezeigte Vielgestaltigkeit der Vertragsänderung erfordert – wie von Karl vorgenommen248 – eine Klassifizierung. Zunächst ist nach dem Gegenstand der Änderung zu unterscheiden, d. h. zwischen der Änderung des Vertragsinstruments und einer Änderung der Vertragsnorm. Hierbei ist davon auszugehen, dass beide Arten gewöhnlich miteinander einhergehen. Eine bloße Änderung des Instruments – des Wortlauts vertraglicher Bestimmungen – die von keiner materiellen Änderung begleitet wird, ist wenig praktisch. In Betracht käme sie lediglich bei einer bereits eingetretenen materiellen Änderung. Auch eine Änderung der Vertragsnorm ohne begleitende Textänderung ist möglich. Weiterhin ist nach der Form der Änderung – zwischen einer förmlichen und einer formlosen Vertragsänderung – zu unterscheiden. Die förmliche Vertragsänderung vollzieht sich nach dem vertraglich vorgesehenen (Revi sions-)Verfahren und „findet regelmäßig in einem förmlichen Änderungsinstrument ihren Niederschlag“249. Von formloser Änderung ist gelegentlich bereits dann auszugehen, wenn die Änderung nicht dem im Vertrag vorgesehenen Änderungsverfahren folgt. Im engeren Sinn ist damit eine Vertragsän245 ILC-Entwurf 1966, S. 232 § 3: „The Commission (…) considered it sufficient in the present articles to speak of ‚amendment‘ as being a term which covers both the amendment of particular provisions and a general review of the whole treaty“. 246 Vgl. ebd. S. 232 § 3: „This term is here used to denote a formal amendment of a treaty intended to alter its provisions with respect to all the parties“. 247 W. Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 19 f. 248 Ders., ebd., S. 20 f. 249 Beispielhaft dafür sind die Novellierungen der VN-Charta in den Jahren 1963, 1965 und 1971, die gem. Art. 108 VN-Charta jeweils auf Resolutionen der GV und der Annahme durch zwei Drittel der Mitgliedstaaten inkl. aller Ständigen Mitglieder des SR beruhten. W. Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 20.
A. Die Vertragsänderung299
derung „auf mündlichem oder stillschweigendem Wege, implizit und schlüssig“ gemeint250. Diese Art der Vertragsänderung, die das Vertragsinstrument des NV völlig unberührt lässt, aber die Vertragsnorm(en) ändert, bildet den Schwerpunkt dieser Arbeit. Darüber hinaus ist zwischen Rechtsgrund und Methode der Vertragsänderung zu unterscheiden. Einerseits kann man nach dem Rechtsgrund der Änderung zwischen einer Vertragsänderung aufgrund des Vertrages, aufgrund einer neuen Willenseinigung der Vertragsparteien und aufgrund eines Satzes des allgemeinen Völkerrechts unterscheiden. Während andererseits nach der Methode der Änderung danach zu trennen ist, ob die Vertragsänderung gewillkürt (z. B. durch Revisionsvereinbarung oder Revisionsbeschluss) oder automatisch, d. h. ohne zielgerichtetes Handeln (etwa durch unscheinbaren Bedeutungswandel oder gewohnheitsrechtliche Derogation), vonstattengeht251.
III. Vertragsänderung und Vertragsauslegung Die Vertragsauslegung252 beinhaltet die Feststellung des Vertragsinhalts253 und ist daher grundsätzlich von der Vertragsänderung zu unterscheiden254. Bei genauerer Betrachtung ergeben sich gleichwohl Überschneidungen, die eine Abgrenzung schwierig erscheinen lassen. Denn gerade auch im Rahmen gewöhnlicher Vertragsauslegung und -anwendung wird ein „gegebener“ Vertragsinhalt in gewisser Weise verändert. Ursächlich dafür ist der Erkenntnisvorgang, der zu divergenten Ergebnissen führt. Überdies erfolgen Veränderungen auch durch „Lückenfüllungen“ bei ausgeübter Rechtsschöpfungskompetenz. Weiterhin ist denkbar, dass Abweichungen sich als Auslegung „tarnen“ und unwidersprochen hingenommen werden255. Dies hat zur 250 Ders.,
ebd., S. 20. ebd., S. 21. 252 Die Auslegung ist ein zentrales Thema in der Rechtswissenschaft und -praxis. „There is no part of the law of treaties which the textwriter approaches with more trepidation than the question of interpretation“ – so bereits A. Lord McNair, The Law of Treaties, S. 364. Folgende Monografien zur Vertragsauslegung seien hierzu erwähnt: R. Bernhardt, Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge, passim; H. Köck, Vertragsinterpretation und Vertragsrechtskonvention, passim. 253 Vgl. R. Bernhardt, Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 32: „Ziel der Vertragsauslegung ist die Feststellung der Tragweite und des normativen Gehalts des Vertrags“. 254 Vgl. die ILC: „Although the line may sometimes be blurred between interpretation and amendment of a treaty (…) legally the process are distinct“. (ILC-Entwurf 1966, Kommentar zu Art. 38, S. 236 § 1). 255 Gleichwohl ist ein Unterschied darin zu sehen, dass die Vertragsänderung grundsätzlich in allen künftigen Anwendungsfällen bindet, während die „gewöhn 251 Ders.,
300 Teil 3, Kap. 2: Abwandlung sowie Änderung des NV durch Mitgliedstaaten
Folge, dass auch „bloße“ Auslegungen künftige Auslegungsentscheidungen beeinflussen und so ein gewisses Maß an Fortwirkung besitzen256. Darüber hinaus weist Karl darauf hin, dass es bei der authentischen Auslegung257 auf die spätere Praxis zwar grundsätzlich nicht ankommt, da sie völkerrechtlich dieselbe Bindungswirkung wie eine „technische“ Vertragsänderung aufweist. Allerdings können auch im Rahmen dieser Auslegung Verträge geändert werden. Und zwar wegen der Natur des Erkenntnisvorgangs, durch Hervorhebung der historischen Vertragsabsicht (die zur normativen Bedeutung des Vertrages in Widerspruch steht) und durch Präzisierung dahingehend, dass bisher mögliche Vertragsdeutungen ausgeschlossen werden. In der Praxis werden gleichwohl noch viel weiterreichende Änderungen des Vertrages als authentische Auslegung bezeichnet258. 1. Besonderheiten der Auslegung eines Gründungsvertrags Die h. L.259 und auch der IGH260 gehen darüber hinaus davon aus, dass die Auslegung von Gründungsverträgen internationaler Organisationen zwar den gleichen Grundregeln wie die Auslegung „regulärer“ völkerrechtlicher Verträge unterliegt (wie in Art. 31 ff. WVK niedergelegt), dass jedoch zwischen den verschiedenen Auslegungsmethoden eine andere Schwerpunktsetzung angezeigt ist bzw. weitere – freilich meist mit den herkömmlichen Auslegungsregeln verwandte – Methoden hinzutreten, wie effet utile und implied powers.
liche“ Auslegung in ihrer Wirkung auf den Einzelfall beschränkt ist. W. Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 46. 256 Dieser Punkt ist unter dem Aspekt der späteren Praxis zu untersuchen. 257 Die authentische Vertragsauslegung ist die nach der zentralen und ursprüng lichen Bedeutung des Worts förmliche und ausdrückliche Feststellung des Vertrags inhalts durch die Vertragsparteien selbst nach dem bekannten Grundsatz: Eius est interpretare legem cuius condere. Vgl. Gutachten des StIGH: Question of Jaworzina ( Polish-Czechoslovakian Frontier), Rechtsgutachten des StIGH v. 6.12.1923, PCIJ Series B, No. 8, S. 37. 258 W. Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 46. 259 Statt vieler J. Alvarez, Constitutional interpretation in international organization, in: J.-M. Coicaud/V. Heiskanen (Hrsg.), The legitimacy of international organizations, S. 136 f.; M. Ruffert/C. Walter, Institutionalisiertes Völkerrecht, Rdnr. 136 ff.; T. Satō, Evolving Constitutions of International Organizations, S. 231 f.; a. A. J. Klabbers, An Introduction to International Institutional Law, S. 92. 260 Noch vorsichtig in: IGH, Certain Expenses, Advisory Opinion, ICJ Reports 1962, 151, 157; eindeutig in: Use of Nuclear Weapons, Advisory Opinion, ICJ Reports 1996, 66, 75.
A. Die Vertragsänderung301
a) Besondere Rolle von teleologischer/dynamischer Auslegung und Praxis der internationalen Organisation Insbesondere der teleologischen bzw. der dynamisch-evolutiven (den völkerrechtlichen Vertrag weiterentwickelnden) Auslegung einerseits und der Praxis der Organisation andererseits wird allgemein eine hervorgehobene Rolle bei der Interpretation der Gründungsverträge internationaler Organisationen eingeräumt. Damit einhergehen soll die Abnahme der Bedeutung weiterer Aspekte – vornehmlich des Wortlauts, der Systematik und ganz besonders der Entstehungsgeschichte. Dies wird zumeist mit dem konstitutionellen Charakter der Gründungsverträge internationaler Organisationen261 und ihrer Eigenschaft als living instrument/living constitution begründet.262 Ebenso wie mit den wechselnden Anforderungen, welche die sich stetig wandelnden internationalen Beziehungen an die Organisationen stellen.263 Und schließlich mit dem in den Organen gebildeten autonomen Willen der Organisation. Einige Völkerrechtler begründen diese Annahme mittels Analyse der Rechtsprechung des IGH264. Diese sei im Hinblick auf Art. 38 Abs. 1 lit. d IGH-Statut grundsätzlich aussagekräftig; gleichwohl sie allein nicht zu ihrer Begründung genügen dürfte. Die Gegenansicht betont – unter Hinweis auf Art. 5 WVK – die Einheitlichkeit der Völkerrechtsordnung und auch des Auslegungsregimes der WVK und möchte die teleologische Auslegung bei den Gründungsverträgen internationaler Organisationen nicht höher als bei anderen Vertragsregimen gewichten265. Die Einschätzung von Mitgliedstaaten, bestimmte Ziele und Grundsätze für so bedeutsam zu erachten, dass die Kreation eines eigenständigen Gebildes mit einer institutionellen Struktur und mit oftmals beträchtlichen finan ziellen Mitteln zu ihrer Verfolgung für erforderlich erachtet wird, spricht in der Tat für eine vorrangige Berücksichtigung dieser Ziele und Grundsätze bei der Auslegung eines Gründungsvertrages. Dass der Praxis der internationalen 261 J. Alvarez, Constitutional interpretation in international organization, in: J.-M. Coicaud/V. Heiskanen (Hrsg.), The legitimacy of international organizations, S. 104, 136 f. 262 J. Alvarez, International Organizations as Law-makers, S. 81; R. Bernhardt, Ultra Vires Activities of International Organizations, in: J. Makarczyk (Hrsg.), Theory of International Law at the Threshold of the 21st Century, FS Krzysztof Skubiszewski, S. 602; S. Engel, „Living“ International Constitutions and the World Court, in: ICLQ 16 (1967), S. 865 f. und S. 909 f. 263 S. Engel, „Living“ International Constitutions and the World Court, in: ICLQ 16 (1967), S. 909 f. 264 T. Satō, Evolving Constitutions of International Organizations, S. 39 ff., 231 f. 265 J. Klabbers, An Introduction to International Institutional Law, S. 92.
302 Teil 3, Kap. 2: Abwandlung sowie Änderung des NV durch Mitgliedstaaten
Organisation eine hervorgehobene Rolle zukommen sollte, findet ebenfalls Unterstützung. Es besteht jedoch Übereinstimmung darüber, dass das Ziel einer gewissen Einheitlichkeit der Völkerrechtsordnung nicht aus den Augen verloren werden darf; der Boden des Rechts der Verträge sollte nicht verlassen werden. Insofern sollte nicht vergessen werden, dass teleologische Auslegung und Praxis unter Umständen der Durchsetzung konfligierender Interessen unterschiedlicher Akteure dienen können. Das wird im Bereich der internationalen Organisationen besonders virulent. Während gerichtliche Streitbeilegungs organe wie der IGH auf teleologische Ansätze zurückgreifen können, um das Recht von der Richterbank aus fortzuentwickeln und dieses Mittel auch bloßen Organmehrheiten oder aus unabhängigen Experten zusammengesetzten Organen zur Verfügung steht, kann das Praxisargument den Mitgliedstaaten helfen, ihren Einfluss auf die Organisation aufrechtzuerhalten oder zu festigen – insbesondere, wenn es auf Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK gestützt wird266. b) Interpretationskompetenz und autoritative Auslegung Ein weiteres hervorstechendes Merkmal der Auslegung von Gründungsverträgen ist die Interpretationskompetenz von Organen. Nach der Rechtsprechung des IGH und der wohl einhelligen Meinung in der völkerrechtlichen Literatur gilt diesbezüglich der Grundsatz, dass jedes Organ bei der Erfüllung der ihm obliegenden Aufgaben seine Kompetenzen selbst auszulegen hat. Obwohl die Frage der Auslegungskompetenz oft unabhängig von der Frage nach der Relevanz der späteren Praxis bzw. der Organpraxis thematisiert wird, sind beide eng miteinander verbunden. Denn die Auslegungskompetenz bestimmt, welche Wirkung Praxis auf die Normen des Gründungsvertrages haben kann: Hat ein Organ bezüglich aller oder bestimmter Vorschriften eine autoritative Interpretationskompetenz, kann seine Praxis die Reichweite dieser Vorschriften – innerhalb der Grenzen der Auslegung – verbindlich bestimmen. Die Interpretationskompetenz determiniert die möglichen Rechtsfolgen der Praxis. Umgekehrt kann die autoritative Auslegungskompetenz eines Organs überhaupt erst durch Praxis begründet werden, die freilich strengen Voraussetzungen genügen muss. Die entscheidende Frage bei der Auslegungskompetenz ist nicht, ob sie überhaupt besteht. Zur Auslegung sind im Völkerrecht nämlich zahlreiche Akteure berechtigt und jedes Organ einer internationalen Organisation kann sich mit Fragen der Satzungsauslegung befassen. Entscheidend ist vielmehr,
266 C. Peters,
Praxis Internationaler Organisationen, S. 154 f.
A. Die Vertragsänderung303
ob die Auslegungskompetenz autoritativ ist, d. h., ob sie rechtsverbindlich ist und ihr Vorrang vor den Auslegungsresultaten anderer Akteure zukommt. Das Konzept der autoritativen Auslegung hat für die spätere Praxis internationaler Organisationen eine herausragende Bedeutung. Unter bestimmten Voraussetzungen (v. a. Einstimmigkeit und entsprechende Übereinkunft der Parteien/Organe) kann spätere Praxis in eine verbindliche Auslegung erwachsen, wenn keine ausdrückliche Ermächtigung im Gründungsvertrag besteht. Eine solche dürfte eher den Regeln der internationalen Organisation als der späteren Praxis i. S. v. Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK zuzuordnen sein. Sie findet ihre Rechtsgrundlage ausschließlich im Gründungsvertrag und nicht im Recht der Verträge267. 2. Zwischenfazit Es bleibt zu konstatieren, dass für die Auslegung von Gründungsverträgen internationaler Organisationen einige Besonderheiten gelten sollen. Vor allem der den völkerrechtlichen Vertrag weiterentwickelnden Auslegung einerseits und der Praxis der Organisation andererseits soll eine hervorgehobene Rolle bei der Interpretation der Gründungsverträge internationaler Organisationen eingeräumt werden. Allerdings besteht dabei die Gefahr, dass es zu einer „Uneinheitlichkeit“ der Völkerrechtsordnung kommen kann und damit letztlich auch der Boden des Rechts der Verträge verlassen werden könnte. Ein weiteres Merkmal der Auslegung von Gründungsverträgen ist die Interpretationskompetenz von Organen. Da grundsätzlich jedes Organ einer internationalen Organisation berechtigt ist, sich mit Fragen der Satzungsauslegung zu befassen, ist entscheidend, ob die Auslegungskompetenz autoritativ ist, d. h., ob sie rechtsverbindlich ist und ihr Vorrang vor den Auslegungsresultaten anderer Akteure zukommt. Dabei soll das Konzept der autoritativen Auslegung seine Rechtsgrundlage ausschließlich im Gründungsvertrag und nicht im Recht der Verträge finden.
IV. Zwischenergebnis Nach Karl soll das Verhältnis von Vertragsänderung zur Vertragsauslegung fließende Übergänge und Überschneidungen aufweisen. Wie auch bei den zuvor dargelegten Besonderheiten der Auslegung von Gründungsverträgen ist jedoch fraglich, ob diese völkerrechtlich zulässig sind. Im Rahmen der vorzunehmenden (Einzelfall-)Prüfung ist darauf jeweils explizit einzugehen,
267 C. Peters,
Praxis Internationaler Organisationen, S. 155 f.
304 Teil 3, Kap. 2: Abwandlung sowie Änderung des NV durch Mitgliedstaaten
um die rechtsquellentheoretischen Feststellungen dogmatisch einordnen zu können.
B. Vertragsänderung durch Übereinkunft aller Vertragsparteien Eine Vertragsänderung kann grundsätzlich dann vorliegen, wenn alle Vertragsparteien eine dementsprechende Übereinkunft erzielen. In Bezug auf die NATO ist daher zu untersuchen, ob sowohl in den Strategischen Konzepten des Bündnisses als auch in den Gipfelerklärungen diesbezügliche Übereinkünfte zu sehen sind. Nach der Rechtsprechung des BVerfG268 soll es sich beim Strategischen Konzept nicht um einen Änderungsvertrag handeln. Wo jedoch allgemein die Grenze zwischen Vertragsänderung und Vertragsauslegung verläuft, ist mitunter nicht einfach festzustellen. Karl führt zum Einfluss der Praxis auf Inhalt und Bestand völkerrechtlicher Verträge aus, dass zwischen beiden kein wesentlicher, jedoch ein „konzeptueller Unterschied“ besteht. So ermöglicht die Vertragsänderung eine „beinahe unbeschränkte Vertragsgestaltung“, „während die authentische Auslegung gewissen inhaltlichen Schranken unterworfen scheint, die mit dem Begriff der Auslegung einhergehen“269. Dahm et al. definieren als Richtschnur, dass eine Vertragsänderung den Vertrag ergänzt oder ändert, die Vertragsauslegung hingegen Vertragsbestimmungen nur präzisiert und klarstellt.270 Die Vertragsänderung zielt damit auf eine abweichende Festlegung des Vertragsinhalts ab, wohingegen die Vertragsauslegung den Vertragsinhalt bestätigt. Zusammen mit Geiger definieren sie, dass die authentische Vertragsauslegung wie eine Vertragsänderung wirkt, da sie eine von mehreren Auslegungsmöglichkeiten festlegt und andere Deutungen ausschließt271. Bauer-Savage gelangt diesbezüglich zu dem Ergebnis, dass eine Auslegungsvereinbarung von den ursprünglichen Bestimmungen des Vertrages gedeckt sein muss, um als solche qualifiziert werden zu können. Andernfalls handelt es sich um einen Änderungsvertrag272. Um die Abgrenzung und rechtliche Einordnung vorzunehmen, müssen die Dokumente ausgelegt werden. Das Augenmerk ist darauf zu richten, ob das BVerfGE 90, 286 ff. Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 43. 270 G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht (Bd. I/3), § 155, S. 675. 271 R. Geiger, Veränderung von DBA ohne Änderung des Vertragstextes?, in: K. Vogel (Hrsg.), DBA und nationales Recht, S. 45; G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht (Bd. I/3), § 155, S. 674. 272 T. Bauer-Savage, Die völkerrechtliche Verwandlung der NATO, S. 67 f. 268 Vgl.
269 W. Karl,
B. Vertragsänderung durch Übereinkunft aller Vertragsparteien 305
in den Vereinbarungen definierte Aufgabenfeld und Einsatzgebiet vom NV abgedeckt wird. Darüber hinaus ist zu prüfen, inwieweit die Mitgliedstaaten durch die Übereinkünfte völkerrechtliche Rechtsfolgen erzeugen wollten, d. h., ob die Vereinbarungen vom Völkerrecht bestimmt sind („governed by international law“)273. Denn andernfalls würde es sich um außerrechtliche Übereinkünfte handeln274.
I. Vertragsänderungen durch Gipfelerklärungen seit 1990 Die Gipfelerklärungen275 der Staats- und Regierungschefs könnten rechtlich so eingeordnet werden, dass sie als Versuch zu qualifizieren sind, unter Umgehung der Voraussetzungen für eine völkerrechtlich zulässige Vertragsänderung den „gleichen Effekt“ erzielen zu wollen. Dies hängt jedoch maßgeblich von der rechtlichen Einordnung der Dokumente ab. Unstreitig handelt es sich bei den Erklärungen um internationale Übereinkünfte, bei denen jedoch jeweils zu prüfen ist, ob es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag oder um eine Vereinbarung unterhalb der Vertragsschwelle handelt. Ein maßgebliches Abgrenzungskriterium stellt der Rechtsbindungswille dar. Entscheidender sind jedoch die verfassungsrechtlichen Vorgaben der jeweiligen Mitgliedstaaten für eine derartige Vertragsänderung. Die Erklärungen sind jeweils vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Lage zu begutachten. Während die „Londoner Erklärung“ noch ganz im Zeichen der historischen Zeitenwende stand und eine „umfassende Neu273 Dieses objektiv formulierte Erfordernis eines subjektiven Elements ist völkerrechtlich allgemein anerkannt. Vgl. hierzu die ausführliche Herleitung bei M. Rotter, Völkerrechtlicher Vertrag und außerrechtliche Abmachung, in: R. Marcic et al. (Hrsg.), Intern. FS Alfred Verdross, S. 422 ff. 274 In Bezug auf die OSZE, J. Bortloff, OSZE, S. 328. 275 Seit der historischen Zeitenwende 1989 gab es folgende (Gipfel-)Erklärungen der Staats- und Regierungschefs: „Londoner Erklärung“ vom 6. Juni 1990; „Erklärung von Rom über Frieden und Zusammenarbeit“ auf der NATO-Gipfelkonferenz vom 7. und 8. November 1991 in Rom; Erklärung auf der NATO-Gipfelkonferenz vom 10. und 11. Januar 1994 in Brüssel; „Grundakte“ NATO-Russland vom 27. Mai 1997 in Paris; „Erklärung von Madrid“ vom 8. und 9. Juli 1997; „Kommuniqué anlässlich des 50. Jahrestages der NATO“ vom 23. und 24. April 1999; Erklärung „NATO-Russland-Beziehungen“ vom 28. Mai 2002 in Rom; Erklärung vom 21. und 22. November 2002 in Prag; „Kommuniqué“ vom 28. und 29. Juni 2004 in Istanbul; „Gipfelerklärung von Riga“ vom 29. November 2006; „Gipfelerklärung von Bukarest 2008“ vom 2.–4. April 2008; Erklärungen auf dem NATO-Gipfel in Straßburg/Kehl vom 3. und 4. April 2009; Erklärungen auf dem NATO-Gipfel in Lissabon vom 19. und 20. November 2010; Erklärungen auf dem NATO-Gipfel in Chicago vom 20. und 21. Mai 2012. Alle Gipfelerklärungen sind abrufbar unter: http://www.nato.diplo. de/Vertretung/nato/de/06/Gipfelerklaerungen/Gipfelerkl_C3_A4rungen.html (zuletzt aufgerufen, am 22. November 2013).
306 Teil 3, Kap. 2: Abwandlung sowie Änderung des NV durch Mitgliedstaaten
gestaltung“ des Bündnisses angekündigt wurde, verkündeten die Staats- und Regierungschefs auf der Gipfelkonferenz 1991 in Rom ein neues Strategisches Konzept. Die „Erklärung von Rom über Frieden und Zusammenarbeit“ bezieht sich auf dieses Konzept und die „neue Sicherheitsarchitektur“. Die Erklärung der Konferenz in Brüssel 1994 beschreibt auch fünf Jahre nach den historischen Veränderungen die Erneuerung der NATO. Es wird betont, dass auf den Entscheidungen von London und Rom sowie dem neuen Strategischen Konzept Initiativen auf den Weg gebracht werden sollen, „die darauf angelegt sind, zu dauerhaftem Frieden, Stabilität und Wohlstand in ganz Europa beizutragen“. In Paris wurde am 27. Mai 1997 die „Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit“ zwischen der NATO und Russland verabschiedet, in der beide Seiten vereinbarten, sich nicht mehr als „Gegner“ zu betrachten und „die Ziele und den Mechanismus für Konsultation, Zusammenarbeit, gemeinsame Entscheidungsfindung und gemeinsames Handeln“ festlegten. Auf dem Madrider Gipfel am 8./9. Juli 1997 wurden konkrete Beschlüsse zur Erweiterung des Bündnisses durch Aufnahme neuer Mitglieder gefasst sowie eine „ausgeprägte Partnerschaft“ mit der Ukraine beschlossen. Das Gipfeltreffen anlässlich des 50. Jahrestags des Nordatlantikbündnisses am 23./24. April 1999 in Washington wurde zur Darlegung „der Vision der Allianz für das 21. Jahrhundert“ mit der Herausgabe des Neuen Strategischen Konzepts (1999). Beim Gipfel am 28. Mai 2002 in Rom wurden die NATO-Russland-Beziehungen erneuert. In der Gipfelerklärung vom 21./22. November 2002 in Prag erklärten die Staats- und Regierungschefs, dass sie „die NATO einem Wandlungsprozess unterziehen (wollen) – mit neuen Mitgliedern, neuen Verteidigungsfähigkeiten und neuen Beziehungen zu unseren Partnern“. Auf dem Gipfel am 28./29. Juni 2004 in Istanbul wurde eine „weitere Formgebung und Weichenstellung vorgenommen, um die Strukturen, Verfahren und Fähigkeiten der NATO“, insbesondere aufgrund der kurz zuvor erfolgten Aufnahme sieben neuer Mitglieder, voranzubringen. Auf der Gipfelerklärung von Riga am 29.11.2006 wurde bekräftigt, sich „den Sicherheitsanforderungen des 21. Jahrhunderts zu stellen“. Die „Gipfelerklärung von Bukarest“ vom 2.-4. April 2008 diente zur Verkündung, das Bündnis um neue Mitglieder zu erweitern und den Transformationsprozess fortzusetzen. Der Gipfel anlässlich des 60. Jahrestags der NATO fand am 4.4.2009 in Straßburg/Kehl statt. Es wurden die „grundlegenden Werte, Prinzipien und Ziele“ der Allianz bekräftigt und die Entwicklung eines neuen Strategischen Konzepts angestoßen. Auf dem Gipfeltreffen am 19./20. November 2010 in Lissabon verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs ein neues Strategisches Konzept, in dem neben der kollektiven
B. Vertragsänderung durch Übereinkunft aller Vertragsparteien 307
Verteidigung auch die Krisenbewältigung und die kooperative Sicherheit als wesentliche Kernaufgaben definiert wurden. Das Treffen am 20./21.5. 2012 in Chicago diente dazu, im Hinblick auf die Einsätze in „Afghanistan, Kosovo und anderenorts Bilanz zu ziehen und […] um sicherzustellen, dass das Bündnis über die erforderlichen Fähigkeiten verfügt, um der gesamten Palette der Bedrohungen zu begegnen“. Insgesamt lassen sich die Gipfelerklärungen soweit qualifizieren, dass sie Auslegungsvereinbarungen bzw. Konkretisierungserklärungen zum NV darstellen und insbesondere der praktischen Durchführung des durch die Strategischen Konzepte geänderten NV dienen. Als ein Änderungsvertrag sind die Gipfelerklärungen jedoch nicht auszulegen. Das ist auch die Einschätzung des BVerfG. Im Jahr 2007 hatte es darüber zu entscheiden276, ob die Erklärung der Staats- und Regierungschefs („Comprehensive Political Guidance“) anlässlich des NATO-Gipfels in Riga eine Fortentwicklung des NV über dessen verfassungsrechtlichen Ermächtigungsrahmen darstellt, in Bezug auf den NATO-geführten ISAF-Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Es bestätigte grundsätzlich sein Urteil aus dem Jahre 2001277 in Bezug auf das Strategische Konzept 1999; jedoch entschied es nicht, ob und inwieweit den Erklärungen von Riga überhaupt völkerrechtliche Relevanz zukommt278. Prinzipiell fügte es lediglich an, dass nicht ersichtlich ist, „dass sich die NATO durch die Erklärungen von Riga allgemein von ihrem regionalen Bezugsrahmen losgelöst haben könnte“279.
II. Vertragsänderungen durch „Strategische Konzepte“ Die im Zuge der erfolgten Neuausrichtung des Nordatlantikbündnisses nach den weltpolitischen Umwälzungen Anfang der 1990er-Jahre verabschiedeten Strategischen Konzepte280, welche die sicherheitsbezogenen Aufgaben der NATO konkreter als im NV bestimmen, könnten somit als Änderungsvertrag zum NV zu qualifizieren sein. Auch wenn in derartigen Fällen durchaus „fließende Übergänge“ sichtbar werden, ist kein Automatismus existent, wonach ein Dokument, das im Zusammenhang mit einem bestehenden völkerrecht lichen Vertrag verabschiedet wurde, als Änderungsvertrag oder (authentische) Auslegungsvereinbarung zu diesem Vertrag zu qualifizieren ist281. Die De276 BVerfGE
118, 244. 104, 151. 278 BVerfGE 118, 244, 270. 279 BVerfGE 118, 244, 270. 280 Vgl. hierzu Teil 1, Kap. 1, C. III. und IV. 281 Zum Einfluss der Praxis auf Inhalt und Bestand völkerrechtlicher Verträge. W. Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 9. 277 BVerfGE
308 Teil 3, Kap. 2: Abwandlung sowie Änderung des NV durch Mitgliedstaaten
batte zu dieser Problematik, die insbesondere um das Strategische Konzept (1999) kontrovers geführt wird, findet sowohl im rechts- als auch im politikwissenschaftlichen Schrifttum statt. Bereits das im November 1991 in Rom auf den Weg gebrachte Strate gische Konzept (1991), welches aufgrund des veränderten weltpolitischen Umfelds einen „breit angelegten sicherheitspolitischen Ansatz“282 deklarierte, könnte eine Änderung des NV darstellen. Das Konzept benennt jedoch keine konkreten Maßnahmen des Bündnisses, die im Falle einer Reaktion auf derartige sicherheitspolitische Risiken getroffen werden sollten283, sodass das Konzept als noch vom ursprünglichen NV gedeckt angesehen werden muss. Die programmatische Grundausrichtung des 1991er-Konzepts wurde auch beim Strategischen Konzept (1999) beibehalten. Allerdings kamen Neuerungen hinzu, die unter dem Stichwort „Konfliktverhütung und Krisenbewältigung“ konkrete Perspektiven für den zukünftigen Handlungsspielraum des Nordatlantikbündnisses beschreiben. Unter dieser Zwischenüberschrift führt das Konzept aus284: „In pursuit of its policy of preserving peace, preventing war, and enhancing security and stability and as set out in the fundamental security tasks, NATO will seek, in cooperation with other organisations, to prevent conflict, or, should a crisis arise, to contribute to its effective management, consistent with international law, including through the possibility of conducting non-Article 5 crisis response operations. The Alliance’s preparedness to carry out such operations supports the broader objective of reinforcing and extending stability and often involves the participation of NATO’s Partners. […] Taking into account the necessity for Alliance solidarity and cohesion, participation in any such operation or mission will remain subject to decisions of member states in accordance with national constitutions“285.
282 Ziffer 15. 283 Vgl.
H. Sauer, Neues Konzept – alte Fragen, in: ZaöRV 62 (2002), S. 317.
284 Ziffer 31.
285 Ziffer 31: „Im Zuge ihrer Politik der Friedenserhaltung, der Kriegsverhütung und der Stärkung von Sicherheit und Stabilität – wie in den grundlegenden Sicherheitsaufgaben dargelegt – wird die NATO in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen darum bemüht sein, Konflikte zu verhüten oder, sollte eine Krise auftreten, in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht zu deren wirksamer Bewältigung beitragen, einschließlich durch die Möglichkeit der Durchführung von nicht unter Art. 5 fallenden Krisenreaktionseinsätzen. Die Bereitschaft des Bündnisses, solche Einsätze durchzuführen, unterstützt das übergeordnete Ziel der Stärkung und Erweiterung von Stabilität und beinhaltet oft die Beteiligung der Partner der NATO. (…) Unter Berücksichtigung der Notwendigkeit von Bündnissolidarität und -zusammenhalt bleibt die Beteiligung an einer solchen Operation oder einem solchen Einsatz den Beschlüssen der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen Verfassungen vorbehalten“.
B. Vertragsänderung durch Übereinkunft aller Vertragsparteien 309
Legt man diese Erklärungen entsprechend aus, dann sind „Krisenreak tionseinsätze“ des Bündnisses auch ohne Mandat des SR zulässig. Darüber hinaus muss keine Verteidigungssituation vorliegen, da es sich um „nicht unter Art. 5 fallende“ Einsätze handelt. Die Vorstellung, die politischen und militärischen Möglichkeiten des Bündnisses bei der Bewältigung von Krisen mittels Krisenreaktionseinsätzen aktiv einzusetzen, kann nicht unter die einzelnen Bestimmungen des NV subsumiert werden. Dies ist, unabhängig vom Willen der an dem NATO-Gipfel teilnehmenden Staats- und Regierungschefs, als Aufgabenerweiterung zu qualifizieren, da der NV „Krisenreaktionseinsätze“ nicht vorsieht286. Auch im Schrifttum wurde die rechtliche Qualifizierung des 99er-Konzepts kontrovers diskutiert. Die hierbei vertretenen Ansichten lassen sich in drei Gruppen gliedern: Neben denjenigen, die das strategische Konzept (1999) als einen Änderungsvertrag287 zum NV qualifizieren, gibt es die Gruppe, die in dem Konzept lediglich eine Auslegungsvereinbarung288 oder eine vom Vertrag abgedeckte Fortentwicklung289 sehen. Schließlich wird von Einigen gar keine rechtliche Qualifikation vorgenommen, da sie es ablehnen, dass es sich um einen Änderungsvertrag handelt290. Diejenigen, die in dem 99er-Konzept keine Änderung des NV sehen, gelangen zwar zu dem Ergebnis, dass sich das Aufgabenfeld des Nordatlantikbündnisses entscheidend verändert habe291, interpretieren das Konzept jedoch nicht als Änderungsvertrag292. Auch aus den Ausführungen von Ziauch T. Bauer-Savage, Dievölkerrechtliche Verwandlung der NATO, S. 69 f. etwa S. Kadelbach, Parlamentarische Kontrolle internationaler Organisationen, in: R. Geiger (Hrsg.), Parlamentarische Legitimation im Bereich auswärtiger Gewalt, S. 41 ff.; E. Klein/S. Schmahl, Die neue NATO-Strategie, in: RuP 35 (1999), S. 198 ff.; J. Godwin, NATO’s Role in Peace Operations, in: Military Law Review 160 (1999), S. 1 ff. 288 So z. B. E. Zivier, Zum strategischen Konzept der NATO, in: RuP 35 (1999), S. 210 ff.; M. Rühle, Das neue strategische Konzept der NATO, in: E. Reiter (Hrsg.), Jahrbuch für internationale Sicherheitspolitik 2000, S. 637 ff. 289 So z. B. T. Carpenter, NATO’s New Strategic Concept, in: ders. (Hrsg.), NATO Enters the 21st Century, S. 7 ff. 290 So etwa P. Schneider, The Evolution of NATO, S. 67 ff. 291 So beschreibt T. Carpenter, NATO’s New Strategic Concept, in: ders. (Hrsg.), NATO Enters the 21st century, S. 13, dass trotz der traditionellen Funktion als Verteidigungsbündnis eine Verlagerung des Ausgabenschwerpunkts zu neuen Aufgaben wie Krisenbewältigung und „out-of-area“-Einsätzen stattfindet („Despite [such] references to NATO’s traditional core function, there was an unmistakable shift of emphasis toward the new missions of crisis management and out-of-area interventions.“). 292 P. Schneider, The Evolution of NATO, S. 89 und S. 115, gelangt zu dem Schluss, dass das Konzept im Einklang mit dem NV steht, auch wenn neue und einschneidende Veränderungen im Aufgabenfeld hinzugekommen sind. Die nicht unter Art. 5 NV fallenden Einsätze sieht er als vom NV abgedeckt an und fordert sogar 286 So 287 So
310 Teil 3, Kap. 2: Abwandlung sowie Änderung des NV durch Mitgliedstaaten
vier293 und Rühle294, die das Programm als Auslegungsvereinbarung qualifizieren, werden eindeutige Bedenken gegen die Vereinbarkeit mit dem NV deutlich. Bei den Autoren, die das Vorliegen eines Änderungsvertrages be jahen, überzeugt insbesondere der Beitrag von Kadelbach, der anschaulich darlegt, dass durch das Dokument das „ganze System“ neudefiniert wird. Mit der Neudefinition ihrer Aufgaben, Ziele und des Einsatzgebiets wird die NATO aus seiner Sicht neben der Funktion als Verteidigungsbündnis auch zu einem „mobilen Krisenreaktionssystem mit weltweitem Aktionskreis“295. Ebenso gelangen Klein/Schmahl zu dem Ergebnis, dass eine „materielle“ Vertragsänderung vorliegt, da das Konzept keine „schlichte politische Aussage zu einer neuen Sicherheitsarchitektur“ darstelle, sondern die Zielsetzung des NV um die über Art. 5 NV hinausgehenden Kriseneinsätze erweitere296. Auch Godwin zufolge finden die „modernen“ Friedenseinsätze ihre recht liche Grundlage nicht im ursprünglichen NV, sodass der Washingtoner Vertrag förmlich um die beschlossene Aufgabenerweiterung geändert werden muss297.
eine Weiterentwicklung und Vermehrung dieser Einsätze („Collective defence against an attack on any Alliance member remains the cornerstore of the Alliance. Additionally, NATO must set the stage for outer core, non-Article 5 missions. These missions should become more developed with the goal to diminish the chance of an outbreak of collective defence missions.“). 293 E. Zivier, Zum strategischen Konzept der NATO, in: RuP 35 (1999), S. 210 f., qualifiziert das strategische Konzept (1999) widersprüchlich als „politische Absichtserklärung“ und „Auslegungsvereinbarung“. Während die eine rechtlich unverbindlich ist, wird in Auslegungsvereinbarungen gerade eine rechtlich verbindliche Auslegung festgelegt. 294 Nach M. Rühle, Das neue strategische Konzept der NATO, in: E. Reiter (Hrsg.), Jahrbuch für internationale Sicherheitspolitik 2000, S. 639, spiegelt das Dokument die „aktuelle Auslegung des Washingtoner Vertrages“ wieder. Den Ausführungen kann jedoch entnommen werden, dass die Bestimmungen den NV nicht nur konkretisieren, sondern auch über sie hinausgehen. 295 S. Kadelbach, Parlamentarische Kontrolle internationaler Organisationen, in: R. Geiger (Hrsg.), Parlamentarische Legitimation im Bereich auswärtiger Gewalt, S. 48. 296 E. Klein/S. Schmahl, Die neue NATO-Strategie, in: RuP 35 (1999), S. 200. 297 J. Godwin, NATO’s Role in Peace Operations, in: Military Law Review 160 (1999), S. 12 und S. 95: „Without a textual basis, NATO does not have clearly defined legal right to conduct peace operations in its own charter. Conversly, NATO members have no affirmative obligation to participate in operations beyond the clear text of the treaty. Updating the treaty will clarify the legal foundation for NATO peace operations, which is currently based on strained re-interpretation of the treaty. (…) The North Atlantic Treaty Organization should amend its charter to reflect the accepted legal framework for peace operations, and to restore the clarity of vision the Alliance requires when it performs those missions in the twenty-first century“.
B. Vertragsänderung durch Übereinkunft aller Vertragsparteien 311
Aus deutscher Perspektive ist in die Auseinandersetzung über diese Fragestellung gleichfalls die Entscheidung des BVerfG vom 22. November 2001 einzubeziehen298. Das oberste deutsche Verfassungsgericht hatte darüber zu entscheiden, ob das strategische Konzept (1999) eine materielle Änderung des NV (Änderungsvertrag) bedeutet und somit letztlich eine Zustimmung des Gesetzgebers gem. Art. 24 II i. V. m. Art. 59 II S. 1 GG notwendig gewesen wäre. Das Gericht entschied, dass das Konzept „weder ein förmlich noch ein konkludent zu Stande gekommener Vertrag“299 ist. Die getroffene Entscheidung erfolgte auf zwei Ebenen. Auf der einen Ebene gelangte es zu der Überzeugung, dass der Beschluss über das Dokument keinen Willen der Mitgliedstaaten erkennen lasse, den bestehenden Vertrag förmlich abzuändern300. Auf der zweiten Ebene urteilte es, dass auch der Inhalt des Konzepts nicht als objektive Änderung des bestehenden NV anzusehen ist301. Auch Bauer-Savage hat sich im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Untersuchung mit dieser Frage auseinandergesetzt und den Versuch einer eigenen rechtlichen Einordnung vorgenommen302. Er konzentriert sich bei seiner Untersuchung darauf, ob das im Strategischen Konzept (1999) beschriebene Aufgabenfeld und Einsatzgebiet des Bündnisses vom ursprüng 298 BVerfGE
104, 151. 104, 151, 6. Leitsatz. 300 BVerfGE 104, 151, 199. Den fehlenden Vertragsänderungswillen begründet es mit dem Fehlen einer Ratifikationsklausel, was ein Indiz gegen den Vertragscharakter sei, um gleichzeitig einzuräumen, dass allein aus dem Fehlen einer solchen Klausel nicht geschlossen werden könne, dass es an einem völkerrechtlichen Vertragsschluss fehle. Zudem wird festgestellt, dass aus den „gesamten Umständen der Annahme“ nicht auf einen Rechtsbindungswillen der Parteien geschlossen werden könne, obwohl der „Gegenstand“ des Konzepts als „hochpolitisch“ qualifiziert wird – was allein nicht für einen Vertragsänderungswillen spreche. Schließlich schlussfolgert der Zweite Senat, dass das Dokument lediglich ein „Konsenspapier“ sei, in dem die neuen Aufgaben und Instrumente der NATO nur in allgemeiner Form beschrieben würden. Insbesondere der Wortlaut, der zu allgemein gehalten sei und vorwiegend aus „Schilderungen und Analysen der aktuellen politischen Lage“ bestehe, reiche nicht aus, um vertragliche Pflichten zu erzeugen. 301 BVerfGE 104, 151, 199. Dies begründet es damit, dass die Festlegungen des Strategischen Konzepts (1999) sich nicht in einen „nicht überwindbaren und deutlich erkennbaren Widerspruch“ zu dem im Vertrag definierten Einsatzbereich setzten und keine Erweiterung des Vertrages über den bisherigen Rahmen enthielten. Bei der Erweiterung der sicherheitspolitischen Aufgaben liegt lediglich eine im Rahmen des NV liegende „Fortentwicklung“ vor. Der Zweite Senat führt dazu aus, dass die kollektive Verteidigungsfunktion des Bündnisses „unberührt“ bleibe und der in der Präambel beschriebene Sicherheits- und Friedensauftrag fortgeschrieben werde. Gleichzeitig betont er jedoch, dass die Durchführung von militärischen Krisenreaktionseinsätzen eine „bedeutsame, im Vertrag nicht implizierte Erweiterung der Aufgabenstellung“ bedeute. 302 T. Bauer-Savage, Die völkerrechtliche Verwandlung der NATO, S. 68 ff. 299 BVerfGE
312 Teil 3, Kap. 2: Abwandlung sowie Änderung des NV durch Mitgliedstaaten
lichen NV gedeckt ist. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass das Konzept „zumindest in Teilen als Änderungsvertrag zum NATO-Vertrag qualifiziert werden (muss), da es Aufgaben für (die) NATO einführt, die vom NATO-Vertrag nicht abgedeckt sind“303. Fasst man die genannten Argumente zusammen und stellt sie gegenüber, sprechen die besseren Argumente dafür, in dem Strategischen Konzept (1999) den Versuch eines Änderungsvertrages zum NV anzunehmen. Sowohl das Schrifttum, als auch das BVerfG bestreiten nicht, dass die „nicht unter Artikel 5 fallenden“ Krisenreaktionseinsätze ein neues Betätigungsfeld der NATO darstellen. Die anschließende rechtliche Einordnung vermag jedoch nicht zu überzeugen, da sie oftmals „konstruiert“ wirken304. Denn es konnte nicht nachgewiesen werden, dass die Mitgliedstaaten den Willen hatten, den NV zu ändern. Vielmehr wurde lediglich aufgezeigt, dass sich die Staats- und Regierungschefs bis dato politisch um eine Vertragsänderung „herumschwindeln“ wollten.
III. Zwischenfazit Die Gipfelerklärungen des Nordatlantikbündnisses sind als politische Auslegungsvereinbarungen bzw. Konkretisierungserklärungen zum NV zu qualifizieren, ohne diesen auf diese Art und Weise ändern zu können. Einen Änderungsvertrag können die Gipfelerklärungen nicht darstellen. Darauf läuft letztlich auch die Einschätzung des BVerfG hinaus. Hinsichtlich der Strategischen Konzepte wurden Argumente aufgeführt, die speziell in dem Strategischen Konzept aus dem Jahr 1999 einen Änderungsvertrag zum NV annehmen wollten. Sowohl im Schrifttum als auch durch das BVerfG wurde nicht bestritten, dass die „nicht unter Artikel 5 fallenden“ Krisenreaktionseinsätze generell ein neues Betätigungsfeld der NATO bilden. Gleichwohl fehlt es den Mitgliedstaaten an einer entsprechenden Rechtsüberzeugung, bzw. dem Willen, den NV zu ändern.
303 Ders., ebd., S. 71. Hierbei legt er dar, dass die in Ziffer 31 des Konzepts als „nicht unter Art. 5 fallende Krisenreaktionseinsätze“ beschriebenen Aufgaben nicht vom NV gedeckt sind und damit eine Erweiterung darstellen (S. 70). In Bezug auf das Einsatzgebiet kommt er zu dem selben Schluss, mit dem Hinweis, dass „diesbezüglich nicht eindeutig bestimmt werden kann, ob es sich außerhalb der Vertragsbestimmungen bewegt“. 304 Im Ergebnis so auch T. Bauer-Savage, Völkerrechtliche Verwandlung der NATO, S. 74.
C. Vertragsänderung durch spätere Praxis313
C. Vertragsänderung durch spätere Praxis „Spätere Praxis“ ist die Kurzbezeichnung für die Praxis zu einem Vertrag nach dessen Abschluss305. Im Englischen spricht man von subsequent practice und im Französischen von pratique ultérieure.306 Die spätere Praxis umfasst einerseits „die Summe der Akte, Entscheidungen und Äußerungen zu einem Vertrag […] mögen diese nun übereinstimmen oder nicht“. Andererseits wird sie aber auch in einem „die materielle Seite übersteigenden, inhaltlichen Sinn als Brauch, Übung oder herrschender Standpunkt in einer Vertragsfrage verstanden“307.
Die spätere Praxis wird demnach als „Brauch, Übung oder herrschender Standpunkt aufgefaßt, der in Akten, Entscheidungen und Äußerungen zu einem bestimmten Vertrag zutage trat“308.
I. Zur Rechtserheblichkeit der späteren Praxis Nach Karl309 weist die spätere Praxis Rechtserheblichkeit zum einen bei der Ermittlung des Vertragssinns auf, wobei sie auf der einen Seite als Beweismittel für die ursprüngliche Vertragsabsicht und auf der anderen Seite als sonstiger Auslegungsfaktor Erwägung findet. Zum anderen ist sie als „Element“ einer neuen Norm anzusehen, die den Vertrag in verschiedenster Weise gestaltet: Vertragsänderung, -präzisierung, -beendigung, -verlängerung können das Ergebnis aus einer Verbindung von Vertrag und aus einer vertragsgestaltenden neuen Norm sein. Entscheidend ist dabei die „Qualität“ der späteren Praxis, d. h. „die Art des Verhaltens, ihr Ursprung, ihre Dauer und Dichte, Schlüssigkeit usw., sowie ihr inhaltliches Verhältnis zum Vertrag in seiner zunächst erkannten Gestalt“. Zudem sind auch „dogmatische Haltungen“ und die daraus resultierende „Begründungsstrategie“ zu berücksichtigen310. Als Auslegungsfaktor dient die spätere Praxis unmittelbar zur Erforschung des maßgeblichen Vertragsinhalts, ohne dass eine Veränderung der vertraglichen Norm nachgezeichnet und auf die spätere Praxis zurückgeführt würde. Sie stellt einen normativen Gesichtspunkt neben anderen dar und formt mit A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 778. Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK. 307 W. Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 112. 308 Ders., ebd., S. 112. 309 Ders., ebd., S. 122 f. 310 Nach Karl ist dies auch zu bedenken, wenn zwischen dem Auslegungsfaktor und dem Vertragsgestaltungsgrund „spätere Praxis“ unterschieden wird. 305 Vgl. 306 Vgl.
314 Teil 3, Kap. 2: Abwandlung sowie Änderung des NV durch Mitgliedstaaten
diesen die Überzeugung vom geltenden Vertragsinhalt. Als Vertragsgestaltungsgrund hingegen erscheint die spätere Praxis überdies als Ursache und Beleg für eine Gestaltung (Veränderung) der vertraglichen Rechtslage. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass sie die Voraussetzungen zur Schaffung von Völkergewohnheitsrecht erfüllt; insbesondere „legal opinion“ mitumfassen.
II. Die spätere Praxis als Auslegungsfaktor Als Auslegungsfaktor fungiert die spätere Praxis dazu, „den geltenden Vertragssinn zu ermitteln, wobei sie neben anderen Auslegungsfaktoren die Überzeugung des Interpreten formt“. Hierzu wird die spätere Praxis unmittelbar, d. h. „ohne Zwischenschaltung einer vertragsgestaltenden Norm oder Rechtsfolge, dem Erkenntnisvorgang nutzbar gemacht“311. Sowohl Völkerrechtslehre als auch -rechtsprechung sehen darin in gleicher Weise die Funktion der späteren Praxis312: „In interpreting a text, recourse to the subsequent conduct and practice of the parties in relation to the treaty is permissible, and may be desirable, as affording the best and most reliable evidence, derived from how the treaty has been interpreted in practice, as to what ist correct interpretation is“313
sowie „[…] l’exécution des engagements est, entre Etats comme entre particuliers, le plus sûr commentaire du sens de ces engagements […]“314.
Diese Auffassungen fanden ihren Widerhall ebenfalls in der WVK. In der „Allgemeinen Auslegungsregel“ wurde die spätere Praxis als Auslegungsfaktor anerkannt (Art. 31 Abs. 3 lit. b. WVK). 311 Ders.,
ebd., S. 123. C. Rousseau, Principes généraux du droit international public, Bd. 1 (1944), S. 633 f.; G. Fitzmaurice, The Law and Procedure of the International Court of Justice 1951–4, in: BYIL 33 (1957), S. 211; R. Bernhardt, Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 126 ff.; M. McDougal/H. Lasswell/J. Miller, The Interpretation of Agreements and World Public Order, S. 132 ff.; T. Schweisfurth, Der internationale Vertrag in der modernen sowjetischen Völkerrechtstheorie, S. 284 f.; G. Haraszti, Some Fundamental Problems of the Law of Treaties, S. 138 ff.; J. Müller, Vertrauensschutz im Völkerrecht, S. 176 ff.; W. Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 123, der festhält, dass dies neben den aufgeführten auch auf andere Rechtsordnungen und Rechtsquellen zutreffe: vgl. canon 29 des Codex iuris canonici, der die Gewohnheit als besten Interpreten des Gesetzes bezeichnet (consuetudo est optima legum interpres). 313 G. Fitzmaurice, The Law and Procedure of the International Court of Justice 1951–4, in: BYIL 33 (1957), S. 211. 314 Affaire de l’indemnité russe (Russland/Türkei), Ständiger Schiedshof, 11. November 1912, Reports of International Arbitral Awards (RIAA), Vol. XI, S. 433. 312 Vgl.
C. Vertragsänderung durch spätere Praxis315
Allerdings weist Karl darauf hin, dass es Unterschiede in Deutung, Gewichtung sowie Bereitschaft gab, eine bestimmte Praxis als Auslegungsfaktor zuzulassen. Ein Grund bestand aus seiner Sicht in der Beschaffenheit der späteren Praxis in den verschiedensten Formen sowie „dogmatische[n] Positionen zur Auslegungsfrage“315. Denn ein völkerrechtlicher Vertrag weist grundsätzlich eine statische und eine dynamische Ordnung auf. Er ist einerseits als eine mit dem Abschluss fixierte, statische, und andererseits als eine dynamische Ordnung zu begreifen, deren Inhalt erst unter Heranziehung aller greifbaren normativen Gesichtspunkte zu ermitteln ist. Darüber hinaus bestehen Divergenzen in der Auslegungsmethode. Es stehen sich die subjektive Methode – bei der der Parteiwille im Vordergrund steht – und die objektive Methode – nach der objektive Gesichtspunkte (und insgesamt die Rechts- und Ordnungsidee) stärker betont werden – gegenüber316. Indem statische und dynamische Vertragskonzeption sowie subjektive und objektive Methoden differente Verbindungen eingehen können, ergeben sich zwangsläufig unterschiedliche Auslegungsrichtungen. Verbindet sich die subjektive Methode mit der statischen Vertragskonzeption, so wird primäres Ziel der Auslegung die Ermittlung der historischen Vertragsabsicht sein. Steht sie unter einer dynamischen Konzeption, so erscheinen die aktuellen Erwartungen der Vertragsparteien als maßgeblich bei der Auslegung317. Wird die spätere Praxis historisch-subjektiv begutachtet, kann sie nach Auffassung von Karl lediglich als Indiz für die bei Vertragsabschluss herrschende Absicht der Vertragsparteien dienen. Unter einer dynamischen – subjektiven wie objektiven – Konzeption soll sie jedoch von der historischen Vertragsabsicht losgelöst und als selbstständiger Auslegungsfaktor betrachtet werden, „wobei sie etwa als Indiz für eine spätere Vertragsauffassung, als relevante Haltung der Vertragsparteien oder im Sinne objektiver Auslegungsgesichtspunkte verstanden wird“318. Letztlich fordert er für die spätere Praxis, dass sie jeweils mit der ihr „eigenen Aussage und Bedeutung Beachtung finde“. Demnach kann sie durchaus als Indiz für die ursprüngliche Vertragsabsicht gewürdigt werden, wenn 315 Vgl. W. Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 124. Es ist somit nur eine Darstellung möglich, in der die Breite der Deutungs- und Bewertungsmöglichkeiten zum Ausdruck kommt. 316 Ders., ebd., S. 124. 317 Nach Bernhardt ist die objektive Methode schon von Haus aus dynamisch orientiert, da objektive Gesichtspunkte – wie der Vertragstext, Treu und Glauben etc. – in ihrer aktuellen Bedeutung herangezogen werden. W. Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 125 (Fn. 73 m. w. N.). 318 Ders., ebd., S. 125.
316 Teil 3, Kap. 2: Abwandlung sowie Änderung des NV durch Mitgliedstaaten
ein plausibler Zusammenhang besteht. Allerdings darf sie nicht nur in dieser Eigenschaft zugelassen werden319. Darüber hinaus dürfe die spätere Praxis nicht lediglich als subsidiäres Auslegungsmittel betrachtet werden. Das wäre zwangsläufig die Folge, wenn man die spätere Praxis auf ihre historisch-subjektive Deutung beschränkt. Denn besitzt sie schon als Indiz für die historische Vertragsabsicht nur beschränkten Beweiswert, so wird die Bedeutung der späteren Praxis zudem dadurch verringert, dass der historischen Vertragsabsicht selbst auch nur ein beschränkter Interpretationswert zugestanden wird320. Vielmehr kann die spätere Praxis als selbstständiger – also von der historischen Vertragsabsicht unabhängiger – Auslegungsfaktor den Auslegungsvorgang in stärkerem, wenngleich abstrakt nicht allgemein festzulegendem Maße beeinflussen.321 Hierbei muss es sich jedoch um Auslegung handeln und nicht um eine Vertragsänderung, da diese gerade nicht mehr von der WVK gedeckt ist. Karl zeigt in seinem umfassenden Werk zur späteren Praxis auf, dass der Auslegungsfaktor „spätere Praxis“ in Rechtsprechung und Literatur ein vielgestaltiges Bild aufweist, welches für praktische Schlussfolgerungen unmittelbar wenig ergiebig ist. Die Gründe dafür liegen nach seinem Dafürhalten in der „Beschaffenheit“ der späteren Praxis. Zudem, dass ihre Rolle von den Umständen des Einzelfalls und der Bewertung durch den Interpreten abhängt, als dass man mehr als nur allgemein zutreffende Feststellungen wagen könnte.322 Insofern bedarf es einer Orientierung anhand der Regelung in der WVK. Hinsichtlich der Regelung in der WVK konkludiert er, dass die dort entwickelte Auslegungskonzeption verhältnismäßig breit und dynamisch angelegt ist, sowie text- und kontextorientiert und in der Tendenz objektivistisch. Die Zulassung und Bewertung der verschiedenen Auslegungsfaktoren sei weit gehend offen.323 Die spätere Praxis i. S. d. Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK ist als erstrangiger Auslegungsfaktor anzuerkennen324. Dies sei aus dem Auslegungskonzept der WVK zu folgern, das in Art. 31 WVK keine Hierarchie zwischen den verschiedenen Auslegungsfaktoren aufstellt325; zudem aus den Erläuterungen der ILC326. Die Nennung der späteren Praxis erst in Abs. 3 319 Ders.,
ebd., S. 126. R. Bernhardt, Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 34 ff. 321 W. Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 126. 322 Ders., ebd., S. 126 ff. 323 Ders., ebd., S. 184 ff. 324 Vgl. J. Müller, Vertrauensschutz im Völkerrecht, S. 132; und auch M. Yasseen, L’interprétation des traités d’après la Convention des Vienne sur le droit des traités, in: RdC 151 (1976-III), S. 48. 325 Vgl. hierzu den Auslegungsvorgang nach der WVK unter Teil 3, Kap. 1, I. 3. 326 ILC-Entwurf 1966, S. 218 ff., insb. S. 221 f. § 15. 320 Vgl.
C. Vertragsänderung durch spätere Praxis317
und nicht etwa am Anfang des Artikels sei dadurch zu erklären, dass es sich – ebenso wie die Auslegungsübereinkünfte (Abs. 3 lit. a) und die einschlägigen Völkerrechtssätze (Abs. 3 lit. c) – um einen vertragsexternen Auslegungsfaktor handelt, der den vertragsimmanenten Faktoren nachzustellen war327. Die Reihenfolge erfüllt somit einen rein darstellenden Zweck und bringt keine Nachrangigkeit zum Ausdruck. Dies bringt auch die Eingangsformel des Abs. 3 zum Ausdruck: „There shall be taken into account, together with the context […]“328. Des Weiteren stellt die ILC zu Abs. 3 fest, die dort aufgeführten Elemente seien „of an obligatory character and by their very nature could not be considered to be norms of interpretation in any way inferior to those which precede them“329. Zur späteren Praxis im Speziellen führte die ILC aus, dass ihre Bedeutung als Auslegungselement offensichtlich sei330. Ihr Aussagewert wechsele zwar; beweise die spätere Praxis aber Übereinstimmung der Vertragsparteien, so stelle sich ein „authentisches“ Auslegungsmittel dar, das den Auslegungsübereinkünften der lit. a an Auslegungswert nicht nachstehe331. Allerdings sind die Interpretationswerte unterschiedlich hoch bemessen. Eine hohe Interpretation soll laut Konvention nur eine „spätere Übung bei der Anwendung des Vertrages, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht“332. Nach Karl ergibt sich daraus „ganz von selbst“ die weitere Feststellung, dass Art. 31 WVK sich „ausschließlich des subjektiven, d. h. parteienbezogenen, Aspekts der späteren Praxis annimmt und ihren objektiven Aspekt (als Vertragswirklichkeit, Präjudiz usw.) dahingestellt läßt“333 Schließlich merkt er auch an, dass in der WVK ein „breiter Praxisbezug“ vorherrscht, der „jede mögliche Art formlosen Staatenverhaltens berücksichtigt“ – und gerade keine materielle Praxis samt Praxisbegriff darstellt, die bloße Reaktionen auf eine solche Praxis nicht einbeziehen334. Dies wird auch durch die Aussage der ILC bestätigt, nach der nicht jeder Vertragsstaat an der Praxis – damit sie Relevanz besitze – beteiligt sein müsse und es vielmehr genüge, wenn sie von allen
327 Vgl.
ebd., S. 220 § 9. ebd., S. 220 § 8: „Equally, the opening phrase of paragraph 3 (…) is designed to incorporate in paragraph 1 the elements of interpretation set out in paragraph 3“. 329 Ebd., § 9. 330 Ebd., S. 221 § 15 („[…] for it constitutes objective evidence of the understanding of the parties as to the meaning of the treaty“). 331 Ebd., S. 222 § 15. 332 Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK (Hervorhebung vom Verf.). 333 W. Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 188. 334 Ders., ebd., S. 189. 328 Vgl.
318 Teil 3, Kap. 2: Abwandlung sowie Änderung des NV durch Mitgliedstaaten
Vertragsstaaten akzeptiert worden sei335. Somit liegt nicht auf der Art der Praxis das „Schwergewicht“ der Bestimmung, sondern dass sie die Übereinstimmung der Vertragsparteien zum Ausdruck bringt336. Karl vertritt die Auffassung, dass die „Übereinstimmung der Vertragsparteien“ als „Schlüssel“ zum Verständnis von Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK verstanden werden muss. Die Übereinstimmung der Vertragsparteien ist ein „erstrangiger Auslegungsfaktor“; klärungsbedürftig sind allerdings der „maßgebliche Zeitpunkt der Übereinstimmung“ und die „Art des so bezeichneten Konsenses“337. Hinsichtlich des Zeitpunkts der Übereinstimmung konstatiert er, dass in der WVK beide Verwendungsweisen der späteren Praxis Platz finden. Sie kann sowohl auf die ursprüngliche Vertragsabsicht338 als auch auf einen späteren Konsens339 der Vertragsparteien bezogen werden. Entscheidend sei allein, ob sie konkret auch die Übereinstimmung der Vertragsparteien belegt. Bei der Art der Übereinstimmung – die in der ersten Verwendung mit dem Vertragswillen zusammenfließt – ist danach zu fragen, ob es sich beim späteren Konsens um einen stillschweigenden Auslegungsvertrag handelt oder ob es genügt, wenn in der Praxis ein Gleichklang von Ansichten über den Vertragsinhalt besteht. Zieht man den Wortlaut heran, so weisen die authentischen Sprachen mit agreement, acoord, acuerdo etc. eher auf einen Auslegungsvertrag340 als auf einen bloßen Meinungskonsens hin. Jedoch ist der Begriff im Zusammenhang auszulegen. Agreement bezieht sich grundsätzlich 335 Vgl. ILC-Entwurf 1966, S. 222 § 15. Dass die spätere Praxis auch in der WVK in einem weiteren Sinn verstanden wurde, darauf weist auch ein Ereignis bei der Vertragsrechtskonferenz hin. Spanien hatte den Änderungswunsch eingebracht, unter Art. 28 (dem späteren Art. 32 WVK) „subsequent acts of the parties“ als Auslegungsgesichtspunkt anzufügen. Das Redaktionskomitee lehnte diesen Vorschlag aber mit der Begründung ab, die subsequent acts seien im Begriff der späteren Praxis, wie er in Art. 27 (dem späteren Art. 31) verwendet wurde, ohnehin enthalten (Committee of the Whole, 74. Sitzung, UNCLTOR I § 34, S. 442). 336 W. Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 189. 337 Ders., ebd., S. 189 ff. mit umfassender Begründung. 338 Mit dieser Deutung wird das historisch-subjektive Element in der Auslegung verstärkt. 339 Unter dem breiten Auslegungsbegriff sollen auch nachträgliche Entwicklungen Berücksichtigung finden. Dies insbesondere auch aufgrund der systematischen Stellung der Bestimmung (lit. b): Sie folgt den späteren Auslegungsübereinkünften der lit. a. 340 In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass in den Vorarbeiten zur Konvention noch zwischen understanding und agreement unterschieden wurde. Allerdings ist die letztliche Entscheidung für agreement als eine „redaktionelle Maßnahme“ anzusehen, da eine Angleichung an die anderssprachigen Vertragsversionen erfolgte. Der englische Text sollte mit dem französischen, spanischen und russischen Text in
C. Vertragsänderung durch spätere Praxis319
auf die „Auslegung“ des Vertrages und damit auf vertragsgestaltende Aspekte. Gleichwohl versteht man unter Auslegung auch „das bloße Erkennen eines gegebenen Vertragssinns oder eben diesen“. Agreement über die Auslegung bedeutet daher wohl in erster Linie einen Konsens über die gegebene Vertragsbedeutung, wie er bei gutgläubiger Vertragsanwendung durch alle Vertragsparteien normalerweise besteht341. Gleichwohl deckt Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK neben dieser „natürlichen“ Deutung auch die rechtsgeschäftliche Lesart342. Das insgesamt breite „Auslegungskonzept“ der WVK, das mit lit. a auch spätere Auslegungsübereinkünfte einbezieht, sowie die offensichtliche Parallelität zu dieser Norm machen deutlich, dass mit Art. 31 Abs. 3 lit. b auch Auslegungsübereinkünfte erfasst werden, die in einer späteren Praxis zum Ausdruck kamen343. Es bleibt zusammenzufassen, dass mit Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK die spätere Praxis als Auslegungsfaktor „ersten Ranges“ anerkannt wird, „sofern ihr ein Parteienkonsens über die Auslegung zu entnehmen ist“. Dabei kann die spätere Praxis auf der einen Seite auf den ursprünglichen Vertragskonsens bezogen werden. Geht man andererseits jedoch davon aus, dass Verträge vielfach erst im Zuge ihrer Anwendung ausgestaltet oder präzisiert werden, ist der zweiten Deutung zu folgen. Danach ist die spätere Praxis ein selbstständiger, vom Vertragswillen unabhängiger Auslegungsfaktor, sofern sie die Übereinstimmung der Vertragsparteien belegt. Dieser Konsens muss sich dabei auch nicht bis ins Stadium des Vertragsschlusses zurückverfolgen lassen. Entscheidend ist jedoch, dass es sich hierbei immer um die Auslegung eines Vertrages und nicht um seine Änderung handelt. Auch hinsichtlich des späteren Konsenses sind zwei Varianten möglich. Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK deckt zum einen die authentische Auslegung durch spätere Praxis ab, sofern darin ein stillschweigender Vertrag zwischen den Vertragsparteien zu erblicken ist. Zum anderen soll – im Wege eines dynamischen Vertragsverständnisses – ein bloßer Meinungskonsens der Vertragsparteien, wie er sich in einer übereinstimmenden Praxis kundtut, ausreichend sein.344 Einklang gebracht werden. Materielle Überlegungen wurden hierbei nicht geäußert. Vgl. Committee of the Whole, 74. Sitzung, UNCLTOR I §§ 29 und 32, S. 442. 341 W. Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 192. 342 Dies zeigte sich auch deutlich in Art. 38 des ILC-Entwurfs 1966, der eine rechtsgeschäftliche Deutung der späteren Praxis verkörperte. 343 Auch die Systematik der Bestimmungen spricht nicht gegen eine derartige Einordnung. Man könnte zu der Einschätzung gelangen, dass stillschweigende Auslegungsübereinkünfte bereits durch lit. a erfasst wären. Dem ist jedoch nicht so, da lit. b eine Sondernorm zur späteren Praxis darstellt, die der Anwendung von lit. a vorgeht. W. Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 193 f. 344 Ders., ebd., S. 194.
320 Teil 3, Kap. 2: Abwandlung sowie Änderung des NV durch Mitgliedstaaten
Indem Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK lediglich den subjektiven, parteibezogenen Aspekt der späteren Praxis erfasst, enthält die WVK in Art. 32 eine Norm, die es gestattet, neben den „authentischen“ Auslegungsmitteln des Art. 31 auch andere Auslegungsmittel einzusetzen, die nicht abschließend aufgezählt sind. So können hier die übrigen Aspekte der späteren Praxis berücksichtigt werden; dies jedoch nur innerhalb der durch diesen Artikel gesetzten Beschränkungen. Danach kann eine solche spätere Praxis nur herangezogen werden, „um die sich unter Anwendung des Artikel 31 ergebende Bedeutung zu bestätigen“, ansonsten jedoch nur, „wenn die Auslegung nach Art. 31 die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel läßt“ (Art. 32 lit. a) oder „zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt“ (Art. 32 lit. b)345.
III. Die spätere Praxis als Vertragsgestaltungsgrund Wie bereits aufgezeigt, wird der Normgehalt eines Vertragsverhältnisses mit dem formellen Vertragsabschluss nicht ein für allemal festgelegt. Denn ab Geltung ist der Vertrag bereits Einflüssen ausgesetzt, die ihn sowohl in seinem Inhalt verändern als auch in seinem Bestand treffen können. Derartige Einflüsse sind insbesondere die spätere Praxis. Auch als Auslegungsfaktor konnte die spätere Praxis „versteckt“ einen gewissen vertragsgestaltenden Einfluss ausüben. Nach den vorherigen Ausführungen erscheint sie in der „Grauzone“ zwischen Auslegung und Rechtsetzung offen und für sich als Ursache der Vertragsgestaltung346. Sie „steht nicht mehr im Dienst“ der vertraglichen und auszulegenden Norm, sondern tritt dieser „gleichberechtigt“ gegenüber – als Rechtsquelle oder als Tatbestand. Die Wirkung der späteren Praxis könnte somit darin zu sehen sein, sich selbst fortzusetzen. Karl gelangt insofern zu dem „Befund“, dass sie eine Präzisierung, Sanierung, Änderung, Beendigung des Vertrages oder ähnliches bewirkt347. Wird die spätere Praxis als Ursache einer Vertragsgestaltung anerkannt, bedarf es einer rechtsquellentheoretischen Begründung. Je nach Beschaffenheit, wird sie dabei als Rechtsgeschäft, als Gewohnheitsrecht oder als Tatbestand zu deuten sein, dem (hauptsächlich unter dem Aspekt von Verkehrsund Vertrauensschutz) eine Veränderung der vertraglichen Rechtslage zuge-
345 Ders.,
ebd., S. 194 f. ist jedoch zu beachten, sofern man zu dem klaren Befund kommt, es liegt Rechtsetzung vor, dass die Grenzen der völkerrechtlich zulässigen Vertrags auslegung überschritten werden und somit die Voraussetzungen zur Annahme von Völkergewohnheitsrecht vorliegen müssen. 347 W. Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 195. 346 Hierbei
C. Vertragsänderung durch spätere Praxis321
schrieben werden kann348. Um jedoch beurteilen zu können, ob die Praxis in einem derartigen Fall völkerrechtlich gedeckt ist, bedarf es der „legal opin ion“ der Mitgliedstaaten. Die Eigenschaft der späteren Praxis als Vertragsgestaltungsgrund beruht auf zwei Voraussetzungen: ihrer äußeren Beschaffenheit und ihrer inhaltlichen Unterscheidbarkeit vom zugrunde liegenden Vertrag. Hinsichtlich der äußeren Beschaffenheit vermag lediglich eine konstante, einheitliche, langandauernde und insgesamt schlüssige Praxis dazu geeignet sein, einen Vertrag auch zu verändern und zu gestalten349. Allerdings sind die Grenzen fließend, da feste Kriterien fehlen. Dies wurde von Cot anschaulich beschrieben: „Hésitante, contradictoire ou inspirée par le souci d’améliorer sa propre position, elle n’a guère de valeur probatoire. Constante, elle guide l’interprète dans sa tache. A partir d’un certain degré de consistance, elle se transforme insensiblement […] en source d’une obligation juridique. Or la frontiere entre le moyen d’interprétation et la source de droit est délicate à tracer […]“350.
In Bezug auf die zweite Bedingung, lässt auch eine konstante, einheitliche und langandauernde Vertragspraxis allein noch keinen Schluss auf die Vertragsgestaltung zu. Ob eine vertragsgestaltende Praxis vorliegt, hängt von der Ausgangslage, d. h. von der ursprünglichen Vertragslage, ab351. Aus praktischen Erwägungen scheint es zulässig, dort wo die ursprüngliche Vertragslage unklar ist, „vorsorglich“ einen Vertragsgestaltungsgrund anzunehmen, obwohl die Praxis vielleicht tatsächlich lediglich die ursprüngliche Vertragsabsicht widerspiegelt. Doch ist das Hypothetische dieser Vorgehensweise klar: Bei einem Wechsel des Ausgangspunkts ist dieselbe Praxis eben kein Vertragsgestaltungsgrund, sondern bloß ein bestätigender Auslegungsfaktor. Somit ist festzuhalten, dass die Verwendungsweise der späteren Praxis gelegentlich nur von den Bedürfnissen der Entscheidungsbegründung abhängt. Die Grenze zwischen dem Auslegungsfaktor und dem Vertragsgestaltungsgrund wird auch durch unterschiedliche Standpunkte in der Auslegungsfrage verwischt, worauf schon eingegangen wurde352. Grundsätzlich 348 Solche Konstruktionen bzw. Einordnungen sind wohl unentbehrlich. Gleichwohl ist die Einordnungsfrage lediglich sekundärer Natur. Vgl. J. Müller, Vertrauensschutz im Völkerrecht, S. 115. 349 Siehe die Gegenüberstellung im Italienisch-Amerikanischen Luftverkehrs-Fall (1965), in: ILR 45 (1972), S. 419. Vgl. auch R. Bernhardt, Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 45. 350 J.-P. Cot, La Conduite subséquente des parties à un traité, in: RGDIP 70 (1966), S. 653. Hervorhebung vom Verf. 351 W. Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 195. 352 Nach einer dynamischen Vertrags- und Auslegungskonzeption kann die spätere Praxis auch dann noch als Auslegungsfaktor Verwendung finden, wenn sie nicht
322 Teil 3, Kap. 2: Abwandlung sowie Änderung des NV durch Mitgliedstaaten
hängt es auch vom Interpreten und seinem Standpunkt in der Auslegungsfrage ab, welche Rolle der späteren Praxis zugewiesen wird353. Grundsätzlich kann die spätere Praxis einen Vertrag in verschiedenster Weise gestalten. In Bezug auf die Arten der Vertragsgestaltung lassen sich nach Karl354 zwei Gruppen ausmachen: Bei der ersten Gruppe liegt der Ansatzpunkt bei der Geltung selbst und dem Geltungsbereich des Vertrages. Hierzu zählen Begebenheiten, durch die der Vertrag in Geltung gesetzt, saniert, in seinem zeitlichen oder persönlichen Geltungsbereich erweitert oder beschnitten, wodurch er beendet oder suspendiert wird. Zur zweiten Gruppe zählen alle Vorgänge, durch welche der Inhalt des Vertrages gestaltet wird. Diese werden mit der Vertragsänderung und der authentischen Auslegung erfasst. Während die spätere Praxis eine inhaltliche Gestaltung des Vertrages durch ihren spezifischen Inhalt hervorruft, wirkt sie auf die Geltung des Vertrages mit ihrer Grundaussage, wonach der Vertrag überhaupt oder nicht mehr anzuwenden wäre. Jedoch hat man bei den Geltungsfällen nicht mit einer „späteren“ Praxis im strengen Sinne zu tun, da diese ein rechtsgültiges Vertragsverhältnis voraussetzt. Die spätere Praxis als Geltungsgrund kann sowohl „positiv“ als auch „negativ“ ausfallen. Als positiver Geltungsgrund bewirkt die spätere Praxis Geltung und Fortgeltung eines Vertrages oder Vertragsverhältnisses, als negativer Geltungsgrund führt sie zur Aufhebung oder Suspendierung355.
die ursprüngliche Vertragsabsicht, sondern etwa einen späteren Parteikonsens anzeigt. Nach statischer Konzeption hingegen wäre eine solche Verwendung „an avoidance of the task of interpretation“ (Hyde), könnte eine solche vertragsentwickelnde Praxis nur im Sinne einer Vertragsrevision, also als Vertragsgestaltungsgrund, gewürdigt werden. Vgl. C. Hyde, International Law Chiefly as Interpreted and Applied by the United States, Vol. 2, S. 1496 f. Kritisch dazu M. McDougal/H. Lasswell/J. Miller, The Interpretation of Agreements and World Public Order, S. 142 ff. 353 Allerdings sind die Fälle alternativer Verwendung Ausnahmen, da auch unter einer dynamischen Auslegungskonzeption nur relativ geringe oder verdeckte Spannungen zwischen den ursprünglichen Gegebenheiten des Vertrages und der späteren Praxis überbrückt werden. Tritt nämlich der Gegensatz offen zutage, so gebieten es rhetorische Gründe, die dynamische Rolle der späteren Praxis darzustellen, womit sie klar als Vertragsgestaltungsgrund in Erscheinung tritt. W. Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 198. 354 Ders., ebd., S. 198 ff. 355 In der geltungsbegründenden Praxis unterscheidet Karl zwischen sieben Fällen (stillschweigende Ratifikation, stillschweigende Vorbehaltsannahme, stillschweigende Vertragssanierung, Verschweigung von Beendigungsrechten, stillschweigende Vertragsverlängerung, stillschweigende Nachfolge in Verträge und stillschweigende Vertragsbeendigung und -suspendierung). Ders., ebd., S. 198 ff.
C. Vertragsänderung durch spätere Praxis323
Betrachtet man die spätere Praxis als Gestalterin des Vertragsinhalts, wurde bereits aufgezeigt, dass die Grenze zwischen authentischer Auslegung und Vertragsänderung fließend ist. Indem beide die gleiche Bindungswirkung aufweisen, besteht ein objektiver Unterschied höchstens im inhaltlichen Verhältnis zur Vertragsnorm. Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass die authentisch interpretierende spätere Praxis „in gewisser Weise“ eine Vertragsänderung begründet356. Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob und wie sie von einer (technischen) Vertragsänderung abzugrenzen wäre. Nach Karl besteht keine Notwendigkeit zur Beantwortung dieser Frage, da eine klare Abgrenzung weder nötig noch möglich ist und ein praktischer Unterscheidungszweck fehlt357. Letztlich bewirkt der Vorgang der Vertragsänderung durch spätere Praxis entweder eine Vertragserweiterung oder eine derogatorische Vertragsänderung. Im ersten Fall ergänzt die spätere Praxis bestehende Vertragsinhalte, ohne sie zu beeinträchtigen. Im zweiten Fall schafft sie hingegen eine Rechtslage, die zur gegebenen Vertragslage in Widerspruch steht. Sie beschneidet Vertragsrechte, beschränkt Vertragsregeln in ihrer Anwendung, hebt sie auf und ersetzt sie allenfalls durch andere. In beiden Fällen bleibt jedoch die Einheit des Vertragswerks gewahrt und stellt sich die spätere Praxis als die nunmehr maßgebliche Art der Vertragserfüllung dar358.
IV. Zwischenfazit Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die WVK und übereinstimmendes Völkergewohnheitsrecht die spätere Praxis ausschließlich als Möglichkeit der Vertragsauslegung zulassen. Überschreitet sie die Grenze der Vertragsauslegung und erfüllt sie nicht die Voraussetzung von Völkergewohnheitsrecht (insbesondere der opinio iuris), ist sie vertragsrechtlich und nach völkerrechtlicher Rechtsquellenlehre unzulässig.
356 Ders.,
ebd., S. 204. trotz der praktischen Bedeutungslosigkeit des Unterschieds allgemein zwischen der authentisch interpretierenden und der ändernden späteren Praxis unterschieden wird, so unter der ganz allgemeinen Vorstellung, dass Auslegung und Änderung eines Vertrages verschiedene Dinge sind. Ders., ebd., S. 204 f. 358 Ders., ebd., S. 211. 357 Wenn
324 Teil 3, Kap. 2: Abwandlung sowie Änderung des NV durch Mitgliedstaaten
D. Keine Handlungserweiterungen durch Anwendung der „implied powers“-Lehre Neben Vertragsänderungen ist im Völkerrecht anerkannt, dass beabsichtigte Handlungserweiterungen aufgrund des Fehlens einer ausdrücklichen Handlungsermächtigung nicht automatisch darin resultieren, dass ein Tätigwerden ausgeschlossen und unrechtmäßig wäre. Gründe dafür können sein, dass beim Abfassen eines völkerrechtlichen Vertrages entsprechende Fragen nicht bedacht wurden, oder die fortschreitende Entwicklung. Denn es gilt zu bedenken, dass die Lebendigkeit und Überlebensfähigkeit einer Organisation – wie auch diejenige eines Staates – nicht zuletzt davon abhängen, wie sie mit wandelnden Herausforderungen umgehen kann. Eine Inanspruchnahme von im Vertrag nicht vorgesehenen, aber möglicherweise vertragskonformen Befugnissen könnte unter diesen Gesichtspunkten nicht nur die Inanspruchnahme von „implied powers“ bedeuten, sondern auch einen Anwendungsfall des verwandten „effet utile“-Grundsatzes darstellen. Nachfolgend werden daher jeweils die rechtlichen Grundlagen der Begründungen impliziter Kompetenzen359 sowie die des Grundsatzes des „effet utile“ thematisiert. Damit einher geht eine Abgrenzung der beiden Rechtsinstitute voneinander. Anschließend wird untersucht, ob und wenn ja, wie die NATO-Organe mit implizierten Kompetenzen ausgestattet sind.
I. Abgrenzung der „implied powers“ zum „effet utile“ Bei impliziten Kompetenzen – „implied powers“ – handelt es sich grundsätzlich nicht um eine Erweiterung der Kompetenzen einer Organisation, sondern darum, ihr bereits zustehende – sozusagen verdeckt mitgeschriebene – Kompetenzen sichtbar zu machen360. Das Herleiten impliziter Kompetenzen und mit ihr die Lehre von den Implied-powers haben ihren Ursprung im US-amerikanischen Verfassungsrecht361. Seit der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in der Sache McMulloch ./. Maryland werden implizite, aus der Verfassung ableitbare und mit deren übrigen Regelungen nicht in Widerspruch tretende Kompetenzen, welche der Erreichung von in der Verfassung vorgegebenen Zielen dienen, anerkannt362. 359 Die Darstellung orientiert sich an den Ausführungen von N. Weiß, Kompetenzlehre internationaler Organisationen, S. 362 ff. 360 N. Weiß, Kompetenzlehre internationaler Organisationen, S. 363 m. w. N. 361 Einzelheiten bei I. Joswig, Die implied powers-Lehre im amerikanischen Verfassungsrecht, S. 3 ff., 49 ff. 362 US Supreme Court, McMulloch ./. Maryland, 4 Wheat. 400–437, 421 (1819), wo es heißt: „Let the end be legitimate, let it be within the scope of the constitution,
D. Keine Handlungserweiterungen der „Implied-power“-Lehre325
Anders als bei Metternich („Wer den Zweck will, muß auch die die Mittel wollen.“363) wird dabei nicht allein vom Zweck auf die Mittel geschlossen, sondern es erfolgt eine ausdrückliche Rückbindung an den Rahmen, an Geist und Buchstaben der Verfassung im Übrigen. Lediglich dergestalt wird sichergestellt, dass sich internationale Organisationen – Entsprechendes gilt auch für den Staat – nicht völlig vom Willen der Gründer364 loslösen365. Im Völkerrecht hat sich die Lehre von den Implied-powers im Hinblick auf internationale Organisationen etabliert. Bereits der Ständige Internationale Gerichtshof (StIGH) hatte in mehreren Entscheidungen darauf im Rahmen der Auslegung von Vorschriften für die Begründung der Zuständigkeit internationaler Organisationen zurückgegriffen.366 Dem Gutachten betreffend die Competence of the International Labour Organization lag die folgende Frage der französischen Regierung zugrunde: „L’Organisation International du Travail est-elle compétente pour les questions de travail agricole? Dans l’affirmative, quelle est l’étendue de sa compétence en ces domaines?“
Der StIGH gelangte zu dem Ergebnis, dass die Tätigkeit in der Landwirtschaft zweifelsfrei eine Arbeit sei, also in den Zuständigkeitsbereich der Arbeitsorganisation falle. Zwar ist in einigen Artikeln das Adjektiv industriell enthalten, doch schließe das nicht jede andere Form der Arbeit aus, zumal der Vertrag als Einheit zu betrachten sei. Die Ausklammerung eines derart wichtigen Bereichs der Produktion aus dem internationalen Arbeitsschutz and all means which are appropriate, which are plainly adapted to that end, which are not prohibited but consist within the letter and the spirit of the constitution, are constitutional“. Hierzu I. Joswig, Die implied powers-Lehre im amerikanischen Verfassungsrecht, S. 34 ff. m. w. N. Der Supreme Court greift hier auf Überlegungen zurück, die James Madison in den Federalist Papers (Nr. 44) dargelegt hatte. 363 Diese Metternichsche Devise geht auf Kant zurück – „Wer den Zweck will, will (sofern die Vernunft auf seine Handlungen entscheidenen Einfluß hat) auch das dazu unentbehrlich notwendige Mittel, das in seiner Gewalt ist“. Vgl. N. Weiß, Kompetenzlehre internationaler Organisationen, S. 27 (Fn. 84). 364 Erhaben zum Ausdruck gebracht in der Präambel der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika: „We the People of the United States, in order to form a more perfect Union, establish Justice, insure domestic Tranquility, provide for the common defence, promote the general Welfare, and secure the Blessings of Liberty to ourselves and our Posterity, do ordain and establish this Constitution for the United States of America“. 365 N. Weiß, Kompetenzlehre internationaler Organisationen, S. 363. 366 Vgl. hierzu: B. Rouyer-Hameray, Les compétences implicites des organiations internationales, S. 28 ff., S. 45 ff. und S. 51 ff.; H. Köck, Die „implied powers“ internationaler Organisationen, in: K.-H. Böckstiegel et al. (Hrsg.), FS Ignaz Seidl-Hohenveldern, S. 284 ff.
326 Teil 3, Kap. 2: Abwandlung sowie Änderung des NV durch Mitgliedstaaten
könne das Ziel, weltweit menschlichere Arbeitsbedingungen zu schaffen, dem die ILO verpflichtet sei, gefährden.367 In seinem Gutachten betreffend die Competence of the International Labour Organization to Regulate, Incidentally, the Personal Work of the Em ployer führte der StIGH im Jahre 1926 aus: „It results from the consideration of the provisions of the Treaty that the High Contracting Parties clearly intended to give the International Labour Organization a very broad power of co-operating with them in respect of measures to be taken in order to assure humane conditions of labour and the protection of workers. It is not conceivable that they intended to prevent the Organization from drawing up and proposing measures essential to the accomplishment of that end“368.
Nach kurzer Zeit bestätigte der StIGH diese Auffassung in seinem Gutachten betreffend die Jurisdiction of the European Commission of the Danube between Galatz and Braila (1927): „As the European Commission is not a State, but an international institution with a special purpose, it only has the functions bestowed upon it by the Definite Statue with a view to the fulfilment of that purpose, but it has powers to exercise these functions to their full extent, in so far as the Statue does not impose restrictions upon it“369.
Der StIGH ergänzte in seinem Gutachten vom 28. August 1928 betreffend die Interpretation of the Greco-Turkish Agreement of December 1st, 1926: „[…] any body possessing jurisdictional powers has the right in the first place itself to determine the extent of its jurisdiction […]“370.
Nach dem Krieg schloss sich auch der IGH dieser mittlerweile gefestigten Auffassung an und folgerte bereits in seinem Gutachten Reparation for Injuries suffered in the Service of the United Nations (1949) aus den Zielen der VN: „Under international law, the Organization must be deemed to have these powers which, though not expressly provided in the Charter, are conferred upon it by necessary implication as being essential to the performance of its duties“371.
Weitere Gutachten setzten diese Linie fort. So heißt es im Gutachten über Effect of Awards of Compensation made by the United Nations Administrative Tribunal (1954): 367 Publications of the Permanent Court of International Justice (PCIJ), Gutachten vom 12. August 1922, Series B, No. 2 und 3, S. 23 ff. 368 PCIJ, Gutachten v. 23. Juli 1926, Series B, No. 13, S. 18 ff. 369 PCIJ, Gutachten v. 8. Dezember 1927, Series B, No. 14, S. 64. 370 PCIJ, Gutachten v. 28. August 1928, Series B, No. 16, S. 20. 371 IGH, Reparation for Injuries Suffered in the Service of the United Nations, Advisory Opinion, ICJ Rep. 1949, S. 182.
D. Keine Handlungserweiterungen der „Implied-power“-Lehre327
„[T]he Court finds that the power to establish a tribunal […] was essential to ensure the efficient working of the Secretariat, and to give effect to the paramount consideration of securing the highest standards of efficiency, competence and integrity. Capacity to do so arises by necessary intendment out of the Charter“372.
Die von Richter Hackworth in beiden Fällen formulierten Sondervoten373 standen der Implied-powers-Lehre kritisch gegenüber, konnten sich allerdings nicht durchsetzen. Denn bereits im Jahr 1962 hatte der IGH im Gutachten Certain Expenses of the United Nations Gelegenheit, festzustellen: „When the Organization takes action which warrants the assertion that it was appropiate for the fulfillment of one of the stated purposes of the United Nations, the presumption is that such action is not ultra vires the Organization“374.
Der IGH hat bis heute an dieser Rechtsprechung festgehalten. Auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat sich schon früh dahingehend geäußert. Er halte, „ohne sich dabei an eine extensive Auslegung zu begeben, die Anwendung einer sowohl im Völkerrecht als auch im innerstaatlichen Recht allgemein anerkannten Auslegungsregel für zulässig, wonach die Vorschriften eines völkerrechtlichen Vertrages oder eines Gesetzes zugleich diejenigen Vorschriften beinhalten, bei deren Fehlen sie sinnlos wären oder nicht in vernünftiger und zweckmäßiger Weise zur Anwendung gelangen könnten“375.
Diese Rechtsprechung setzte der EuGH fort,376 sodass durch den Impliedpowers-Grundsatz – und die damit einhergehende Auslegungslehre – auch im Gemeinschaftsrecht die Kompetenzen aus Ziel und Zweck des Vertrages zu 372 International Court of Justice (ICJ), Gutachten vom 13. Juli 1954, ICJ-Reports 1954, S. 57. 373 Zitiert nach N. Weiß, Kompetenzlehre internationaler Organisationen, S. 366 (Fn. 1364): IGH, Reparation for Injuries Suffered in the Service of the United Nations, Advisory Opinion, ICJ Rep. 1949, S. 196, S. 198): „Powers not expressed cannot truly be implied“ und: „The doctrine of implied powers is designed to implement, within reasonable limitations, and not to supplant or vary, expressed powers“. Vgl. auch Sondervotum von Richter Fitzmaurice, ICJ-Reports 1971, S. 220 (S. 281): „All (General Assembly’s) powers, whether they be executive or only recommendatory, are precisely formulated in the Charter and there is no residuum. Naturally any organ must be deemed to have the powers necessary to enable it to perform the specific functions it is invested with. (…) This is acceptable if it is read as being related and confined to existing and specified duties; but it would be quite another matter, by a process of implication, to seek to bring about an extension of functions (…)“. 374 IGH, Certain Expenses of the United Nations, Gutachten vom 20. Juli 1962, ICJ-Reports 1962, S. 162 f., S. 168. Kritisch zur Argumentation des IGH D. Steiger, Folterverbot und der „Krieg gegen den Terror“, S. 465. 375 EuGH, „FÉDÉCHAR“, Rs. 8/55, Urt. v. 29. November 1956, Slg. Bd. II, S. 297 (S. 312). 376 Etwa EuGH, European Road Agreement, Rs. 22/70, Urt. v. 31. März 1971, Slg. 1971, S. 274 f.
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erschließen sind.377 Systematisch relevant ist sie dort, wo die Verträge Interpretationsspielräume eröffnen: „Kompetenzfortbildung setzt Vagheit der Vertragsbestimmungen voraus“378. Darüber hinaus wird auch ein sachlicher Anwendungsfall von Implied-powers bei der Wahrnehmung von Organkompetenzen durch ein anderes Organ oder durch die Mitgliedstaaten in einer temporär begrenzten Ausnahmesituation – um Funktionsstörungen abzuwehren – angenommen. Internationale Organisationen haben immer dann auf die Implied-powersLehre zurückgegriffen, wenn dies nach ihrer Auffassung zur Aufgabenerfüllung notwendig erschien379. Das Schrifttum hat dem sowohl für das Völkerrecht als auch für das Europarecht zugestimmt.380 Die Lehre von den Implied-powers ist einerseits auf internationale Organisationen insgesamt anzuwenden, wenn es um die Ermittlung ihrer Kompetenzen als ganzes (Verbandskompetenz) geht, und auf der anderen Seite intern, sofern die Kompetenzverteilung innerhalb der Organisation (Organkompetenz)381 in Rede steht. 377 M. Cappelletti/D. Golay, Judical Branch in the Federal and Transnational Union, in: M. Cappelletti et al. (Hrsg.), Integration through Law, S. 316 ff., bieten einen Vergleich zwischen EG und USA. 378 M. Nettesheim, Kompetenzen, in: A. von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 424. 379 So etwa im Jahr 1841, als die Zentralkommission für die Rheinschiffahrt unter Rückgriff auf den Octroivertrag von 1804 Ausweichregelungen bei Gegenverkehr vereinheitlichte. Vgl. N. Weiß, Kompetenzlehre internationaler Organisationen, S. 367 m. w. N. 380 Zum Völkerrecht siehe nur: R. Khan, Implied Powers of the United Nations, passim; K. Skubiszewski, Implied Powers of the International Organizations, in: Y. Dinstein (Hrsg.), International Law at a Time of Perplexity, FS Shabtai Rosenne, S. 855 ff., M. Zuleeg, International Organizations, Implied Powers, in: EPIL II (1995), S. 1312–1314. Ablehnend demgegenüber die sowjetische Lehre, vgl. G. Tunkin, The Legal Bases of International Organization Action, in: R.-J. Dupuy (Hrsg.), A Handbook on International Organizations, S. 261 ff., der unter Bezugnahme auf die Sondervoten Hackworths (s. o.) eine Kompetenzvermutung zugunsten internationaler Organisationen als „completely wrong“ bezeichnet. Zum Europarecht vgl. G. Nicolaysen, Zur Theorie von den Implied Powers in den Europäischen Gemeinschaften, in: EuR 1966, S. 129 ff.; J. Becker, Die Anwendbarkeit der Theorie von den Implied Powers im Recht der Europäischen Gemeinschaften, passim; G. Peruzzo, Das Problem der Implied powers der Organe der Europäischen Gemeinschaften, passim; S. Stadlmeier, Implied Powers der Europäischen Gemeinschaften, in: ZöR 52 (1997), S. 353 ff.; R. Böhm, Kompetenzauslegung und Kompetenzlücken, S. 174 ff.; H. Köck, Die „implied powers“ internationaler Organisationen, in: K.-H. Böckstiegel et al. (Hrsg.), FS Ignaz Seidl-Hohenveldern, S. 284 ff. 381 In einem solchen Fall liegt es nahe, dem – nach der „normalen“ Aufgabenverteilung (dies hat der IGH bereits im Jahr 1950 unterstrichen, vgl. Gutachten v. 3. März
D. Keine Handlungserweiterungen der „Implied-power“-Lehre329
Gleichwohl ist festzuhalten, dass einer internationalen Organisation mittels der Implied-powers-Lehre nur solche Kompetenzen zugerechnet werden können, die sich durch Auslegung aus dem Recht dieser Organisation ergeben. Es handelt sich also um Kompetenzen, die der Organisation von Anfang an zukommen, aber nicht ausdrücklich im Gründungsvertrag oder anderen Rechtsakten benannt sind, sondern erst aus einem konkreten Anlass gefunden – und nicht: erfunden oder geschaffen – werden. Letzteres, also die Zuschreibung einer auch nicht implizit im Recht einer internationalen Organisation enthaltenen Kompetenz, deren Ausübung und Anerkennung kann allerdings gewohnheitsrechtlich eine neue Kompetenz begründen382. Neben der Implied-powers-Lehre hat auch der Grundsatz des „effet utile“ in Rechtsprechung383 und Literatur384 allgemeine Anerkennung gefunden. Unter diesem Stichwort385 wurde die Problematik diskutiert, ob völkerrechtliche Verträge, und hierbei insbesondere die Gründungsverträge internationaler und supranationaler Organisationen unter Zugrundelegung des Effektivitätsprinzips dergestalt auszulegen sind, dass derjenigen Auslegung der Vorzug gebühre, bei welcher der erkennbare Zweck des Vertrages und seiner Einzelvorschriften am besten erreicht werde386. Insbesondere im europäischen Gemeinschaftsrecht hat der Grundsatz des „effet utile“ in vielgestaltiger Form Einzug gehalten387. Der EuGH hat ihn vor allem „in bezug auf unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht positiv wirksamkeitssteigernd“388 und hinsichtlich mitgliedstaatlichen Vollzugsrechts beschränkend angewandt. Er hat ihn aber auch eingesetzt, um Kompetenzen der Gemeinschaft aus den Verträgen durch sehr tiefschürfende Auslegung389 zu begründen. 1950 (ICJ-Reports 1950, S. 4 ff.) – kompetenznächsten Organ die implizierte Kompetenz zuzuerkennen, subsidiär dem unmittelbar legitimierten Mitgliederorgan. Vgl. E. Klein/S. Schmahl, in: W. Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 4. Abschn., Rdnr. 191. 382 N. Weiß, Kompetenzlehre internationaler Organisationen, S. 368 f. 383 Vgl. nur IGH, Urt. v. 18. Juli 1966, ICJ-Reports 1966, S. 6 ff. (S. 48 f.) – South West Africa Cases, Ethopia v. South Africa, Liberia v. South Africa, Second Phase. 384 Ausführlich M. Mosiek, Effet utile und Rechtsgemeinschaft, passim m. w. N. 385 Und unter der Maxime „ut res magis valeat quam pereat“; hierzu A. Verdross/ B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 780 (Ziff. 3); vgl. R. Streinz, Der „effet utile“ in der Rechtsprechung des EuGH, in: O. Due et al. (Hrsg.), FS Ulrich Everling (Bd. II), S. 1491 ff. 386 R. Bernhardt, Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 96; vgl. auch R. Böhm, Kompetenzauslegung und Kompetenzlücken, S. 64 ff. m. w. N. 387 Vgl. Darstellung bei R. Böhm, Kompetenzauslegung und Kompetenzlücken, S. 72 ff.; J. Alvarez, International Organizations as Law-makers, S. 184 ff., 273 ff.; jeweils m. w. N. 388 M. Mosiek, Effet utile und Rechtsgemeinschaft, S. 52. 389 So etwa EuGH, Urt. v. 30. Mai 1989, Rs. 242/87, Slg. 1989, S. 1425 ff. – ERASMUS. Hierzu R. Streinz, Der „effet utile“ in der Rechtsprechung des EuGH, in:
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Nach dieser Auslegung dürfen Rechte und Pflichten der Parteien nicht dadurch in ihrer Wirkung abgeschwächt werden, dass ein Vertrag nicht die für die optimale Vertragserfüllung erforderlichen Möglichkeiten ausdrücklich vorsieht. Vielmehr muss vorausgesetzt werden, dass die Vertragsparteien dasjenige Vertragsergebnis anstreben, welches am ehesten dem Vertragszweck entspricht390. Bei einem auslegungsfähigen Wortlaut gebührt – wie bereits voranstehend erwähnt – derjenigen Auslegung der Vorzug, bei welcher der erkennbare Zweck des Vertrages und seiner Einzelvorschriften am besten erreicht wird391. Allerdings kann der „effet utile“ allenfalls eine „Vertragsabrundungskompetenz“ darstellen, wie das BVerfG in seinem Maastricht-Urteil zur Auslegung des Art. 235 EGV a. F. (Art. 308 EGV n. F.; Art. 352 AEUV) festgestellt hat392. Kompetenzen können demzufolge nur im Rahmen einer bereits eingeräumten Befugnis hergeleitet werden393. Will man beide Rechtsinstitute voneinander abgrenzen, so ist für die „implied powers“ kennzeichnend, dass mit ihrer Hilfe nicht nur die durch den Vertrag zugestandenen Möglichkeiten im Sinne der beabsichtigten Nutzungsanwendung des Vertrages möglichst optimal ausgenutzt werden, sondern das „weitere“ Kompetenzen begründet werden, die für Erreichung des Gesamtzwecks des Vertrages notwendig sind und die über den operativen Teil des Vertrages hinausgehen394. Gleichwohl sind beide Theoreme – wie bereits aufgezeigt – nur im Rahmen der Auslegung einsetzbar. Ungeachtet der Möglichkeit zur inhärenten Zuständigkeits- bzw. Kompetenzerweiterung begründet auch das Prinzip der „implied powers“ kein Instrument zur Vertragsänderung, sondern eine Vertragsauslegungsregel395. Der Vertragsrahmen darf durch die Praxis der Organe nicht überschritten werden, da nur die Mitgliedstaaten als Herren der Verträge die Befugnis zur Vertragsänderung besitzen.
O. Due et al. (Hrsg.), FS Ulrich Everling (Bd. II), S. 1504 f. Weitere Beispiele bei M. Mosiek, Effet utile und Rechtsgemeinschaft, S. 54 ff. 390 R. Bindschedler, International Organisations, General Aspects, in: EPIL 5 (1983), S. 125. 391 R. Bernhardt, Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 96. 392 BVerfGE 89, 155 (210). 393 Vgl. G. Warg, Von Verteidigung zu kollektiver Sicherheit, S. 158 f. 394 A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 780 (Ziff. 5). 395 W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 12, Rdnr. 16.
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II. Ausstattung der NATO-Organe mit implizierten Kompetenzen Wie zuvor erörtert, können internationale Organisationen und/oder ihre Organe zur effektiven Erfüllung der ihnen zugewiesenen Aufgaben über den „sichtbaren“ Wortlaut des völkerrechtlichen Vertrages hinaus mit „verdeckt geschriebenen“ – implizierten Kompetenzen („implied powers“) ausgestattet sein. Für das transatlantische Verteidigungsbündnis stellt sich somit die Frage, inwieweit die NATO-Organe mit (implizierten) Kompetenzen ausgestattet sind. Maßgebliche Organe des Bündnisses sind der NATO-Rat und der Ständige Rat (NATO-Botschafter) als Versammlung der Regierungsvertreter. Implizierte Kompetenzen bedeuten im Grundsatz für die Organe des Bündnisses, dass Befugnisse, die über den Vertragszweck hinausreichen, im NV enthalten sein müssen und bloß noch aufgedeckt werden, nicht aber erst noch geschaffen werden dürfen. Im Gegensatz dazu können weitergehende Kompetenzen lediglich dann begründet werden, wenn die Organisationsstruktur des Bündnisses einen so hohen Integrationsgrad erreicht hätte, wonach etwa die Befugnis, für die Mitgliedstaaten bindende Beschlüsse – auch gegen den Willen einzelner Mitglieder – zu fassen und durch eine eigene „Gesetzgebungskompetenz“ Rechtsakte zu erlassen, die in den Mitgliedstaaten unmittelbar ohne staatliche Durchführungsmaßnahmen gelten, bestehen würde. Dies sind die wesentlichen Kennzeichen supranationaler Organisationen – wie auch weisungsunabhängige Entscheidungsorgane, (quasi-)parlamentarische Organe und gerichtliche Organe mit obligatorischer Gerichtsbarkeit. Charakteristisch ist insbesondere ein hauptamtliches Exekutivorgan, dessen Mitglieder gegenüber ihren Entsendestaaten weisungsunabhängig sind und von ihren Regierungen weder Instruktionen einholen noch entgegennehmen dürfen. Ein solches regierungsähnliches Organ, das in der Lage wäre, ohne Zustimmung der Mitgliedstaaten den „Souveränitätspanzer“ der Mitgliedstaaten zu durchbrechen und auf diese Weise den Gründungsvertrag zu erweitern, fehlt jedoch der NATO gerade. Sowohl der NATO-Rat als auch der Ständige Rat als Versammlung der Regierungsvertreter an der Spitze des Bündnisses sind weisungsgebunden und damit international, nicht supranational strukturiert. Das Gebot der Rechts- und Funktionenklarheit tritt in diesem Zusammenhang zutage. Es besitzt eine besondere Bedeutung für das Zusammenwirken von Innen- und Außenrecht jeder organisierten Staaten- und Personengemeinschaft. Fehlt es an einem normativen Anhaltspunkt dafür, ob eine internationale Organisation bestimmte Kompetenzen wahrnehmen kann, so hat
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diese fehlende Rechtsklarheit Auswirkungen zum einen auf den innerstaat lichen Bereich der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Frage, ob Hoheitsrechte übertragen worden sind oder nicht. Andererseits betrifft es aber auch die Qualität der Völkerrechtsordnung im Sinne einer an rechtsstaatlichen Grundsätzen ausgerichteten Werteordnung. Durch den Wandel des Völkerrechts von einem „Bündel jeweils bilateraler Rechtsverhältnisse“ des Koexistenzvölkerrechts hin zu einer an Allgemein interessen orientierten Völkerrechtsgemeinschaft ist eine gewisse objektive Völkerrechtsordnung entstanden, die Interesse an der Einhaltung allgemeiner Rechtsprinzipien hat. So verbinden gewisse materielle Grundprinzipien – insbesondere im Bereich des Menschenrechtsschutzes396 – nicht nur alle Mitglieder der Staatengemeinschaft in dem Sinne, dass ihre Einhaltung seitens der einzelnen Staaten durch die Staatengemeinschaft eingefordert werden kann, sondern sie stellen auch objektive Werte dar, die um ihrer selbst willen geschützt sind, und es erlauben, von einer – im Aufbau befindlichen – „Verfassungsgemeinschaft“ der Staaten zu sprechen. Eine derartige Wertegemeinschaft erfordert die Anerkennung gewisser allgemein anerkannter Rechtsgrundsätze, zu denen auch das Prinzip der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit zu zählen ist397. Aus diesem Grund und auch wegen der notwendigen hinreichenden Legitimation des Handelns einer internationalen Organisation durch die nationalen Parlamente ihrer Mitgliedstaaten ist in Bezug auf etwaige „implied powers“ das Vorliegen eines Anknüpfungspunkts im Vertrag selbst zu fordern, der gewissen Mindestanforderungen hinsichtlich der Bestimmtheit der auf seiner Basis möglichen Aktivitäten genügt. Eine internationale Organisation besitzt damit grundsätzlich nicht die Befugnis, ihre Zuständigkeiten in solche Bereiche auszuweiten, zu deren Regelung sie nicht geschaffen wurde. Wendet man die zuvor ermittelten Grundsätze auf die NATO an, so ist zu konstatieren, dass weder der NATO-Rat noch der Ständige Rat aufgrund ihrer internationalen – und nicht supranationalen – Ausgestaltung die Befugnis besitzen, dem Bündnis über die reine Aufdeckung von Kompetenzen hinaus zusätzliche Kompetenzen zu übertragen, die im NV keine entsprechende Grundlage aufweisen.
III. Ausgestaltung und Grenzen der Kompetenzen Nachdem zuvor dargelegt worden ist, welcher Maßstab an Handlungserweiterungen aufgrund implizierter Kompetenzen anzulegen ist, bleibt nach396 Vgl, 397 Vgl.
C. Janik, Internationale Menschenrechtsstandards, passim. So auch G. Warg, Von Verteidigung zu kollektiver Sicherheit, S. 162.
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folgend zu untersuchen, inwieweit die Kompetenzen des Verteidigungsbündnisses in Bezug auf militärische Maßnahmen ausgestaltet sind und wo deren Grenze verläuft. Für die Hauptfrage dieser Untersuchung stellt sich somit die Frage, ob der NATO als Militärbündnis mittels „implied powers“ militärische Einsatzmöglichkeiten eröffnet werden können, die der NV funktionell nicht vorgesehen hat. Hierbei sind wie bei der Darstellung des Aufgabenfelds die in Betracht kommenden Artikel des NV zu begutachten. Zuvorderst ist dabei die Frage zu beantworten, ob die in der Präambel des NV niedergeschriebene programmatische Zielerklärung, wonach die Mitgliedstaaten entschlossen sind, „ihre Bemühungen für die gemeinsame Verteidigung und für die Erhaltung des Friedens und der Sicherheit zu vereinigen“, ausreicht, um die umfassende Friedensschaffung und -bewahrung als inhaltlich ausgestaltete Aufgabe des Gründungsvertrages zu bezeichnen. Ähnlich wie im Europarecht sind die inhaltlichen Aussagen der Präambel als Auslegungshilfe des Artikel-Rechts heranzuziehen, sodass für das Vorliegen etwaiger „implied powers“, Anknüpfungspunkte im Vertrag selbst zu fordern sind. Aus diesem Grund ist die in der Präambel festgeschriebene Zielsetzung des NV als nicht ausreichend anzusehen. In Art. 2 NV, der die Parteien zu einem Beitrag an der weiteren Entwicklung friedlicher internationaler Beziehungen verpflichtet, kann auch nicht als militärische Aufgabenzuweisung zur Erfüllung dieser Pflicht verstanden werden. Aus dem Vertragswortlaut wird deutlich, dass diese friedlichen und freundschaftlichen Beziehungen durch die Förderung eines besseren Verständnisses der Bündnisgrundsätze herbeigeführt werden sollen und nicht durch Anwendung bzw. Ausdehnung militärischer Maßnahmen. Auch Art. 3 NV, der zwar militärische Aktionen benennt – diese jedoch „nur“ zur Fortentwicklung der Widerstandskraft gegen bewaffnete Angriffe –, lässt eine Ableitung von kollektiver Sicherheit als Ziel und Zweck des Vertrages nicht erkennen. Dies gilt darüber hinaus für alle Bestimmungen, die sich mit den Pflichten und Aufgaben der Vertragsparteien befassen (Art. 1 bis 5, 8). Vielmehr beziehen sich alle Normen auf einen bewaffneten Angriff, dessen Abwehr einen Beitrag für die Erhaltung des Friedens darstellt und der durch Konsultation und Kooperation gefördert werden soll. Aus diesem Grund können sämtliche Vertragsbestimmungen, die sich auf die Ziele des Vertrages beziehen, nur zu Befugnissen ermächtigen, die den Aufgaben der NATO entsprechen. Davon ausgehend, dass „implied powers“ dem Bündnis keine neuen Aufgaben zuordnen, sondern nur die Be fugnisse der vertraglich übertragenen Aufgaben erweitern können, ist die Zulässigkeit von militärischen Maßnahmen kollektiver Sicherheit unter Zuhilfenahme von „implied powers“ anhand des Wortlauts des NV zu vernei-
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nen398. Dafür spricht auch, dass aufgrund von „implied powers“ erzeugte Rechtsnormen nicht primärrechtsändernd wirken dürfen, d. h. keinesfalls mit anderen, im Vertrag positiv enthaltenen Normen kollidieren dürfen399. Insbesondere der für das Bündnis und dessen militärische Befugnisse prägende Art. 5 NV geht in seinem Wortlaut davon aus, dass nur bewaffnete Angriffe ein militärisches Angriffsrecht begründen können. Allerdings steht diese rein am Wortlaut des NV orientierte Ablehnung von über die Verteidigung hinausgehenden ungeschriebenen Befugnissen im Widerspruch zu der durch das BVerfG400 bereits festgestellten Funktion der NATO als System gegenseitiger kollektiver Sicherheit und Regionalorgani sation. Anhand dessen argumentieren einige Vertreter, dass es – unabhängig von der Frage der „implied power“ – vom Ziel und Zweck des Vertrages näher liege, auch die ungeschriebenen Befugnisse zuzulassen, die im NV keinen Anhaltspunkt finden. So sei Art. 5 NV auch keine Ausschlussnorm, die eine abschließende Regelung zu den militärischen Maßnahmen regele, sondern ein ausdrücklich vorgesehener Anwendungsfall neben einem oder mehreren ungeschriebenen. Die Autoren dieser „extrem teleologischen Auslegung“ tragen praeter contractu insbesondere Argumente vor, die zwar in der Staatenpraxis, nicht aber im NV selbst ihre Stütze finden. Es sei, so die Befürworter401 eines weiten Aufgabenkatalogs, zu berücksichtigen, dass das ursprüngliche weite, VN-freundliche Verständnis des NV vom maßgeblichen Organ des Bündnisses, dem NATO-Rat, nie infrage gestellt worden sei. Vielmehr sei durch diesen wiederholt betont worden, dass die Verteidigungsaufgabe der NATO nicht isoliert, sondern nur im Rahmen des grundlegenden Zwecks der Organisation gesehen werden könne, nämlich die Sicherheit der Mitglieder zu gewähren.402 Speziell die Präambel mache in ihrer Zielerklärung deutlich, dass die Erhaltung des Friedens neben der 398 Siehe R. Wolfrum, Der Beitrag regionaler Abmachungen zur Friedenssicherung, in: ZaöRV 53 (1993), S. 591 ff.; a. A. G. Nolte, Die „neuen Aufgaben“ von NATO und WEU, in: ZaöRV 54 (1994), S. 98 ff., S. 104 und S. 109 f. unter Berfufung auf die „implied-powers“-Lehre: „Die Gründungsverträge von NATO und WEU ermöglichen es den Organisationen also, alle für die Ausübung der Sicherheitsfunktion erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, die völkerrechtsgemäß sind“ (Hervorh. vom Verf.). 399 Vgl. G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht (Bd. I/2), § 106, S. 218 (insb. Fn. 18). 400 Vgl. BVerfGE 90, 286 (347 ff.). 401 Beispielhaft G. Nolte, Die „neuen Aufgaben“ von NATO und WEU, in: Z aöRV 54 (1994), S. 107 m. w. N. 402 Siehe Ziff. 3 des Anhangs zum Kommuniqué des NATO-Rates vom 4. Dezember 1970, in: Die Atlantische Gemeinschaft – Grundlagen und Ziele (1972), S. 256; sowie Punkt 5 des Kommuniqués des NATO-Rats über „Die zukünftigen Aufgaben der Allianz“ vom 14. Dezember 1967, in: ebd., S. 213.
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Sicherstellung einer gemeinsamen Verteidigung stehe, und somit die Friedenssicherung ganz allgemein zum Vertragsinhalt gehöre – nicht bloß die Verteidigung im engeren Sinne403. Die Forderung der NATO über die Abschreckung des WP hinaus Aufgaben des Krisenmanagements anzuvertrauen, sei überdies auch nicht neu. Bereits Mitte der 1960er-Jahre habe der erste Direktor des Internationalen Instituts für Strategische Studien (IISS), Buchan, Ansätze für eine politische Reform der Allianzmechanismen entworfen, die das Bündnis auf die „schwierige Übergangsphase“ vorbereiten sollte „zwischen der alten bipolaren Welt und einer neuen internationalen Ordnung404. Zu keiner Zeit sei die Allianz als ein rein binnengerichtetes Verteidigungsbündnis verstanden worden. Dies werde auch anhand des erweiterten Sicherheitsbegriffes deutlich, der dem NV spätestens seit den Maßnahmen zur Umsetzung der SR-Beschlüsse im ehemaligen Jugoslawien zugrunde liege. Der Bündnisvertrag unterscheide einen engeren Begriff der Verteidigung der Mitgliedstaaten und einen weiteren Begriff ihrer Sicherheit. Dies komme in der Präambel sowie in den Art. 1, 4, 10 und 12 NV zum Ausdruck, wo von der Sicherheit als einem weitergehenden Vertragsziel die Rede ist. Die Wahrung und Herstellung der Sicherheit als Aufgabe des Bündnisses sei keine „Neuerfindung“ der gewandelten Sicherheitslage nach 1989/90, sondern auch während der Zeit des „Kalten Kriegs“ stets im Auge behalten worden.405 Der NV habe für den Fall der Einstimmigkeit im NATO-Rat 403 So E. Brüel, Die juristische Bedeutung des Atlantikpakts, in: AVR 4 (1953/ 1954), S. 292: „Man will hier den Frieden und die Sicherheit im allgemeinen aufrechterhalten, nicht wie im Abschnitt 3 nur im Nordatlantikgebiet“; M. Zimmer, Einsätze der Bundeswehr, S. 118. 404 Vgl. G. Reicherter, Rechtsgrundlagen des Kosovo-Konflikts, S. 124; A. Pradetto, Die NATO, humanitäre Intervention und Völkerrecht, in: APuZ 1999 (B 11/99), S. 32 f. 405 Vgl. die Erklärung des Ausschusses für Verteidigungsplanung (DPC) vom 2. Dezember 1970 in Brüssel über die NATO-Studie AD 70/Die Allianz in den siebziger Jahren: „Die NATO wird sich zur Gewährleistung der Sicherheit in den 70er Jahren auch weiterhin auf Verteidigung und Entspannung stützen. Verteidigungsprobleme dürfen nicht isoliert gesehen, sondern müssen im umfassenden Zusammenhang der grundlegenden Zielsetzung der Allianz – der Gewährleistung der Sicherheit ihrer Mitglieder – betrachtet werden. Zwischen der Aufrechterhaltung einer ausreichenden Defensivkraft und der Aushandlung von Regelungen, die die Sicherheit der Mitgliedstaaten berühren, besteht ein enger Zusammenhang“. (Ziff. 3 des Anhangs zum Kommuniqué des NATO-Rates vom 4. Dezember 1970, in: Die Atlantische Gemeinschaft – Grundlagen und Ziele (1972), S. 256); sowie des sog. Harmel-Berichts „(…) Militärische Sicherheit und eine Politik der Entspannung stellen keinen Widerspruch, sondern eine gegenseitige Ergänzung dar. (…)“ (vgl. Punkt 5 des Kommuniqués des NATO-Rates über „Die zukünftigen Aufgaben der Allianz“ vom 14. Dezember 1967, in: ebd., S. 213).
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kollektive militärische Maßnahmen, die mit dem Vertragsziel des Bündnisses und den VN im Einklang stehen406, nie ausgeschlossen407. Wenn trotzdem behauptet werde, dem NV läge – noch immer – ein restriktiver Sicherheitsbegriff zugrunde, dem kein über die gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen hinausgehendes, eigenständiges militärisches Element innewohne408, so verkenne diese Auffassung den historischen Gesamtzusammenhang der Entstehung des NV, der nach dem Willen der Gründerstaaten gerade auch ein Instrument der kollektiven Sicherheit sein sollte. Wenn dies so sei, bestehe kein Grund für die Annahme, dass zur Erfüllung dieser Aufgabe militärische Mittel ausgeschlossen sein sollten. Denn nur mit bewaffneten Maßnahmen könne kollektive (regionale) Friedenssicherung überhaupt erst effektiv durchgeführt werden. Dass die Inanspruchnahme von Befugnissen zur kollektiven Sicherheit auch ohne ausdrückliche vertragliche Grundlage von der Staatengemeinschaft akzeptiert werde, machten auch einige Beispiele aus der Praxis der Regionalorganisationen deutlich. Als die USA 1965 zur Beendigung des Bürgerkrieges und zur Überwachung freier Wahlen in der Dominikanischen Republik eine regionale Friedenstruppe der OAS vorgeschlagen habe, habe man deren Kompetenz un geachtet ausdrücklich fehlender satzungsrechtlicher Grundlage (vgl. Art. 1 Abs. 2 OAS-Charta409) für gegeben angesehen. Da die OAS-Charta weder die Aufstellung von gemeinsamen Streitkräften noch die Kompetenz der Organisation zum Eingreifen in interne Konflikte vorgesehen habe, konnte ein derartiges Tätigwerden lediglich auf die allgemeinen Vertragsziele gestützt werden.410 Der Fall der OAS-Streitmacht in der Dominikanischen Republik sei zudem nicht der einzige Fall, wo Regionalorganisationen ungeschriebene militärische Befugnisse zur kollektiven Sicherheit in Anspruch genommen hätten. Die Arabische Liga habe von 1977 bis 1983 gemeinsame Truppen in 406 Vgl. Art. 1 NV: „Die Parteien verpflichten sich, in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen jeden internationalen Streitfall, (…), auf friedlichem Wege so zu regeln, (…)“; Art. 7 NV: „Dieser Vertrag berührt weder die Rechte und Pflichten, welche sich für die Parteien, die Mitglieder der Vereinten Nationen sind, aus deren Satzung ergeben, (…)“. 407 U. Nerlich, Neue Sicherheitsfunktionen der NATO, in: EA 23 (1993), S. 669. 408 Vgl. C. Hillgruber, Die Fortentwicklung völkerrechtlicher Verträge als staatsrechtliches Problem, in: J. Isensee/H. Lecheler (Hrsg.), Freiheit und Eigentum, FS Walter Leisner, S. 58; A. Pradetto, Die NATO, humanitäre Intervention und Völkerrecht, in: APuZ 1999 (B 11/99), S. 29. 409 Art. 1 Abs. 2 OAS Charta lautet: „The Organization of American States has no powers other than those expressly conferred upon it by this Charter, none of whose provisions authorizes it to intervene in matters that are within the internal jurisdiction of the Member States“. 410 Vgl. G. Nolte, Die „neuen Aufgaben“ von NATO und WEU, in: ZaöRV 54 (1994), S. 107 m. w. N.
D. Keine Handlungserweiterungen der „Implied-power“-Lehre337
den Libanon entsandt411, die Organisation afrikanischer Staaten (OAU) habe 1981/82 multinational zusammengesetzte Streitkräfte in den Tschad412 geschickt, und seit 1990 stehe eine Truppe der Wirtschaftsgemeinschaft west afrikanischer Staaten in Liberia413. In all diesen Fällen hätten die Statuten der betreffenden Organisationen entweder nur sehr allgemeine Versprechen der Zusammenarbeit in Sicherheitsangelegenheiten oder allein den Aufbau von gemeinsamen Verteidigungsstreitkräften vorgesehen. Aus den vorherigen Ausführungen samt der aufgeführten Beispiele könne der Schluss gezogen werden, dass die NATO nicht gehindert sei, die aufgezeigte ursprünglich beabsichtigte „VN-Funktion“ einzunehmen414. Es zeige sich hierbei, dass Regionalorganisationen, welche die Erhaltung und Schaffung von Frieden und Sicherheit als rein programmatisches Vertragsziel ins Feld führen, auch dann regelmäßig militärische Befugnisse für das Ziel „kollektive Sicherheit“ in Anspruch genommen hätten, wenn dies die Organisationssatzung gar nicht vorgesehen habe. Die Rechtmäßigkeit der kompetenzerweiternden Anwendung der „Implied-powers“-Regel auf unbestimmte Sicherheitsfunktionen internationaler Organisationen werde gestützt durch das Certain-Expenses-Gutachten des IGH. In diesem ging es um die Frage, ob die allgemeine Sicherheitsfunktion der VN das Eingreifen bestimmter militärischer Maßnahmen (Aufstellung von Friedenstruppen) ermöglicht, obwohl das Gründungsstatut nur anderweitige Maßnahmen (Kapitel VII VN-Charta) zur Verfügung stellt. Der IGH habe aus dem Friedenszweck der Organisation das Recht der VN-Organe abgeleitet, die Bildung und Entsendung von Friedenstruppen in Krisengebiete zu veranlassen415. Die Inanspruchnahme von „implied powers“ zur Begründung kollektiver Sicherheitsbefugnisse wurde dabei auf den Gedanken gestützt, dass „Sicherheitspolitik im Kollektiv“416 höhere Legitimation vermitteln könne als einseitige hegemoniale Maßnahmen. Kapitel VII der VN-Charta beruhe auf dem Gedanken, dass kollektives Handeln in aller Regel unparteiischer und deshalb eher geeignet sei, friedensstiftend zu wir411 J. Isselé, The Arab Deterrent Force in Lebanon, 1976–1983, in: A. Cassese (Hrsg.), The Current Legal Regulation of the Use of Force, S. 179 ff. 412 J.-P. Cot, The Role of Inter-African Peace-Keeping Force in Chad, 1981–1982, in: A. Cassese (Hrsg.), The Current Legal Regulation of the Use of Force, S. 167 ff. 413 Vgl. hierzu G. Nolte, International Legal Aspects of the Liberian Conflict, in: ZaöRV 53 (1993), S. 603 ff. 414 So etwa G. Nolte, Die „neuen Aufgaben“ von NATO und WEU, in: ZaöRV 54 (1994), S. 100 f. 415 ICJ Reports 1962, 151 (168). 416 E. Stein/D. Carreau, Law and Peaceful Change in a Subsystem: „Withdrawal“ of France from the NATO, in: AJIL 62 (1968), S. 607.
338 Teil 3, Kap. 2: Abwandlung sowie Änderung des NV durch Mitgliedstaaten
ken. Dieses Bewusstsein hätten die Gründer des NV besessen; woraus sich auch die vielfältigen Erklärungen in Bezug auf die VN-freundliche Friedenssicherung erklären lasse. Aus diesem Grund sei davon auszugehen, dass die Gründerstaaten der NATO ihrer Organisation nicht eine Aufgabe zugewiesen haben, ohne sich gleichzeitig auch über die Zurverfügungstellung der dafür notwendigen Mittel zu einigen. Alle vorgenannten Argumente für eine weite Auslegung des Aufgabenund Befugnisspielraums des Verteidigungsbündnisses vermögen jedoch nicht den Wortlaut des Vertrages zu widerlegen, der – wie aufgezeigt – selbst bei großzügigster Auslegung grundsätzlich keine Handlungskompetenzen jenseits der kollektiven Selbstverteidigung vorsieht. Zugleich ist die NATO – wie bereits ausgeführt – nicht als Regionalorganisation zu qualifizieren.417 Darüber hinaus können auch die Beispiele aus der Staatenpraxis nicht überzeugen. Insbesondere der Fall der OAS aus dem Jahr 1965 ist nur bedingt für die Herleitung ungeschriebener Kompetenzen dieser Organisation heranzuziehen, da es sich seinerzeit wohl eher um eine Intervention auf Einladung seitens der Regierung der Dominikanischen Republik handelte, weniger um eine reine Bündnisaktion. Auch bei den anderen dargestellten Fällen ist fragwürdig, ob es sich bei den militärischen Maßnahmen tatsächlich um eine – auf ungeschriebene Befugnisse gestützte – Bündnisaktion handelte oder um konzentrierte Maßnahmen einzelner Mitgliedstaaten. Fasst man all diese Gesichtspunkte zusammen, so ist zu konstatieren, dass der NV in Art. 5 einen abschließenden „numerus clausus“ der möglichen militärischen Handlungsbefugnisse umschreibt, da er der einzige Teil der Sicherheitsfunktion des NV ist, der ausformuliert und damit als operativ zu betrachten ist. Zwar ist Verteidigung nicht die einzige, aber die allein ausdrücklich geregelte Handlungsmöglichkeit der NATO.
IV. Zwischenfazit Im Ergebnis kann auch durch die Anwendung der „Implied-powers“-Regel keine Kompetenz der NATO für Maßnahmen kollektiver Sicherheit begründet werden. Das Bündnis verfügt über keine ungeschriebenen Befugnisse, die für die Ausübung der kollektiven Sicherheitsfunktion erforderlich sind.418 Die Frage, ob die Umsetzung von Beschlüssen des SR zum vertraglichen Aufgabenspektrum der NATO gehört, ist – auch bei extensiv verstandener „implied power“ – negativ zu beantworten. Darüber hinaus ist eine Kompe417 Vgl.
dazu die Ausführungen unter Teil 2, Kap. 1, B. III. G. Nolte, Die „neuen Aufgaben“ von NATO und WEU, in: ZaöRV 54 (1994), S. 109 f. 418 A. A.
E. Der NV – ein Vertrag zulasten Dritter?339
tenz zu einseitigen Zwangsmaßnahmen gegenüber Drittstaaten ebenfalls zu verneinen. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass sowohl die normierten als auch ungeschriebenen Vertragskompetenzen völkerrechtsgemäß sein müssen und nicht gegen das Verbot der Vertragsanwendung zulasten Dritter verstoßen dürfen. Eine Ausdehnung militärischer Befugnisse der NATO kommt daher nur im Rahmen des VN-Friedenssicherungssystems (Kapitel VIII der VN-Charta) in Betracht.
E. Der NV – ein Vertrag zulasten Dritter? Nachdem sich die vorherigen Abschnitte mit der Auslegung und einer möglichen Abwandlung bzw. Änderung des NV auseinandergesetzt haben, stellt sich abschließend die Problematik der Reichweite der Bindung des NV. Im Grundsatz gilt: ein völkerrechtlicher Vertrag wirkt gem. Art. 29 WVK – räumlich – für das gesamte Hoheitsgebiet einer Partei; an dem zudem alle Vertragsparteien gebunden sind419. Anders als im innerstaatlichen Recht können Staaten nicht ohne Weiteres Verträge für Dritte (Art. 35 f. WVK) schließen. Art. 34 WVK bestimmt, dass ein zwischen anderen Staaten geschlossener Vertrag für den Drittstaat mangels Zustimmung „weder Pflichten noch Rechte“ begründet420. Aus Sicht des Dritten ist der Vertrag res inter alios acta – eine unter anderen ausgehandelte Angelegenheit, die ihn nicht bindet. Diese Pacta-tertiis-Regel ist ebenfalls Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts421. Dieser scheinbar selbstverständliche Grundgedanke wird allerdings nicht immer aufrechterhalten.422 Insbesondere seit der Zeitenwende der 1989/90er419 Zu beachten ist Art. 17 WVK. Diese Norm erlaubt das opting out: eine Abmachung aller Vertragsparteien dahingehend, dass bestimmte Normen für eine Vertragspartei nicht gelten. 420 Dieser unumstrittene (völkerrechtliche) Rechtssatz ist Ausfluss des dem Vertragsrecht zugrunde liegenden Konsensprinzips, des Souveränitätsprinzips sowie des mit ihm verbundenen Prinzips der Staatengleichheit, der in der WVK in den Art. 34 bis 38 normiert ist. Zur Souveränität der Staaten als Grundlage sowohl der Vertragsfreiheit als auch des Satzes Pacta tertiis nec nocent nec prosunt, H. Ballreich, Treaties, Effect on Third States, in: EPIL IV (2000), S. 945 ff. 421 W. Vitzthum, in: ders./A. Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 1. Abschn., Rdnr. 120. 422 Beispiele die von diesem Grundgedanken abweichen: Zum einen wird auf den Grundsatz verwiesen, dass Gebietsnachfolger an die sog. lokalisierten Verträge des Gebietsvorgängers gebunden sind. Weiterhin werden diejenigen Verträge genannt, aufgrund derer neue Staaten entstanden und gleichzeitig mit gewissen Pflichten belastet worden sind; gelegentlich werden hierzu auch Gebietsabtretungsverträge und Verträge gezählt, welche die territoriale Souveränität von Staaten einschränken. Diese Fälle sollen jedoch keine Ausnahmen vom Pacta-tertiies-Grundsatz darstellen, sondern zulässige völkerrechtliche Verträge zulasten Dritter. Es handelt sich in diesen
340 Teil 3, Kap. 2: Abwandlung sowie Änderung des NV durch Mitgliedstaaten
Jahre, dien(t)en multilaterale Verträge zunehmend als Surrogate für die (noch immer) fehlende imternationale Legislative, insofern die seither immer weiter zusammenwachsende Staatengemeinschaft mehr und mehr darauf angewiesen war und ist, objektive Ordnungen zum Schutze lebensnotwendiger öffentlicher Güter, wozu auch die internationale Sicherheit gezählt wird, zu schaffen423. Damit einher ging ferner das Interesse, die so geschaffenen Ordnungen auch gegenüber solchen Staaten zur Geltung zu bringen, die nicht Parteien – und damit Drittstaaten – der entsprechenden Verträge sind424. Vor dem Hintergrund sowohl der zu untersuchenden Anlassfälle als auch in Bezug auf die zuvor ermittelten (Auslegungs-)Ergebnisse, ist somit in Bezug auf das Nordatlantikbündnis zu fragen, ob auch der NV in seiner Normierung und Ausformung ein Vertrag zulasten Dritter darstellen könnte. Nach der WVK sind Verträge zulasten Dritter grundsätzlich völkerrechtswidrig. Neben den bereits angedeuteten Ausnahmen425 rücken hierbei insbesondere jene Fallkonstellationen in den Fokus, wonach die Geltung völkerrechtlicher Verträge – aufgrund ihrer besonderen Natur und Bedeutung für die gesamte Staatengemeinschaft – nicht nur inter partes, sondern erga omnes gelten sollen. Im Blickfeld stehen dabei diejenigen Verträge, die eine objektive internationale Ordnung schaffen sollen und den besonderen völkerrechtlichen Status bestimmter Räume426 regeln. Im Zuge der Entstehung der WVK wurde bei der ILC darüber diskutiert, einen besonderen Abschnitt der WVK solchen „treaties providing for objectives régimes“ zu widmen427. Die KomKonstellationen nicht um Pflichten, die aus einem Vertrag inter alios erwachsen. Vielmehr sind die Drittstaaten nur verpflichtet, die Änderungen eines Zustands zu respektieren, die ihre Gültigkeit aus der Verfügungsgewalt der Vertragsparteien über die Regelungsmaterie herleiten. Siehe W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 13, Rdnr. 27 f. m. w. N. 423 Die wachsende Bedeutung multinationaler Verträge als Substitut für die fehlende internationale Legislative unterstreichen auch B. Simma, From Bilateralism to Community Interest in International Law, in: RdC 250 (1994-VI), S. 322 f.; C. Tomuschat, Obligations Arising for States Without or Against Their Will, in: RdC 241 (1993-IV), S. 240 und passim; dazu auch schon G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht (Bd. I/1), §§ 52 ff. und Völkerrecht (Bd. I/3), § 143. 424 Die zunehmende Notwendigkeit, auch Drittstaaten an Verträge zu binden, die im Interesse des Gemeinwohls geschlossen werden, wird auch von R. Jennings/A. Watts, Oppenheim’s International Law (Vol. 1: Parts 2 to 4), S. 1264 bejaht. 425 Umfassend hierzu auch G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht (Bd. I/3), § 152, S. 619 ff. 426 So insbesondere der Vertrag von Konstantinopel über den Suezkanal vom 29. Oktober 1888, Antarktis-Vertrag vom 1. Dezember 1959, Weltraumvertrag vom 27. Januar 1967 und VN-Seerechtsübereinkommen vom 10. Dezember 1982. 427 Vgl. Part III. Application, Effects, Revision and Interpretation of Treaties, Section 1. The application and effects of treaties, Article 63. – Treaties providing for objective régimes, in: YBILC 1964 II, S. 26 f.
E. Der NV – ein Vertrag zulasten Dritter?341
mission folgte letztlich diesem Vorschlag nicht, weil sie davon ausging, dass der Entwurf in seiner damaligen Fassung ausreichte. Das Problem blieb somit ungelöst und der Meinungsstreit in der Völkerrechtswissenschaft besteht seither fort. Schließlich hat auch der IGH zu einer Relativierung der pacta tertiis-Regel beigetragen, indem er mit Blick auf die verschiedenen Kategorien völkerrechtlicher Pflichten in einem berühmten obiter dictum feststellte, dass „an essential distinction should be drawn between the obligations of a State towards the international community as a whole; and those arising vis-à-vis another State in a field of diplomatic protection. By their very nature the forme rare the concern of all States. In view of the importance of the rights involved, all States can be held to have a legal interest in their protection; they are obligations erga omnes“428.
Gleichwohl bleibt im Grundsatz festzuhalten, dass sich eine vertragliche Erga-omnes-Wirkung im Völkervertragsrecht nicht nachweisen lässt; vielmehr liegt die Annahme nahe, dass es sich bei dem „objektiven Regime“ um einen Kunstbegriff handelt429. Nach Klein ergibt sich die Verbindlichkeit solcher „objektiven Regime“ für Dritte daher nicht automatisch, sondern beruhe „auf der Zuerkennung der von den Parteien in Anspruch genommenen Kompetenz zur Regelung einer Angelegenheit des allgemeinen Interesses durch die übrigen, am Vertrag nicht beteiligten Staaten. Gegenüber den zuerkennenden Staaten verfügen die Vertragsparteien über eine von der bloßen Ordnungsbehauptung zu einer völkerrechtlichen Kompetenz erstarkten Regelungsbefugnis erga omnes. Die im Vertrag erhobene Gemeinwohlbehauptung in Verbindung mit der Mitwirkung des zur Regelung territorial Zuständigen verpflichtet die Nichtvertragsstaaten zur abwehrenden Reaktion, ohne die von der Zuerkennung der in Anspruch genommenen Befugnis durch ihre Seite auszugehen ist“430.
Erfolgt vonseiten der Nichtvertragsstaaten keine Reaktion, handelt es sich um einen Fall der acquiescence mit der Folge, dass der ursprünglich vertraglich vereinbarte Status auf gewohnheitsrechtlichem Wege verbindlich werden kann. Schließlich wird aus Art. 75 WVK eine Ausnahme zu Art. 34 WVK hergeleitet. Es wird vertreten, dass nach Maßgabe dieser Norm Staaten einem „Angreiferstaat“ Pflichten auferlegen könnten, auch wenn dieser nicht Vertragspartei sei431. Dieser Standpunkt ist jedoch zweifelhaft, da fraglich ist, 428 Barcelona
Traction, ICP Reports 1970, 3, 32. Le problème des effets des traités à l’égard des états tiers, in: RdC 143 (1974-III), S. 677; W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 13, Rdnr. 28. 430 E. Klein, Statusverträge im Völkerrecht, S. 345. 431 A. Talalajew, Recht der internationalen Verträge, S. 114. 429 P. Cahier,
342 Teil 3, Kap. 2: Abwandlung sowie Änderung des NV durch Mitgliedstaaten
ob die Zustimmung des Dritten in diesem Fall nicht erforderlich sein wird. Denn gem. Art. 75 WVK können nur solche Maßnahmen getroffen werden, die „im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen“ stehen. Als Mitglied der VN hat der Angreiferstaat seine Zustimmung indessen insoweit gegeben, als nach der VN-Charta dem Angreifer Pflichten auferlegt werden können. Stehen derart pflichtenbegründende Maßnahmen nicht mit der VNCharta im Einklang, so ist Art. 75 WVK nicht anwendbar und es bleibt bei der Geltung des Art. 35 WVK432. Ausgehend von diesen Grundgedanken und den dargelegten Ausnahmen bleibt nunmehr zu beantworten, wie der NV bzw. das Verhalten des Nordatlantikbündnisses seit Ende der bipolaren Weltordnung in diese „Systematik“ einzuordnen ist. Unter Heranziehung der Ergebnisse des vorhergehenden Kapitels gilt grundsätzlich, dass sowohl die normierten als auch die ungeschriebenen Vertragskompetenzen völkerrechtsgemäß sein müssen und nicht gegen das Verbot der Vertragsanwendung zulasten Dritter verstoßen dürfen. Für die NATO als Verteidigungsbündnis ist Art. 51 VN-Charta die völkerrechtliche Grundlage für militärische (Zwangs-)Maßnahmen. Durch das zwischen NV und Art. 51 VN-Charta bestehende Wechselverhältnis ist die Allianz ohne vorherige Mitwirkung des SR lediglich zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung befugt. Eine Ausdehnung militärischer Befugnisse käme lediglich über Kapitel VIII des VN-Friedenssicherungssystems in Betracht. Die jeweilige Übernahme friedenssichernder und friedensschaffender Maßnahmen in Drittländern unter der Ägide der VN sind dabei nicht explizit als Aufgabe im Vertragstext des NV angelegt433. Auch unter Berücksichtigung der Wortlautanalyse der Präambel und den Zielbestimmungen des NV lässt sich damit keine Übernahme neuer Aufgaben jenseits der im Vertragstext ausdrücklich normierten Pflichten herleiten434. Im Ergebnis ist damit festzuhalten, dass nicht der NV selbst einen Vertrag zulasten Dritter darstellt, sondern nur jene Maßnahmen des Nordatlantikbündnisses, welche sich nicht aus dem Vertragstext ausdrücklich herleiten lassen oder als Gewohnheitsrecht anerkannt sind.
432 W. Heintschel
von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 13, Rdnr. 29. das abweichende Votum zum bereits ausführlich erörterten AWACS-Urteil des BVerfG (BVerfGE 90, 286 [372]). 434 Vgl. hierzu auch die Ausführungen unter Teil 3, Kap. 1, B. I. sowie BVerfGE 90, 286, 372. 433 Vgl.
F. Fazit343
F. Fazit Fasst man die vorherigen Ergebnisse zusammen, so zeigt sich, dass das Nordatlantikbündnis auch unter Hinzuziehung der sog. „implied powers“Lehre keine Kompetenz für Maßnahmen kollektiver Sicherheit begründen kann. Es besitzt keine ungeschriebenen Befugnisse, die für die Ausübung der kollektiven Sicherheitsfunktion erforderlich sind. Zudem gehört auch die (autonome) Umsetzung von Beschlüssen des SR ebenso nicht zum vertrag lichen Aufgabenspektrum der NATO wie einseitige Zwangsmaßnahmen gegenüber Drittstaaten. Letztlich kommt eine Ausdehnung militärischer Befugnisse für das Bündnis lediglich über Kapitel VIII des VN-Friedenssicherungssystems in Betracht. Darüber hinaus kommt die Untersuchung zum Ergebnis, dass der NV selbst nicht als Vertrag zulasten Dritter anzusehen ist. Etwas anderes gilt allerdings für jene Maßnahmen des Nordatlantikbündnisses, die sich nicht aus dem Vertragstext ausdrücklich herleiten lassen oder als Gewohnheitsrecht anerkannt sind.
Teil 4
Die Einsatzpraxis der NATO seit dem Ende der Sowjetunion Mit der in Teil 1–3 generierten „Basis“ soll in diesem Teil nunmehr die völkerrechtliche Bewertung der untersuchten Anlassfälle vorgenommen werden. Hierbei wird jeder Anlassfall in einem gesonderten Kapitel begutachtet.
Kapitel 1
Der Bosnienkrieg A. Völkerrechtliche Parameter des Engagements zur Konfliktbewältigung Nachdem in einem vorherigen Abschnitt1 bereits die Entstehung des Konflikts beschrieben worden ist, soll in diesem Teil die völkerrechtliche Bewertung der maßgeblichen NATO-Operation „Deliberate Force“ erfolgen. Die Intervention diente, von ihrer rechtlichen Grundlage her auf diejenigen Resolutionen des SR gestützt, der Sicherung der humanitären Hilfslieferungen sowie dem unmittelbaren Schutz der Zivilbevölkerung (Schaffung von Schutzzonen) – weshalb die vorzunehmende Bewertung diesen Kontext miteinbeziehen muss. Der SR befasste sich zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien von der ersten Resolution S/RES/713 (1991) bis zum 15. Januar 1996 in nicht weniger als 92 Resolutionen mit den kriegerischen Auseinandersetzungen und ihren Folgen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens2.
I. Rechtliche Bindung des Bündnisses an die VN-Charta In der S/RES/770 (1992), (Unterstrich 5) kam der SR zu folgendem Schluss: „[…] the situation in Bosnia and Herzegovina constitutes a threat to international peace and security and that the provision of humanitarian assistance in Bosnien and Herzegovina is an integral element in the Council’s effort to restore international peace and security in the area“.
Der SR traf damit die für die Anwendung des VII. Kapitels der VN-Charta notwendige Feststellung des Vorliegens einer Friedensbedrohung i. S. d. Art. 39 VN-Charta. Gleichzeitig wandte er sich an die Staaten mit der Aufforderung „to take […] all measures necessary to facilitate in coordination with the United Nations the delivery of humanitarian assistance […] wherever needed in […] Bosnia and Herzegovina“. 1 Vgl.
Teil 1, Kap. 2, A. L’ONU, le Chapitre VII et la Crise Yougoslave, S. 205; D. Rezac, Militärische Intervention als Problem des Völkerrechts, S. 83. 2 T. Christakis,
348
Teil 4, Kap. 1: Der Bosnienkrieg
In S/RES/770 (1992) wird der Situation der Zivilbevölkerung durch den SR eine große Bedeutung beigemessen; allerdings ohne dabei die humanitäre Notlage bereits als Friedensbedrohung einzustufen3. Gleichwohl bedeuteten einige der nachfolgenden Resolutionen ein Novum in der bis dato währenden Geschichte der VN. So wurde durch den SR mit der Errichtung der Flugverbotszone über Bosnien in S/RES/781 (1992) und S/RES/816 (1993) zum ersten Mal unter Bezugnahme auf Kapitel VII der VN-Charta eine Flugverbotszone eingerichtet4. Hingegen waren S/RES/819 (1993) sowie S/RES/824 (1993) – die der Schaffung der Schutzzonen Sarajewo, Tuzla, Zepa, Gorazde, Bihac und Srebrenica dienten – in ihrer rechtlichen Begründung widersprüchlich. Einerseits war die Hilfe für die „innocent civilian population“ als erklärtes Ziel benannt, andererseits sollten nach dem Wortlaut beider Resolutionen die ergriffenen Maßnahmen allein dem Schutz der UNPROFOR, nicht jedoch der Zivilbevölkerung zugute kommen5. Erst durch S/RES/836 (1993) wurden diese Unstimmigkeiten beseitigt, indem der SR ausdrücklich die „situation in Bosnia and Herzegovina“ als Grund für die Friedensbedrohung anführte. In dieser Resolution stellte der SR einen Zusammenhang6 zwischen der (Not-) Situation in den betroffenen Städten und der Errichtung des Safe-area-Kon-
3 Eine derartige Bewertung nahm der SR erstmals im Zusammenhang mit der Situation der Zivilbevölkerung in Somalia (S/RES/794 [1992]) vor. 4 Allerdings stellte er in der S/RES/781 (1992), mit der das Flugverbot verhängt worden war, keine Friedensbedrohung i. S. v. Art. 39 VN-Charta fest und berief sich auch nicht auf Kapitel VII VN-Charta, verwies aber auf S/RES/770 (1992), die den entsprechenden Bezug herausgestellt hatte. Dagegen stützte der SR in S/RES/816 (1993), welche der militärischen Durchsetzung der Flugverbots diente, seine Ermächtigung an die Mitgliedstaaten wiederum eindeutig auf Kapitel VII VN-Charta: „acting nationally or through regional organizations or arrangements, to take, under the authority of the Security Council and subject to close coordination with the SecretaryGeneral ans UNPROFOR, all necessary measures in the airspace of the Republic of Bosnia and Herzegovina, in the event of further violations, to ensure compliance with the ban on flights (…)“. 5 Hinsichtlich der Friedensbedrohung verwies der SR in beiden Fällen auf S/RES/ 815 (1993), der nur auf die Sicherheit der UNPROFOR-Truppen, nicht jedoch auf die Sicherheit der Zivilbevölkerung in den Schutzzonen abzielte. 6 „The Security Council, (…) Reiterating its alarm at the grave and intolerable situation in the Republic of Bosnia and Herzegovina arising from serious violations of international humanitarian law, (…). Affirming that the concept of safe areas (…) was adopted to respond to an emergency situation, and noting that the concept (…) could make a valuable contribution and should not in any way be taken as an end in itself, but as (…) a first step towards a just and lasting political solution (…)“, S/RES/836 (1993), Unterstrich 5 und 14.
A. Völkerrechtliche Parameter des Engagements zur Konfliktbewältigung349
zepts her.7 Er ermächtigte in dieser Resolution die UNPROFOR8 in den Schutzzonen die humanitäre Hilfeleistung zu sichern und die „humanitäre Situation“ zu überwachen. Es wurde ihr der Auftrag erteilt, auf Grundlage von Kapitel VII der VN-Charta Angriffen auf die Sicherheitszonen sowie der Behinderung von Hilfskonvois mit Waffengewalt entgegenzutreten9. Zugleich wurden auch Drittstaaten und „regional organizations or arrangements“ – gemeint waren offenbar von Anfang an NATO und WEU – ermächtigt, die UNPROFOR bei der Erreichung dieser Ziele durch Luftangriffe zu unterstützen10. Die mit der Resolution einhergehenden Möglichkeiten militärischer Zwangsmaßnahmen wurden ab Ende August 1995 angewandt, als nach einer Phase einzelner Luftschläge die S/RES/836 (1993) entschlossen umgesetzt wurde. Am 25. August 1995, dem Vorabend der Operation „Deliberate Force“11, gab VN-Generalsekretär Boutras Ghali folgende Erklärung dazu ab: „The United Nations […] yesterday authorized NATO to conduct air strikes against Bosnian Serb military targets. The objective of this action ist to deter further attacks on Sarajewo and other UN-designated safe areas in fulfillment of Security Council Resolution 836“12.
Eine schnelle Eingreiftruppe (Rapid Reaction Force – RRF), die zeitgleich mit der NATO-Operation „Deliberate Force“ zum Einsatz kommen sollte, wurde durch S/RES/998 (1995) mit dem ausdrücklichen Mandat konzipiert, den Schutz der UNPROFOR und die Sicherung der ihr übertragenen Auf gaben zu übernehmen. Das Eingreifen der RRF – die parallel zu den NATOLuftschlägen ab 30. August 1995 mit schwerer Artillerie die serbischen Stellungen rund um Sarajewo angriff – verdeutlicht, dass zum Auftrag der UNPROFOR letztlich auch die Verteidigung der Schutzzonen gehörte13. Damit konnte sich das Nordatlantikbündnis grundsätzlich auf eine Ermächtigung durch die VN berufen, als sie im Rahmen der Operation „Deliberate Force“ militärisch in den Bosnienkrieg eingriff. Ob die Luftangriffe der NATO sowie die Artillerieangriffe der RRF den vorgegebenen Rahmen D. Rezac, Militärische Intervention als Problem des Völkerrechts, S. 89 f. S/RES/758 (1992), v. 8. Juni 1992. 9 M. Pape, Humanitäre Intervention, S. 225 f. 10 „(…) Member States, acting nationally ot through regional organizations or arrangements, may take (…) all necessary measures, through the use of air power, in and around the safe areas in the Republic of Bosnia and Herzegovina, to support UNPROFOR in the performance of its mandate (…)“, S/RES/836 (1993), op. 10. 11 Vgl. Teil 1, Kap. 2, A. II. 1. 12 D. Leurdijk, The United Nations and NATO in Former Yugoslavia, S. 79. 13 H. Endemann, Kollektive Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung humanitärer Normen, S. 232. 7 Vgl. 8 Vgl.
350
Teil 4, Kap. 1: Der Bosnienkrieg
der S/RES/836 (1993) eingehalten und verhältnismäßig waren, wird noch zu prüfen sein. 1. Ermächtigung auf Grundlage von Kapitel VII und VIII der VN-Charta In den Resolutionen des SR zum Bosnienkrieg ist jeweils von „regional organizations or arrangements“ die Rede14. Auch wenn der SR das Nord atlantikbündnis und die seinerzeitige WEU nicht ausdrücklich anführte, sprachen die tatsächlichen Umstände dafür, dass nur diese Organisationen gemeint sein konnten. Insofern stellte sich die grundlegende Frage, ob die Resolutionen eine Ermächtigung auf Grundlage von Kapitel VII oder VIII der VN-Charta waren. Der in den vorangegangenen Resolutionen erfolgte Hinweis auf Kapitel VIII der VN-Charta könnte eine indirekte Anerkennung der NATO als Regionalorganisation durch die VN nahelegen15. 2. Der Sanktionsmechanismus von Kapitel VII und VIII der VN-Charta Wie bereits an anderer Stelle16 ausführlich dargelegt, normiert die VNCharta (militärische) Zwangsmaßnahmen des SR als dritte17 Ausnahme vom Gewaltverbot. Bewaffnetes Eingreifen in innerstaatliche gewaltsame Konflikte kann insofern als militärische Zwangsmaßnahme des SR nach Kapitel VII der VN-Charta legitimiert sein. Voraussetzung derartiger Maßnahmen durch den SR ist die Feststellung i. S. d. Art. 39 VN-Charta, dass entweder eine Bedrohung respektive ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt. Über Art. 53 Ziff. 1 VN-Charta (Kapitel VIII der VN-Charta) hat der SR zudem die Möglichkeit, regionale Organisationen „zur Durchführung von Zwangsmaßnahmen unter seiner Autorität“ in Anspruch zu nehmen. Im Hinblick auf das Nordatlantikbündnis ist in der Völkerrechtslehre umstritten, ob es sich bei der NATO um ein reines kollektives Selbstverteidigungsbündnis 14 Vgl. S/RES/787 (1992), v. 17. November 1992, Ziff. 12; S/RES/816 (1993), v. 31. März 1993, Ziff. 4; S/RES/820 (1993) v. 17. April 1993, Ziff. 29 und S/RES/836 (1993), v. 4. Juni 1993, Ziff. 10. 15 Siehe hierzu R. Wolfrum, Der Beitrag regionaler Abmachungen zur Friedenssicherung, in: ZaöRV 53 (1993), S. 578 f.; G. Nolte, Die „neuen Aufgaben“ von NATO und WEU, in: ZaöRV 54 (1994), S. 113. 16 Vgl. Teil 2, Kap. 1, A. I. 2. 17 Neben der – mittlerweile obsoleten – Feindstaatenklausel der Art. 53 und 107 VN-Charta vor allem das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung.
A. Völkerrechtliche Parameter des Engagements zur Konfliktbewältigung351
oder auch zugleich um eine regionale Abmachung bzw. Einrichtung i. S. v. Kapitel VIII der VN-Charta handelt.18 3. Die Problematik der vorgenommenen Umdeutung von einem Verteidigungs- zu einem Sicherheitsbündnis Ihre „praktische“ Bedeutung erlangte diese Frage im Zuge des Jugo sla wienkonflikts, als die NATO in diesem Konflikt erstmals „out of area“ agierte. Der Status der NATO und die nach ihrem Selbstverständnis – bei Gründung und zu Zeiten des Kalten Krieges – gewählten Funktionen sind wie aufgezeigt spätestens seit der Zeitenwende und dem Epochenjahr 1989 einem grundlegenden Wandel unterzogen. Unmittelbar mit dem Ende des Kalten Kriegs setzte innerhalb des Bündnisses eine Debatte darüber ein, ob und welche Zukunft das Nordatlantikbündnis unter den neuen weltpolitischen Voraussetzungen haben wird. Bereits auf dem NATO-Gipfel der Staats- und Regierungschefs am 5./6. Juli 1990 wurde über die Konsequenzen des Wegfalls des „Ost-West“Gegensatzes beraten19. Dabei wurde sich darauf verständigt, die Aufgaben des Bündnisses zu erweitern20. Neben dem „klassischen“ Verteidigungsauftrag sahen die Mitgliedstaaten nunmehr ihre Aufgaben auch darin, „friedenserhaltene“ Maßnahmen durch die Bereitstellung von Fachwissen und Ressourcen zu unterstützen. Auf Grundlage des Kommuniqués der Ministertagung des Verteidigungs-Planungsausschusses vom 17. Dezember 199221 sollte die Unterstützung friedenserhaltener Maßnahmen der VN sowie der (seinerzeitigen) KSZE zu einem Teil des Auftrags der Streitkräfte und Hauptquartiere des Bündnisses werden. Darüber hinaus bekundeten die Mitgliedstaaten gegenüber dem Generalsekretär der VN ihre Bereitschaft, mit der OSZE und den VN zusammenzuarbeiten22. 18 Vgl. hierzu Teil 2, Kap. 1, B. III. Der Verfasser kommt dort zum Ergebnis, dass die NATO nicht als Regionalorganisation i. S. v. Kapitel VIII der VN-Charta zu qualifizieren ist. 19 Vgl. hierzu die „Londoner Erklärung“ der Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitgliedstaaten vom 5.–6. Juli 1990 in London; abgedruckt in: EA 17/1990, D 456–460. 20 Vgl. hierzu ausführlich R. Wolfrum, Der Beitrag regionaler Abmachungen zur Friedenssicherung, in: ZaöRV 53 (1993), S. 592 ff. 21 Vgl. insbesondere Ziff. 4 Kommuniqué der Ministertagung des VerteidigungsPlanungsausschusses und der Nuklearen Planungsgruppe vom 17. Dezember 1992, in: Bulletin der Bundesregierung vom 16. Dezember 1992, Nr. 137, 1254. 22 Vgl. An Agenda for Peace: Preventive Diplomacy, Peacemaking and PeaceKeeping, in: UN. Doc. S/25996 vom 15. Juni 1993, S. 18 f.
352
Teil 4, Kap. 1: Der Bosnienkrieg
Mit dem Strategischen Konzept von 1999 wurde erneut eine Erweiterung der Aufgaben- und Einsatzfelder proklamiert. Die Allianz „erinnert hier an ihr 1994 in Brüssel gemachtes Angebot, von Fall zu Fall in Übereinstimmung mit ihren eigenen Verfahren friedenswahrende und andere Operationen unter der Autorität des Sicherheitsrates oder der Verantwortung der OSZE zu unterstützen […]“.
Insbesondere behält es sich bei Fällen – die nicht unter Art. 5 des NV fallen – nunmehr ausdrücklich „das Recht“ vor, militärische Maßnahmen zu ergreifen.23 Die in Bosnien-Herzegowina vorgenommenen militärischen (Zwangs-) Maßnahmen zum Schutz der „safe areas“ wurden von der NATO umgesetzt, obwohl diese sich gegen Staaten richtete, die kein Mitglied des Nordatlantikbündnisses waren. Im Hinblick auf die Rechtsgrundlage für derartige Zwangsmaßnahmen wurde auf die einschlägigen Resolutionen des SR verwiesen. Der Wortlaut der Resolutionen vom „Member States acting nationally or through regional organizations“ wurde vielfach danach ausgelegt, dass der SR die Rechtsgrundlage für diese Maßnahmen nicht in Art. 53 Abs. 1 VN-Charta, sondern in Art. 48 Abs. 2 VN-Charta24 sah. Die Beurteilung der Lage und der vollzogenen Maßnahmen durch den Generalsekretär der VN Boutros-Ghali in einem Addendum zu der Agenda for Peace25 und innerhalb des Bündnisses selbst, unterstrichen diese Sichtweise. Das war der Anfang einer Entwicklung, bei der die NATO neben dem ursprünglichen Verteidigungsauftrag i. S. v. Art. 5 NV die allgemeine Friedenssicherung als nunmehrige Hauptaufgabe ansah. Die völkerrechtliche Grundlage dafür wurde in Art. 42 und 48 Abs. 2 VN-Charta gesehen26. Unberücksichtigt blieb dabei – vor allem aufgrund des Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 103 VN-Charta27 – die Frage, ob der NV selbst eine entsprechende Rechtsgrundlage enthält.
23 Vgl. D. Geyrhalter, Friedenssicherung durch Regionalorganisationen ohne Beschluß des SR, S. 50 f. m. w. N. 24 Vgl. C. Walter, VN und Regionalorganisationen, S. 280. 25 UN Agenda for Peace: Supplement vom 3. Januar 1995, Ziffer 79 führte Boutros Boutros-Ghali zu den Resolutionen des SR im ehemaligen Jugoslawien aus: „(…) The Member States concerned decided to entrust those tasks to the North Atlantic Treaty Organization (NATO)“. 26 Vgl. D. Geyrhalter, Friedenssicherung durch Regionalorganisationen ohne Beschluß des SR, S. 51 f. 27 Zum Hintergrund dieser Problematik siehe die Ausführungen unter Teil 2, Kap. 1, B. II. 4.
A. Völkerrechtliche Parameter des Engagements zur Konfliktbewältigung353
II. Der vertragliche Kompetenzrahmen für Einsätze „out of area“ Bereits ausgeführt wurde, dass die militärischen Zwangsmaßnahmen der NATO im Bosnienkrieg sowie in den nachfolgenden Interventionen politisch – vielfach auch in der völkerrechtlichen Diskussion – als „notwendige“ Neuausrichtung des Bündnisses angesehen wurde, wonach Aufgaben „out of area“ für den Export von Sicherheit, gerade in den postkommunistischen östlichen Teilen Europas, notwendig und zukunftsweisend seien28. Der US-amerikanische Senator Richard Lugar29 argumentierte im Jahr 1993, das Nordatlantikbündnis müsse „out of area“ gehen, wenn es nicht „out of business“ gehen wolle. Dahinter steckte auch die Annahme, dass die NATO ohne den Gegenpart des Kalten Kriegs ihre Daseinsberechtigung verlieren würde, wenn sie sich keine neuen Aufgaben „suche“. Das Bündnis übernahm daher Friedensmissionen im Auftrag der VN, um diesen Aufgabenbereich – damals von wachsender Bedeutung – nicht der WEU zu überlassen. Später folgten die „friedenserzwingenden“ Maßnahmen in Bosnien. Fraglich ist, ob der NV entsprechende Interventionen des Bündnisses „out of area“ normiert. Wie verschiedentlich in dieser Arbeit ausgeführt30, ist das Aufgabenfeld des Nordatlantikbündnisses zwar nicht ausschließlich auf die kollektive Selbstverteidigung beschränkt – diverse andere Ausdrücke und Formulierungen lassen vielmehr erkennen, dass das Bündnis auch andere Aufgaben im Zusammenhang mit der Förderung von Stabilität und Sicherheit sowie der Erhaltung von Frieden und S icherheit abgedeckt31. Allerdings begrenzt der NV in Art. 12 das gesamte Aufgabenspektrum auf das Einsatzgebiet der NATO. Zwar wird dieses nicht weiter definiert – der NV spricht ohne weitere Erläuterung vom „nordatlantischen Gebiet“ –, aber die Maßnahmen des Bündnisses dürften damit auf das Territorium der Mitgliedstaaten beschränkt sein. Selbst unter Heranziehung einer möglicherweise seit dieser Zeit verwirklichten Abwandlung oder Änderung des NV durch die Mitgliedstaaten32 gelangt man zu keinem anderen Ergebnis, da das vertragliche Aufgabenspek trum des Bündnisses selbst bei extensiv verstandener Anwendung der „imA. Pradetto, Konfliktmanagement durch militärische Intervention?, S. 50. Green Lugar, * 4. April 1932 in Indianapolis, ist ein US-amerikanischer Politiker. Er war von 1977 bis 2013 einer der beiden US-Senatoren aus dem Bundesstaat Indiana. Er gehört der Republikanischen Partei an und war von 1987 bis 1995 sowie von 2003 bis 2007 Vorsitzender des Senatsausschusses für Außenpolitik. 30 Vgl. hierzu Teil 2, Kap. 2, C., und Teil 3, Kap. 1, B. I. 31 Insbesondere soll das Bündnis einen Beitrag zur „Entwicklung friedlicher und freundschaftlicher internationaler Beziehungen“ (vgl. Art. 2 NV) leisten. 32 Vgl. Teil 3, Kap. 2. 28 Vgl.
29 Richard
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Teil 4, Kap. 1: Der Bosnienkrieg
plied powers“-Lehre grundsätzlich keine Kompetenzen für die Umsetzung von Beschlüssen des SR zum Gegenstand hat. Darüber hinaus ist eine Kompetenz zu einseitigen Zwangsmaßnahmen gegenüber Drittstaaten ebenfalls zu verneinen. Zusammenfassend ist damit festzuhalten, dass Maßnahmen des Nordatlantikbündnisses außerhalb des Bündnisgebiets völkerrechtlich unzulässig sind und eine „Umdeutung“ nicht durch den NV gedeckt ist. Denn der NV sieht eine Begrenzung der Handlungsmittel auf kollektive Selbstverteidigung und politische Konsultationen vor. Insbesondere die Konsultationspflicht nach Art. 4 NV bei Sicherheitsbedrohungen und auch die Begrenzung des Aufgabenspektrums nach Art. 12 NV auf das Einsatzgebiet der NATO sind als (freiwillige) Kompetenzbegrenzung des Bündnisses zu verstehen.
III. Die völkerrechtliche Bewertung des Einsatzes Die NATO-Operation „Deliberate Force“ war – obgleich sie letztlich zur Durchsetzung des politischen Ziels, der Herbeiführung einer Friedenslösung, diente – hinsichtlich ihrer völkerrechtlichen Grundlagen auf diejenigen Resolutionen des SR gestützt, die der Sicherung der humanitären Hilfslieferungen sowie dem unmittelbaren Schutz der Zivilbevölkerung (Schaffung von Schutzzonen) dienten. Dieser Kontext ist bei der völkerrechtlichen Bewertung dieser Operation mitzuberücksichtigen.
B. Bewertung der Einzelmaßnahmen der NATO S/RES/770 (1992) war insofern eine „Premiere“, als der SR erstmals zu Maßnahmen nach Kapitel VII der VN-Charta ermächtigte, um die Durchführung humanitärer Hilfeleistung an die vom Krieg betroffene Zivilbevölkerung zu gewährleisten33. Der SR stellte darüber hinaus in allgemeiner Art das Vorliegen einer Friedensbedrohung nach Art. 39 VN-Charta fest. Die Situation der Zivilbevölkerung hatte für den SR eine entscheidende Bedeutung, ohne jedoch klarzustellen, ob deshalb die humanitäre Notlage in Bosnien selbst schon als Friedensbedrohung i. S. d. Art. 39 VN-Charta einzustufen ist34. Eine solche Bewertung nahm der SR erstmals in S/RES/794 (1992) bzgl. der Situation in Somalia vor. 33 T. Christakis, L’ONU, le Chapitre VII et la Crise Yougoslave, S. 161; D. Rezac, Militärische Intervention als Problem des Völkerrechts, S. 89. 34 P. Malanczuk, Humanitarian Intervention and the Legitimacy of the Use of Force, S. 20; a. A. H. Endemann, Kollektive Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung humanitärer Normen, S. 243.
B. Bewertung der Einzelmaßnahmen der NATO355
Die durch S/RES/781 (1992) und S/RES/816 (1993) eingerichtete Flugverbotszone über Bosnien war insofern ein Novum, als hier der SR zum ersten Mal in seiner Geschichte unter Bezugnahme auf Kapitel VII der VN-Charta eine Flugverbotszone errichtete35. In S/RES/781 (1992), mit der das Flugverbot verhängt worden war, stellte der SR keine Friedensbedrohung i. S. v. Art. 39 VN-Charta fest und berief sich auch nicht auf Kapitel VII der VN-Charta. Sie verwies jedoch auf S/RES/770 (1992), die ihrerseits sowohl auf Art. 39 VN-Charta als auch auf Kapitel VII der VN-Charta ausdrücklich Bezug genommen hatte. In S/RES/816 (1993), die der militärischen Durchsetzung des Flugverbots diente, sprach der SR seine Ermächtigung an die Mitgliedstaaten wiederum eindeutig auf Kapitel VII der VNCharta gestützt aus36. Die bosnische Regierung als Inhaber der territorialen Souveränität hatte der Schaffung der Flugverbotszone ausdrücklich zugestimmt37. Die S/RES/819 (1993) sowie die S/RES/824 (1993), welche der Schaffung der Schutzzonen Sarajewo, Tuzla, Zepa, Gorazde, Bihac uns Srebrenica dienten, waren von ihrer rechtlichen Begründung eher widersprüchlich: Einerseits war es das erklärte Ziel des SR, der „innocent civilian population“ Hilfe zukommen zu lassen, andererseits dienten die in den beiden Resolutionen ergriffenen Maßnahmen dem Wortlaut nach dem Schutz der UNPROFOR, nicht jedoch dem der Zivilbevölkerung. Im Hinblick auf die notwendige Feststellung der Friedensbedrohung und die Anwendung von Kapitel VII der VN-Charta verwies der SR bei der Beschlussfassung der beiden Resolutionen lediglich auf die S/RES/815 (1993), die ihrerseits nur auf die Sicherheit der UNPROFOR-Truppen, nicht jedoch auf die Sicherheit der Zivilbevölkerung in den Schutzzonen abgezielt hatte38. Diese „Schwachstellen“ wurden mit der S/RES/836 (1993) beseitigt, in welcher der SR ausdrücklich die „situation in Bosnia and Herzegovina“ als Grund für die Friedensbedrohung bezeichnete. In dieser Resolution stellte der SR einen Zusammenhang zwischen der Notsituation in den betroffenen
35 T. Christakis, L’ONU, le Chapitre VII et la Crise Yougoslave, S. 164 f.; D. Rezac, Militärische Intervention als Problem des Völkerrechts, S. 89. 36 Vgl. S/RES/816 (1993), v. 31. März 1993, Unterstrich 8 (Ziff. 4): „acting nationally or through regional organizations or arrangements, to take, under the authority of the Security Council and subject to close coordination with the SecretaryGeneral and UNPROFOR, all necessary measures in the airspace of the Republic of Bosnia and Herzegovina, in the event of further violations, to ensure compliance with the ban on flights (…)“. 37 Vgl. H. Endemann, Kollektive Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung humanitärer Normen, S. 248 f. m. w. N. 38 T. Christakis, L’ONU, le Chapitre VII et la Crise Yougoslave, S. 168 f.
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Teil 4, Kap. 1: Der Bosnienkrieg
Städten und der Einrichtung des Safe-area-Konzepts her39. Der SR ermächtigte die UNPROFOR, in den Schutzzonen die humanitäre Hilfeleistung zu sichern und die „humanitäre Situation“ zu überwachen. UNPROFOR wurde der Auftrag erteilt, auf der Grundlage von Kapitel VII der VN-Charta Angriffen auf die Sicherheitszonen sowie der Behinderung von Hilfskonvois mit Waffengewalt entgegenzutreten40. Darüber hinaus wurden auch Drittstaaten und „regional organizations or arrangements“ – gemeint waren wohl von Anbeginn NATO und WEU – ermächtigt, UNPROFOR bei der Erreichung dieser Ziele durch Luftangriffe zu unterstützen41. Diese militärischen (Zwangs-)Maßnahmen setzte die NATO im Spätsommer 1995 nach einer Phase einzelner Luftschläge gezielt um. Das Eingreifen der schnellen Eingreiftruppe42 – auf Grundlage von S/RES/ 998 (1995) – parallel zu den NATO-Luftschlägen ab dem 30. August 1995, die mittels schwerer Artillerie die serbischen Stellungen rund um Sarajewo angriff, verdeutlicht, dass zum Aufgabenbereich der UNPROFOR auch die Verteidigung der Schutzzonen gehörte43. Wie sind die Einzelmaßnahmen nun völkerrechtlich zu bewerten: Die zuvor aufgeführten (Zwangs-)Maßnahmen müssten sich – um völkerrechtlich zulässig zu sein – entweder über Art. 51 VN-Charta oder aber anhand der allgemeinen Voraussetzungen für Einsätze nach Kapitel VII der VN-Charta herleiten lassen. Aus Sicht des SR lag mit den erlassenen Resolutionen eine ausreichende Rechtsgrundlage für die vom Nordatlantikbündnis umgesetzten militärischen Zwangsmaßnahmen vor. Wie bereits zuvor ausgeführt, lässt sich jedoch aus dem NV keine ausreichende Grundlage für derartige Einsätze „out of area“ herleiten44. Diese Tatsache ist in der Völkerrechtsliteratur 39 Vgl. S/RES/836 (1993) vom 4. Juni 1993, Unterstrich 5: „The Security Council, (…) Reiterating its alarm at the grave and intolerable situation in the Republic of Bosnia and Herzegovina arising from serious violations of international humanitarian law, (…) Affirming that the concept of safe areas (…) was adopted to respond to an emergency situation, and nothing that the concept (…) could make a valuable contribution and should not in any way be taken as an end in itself, but as (…) first step towards a just and lasting political solution (…)“. 40 M. Pape, Humanitäre Intervention, S. 225 f. 41 Vgl. S/RES/836 (1993), v. 4. Juni 1993, Unterstrich 19 (Ziff. 10): „(…) Member States, acting nationally or through regional organizations or arrangements, may take (…) all necessary measures, through the use of air power, in and around the safe areas in the Republic of Bosnia and Herzegovina, to support UNPROFOR in the performance of ist mandate (…)“. 42 Rapid Reaction Force – RRF. 43 H. Endemann, Kollektive Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung humanitärer Normen, S. 232. 44 Vgl. Teil 4, Kap. 1, A. II.
B. Bewertung der Einzelmaßnahmen der NATO357
durchaus bekannt; gleichwohl werden verschiedenste Begründungen für deren Nichtgeltung „konstruiert“. So werden die militärischen Zwangsmaßnahmen des Bündnisses als ein Handeln ultra vires45 dargestellt46. Insofern ist die Maßnahme einer internationalen Organisation bzw. ihrer Organe zunächst dann rechtswidrig, wenn sie ultra vires, also in Überschreitung der eigenen Kompetenzen47, erlassen wurde.48 Schwierige Probleme ergeben sich, wenn die Organe jenseits ihrer Befugnisse handeln, sei es, dass sie damit in den Kompetenzbereich eines anderen Organs eingreifen, sei es, dass sie dabei den Aufgabenbereich der internationalen Organisation insgesamt (auch unter Berücksichtigung der eben erörterten Auslegungsmöglichkeiten) überschreiten.49 Insbesondere ist 45 Es gibt Fälle, in denen die ultra vires-Lehre als rechtstechnisches Instrument zur Erreichung rechtspolitischer Zwecke angesehen wird. Allerdings enthält das Völkerrecht für den Fall, dass eine internationale Organisation die Kompetenzen überschreitet, die ihr von den Mitgliedstaaten eingeräumt wurden (wenn sie also ultra vires handelt), derzeit keine klaren Regeln. 46 So H. Reiter, Die neue Sicherheitsarchitektur der NATO, in: KJ 40 (2007), S. 133 f. 47 Teilweise wird eine Maßnahme selbst dann als ultra vires angesehen, wenn sie unter Verletzung der Vorschriften des Gründungsvertrages der internationalen Organisation erlassen wurden, vgl. M. Fraas, SR und IGH, S. 87; siehe auch E. Osieke, The Legal Validity of Ultra Vires Decisions of International Organizations, in: AJIL 77 (1983), 249, der alle Maßnahmen, die gegen die Ziele und Grundsätze einer internationalen Organisation verstoßen, als ultra vires bezeichnet. Allerdings geht diese Auffassung über den Wortlaut des Begriffs (Überschreitung der Befugnisse) hinaus, so dass der engere, auf die Kompetenzen beschränkte ultra vires-Begriff, vorzugswürdiger erscheint. So auch M. Reisman/D. Pulkowski, Nullity in International Law, in: R. Wolfrum (Hrsg.), MPEPIL, September 2006, Rn. 20, die z. B. zwischen „acts ultra vires and acts whose content violates ius cogens“ unterscheiden. 48 R. Bernhardt, Ultra Vires Activities of International Organizations, in: J. Makarczyk (Hrsg.), Theory of International Law at the Threshold of the 21st Century, FS Krzysztof Skubiszewski, S. 602; I. Seidl-Hohenveldern/G. Loibl, Internationale Organisationen, Rdnr. 1507, 1511, 1516; M. Fraas, SR und IGH, S. 87; I. Ziemele, International Courts and Ultra Vires Acts, in: L. Caflisch et al. (Hrsg.), LA Luzius Wildhaber, S. 540. 49 Bei VN-Organen gilt nach der Rechtsprechung des IGH aus Gründen der Rechtssicherheit grundsätzlich eine Vermutung der Rechtmäßigkeit und Wirksamkeit der Maßnahmen, solange diese der Erreichung der Ziele der VN dienen (vgl. IGH, Certain Expenses of the United Nations, Advisory Opinion of 20 July 1962, ICJ-Reports 1962, S. 168 [siehe auch S. 327, Fn. 374]; Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia [South West Africa] notwithstanding Security Council Resolution 276 (1970), Advisory Opinion, ICJ-Reports, 1971, S. 22). Allerdings ist fraglich, ob diese Rechtsprechung auch auf das Nordatlantikbündnis – und damit auf jedwede internationale Organisation – zu übertragen ist. Dies ist im Ergebnis wohl abzulehnen, da eine grundsätzliche Entscheidung über Kompetenzstreitigkeiten innerhalb einer internationalen Organisation zunächst durch ein Gremium entschieden werden muss, welches verbindlich über derartige Streitigkeiten
358
Teil 4, Kap. 1: Der Bosnienkrieg
es problematisch, wenn – wie im vorliegenden Fall – streitig ist, ob ein Rechtsakt sich insgesamt außerhalb des Aufgabenbereichs der internationalen Organisation bewegt. Hier stehen sich zwei völlig kontroverse, nicht vereinbare Positionen gegenüber. Die eine Seite vertritt die Auffassung, dass es bei Fehlen einer autoritativen Instanz jedem Staat selbst obliege, die Rechtmäßigkeit des umstrittenen Aktes zu beurteilen. Diesem Prinzip der Selbstbeurteilung wird von der Gegenauffassung entgegengehalten, dass es auf diese Weise möglich sei, sich den Organisationspflichten jederzeit durch einseitige Behauptung eines „ultra vires“-Handelns zu entziehen. Nach Reiter soll bei „Tangierung der Sicherheitsinteressen der Bündnismitglieder“ ein Einsatz auch außerhalb des Vertragsgebiets möglich sein. Darüber hinaus stellt er unter Bezugnahme auf Warg50 dar, dass militärische Maßnahmen des Bündnisses – auf Grundlage der Resolution(en) für Jugoslawien – mittels der implied powers-Lehre dann zulässig wären, wenn durch die Situation im ehemaligen Jugoslawien „eine Bedrohung der Sicherheit eines oder mehrerer Mitgliedstaaten bekämpft wurde und der Sicherheit eben dieser diente“51. Weil es sich bei der Balkanregion um eine sehr instabile Region handelt(e), in deren unmittelbarer Nähe sich die NATO-Mitgliedstaaten Italien und Griechenland befinden, „konnte nicht ausgeschlossen werden, dass sich die Kämpfe bei Nichtbeachtung der Waffenstillstandsvereinbarung unkontrolliert ausweiteten und sich noch weiter den Grenzen Griechenlands und Italiens näherten. Dann jedoch hätten grenzüberschreitende Zwischenfälle nicht ausgeschlossen werden können“. Daraus wird geschlussfolgert, dass aufgrund der „instabilen Verhältnisse“ eine Bedrohung zweier Bündnismitglieder vorlag, weshalb der Einsatz der NATO-Truppen im Rahmen des VN-Mandats zulässig war52. Aus militärisch-strategischer Sicht werden die Ursachen für die „letztendlich erfolgreiche Vorgehensweise der NATO“ darin gesehen, dass neben dem Herbeiführen einer kriegerischen Entscheidung der Konfliktparteien auf dem Gefechtsfeld, insbesondere die problematischen Rahmenbedingungen zur entscheidet. Ein solches existiert jedoch meistens nicht – eine Ausnahme ist die Europäische Union mit dem EuGH. Insofern überrascht es nicht, dass die rechtliche Nichtexistenz bestimmter Kompetenzen als Konsequenz der ultra vires-Lehre – gerade im Völkerrecht – als höchst unbefriedigend empfunden wird. Zunehmend wird daher vertreten, ein ultra viresHandeln könne je nach Schwere des Rechtsverstoßes entweder rechtlich inexistent oder existent, aber nichtig, oder zwar rechtswidrig und daher anfechtbar, jedoch wirksam sein. Vgl. E. Klein/S. Schmahl, in: W. Vitzthum/A. Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 4. Abschn., Rdnr. 192 ff. m. w. N. 50 G. Warg, Von Verteidigung zu kollektiver Sicherheit, S. 147 ff. 51 H. Reiter, Die neue Sicherheitsarchitektur der NATO, in: KJ 40 (2007), S. 134. 52 Ders., ebd., S. 134 f.
B. Bewertung der Einzelmaßnahmen der NATO359
Unterstützung der UNPROFOR zu einer „Emanzipation der NATO von einem Exekutivorgan der UNO hin zu einem nahezu alleinverantwortlichen Akteur unter Führung der USA“ erfolgte.53 Damit endete letztlich die grundlegende Ausrichtung des Bündnisses auf die Verteidigung ihrer Mitgliedstaaten, hin zu politischen und militärischen Operationsrahmen auf Grundlage eines äußerst weit verstandenen Sicherheitsbegriffs. Zusammenfassend bleibt somit als Ergebnis, dass sich die NATO mit den im Bosnienkrieg wahrgenommenen (neuen) militärischen Aufgaben und Maßnahmen bereits außerhalb ihres satzungsmäßigen Zwecks und der durch den Gründungsvertrag erteilten Handlungsermächtigungen bewegte. Das Nordatlantikbündnis bzw. seine Organe handelten ultra vires, indem sie die ihr unterstellten Streitkräfte für diese neuen, im NV nicht vorgesehenen Verwendungszwecke einsetzte. Aufgrund dieser Überschreitung sowohl vertragsinterner (Zweckbestimmungsgrenzen), als auch -externer Grenzen (insbesondere ius cogens), sind die vorgenommenen militärischen Maßnahmen der NATO insofern als (völker-)rechtswidrig zu qualifizieren.
53 So G. Gustenau, Die Rolle der NATO im südosteuropäischen Krisenraum, in: E. Reiter (Hrsg.), Die Konfliktentwicklung im südslawisch-albanischen Raum, S. 3 (Ziff. 4, Punkt 3).
Kapitel 2
Der Kosovokrieg A. Völkerrechtliche (Rechts-)Grundlagen für die getätigten NATO-Maßnahmen Nachdem in einem vorherigen Abschnitt54 bereits die Entstehung des Konflikts beschrieben worden ist, soll in diesem Teil die völkerrechtliche Bewertung der maßgeblichen NATO-Operation „Allied Force“ erfolgen. Anlässlich der Auseinandersetzungen im Kosovo ergingen durch den SR eine Vielzahl von Resolutionen. Allerdings ermächtigte keine der bis dahin erlassenen Resolutionen das Nordatlantikbündnis ausdrücklich zu militärischen Zwangsmaßnahmen55. Als sich abzeichnete, dass der SR keine entsprechende Resolution für militärische Zwangsmaßnahmen des Bündnisses verabschieden würde, begann das Nordatlantikbündnis gleichwohl mit einer ersten Angriffswelle der Luftstreitkräfte. Eine von der GV der VN ausgesprochene – rechtlich unverbindliche – Billigung, die mit einer in der Folge von Uniting for Peace56 ausgesprochenen nachträglichen Ermächtigung vergleichbar gewesen wäre, wurde zu diesem Zeitpunkt nicht angestrebt. Damit entwickelte sich im „kleinen“ Kosovo eine – völkerrechtliche – Konfliktsituation, deren (welt-)politische Dimension seither wirkt; als (streitbares) Sinnbild der sog. Humanitären Intervention. Während die USA in dem Konflikt als Befürworter militärischer Zwangsmaßnahmen auftraten, lagen in sechs europäischen Mitgliedstaaten57 politische, vor allem aber auch völkerrechtliche, Bedenken gegen eine „juristisch nicht abgesicherte“ Humanitäre Intervention vor. Die USA vermittelten – erneut – den Eindruck, dass sie auf den SR und damit auch auf die VN-Charta insoweit keine Rücksicht nehmen würden, wenn es ihren politischen Zielen dient. Beispielhaft aufgeführt sei hier die Tatsache, dass geschuldete Beiträge für friedenswahrende 54 Vgl.
Teil 1, Kap. 2, B. zum Nachweis der fehlenden Ermächtigung J. Duursma, Justifying NATO’s Use of Force in Kosovo?, in: LJIL 12 (1999), S. 288 ff.; B. Simma, Die NATO, die UN und militärische Gewaltanwendung, in: R. Merkel (Hrsg.), Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht, S. 27. 56 S/RES/377 A (V), v. 3. November 1950 – „Uniting for Peace“-Resolution. 57 Belgien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien und Spanien. 55 Vgl.
A. Völkerrechtliche (Rechts-)Grundlagen für getätigte NATO-Maßnahmen361
Operationen zurückgehalten wurden oder zu Teilen alleine mit Waffengewalt oder in wechselnden Koalitionen ohne Mandat des SR militärisch agiert wurde58. Jene Politik der „interessengeleiteten Einmischung“ war den offiziellen Stellungnahmen der US-amerikanischen Administration auch anlässlich des Kosovo-Konflikts zu entnehmen59. Daneben sekundierten ebenfalls Teile der US-amerikanischen Völkerrechtslehre der von der Regierung vertretenen Grundhaltung der „idealistischen Außenpolitik“, wonach sich die USA nicht an die „internationale Gemeinschaft“ oder „ein anderes Gremium“ zu halten hätte, da die internationale Gemeinschaft de facto nicht existent und der SR moralisch nicht ernst zu nehmen sei60. Andere NATO-Mitglieder widersprachen mehr oder minder offen dieser „Rechtsauffassung“ und suchten nach einer Rechtsgrundlage für eine Humanitäre Intervention. Die britische Regierung forderte eine Rechtsgrundlage, wie sie bereits von den Alliierten des Golfkriegs 1991 vorangetrieben worden war, als sie die Flugverbotszone über den Irak verhängten, ohne dass dafür eine Resolution des SR vorlag. Die italienische Regierung erklärte Ende September 1998, dass die Gefahr einer humanitären Katastrophe die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 51 VN-Charta schaffe, verbunden mit dem Recht zur kollektiven Selbstverteidigung. Allerdings stehe dieses Recht lediglich Staaten und damit nicht den Kosovo-Albanern zu. Darüber hinaus gebe es keine Rechtsgrundlage für militärische Zwangsmaßnahmen, da einerseits nicht alle diplomatischen Möglichkeiten ausgeschöpft worden seien und andererseits jedweder Militäreinsatz vom SR legitimiert werden müsse. Die französische Regierung erklärte am 6. Oktober 1998, dass dem SR das ausschließliche Recht zur Mandatierung militärischer Zwangsmaßnahmen zustehe und mit S/RES/1199 (1998) zudem eine entsprechende Resolution vorliege, „die die Möglichkeit eines militärischen Eingriffs eröffne“. Darüber hinaus existiere in Bezug auf die humanitäre Situation eine Ausnahmesituation, die das Durchbrechen „noch so wichtiger und starker völkerrechtlicher Normen“ ermögliche. Zu einem späteren Zeitpunkt erklärte sie, dass mili 58 Bei solchen Operationen handelte es sich u. a. um Einsätze in der Karibik (Grenada, Panama) im Nahen Osten (Bombardements in Libyen, Sudan und Afghanistan sowie Irak) sowie um die Einrichtung der Flugverbotszone im Irak (die von der Resolution des SR nicht umfasst war). Vgl. hierzu T. Eitel, Bewährungsproben für den SR, in: Die Friedenswarte 74 (1999), S. 137. 59 Siehe hierzu die Stellungnahmen von Präsident Clinton und dem stellvertretenden Außenminister Talbott bei G. Reicherter, Rechtsgrundlagen des Kosovo-Konflikts, S. 25 ff. 60 So C. Krauthammer, Illusionäres Weltbild, in: NZZ vom 17./18. Juli 1999, S. 54: „Gremium ehemaliger Apparatschiks, Schlächter vom Tiananmenplatz, der Zyniker von Paris“.
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Teil 4, Kap. 2: Der Kosovokrieg
tärische Zwangsmaßnahmen vom SR mandatiert werden müssen und S/RES/1199 (1998) i. V. m. Kapitel VII der VN-Charta eine Intervention ohne Mandat des SR verbiete61. Außerhalb der NATO-Mitgliedstaaten machten insbesondere China und Russland mit ihrem Abstimmungsverhalten zur S/RES/1203 (1998)62 deutlich, dass sie etwaige militärische Zwangsmaßnahmen im Kosovo nicht unterstützen würden. Die chinesische Administration erklärte im Oktober 1998, dass sie sich vehement dagegen verwehre, in den internationalen Beziehungen Gewalt anzuwenden oder damit zu drohen. Die russische Administration erklärte im Januar 1999, dass ausschließlich der SR ein Mandat für militärische Zwangsmaßnahmen nach der VN-Charta erteilen könne. Zudem wurde betont, dass eine humanitäre Krise keinen ausreichenden und akzeptablen Grund für eine militärische Humanitäre Intervention darstelle und gegen Gründungsziele der VN-Charta verstoße. Ausschließlich eine politisch-diplomatische Lösung sei zulässig63. Am 10. Juni 1999 beschloss der SR – bei Stimmenthaltung Chinas – S/RES/1244 (1999). Darin wird der von Russland und den sog. G-7-Staaten64 ausgehandelte und von der damaligen Belgrader Führung angenommene Friedensplan für das Kosovo gutgeheißen sowie der im militärisch-technischen Abkommen vorgesehene, überprüfbare und gestaffelte Rückzug jeglicher militärischer, polizeilicher und paramilitärischer serbischer Kräfte aus dem Kosovo unterstützt. Darüber hinaus wurde eine internationale Friedenstruppe für das Kosovo (KFOR – Kosovo Force), zuzüglich einer VNMission (UNMIK), eingesetzt und deren Aufgaben definiert. Der KFOR wurde somit ein eindeutiges Mandat zum „peace enforcement“ auf den Weg gegeben. Der NATO-Rat gab nach Beginn des verifizierbaren Rückzugs der serbischen und jugoslawischen Truppen und dem Mandat des SR am 11. Juni 1999 den Aktivierungsbefehl für die Operation „Joint Guardian“ der internationalen Friedenstruppe. Die ersten Einheiten der KFOR – die insbesondere aus Verbänden der USA, Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und 61 Vgl. G. Reicherter, Rechtsgrundlagen des Kosovo-Konflikts, S. 27 f. m. w. N. offizielle Stellungnahmen der jeweiligen Administration. 62 Vor allem da in Ziffer 9 eine Formulierung verwendet worden war, die Spielraum für militärische Maßnahmen gelassen hätte: „(…) action may be needed to ensure their safety and freedom of movement (…)“. 63 Vgl. G. Reicherter, Rechtsgrundlagen des Kosovo-Konflikts, S. 28 m. w. N. 64 Die G 7 (Abkürzung für Gruppe der Sieben) ist ein informeller Zusammenschluss der zu ihrem Gründungszeitpunkt bedeutendsten Industrienationen der west lichen Welt in Form regelmäßiger Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs. Das Forum dient dem Zweck, Fragen der Weltwirtschaft zu erörtern. Dem Gremium gehören Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten von Amerika an.
A. Völkerrechtliche (Rechts-)Grundlagen für getätigte NATO-Maßnahmen363
Deutschlands zusammengestellt wurde und aus insgesamt 50.000 Soldaten bestand – trafen aus Mazedonien kommend am 12. Juni im Kosovo ein.
I. Rechtliche Bindung der NATO an die „Autorität des SR“ Betrachtet man allerdings die bis zu dem Zeitpunkt des Starts der NATOOperation „Allied Force“ ergangenen maßgeblichen Resolutionen – S/RES/ 1160 (1998) und S/RES/1199 (1998) –, gilt es in der völkerrechtlichen als auch in der politischen Diskussion „ausnahmsweise“ als unstrittig, dass beide keine Ermächtigungsgrundlage für militärische Zwangsmaßnahmen begründeten. Insbesondere da keine militärischen Zwangsmaßnahmen für den Fall der Eskalation der Krise enthalten waren. Lediglich nach Art. 40 VN-Charta wurden die Parteien verbindlich zur Streitbeilegung und zur Kooperation mit der Beobachtermission der OSZE und der NATO aufgefordert. Der Erlass militärischer Zwangsmaßnahmen scheiterte am Veto Chinas und Russlands. Insofern wurde die Luftoperation der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien weder durch ein Mandat des SR legalisiert noch als erbetene Intervention „immunisiert“. Zudem konnten die humanitären Verletzungen der Belgrader Regierung auch nicht als „bewaffneter Angriff“ i. S. v. Art. 51 VN-Charta qualifiziert werden, die das Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung ermöglicht, sodass diese Intervention völkerrechtlich als eine Verletzung des in Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta normierten Gewaltverbots zu qualifizieren ist. Bezeichnend für dieses Vorgehen war schließlich die Betonung des SR in den Präambeln von S/RES/1203 (1998) und S/RES/1244 (1999), wonach ihm nach der VN-Charta die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit obliege. Einen derartigen Hinweis hatte es seit „Wiedererlangung seiner Funktionsfähigkeit“ nach Ende des Kalten Kriegs lediglich in S/RES/743 (1992) über die Einrichtung der Schutztruppe UNPROFOR gegeben. In anderen bis dato einschlägigen Resolutionen, in denen die Mitgliedstaaten entweder selbst65 oder mithilfe „geeigne-
65 S/RES/678 (1990), v. 29. November 1990 über die Ermächtigung der VN-Mitglieder zur Durchsetzung von S//RES/660 (1990), um den vollständigen Abzug irakischer Streitkräfte aus dem besetzten Kuwait mit allen erforderlichen Mitteln durchzusetzen. S/RES/794 (1992), v. 3. Dezember 1992 über die Aufforderung an die Mitgliedstaaten, zur Schaffung einer sicheren Umgebung in Somalia Truppen bereitzustellen. S/RES/929 (1994), v. 22. Juni 1994 über die Ermächtigung der Staaten zur Abwendung einer humanitären Katastrophe in Ruanda.
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Teil 4, Kap. 2: Der Kosovokrieg
ter regionaler Abmachungen“66 durch Gewaltanwendung die Umsetzung von militärischen Zwangsmaßnahmen des SR sicherstellen sollten, fehlte eine derartige Inanspruchnahme vorrangiger eigener Zuständigkeit. Augenscheinlich war der SR bei der Umsetzung von S/RES/1203 (1998) der Auffassung, dass eine sich abzeichnende NATO-Intervention lediglich mit Zustimmung und unter der Autorität der VN vorgenommen werden dürfe. In S/RES/1244 (1999) scheint es die Absicht der ablehnenden SR-Mitglieder gewesen zu sein, „durch eine rechtlich neutrale Formulierung der faktisch nicht mehr zu ändernden Kompetenzanmaßung der NATO mit dem Hinweis auf die Letztverantwortung des SR für kollektive Zwangsmaßnahmen nachträglich zumindest keine rechtliche Billigung zuzusprechen“.
Mit Bezugnahme auf den Wortlaut des Art. 24 Ziff. 1 VN-Charta wird hervorgehoben, dass alleinig der SR befugt ist, die in Kapitel VII der VNCharta vorgesehenen Sanktionen zu verhängen bzw. dazu zu ermächtigen. Mit dem Verweis auf die Grundzuständigkeit des SR wird ebenfalls an die in Art. 24 Ziff. 2 S. 2 VN-Charta als konkrete Handlungsformen genannten Befugnisse der Kapitel VII und VIII der VN-Charta „erinnert“ – verbunden mit dem Hinweis auf Art. 53 Ziff. 1 S. 2 VN-Charta, wonach ohne Ermächtigung des SR keine militärischen Zwangsmaßnahmen aufgrund regionaler Abmachungen ergriffen werden dürfen.67 Zusammenfassend bleibt somit zu konstatieren, dass der SR eindeutig klargestellte, wem die Auslegung der VN-Charta obliegt und dass eben auch das Nordatlantikbündnis rechtlich an diese gebunden ist.
S/RES/940 (1994), v. 31. Juli 1994 über die Ermächtigung zur Aufstellung einer multinationalen Streitkraft zur Wiedereinsetzung der rechtmäßigen Regierung in Haiti. S/RES/1080 (1996), v. 15. November 1996 als Ermächtigung zur Schaffung einer sicheren Umgebung in Ostzaire. S/RES/1101 (1997), v. 28. März 1997 über die Schaffung von friedlichen Verhältnissen in Albanien durch eine multinationale Friedenstruppe. 66 S/RES/787 (1992) vom 16. November 1992 als Ermächtigung, zur Durchsetzung des Handelsembargos gegenüber der Bundesrepublik Jugoslawien, in der Adria Schiffe anzuhalten. S/RES/816 (1993) vom 31. März 1993 zur militärischen Umsetzung des Flugverbots über Bosnien-Herzegowina. S/RES/1031 (1995) vom 15. Dezember 1995 als Ermächtigung zur Aufstellung der multinationalen Friedenstruppe IFOR. S/RES/1088 (1996) vom 12. Dezember 1996 als Ermächtigung zur Einrichtung der multinationalen Stabilisierungstruppe SFOR als Nachfolgerin der IFOR. 67 G. Warg, Von Verteidigung zu kollektiver Sicherheit, S. 102 f.
A. Völkerrechtliche (Rechts-)Grundlagen für getätigte NATO-Maßnahmen365
II. Der vertragliche Kompetenz- und Handlungsrahmen der NATO bei fehlender und/oder nachträglicher Autorisierung durch den SR Nachdem dargelegt worden ist, dass die NATO sowohl ohne Mandat des SR als auch ohne „erbeten“ worden zu sein, im Kosovo intervenierte, ist nachfolgend zu prüfen, ob dessen ungeachtet eine völkerrechtliche Rechtfertigung für militärische Zwangsmaßnahmen vorgelegen hat. 1. Kollektive Friedenssicherung als eine der NATO aus den Hauptvereinbarungen übertragene Befugnis Ein Anknüpfungspunkt wäre, dass das Nordatlantikbündnis – aufgrund seines Selbstverständnisses68 – als kollektives Friedenssicherungsbündnis tätig geworden ist. Ob sich eine derartige Befugnis völkerrechtlich herleiten lässt, ist allerdings zweifelhaft. Wie bereits festgestellt wurde69, ist die NATO nicht als ein „System kollektiver Sicherheit“ anzusehen, auch wenn verschiedentlich70 versucht wird, das Aufgabenspektrum des Verteidigungsbündnisses umfassender auszulegen, als es der NV normiert. Es ist keine völker(vertrags)rechtliche Grundlage vorhanden, um den der NATO eingeräumten Aufgabenkreis weiter auszulegen. Zugleich wird unter Heranziehung der Staatenpraxis versucht71, dem Bündnis eine „größere“ Rolle als die eines reinen Verteidigungsbündnisses zuzusprechen. Die vorhergehende Analyse und Untersuchung der Hauptvereinbarungen der NATO – die neben der herkömmlichen völkerrechtlichen Auslegungsmethode der Wortlautanalyse vor allem die Systematik und Entstehungsgeschichte der Vereinbarungen berücksichtigte (historisch, systematisch, teleologisch) – zeigte jedoch, dass eine derartige über die Verteidigung hinausgehende Kompetenz sich völkerrechtlich nicht belegen lässt72. Damit bleibt im Ergebnis festzuhalten, dass sich aus den Hauptvereinbarungen der NATO keinerlei völkerrechtliche Befugnisse herleiten lassen, 68 Vgl. hierzu unter Teil 1, Kap. 1, C. III. anhand der Ziele und Komponenten des Strategischen Konzepts 1991. 69 Vgl. Teil 2, Kap. 1, B. III. sowie Teil 4, Kap. 1, A. I. 3. 70 So etwa G. Nolte, Die „neuen Aufgaben“ von NATO und WEU, in: ZaöRV 54 (1994), S. 95 ff.; G. Warg, Von Verteidigung zu kollektiver Sicherheit, S. 13 ff. 71 So J. Barrett, NATO Reform, in: I. Peters (Hrsg.), New Security Challenges, S. 129. 72 Vgl. Teil 3, Kap. 1 und 2.
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Teil 4, Kap. 2: Der Kosovokrieg
wonach dem Bündnis umfangreichere Kompetenzen als die ihnen als Verteidigungsbündnis zugewiesenen übertragen worden sind. Eine kollektive Friedenssicherung ist daher nicht vom (vertraglichen) Aufgabenspektrum umfasst. 2. Befugnis zu militärischen Maßnahmen ohne Resolution des SR Generell ist keine völkerrechtliche Befugnis für militärische Maßnahmen ohne entsprechende Resolution des SR vorhanden. Eine Ausnahme besteht – bis zum Tätigwerden des SR – beim (Natur-)Recht auf Selbstverteidigung. Damit kann die NATO ohne Resolution des SR ausschließlich in Ausübung des kollektiven Selbstverteidigungsrechts nach Art. 51 VN-Charta i. V. m. dem NV militärische Maßnahmen ergreifen73. Um der NATO gerade nach Ende der bipolaren Weltordnung umfassendere „Einsatzmöglichkeiten“ zu gewähren, gibt es in der – westlichen – völkerrechtlichen Literatur immer wieder Bestrebungen, den Anwendungsbereich von Art. 51 VN-Charta zu erweitern. So gewähre diese Norm für einige Autoren neben dem Recht auf kollektive Selbstverteidigung ebenfalls „friedenswahrende und -wiederherstellende“ Maßnahmen74. Selbst wenn man eine derartige Auffassung nicht von vornherein ausschließen will, müsste das Nordatlantikbündnis aus sich selbst heraus eine Kompatibilität von Verteidigungsbündnis und einer Einrichtung kollektiver Sicherheit aufweisen. Wie dargelegt, ist die NATO jedoch gerade nicht als eine Regionalorganisation i. S. v. Kapitel VIII der VN-Charta zu betrachten. Damit können auch keine weitergehenden Befugnisse als diejenigen eines Selbstverteidigungsbündnisses hergeleitet werden. Im Rahmen der Kosovo-Intervention wurde seitens der Befürworter einer Intervention ohne entsprechendes Mandat darüber hinaus ins Feld geführt, dass ein Mandat des SR bei Berührungen der Sicherheitsinteressen der NATO deshalb nicht akzeptabel sei, weil man dann darauf angewiesen sei, dass die politische Situation innerhalb des Rates ein Votum zulässt. Aber genau dieses Votum ist für eine globale Anerkennung der VN-Charta zwingend notwendig, da es ausschließlich der SR sein soll, der über die Möglichkeiten (militärischer) Gewalt entscheidet. Darüber hinaus würde ein Einsatz ohne Mandat Art. 103 VN-Charta widersprechen. Schließlich ergibt sich die Notwendigkeit eines Mandats aus der Verletzung des unter das ius cogens fallenden Gewaltverbots. Eine dergestalte Verletzung zwingenden Rechts bedürfe einer 73 Vgl.
Teil 2, Kap. 2 und Teil 3, Kap. 1 und 2. Von Verteidigung zu kollektiver Sicherheit, S. 45. Siehe auch G. Nolte, Die „neuen Aufgaben“ von NATO und WEU, in: ZaöRV 54 (1994), S. 95 ff. 74 G. Warg,
B. Bewertung der Einzelmaßnahmen der NATO367
Rechtfertigung, welche der NV selbst nicht begründen kann75. Derartige Ausnahmen vom Gewaltverbot stellen wie bereits erwähnt, lediglich Art. 42 und 51 VN-Charta dar. Da alles andere als die Notwendigkeit eines Mandats zu einer Gefährdung der Autorität des SR führen würde, ist von der Notwendigkeit einer Autorisierung auszugehen. Diese lag bei der Intervention der NATO im Kosovo nicht vor. Die Auffassung, dass eine nachträgliche Zustimmung seitens des SR zur NATO-Intervention ausreiche, muss ebenfalls mit einem klaren Nein beantwortet werden, da eine entsprechende Zustimmung mit der VN-Charta unvereinbar wäre – sie verstieße gegen Art. 39 VN-Charta. Zudem wäre die Maßnahme im Zeitpunkt der Vornahme nicht mit Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta vereinbar. Im Ergebnis gibt es für die NATO damit keine Befugnis zu militärischen Maßnahmen ohne entsprechende Resolution des SR – sofern nicht Art. 42 und 51 VN-Charta einschlägig sind.
B. Bewertung der Einzelmaßnahmen der NATO Die Operation „Allied Force“ hat das Dilemma aufgezeigt, wonach fundamentale völkerrechtliche Normen einander widersprechen können. Neben dem nicht vorliegenden Recht auf Ausübung kollektiver Selbstverteidigung lag ebenso keine Ermächtigung für eine Intervention zur Anwendung militärischer Zwangsmaßnahmen durch den SR vor. Im Zuge dieses Konflikts erfolgte zugleich eine grundsätzliche Debatte darüber, ob die Durchsetzung von Menschenrechten sowie des humanitären Völkerrechts aufgrund des in Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta normierten Gewaltverbots an ihre Grenzen stößt und ob die sog. Humanitäre Intervention als eine zusätzliche Ausnahme vom Gewaltverbot völkerrechtlich angesehen werden kann. Fraglich ist, ob Humanitäre Interventionen auch im Rahmen von Art. 5 NV zur Bekämpfung von Menschenrechtsverletzungen im Kosovo zulässig wären. Dazu müsste ein „bewaffneter Angriff“ i. S. v. Art. 51 VN-Charta vorgelegen haben. Als bewaffneter Angriff ist dabei jede grenzüberschreitende Gewaltanwendung anzusehen. Vorliegend traten die Menschenrechtsverletzungen und sonstigen Auseinandersetzungen nicht über die innerstaatlichen Grenzen hinaus auf. Eine grenzüberschreitende Gewaltanwendung trat dem75 Vgl. auch G. Warg, Von Verteidigung zu kollektiver Sicherheit, S. 111 f. – der jedoch davon ausgeht, dass es sich bei der NATO um eine Regionalorganisation i. S. d. VIII. Kapitel der VN-Charta handelt. Dies führt vorliegend aber zu keinem anderen Ergebnis.
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Teil 4, Kap. 2: Der Kosovokrieg
nach nicht auf, sodass auch kein bewaffneter Angriff vorlag und damit die tatbestandlichen Voraussetzungen für einen „Art. 5“-Einsatz nicht gegeben waren. In der Literatur76 wird darüber hinaus eine Auffassung vertreten, dass Art. 51 VN-Charta als Ausdruck des allgemeinen Rechtsgedankens anzusehen sei, wonach alle Verletzungen von grundlegenden Interessen der Gemeinschaft nothilfefähig seien. Darunter sollen insbesondere auch Menschenrechtsverletzungen fallen – zugleich wird mit dem Verweis von Art. 51 VNCharta in Art. 5 NV die Verknüpfung hergestellt, dass dieser Grundsatz daher ebenfalls auf den NV übertragbar sei. Damit wird die Frage der Zulässigkeit einer unilateralen Humanitären Intervention im Rahmen der VN-Charta der Frage nach der Zulässigkeit im Rahmen des NV gleichgesetzt. Würde man dieser Auffassung folgen, wäre die Humanitäre Intervention im Kosovo dann von Art. 5 NV gedeckt, wenn man diese aufgrund von Art. 51 VN-Charta anerkennt. Als Argument dafür wird vorgebracht, dass die partielle Völkerrechtssubjektivität des Einzelnen in Bezug auf die Menschenrechte dessen Notwehrrecht begründe. Besitze jeder Einzelne aber dieses Recht, müsse ihm auch von jeglichen Völkerrechtssubjekten Nothilfe geleistet werden dürfen. Allerdings müsse diese Nothilfe im Wege praktischer Konkordanz mit dem entgegenstehenden Gewaltverbot und dem Interventionsverbot abgewogen werden77. Diesbezüglich wird angeführt, dass Humanitäre Interventionen dem Ziel dienen, internationale Probleme humanitärer Art zu lösen und die Achtung von Menschenrechten sowie Grundfreiheiten zu fördern und zu festigen78. Diese Ziele sind in Art. 1 Ziff. 3 VN-Charta normiert und daher wird diese Norm auch als Ausnahme vom Gewaltverbot betrachtet. Insofern könnte der Ausnahmecharakter damit begründet werden, dass das in Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta normierte Gewaltverbot gem. Art. 31 Abs. 1 WVK im Lichte des Ziels – vorliegend ist eines der Ziele der Menschenrechtsschutz – ausgelegt werden muss79. Nach Ipsen ist im Falle einer Abwägung zugunsten des Menschenrechtsschutzes die Zulässigkeit einer Humanitären Intervention zu bejahen. 76 So etwa K. Doehring, Völkerrecht, § 20, Rdnr. 1015; K. Ipsen, Der KosovoEinsatz, in: R. Merkel (Hrsg.), Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht, S. 164; D. Volk, Die Begrenzung kriegerischer Konflikte durch das moderne Völkerrecht, S. 175; H. Reiter, Die neue Sicherheitsarchitektur der NATO, in: KJ 40 (2007), S. 135 f. 77 D. Volk, Die Begrenzung kriegerischer Konflikte durch das moderne Völkerrecht, S. 175. 78 J. Stone, Aggression and World Order, S. 43; K. Doehring, Völkerrecht, § 20, Rdnr. 1012 ff. 79 So K. Ipsen, Der Kosovo-Einsatz, in: R. Merkel (Hrsg.), Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht, S. 162 f.
B. Bewertung der Einzelmaßnahmen der NATO369
Dieser Auffassung liegt jedoch die Annahme zugrunde, dass dem Ziel des Menschenrechtsschutzes Vorrang vor dem Grundsatz des Gewaltverbots einzuräumen sei. Allerdings wird in Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta ausdrücklich normiert, in welchen (Ausnahme-)Fällen militärische Gewalt zulässig sein soll80. Obendrein ist Art. 51 VN-Charta nur dann als Rechtsgrundlage heranzuziehen, wenn ein „bewaffneter Angriff“ vorliegt. Ein derartiger Angriff liegt bei einer humanitären Notlage regelmäßig nicht vor. Überdies ist zu berücksichtigen, dass es weithin Bedenken darüber gibt, ob derartige Interventionen nicht doch zur Durchsetzung anderer politischer Ziele missbraucht werden. Eines der wesentlichen Ziele der VN-Charta ist es aber gerade, die Möglichkeit von Gewalt zur Durchsetzung von Politik den Staaten zu entziehen. Hierunter muss man konsequenterweise auch – militärische – Gewalt zugunsten der Menschenrechtspolitik einstufen.81 Im Ergebnis ist damit die Zulässigkeit einer Humanitären Intervention auf Grundlage der VN-Charta abzulehnen. Auf Grundlage des NV könnte eine Humanitäre Intervention im Rahmen von Art. 5 NV lediglich dann zulässig sein, wenn diese – neben den tatbestandlichen Voraussetzungen – als Rechtfertigungstatbestand völkerrechtlich anerkannt ist. Wie bereits ausgeführt82, ist die Ergänzung von Gründungsverträgen durch Völkergewohnheitsrecht83 grundsätzlich möglich84. Allerdings ist bereits fraglich, ob eine regelmäßige Übung über den Umgang mit Menschenrechtsverletzungen vorliegt. Wie zuvor gezeigt, sind unter anderem die ständigen und mit einem Vetorecht ausgestatteten Mitglieder des SR, Russland und China, gerade gegen eine derartige Zulässigkeit. Aufgrund des (politischen) Gewichts dieser beiden Staaten kann daher nicht von einem Konsens bezüglich humanitären Einsätzen gesprochen werden. Völkerrechtlich sind solche Einsätze bis dato nicht anerkannt. Alleine aus diesem Grund ist ein Recht auf Humanitäre Intervention im Rahmen des Art. 5 NV folglich abzulehnen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Operation „Allied Force“ keine völkerrechtliche Grundlage besaß und somit völkerrechtswidrig erfolgte. Mit diesem Verstoß gegen das in Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta normierte Gewaltverbot hat die NATO mit dieser Intervention gegen zwingendes Völkerrecht verstoßen. S. Hobe, Einführung in das Völkerrecht, S. 251 ff. Die neue Sicherheitsarchitektur der NATO, in: KJ 40 (2007), S. 136. 82 Siehe Teil 3, Kap. 2. 83 Völkergewohnheitsrecht entsteht, wenn erstens eine wiederholte, gefestigte oder regelmäßige Übung vorliegt (Staatenpraxis, als objektives Element) und zweitens die Überzeugung vorhanden ist, zu diesem Verhalten völkerrechtlich verpflichtet zu sein (opinio iuris, als subjektives Element). Vgl. S. Hobe, Einführung in das Völkerrecht, S. 209 ff. 84 Vgl. auch W. Meng, Das Recht der Internationalen Organisationen, S. 56 ff. 80 Vgl.
81 H. Reiter,
Kapitel 3
Der „Anti-Terror-Krieg“ in Afghanistan A. Völkerrechtliche (Rechts-)Grundlagen für die getätigten NATO-Maßnahmen Nachdem in einem vorherigen Abschnitt85 bereits das Vorgeschehen des Afghanistankriegs beschrieben worden ist, soll in diesem Teil die völkerrechtliche Bewertung der maßgeblichen US-amerikanisch geführten Operation „Enduring Freedom“ sowie der NATO-geführten ISAF-Mission vorgenommen werden. Ob die zuvor bezeichneten Interventionen mit dem geltenden Völkerrecht im Einklang standen, ist bis dato Gegenstand einer lebhaften Debatte – sowohl in der Praxis als auch in der Völkerrechtslehre. Im Kern geht es um die Frage, wie die unmittelbar nach „9/11“ vom SR beschlossenen S/RES/1368 (2001) und S/RES/1373 (2001) zu bewerten sind. Insbesondere die Frage, ob die Voraussetzungen einer Selbstverteidigungssituation vorlagen86, die als Begründung für die Ausrufung der NATO des bisher einzigen Bündnisfalls nach Art. 5 NV herangezogen wurde, ist klärungsbedürftig.
I. Resolutionen des SR nach dem 11. September 2001 Grundsätzlich ergibt sich aus der Begutachtung der S/RES/1368 (2001)87 und S/RES/1373 (2001)88, dass der SR weder ausdrücklich festgestellt hat, dass es sich bei den terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001 tatsächlich um einen „bewaffneten Angriff“ i. S. d. Art. 51 VN-Charta handelte und damit die Voraussetzung für die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts vorlagen, noch dass ein solcher Angriff überhaupt von nicht-staatlichen Akteuren verübt werden kann. Gleichzeitig hat er dies aber auch nicht ausgeschlossen. Bei genauer Betrachtung zeigt sich vielmehr, dass beide Resolu 85 Vgl.
Teil 1, Kap. 2, C. muss das Vorliegen einer Selbstverteidigungssituation grundsätzlich nicht durch den SR anerkannt werden. Vgl. T. Bruha, Gewaltverbot und humanitäres Völkerrecht nach dem 11. September 2001, in: AVR 40 (2002), S. 394. 87 S/RES/1368 (2001), v. 12. September 2001. 88 S/RES/1373 (2001), v. 28. September 2001. 86 Gleichwohl
A. Völkerrechtliche (Rechts-)Grundlagen für getätigte NATO-Maßnahmen371
tionen in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung äußerst vage und mitunter auch missverständlich sind – was in der damals vorherrschenden Lage beabsichtigt gewesen sein mag, um entsprechende „Handlungsspielräume“ zu haben. Die Anschläge werden in beiden Resolutionen mit identischem Wortlaut89 nicht nur als terroristische Akte, sondern auch als Friedensbedrohung i. S. v. Art. 39 VN-Charta bezeichnet. Zugleich werden aber nicht nur die konkreten Akte als Friedensbedrohung qualifiziert, sondern „any act of international terrorism“. Während S/RES/1373 (2001) diese Feststellung in der Präambel trifft (pp. 3), verortet S/RES/1368 (2001) sie erstmalig sogar im operativen Teil (op. 1). Der SR äußert sich damit dahingehend, dass nicht die konkreten Anschläge, sondern vielmehr dass „such acts, like any act of international terrorism“ Friedensbedrohungen begründen90. Damit legt er in beiden Resolutionen erstmals ein abstraktes Gefahrenverständnis bei der Anwendung von Art. 39 VN-Charta zugrunde, ohne jeglichen konkreten Bezug zu einer bestimmten Situation oder bestimmten Handlung, welche die internationale Sicherheit tatsächlich bedroht. Vielmehr soll bei terroristischen Anschlägen per se91 der Anwendungsbereich von Kapitel VII der VN-Charta eröffnet sein. Darüber hinaus standen am Tage nach den Anschlägen die Urheber von „9/11“ keineswegs fest, sodass der SR auch das Junktim zwischen Friedensbedrohung und staatlicher Urheberschaft scheinbar aufgehoben hat92. Somit gingen die beiden Resolutionen in ihrer Reichweite weit 89 Vgl. S/RES/1368 (2001), op. 1: „Unequivocally condemns in the strongest terms the horrifying terrorist attacks which took place on 11 September 2001 in New York, Washington (D.C.) and Pennsylvania and regards such acts, like any act of international terrorism, as a threat to international peace and security“; S/RES/1373 (2001), Präambel: „Reaffirming also its unequivocal condemnation of the terrorist attacks which took place in New York, Washington, D.C., and Pennsylvania on 11 September 2001, and expressing its determination to prevent all such acts“ (pp. 2) „Reaffirming further that such acts, like any act of international terrorism, constitute a threat to international peace and security“ (pp. 3). 90 Die nicht autoritative deutsche Übersetzung bringt dies nicht klar zum Ausdruck, wenn sie stattdessen davon spricht, dass „diese Handlungen“ – und damit verweisend auf die Anschläge vom 11. September – Bedrohungen des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit seien. 91 Im Gegensatz dazu hatte der SR sich zuvor stets darauf beschränkt, einzelne konkrete Fälle als Friedensbedrohung einzustufen, und dies auch erst dann, wenn die Verwicklung eines Staates oder wenigstens De-facto-Regimes hinreichend nach weisbar war. Etwa bei den Anschlägen vom 7. August 1998 auf die US-amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania. In S/RES/1189 (1998), pp. 2 führte er aus: „(S)uch acts (of international terrorism) (…) have a damaging effect on international relations and jeopardize the security of states“. Der SR blieb also unter der Schwelle der Feststellung einer Bedrohung von Frieden und internationaler Sicherheit und nahm keinen Bezug auf Kapitel VII der VN-Charta. 92 Vgl. T. Bruha/M. Bortfeld, Terrorismus und Selbstverteidigung, in: VN 49 (2001), S. 163.
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Teil 4, Kap. 3: Der „Anti-Terror-Krieg“ in Afghanistan
darüber hinaus, lediglich eine Reaktion auf diese spezifische Bedrohung der internationalen Sicherheit durch – wie sich später erst herausstellte – die Terrororganisation al-Qaida zu sein93. Des Weiteren „bekräftigte“ der SR neben der Friedensbedrohung ausdrücklich auch das Recht des Opferstaates – hier der Vereinigten Staaten von Amerika – auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung. Diese „Bekräftigung“ widerspricht allerdings dem System kollektiver Sicherheit, da mit der Feststellung einer Friedensbedrohung der Anwendungsbereich der kollektiven Friedenssicherung im „VN-System“ eröffnet ist, wodurch die Selbstverteidigung an sich abgelöst wird. Letztlich enthält S/RES/1373 (2001) jenseits der grundsätzlichen Anerkennung des Selbstverteidigungsrechts jedoch keine (konstitutive) Autorisierung für militärische Zwangsmaßnahmen94.
II. Die Anwendung des – kollektiven – Selbstverteidigungsrechts bei einem Angriff „Privater“ Insgesamt stellen sich vor diesem Hintergrund aus völkerrechtlicher Perspektive zweierlei Fragen: Wie ist das Verhältnis zwischen Selbstverteidigung und kollektiver Friedenssicherung (1.); und können bewaffnete Angriffe i. S. v. Art. 51 VN-Charta auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen (2.). 1. Das Verhältnis von Selbstverteidigung und kollektiver Friedenssicherung nach Art. 51 VN-Charta Wie bereits aufgezeigt95, existieren lediglich äußerst wenige Ausnahmen von dem in Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta normierten völkerrechtlichen Gewaltverbot. Neben den kollektiven Zwangsmaßnahmen im Rahmen von Kapitel VII der VN-Charta besteht ausschließlich bei Vorliegen einer Selbstverteidigungssituation das Recht, nach Art. 51 VN-Charta militärische Zwangsmaßnahmen vorzunehmen. Damit ist das ius ad bellum einzelner Staaten grundsätzlich auf den Fall der Selbstverteidigung beschränkt. Die Vereinigten
93 J. Föh,
Bekämpfung des internationalen Terrorismus, S. 151 f. wird dies teilweise unter Verweis auf den operativen Absatz 2 vertreten, der bestimmt, dass „all states shall (…) (t)ake the necessary steps to prevent the commission of terrorist acts“. Diese Aussage ist jedoch zu offen und allgemein formuliert, als dass sie als ein konkretes Mandat nach Kapitel VII der VN-Charta angesehen werden könnte. Vgl. dazu C. Stahn, The Ambiguities of Security Council Resolution 1422 (2002), in: EJIL 14 (2003), S. 104. 95 Vgl. Teil 2, Kap. 1, A. I. 2. 94 Zwar
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Staaten von Amerika haben sich seit dem 11. September 200196 auf dieses Recht berufen. Nachfolgend ist zu untersuchen, ob die militärischen Maßnahmen im Anschluss an „9/11“ sich noch innerhalb dieses normativen Rahmens bewegt haben. Maßgeblich zur Beantwortung dieser Frage heranzuziehen sind die bereits zuvor genannten S/RES/1368 (2001) und S/RES/1373 (2001). Wendet man sich beiden Resolutionen genauer zu, so stellt man jedoch fest, dass sie in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung jeweils sehr vage und mitunter auch missverständlich sind – insbesondere was die Frage des Verhältnisses von Selbstverteidigung zu kollektiven Zwangsmaßnahmen anbetrifft. Insofern ist zunächst anzumerken, dass es Sinn und Zweck eines kollektiven Sicherheitssystems – wie es die VN sind97 – ist, dass ebendieses auch handelt, wenn das Kollektivorgan bereits mit der Sache befasst ist98, anstatt die Handhabe weiterhin dem angegriffenen Staat zu überlassen. Auch wenn der SR über keine eigenen militärischen Einheiten verfügt, hat dies einem kollektiven Handeln bis dato nicht im Wege gestanden. Denn man behalf sich grundsätzlich damit, (einige freiwillige) Mitgliedstaaten zur Anwendung militärischer Gewalt zu autorisieren99. Jene – kreative100 – Lösung, die aus den Art. 39, 42 und 48 VN-Charta heraus entwickelt wurde, bestimmte seit Anfang der 1990er-Jahre das Handeln des SR. Diese Handlungsweise hat der SR in den beiden Resolutionen jedoch gerade nicht zur Anwendung gebracht; nicht einmal die, zumindest die kol-
96 Gleichwohl gab es unilaterale militärische Eingriffe der USA gegen terroristische Akte auf US-amerikanische Einrichtungen bzw. gegen US-amerikanische Staatsangehörige schon vor dem Jahr 2001. Beispielhaft genannt seien die Luftangriffe gegen Libyen 1986 (als Reaktion auf den Bombenanschlag auf die Berliner Diskothek La Belle), gegen den Irak 1993 (nach dem versuchten Attentat auf den damaligen Präsidenten G.H.W. Bush) und gegen Afghanistan bzw. den Sudan 1998 (nach den Anschlägen auf die US-amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania). 97 Vgl. Teil 2, Kap. 1, B. I. 98 Art. 51 VN-Charta gesteht dem angegriffenen Staat das Recht auf Selbstverteidigung ausdrücklich nur solange zu, bis der SR die notwendigen Maßnahmen erlassen hat. 99 Erstmalig wurde dieses „Modell“ nach der Annexion Kuwaits durch den Irak im Jahr 1990/91 mit der S/RES/678 (1990) angewandt. Danach entwickelte es sich zum Regelfall – so in Somalia, Bosnien, Runanda und Haiti. Vgl. hierzu F. Berman, The Authorization Model: Resolution 678 and Its Effects, in: D. Malone (Hrsg.), The UN Security Council, S. 153 ff. 100 Umfassend hierzu H. Freudenschuß, Between Unilateralism and Collective Security, in: EJIL 5 (1994), S. 526: „(…) the Security Council had created a new instrument and model (…)“.
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Teil 4, Kap. 3: Der „Anti-Terror-Krieg“ in Afghanistan
lektive Selbstverteidigung zu organisieren oder auch nur zu koordinieren101. Auch seine Ausführungen in S/RES/1373 (2001), pp. 6 – „to combat by all means […] threats to international peace and security caused by terrorist acts“ – sind nicht mehr als eine Umschreibung für die Anwendung militärischer Gewalt und damit lediglich als „generelle Richtschnur“ auszulegen.102 Im Ergebnis bedurfte es daher auch für den hier gegenständlichen Anlassfall durch den SR grundsätzlich einer expliziten Feststellung einer Friedensbedrohung sowie der Autorisierung von Gewalt im konkreten Einzelfall. Es zeigte sich allerdings, dass der SR im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika auf jegliche kollektive Einbindung verzichtete, sodass er den USA bei ihrer Operation Infinite Justice – die am 25. September 2001 in Enduring Freedom umbenannt103 wurde – „freie Hand“104 ließ.105 Insgesamt ist dieses Vorgehen als grundlegende Abweichung vom Grundgedanken der kollektiven Friedenssicherung einzustufen. Zugleich stellt dieses Vorgehen auch eine Gefahr für das System der internationalen Beziehungen dar. Denn im Gegensatz zu einem präzise definierten Mandat des SR ist die Selbstverteidigung einseitig so „dehnbar“, dass mitunter das Recht manipuliert106 werden kann107. 101 Zu dieser Möglichkeit siehe J. Frowein, in: B. Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Art. 39, Rdnr. 30. 102 So J. Föh, Bekämpfung des internationalen Terrorismus, S. 155 m. w. N. in Fn. 168. 103 Mit der Bezeichnung Infinite Justice sollte die Kontinuität zur Operation In finite Reach betont werden, in der 1998 gegen Al-Qaida-Trainingscamps in Afghanistan und im Sudan Luftangriffe ausgeführt worden waren. Infinite Reach war eine Vergeltungsaktion der Vereinigten Staaten für die Bombenanschläge auf die USamerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania gewesen. Nach dem Bekanntwerden der geplanten Operation Infinite Justice kam es zu Protesten muslimischer Gruppen, da in deren Auffassung Allah allein in der Lage ist, unendliche Gerechtigkeit auszuüben. Die Bezeichnung der geplanten Militäraktionen wurde aus diesem Grund am 25. September 2001 in Enduring Freedom geändert. 104 Hatte der SR in S/RES/1368 (2001) noch ausdrücklich „its readiness to take all necessary steps to respond to the terrorist attacks“ (op. 5) erklärt, beschränkte er seine Entschlossenheit in S/RES/1373 (2001) (op. 8) darauf, alle notwendigen Schritte zu unternehmen, um „diese Resolution“ zu implementieren. 105 Allerdings ist davon auszugehen, dass es ein Veto der USA gegeben hätte, wenn der SR nicht eine derartige „Zurückhaltung“ an den Tag gelegt hätte, weil sie von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen hatten, die Gegenschläge unilateral in eigener Verantwortung ausführen zu wollen. Vgl. J. Föh, Bekämpfung des internationalen Terrorismus, S. 156 m. w. N. 106 So ähnlich auch J. Delbrück, The Fight Against Global Terrorism, in: GYIL 44 (2001), S. 21. 107 Anderen militärisch starken Staaten dient dieses Beispiel als (Negativ-)Vorbild: So erklärte im September 2002 der russische Präsident Putin unter Berufung auf S/RES/1368 (2001) und S/RES/1373 (2001), dass Russland in Ausübung seines Selbst-
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2. Selbstverteidigung auch gegen (quasi-)staatliche Taliban oder auch gegen nicht-staatliche Akteure (al-Qaida) Neben der fehlenden Einbindung anderer Mitgliedstaaten bestünde ein zweites großes Novum darin, wenn in den Resolutionen eine Anerkennung eines Rechts auf Selbstverteidigung gegen Anschläge von nicht-staatlichen Akteuren stattgefunden hätte. Grundsätzlich sind die Anschläge vom 11. September 2001 als terroristische Akte zu qualifizieren, die völkerrechtlich entweder als sog. verdeckter Staatsterrorismus oder als kriminelle Akte Privater eingeordnet werden. Fokussiert man die beiden Resolutionen und legt den jeweiligen Inhalt aus, so könnte man zu dem Ergebnis gelangen, dass der SR die Verantwortlichkeit für die Taten allein bei den (quasi-)staatlichen Taliban sieht. Völkerrechtlich ließe sich aufgrund des De-facto-Regimes108 der Taliban in Afghanistan somit ein Anknüpfungspunkt für ein Selbstverteidigungsrecht vertreten. Auch wenn die Taliban nie als rechtmäßige Regierung anerkannt109 worden sind, kommt es darauf im Hinblick auf ihren völkerrechtlichen Status nicht an, da sie vor und zum Zeitpunkt der Anschläge über fast das gesamte Territorium Afghanistans die effektive Kontrolle ausübten und dergestalt die faktische Handlungsherrschaft in Afghanistan innehatten. Aus diesem Grund könnte man ihnen den Status eines (partiellen) Völkerrechtssubjekts zuerkennen; wodurch sie zugleich völkerrechtlich verantwortlich wären110. Vor diesem Hintergrund wäre es im September 2001 denkbar gewesen, dass die Resolutionen einzig auf die Taliban als Völkerrechtssubjekt und nicht auf al-Qaida als „Private“ zielten. Ob diese – sprachliche – Ungenauverteidigungsrechts militärisch in Georgien intervenieren werde, um (angeblich) von dort aus operierende tschetschenische Rebellen zu bekämpfen. Siehe „Russia writes U.N., OSCE Invoking Right to Self-Defense, UNWire, 12.9.2002, http://www.unwire. org/UNWire/20020912/28865_story.asp (zuletzt aufgerufen, am 26. März 2017). Dazu auch C. de Jonge Oudraat, The Role of the Security Council, in: J. Boulden/T. Weiss (Hrsg.), Terrorism and the UN, S. 163. 108 Bei De-facto-Regimen handelt es sich um Einheiten, welche die effektive Kontrolle über ein Gebiet ausüben, ohne als Regierung anerkannt worden zu sein. Aufgrund dieser faktischen Herrschaft sollen ihnen völkerrechtliche Rechte und Pflichten zukommen, sodass sie als partielle Völkerrechtssubjekte anzuerkennen sind. Umfassend hierzu J. Frowein, Das de facto-Regime im Völkerrecht, passim sowie V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 9, Rdnr. 15. 109 Lediglich Pakistan, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate erkannten die Taliban als legitime Regierung Afghanistans nach deren Eroberung Kabuls im Jahr 1996 an. Es gelang den Taliban auch nicht, den Sitz Afghanistans in den VN einzunehmen. 110 R. Wolfrum/C. Philipp, Die Taliban – ein Subjekt des Völkerrechts?, in: S. von Schorlemmer (Hrsg.), Praxishandbuch UNO, S. 153 ff.
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igkeit in den beiden Resolutionen aus Nachlässigkeit erfolgte oder aber bewusst vage formuliert wurde, lässt sich letztlich nicht beweisen.111 Die anschließende – überwiegend „westliche“ – Staatenpraxis lässt hingegen keinen Zweifel daran, dass zumindest die USA und ihre Verbündeten eine Anerkennung des Selbstverteidigungsrechts nicht nur auf die Taliban bezogen verstanden, sondern auch auf das private Netzwerk112. Bei den (militärischen) Maßnahmen wurde jegliche Unterscheidung zwischen (de facto-)staatlichen Taliban und privaten al-Qaida außer Acht gelassen. Vielmehr ist recht unvermittelt vor allem das Terrornetzwerk von al-Qaida ins Visier genommen worden113. Dies geschah über das Territorium Afgha111 Anzumerken ist, dass die Resolutionen angenommen wurden, ohne – wie es üblich ist – sorgfältig verhandelt worden zu sein. Die S/RES/1368 (2001), die am unmittelbaren Folgetag der Anschläge vom 11. September 2001 und damit in einem Moment beschlossen wurde, in dem der Schock über die Ereignisse noch allgegenwärtig war, erscheint es durchaus plausibel, dass eine gewisse Nachlässigkeit vorhanden war. Trotz offenkundiger Mängel wollte und konnte aus politischen und moralischen Gründen keines der Mitglieder des SR Zweifel an seiner „Solidarität“ mit dem Opferstaat USA aufkommen lassen, sodass es zu keinerlei kritischen Gegenfragen oder gar zu Ablehnungen bei der Abstimmung kam. Die S/RES/1373 (2001), die am 28. September 2001 und somit nach gut zweiwöchiger „Bedenkzeit“ angenommen wurde, bestätigte das Selbstverteidigungsrecht wiederum ausdrücklich – mit identischem Wortlaut. Auch im Hinblick auf diese spätere Resolution ist nicht davon auszugehen, dass sie das Ergebnis eines wohlüberlegten und ausgewogenen Mei nungsfindungsprozesses darstellt. Denn die federführenden Vereinigten Staaten von Amerika legten den Resolutionsentwurf den anderen – jedenfalls nicht ständigen – Mitgliedern des SR erst am Vorabend der Abstimmung vor, die dann exakt drei Minuten dauerte. Der Umstand allerdings, dass diese Abstimmung noch am späten Abend – genau von 22.50 bis 22.53 Uhr – stattfand, lässt darauf schließen, dass diese Umstände bewusst herbeigeführt worden waren, um die Resolution sofort mit Ablauf der 24-stündigen „Anstandsfrist“ „durchzudrücken“, ohne dass für die heimischen Fachministerien der übrigen Mtglieder des SR noch die Möglichkeit bestand, substanzielle inhaltliche Überlegungen anzustellen. Dafür dass dieser „Schnellschuss“ zustande kam, weil er auf einhellige Zustimmung gestoßen wäre, spricht angesichts des geradezu revolutionären Inhalts der Resolution jedenfalls nicht viel. Das Gegenteil ist wohl der Fall, da der SR selbst den „besonderen Charakter“ hervorhob. Die S/RES/ 1373 (2001) gilt bereits heute als die meistzitierte SR-Resolution überhaupt; und nicht selten wird sie dabei als warnendes Beispiel für ein zu weitgehendes Vorgehen des SR herangezogen. J. Föh, Bekämpfung des internationalen Terrorismus, S. 159 f. m. w. N. 112 So auch im Ergebnis C. Walter, Zwischen Selbstverteidigung und Völkerstrafrecht, in: D. Fleck (Hrsg.), Rechtsfragen der Terrorismusbekämpfung durch Streitkräfte, S. 26. 113 Diesen Weg ist die Staatengemeinschaft im Großen und Ganzen mitgegangen. Die Allianz gegen den internationalen Terrorismus, die sich unmittelbar nach dem 11. September 2001 bildete, sucht ihresgleichen. Vor allem die Europäer sahen sich den USA gegenüber gewissermaßen in der Bringschuld. Aber auch Russland und China – und damit alle ständigen Mitglieder des SR – reihten sich nahtlos ein und
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nistans hinaus; damit wurde „die Schlacht zum Feind getragen“114 und die Selbstverteidigung zum „globalen Anti-Terror-Krieg“ („war on terror“) ausgeweitet115. Insofern hat die Staatengemeinschaft die S/RES/1368 (2001) und S/RES/1373 (2001) als Grundlage für ihre Praxis herangezogen, ohne dass das Verhältnis zwischen kollektiver Friedenssicherung und Selbstverteidigung hinreichend geklärt bzw. voneinander abgegrenzt wurde. a) Voraussetzungen des Rechts auf Selbstverteidigung i. S. v. Art. 51 VN-Charta Ungeachtet dieser systemwidrigen Praxis ist zu klären, ob die Voraussetzungen des Rechts auf Selbstverteidigung gem. Art. 51 VN-Charta im Fall der terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 gegeben waren. Danach sind Selbstverteidigungsmaßnahmen – unilaterale bzw. kollektive Maßnahmen – gegen einen bewaffneten Angriff116 zulässig (bis der SR tätig wird). Unter normativen Gesichtspunkten findet sich sowohl in Art. 1 Ziff. 1, Art. 2 Ziff. 4, Art. 39, Art. 51 und Art. 53 VN-Charta keine Legaldefinition der Begriffe „Gewaltanwendung“, „Agression“ und „Angriff“, obwohl nur eine präzise Definition des Begriffs „bewaffneter Angriff“ die erforderlichen engen Grenzen für militärische Maßnahmen in den internationalen Beziehungen setzen kann. Obschon das Phänomen des internationalen Terrorismus zum Zeitpunkt der Gründung der VN und der Verhandlungen über die Formulierung der Charta bereits existierte117, fand es keine Berücksichtigung in ergriffen hierdurch nicht zuletzt die für sie günstige Gelegenheit, fortan die in ihren eigenen Staaten nach Unabhängigkeit strebenden muslimischen Minderheiten der Tschetschenen bzw. Uiguren zu Terroristen zu deklarieren und ohne größere Rücksicht auf die Menschenrechte verfolgen zu können. K. Roth, The Law of War in the War on Terror, in: Foreign Affairs 83 (2004), S. 6 ff. 114 Vgl. President of the United States of America, The National Security Strategy of the United States of America, Washington D.C., 17. September 2002, https://www. state.gov/documents/organization/63562.pdf (zuletzt aufgerufen am 10. April 2017); T. Assheuer, Wann ist ein Krieg gerechtfertigt?, in: Die ZEIT, vom 29. Dezember 2005 (01/2006), S. 46. 115 Siehe hierzu A. Roberts, Righting Wrongs or Wronging Rights?, in: EJIL 15 (2004), S. 739 ff. 116 Die in der völkerrechtlichen Literatur geführte Diskussion, ob ein über Art. 51 VN-Charta hinausgehendes völkergewohnheitsrechtliches Selbstverteidigungsrecht existiert, wurde vom IGH in seinem Nicaragua-Urteil dahingehend ausgeurteilt, dass beide nebeneinander existieren, jedoch ein bewaffneter Angriff die Voraussetzung für die gewaltsame Gegenwehr bilden müsse. Case Concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua vs. United States of America), Urt. v. 27. Juni 1986, ICJ Reports 1986, S. 103 para 195. 117 Das Phänomen der politisch motivierten Gewalt von Individuen ist spätestens seit dem Römischen Reich bekannt. Als Gruppenerscheinung trat der Terrorismus
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der Ausgestaltung des Selbstverteidigungsrechts in Art. 51 VN-Charta. Daher muss auf der Tatbestandsseite untersucht werden, ob terroristische Akte überhaupt einen bewaffneten Angriff i. S. d. Art. 51 VN-Charta darstellen können. aa) Textauslegung des Begriffs „bewaffneter Angriff“ hinsichtlich eines Staatlichkeitserfordernisses Wie bereits an anderer Stelle dargelegt, richtet sich die Auslegungsmethode nach der WVK. Gründungsverträge einer internationalen Organisation sind grundsätzlich im Lichte des Organisationszwecks auszulegen.118 Zudem sind gem. Art. 32 WVK die travaux préparatoires ergänzend heranzuziehen, sofern die vorausgegangene Auslegung der satzungsrechtlichen Bestimmungen zu keinem eindeutigen Ergebnis führen.119 (1) Grammatikalische Auslegung Dem Wortlaut „bewaffneter Angriff“ aus Art. 51 VN-Charta ist im Gegensatz zu Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta kein Hinweis auf das Erfordernis der Staatlichkeit zu entnehmen120. Dies gilt gleichfalls für die englische („armed attack“) als auch für die spanische („attaque armado“) autoritative121 Sprachallerdings in den internationalen Beziehungen erstmals im 12. und 13. Jahrhundert auf. Die fanatische islamische Sekte „Assassins“ suchte ihre Opfer sowohl unter Christen als auch unter in ihren Augen „ungläubigen“ Moslems. Aber erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden terroristische Akte systematisch als Waffe im Kampf um politische Ideen eingesetzt und richteten sich hauptsächlich gegen Staatsoberhäupter und Regierungsvertreter. So war das Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich durch einen serbischen Terroristen am 28. Juni 1914 einer der Gründe für den Ausbruch des 1. Weltkriegs. Auch zwischen den beiden Weltkriegen kam es zu zahlreichen Anschlägen auf führende Staatsmänner. Siehe hierzu C. Tietje/K. Nowrot, Völkerrechtliche Aspekte militärischer Maßnahmen gegen den internationalen Terrorismus, in: NZWehrr. 44 (2002), S. 3 sowie D. König, Terrorismus, in: R. Wolfrum (Hrsg.), Handbuch Vereinte Nationen, S. 847 ff. 118 Zu den Besonderheiten bei der Auslegung von Gründungsverträgen C. Peters, Praxis Internationaler Organisationen, S. 153 ff.; für die Auslegung der VN-Charta in diesem Zusammenhang S. Kadelbach, in: B. Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN, Vol. I, Interpretation, Rdnr. 23 ff. 119 Zur Auslegung grundlegend Teil 3, Kap. 1, A. 120 T. Bruha, Neuer Internationaler Terrorismus: Völkerrecht im Wandel?, in: H.-J. Koch (Hrsg.), Terrorismus – Rechtsfragen der äußeren und inneren Sicherheit, S. 65; C. Kreß, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 206 ff.; J. Frowein, Der Terrorismus als Herausforderung für das Völkerrecht, in: ZaöRV 62 (2002), S. 886 f.; S. Murphy, Terrorism and the Concept of „Armed Attack“, in: HarvardILJ 43 (2002), S. 50. 121 Gem. Art. 111 VN-Charta sind die chinesische, englische, französische, russische und spanische Sprachfassung gleichermaßen verbindlich.
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fassung. Die französische Fassung („agression armée“) ist hingegen restriktiver formuliert, da hiermit „unprovozierte bewaffnete Angriffe bezeichnet werden“122. Im Gegensatz zur englischen und spanischen Sprachfassung entscheid man sich im Französischen nicht für „attaque armée“, die analoge Übersetzung, sondern für den enger gefassten Begriff „agression armée“. Damit drückt die französische Sprachfassung eine Wertung dahingehend aus, dass ein militärischer (d. h. staatlicher) Angriff vorliegen muss – während die englische und spanische Fassung wertfreier formuliert sind. Somit ist der gemeinsame Nenner aller authentischen sprachlichen Fassungen zugrunde zu legen. Insofern gilt die französische Fassung: „nur staatliche Gewalt“. (2) Systematische Auslegung Auch die Art. 1 Ziff. 1, Art. 39 und Art. 53 VN-Charta enthalten den Begriff „Angriff“, definieren ihn aber ebenso wenig, sodass daraus kein direkter Rückschluss auf die Beschaffenheit des „bewaffneten Angriffs“ in Art. 51 VN-Charta gezogen werden kann. Insofern hat sich die systematische Auslegung an dem Wechselverhältnis von Art. 2 Ziff. 4 und Art. 51 VN-Charta zu orientieren123. Das Recht auf Selbstverteidigung zur Abwehr eines bewaffneten Angriffs stellt die Ausnahme zum Gewaltverbot aus Art. 2 Ziff. 4 VNCharta dar, sodass ein Regel-Ausnahme-Verhältnis besteht. Insofern ist es gut begründbar, dass der Begriff des bewaffneten Angriffs dem der Gewaltanwendung aus Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta in seiner Ausrichtung entsprechen müsse – und damit das Staatlichkeitserfordernis des Art. 2 Ziff. 4 auch für Art. 51 VN-Charta gelten müsse124. In diesem Sinne urteilte ebenfalls der IGH, wonach ein Angriff privater Gruppierungen ohne staat liche Zurechenbarkeit kein bewaffneter Angriff sein könne.125 Auch in sei122 K. Weigelt, Internationaler Terrorismus und staatliche Souveränität, S. 75; C. Kreß, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 208. Zu den unterschiedlichen sprachlichen Bedeutungen siehe auch F. Klein, Der Begriff des „Angriffs“ in der UN-Satzung, in: K. Carstens/H. Peters (Hrsg.), FS Hermann Jahrreiss I, S. 181 ff. 123 C. Wandscher, Internationaler Terrorismus und Selbstverteidigungsrecht, S. 234 f.; G. Zimmer, Terrorismus und Völkerrecht, S. 56 ff.; R. Derpa, Das Gewaltverbot der Satzung der VN, S. 94 ff. 124 I. Löw, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht nach dem 11. September 2001, S. 94; R. Derpa, Das Gewaltverbot der Satzung der VN, S. 94 ff.; D. Blumenwitz, Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr im Kampf gegen den Terrorismus, in: ZRP 35 (2002), S. 104 f. 125 Im Nicaragua-Urteil entwickelte es daher den „Effective-control“-Test (Case Concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua [Nicaragua vs. United States of America], Urt. v. 27. Juni 1986, ICJ Reports 1986, S. 64 para 115).
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nem Rechtsgutachten zum Bau der israelischen Mauer vom 9. Juli 2004126 verwarf er in einer knappen Analyse den israelischen Anspruch auf Selbstverteidigung mit dem Hinweis, dass ein bewaffneter Angriff i. S. d. Art. 51 VN-Charta staatlich sein müsse und Israel in seinen Ausführungen selbst bestätigt hätte, dass es nicht durch eine ausländische Macht, sondern aus dem Innern heraus angegriffen werde127. Insofern sei der Bau der Mauer als Maßnahme zur Selbstverteidigung nicht rechtmäßig128. Im überaus komplexen Fall Kongo vs. Uganda, bei dem er beurteilen musste, ob Ugandas Selbstverteidigungsaktionen gegenüber der Demokratischen Republik Kongo rechtmäßig waren129, verneinte er wegen fehlender Staatlichkeit das Vorliegen eines bewaffneten Angriffs i. S. v. Art. 51 VNCharta, da die Angriffe gegen Uganda allein von der Rebellengruppe ADF („Allied Democratic Forces“) ausgingen. Eine Verwicklung der kongolesischen Regierung in deren Angriffe i. S. v. Art. 3 lit. g. der Aggressionsdefinition wurde nicht als erwiesen angesehen. Da dem Kongo keine substanzielle Involvierung in die bewaffneten Übergriffe durch die Rebellen gegen Uganda nachgewiesen werden konnte, lagen die faktischen und rechtlichen Voraussetzungen nicht vor, die Selbstverteidigungsmaßnahmen nach Art. 51 VNCharta gerechtfertigt hätten (para. 139 bis 147). In der völkerrechtlichen Literatur wird der IGH dahingehend kritisiert, dass er in seinen Ausführungen bisher keine „grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Recht auf Selbstverteidigung gegen nichtstaatliche Akteure“ vorgenommen habe; insbesondere vor dem Hintergrund, dass der SR diesbezüglich „eine offenere Position“ vertritt. So übersehe der IGH, „dass die fehlende Erwähnung der Staatlichkeit des bewaffneten Angriffs in Art. 51 UN-Charta im Gegensatz zu Art. 2 (4) UN-Charta gerade ein Indiz für die Einbeziehung nichtstaatlicher Gewaltakte in Art. 51 UN-Charta darstellen könnte“. Darüber hinaus wird die Frage aufgeworfen, da Art. 51 VN-Charta 126 Siehe ausführlich zu dem Gutachten J. Hoffmann/T. Pierlings, Construction of a Wall in the Occupied Territory, in: J. Menzel et al. (Hrsg.), Völkerrechtsprechung, S. 868 ff. 127 Dies., ebd., S. 876: „Article 51 of the Charter thus recognizes the existence of an inherent right of self-defense in the case of armed attack by one State against another State. However, Israel does not claim that the attacks against it are imputable to a foreign State. The Court also notes that Israel exercises control in the Occupied Palestinian Territory and that, as Israel itself states, the threat which it regards as justifying the construction of the wall originates within, and not outside, that territory. (…) Consequently, the Court concludes that Article 51 of the Charter has no relevance in this case“ (Ziff. 138). 128 Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, Advisory Opinion, ICJ Reports 2004, S. 136 (para. 139). 129 Armed Activities on the Territory of the Congo (Democratic Republic of the Congo vs. Uganda), Judgment, ICJ Reports 2005, S. 168.
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eine Ausnahme vom Gewaltverbot nach Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta darstelle, „ob der bewaffnete Angriff zuvor gegen das Gewaltverbot verstoßen haben muss“. Auch wenn Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta lediglich für Staaten gilt, ließe dies jedoch keinen Rückschluss darauf zu, ob nicht auch Private einen bewaffneten Angriff i. S. v. Art. 51 VN-Charta ausüben können. Eine „strukturelle Entsprechung“ in der Staatlichkeitsfrage von beiden Normen soll es aber nach Kreß nur insoweit geben, dass es sich bei den Adressaten von Verbots- und Erlaubnissatz um Staaten handeln muss130. Wenn das Tatbestandsmerkmal „bewaffneter Angriff“ auf Gewaltanwendung durch Private erstreckt wird, unterliegen Staaten weiterhin dem Gewaltverbot und dürfen als Adressaten des Art. 51 VN-Charta nur unter der Voraussetzung eines bewaffneten Angriffs zu militärischen Gegenmaßnahmen i. S. d. Selbstverteidigungsrechts greifen131. In die Auslegung der „Binnensystematik“ ist auch Art. 39 VN-Charta einzubeziehen. Die Befugnis zur Selbstverteidigung findet nur subsidiär Anwendung, „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“. Damit ist das Recht auf Selbstverteidigung integraler Bestandteil des Systems der kollektiven Sicherheit und demgemäß grundsätzlich der Begriff „bewaffneter Angriff“ restriktiv auszulegen. Auch wenn der SR in einer früheren Resolution zu erkennen gegeben hat, dass auch „private“ Gewalt den Weltfrieden sowie die internationale Sicherheit bedrohen kann132 und auch das „moderne“ völkerrechtliche Friedensverständnis133 das Ausbleiben von privater Gewalt in die Definition mit einschließt, ist dies kein Beleg für eine Abkehr vom Staatlichkeitserfordernis. Der Binnensystematik des Art. 51 VN-Charta innerhalb von Kapitel VII der VN-Charta kann – selbst wenn man ein „weites Friedensverständnis“ annimmt – keine entsprechende Ausweitung des Rechts auf Selbstverteidigung auf „private“ Angriffe entnommen werden.134
130 C. Kreß, 131 So
Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 212. K. Weigelt, Internationaler Terrorismus und staatliche Souveränität, S. 76 f.
m. w. N. 132 S/RES/748 (1992) vom 31. März 1992, 4. Präambelerwägung. 133 M. Scholz, Staatliches Selbstverteidigungsrecht gegen terroristische Gewalt, S. 75 ff.; T. Bruha, Gewaltverbot und humanitäres Völkerrecht nach dem 11. September 2001, in: AVR 40 (2002), S. 390; C. Tietje/K. Nowrot, Völkerrechtliche Aspekte militärischer Maßnahmen gegen den internationalen Terrorismus, in: NZWehrr. 44 (2002), S. 9; L. Mammen, Völkerrechtliche Stellung von internationalen Terrororganisationen, S. 93 ff. 134 A. A. M. Scholz, Staatliches Selbstverteidigungsrecht gegen terroristische Gewalt, S. 77; K. Weigelt, Internationaler Terrorismus und staatliche Souveränität, S. 79.
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Teil 4, Kap. 3: Der „Anti-Terror-Krieg“ in Afghanistan
(3) Teleologische Auslegung In erster Linie dient das Recht auf Selbstverteidigung der staatlichen Selbsterhaltung, sodass der Schutzfunktion des Art. 51 VN-Charta eine wichtige Funktion zukommt135. Fraglich ist, ob sich die Norm auf das Schutzprinzip reduzieren lässt oder ob eine Völkerrechtswidrigkeit vorliegen muss. Dies ist in Fällen von Belang, in denen ein Staat Selbstverteidigungsmaßnahmen eines anderen Staates gegen nichtstaatliche Akteure ausgesetzt ist, ohne vorher selbst ein völkerrechtliches Unrecht, wie einen bewaffneten Angriff, verübt zu haben. Eine derartig umfassende Interpretation des Art. 51 VNCharta solle vor allem vor dem Hintergrund gelten, dass die VN-Charta dem „Sinn und Zweck entsprechend […] vor allem als ein lebendiges Dokument dynamisch ausgelegt werden (sollte)“136, da bewaffnete Gewalt im 21. Jahrhundert nicht mehr allein von Staaten ausgeht. Dies bedeutet für den Begriff des „bewaffneten Angriffs“, dass weniger eine formell an die Staatlichkeit des Angreifenden als materiell an die Intensität der Angriffshandlung anknüpfende Deutung der friedenssichernden Funktion des Kapitels VII der VN-Charta angezeigt sei137. Allerdings lässt sich unter Heranziehung der historischen Auslegung sowie der Entstehungsgeschichte des Art. 51 VN-Charta138 eine extensive Auslegung und derartige Interpretation nicht begründen. bb) Zusammenfassung hinsichtlich des Staatlichkeitserfordernisses Die Textauslegung hat ergeben, dass in den untersuchten Sprachfassungen die Staatlichkeit eines Angriffs die Voraussetzung bildet, um einen solchen als „bewaffneten Angriff“ i. S. d. Art. 51 VN-Charta zu qualifizieren. Diese 135 Bei der teleologischen Auslegung nach der effet utile-Regel ist diejenige von mehreren Interpretationen zu wählen, die dem Sinn und Zweck der Vertragsnorm am ehesten gerecht wird. Vgl. S. Kadelbach, in: B. Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN, Vol. I, Interpretation, Rdnr. 32 ff. Für die VN-Charta hatte Richter de Visscher in einem abweichenden Votum dargestellt, dass die Vertragsnormen der Charta so auszulegen sind, dass sie einander ergänzen und nicht in Widerspruch zueinander stehen – International Status of South-West Africa (Advisory Opinion), ICJ Reports 1950, Separate Opinion, S. 187. 136 K. Weigelt, Internationaler Terrorismus und staatliche Souveränität, S. 80. 137 M. Kotzur, Krieg gegen der Terrorismus, in: AVR 40 (2002), S. 471; J. Frowein, Der Terrorismus als Herausforderung für das Völkerrecht, in: ZaöRV 62 (2002), S. 887; C. Tomuschat, Der. 11. September 2001 und seine rechtlichen Konsequenzen, in: EuGRZ 28 (2001), S. 540; R. Wedgwood, The ICJ Advisory Opinion on the Limits of Self-Defense, in: AJIL 99 (2005), S. 58. 138 Vgl. Teil 2, Kap. 2, C. I.; K. Weigelt, Internationaler Terrorismus und staatliche Souveränität, S. 81 ff.
A. Völkerrechtliche (Rechts-)Grundlagen für getätigte NATO-Maßnahmen383
Auffassung wird letztlich auch vom IGH bekräftigt, der in dieser Frage eine sehr restriktive Position einnimmt, indem er eine staatliche Zurechnung über die „Effective-control“-Regel fordert. Gleichwohl ist anzumerken, dass er damit im Widerspruch zu Teilen der Völkerrechtslehre steht, die durchaus terroristische, nichtstaatliche Gewaltanwendungen als bewaffneten Angriff bewerten, der zu Selbstverteidigungsmaßnahmen legitimiere139. b) Zwischenergebnis Die überzeugenderen Argumente sprechen dafür, dass das Staatlichkeitserfordernis normativ vorauszusetzen ist. Aus diesem Grund bedarf es keiner vertieften Auseinandersetzung hinsichtlich des Merkmals „bewaffnet“. Entscheidend ist diesbezüglich insoweit, ob nachhaltig in großem Ausmaß lebenswichtige Infrastruktur eines Staates zerstört wird, die nicht sofort wieder aufgebaut werden kann140. Darüber hinaus bedarf es auch keiner näheren Befassung mit der Schwere der Intensität eines Angriffs. Der IGH hat ein „Significant-scale“-Erfordernis aufgestellt, welches er bis dato nicht abschwächte141. Insofern muss jeder konkrete bewaffnete Angriff individuell betrachtet werden, um zu bewerten, in welchem Umfang Selbstverteidigungsmaßnahmen zulässig sind.
139 Selbst wenn man der Ansicht folgt, dass Terroranschläge als bewaffnete Angriffe i. S. v. Art. 51 VN-Charta anzusehen seien, wird von deren Befürwortern verlangt, dass neben dem Ausmaß (scale and effects) des Angriffs, der einem staatlich verübten zu entsprechen (equivalent) bzw. vergleichbar zu sein hat, dieser auch einem dahinterstehenden Staat zuzurechnen (attributable, imputable) ist. Siehe ausführlich hierzu J. Föh, Bekämpfung des internationalen Terrorismus, S. 164 ff. m. w. N. sowie K. Weigelt, Internationaler Terrorismus und staatliche Souveränität, S. 45 ff. m. w. N. Für die dort jeweils vorgenommene weite Auslegung gibt es jedoch keine normative Rechtfertigung in der VN-Charta. Selbst wenn man der Auffassung folgt, dass sich mit den Anschlägen vom 11. September 2001 – und deren Folgen – Völkergewohnheitsrecht entwickelt hat, so zeigen aktuelle weltpolitische Ereignisse (insbesondere in Syrien), dass es gerade keine gemeinsame Staatenpraxis in Bezug auf den Kampf gegen den internationalen Terrorismus gibt, um Völkergewohnheitsrecht zu etablieren. 140 A. Randelzhofer/G. Nolte, in: B. Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the UN, Vol. II, Art. 51, Rdnr. 43. 141 Vgl. Case Concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua vs. United States of America), Urt. v. 27. Juni 1986, ICJ Reports 1986, S. 103 para 195.
384
Teil 4, Kap. 3: Der „Anti-Terror-Krieg“ in Afghanistan
3. Keine Anwendung des – kollektiven – Selbstverteidigungsrechts nach dem 11. September 2001 Fasst man nun die jeweiligen Faktoren und Argumente zusammen, so gelangt man zu dem Ergebnis, dass auf die terroristischen Angriffe vom 11. September 2001 auf normativer Ebene keine – kollektiven – Selbstverteidigungsmaßnahmen zulässig waren, da es an den tatbestandlichen Voraussetzungen eines „bewaffneten Angriffs“ i. S. d. Art. 51 VN-Charta fehlte. Gestützt wird dieses Ergebnis durch die Begutachtung der S/RES/1368 (2001) und S/RES/1373 (2001), in denen der SR weder ausdrücklich festgestellt hat, dass es sich bei den terroristischen „9/11“-Anschlägen tatsächlich um einen „bewaffneten Angriff“ i. S. d. Art. 51 VN-Charta handelte und damit die Voraussetzung für die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts vorlagen noch dass ein solcher Angriff überhaupt von nicht-staatlichen Akteuren verübt werden kann. Gleichzeitig wurde dies seitens des SR aber auch nicht ausgeschlossen – wohl schon deshalb, da derartige gegenteilige Äußerungen von den USA schlicht ignoriert und die Autorität des SR gänzlich untergraben worden wäre, sodass auf entsprechend „offene Formulierungen“ zurückgegriffen wurde. Wohl auch aus diesem Grund findet sich in der – „westlichen“ – Völkerrechtslehre, insbesondere nach „9/11“, eine Vielzahl von Erklärungsversuchen, die dem angegriffenen Staat ein Recht zur Gegenwehr zugestehen und dem Aufenthaltsstaat eine Duldungspflicht der Abwehrmaßnahmen gegen die in seinem Hoheitsgebiet befindlichen „Privaten“ auferlegt.142 Allerdings führt diese Auslegung letztlich zu einer „Umgehung“ der VN-Charta, da insbesondere die Intervention in Afghanistan gezeigt hat, dass nicht nur Anschläge von „Privaten“ verübt wurden, sondern auch die Gegenwehr mehr
142 M. Scholz, Staatliches Selbstverteidigungsrecht gegen terroristische Gewalt, S. 102 ff.; T. Bruha, Gewaltverbot und humanitäres Völkerrecht nach dem 11. September 2001, in: AVR 40 (2002), S. 393; C. Stahn, The Right to Self-defence Under Art. 51 UN Charter and International Terrorism, in: C. Walter et al. (Hrsg.), Terrorism as a Challenge for National and International Law, S. 864; M. Krajewski, Selbstverteidigung gegen bewaffnete Angriffe nicht-staatlicher Organisationen, in: AVR 40 (2002), S. 197 ff.; Y. Dinstein, War, Aggression and Self-Defence, S. 227 f.; J. Frowein, Der Terrorismus als Herausforderung für das Völkerrecht, in: ZaöRV 62 (2002), S. 887; I. Löw, Gewaltverbot und Selbstverteidigung nach dem 11. September 2001, S. 161 ff.; D. Bethlehem, Self-Defense Against an Imminent or Actual Armed Attack by Nonstate Actors, in: AJIL106 (2012), S. 776; D. Kretzmer, The Inherent Right to Self-Defence, in: EJIL 24 (2013), S. 244 ff.; E. Wilmshurst/M. Wood, Self-Defense Against Nonstate Actors, in: AJIL 107 (2013), S. 393; D. Akande/T. Liefländer, The Law of Self-Defense, in: AJIL 107 (2013), S. 563 f.; M. Hmoud, Are New Principles Really Needed?, in: AJIL 107 (2013), S. 576.
A. Völkerrechtliche (Rechts-)Grundlagen für getätigte NATO-Maßnahmen385
und mehr „privatisiert“ wurde. In diesem Kontext wird infolgedessen auch ganz allgemein von einer „Privatisierung des Kriegs“ gesprochen. Zusammenfassend ist damit festzuhalten, dass die „9/11“-Anschläge schwerste und abscheuliche internationale Verbrechen waren. Aber sie waren kein „bewaffneter Angriff“ Afghanistans gegen die Vereinigten Staaten von Amerika. Als solcher hätten sie nur gewertet werden können, wenn sie dem Staat Afghanistan und der Taliban-Regierung in mittelbarer Verantwortung zugerechnet werden müssten. Das würde voraussetzen, dass die terroristischen Verbrecher vom 11. September 2001 entweder im Auftrag, unter der Leitung oder der Kontrolle der damaligen afghanischen Autoritäten gehandelt hätten. Ferner, dass der Staat Afghanistan die Terror-Organisation al-Qaida mit der Durchführung der Anschläge beauftragt hätte oder maßgebend darin verwickelt wäre. Dafür fehlt bis heute, mehr als fünfzehn Jahre danach, ein stichhaltiger Beweis. Es steht wohl außer Zweifel, dass Afghanistan unter den Taliban durch Duldung und Unterstützung von al-Qaida Völkerrecht verletzt hat. Aber dass dadurch der Schutz des Gewaltverbots für Afghanistan entfällt, ist contra legem. Ein Recht auf Rache, Bestrafung und Vergeltung kennt das Selbstverteidigungsrecht nicht. Kurzum: Es gibt kein Recht, gegen andere Staaten unter dem Vorwand der Selbstverteidigung einen „Krieg gegen den Terror“ zu führen, ohne dass ein „bewaffneter Angriff“ vorliegt. Vielmehr bleibt zu konstatieren, dass die USA und ihre Verbündeten Afghanistan mit einem bewaffneten Angriff „überzogen“ haben.
III. Deckt der NV das Tätigwerden der NATO im Rahmen des ISAF-Mandats? Nachdem ermittelt worden ist, dass die normativen Voraussetzungen des Art. 51 VN-Charta nach den „9/11“-Anschlägen nicht vorgelegen haben, stellt sich nunmehr die Frage, ob die Zwangsmaßnahmen des Nordatlantikbündnisses vom NV gedeckt war. Die NATO hatte einen Tag nach den Terroranschlägen am 12. September 2001 die Ausrufung des Bündnisfalls angekündigt, „sofern die Terrorangriffe von außen gegen die USA gerichtet waren“. Mit diesem „Nachweis“ ließen sich die USA bis zum 2. Oktober Zeit, obwohl die Taliban-Regierung und die Terrororganisation al-Qaida als Täter bereits ohne Beweisantritt festgestellt wurden. Daraufhin beschloss der NATO-Rat am 4. Oktober zum ersten Mal in der Geschichte des Bündnisses den sog. Bündnisfall.
386
Teil 4, Kap. 3: Der „Anti-Terror-Krieg“ in Afghanistan
Wie bereits festgestellt143, bietet Art. 5 NV keine eigenständige (Rechts-) Grundlage für das Selbstverteidigungsrecht und gewährt keine Befugnisse, die über Art. 51 VN-Charta hinausgehen. Art. 5 NV bezieht sich ausdrücklich auf Art. 51 VN-Charta und bewertet einen „bewaffneten Angriff“ gegen einen oder mehrere NATO-Mitgliedstaaten als Angriff gegen alle und verpflichtet zum Beistand. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 51 VN-Charta lagen in diesem Fall nicht vor, sodass ein Fall der Selbstverteidigung nach Art. 51 VN-Charta nicht darunter subsumiert werden konnte. Im Ergebnis widersprach die Ausrufung des Bündnisfalls damit dem NV. Als die NATO-Mitgliedstaaten am 5. Oktober auf Bitten der USA insgesamt acht Maßnahmen zur Unterstützung der USA beschlossen, beriefen sie sich – fälschlich – auf das kollektive (Selbst-)Verteidigungsrecht. Zu den Maßnahmen gehörten Überflugrechte für US-amerikanische Kampfflugzeuge, Zugangsrechte zu Häfen und Flughäfen für US-amerikanische Truppen und die Verlegung eigener NATO-Truppen. Grundsätzlich ist dazu jeder NATO-Mitgliedstaat nur dann ermächtigt, wenn die Voraussetzungen des Art. 5 NV i. V. m. Art. 51 VN-Charta vorliegen würden. Das war zum Zeitpunkt der NATO-Beschlüsse und auch in der Zeit danach noch viel weniger der Fall. Insofern deckte der NV jene acht Maßnahmen des Bündnisses nicht. Eine „Ablösung“ des SR vom – nicht von der VN-Charta gedeckten – Recht auf Selbstverteidigung erfolgte mit der Mandatierung zur NATO- geführten International Security Assistance Force (ISAF) durch S/RES/1386 (2001) vom 20. Dezember 2001 sowie durch Verhängung der Sanktionen gegen die Terrororganisation al-Qaida und die Taliban in S/RES/1390 (2002) vom 16. Januar 2002144. Beide Resolutionen sind auf Grundlage von Kapitel VII der VN-Charta erlassen worden, sodass ab diesem Zeitpunkt eine Rechtsgrundlage für militärische Maßnahmen durch ein konkretes „Mandat“ des SR bestand. In der zweiten und dritten Begründungserwägung wird ausdrücklich an die Friedensbedrohung nach Art. 39 VN-Charta der S/RES/1368 (2001) und S/RES/1373 (2001) angeknüpft. Diese Verknüpfung kann als Indiz145 dafür betrachtet werden, dass der SR entsprechende Maßnahmen treffen wollte. 143 Vgl.
Teil 2, Kap. 2, C. und D sowie Teil 3, Kap. 1, B. und D. dem Bonner Abkommen sollte diese VN-mandatierte Truppe die afghanische Regierung bei der Wahrung der Sicherheit unterstützen. Vgl. auch Brief des GS an den Präsidenten des SR, S/2001/1154, v. 5. Dezember 2001 (Annex 1, Abs. 3). 145 Gleichwohl wäre eine in dieser Frage im Ergebnis ablehnende Antwort des SR von den USA mit einem Veto bedacht worden, wenn diese die Aufhebung des „Selbstverteidigungsrechts“ bedeutet hätten. Im Hinblick auf S/RES/1386 (2001) spricht aber einiges dafür, die Einsetzung der ISAF als Maßnahme zur Unterstützung der afghanischen (Übergangs-)Regierung und nicht als solche zur Wiederherstellung oder Wahrung von Frieden und internationaler Sicherheit anzusehen. Denn ihre Auf144 Gem.
B. Bewertung der Einzelmaßnahmen der NATO387
B. Bewertung der Einzelmaßnahmen der NATO Der Afghanistankrieg war letztlich die Antwort der Vereinigten Staaten von Amerika auf „9/11“. Die Bewertung, ob dieser Krieg dem geltenden Völkerrecht entsprach, fällt in der Völkerrechtslehre unterschiedlich aus. Prinzipiell sind für die Bewertung der NATO-Maßnahmen mehrere zeitliche Phasen zu unterscheiden. Die Ausrufung des Bündnisfalls am 4. Oktober 2001 erfolgte völkerrechtswidrig, da dieser gem. Art. 5 NV voraussetzt, dass der Anwendungsbereich des Art. 51 VN-Charta eröffnet ist. Tatbestandlich setzt diese Norm einen „bewaffneten Angriff“ auf einen Mitgliedstaat der VN voraus. Normativ muss dieser – wie zuvor dargelegt – grundsätzlich von einem anderen Staat ausgehen. Dies war bei den terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001 nicht der Fall, sodass kein „bewaffneter Angriff“ vorlag und damit eine Ausrufung des Bündnisfalls keine Grundlage im NV finden konnte. Darüber hinaus basiert nicht nur die Ausrufung des Bündnisfalls, sondern auch die am 5. Oktober 2001 auf Bitten der USA beschlossenen acht Maßnahmen zur Unterstützung der Vereinigten Staaten, völkerrechtswidrigerweise auf dem kollektiven (Selbst-)Verteidigungsrecht. Erst mit der Mandatierung zur NATO-geführten International Security Assistance Force (ISAF) durch S/RES/1386 (2001) vom 20. Dezember 2001 sowie durch Verhängung der Sanktionen gegen die Terrororganisation al-Qaida und die Taliban in S/RES/1390 (2002) vom 16. Januar 2002 erlangte die NATO für ihre militärischen Maßnahmen eine Rechtsgrundlage, die mit dem geltenden Völkerrecht im Einklang stand.
gabe ist darauf beschränkt, zur Unterstützung des Bonner Abkommens für Stabilität in Afghanistan zu sorgen (S/RES/1510 [2003], op. 1). Der SR fordert die ISAF außerdem ausdrücklich zu engen Abstimmungen mit der OEF-Koalition auf (vgl. bereits S/RES/1623 [2005], op. 4 sowie weiterhin S/RES/1890 [2009], op. 5). Folglich geht der SR davon aus, dass beide Operationen unterschiedliche Mandate haben. Vgl. J. Föh, Bekämpfung des internationalen Terrorismus, S. 172.
Kapitel 4
Der internationale Militäreinsatz in Libyen A. Völkerrechtliche (Rechts-)Grundlagen für die getätigten NATO-Maßnahmen Der abschließend zu begutachtende Anlassfall betrifft den internationalen Militäreinsatz in Libyen ab März 2011146. Gegenstand der Untersuchungen sind die S/RES/1970 (2011) und S/RES/1973 (2011), in denen der SR scheinbar das Konzept der Schutzverantwortung umgesetzt hat. Insofern ist zu klären, ob die Umsetzung des Konzepts der Schutzverantwortung durch die NATO als eine vom NV erfasste Aufgabenzuweisung anzusehen ist. Darüber hinaus wird untersucht, ob die militärischen Zwangsmaßnahmen der NATO die Resolutionsanordnung überschritten haben. Sofern dies zu bejahen ist, wem die Bewertung dieser Frage obliegt und welche Konsequenzen sich aus einer solchen Überschreitung ergeben. Mit dem Argument, dass man es nicht zulassen könne, dass Gaddafi „sein eigenes Volk ermordet“, warb die französische Regierung schließlich für eine internationale militärische Unterstützungsaktion gegen die Truppen des Gaddafi-Regimes. Am 17. März 2011 verabschiedete dazu der SR die S/RES/1973 (2011)147. Auf Grundlage dieser Resolution begann am 19. März 2011 eine Koalition – angeführt von Frankreich, dem Vereinigten Königreich und den USA – im Rahmen der „Operation Odyssey Dawn“ mit der Bombardierung Libyens148. Am 31. März 2011 ging das Kommando auf die NATO im Rahmen der „Operation Unified Protector“ über. Innerhalb der siebenmonatigen Intervention wurden 26.500 Lufteinsätze mit insgesamt 9.500 Bombardierungen geflogen149. Die Liquidierung des Revolutionsführers Gaddafi am 20. Oktober 2011 beendete die militärische Intervention.
146 Vgl.
hierzu auch Teil 1, Kap. 2, D. (2011) v. 17. März 2011. 148 J. Wagner, Der Libyen-Krieg und die Interessen der NATO, in: J. Becker/ G. Sommer (Hrsg.), Der Libyen-Krieg, S. 113. 149 Ders., ebd., S. 113. 147 S/RES/1973
A. Völkerrechtliche (Rechts-)Grundlagen für getätigte NATO-Maßnahmen389
Mit der zunehmenden Dauer des Militäreinsatzes wuchs jedoch die internationale Kritik am Vorgehen in Libyen. China150 warnte im SR vor einer willkürlichen Interpretation der beiden Resolutionen und vor mandatswidrigen Handlungen und betonte, dass allein das libysche Volk über die inneren Angelegenheiten und das Schicksal Libyens entscheiden dürfe. Von russischer Seite151 wurde moniert, dass das Mandat mit der Bombardierung ziviler Einrichtungen und der Tötung von Zivilisten missachtet worden sei. Und Südafrika152 ermahnte wiederholt, dass die Intention der S/RES/1973 (2011) auf den Schutz von Zivilisten gerichtet gewesen sei – und nicht auf einen Regimewechsel sowie die Tötung bestimmter Personen. Zudem seien mögliche Völkerrechtsverbrechen bei der Umsetzung der Resolution ebenso durch den IStGH untersuchen zu lassen wie die Taten des Gaddafi-Regimes153. Insgesamt führte das militärische Eingreifen der westlichen Staaten sowie der NATO zu grundlegenden politischen Änderungen – entgegen dem Inhalt des Resolutionsentwurfs, dessen Zweck explizit darin bestand, Zivilisten vor Angriffen zu schützen. Eine politische wie wirtschaftliche Stabilisierung und damit auch verbesserte Sicherheitslage für die Bevölkerung ging daraus bis dato (2018) nicht hervor.
I. Die Anwendung und Umsetzung des Konzepts der „Responsibility to Protect“ Das Konzept der Schutzverantwortung („Responsibility to Protect“ – R2P) stützt sich im Wesentlichen auf die Mitte der 1990er-Jahre am Brookings Institute154 in Washington D.C. entwickelte Formel der „sovereignty as responsibility“ und den nach Ende des Zweiten Weltkriegs implementierten Menschenrechtskatalog. Die Legitimationskriterien für militärische Interventionen entstammen in diesem Zusammenhang den moralphilosophischen Reflexionen des gerechten Kriegs155.
150 VN-Dok. 151 VN-Dok.
S/PV.6528, v. 4. Mai 2011, S. 10. S/PV.6531, v. 10. Mai 2011, S. 9; VN-Dok. S/PV.6620 v. 16. Septem-
ber 2011, S. 3. 152 VN-Dok. S/PV.6566, v. 27. Juni 2011, S. 4; VN-Dok. S/PV.6595 v. 28. Juli 2011, S. 4. 153 VN-Dok. S/PV.6528, v. 4. Mai 2011, S. 11. 154 Beim Brooking Institute handelt es sich um eine US-amerikanische „Denk fabrik“ mit Sitz in Washington D.C. Sie beschreibt sich als „unabhängige Organisation für Forschung, Bildung und Publikation mit Fokus auf öffentliche Politik in den Gebieten Wirtschaft, Auslandspolitik und Staatsführung“. 155 Zum „Gerechten Krieg“ vgl. auch Teil 2, Kap. 1, A. (S. 180, Fn. 5).
390
Teil 4, Kap. 4: Der internationale Militäreinsatz in Libyen
Aufgrund der vorherrschenden Situation im Kosovo Ende der 1990er-Jahre ergriff die kanadische Regierung im Jahr 2000 die politische Initiative und setzte eine International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS)156 ein. Die Kommission setzte sich zum Ziel, Handlungsvoraussetzungen und -verpflichtungen der Staatengemeinschaft bei schweren Menschenrechtsverletzungen eindeutig zu bestimmen. Nach gut einjähriger Arbeitsphase veröffentlichte die Kommission das Gutachten „Responsibility to Protect“ im Dezember 2001157. Auf dem VN-Weltgipfel 2005 („World Summit“) äußerten sich die Staaten erstmals zur Schutzverantwortung („Responsibility to Protect“ – R2P). Nur unter größten Anstrengungen158 fand die R2P in letzter Minute ihren Weg in das Gipfeldokument159. Der SR befasste sich erstmals im Jahr 2006 im operativen Teil seiner Resolution160 hinsichtlich des „Schutzes von Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten“ mit der R2P. Allerdings machte er sich diese nicht zu eigen, sondern verwies auf den Diskussionsstand des „World Summit“. Eine über diesen Stand hinausgehende Interpretation zur grundsätzlichen Bedeutung der R2P im Völkerrecht wurde seither im SR noch nicht vorgenommen161.
156 Bei der ICISS handelte es sich grundsätzlich um ein von der VN unabhängiges Gremium. Jedoch wurde der Bericht nach dessen Fertigstellung im Dezember 2001 vom damaligen VN-GS Kofi Annan entgegengenommen. Die Finanzierung der ICISS beruhte größtenteils auf Beiträgen der kanadischen Regierung, ferner auf Spenden der Carnegie Corporation, der William and Flora Hewlett Foundation, der John D. and Cathrine T. MacArthurFoundation, der Rockefeller Foundation, der Simons Foundation, sowie der englischen und der Schweizer Regierung. 157 International Commission on Intervention and State Sovereignty, The Responsibility to Protect. Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty, Ottawa 2001, (ICISS-Report). 158 Der Prozess der Einfügung der „R2P“ in das Gipfeldokument lässt sich dabei in drei Phasen gliedern. Phase 1 ist bestimmt von dem nicht unumstrittenen kanadischen Vorstoß, das Konzept in den Gipfeltext aufzunehmen. In Phase 2 setzte sich insbesondere VN-GS Kofi Annan für die „R2P“ ein und erhöhte so den Druck auf die verhandelnden Staaten. Phase 3 ist geprägt vom Gegenentwurf des US-amerikanischen Botschafters in den VN John Bolton zum bisherigen Entwurf des Gipfeldokuments – dies führte schließlich zu hektischen Überarbeitungen von großen Teilen des Texts. 159 A/RES/60/1, v. 24. Oktober 2005, Abschnitt 138–140. 160 S/RES/1674 (2006) vom 28. April 2006, op. 4. 161 Vgl. M. Wenzel, Schutzverantwortung im Völkerrecht, S. 43.
A. Völkerrechtliche (Rechts-)Grundlagen für getätigte NATO-Maßnahmen391
1. Die völkerrechtliche Einordnung des Konzeptes Nach überwiegender Auffassung der Völkerrechtslehre ist die R2P-Konzeption der ICISS keine neue Norm des Völkerrechts162. Vielmehr bleibt zu konstatieren, dass keines der Dokumente zur R2P eine Rechtsgrundlage für das Gesamtkonzept der „Responsibility to Protect“ liefert163. Der ICISS-Report ist als Rechtserkenntnisquelle (Art. 38 lit. d IGH-Statut) oder als soft law einzustufen164. Diese tragen nicht unmittelbar zur Rechtsentwicklung bei, sondern dienen generell nur der Feststellung des geltenden Rechts. Darüber hinaus lässt sich auch über das Weltgipfeldokument A/RES/60/1 und über die das Konzept der R2P bestätigenden Resolutionen des SR keine unmittelbare Verbindlichkeit des Konzepts begründen. Den Resolutionen der GV der VN kommt lediglich ein empfehlender Charakter zu, ohne weitere Bindungswirkung. Der SR kann zwar Resolutionen mit bindender Wirkung erlassen, dies aber jeweils nur konkret auf den Einzelfall bezogen – wie etwa im Fall der S/RES/1973 (2011). Die Begründung einer Bindungswirkung für das allgemeine Konzept der R2P scheidet insofern aus. Und auch bei sonstigen – über die VN-Charta hinausgehenden – Konstruktio nen lässt sich eine Bindungswirkung von Resolutionen der GV165 oder des SR nicht begründen166. Allerdings können die Resolutionen von SR und GV eine Bedeutung für die Entwicklung von Völkergewohnheitsrecht einnehmen, da diese grundsätzlich als „Beitrag der VN“ zu deren Entwicklung zu bewerten ist. Wie bereits ausgeführt167, tragen nicht nur Staaten, sondern auch andere Völkerrechtssubjekte – wie etwa internationale Organisationen – hierzu bei. Die Bestätigung der R2P im Weltgipfeldokument sowie die Erwähnung in Resolutionen des SR kann als diesbezügliche Praxis und Ausdruck der Rechtsüberzeugung der VN angesehen werden. Ob eine entsprechende Rechtsüberzeugung der Mitgliedstaaten vorliegt, ist hingegen fraglich. Das Verhalten der Staaten im Zusammenhang mit der Abstimmung über die jeweiligen Resolutionen kann jeweils nur als Indiz herangezogen werden. Im Zuge der 162 Vgl. M. Wenzel, Schutzverantwortung im Völkerrecht, S. 44 m. w. N.; a. A. C. Verlage, Responsibility to Protect, S. 171. 163 So A. Rausch, Responsibility to Protect, S. 68. 164 M. Wenzel, Schutzverantwortung im Völkerrecht, S. 45 m. w. N. 165 Für die GV werden solche in der völkerrechtlichen Literatur zwar diskutiert, aber weder werden die Resolutionen zu einer formellen Rechtsquelle erhoben, noch lässt sich eine Bindungswirkung über das Estoppel-Prinzip (vgl. W. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 19, Rdnr. 7) begründen. Zudem ist auch eine rechtfertigende Wirkung von GV-Resolutionen zu verneinen. 166 A. Rausch, Responsibility to Protect, S. 68 f. 167 Vgl. Teil 2, Kap. 2., A.
392
Teil 4, Kap. 4: Der internationale Militäreinsatz in Libyen
Gesamtbetrachtung müssen auch immer alle sonstigen Handlungen, Äußerungen und Unterlassungen berücksichtigt werden. Betrachtet man das Verhalten der Mitgliedstaaten beim „Zustandekommen“ des Gipfeldokuments, A/RES/60/1, auf dem „World Summit“ und auch die Umstände der Verabschiedung der S/RES/1973 (2011), kann nicht von einer Rechtsüberzeugung der Mitgliedstaaten ausgegangen werden. Insofern ist das Konzept der R2P nicht als Völkergewohnheitsrecht einzustufen168. 2. Merkmale und Anwendungsvoraussetzungen Das Konzept der R2P hat sich seit Veröffentlichung des ICISS-Reports im Dezember 2001 bereits grundlegend gewandelt. Insbesondere die Verabschiedung des Gipfeldokuments auf dem „World Summit“169 bedeutete eine Abkehr von substanziellen Elementen der Schutzverantwortung, wie sie von ICISS konzipiert wurde. Sämtlichen Entwürfen170 zu R2P ist jedoch die Kernaussage gemeinsam, dass die staatliche Souveränität die Verantwortung zum Schutz der Bevölkerung vor schwersten Menschenrechtsverletzungen171 beinhaltet. Dieser Grundsatz, der am Brookings Institute bereits 1996 mit der prägnanten Formel „sovereignty as responsibility“ verbalisiert worden ist, determiniert den Schutz der Menschen als Wesensmerkmal staatlicher Unabhängigkeit. Staatliche Souveränität definiert und qualifiziert sich – in Abkehr zu dem Souveränitätsverständnis des Westfälischen Friedens – nicht mehr primär über das Abwehrrecht vor externen Eingriffen, sondern durch die Bereitstellung lebensnotwendiger Güter172. Die Regierungen sind dabei nicht nur der eigenen Bevölkerung gegenüber rechenschaftspflichtig, sondern auch 168 So wohl auch A. Rausch, Responsibility to Protect, S. 69; M. Wenzel, Schutzverantwortung im Völkerrecht, S. 44 f.; a. A. C. Verlage, Responsibility to Protect, S. 171. 169 Neben dem Gipfeldokument (A/RES/60/1) und deren Annahme durch die Generalversammlung (A/RES/63/308 vom 7. Oktober 2009) enthalten bis zum März 2013 auch 14 Resolutionen des SR einen Verweis auf die „R2P“ (S/RES/1653; S/RES/1674; S/RES/1706; S/RES/1894; S/RES/1970; S/RES/1973; S/RES/1975; S/RES/1996; S/RES/2014; S/RES/2016; S/RES/2040; S/RES/2085; S/RES/2093 und S/RES/2095). Vgl. D. Peters, Responsibility to Protect, S. 198 f. 170 Folgende Entwürfe sind zu unterscheiden: ICISS (2001), HLP (2004), ILF (2005), WSOD (2005), Implementing the „R2P“ (2009). 171 Die Kategorie der schwersten Menschenrechtsverbrechen umfasst die vier Kernverbrechen des WSOD – Genozid, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnische Säuberungen. 172 Als minimale Voraussetzungen für die Sicherung der menschlichen Würde gelten am Brookings Institute die Gewährung physischer Unversehrtheit vor gewaltsamen Angriffen sowie die Grundversorgung mit medizinischen Dienstleistungen,
A. Völkerrechtliche (Rechts-)Grundlagen für getätigte NATO-Maßnahmen393
gegenüber der internationalen Gemeinschaft. Die Rechenschaftspflicht gegenüber der internationalen Gemeinschaft betreffend die Einhaltung menschenrechtlicher und humanitärer Standards findet hierbei ihre Grundlage in den universellen Menschenrechtsabkommen. Diese allgemeine staatstheoretische Erkenntnis geht auf Hobbes zurück, der bereits erkannt hatte, dass es vornehmster Zweck des Staates sei, für das Wohl des Volks zu sorgen173. Insofern soll bei einer Verletzung des Leitmotivs der „sovereignty as respons ibility“, unter Abkehr vom Prinzip der Nichteinmischung, die internationale Gemeinschaft ihre ergänzende Verantwortung zur Durchsetzung staatlicher Pflichten erfüllen174. Das auf Grundlage von A/RES/60/1 beschlossene Konzept der Welt gemeinschaft hat letztlich die wichtigsten Komponenten des Prinzips der „sover eignty as responsibility“ übernommen, dagegen die substanziellen Neuerungen des ICISS-Reports – insbesondere all jene Elemente, die über geltendes Völkerrecht hinausgehen175 – fallengelassen176. Zusammenfassend bleibt damit festzuhalten, dass kein einheitliches Verständnis der „Responsibility to Protect“ existiert. Es ist vielmehr von einem konzeptionellen Charakter der R2P auszugehen. Insbesondere das Weltgipfeldokument weicht bezüglich der Eingriffsschwelle und der allgemeinen Anwendbarkeit erheblich von dem Konzept der R2P des ICISS-Reports ab.
II. Die Umsetzung des Konzepts der Schutzverantwortung durch die NATO als eine vom NV erfasste Aufgabenzuweisung? Der NATO wurden durch die S/RES/1973 (2011) – die nach der veröffentlichten Meinung die Implementierung der R2P beinhaltete – und die darin Nahrung und Unterkunft. Vgl. F. Deng/S. Kimaro/T. Lyons/D. Rothchild/W. Zartman, Sovereignty as Responsibility, S. 32 f. 173 Vgl. T. Hobbes, Leviathan, 1651, 30. Kapitel, 2. Teil. 174 Die internationale Verantwortung soll dabei aus drei Phasen bestehen: Wahrnehmung der Schutzverantwortung durch den jeweiligen Staat und die Anerkennung einer damit korrespondierenden internationalen Hilfsverantwortung, präventive diplomatische Unterstützung zur Vermeidung des Ausbruchs eines Konflikts sowie strengere diplomatische bis hin zu – vom SR autorisierten – militärische Maßnahmen für den Fall, dass die friedlichen Mittel versagt haben und das Ausmaß des menschlichen Leids diese erfordern. 175 Zur Legitimation einer militärischen Intervention müssen nach Ansicht der ICISS-Kommission sechs Kriterien erfüllt sein (der gerechte Grund; die rechte Autorität; die rechte Absicht; das letzte Mittel; berechtigte Erfolgsaussichten und Proportionalität der Mittel), die aus dem ius ad bellum und dem ius in bello abgeleitet werden. 176 D. Peters, Responsibility to Protect, S. 19 ff. m. w. N.
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autorisierten militärischen Zwangsmaßnahmen mit dem Konzept der Schutzverantwortung konfrontiert. Wie voranstehend ausgeführt, beruht das Konzept der R2P – wie auch die Humanitäre Intervention – darauf, dass Menschenrechtsverletzungen als „Interventionstitel“ dienen sollen. Fraglich ist, ob die Anwendung und Umsetzung einer Konzeption, die letztlich den Einsatz militärischer Zwangsmaßnahmen anhand ethischer und soziologischer Kriterien bemisst177, als eine vom NV erfasste Aufgabenzuweisung angesehen werden kann. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurde bereits umfassend untersucht178, welcher Aufgabenbereich und welche Handlungsbefugnisse dem Bündnis nach dem NV zukommen. Insbesondere wurde aufgezeigt, dass Art. 51 VN-Charta für die NATO als Verteidigungsbündnis die völkerrechtliche Grundlage für militärische Maßnahmen bildet. Schließlich wurde ebenfalls verdeutlicht, dass das Aufgabenfeld des Nord atlantikbündnisses nicht allein auf die kollektive Selbstverteidigung beschränkt ist. Die generalklauselartige Ausgestaltung einzelner Artikel des NV lässt vielmehr erkennen, dass die NATO auch andere Aufgaben im Zusammenhang mit der Förderung von Stabilität und Sicherheit sowie der Erhaltung von Frieden und Sicherheit abdecken kann. Dabei ist jedoch immer zu beachten, dass das gesamte Aufgabenfeld durch die Vorgaben der VN-Charta begrenzt ist. Zudem sind die Maßnahmen des Bündnisses grundsätzlich auf das Territorium der Mitgliedstaaten zu beschränken. Insofern könnte die Umsetzung des Konzepts der R2P als eine vom NV erfasste Aufgabenzuweisung anzusehen sein, wenn sie mit den Vorgaben der VN-Charta in Einklang steht. Wie zuvor ausgeführt, ist die R2P allerdings keine geltende Norm des Völkerrechts. Somit kann sie de lege lata Art. 42 VN-Charta als Grundlage völkerrechtlicher Gewaltbefugnisse nicht einfach verdrängen oder ersetzen. Nach den Vorgaben des Art. 39 VN-Charta bedarf es einer flächendeckenden, systematischen Zerstörung der internen Sicherheit eines Staates durch diesen selbst, als eines „weiteren Modus“ zur Gefährdung der internationalen Sicherheit bzw. Friedensgefährdung. Dies ist – bis dato – jedoch gerade nicht der Fall, da eine interne Friedensbedrohung nicht auch zugleich als eine äußere und damit „internationale“ i. S. d. Art. 39 VN-Charta angesehen wird. Gleichwohl gibt es in der völkerrechtlichen Literatur Stimmen179, die eine solche Friedensbedrohung auch bei „internen“ Konflikten bejahen. Sie begründen dies damit, dass ein Staat – 177 Vgl. M. Payandeh, Die Militärintervention in Libyen, in: Die Friedens-Warte 87 (2012), S. 84. 178 Vgl. Teil 2, Kap. 2, C. und Teil 3, Kap. 1, D. 179 R. Merkel, Die Intervention der NATO in Libyen, in: ZIS 6 (2011), S. 776 f.
A. Völkerrechtliche (Rechts-)Grundlagen für getätigte NATO-Maßnahmen395
der als rechtliche Zwangsordnung nur und allererst dadurch legitimiert ist, dass er seinen Bürgern die Grundbedingungen des inneren Friedens, vor allem die Sicherheit von Leib, Leben, elementarer Freiheit und Heimat gewährleistet – seine Legitimität dadurch verliert, wenn er deren Bedingungen nicht mehr erfüllt, ja sie systematisch und flächendeckend zerstört. Damit verletzt er mehr als die unabdingbaren Minimalrechte seiner eigenen Bürger: Er tastet zugleich eine universale Grundnorm an, die weltweit auch jedem anderen Staat das legitimatorische Fundament gibt – die normative Bedingung des rechtlichen Konstitutionsverhältnisses aller Staaten zu allen ihren Bürgern, also eine Grundnorm der staatlich verfassten Weltordnung. Wenn ein noch so fern gelegener Staat eine große Gruppe seiner eigenen Bürger systematisch verfolgt, foltert, ermorden lässt, dann verletzt er eine Norm, die nicht nur seinen Bürgern, sondern auch jedem anderen Bürger in seinem Heimatstaat ein elementares Recht auf Sicherheit garantiert. Bliebe ein derartiger Normbruch weltweit ohne Reaktion, dann zöge das den Beginn einer Erosion der Normgeltung nach sich. Und eine solche Erosion müsste die Sicherheit aller Menschen im Verhältnis zu allen ihren Staaten bedrohen, und damit diese Staaten in ihrer legitimen Verfasstheit selbst. Aus diesem Grund ist für Merkel bei schweren Völkerrechtsverbrechen in einem Staat normativ die ganze Gemeinschaft der Staaten zuständig. Dabei bezieht er seine Begründung auf jene Kants in dessen „Friedensschrift“180. Diese in der der Literatur vorgebrachten Legitimitätsaspekte sind bisher nicht vom SR als Begründung für eine „äußere“ Friedensgefährdung herangezogen worden. Insoweit besteht nach der aktuellen Systematik des SR keine normative Grundlage für die R2P. Aus diesem Grund ist die konkrete Umsetzung des Konzepts der Schutzverantwortung auch nicht als vom NV erfasste Aufgabenzuweisung anzusehen. Letztlich stützt sich S/RES/1970 (2011) allein auf Kapitel VII der VN-Charta, nicht dagegen auf die R2P – denn mehr als eine Erwähnung findet sie in der Resolution nicht181. 180 „Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, dass die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine nothwendige Ergänzung des ungeschriebenen Codex sowohl des Staatsals Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der continuirlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf.“ I. Kant, in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Band 8, Abhandlungen nach 1781, 1912, S. 360 (Hervorhebungen ebd.). 181 S/RES/1973 (2011): „Reiterating the responsibility of the Libyan authorities to protect the Libyan population and reaffirming that parties to armed conflicts bear the primary responsibility to take all feasible steps to ensure the protection of civilians“ (Hervorh. durch Verf.).
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B. Überschreiten der Resolutionsanordnung durch die NATO Am 26. Februar 2011 reagierte der SR mit S/RES/1970 (2011) auf die Situation in Libyen. In dieser Resolution führte er aus, dass die systematischen Angriffe auf die Zivilbevölkerung, die von der libyschen Regierung ausgingen, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu qualifizieren sein könnten. Ohne ausdrücklich eine Bedrohung des Friedens nach Art. 39 VN-Charta festgestellt zu haben, ergriff der SR Zwangsmaßnahmen unter Bezugnahme auf Kapitel VII und Art. 41 VN-Charta182. Aber weder die verhängten Sank tionen noch die Aussicht auf Strafverfolgung vermochten den Konflikt einzudämmen; vielmehr verschlechterte sich insbesondere die humanitäre Situation der Zivilbevölkerung. Die Lage spitzte sich zu, als libysche Truppen zum Angriff auf die von Aufständischen gehaltene Stadt Bengasi ansetzten183. Unter dem Eindruck dieser Geschehnisse verabschiedete der SR am 17. März 2011 die S/RES/1973 (2011). Der SR bezog sich erneut auf die Berichte von Menschenrechtsverletzungen und stellte fest, dass die Situation in Libyen weiterhin eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit darstelle. Unter Berufung auf Kapitel VII der VN-Charta verlangte der SR eine sofortige Waffenruhe sowie ein vollständiges Ende der Gewalt. Er ordnete die Errichtung einer Flugverbotszone an und ermächtigte die Mitgliedstaaten dazu, sämtliche erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Einhaltung dieses Verbots durchzusetzen. Darüber hinaus autorisierte der SR die Mitgliedstaaten zudem: „[…] to take all necessary measures […] to protect civilians and civilian populated areas under threat of attack in the Libyan Arab Jamahiriya, including Benghazi, while excluding a foreign occupation force of any form on any part of Libyan territory […]“184. 182 Er verlangte ein sofortiges Ende der Gewalt und forderte Libyen zur Beachtung seiner Verpflichtungen aus den Menschenrechten und dem humanitären Völkerrecht auf. Er verwies die Situation in Libyen an den IStGH und verhängte eine Reihe von Sanktionen, wie ein Waffenembargo sowie ein an einzelne Mitglieder des libyschen Regimes und der Familie Gaddafis gerichtetes Reiseverbot. Zudem ordnete er das Einfrieren von Geldern und Vermögenswerten des Regimes an. Vgl. S/RES/1970 (2011), Ziff. 1 ff. 183 Der Nationale Übergangsrat forderte die internationale Gemeinschaft zum Handeln auf und kündigte an, dass die Zurückeroberung Bengasis durch Gaddafi den Tod von einer halben Millionen Menschen bedeuten könnte. Gaddafi selbst bestätigte, dass ein Angriff auf Bengasi unmittelbar bevorstehe und dass er keine Gnade gegenüber Aufständigen zeigen werde, die sich nicht ergäben. Vgl. M. Payandeh, Die Militärintervention in Libyen, in: Die Friedens-Warte 87 (2012), S. 72 m. w. N. 184 Die Resolution wurde mit zehn Stimmen dafür, keiner Stimme dagegen und fünf Enthaltungen – von China, Russland, Brasilien, Deutschland und Indien – angenommen.
B. Überschreiten der Resolutionsanordnung durch die NATO397
Zwei Tage später begannen Frankreich, die USA und Großbritannien die Militäraktion gegen Libyen. Eine Koalition westlicher Staaten flog Luftangriffe gegen das libysche Militär vor Bengasi sowie gegen die libysche Luftwaffe und Luftabwehr. Am 22. März 2011 begann schließlich die NATOOperation „Unified Protector“ zur Durchsetzung des Waffenembargos mittels des Einsatzes von Marineeinheiten.
I. Dem SR obliegt die Bewertung und Festlegung der Maßnahmen zur Umsetzung der Resolutionsanordnungen Aufgrund der durch Art. 24 Ziff. 1 VN-Charta übertragenen Hauptverantwortung für die Friedenswahrung besitzt der SR eine ausschließliche Zuständigkeit hinsichtlich der Vornahme effektiver verbindlicher (Zwangs-)Maßnahmen.185 Gleichzeitig hat auch der SR bei Wahrnehmung seiner Aufgaben den – wenn auch weitgezogenen – Kompetenz- und Aufgabenrahmen der VN-Charta einzuhalten186. Bei der Befassung mit S/RES/1973 (2011) fällt auf, dass der SR gänzlich auf jede Einfluss- und Kontrollmöglichkeit hinsichtlich der Art, des Ausmaßes und der Dauer der Intervention verzichtet. Dieser „Verzicht“ berührt letztlich den Grundsatz der kollektiven Sicherheit nach Kapitel VII der VN-Charta. Deren Verfasser haben die alleinige Zuständigkeit für militärische Zwangsmaßnahmen dem SR, als Treuhänder der gesamten Staatengemeinschaft, übertragen. Darauf fußt das gesamte Völkerrecht seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Grundsatz der kollektiven Sicherheit bedeutet mehr als bloß die kontingente Übereinkunft der Signatare eines multilateralen Vertrages und mehr auch als nur eine möglichst effiziente prozedurale Sicherung materiellrechtlichen Voraussetzungen militärischer Gewalt187. Es ist vor allem der Ausdruck eines „legitimatorischen“ Prinzips. Von der unmittelbaren Notwehr eines überfallenden Staates (Art. 51 VNCharta) abgesehen, so lautet der Grundgedanke, soll allein die internationale Gemeinschaft als ganze – und als ihre treuhänderische Exekutive eben der SR – berechtigt sein, zwischenstaatliche militärische Gewalt anzuwenden. Insofern greift ein friedensbrechender Staat in das Grundprinzip allen Rechts ein: das Gewaltverbot (Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta). Und er tut dies in der globalen Sphäre der Staatenwelt. Damit macht er alle Staaten zu normativ Verletzten. Denn er erschüttert das normative Fundament, auf dem die 185 J. Delbrück, in: B. Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Art. 24, Rdnr. 9. 186 Ders., ebd., Rdnr. 11. 187 Zu diesem „procedural aspect“ der Art. 39 ff. VN-Charta T. Franck, Humanitarian Intervention, in: S. Besson/J. Tasioulas (Hrsg.), The Philosophy of International Law, S. 541 ff.
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rechtlich gesicherte Existenz jedes Einzelnen von ihnen beruht. Und deshalb ist es die Sache aller, diese unrechtliche Gewalt mit legitimer Gegengewalt zu brechen oder zu verhindern188. So wird die besondere Bedeutung fassbar, die dem Prinzip der Collective Security mitsamt der exklusiven treuhänderischen Zuständigkeit des SR bei der Autorisierung (legitimer) militärischer Zwangsmaßnahmen zukommt189. Vergegenwärtigt man sich diesen Maßstab bei der S/RES/1973 (2011), die den Intervenienten „alle erforderlichen Mittel“ der Gewaltanwendung erlaubt, wirft die Formel in ihrer groben Unbestimmtheit die Frage auf, ob der SR oder die Intervenienten festlegen, was „erforderlich“ ist? Hierbei ist anzumerken, dass sich das Völkerrecht seit Anfang der 1990er-Jahre an diese Wendung gewöhnt hat, als diese erstmals in der S/RES/678 (1990)190 verwendet worden ist. Seither stellt sie eine „geläufige“ Wendung dar191. Diese Praxis könnte damit ggf. eine gewohnheitsrechtliche Akzeptanz beanspruchen. Allerdings haben mehrere Staaten seither eine diesbezügliche Kritik formuliert. So hat Mexiko in einer Stellungnahme zur Haiti-Resolution S/RES/875 (1994), in der diese „Totaldelegation“ auftaucht, der darauf bezogenen Kritik plausiblen Ausdruck gegeben: „The foundation for the action proposed, as can be seen from the report of the Secretary-General, appears to be previous practice, that is, precedent […] [A] kind of carte blanche has been awarded to an undefined multinational force to act when it deems it to be appropriate. This seems to us an extremely dangerous practice in the field of international relations“192.
Zahlreiche weitere kritische Stimmen der Staatengemeinschaft haben diese Praxis des SR auch danach begleitet. Insofern ist eine gewohnheitsrechtliche Akzeptanz dieser Praxis nicht gegeben193. In S/RES/1973 (2011) wurde neben der gänzlichen Unbestimmtheit der autorisierten Mittel zudem eine „vage Konturlosigkeit des erlaubten Zwecks beigestellt“. Die Zuständigkeit 188 Insofern beruht das Konzept der „R2P“ darauf, dass auch der „staatsinterne“ Friedensbruch zur Verletzung und damit zur Sache aller werden kann, wenn er die Grundnorm jeder legitimen staatlichen Existenz im Verhältnis zu den eigenen Bürgern verletzt. 189 R. Merkel, Die Intervention der NATO in Libyen, in: ZIS 6 (2011), S. 781 f. 190 S/RES/678 (1990) vom 29. November 1990 zur Autorisierung militärischer Zwangsmaßnahmen gegen den Irak. 191 Eine Aufzählung der bis zum Jahr 2000 wichtigsten Beispiele, schon damals 25 an der Zahl, bei N. Blokker, Is the Authorization Authorized?, in: EJIL 11 (2000), S. 543 f. 192 Zit. bei ders., ebd., S. 558. 193 „(…) it is striking how often these resolutions are criticized, precisely for the reason that the Council does not control the operations it authorizes“, so ders., ebd., S. 555.
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zur jeweils konkreten Bestimmung, welche Gewalt „erforderlich“ sei und was „dem Schutz von Zivilisten“ diene, wird allein dem freien Ermessen der Intervenienten anheimgestellt. Dies führt nach Merkel letztlich dazu, dass das Fundamentalprinzip der kollektiven Sicherheit durch den SR verletzt wird, indem „die Überführung genuiner Kollektivgewalt in die schrankenlos autorisierte Ausübungsmacht jedes Einzelstaates, der ‚able and willing‘ ist“ überführt wird194. Dem SR obliegt somit die Pflicht, die autorisierten militärischen Maßnahmen grosso modo in der eigenen Hand zu behalten; jedenfalls so, dass er die Bestimmung der sachlichen und zeitlichen Grenzen der Gewaltanwendung für die wenigstens grundsätzliche Möglichkeit seiner eigenen Einflussnahme offenhalten muss. Hierzu verfügt er über eine Reihe von Möglichkeiten: Die wichtigste ist die zeitliche Befristung der militärischen Zwangsmaßnahmen. Dies umso mehr, wenn einer der Intervenienten ständiges Mitglied des SR ist. Denn mit seinem Vetorecht hat er es dann in der Hand, bei unbefristet autorisierten Interventionen jede spätere Einflussnahme des SR auszuschließen. Weitere Kontrollmittel wären ein verbindliches Monitoring der Gewaltanwendung oder der spezifizierte Ausschluss bestimmter Gewaltmittel und -ziele, die untersagt werden können. Nichts davon wurde in S/RES/1973 (2011) aufgenommen. Insofern schlussfolgert Merkel: Er hat ein Mitglied der VN „zum international outlaw erklärt und der gänzlich unkontrollierten Gewalt aller anderer Staaten nach deren eigenem Ermessen und zu einem nicht autorisierten Zweck preisgegeben“195.
II. Entscheidungs- und Handlungsalternativen des SR bei Überschreitung der Resolutionsanordnung Die von den Intervenienten vorgenommenen militärischen Zwangsmaßnahmen bedeuteten eine Überschreitung der S/RES/1973 (2011). Fraglich ist, welche Entscheidungs- und Handlungsalternativen dem SR bei Überschreitung einer Resolutionsanordnung zustehen. Vor Beantwortung dieser Frage bedarf es der Klärung, welche Reichweite die vom SR gefassten verbindlichen Beschlüsse grundsätzlich haben. Diese Frage wird im Völkerrecht zum Teil kontrovers diskutiert. Die Formulierung des in dieser Frage heranzuziehenden Art. 25 VN-Charta ist auslegungsbedürftig. Nach dem Wortlaut der Norm sind die Beschlüsse des SR „im Einklang mit dieser Charta anzunehmen und durchzuführen“. Es liegen Stimmen in der Literatur vor, die vertreten, dass lediglich Beschlüsse verbindlich sein 194 R. Merkel,
195 Ders. ebd.,
Die Intervention der NATO in Libyen, in: ZIS 6 (2011), S. 783. S. 783.
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sollen, die den Bestimmungen der Charta entsprechend ergangen sind196. Nach einer anderen Auslegung soll die Norm so zu lesen sein, dass sich die Worte „im Einklang mit dieser Charta“ auf die Verpflichtung der Mitglieder beziehen, die Beschlüsse anzunehmen und durchzuführen. Insoweit wären die verbindlichen Beschlüsse des SR im Einklang mit der VN-Charta anzunehmen und durchzuführen. In der völkerrechtlichen Kommentierung dieser Norm wird daher vertreten, dass aufgrund der Formulierung des Art. 25 VNCharta durchaus beide Auslegungen vertretbar seien197. Unter Berücksichtigung des Zwecks der Norm kann diese als Aufforderung an den SR verstanden werden, die jeweiligen Intervenienten anzuhalten, die in den Resolutionen vorgesehenen (militärischen) Zwangsmaßnahmen ordnungsgemäß umzusetzen. Sofern eine entsprechende Umsetzung nicht erfolgt, ist die Frage nach den Entscheidungs- und Handlungsalternativen des SR gegenüber dem jeweiligen Intervenienten zu beantworten. Der SR verfügt letztlich im Rahmen einer Einzelfallentscheidung ausschließlich über die Möglichkeit, Sanktionen für die Nichteinhaltung bzw. -befolgung von Resolutionsanordnungen zu verhängen. Eine derartige Sanktionsverhängung ist als eigenständige Entscheidung i. S. d. Kapitel VII der VN-Charta, also als Maßnahme gegen eine Friedensbedrohung anzusehen, die an die spezifische Wirkung der Nichtbeachtung der in Rede stehenden Resolution anknüpft198. Ob dieser Sanktionsmechanismus auch als „scharfes Schwert“ gegenüber der NATO bzw. einzelnen NATO-Mitgliedstaaten greifen würde, ist wohl eine Frage der Politik. Bei drei ständigen Vertretern des SR, die gleichzeitig Mitglieder des Nordatlantikbündnisses sind, ist es schwer vorstellbar, dass eigenes Handeln sanktioniert werden würde. Sofern die anderen Mitglieder des SR derartige Sanktionen beschließen wollten, würde wohl jeweils vom Veto-Recht Gebrauch machen werden. Im Ergebnis bleibt damit festzuhalten, dass der SR gegenüber der NATO wohl unter fast keinen Umständen einen Sanktionsbeschluss wegen Überschreitung einer Resolutionsanordnung fassen könnte, sodass ihm letztlich – außer einer Ermahnung – keine sank tionsbewährten Entscheidungs- und Handlungsalternativen zur Verfügung stehen.
196 So P. Rösgen, Rechtsetzungsakte der VN, S. 156 f. m. w. N.; krit. dazu G. Dahm, Völkerrecht (Bd. II), S. 212. 197 J. Delbrück, in: B. Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Art. 25, Rdnr. 6. 198 Ders., ebd., Rdnr. 10.
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C. Bewertung der Einzelmaßnahmen der NATO Wie sind nun die militärischen Zwangsmaßnahmen des Nordatlantikbündnisses im Einzelnen zu bewerten. Am 31. März 2011 übernahm die NATO die operationelle Kontrolle über die – am 19. März 2011 von westlichen und arabischen Staaten begonnenen – militärischen Aktivitäten. Die Operation umfasste Angriffe durch Flugzeuge und Kampfhubschrauber, den Beschuss von Bodenzielen durch von Schiffen abgefeuerte Raketen und Marschflugkörper sowie den Einsatz von Geheimdienstagenten, von militärischen Spe zialeinheiten und Kommandotruppen. Die intervenierenden Staaten stützten sich dabei auf S/RES/1973 (2011), welche die Rechtsgrundlage der militärischen Maßnahmen war199. Auch wenn der SR bei der Autorisierung der Intervention durch S/RES/1973 (2011) keine formellen Fehler begangen hat, ist hinsichtlich der materiellen Legitimität fraglich, ob die NATO mit ihren militärischen Maßnahmen in den Grenzen geblieben ist, welche ihnen in der Resolution gesteckt worden sind. Diese Frage wird in der Literatur durchaus mit einem eindeutigen Nein200 beantwortet. Dies gilt grundsätzlich nicht für die jeweils eingesetzten Mittel, sondern die damit verfolgten Zwecke. Der SR hat die Intervention allein zum Schutz von Zivilisten und zur Durchsetzung einer Flugverbotszone erlaubt201, nicht dagegen zum Sturz des bisherigen libyschen Regimes unter dem Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi. Bereits wenige Tage nach Beginn der militärischen Maßnahmen, insbesondere Luftangriffe, haben Mitglieder der französischen und englischen Regierung öffentlich klargestellt, dass die Intervention nicht ohne den Sturz Gaddafis beendet werde202. Diese Aussagen wurden als ein unmissverständliches militärisches Programm zum „regime 199 M. Brunner/R. Frau, Die Maßnahmen des SR in Bezug auf Libyen 2011, in: Humanitäres Völkerrecht 24 (2011), S. 199. 200 So etwa R. Merkel, Die Intervention der NATO in Libyen, in: ZIS 6 (2011), S. 772 ff. 201 Vgl. S/RES/1973 (2011), Ziff. 4 und 8. 202 Wenig später erschien in renommierten Zeitungen verschiedener Länder ein Artikel unter gemeinsamer Autorenschaft Barack Obamas, David Camerons und Nicolas Sarkozys, worin es heißt: „Unser Mandat unter VN-Resolution 1973 ist es, Zivilisten zu schützen; und das tun wir auch. Es lautet nicht, Gaddafi gewaltsam von der Macht zu entfernen. Aber eine Zukunft für Libyen mit Gaddafi an der Macht ist nicht vorstellbar. (…) Es gibt einen Weg zum Frieden, der den Menschen in Libyen Hoffnung verspricht – eine Zukunft ohne Gaddafi. (…) Damit dies gelingen kann, muss Gaddafi ein für allemal abtreten“. Zit. von R. Merkel, Die Intervention der NATO in Libyen, in: ZIS 6 (2011), S. 772, nach New York Times vom 14. April 2011, S. 1 (Libya’s Pathway to Peace).
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change“ interpretiert.203 Auch wenn dies aus politischer Sicht „nachvoll ziehbar“204 war, ändert es aber nichts an dem Umstand, dass S/RES/1973 (2011) die militärischen Zwangsmaßnahmen ausschließlich zum Schutz von Zivilisten – nicht aber zum Regimewechsel – autorisiert hat. Darüber hinaus ist in der Rückschau ebenfalls deutlich geworden, dass das legalisierte Ziel des Schutzes von Zivilisten hinter dem nicht erlaubten des „regime change“ nicht nur verschwand, sondern es umstandslos geopfert wurde. Insbesondere bei der Ablehnung jedes der diversen Waffenstillstandsangebote Gaddafis wurde dies deutlich. Ebendiese waren gewiss kein Ausdruck geläuterter Moral, um sie für realistisch zu halten. Gleichwohl war die NATO vor dem Hintergrund des alleinigen Mandats in S/RES/1973 (2011) – libysche Zivilisten zu schützen, und zwar vor allem gegen den Verlust ihres Lebens – unbedingt verpflichtet, die Chance solcher Waffenstillstandsangebote wahrzunehmen. Dies erfolgte nicht. Vielmehr hat man die Verweigerung schon jeden Versuchs einer Verhandlungslösung seitens der Rebellen nachdrücklich unterstützt und weiter militärische Einsätze geflogen. Mit S/RES/1973 (2011) war das unvereinbar; ebenso wie die Fortsetzung der Bombenangriffe, nachdem der militärische Sieg205 der Rebellen feststand. Auch der Schutz libyscher Zivilisten allein vor der Herrschaft Gaddafis war kein legitimes Kriegsziel. Vielmehr forderte dieser „Schutz“ zusätzlich Tausende von Menschenleben. Dies geschah auf Kosten des in S/RES/1973 (2011) allein autorisierten Interventionszwecks. Wie bereits mehrfach in der vorliegenden Arbeit ausgeführt, sind Gewaltbefugnisse Ausnahmebefugnisse; als solche sind sie grundsätzlich eng auszulegen. Insbesondere diese Intervention macht deutlich, dass der „gebetsmühlenartige Rekurs“ auf S/RES/1973 (2011) als „illegal, illegitim und verwerflich“ angesehen werden muss. Jedes politische Ziel, das man außer dem autorisierten mit militärischen Zwangsmaßnahmen zusätzlich verfolgt, darf nicht unter einen zur Gestaltungslosigkeit gedehnten Begriff von „Schutz“ subsumiert werden, womit alle Grenzen der erlaubten Gewalt gesprengt werden und dies von Tausenden der solcherart „Beschützten“ mit dem Leben 203 So etwa R. Merkel, Die Intervention der NATO in Libyen, in: ZIS 6 (2011), S. 772. 204 Wenn die stärksten Militärmächte der Welt einen Krieg gegen das Despotenregime eines militärisch schwachen Landes wie Libyen beginnen, dann wäre jedes Ende, das den Diktator an der Macht beließe, ein weltpolitisch blamables Desaster für die Intervenienten. Auch ohne die entsprechenden Bekundungen der drei Staatschefs lag es von Anfang an auf der Hand, dass die NATO bei ihrem militärischen Eingreifen jedenfalls auch das Ziel des Sturzes von Gaddafi verfolgen würde. 205 Der „Sieg“ stand zu dem Zeitpunkt fest, an dem die Rebellen die Übernahme der Kontrolle in Tripolis übernahmen und die Anerkennung als neue Regierung seitens einer schnell wachsenden Zahl von Staaten erhielten.
C. Bewertung der Einzelmaßnahmen der NATO403
bezahlen zu lassen. Der „Missbrauch“ der Resolution war insofern in ihr selber angelegt.206 Somit war das Eingreifen an sich vom Völkerrecht gedeckt, die Art und Weise des Eingriffs erfolgte jedoch völkerrechtswidrig. Damit war die Intervention in Libyen nach den Interventionen der NATO im Kosovo und in Afghanistan die dritte dieser Art, bei der (völkerrechtswidrig) eine militärische Intervention zur Durchsetzung eines Regimewechsels (regime change) vollzogen wurde.
206 R. Merkel,
Die Intervention der NATO in Libyen, in: ZIS 6 (2011), S. 772 f.
Kapitel 5
Auswertung der Rechtsermittlung A. Die Auswirkungen der „NATO-Praxis“ auf das Völkerrecht In diesem Teil der Arbeit sollen nunmehr die zuvor ermittelten Ergebnisse der Kapitel 1 bis 4 ausgewertet und die Auswirkungen dieser durch die Anlassfälle aufgezeigten „NATO-Praxis“ auf das Völkerrecht beschrieben werden. Die grundsätzliche Frage nach der Rechtmäßigkeit der Interventionen des Nordatlantikbündnisses bestehen seit Anfang der 1990er-Jahre und hat seither auch nicht an Aktualität verloren. Wie in den vorherigen Kapiteln dargelegt, zeichnet sich die wissenschaftliche Diskussion in dieser Frage nicht nur durch unterschiedliche Ergebnisse, sondern vor allem durch unterschiedliche Argumentationsansätze aus. Auffällig ist dabei, dass die „Demarkationslinie“ im Wesentlichen zwischen den USA und (Kontinental-)Europa verläuft. Die zum Teil deutlichen Divergenzen lassen mehrere Ursprünge erkennen.
I. Beleg eines unterschiedlichen Völkerrechtsverständnisses zwischen den USA und Kontinentaleuropa Die divergierenden Argumentationsansätze resultieren zuvorderst aus einem unterschiedlichen Völkerrechtsverständnis. Um die Auswirkungen der mit diesem Völkerrechtsverständnis einhergehenden „NATO-Praxis“ auf das Völkerrecht nachvollziehbar zu machen, ist ein unterschiedliches Völkerrechtsverständnis zu belegen. Das Völkerrechtsverständnis der US-Amerikaner begründet sich – neben ihrem Rechtssystem – insbesondere aus ihrem politischen und kulturellen Selbstverständnis heraus. 1. Mentalitätsunterschiede Eine nicht ganz unbedeutende Rolle spielen dabei wohl allgemeine Mentalitätsunterschiede zwischen US-Amerikanern und Europäern hinsichtlich des Einsatzes militärischer Gewalt. Nach zwei Weltkriegen mit ungeheuren Verlusten haben – zumindest ein Teil der – Europäer prinzipiell das Vertrauen in
A. Die Auswirkungen der „NATO-Praxis“ auf das Völkerrecht405
die Effizienz und Berechtigung militärischer Gewalt verloren207. In der USamerikanischen Politikwissenschaft wird dieses Phänomen mit dem Bild, dass Europäer von der „Venus“ und Amerikaner vom „Mars“ seien, griffig beschrieben208. Allerdings ist diese Aufteilung mit Sicherheit zu pauschal, da Franzosen und Briten sicherlich nicht nur „von der Venus sind“. In beiden Nationen ist man ohne größere Bedenken bereit, militärische Gewalt in den ehemaligen Kolonien oder überseeischen Territorien einzusetzen. Vor allem hat das Militär in beiden Nationen einen hohen Stellenwert und lebt – wie grundsätzlich auch Deutschland und Österreich – von einer jahrhundertealten Tradition. Neben den historischen Gründen dürfte die grundsätzlich verschiedene Verfügbarkeit militärischer Kapazitäten zu einem Mentalitätsunterschied geführt haben. Die USA sind in vielen Fällen – die einen Einsatz militärischer Gewalt erfordern können – in der Lage, die erforderlichen militärischen Mittel allein einzusetzen. Daher besteht verständlicherweise wohl ein gewisser Widerwillen, die Entscheidung, ob militärische Gewalt eingesetzt wird, der Entscheidung eines anderen Staates zu unterwerfen. Anders verhält es sich beispielsweise mit Frankreich. Frankreich ist ungeachtet schlagkräftiger Streitkräfte kaum in der Lage, autark eine große militärische Operation durchzuführen. Die Erfahrung der US-Amerikaner, dass das amerikanische Militär seit Ende des Zweiten Weltkriegs kontinuierlich mit zumindest proklamierter humanitärer, prodemokratischer oder provölkerrechtlicher Zielsetzung eingesetzt wurde, mag zur Beibehaltung einer hobbesschen Weltsicht geführt haben, welche die Welt als einen bellum omnium contra omnes begreift, in der es zahlreiche Tyrannen gibt, die nicht nur Demokratie, sondern auch Menschenrechte und Völkerrecht verachten209. Zudem ist militärische Gewalt tief in der US-amerikanischen Geschichte verwurzelt210. Im Unabhängigkeitskrieg errangen 13 Gründungskolonien der USA ihre Unabhängigkeit von der britischen Krone durch militärische Ge207 H. Neuhold, Law and Force in International Relations – European and American Positions, in: ZaöRV 64 (2004), S. 266 ff., der die Mentalitätsunterschiede anhand von drei militärischen Konflikten der jüngeren Vergangenheit – „Operation Allied Force“ (1999), „Operation Enduring Freedom“ (2001) und „Operation Iraqi Freedom“ (2003) – und den entsprechenden rechtlichen Auffassungen herausarbeitet. 208 Vgl. R. Kagan, Of Paradise and Power: America und Europe in the New World Order, passim. 209 Zwei Beispiele sind der Korea Krieg 1950 und der Golfkrieg 1991, in denen mit militärischer Gewalt einer offenen Aggression entgegengetreten wurde. Beide Kriege wären nach Auffassung der USA ohne ihre Initiative und ohne ihre Streitkräfte nicht geführt und Südkorea sowie Kuwait völkerrechtswidrig annektiert worden. 210 Vgl. G. Schild, The American Experience of War, passim.
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Teil 4, Kap. 5: Auswertung der Rechtsermittlung
walt. Im 19. Jahrhundert dehnten sich die Vereinigten Staaten von Amerika neben dem Erwerb von Territorien vor allem mithilfe militärischer Gewalt nach Westen bis zur Pazifikküste aus. Insofern ist es nicht unberechtigt, von einem aus Kriegen entstandenen Staat zu sprechen. Der positive Effekt des Einsatzes militärischer Gewalt wurde auch nicht durch die beiden Weltkriege infrage gestellt. Vielmehr führten Eintritt und Ausgang des Zweiten Weltkriegs zur Großmachtstellung der USA. Daher ist die positive Bewertung des Militärs und des Einsatzes militärischer Gewalt in diesem Land ungebrochen211. In Europa – insbesondere in Deutschland – ist diese „Weltsicht“ genau entgegengesetzt. In Deutschland hat man vergessen, dass militärische Mittel, dadurch, dass sie die politische Funktion nach außen und nach innen sichern, eine unersetzliche Existenzberechtigung einer jeden Staatsgewalt ist212. Das deutsche Volk hat nicht nur das Vertrauen auf die eigene Kraft und Stärke verloren, sondern auch den Glauben an die Berechtigung militärischer Gewalt. Darüber hinaus sind die US-Amerikaner der Überzeugung, eine Sonderrolle in der Welt einzunehmen. Damit einher geht eine große Vaterlandsliebe der Mehrzahl der US-Amerikaner, die vielen Europäern in ihrer Ausprägung fremd erscheint. Überdies ist ihnen eine große Frömmigkeit und Gläubigkeit eigen. Viele Menschen in den USA sind der Überzeugung, dass die USAmerikaner „Gottes auserwähltes Volk“ seien. Diese Form national geprägter Spiritualität wirkt in ihrer Kombination besonders machtvoll. Sie verbindet die Liebe zum Vaterland und die Liebe zu Gott und die Überzeugung, dass diese Liebe von Gott erwidert wird. Diesem Selbstverständnis als eine privilegierte Nation wohnt somit ein gewisses Sendungsbewusstsein inne. Es äußert sich in der Überzeugung, dass der „American Way of Life“ der denkbar beste Weg ist, der dementsprechend, wenn man ihn kopiert, auch in anderen Staaten von Erfolg gekrönt sein muss. Diese Aspekte begünstigen eine gewisse Tendenz zum Unilateralismus. Diese Haltung spiegelt sich auch in der „skeptischen“ Haltung der USA gegenüber den VN wider. Warum, so fragen sich viele US-Amerikaner, sollte sich ein so mächtiges Land wie das ihre in seiner politischen Handlung frei beschränken lassen? Dies zeigt sich besonders in der Weigerung, diverse internationale Übereinkommen zu unterzeichnen oder zu ratifizieren. Als Beispiel mögen hier das Übereinkommen zum Verbot von Landminen und das Übereinkommen zum Internationalen Strafgerichtshof genannt werden.
211 Vgl.
nur R. Rubenstein, Reasons to Kill: Why Americans choose War, passim. Staatslehre, S. 236.
212 H. Heller,
A. Die Auswirkungen der „NATO-Praxis“ auf das Völkerrecht407
Aus diesem Bewusstsein, dass das Handeln der USA in jedem Fall legitim ist, ist es nur noch ein kurzer Schritt bis zu der Erkenntnis, dass es auch nicht widerrechtlich sein kann. Wer richtig handelt, verstößt nicht gegen geltendes Völkerrecht.213 2. Rechtskulturunterschiede In der US-amerikanischen Kultur und Rechtskultur ist die Einstellung tief verwurzelt, dass das Recht das zentrale Mittel ist, um moralische Werte und Gerechtigkeitsansprüche zu verwirklichen. Grundsätzlich möchte der USamerikanische Richter nach Maßgabe der praktischen Vernunft ein gerechtes Urteil fällen214. Dies gilt aus US-amerikanischer Sicht insbesondere für das Völkerrecht, das in einer konkreten Situation der Verwirklichung eines moralischen Ziels zu dienen hat; der abstrakte Geltungsanspruch des Völkerrechts ist in diesem Zusammenhang oftmals sekundär215. Hingegen führt die kontinentaleuropäische Rechtskultur in Praxis und Ausbildung zu einem normorientierten Ansatz mit dem Bemühen um eine Systembildung, die zur Auslegung weiterer Fälle taugt216. Rechtspolitische Argumente, wie etwa besondere Entwicklungen in der Waffentechnik werden – wenn überhaupt – lediglich unter dem Gesichtspunkt de lege ferenda berücksichtigt. Der Blick fällt von der vorgegebenen Regel auf den Einzelfall217. Im common-law geprägten anglo-amerikanischen Rechtsraum betrachtet der Rechtsanwender den konkreten Fall – und nicht abstrakte Regeln. Er schreitet von Fall zu Fall und fühlt sich mehr der Einzelfallgerechtigkeit verpflichtet218. Diese Sichtweise wird in der anglo-amerikanischen Juristenausbildung konsequent geschult219. Anhand der sokratischen Methode wird der angehende Jurist in der Diskussion um den Einzelfall geschult. Dabei 213 So auch C. Richter, Preemptive Self-Defense, S. 32 ff. und C. Masuch, Die rechtswissenschaftliche Diskussion der Kosovo-Intervention, S. 319 ff. 214 H. Porsdam, Legally Speaking: Contemporary American Culture and the Law, S. 7. 215 M. Koskenniemi, Perceptions of Justice: Walls and Bridges Between Europe and the United States, in: ZaöRV 64 (2004), S. 307 f. 216 H. Hestermeyer, Irakkrieg im Lichte transatlantischer Rechtskulturunterschiede, in: ZaöRV 64 (2004), S. 330. 217 K. Zweigert/H. Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 36 VI, S. 512 ff. 218 H. Hestermeyer, Irakkrieg im Lichte transatlantischer Rechtskulturunterschiede, in: ZaöRV 64 (2004), S. 318. 219 Eine literarische Schilderung der US-amerikanischen Juristenausbildung gibt S. Turow, One L: The Turbulent True Story of a First Year at Harvard Law School, passim.
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Teil 4, Kap. 5: Auswertung der Rechtsermittlung
wird ihm aufgezeigt, dass ein einmal aus einem Fall extrahiertes Prinzip nicht in jedem Fall durchzuhalten ist und letztlich in bestimmten Fällen ad absurdum geführt werden kann220. Die angloamerikanische Völkerrechtswissenschaft ist so eher bereit, politische Notwendigkeiten de lege lata in ihre Bewertung mit aufzunehmen221. Diese Gegenüberstellung von europäischem und anglo-amerikanischem Ansatz ist freilich etwas holzschnittartig. So trifft etwa die Apostrophierung „normorientiert“ nicht auf die von Alfred Verdross gegründete naturrechtlich orientierte Schule des Völkerrechts und der Rechtsphilosophie zu222. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf das (österreichische) Schrifttum von Stephan Verosta, Karl Zemanek, Peter Fischer und Heribert Köck hinzuweisen. Gleichwohl kann festgehalten werden, dass der anglo-amerikanische Jurist eher zur Kritik der Norm greift, während der Kontinentaleuropäer mehr Befriedungsfunktion und Wert der Norm im Blick hat und an der anerkannten Auslegung der Norm festhalten möchte. Für die Methodik und die Auslegung der Norm bedeutet das, dass der Kontinentaleuropäer seinen Schwerpunkt in den textual approach und der US-Amerikaner in den teleologiacal approach legt. Aus diesem Grund wird nicht nur bei der Frage der Auswirkungen der „NATO-Praxis“ – sondern generell in Bezug auf internationale Gewaltanwendung – nicht selten von einer transatlantischen Fragmentierung der Rechtskultur gesprochen.223 Hinter diesen rechtskulturellen Divergenzen stehen wiederum differierende rechtsphilosophische Positionen. Wie Richter in seiner Arbeit über das Konzept der Preemptive Self-Defense224 aufzeigt, wird neben dem US-amerikanischen Pragmatismus und Rechtsrealismus ebenso der rechtsphilosophische „Erbstreit“ zwischen Naturrecht und Positivismus sichtbar. So basiere der moderne Positivismus auf dem Axiom der strengen Trennung von Recht und Moral. Recht ist nur das positive Recht, also das in 220 M. w. N. H. Hestermeyer, Irakkrieg im Lichte transatlantischer Rechtskulturunterschiede, in: ZaöRV 64 (2004), S. 318. 221 Ders., ebd., S. 337. 222 Vgl. H. Köck, Leben und Werk des österreichischen Rechtsgelehrten Alfred Verdross, in: ZÖR 42 (1991), S. 55 f. 223 Umfassend anhand des Beispiels der „Operation Enduring Freedom“: N. Kredel, Operation „Enduring Freedom“ and the Fragmentation of International Legal Culture, passim. Kritisch M. Koskenniemi, Perceptions of Justice: Walls and Bridges Between Europe and the United States, in: ZaöRV 64 (2004), S. 305 ff. 224 C. Richter, Preemptive Self-Defense, S. 39 ff.
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schriftliche Gesetze gegossene Recht225. Die Naturrechtslehre hingegen sieht den Geltungsgrund des Rechts außerhalb des positiven Rechts; der Geltungsgrund hinter dem positiven Recht hat sich in der Geschichte der Rechtsphilosophie gleichwohl mehrfach geändert. In der Antike war es die idealisierte Natur. Im christlichen Naturrecht des Mittelalters war es Gott. In der Aufklärung war es die Vernunft226. Insoweit konnten extrapositive Entitäten so das positive Recht beeinflussen und letztlich damit auch korrigieren. In der neueren Diskussion stehen sich der Engländer Rawls und der US-Amerikaner Dworkin als Antipoden der jeweiligen Richtungen gegenüber227. Grundlegender und damit bedeutsamer für die vorzunehmende Einordnung der Auswirkungen jener untersuchter „NATO-Praxis“ auf das Völkerrecht ist allerdings die Auseinandersetzung mit dem in den 1940er-Jahren an der Yale Law School entstandenen US-amerikanischen Verständnis für das Völkerrecht. Die sog. New Haven School vertritt einen policy-oriented approach – also einen politikorientierten Ansatz. Diese Denkschule sieht sich als Gegenentwurf zum Rechtspositivismus. Im Ergebnis ist sie nicht weniger „radikal“ als Kelsen, lediglich spiegelverkehrt. Die New Haven School degradiert völkerrechtliche Regeln zu Abwägungsfaktoren im politischen Prozess228. Daneben ist noch der legal realism zu erwähnen, der in den 1970erJahren an der Harvard Law School entwickelt wurde. Der legal realism verneint im Kern eine Unterscheidung zwischen politischem und juristischem
225 Nach Auffassung von Richter „radikalisiert“ der Begründer des modernen Rechtspositivismus, Hans Kelsen, mit seiner Reinen Rechtslehre den ursprünglichen Gedanken Kants und stellt sich im Ergebnis gegen ihn. Kant „reinigte“ das Recht vom zufälligen politischen Wollen und versuchte die rechtliche Verbindlichkeit ohne Rückgriff auf den Nutzen des Rechts zu begründen, ohne allerdings den Nutzen der Freiheitssicherung aufzugeben (Vgl. W. Naucke/R. Harzer, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, Rdnr. 149). Freiheit und Menschenwürde bleiben in der reinen Rechtslehre Kants als extrapositive Korrektive bestehen. Nicht so in der Reinen Rechtslehre Kelsens (vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, passim. Umfassend zu Kelsen aus völkerrechtlicher Sicht: A. Rub, Hans Kelsens Völkerrechtslehre, passim). Sie „will die Rechtswissenschaft von allen ihr fremden Elementen befreien“ (H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 1). Damit ist auch kein Platz mehr für Freiheit und Menschenwürde; sie sind noch empirisch gewollte, keine reinen Zwecke. Die Möglichkeit, reines Recht mit inhaltlich gerechtem Recht zu vergleichen, geht damit verloren (vgl. W. Naucke/R. Harzer, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, Rdnr. 149 ff.). 226 Diese grob verkürzte Darstellung ist zweifelsohne vereinfacht und daher angreifbar. Über die historische Entwicklung der Rechtsphilosophie geben H. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, passim und E.-W. Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, passim einen differenzierten Überblick. 227 Vgl. J. Rawls, A Theory of Justice, passim; R. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, passim; ders., Law’s Empire, passim. 228 Vgl. S. Voos, Die Schule von New Haven, passim.
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Entscheidungsprozess229. Demnach könnten Recht und Politik nicht getrennt werden. Das sind – freilich verkürzt dargestellt – die Hauptgründe, warum insbesondere anglo-amerikanische Völkerrechtler zur Ermittlung des Rechts einerseits viel stärker auf die Ermittlung und Auswertung von Präzedenzfällen geschult und andererseits politisch „geprägt“ sind. Es kann insofern nicht wundern, dass es ihnen leichter fällt, sich zur Begründung eines Gewohnheitsrechts bei militärischen Interventionen auf die Staatenpraxis zu berufen.
II. Die Folgen dieser rechtskulturellen Divergenzen für das Völkerrecht Was bedeutet dieses unterschiedliche Rechtsverständnis bzw. die -anwendung für das Völkerrecht? Ohne an dieser Stelle einen eigenen Ansatz230 darzulegen, sind die Auswirkungen dieses unterschiedlichen Verständnisses in den Fokus zu rücken. Nach Doehring ist geltendes Völkerrecht das angewendete Völkerrecht, welches grundsätzlich durch die Wertvorstellungen der Rechtsanwender angetrieben wird231. Der Völkerrechtsanwendung sind allerdings auch die Vorstellungen über den Geltungsgrund des Völkerrechts und über die richtige Methode immanent: vor allem durch das eigene nationale Verständnis von dem, was Recht ist und was nicht oder den Grundlagen der eigenen Rechtskultur. Auch wenn das Verständnis des Autors letztlich kontinentaleuropäisch geprägt ist, wird die Lehre eines reinen Positivismus im völkerrechtlichen Diskurs letztlich wohl als inkonsequent abzulehnen sein. Denn gerade die „deutschen“ Urteile zum nationalsozialistischen und DDR-Unrecht waren teilweise nur durch einen Rückgriff auf elementare Gebote der Gerechtigkeit möglich232. Zudem konnten und können die als „nationalsozialistisches Unrecht“ bezeichneten Gesetze nur als solche qualifiziert werden, wenn man naturrechtliche Grundsätze zur Anwendung bringt. Rechtsphilosophisch 229 J. Kelly,
A Short History of Western Legal Theory, S. 432. C. Richter, Preemptive Self-Defense, S. 41 ff. 231 K. Doehring, Völkerrecht, § 1 II, Rdnr. 16. 232 Vgl. zum DDR-Unrecht BVerfGE 95, 96. Das BVerfG hatte darüber zu entscheiden, ob die Mauerschützen der DDR verurteilt werden konnten. Dazu musste das Schießen auf unbewaffnete und flüchtende DDR-Bürger als Unrecht qualifiziert werden. Das BVerfG hat unter Durchbrechung des Rückwirkungsverbots konstatiert, dass die vorsätzliche Tötung unbewaffneter Flüchtlinge wegen offensichtlicher unerträglicher Verstöße gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte unwirksam sei. 230 So
A. Die Auswirkungen der „NATO-Praxis“ auf das Völkerrecht411
wurde diese Rechtsprechung durch die sog. Radbruchsche-Formel gestützt. Radbruch formulierte unter dem Eindruck der NS-Diktatur: „Der Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Gesetz‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat“233.
Dieser Versuch eines Naturrecht und Rechtspositivismus integrierenden Ansatzes wurde mit der Rechtsprechung des BVerfG zum gültigen Recht in Deutschland. Im Übrigen kommen auch moderne europäische Rechtsordnungen in ihrem positiven Privatrecht nicht ohne Einfallstore für naturrechtliche Elemente aus (so z. B. § 242 BGB oder § 914 ABGB). Damit wird die Verkehrssitte anhand extra-legaler Entitäten bestimmt.234 Insofern ist die Anwendung der für das innerstaatliche Recht konzipierten Reinen Rechtslehre nach Kelsen auf das Völkerrecht nicht unproblematisch. Insbesondere die Verweisung aller Vorbedingungen einer Norm in das Politische, also „Nichtrechtliche“, scheitert wohl im Völkerrecht; denn das Völkerrecht ist im Wesentlichen politisches Recht235. Nachvollziehbar wird dies gerade in der Judikatur des IGH, bei der insbesondere die Kategorie der Gerechtigkeit – von Kelsen als rechtlich irrelevant behandelt – eine große Rolle spielt236. Nach Kelsen ist der Rechtssatz pacta sunt servanda die unumstößliche Grundnorm für das Völkerrecht, auf dessen Grundlage die Entscheidungen internationaler Rechtsprechungsinstanzen und bindende Beschlüsse von Organen internationaler Organisationen beruhen237. Dies trifft jedoch nur auf gewohnheitsrechtliches ius cogens zu. Denn vertragliches Völkerrecht kann auch völkerrechtliches Gewohnheitsrecht derogieren. Aus diesem Grund kann bloßes völkerrechtliches Gewohnheitsrecht wohl kaum eine höhere Norm im Sinne einer Grundnorm darstellen238. Infolgedessen ist zuzugestehen, dass am Ende des Stufenbaus, hinter der Grundnorm nur das bloße Faktum der Macht – bei militärischen Interventionen diejenige der ständigen Mitglieder des SR – steht. Auch sollte das Völkerrecht nicht mit 233 G. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: SJZ 1 (1946), S. 107. Die sog. Radbruchsche Formel ist in ihrer Apodiktik jedoch nicht ungefährlich (vgl. hierzu K. Doehring, Von der Weimarer Republik zur Europäischen Union, S. 120 f.). 234 Vgl. C. Richter, Preemptive Self-Defense, S. 41 f. 235 P. Fischer/H. Köck, Allgemeines Völkerrecht, Rdnr. 124. 236 Dies., ebd., Rdnr. 124. 237 H. Kelsen/R. Tucker, Principles of International Law, S. 446 und 564. 238 P. Fischer/H. Köck, Allgemeines Völkerrecht, Rdnr. 124.
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dem innerstaatlichen Recht verglichen werden. Denn das Völkerrecht ist ein aliud und kein minus im Verhältnis zum innerstaatlichen Recht239. Gleichwohl ist auf der anderen Seite aber auch ein völkerrechtlicher Argumentationsansatz abzulehnen, der zu stark auf moralische und politische Fragen zurückgreift, um den Inhalt des Rechts zu ermitteln. Politik, Moral und Recht beeinflussen sich zwar gegenseitig. Bedenken müssen jedoch gegenüber einer Überzeugung bestehen, dass ein politisch wünschenswerter Akt auch legal zu sein hat. Insofern steht hinter dem policy-oriented approach vorwiegend US-amerikanischer Völkerrechtler eine andere Form des Selbstverständnisses und eine andere Art und Weise, wie diese ihre Wissenschaft betrachten. Der politikwissenschaftlich Gebildete und politisch engagierte und interessierte Völkerrechtler wird ohne Zweifel besser dazu befähigt sein, die Geschehnisse in der Welt zu verstehen, sie einzuordnen sie zu bewerten. Der policy-oriented approach nimmt mit seiner Art zu argumentieren jedoch eine Vermischung von Recht und Politik vor und bereichert diese durch Anleihen aus diversen anderen wissenschaftlichen Gebieten wie der Philosophie, der Soziologie und der Geschichtswissenschaft. Die Gefahren dieser Form der völkerrechtlichen Argumentation sind jedoch beträchtlich. Es besteht die Gefahr, dass beim Überhandnehmen einer solchen Form der völkerrecht lichen Argumentation das Völkerrecht seine Rolle und seine Bedeutung als eigenständige Disziplin einbüßt. Worin besteht der Kern des Rechts, wenn er vermischt wird mit moralischen oder politischen Opportunitätserwägungen? Hat das Völkerrecht überhaupt noch einen Sinn, eine eigene Rolle, wenn es lediglich dazu dient, dem politisch wünschenswert Erscheinenden den Mantel der Legalität zu geben? Diejenigen Autoren, die aus dem Ziel heraus, ein moralisches oder politisches Ideal zu verwirklichen, dieses als dem geltenden Völkerrecht entsprechend darstellen, erweisen dem Völkerrecht einen höchst zweifelhaften Dienst. Es wird schwer sein, dem Völkerrecht einen universalen Charakter zuzuweisen, wenn die Entscheidung, was Recht und was Unrecht ist, einzelfallbezogen aufgrund moralischer Erwägung erfolgt. Es untergräbt massiv die Autorität des Völkerrechts, wenn insbesondere westliche Staaten aufgrund moralischer Erwägungen eigene Interventionen für rechtmäßig erklären, anderen politischen oder gesellschaftlichen Systemen dieses moralische Urteil aber nicht selber zuzubilligen bereit sind. Ein solches Vorgehen schadet daher der Geltung des Völkerrechts als Recht. Zudem bewirkt eine Darstellung des Völkerrechts, die nicht mehr den in dem IGH-Statut festgelegten Rechtsquellen folgt und zur Feststellung des 239 Vgl.
P. Weil, Towards Relative Normativy?, in: AJIL 77 (1983), S. 413 f.
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geltenden Rechts nicht mehr auf Völkervertragsrecht und Gewohnheitsrecht abstellt, sondern stattdessen eine „Korrektur“ dieser Rechtsquellen durch moralische Erwägungen vornimmt, dem Völkerrecht den Anspruch, Recht als solches zu sein. Dies gilt umso mehr, wenn die vorgenommene Darstellung sich nicht auf universelle Moral- bzw. Politikvorstellungen stützen kann.240 Insofern kann die von Wedgewood geäußerte Befürchtung, dass die Suche des „Positivisten“ nach Klarheit und Transparenz diesen „blind“ vor der politischen Welt macht, nur in den Fällen treffend sein, in denen er den Fehler macht, sich blenden zu lassen. Denn das Völkerrecht wird in der weltpolitischen Realität stets nur ein Faktor von vielen sein, der Einfluss auf die tatsächlichen Entwicklungen hat. Oftmals wird das Völkerrecht angesichts der Vielzahl von Aspekten welche die außenpolitischen Entscheidungen beeinflussen, völlig unbeachtet bleiben. Beizupflichten ist dieser Ansicht insoweit, dass ein positivistisch argumentierender Völkerrechtler sich immer bewusst sein sollte, dass die von ihm vertretene Wissenschaft nur begrenzten Einfluss auf das politische Geschehen nehmen kann. Richtig ist zudem, dass ein umfassend gebildeter Völkerrechtler, der in der Lage ist, nicht nur die rechtlichen, sondern auch die historischen, politischen, religiösen und anthropologischen Aspekte des internationalen Staatenverkehrs zu erfassen und angemessen zu bewerten, seinen nur auf rechtlichen Gebiet gebildeten Kollegen überlegen ist. Verfehlt ist allerdings, aus dieser Tatsache die Schlussfolgerung zu ziehen, dass der Völkerrechtler diese vielfältigen Aspekte auch in sein rechtliches Urteil aufzunehmen hat. Es ist mit Masuch zuzustimmen, dass ihn nichts zwingt, dies zu tun. Nichts hält ihn zudem dazu an, die Grenze zwischen Völkerrecht und politischer Realität aufrechtzuerhalten, wenn es zwischen beiden Divergenzen gibt. Nichts hindert ihn daran, auf die Abweichung hinzuweisen, die seiner Meinung nach zwischen der rechtlichen Lage und der politischen Situation besteht. Ein Völkerrechtler, der diese Differenzierung nicht sieht, denkt eindimensional und wird das Scheitern des Völkerrechts beklagen. Ein Völkerrechtler, der diese Differenzierung vermischt, riskiert dem Völkerrecht insgesamt schweren Schaden zuzufügen. Nur ein Völkerrechtler, der diese Differenzierung aufrechterhält und das internationale Geschehen auf (mindestens) zwei unterschiedlichen Ebenen – der rechtlichen und der politischen – getrennt betrachtet, trägt dazu bei, das Völkerrecht in seiner Bedeutung und als eigenständige Disziplin aufrechtzuerhalten und das weltpolitische Geschehen in einer realistischen Perspektive zu sehen.
240 So auch C. Masuch, Die rechtswissenschaftliche Diskussion der Kosovo- Intervention, S. 341 ff.
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Fasst man die vorgenannten Rechtfertigungen des jeweiligen Ansatzes zusammen, ist zu konstatieren, dass der policy-oriented argumentierende Völkerrechtler – entgegen der Behauptung jener Vertreter – gerade nicht dazu beiträgt, der Marginalisierung des Völkerrechts vorzubeugen, sondern diese gerade erst herbeiführt. Völkerrecht hat nicht den Sinn, der Politik zu dienen. Vielmehr kann es eine kritische Betrachtung des Handelns der Staaten in der Welt vornehmen und anhand dieser Betrachtung dem Politiker vermitteln, welche Aspekte dieses Handelns geltendes Recht sind. Die natürliche menschliche Reaktion angesichts von Gräueltaten in der Welt, ein militärisches Eingreifen für notwendig zu erachten, darf den Völkerrechtler nicht dazu verleiten, seine moralische oder politische Überzeugung durch eine völkerrechtlich konforme Antwort zu untermauern.241 Die Folgen dieses Völkerrechtsverständnisses lassen sich derzeit (2018) in den Konfliktregionen der Ukraine und Syrien beobachten, bei denen die verschiedenen Konfliktparteien von Anbeginn die „Terrorbekämpfung“ als Rechtfertigung für militärisches Eingreifen benannt haben, ohne dass die Voraussetzungen nach Kapitel VII der VN-Charta vorlagen – sondern vielmehr „Anleitung“ am Verhalten der US-amerikanischen Administration nach 9/11 für ihr eigenes Handeln nahmen. Insofern ist es mehr denn je angezeigt, dass das Völkerrecht getrennt von politischer Betrachtungsweise – norm orientiert – zur Anwendung gelangt. Dieser Ansatz galt vorliegend auch bei der Untersuchung der Anlassfälle. Dieser normorientierte Ansatz führte im Ergebnis zur Rechtswidrigkeit der militärischen Maßnahmen der NATO nach dem Ende der Sowjetunion. Mit dieser Rechtswidrigkeit der militärischen Interventionen geht eine Verletzung des Gewaltverbots nach Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta einher.
B. Rechtsfolgen bei Verstößen gegen „ius cogens“-Grundsätze Sowohl die zuvor ermittelten Ergebnisse, als auch das nun schon seit einiger Zeit vorherrschende (westliche) Völkerrechtsverständnis belegen, dass einer der wichtigsten Grundsätze des modernen Völkerrechts – das Verbot der Androhung und Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen242 – mehr und mehr „ausgehöhlt“ wird. Denn mit einem Verstoß gegen das in Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta normierte Gewaltverbot geht auch die 241 Vgl.
hierzu unter Einl., B. III (Trennung von Legalität und Legitimität). A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 467, die das grundsätzliche Gewaltverbot des Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta als die „fundamentalste Umgestaltung im Bereiche des neuen zwischenstaatlichen Pflichtenkatalogs“ betrachten. 242 Vgl.
B. Rechtsfolgen bei Verstößen gegen „ius cogens“-Grundsätze415
Verletzung zwingenden Völkerrechts (ius cogens) einher. Fraglich ist nunmehr, welche Rechtsfolgen derartige Verstöße nach sich ziehen. Ungeachtet der zahlreichen – auch aufgeführten – Kontroversen um den Umfang und die Reichweite der einzelnen Tatbestandsmerkmale des Gewaltverbots sowie die Bewertung der tatsächlichen Befolgung der Norm durch die Staaten, wird die grundsätzliche normative Bedeutung des Gewaltverbots nicht infrage gestellt. Als Rechtsfolgen auf einen Verstoß gegen das Gewaltverbot werden in Lehre und Praxis neben den Maßnahmen des SR nach Kapitel VII und der Ausübung des Selbstverteidigungsrechts nach Art. 51 VN-Charta vor allem auch die Pflicht zur Wiedergutmachung des entstandenen Schadens erörtert. Daher kommt als Rechtsfolge der Verletzung des Gewaltverbots auch die Gewährung von Schadensersatz in Betracht243. In der Völkerrechtspraxis und -wissenschaft spielt diese Dimension der Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen das Gewaltverbot (bislang) jedoch kaum eine Rolle. Die rechtliche Bewältigung der Folgen einer Verletzung des Gewaltverbots durch Ausgleich und Befriedung ist „dogmatisch noch kaum durchdrungen und bisher eher selten praktisch relevant geworden“244.
I. Rechtsgrundlagen für Schadensersatz im Recht bewaffneter Konflikte Der Gedanke, das Völkerrecht auch auf Situationen nach dem Ende bewaffneter Auseinandersetzungen zu beziehen, ist bereits bei den „Vätern des Völkerrechts“ Suarez, Grotius und Vattel sowie bei Kant zu finden. Insofern kennt das Völkerrecht seit über hundert Jahren konkrete Anspruchsgrundlagen für Schadensersatzleistungen bei Verletzungen des humanitären Völkerrechts – des ius in bello245. Bereits Art. 3 der Haager Landkriegsordnung verpflichtet die „Kriegspartei, welche die Bestimmung der bezeichneten Ordnung verletzen sollte“, zum Schadensersatz. Diese Regelung hat – ebenso wie die Grundsätze der Haager Landkriegsordnung – inzwischen gewohnheitsrechtliche Geltung erlangt. Im modernen Kriegsvölkerrecht finden sich 243 Vgl. M. Bothe, Rechtliche Hegung von Gewalt zwischen Theorie und Praxis, in: I. Buffard et al. (Hrsg.), International Law between Universalism and Fragmentation, FS Gerhard Hafner, S. 151 ff. 244 Vgl. M. Krajewski, Schadensersatz wegen Verletzung des Gewaltverbots, in: ZaöRV 72 (2012), S. 149. 245 Vgl. W. Heintschel von Heinegg, Entschädigungen für Verletzungen des humanitären Völkerrechts, in: ders. et al., Berichte der Dt. Gesellschaft f. Völkerrecht 40 (2003), S. 27 ff.; P. Stammler, Der Anspruch von Kriegsopfern auf Schadensersatz, S. 41 f.
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die Voraussetzungen für Schadensersatz in Art. 91 Zusatzprotokoll I von 1977 zu den Genfer Abkommen, das die bereits im Haager Recht enthaltene Regel nahezu wortgleich wiedergibt246. Für die Pflicht zur Gewährung von Schadensersatz bei Verstößen gegen das Gewaltverbot besteht dagegen keine spezielle Rechtsgrundlage. Insbesondere ist diese Pflicht jenseits von möglichen Regelungen in Friedens verträgen völkervertraglich nicht geregelt.247 Die Schadensersatzpflicht bei Verstößen gegen das Gewaltverbot ist daher aus den allgemeinen Grund sätzen der Staatenverantwortlichkeit abzuleiten, die im Entwurf der Völkerrechtskommission der VN (ILC) zur Staatenverantwortlichkeit (ILC-Entwurf) kodifiziert sind248. Nach diesen Grundsätzen folgt aus der zurechenbaren völkerrechtswidrigen Handlung eines Staates seine Pflicht zur Wiedergutmachung des dadurch hervorgerufenen Schadens249. Gem. Art. 34 ILC-Entwurf kann Wiedergutmachung durch Restitution, Schadensersatz oder Genugtuung erfolgen. Restitution ist die Wiederherstellung des vor dem Delikt herrschenden Zustands, sofern dies nicht tatsächlich unmöglich ist (Art. 35 lit. a) ILC-Entwurf). Bei der Verletzung des Gewaltverbots spielt Restitution lediglich bezüglich der Rückgabe von besetztem Territorium eine Rolle250; die materiellen Zerstörungen sowie der Verlust menschlichen Lebens durch den Einsatz bewaffneter Gewalt können regelmäßig jedoch nicht durch Restitution ausgeglichen werden251. Als weitere mögliche Form der Wiedergutmachung käme die Genugtuung in Form eines Geständnisses oder einer Entschuldigung in Betracht. Sie ist jedoch gegenüber den anderen Formen der Wiedergutmachung subsidiär und gilt eher als
246 Vgl. W. Heintschel von Heinegg, Entschädigungen für Verletzungen des humanitären Völkerrechts, in: ders. et al., Berichte der Dt. Gesellschaft f. Völkerrecht 40 (2003), S. 38. 247 S. Kadelbach, Staatenverantwortlichkeit für Angriffskriege und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, in: ders. et al., Berichte der Dt. Gesellschaft f. Völkerrecht 40 (2003), S. 66 f. 248 Y. Dinstein, War, Aggression and Self-Defence, S. 104 ff.; Zweifelnd P. Stammler, Der Anspruch von Kriegsopfern auf Schadensersatz, S. 40 f., der die Anwendung der Grundsätze der Staatenverantwortlichkeit auf Verstöße gegen das Gewaltverbot für „umstritten“ hält, hierfür aber keine aktuellen Nachweise anführen kann. 249 Vgl. B. Stern, The Obligation to Make Reparation, in: J. Crawford et al. (Hrsg.), The Law of International Responsibility, S. 563 f. 250 ILC Draft articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, with commentaries (ILC Commentaries), 2001, A/56/10, Art. 35 Abs. 5; S. Kadelbach, Staatenverantwortlichkeit für Angriffskriege und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, in: ders. et al., Berichte der Dt. Gesellschaft f. Völkerrecht 40 (2003), S. 74. 251 Y. Dinstein, War, Aggression and Self-Defence, S. 105.
B. Rechtsfolgen bei Verstößen gegen „ius cogens“-Grundsätze417
Ausnahmefall der Wiedergutmachung252. Insofern stellen Schadensersatzleistungen die typische Form der Wiedergutmachung bei Verletzungen des Gewaltverbots dar. Schadensersatz umfasst dabei jeden finanziell messbaren Schaden, der durch die völkerrechtswidrige Handlung verursacht wurde. Daher sind als allgemeine Voraussetzungen für diesen Anspruch neben der Verletzung des Gewaltverbots die Entstehung von messbaren Schäden und eine Kausalität zwischen Rechtsverstoß und Schaden erforderlich253. Das völkerrechtliche Haftungsrecht wird insoweit durch das Prinzip der vollen Entschädigung geprägt254. Grundsätzlich müssen dabei alle anspruchsbegründenden und anspruchsausfüllenden Tatsachen vom Geschädigten geltend gemacht und ggf. auch bewiesen werden. Aufgrund der besonderen Situation bei derartigen Schädigungshandlungen sind die „Standards“ in der Praxis diesbezüglich teilweise gering. Ebenso wie auf der Ebene des Primärrechts sind das ius in bello und das ius ad bellum auch auf der Ebene des Schadensersatzes strikt zu trennen. So ist auch der sich gem. Art. 51 VN-Charta selbst verteidigende Staat oder der Staat, der an einer nach Kapitel VII der VN-Charta gerechtfertigten militärischen Maßnahme teilnimmt, zum Schadensersatz verpflichtet, wenn die Angehörigen seines Militärs gegen das Kriegsvölkerrecht verstoßen255. In gleicher Weise kann ein Schadensersatzanspruch wegen Verstößen gegen das Gewaltverbot nicht durch die Einhaltung des humanitären Rechts ausgeschlossen werden256.
II. Schadensersatz wegen Verletzungen des Gewaltverbots in der bisherigen Praxis Aus der völkerrechtlichen Praxis lassen sich bisher nur vereinzelt Fälle, in denen Schadensersatz wegen eines Verstoßes gegen das Gewaltverbot zu gesprochen wurde, heranziehen. Es gibt vielmehr zahlreiche Beispiele von Reparationszahlungen nach verlorenen Kriegen. Diese wurden allerdings zumeist nicht als Schadensersatzansprüche wegen eines Völkerrechtsversto252 ILC
Commentaries, Art. 37 Abs. 1. Staatenverantwortlichkeit für Angriffskriege und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, in: ders. et al., Berichte der Dt. Gesellschaft f. Völkerrecht 40 (2003), S. 72 f. 254 J. Barker, The Different Forms of Reparation: Compensation, in: J. Crawford et al. (Hrsg.), The Law of International Responsibility, S. 600. 255 Y. Dinstein, War, Aggression and Self-Defence, S. 106. 256 Vgl. M. Krajewski, Schadensersatz wegen Verletzung des Gewaltverbots, in: ZaöRV 72 (2012), S. 155 ff. 253 S. Kadelbach,
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Teil 4, Kap. 5: Auswertung der Rechtsermittlung
ßes konzipiert, sondern als Entschädigungen, welche die unterlegene Kriegspartei an den Sieger für entstandene Kriegsschäden entrichten musste. Ohnehin sind Vergleiche mit früheren Friedensabkommen für die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Anlassfälle nur bedingt hilfreich, da sich die Frage nach Schadensersatz aufgrund einer Verletzung des Gewaltverbots dogmatisch erst ab der universellen Anerkennung des Gewaltverbots, mithin mit dem Inkrafttreten der VN-Charta, stellt. Vor dem IGH sind Schadensersatzansprüche wegen einer Verletzung des Gewaltverbots wiederholt geltend gemacht worden257. Er musste bislang jedoch noch nicht über konkrete Schadensersatzforderungen entscheiden. Zuletzt hat der Gerichtshof im Urteil Armed Activities in the Congo die völkerrechtliche Verantwortlichkeit Ugandas u. a. wegen Verletzungen des Gewaltverbots festgestellt und daraus die Verpflichtung zur Leistung von Schadensersatz abgeleitet258. Da die Demokratische Republik Kongo jedoch keine konkreten Schadensersatzforderungen erhoben hatte, beließ es der Gerichtshof bei der bloßen Feststellung der Ersatzpflicht, wies aber zugleich darauf hin, dass er die Höhe des Schadensersatzes bestimmen würde, falls die Parteien keine Einigung erzielen würden.259 Es ist insofern nicht ausgeschlossen, dass der IGH in diesem Rechtsstreit oder in anderen Rechtsstreitigkeiten in der Zukunft über entsprechende Schadensersatzansprüche entscheiden wird. Darüber hinaus wurden in der Völkerrechtspraxis Schadensersatzansprüche wegen des Verstoßes gegen das Gewaltverbot auch durch internationale Schiedskommissionen behandelt260. Das bislang namhafteste Beispiel hierfür ist die United Nations Compensation Commission (UNCC), die über Schadensersatzansprüche von Individuen, Unternehmen und Regierungen gegenüber dem Irak aufgrund des völkerrechtswidrigen Angriffs auf Kuwait zu entscheiden hatte261. Die UNCC wurde auf Grundlage von S/RES/687 (1991) errichtet, in welcher der SR zugleich die völkerrechtliche Verantwortlichkeit des Iraks für alle Schäden aufgrund des Angriffs auf Kuwait feststellte262. Die UNCC hat während ihrer aktiven Phase zwischen 1991 und 2005 zahlreiche wichtige Beiträge zur Entwicklung des Schadensersatzrechts nach be257 Vgl. M. Bothe, in: W. Vitzthum/A. Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 8. Abschn., Rdnr. 27. 258 IGH, Armed Activities on the Territory of the Congo (Democratic Republic of the Congo v. Uganda), ICJ Reports 2005, 168 (257), Abs. 259 f. 259 IGH, ebd., Abs. 260. Im Urteilstenor behielt es sich der IGH ausdrücklich vor, zu diesem Zweck das Verfahren fortzusetzen (Abs. 345). 260 P. Stammler, Der Anspruch von Kriegsopfern auf Schadensersatz, S. 57 ff. 261 Ausführlich dazu H. Wassgren, The UN Compensation Commission: Lessons of Legitimacy, State Responsibility, and War Reparations, in: LJIL 11 (1998), S. 473 ff. 262 S/RES/687 (1991) vom 3. April 1991 (Iraq-Kuwait), Ziff. 16.
B. Rechtsfolgen bei Verstößen gegen „ius cogens“-Grundsätze419
waffneten Konflikten geleistet. Allerdings ist zu bemerken, dass sie als Nebenorgan des SR dessen politischer Kontrolle unterworfen war. Zudem hatte der SR die völkerrechtliche Verantwortlichkeit des Iraks bereits festgestellt und der UNCC vorgegeben, sodass sich diese mit den haftungsbegründenden Fragen des Schadensersatzanspruchs nicht mehr befassen musste263. Schließlich sind auch die Zahl der geltend gemachten Ansprüche und die Höhe des zugesprochenen Schadensersatzes der UNCC nicht auf andere Fälle übertragbar. So standen zur Befriedigung der Ansprüche Mittel aus einem Fonds aus Einnahmen der irakischen Ölförderung zur Verfügung. Vor diesem Hintergrund stellen Entscheidungen der UNCC zwar einen Referenzrahmen für Entschädigungsschiedsgerichte dar, sind jedoch lediglich eingeschränkt verallgemeinerbar. Ein weiteres Beispiel bildet die Eritrea-Ethiopia Claims Commission (EECC)264, die Äthiopien wegen der Verletzung des Gewaltverbots durch Eritrea während des eritreisch-äthiopischen Kriegs von 1998 bis 2000 Schadensersatz zubilligte265. Hierbei handelt es sich um eine der wenigen völkerrechtlichen Entscheidungen, in denen ein entsprechender Anspruch gewährt wurde und zudem die EECC zu zentralen Fragen des Gewaltverbots und der Staatenverantwortlichkeit Stellung nahm. Bei der Frage, welcher Kausalitätsmaßstab anzulegen sei, entschied sich die Kommission für den – auch in anderen Schiedsentscheidungen – etablierten Maßstab der nahen oder unmittelbaren Schäden (sog. „proximate damages“) und stellte zur näheren Bestimmung auf die Vorhersehbarkeit der Schäden ab266. Insbesondere durch die Berücksichtigung der Vorhersehbarkeit wich die EECC vom Kausalitätsmaßstab der UNCC ab und begründete dies vor allem mit den eingeschränkten Ressourcen der beteiligten Staaten – was nach Auffassung Krajewskis pragmatisch aber dogmatisch nicht vollends überzeugend ist267. Gleichwohl kann die Zuerkennung von Schadensersatz dann eine angemessene Reaktion auf einen Verstoß gegen das Gewaltverbot darstellen, wenn sie an der friedenssichernden Funktion des Gewaltverbots orientiert ist. Insofern müssen bestimmte Anforderungen erfüllt sein, damit ein Beitrag zur 263 P. Stammler,
Der Anspruch von Kriegsopfern auf Schadensersatz, S. 316. EECC wurde auf der Grundlage des Abkommens von Algier vom 12. Dezember 2000 errichtet, das den im Mai 1998 ausgebrochenen Krieg zwischen Eritrea und Äthiopien beendete. 265 Hierzu umfassend M. Krajewski, Schadensersatz wegen Verletzung des Gewaltverbots, in: ZaöRV 72 (2012), S. 160 ff. 266 EECC, Decision No. 7, Abs. 14 – Guidance Regarding Jus ad Bellum Liability, im Internet unter http.pca-cpa.org/upload/files/EECC_Decision_No_7.pdf (zuletzt aufgerufen, am 17. Dezember 2017). 267 M. Krajewski, Schadensersatz wegen Verletzung des Gewaltverbots, in: Z aöRV 72 (2012), S. 168. 264 Die
420
Teil 4, Kap. 5: Auswertung der Rechtsermittlung
Etablierung dauerhaft friedlicher Beziehungen zwischen den Parteien gelingt. Hierzu zählt insbesondere, dass über die Ansprüche von einer neutralen, von beiden Seiten gleichermaßen akzeptierten und akzeptierenden Institution entschieden werden muss. Zudem muss die Frage der Verantwortlichkeit in einem Verfahren festgestellt werden, das beide Parteien als unparteiisch und objektiv wahrnehmen. Dies gilt vor allem auch für die Bestimmung der konkreten Höhe des Schadensersatzes, die nach den Grundsätzen der Staatenverantwortlichkeit zu bemessen ist. Schließlich dürfen die Existenzgrundlagen der betroffenen Parteien nicht nachhaltig beeinträchtigt werden268.
III. Zwischenfazit Zusammenfassend bleibt zu resümieren, dass die zuvor beschriebenen Entscheidungen zu einer „Kontextualisierung von Schadensersatzansprüchen in einem allgemeinen ius post bellum“269 beigetragen haben. Die EECC hat diesbezüglich zahlreiche Fragen aufgeworfen und entsprechende Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt, mit denen sich internationale Gerichte und Schiedskommissionen auseinandersetzen müssen, wenn sie über Schadensersatzansprüche wegen eines Verstoßes gegen das Gewaltverbot entscheiden müssen. Gleichwohl stellt die Nachkonfliktphase eine „offene Flanke des Völkerrechts“ dar, da sie trotz allem noch wenig rechtlich strukturiert ist und ihre Einordnung erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Allerdings muss man sich vor Augen halten, dass eine rein völkerrecht liche Betrachtungsweise in der Regel nichts an den gegebenen Tatsachen ändern wird. Eine Völkerrechtsverletzung allein bleibt ohne Konsequenzen. In jedem Fall bedarf es der politischen Entscheidung eines anderen Staates, die Völkerrechtsverletzung aufzuzeigen, sie anzuprangern und politische Konsequenzen aus ihr zu ziehen. Der Grundsatz „Wo kein Kläger, da kein Richter“ gilt auch im Völkerrecht. Vielfach bleiben Völkerrechtsverletzungen dergestalt unbeachtet, wenn andere Staaten es aus politischen Gründen für opportun halten, diese nicht zu missbilligen. Bei den untersuchten Anlassfällen hat wohl die Mehrheit der Staatengemeinschaft positiv oder zumindest mit meist schweigender Hinnahme auf die Interventionen der NATO reagiert. Eine Verurteilung des Vorgehens des Nordatlantikbündnisses im SR scheiterte. Zwar haben insbesondere im Rah268 Ders.,
ebd., S. 175. ius post bellum wird als analytischer Oberbegriff für diejenigen Rechts regeln benutzt, die nach Beendigung einer gewaltsamen Auseinandersetzung zur Herstellung und Sicherung des Friedens beitragen. Vgl. M. Krajewski, Schadensersatz wegen Verletzung des Gewaltverbots, in: ZaöRV 72 (2012), S. 152 m. w. N. und S. 176. 269 Das
C. Praxis der NATO seit Ende der Sowjetunion421
men der Kosovo-Intervention Staaten wie Russland, China und Indien die Intervention scharf kritisiert. Langfristige Konsequenzen sind diesen Protesten allerdings nie nachgefolgt – wenn davon abgesehen wird, dass dieses Vorgehen nun bereits mehrfach „nachgeahmt“ wurde. Somit ist letztlich nicht entscheidend, ob ein Staat bzw. Bündnis geltendes Völkerrecht verletzt hat – entscheidend ist vielmehr, wie andere Staaten darauf reagieren. Dies allerdings ist keine rechtliche, sondern eine politische Entscheidung. Selbst der schwerwiegendste Völkerrechtsbruch bleibt folgenlos, wenn er nicht von anderen Staaten geahndet wird270.
C. Praxis der NATO seit Ende der Sowjetunion – Folge: Nichtigkeit des NV? Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt271, ist der NV in seiner ursprünglichen Ausgestaltung grundsätzlich nicht als ein Vertrag zulasten Dritter – und einer damit einhergehenden Nichtigkeit des NV – anzusehen. Gleichwohl haben die begutachteten Anlassfälle aufgezeigt, dass die NATO-Praxis nicht mit dem Ansinnen der Gründungsväter des NV deckungsgleich ist. Während beim Bosnienkrieg „out of area“ – und damit außerhalb des „nordatlantischen Gebietes“ – interveniert wurde, zeichneten sich die anderen drei Interventionen dadurch aus, dass sie zur Durchsetzung eines regime change führten. Auch wenn im Rahmen der vorliegenden Arbeit dargelegt worden ist, dass das Aufgabenfeld des Nordatlantikbündnisses nach dem NV nicht allein auf die kollektive Selbstverteidigung beschränkt ist, sondern das Bündnis ebenso einen Beitrag „zur Entwicklung friedlicher und freundschaftlicher internationaler Beziehungen“ leisten darf, ist in diesem Zusammenhang jedoch entscheidend, dass neben der NATO ausschließlich die einzelnen Mitgliedstaaten im „Binnenverhältnis“, nicht aber andere Völkerrechtssubjekte (wie andere Staaten oder internationale Organisationen) darüber hinaus einzubeziehen sind und zudem diese Maßnahmen auf das Territorium der Mitgliedstaaten beschränkt zu bleiben haben. Aufgrund der dargelegten Praxis der NATO seit dem Ende der Sowjetunion – insbesondere auch durch die Einbeziehung anderer Völkerrechtssubjekte bei der Entwicklung „friedlicher und freundschaftlicher internationaler Beziehungen“ sowie dem Intervenieren außerhalb des „nordatlantischen Gebietes“ – bleibt nunmehr abschließend zu klären, ob der NV im Rahmen 270 C. Masuch, Die rechtswissenschaftliche Diskussion der Kosovo-Intervention, S. 354 f. 271 Vgl. Teil 3, Kap. 2, E.
422
Teil 4, Kap. 5: Auswertung der Rechtsermittlung
dieser „Interpretation“ durch die Mitgliedstaaten nicht doch als ein Vertrag zulasten Dritter zu qualifizieren ist. Denn durch die mit den Interventionen verbundenen innen- wie außenpolitischen sowie wirtschaftlichen Konsequenzen sind für Bosnien-Herzegowina, das Kosovo, Afghanistan wie auch Libyen als betroffene Staaten nicht unerhebliche „Belastungen“ einhergegangen. Insoweit ist aufzuschlüsseln, ob der Begriff des Vertrages zulasten Dritter – den die WVK grundsätzlich nur mit Zustimmung eines dritten Staates zulässt (vgl. Art. 35 WVK) – die NATO und die jeweiligen Drittstaaten aufgrund der untersuchten Anlassfälle berührt. Dies könnte auf den ersten Blick mit dem Verweis darauf, dass die WVK lediglich eine rechtliche Bindung der „Dritten“ an den Vertrag unter anderen Staaten meint, zu verneinen sein. Denn die Konvention unterscheidet grundsätzlich danach, ob es sich bei der Belastung eines Drittstaates um eine faktische oder um eine solche rechtlicher Natur handelt272. In Bezug auf die bei den Anlassfällen einhergehende faktische Belastung gibt die WVK allerdings keine Antwort auf die damit sich aufdrängenden (völkerrechtlichen) Fragen. In der völkerrechtlichen Literatur wird die Auffassung vertreten, dass bei einer Vereinbarung von Staaten, die zu einer Intervention in die inneren Angelegenheiten eines dritten Staates führt bzw. führen kann, zwar eine Rechtsverletzung dieses (dritten) Staates vorliegt bzw. vorliegen würde, die allerdings von der WVK nicht gemeint ist und auch nicht in jedem Falle gegen zwingendes Recht verstoßen muss. Folgt daraus hingegen ein Verstoß gegen ius cogens, soll die Norm der WVK über die Nichtigkeit von Verträgen (Art. 53 WVK) zur Anwendung gelangen273. Folgt man dieser völkerrechtlichen Ansicht, dann müssten die zuvor festgestellten Verstöße gegen zwingendes (Völker-)Recht im Rahmen der begutachteten Anlassfälle274 zur Folge haben, dass der (so interpretierte) NV – indem er in Widerspruch zu einer zwingenden Norm des Völkerrechts steht – als nichtig anzusehen ist. Nach Art. 53 WVK275 sind Verträge, die gegen ius K. Doehring, Völkerrecht, § 5, Rdnr. 347. auch die Anwendung von Art. 53 WVK ist in dieser Beziehung unklar. Es gibt Stimmen in der völkerrechtlichen Literatur, die andeuten, dass diese Norm eine Erga-omnes-Wirkung besitzt. Zudem ist fraglich, ob auch dritte Staaten sich auf Art. 53 WVK berufen können. Vgl. K. Doehring, Völkerrecht, § 5, Rdnr. 347 (Fn. 38). 274 Vgl. hierzu Teil 4 dieser Arbeit. 275 Art. 53 WVK lautet: „A treaty is void if, at the time of its conclusion, it conflicts with a peremptory norm of general international law. For the purposes of the present Convention, a peremptory norm of general international law is a norm accepted and recognized by the international community of States as a whole as a norm from which no derogation is permitted and which can be modified only by a subsequent norm of general international law having the same character.“ 272 Vgl.
273 Aber
C. Praxis der NATO seit Ende der Sowjetunion423
cogens verstoßen, nichtig. Diese Rechtsfolge der Nichtigkeit von Verträgen ist gewohnheitsrechtlich verankert276. Art. 53 WVK regelt grundsätzlich auch, wann die Rechtsfolge der Nichtigkeit von Verträgen eintritt. Bereits dem Wortlaut nach („… is void if, at the time of its conclusion, it conflicts with a peremptory norm of general international law …“) tritt die Nichtigkeit sofort ein. Völkerrechtliche Verträge, die ius cogens verletzen, sind somit von Anfang an nichtig277. Folge der Nichtigkeit ist gem. Art. 69 WVK278, dass die Verträge keine rechtliche Wirkung entfalten. Darüber hinaus enthält Art. 71 Abs. 1 WVK279 Regelungen zur Nichtigkeit eines Vertrages. Das Verhältnis dieser beiden Normen zueinander ist allerdings nicht ganz klar. Art. 69 und Art. 71 WVK behandeln an sich zwei unterschiedliche Sachverhalte. Art. 69 WVK regelt die Konsequenzen der Ungültigkeit. Dabei enthält der Wortlaut dieser Norm („A treaty the invalidity of which is established …“) einen Verweis auf die Verfahren zur Feststellung der Ungültigkeit. Demgegenüber regelt Art. 71 WVK den Fall der Nichtigkeit eines Vertrages nach Art. 53 WVK. Jedoch fehlt dieser Norm der Verweis auf das Verfahren zur Feststellung der Nichtigkeit. Dagegen unterscheidet Art. 71 WVK zwischen den Verträgen, die nach Art. 53 WVK nichtig sind, und solchen, die gem. Art. 64 WVK nichtig werden. Auf die Unterschiede der jeweiligen Normen und deren Anwendbarkeit soll vorliegend aber nicht der Fokus gerichtet werden280; vielmehr soll das 276 S. Kadelbach,
Zwingendes Völkerrecht, S. 324. Völkerrecht, Bd. I/3, § 157, S. 711. 278 Art. 69 WVK lautet: „1. A treaty the invalidity of which is established under the present Convention is void. The provisions of a void treaty have no legal force. 2. If acts have nevertheless been performed in reliance on such a treaty: (a) each party may require any other party to establish as far as possible in their mutual relations the position that would have existed if the acts had not been performed; (b) acts performed in good faith before the invalidity was invoked are not rendered unlawful by reason only of the invalidity of the treaty. 3. In cases falling under articles 49, 50, 51 or 52, paragraph 2 does not apply with respect to the party to which the fraud, the act of corruption or the coercion is imputable. 4. In the case of the invalidity of a particular State’s consent to be bound by a multilateral treaty, the foregoing rules apply in the relations between that State and the parties to the treaty.“ 279 Art. 71 Abs. 1 WVK lautet: „1. In the case of a treaty which is void under article 53 the parties shall: (a) eliminate as far as possible the consequences of any act performed in reliance on any provision which conflicts with the peremptory norm of general international law; and (b) bring their mutual relations into conformity with the peremptory norm of general international law.“ 280 Ausführlich zum Verhältnis der beiden Normen zueinander G. Dahm/J. Delbrück/ R. Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/3, § 157, S. 712. 277 G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum,
424
Teil 4, Kap. 5: Auswertung der Rechtsermittlung
Hauptaugenmerk den Folgen für den NV durch den ermittelten Verstoß gegen ius cogens gewidmet werden. Bei der Bestimmung der Folgen ist grundsätzlich zu berücksichtigen, dass die Nichtigkeit eines Vertrages die ultima ratio ist. In Fällen, bei denen Vertragsklauseln völkerrechtskonform ausgelegt werden können und lediglich eine bestimmte Interpretation ius cogens verletzen, soll der völkerrechtliche Vertrag nicht nichtig sein. Vielmehr soll ein völkerrechtlicher Vertrag zunächst so ausgelegt werden, dass er zwingendem Völkerrecht entspricht. Das gleiche soll für jene Fälle gelten, bei denen „lediglich“ die Durchführung eines Vertrages gegen ius cogens verstößt, aber zugleich auch andere Durchführungsmöglichkeiten in Betracht kommen. Gerade in diesen Fällen soll an erster Stelle ein Anspruch darauf bestehen, die völkerrechtswidrige Durchführung abzustellen und die legale Erfüllung des Abkommens zu sichern.281 Wendet man diese Vorgehensweise auf der Rechtsfolgenseite auf die untersuchten Anlassfälle und den NV an, dann haben die betroffenen „Dritten“ der jeweiligen Länder vor der Ultima Ratio der Nichtigkeit des NV primär einen Anspruch auf die völkerrechtskonforme Anwendung bzw. Umsetzung des NV. D. h., die NATO hätte sich in erster Konsequenz auf das zu besinnen, wofür sie 1949 gegründet wurde – als Militär bzw. Verteidigungsbündnis mit dem Ziel der Verteidigung seiner Mitgliedstaaten. Insofern bleibt es auch an dieser Stelle der Arbeit dabei, dass der NV zum einen kein Vertrag zulasten Dritter darstellt, und zum anderen, dass die völkerrechtswidrigen Interventionen der NATO nicht unmittelbar die Nichtigkeit des NV zur Folge haben. Vielmehr besteht gegen das Bündnis primär ein Anspruch auf völkerrechtskonforme Anwendung des NV. Zusammenfassend ist damit festzuhalten, dass die Praxis der NATO seit dem Ende der Sowjetunion nicht zwangsläufig und unmittelbar zur Nichtigkeit des NV führt.
D. Bewertung und Fazit Die in diesem Abschnitt ermittelten Ergebnisse verdeutlichen, dass das Vorliegen völkerrechtswidrigen Verhaltens keine unmittelbaren (völkerrechtlichen) Konsequenzen nach sich zieht – vielmehr bedarf es grundsätzlich der politischen Entscheidung eines anderen Staates, jene aufzuzeigen, sie anzuprangern und politische Konsquenzen aus ihr zu ziehen. Damit ist entscheidend, wie andere Staaten auf entsprechende Völkerrechtsverletzungen reagieren und nicht, ob ein Staat bzw. ein Bündnis gegen 281 Dies.,
ebd., S. 712 f.
D. Bewertung und Fazit425
geltendes Völkerrecht verstoßen hat. Dies sind jedoch letztlich keine ausschließlich rechtlichen, sondern insbesondere politische Entscheidungen. Aus diesem Grund kommt es bei völkerrechtlichen Verstößen und den daraus zu ziehenden Konsequenzen entscheidend darauf an, „wer“ diesen Verstoß begangen hat. Umso bedeutender ein Staat bzw. Bündnis auf der politischen Weltbühne ist, desto weniger ist davon auszugehen, dass andere Staaten entsprechende politische Konsequenzen fordern werden. So verhält es sich letztlich auch bei den untersuchten Anlassfällen, bei denen völkerrechtswidrige Interventionen der NATO und damit eine Ver letzung des Völkerrechts, sowie mit dem Verstoß gegen das in Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta normierte Gewaltverbot, auch eine Verletzung von ius cogens aufgezeigt wurden. Bis dato sind daraus jedoch keine wesentlichen politischen Konsequenzen für das (Verteidigungs-)Bündnis bzw. die Mitgliedstaaten – insbesondere die USA – erwachsen. Es ist anzunehmen, dass Staaten, die einen wesentlich geringeren Einfluss in der Weltgemeinschaft besitzen, bei Vorliegen derartiger Völkerrechtsverletzungen politisch und auch rechtlich anders behandelt werden würden. Darüber hinaus wurde expliziert, dass sich als Folge des völkerrechtswidrigen Handelns der NATO und dem damit einhergehenden Verstoß gegen ius cogens keine unmittelbare Nichtigkeit des NV ableiten lässt, da die betroffenen Staaten vor der ultima ratio der Nichtigkeit des NV in erster Linie einen Anspruch auf die völkerrechtskonforme Anwendung bzw. Umsetzung des NV haben. Im Ergebnis zeigt die in diesem Abschnitt vorgenommene Auswertung, dass selbst schwerwiegende Völkerrechtsverstöße keine unmittelbaren rechtlichen Konsequenzen nach sich ziehen, wenn der politische Handlungswille bei den involvierten Staaten und internationalen Organisationen nicht vorhanden bzw. ausreichend ist.
Teil 5
Abschluss der Untersuchung
„Ich merkt’ es wohl, vor Tische las man’s anders.“ Wallenstein I, Die Piccolomini, 4. Aufzug, 7. Auftritt
Dieser Ausruf des Generals Tiefenbach in Schillers1 Wallenstein2 – im Jahr 1999 in Bezug auf die Fortentwicklung völkerrechtlicher Verträge bereits von Hillgruber3 zitiert – bringt literarisch die im Rahmen der vorliegenden Arbeit untersuchte Praxis der NATO seit dem Ende der Sowjetunion zum Ausdruck. Das Nordatlantikbündnis steht mit dem NV prototypisch für eine Fortentwicklung völkerrechtlicher Verträge in seiner praktischen Handhabung fernab des Vertragstextes. Nicht allein die im Rahmen dieser Arbeit begutachteten vier Anlassfälle, sondern vor allem auch die seit dem Epochenjahr 1989 verabschiedeten drei Strategischen Konzepte sowie die Vielzahl der Gipfelerklärungen haben deutlich zutage treten lassen, dass das Bündnis ein Eigenleben etabliert und Aktivitäten entfaltet hat, die selbst bei großzügiger Auslegung des NV – der bis dato dem Gründungsvertrag entspricht – in diesem keine hinreichende (vertragliche) Grundlage mehr finden. Losgelöst vom (Gründungs-)Vertrag wurde das ursprünglich zu einem anderen Zweck geschaffene Nordatlantikbündnis neuen Zwecken dienstbar gemacht, ohne dass diese „Umwidmung“ sich bis dato in einer förmlichen Vertragsänderung niederschlug. Die daraus resultierende Praxis der NATO wurde vorliegend – insbesondere aus (völker-)vertraglicher Sicht – begutachtet. Die ermittelten Ergebnisse sollen nachfolgend thesenartig zusammengefasst und einer Schlussbetrachtung unterzogen werden.
1 Johann Christoph Friedrich von Schiller, * 10. November 1759 in Marbach am Neckar, † 9. Mai 1805 in Weimar, 1802 geadelt, war ein deutscher Arzt, Dichter, Philosoph und Historiker. Er gilt als (einer) der bedeutendste(n) deutsche(n) Dramatiker, Lyriker und Essayist(en). 2 Wallenstein ist die gängige Bezeichnung für eine Dramen-Triologie. Sie besteht aus den Werken Wallensteins Lager mit einem längeren Prolog, Die Piccolomini und Wallensteins Tod. Schiller behandelt darin den Niedergang des berühmten Feldherrn Wallenstein im Zuge des Dreißigjährigen Krieges. 3 C. Hillgruber, Die Fortentwicklung völkerrechtlicher Verträge als staatsrecht liches Problem, in: J. Isensee/H. Lecheler (Hrsg.), Freiheit und Eigentum, FS Walter Leisner, S. 53.
Kapitel 1
Zusammenfassung und Ausblick A. Thesen und Ergebnis dieser Arbeit Das Forschungsziel der vorliegenden Arbeit wurde in der Einleitung wie folgt definiert: Die völkerrechtliche Auseinandersetzung mit den zu untersuchenden Anlassfällen orientiert sich an der grundlegenden Frage, ob die von der NATO verwendete Rechtsgrundlage, samt Begründung für die jeweiligen Interven tionen – aus dem Blickwinkel des NV – rechtmäßig gewesen ist. Bei der Beurteilung dieser (Haupt-)Frage sind die vorgebrachten völkerrechtlichen Erklärungen des Bündnisses zu analysieren und unter dem Gesichtspunkt zu bewerten, ob deren Heranziehung jeweils im Einklang mit dem NV steht. Bei der Beurteilung der Rechtsgrundlage sind jeweils die anerkannten Quellen des Völkerrechts heranzuziehen, aus welchen sich die Rechtmäßigkeit grundsätzlich erschließt. Aus diesem Forschungsziel wurden vier Forschungsfragen abgeleitet, die verschiedene Ergebnisdimensionen inkludieren. Diese Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung werden nunmehr thesenartig zusammengefasst: (1) L ässt der NV die Wahrnehmung eines Mandats zu einem sog. „out-of-area“-Einsatz grundsätzlich zu? Die NATO ist gem. Art. 5 und 6 NV ein Militärbündnis i. S. v. Art. 51 VNCharta zur kollektiven Selbstverteidigung: Jeder bewaffnete Angriff auf einen Mitgliedstaat wird von den anderen Mitgliedstaaten als Angriff gegen alle angesehen. Jeder Vertragsstaat hat sich verpflichtet, in diesem Fall (sog. „Bündnisfall“) in Ausübung des in Art. 51 VN-Charta anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, „Beistand“ zu leisten. Für den Eintritt des Bündnisfalles ist die räumliche Belegenheit des Angriffsobjektes maßgebend: Nach Art. 6 NV gilt als bewaffneter Angriff i. S. d. Art. 5 NV auf eine oder mehrere Parteien jeder Angriff mit Waffengewalt auf das „nordatlantische Gebiet“. Daraus ergibt sich, dass ein bewaffneter An-
A. Thesen und Ergebnis dieser Arbeit431
griff nicht vorliegt, wenn etwa Schiffe oder Flugzeuge außerhalb des in Art. 6 NV näher bestimmten Vertragsgebietes angegriffen werden oder wenn gar „lediglich“ in politische, ökonomische oder militärische Interessen einer oder mehrerer Mitgliedstaaten eingegriffen wird, ohne dass ein militärischer Angriff in dem durch Art. 6 NV definierten „NATO-Gebiet“ erfolgt und abzuwehren ist. Im NV ist hingegen nicht geregelt, in welchen geografischen Gebieten die NATO in einem Bündnisfall agieren darf, um einen militärischen Angriff auf das „Bündnisgebiet“ (Art. 6 NV) abzuwehren. Der NV schließt jedenfalls nicht aus, dass solche kollektiven oder individuellen militärischen Selbstverteidigungsmaßnahmen – wenn die Voraussetzungen nach Art. 51 VN-Charta vollständig erfüllt sind – weltweit erfolgen dürfen.4 In den untersuchten Anlassfällen waren die Voraussetzungen des Art. 51 VNCharta in keinem der Fälle erfüllt, sodass die jeweiligen „out of area“-Einsätze nicht vom NV gedeckt waren. Darüber hinaus bilden die Vertragsbestimmungen keine ausreichende Grundlage für ein Tätigwerden des Bündnisses im Dienste und aufgrund eines Mandats der VN in oder gegen Drittstaaten. Die Wahrnehmung von Hilfsfunktionen zugunsten des kollektiven Sicherheitssystems der VN ist darin – auch nicht implizit – vorgesehen, geschweige denn die Kompetenz zu humanitären Interventionen zugunsten Drittstaatsangehöriger ohne ein solches Mandat oder Resolutionsüberschreitungen. (2) L iegt für das Bündnis eine Rechtsgrundlage für militärische Interventionen aus originärem NATO-Recht vor, d. h., kann das Bündnis auch aus eigener, originärer Kompetenz heraus handeln? Wie zuvor erörtert, ist das Nordatlantikbündnis ein Militärbündnis i. S. v. Art. 51 VN-Charta zur kollektiven Selbstverteidigung. Insofern kann eine durch Art. 51 VN-Charta („Verweisklausel“) nicht gerechtfertigte Intervention in keinem Fall einen „NATO-Bündnisfall“ nach Art. 5 NV darstellen oder rechtfertigen: Was gegen die VN-Charta verstößt, kann und darf die NATO gemäß den ausdrücklichen Regelungen in Art. 7 und 8 NV nicht beschließen und durchführen – auch nicht auf Wunsch oder auf Druck der Regierungen besonders wichtiger oder potenzieller Mitgliedstaaten. Aufgrund dieses Wechselverhältnisses zwischen VN-Charta und NV lässt sich eine Rechtsgrundlage für das Bündnis in Bezug auf militärische Interventionen grundsätzlich nicht aus dem NV herleiten. Darüber hinaus kann die NATO – die sich stets auch als (sicherheits-)politisches Bündnis verstanden hat (vgl. Art. 2 NV) – auch nicht über den Sicherheitsbegriff des NV 4 D. Deiseroth,
Die NATO, in: Ad Legendum 3/2017, S. 190 f.
432
Teil 5, Kap. 1: Zusammenfassung und Ausblick
eigene, originäre Kompetenzen für militärische Zwangsmaßnahmen begründen, da diesem kein über die gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen hi nausgehendes, eigenständiges militärisches Element innewohnt5. (3) L ässt sich aus dem NV und den zu prüfenden Anlassfällen ein Verstoß der NATO gegen zwingende völkerrechtliche Vorschriften (ius cogens) ableiten? Die untersuchten Anlassfälle haben aufgezeigt, dass das Nordatlantikbündnis jeweils völkerrechtswidrig intervenierte; mit der Folge, dass einer der wichtigsten Grundsätze des modernen Völkerrechts – das in Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta normierte Gewaltverbot – seither mehr und mehr „ausgehöhlt“ wird. Mit diesen Verstößen einher geht ebenfalls die Verletzung zwingenden Völkerrechts (ius cogens). Aus dem NV selbst lässt sich hingegen kein Verstoß gegen ius cogens ableiten, da dieser auf Grundlage der VN-Charta entstanden ist und wie zuvor ausgeführt, keine eigenen, originären Kompetenzen für militärische Interventionen besitzt. (4) W ie weit darf der NV ausgelegt bzw. „fortgebildet“ werden, damit die „Praktiken“ des Nordatlantikbündnisses als völkerrechtlich angemessen zu bewerten wären? Die Mitgliedstaaten besitzen grundsätzlich – zur gesamten Hand – die volle Interpretationsherrschaft über den Gründungsvertrag, die sie durch nachträgliche Auslegungsvereinbarungen oder sonstige Formen einer „sub sequent practice“ ausüben können (vgl. Art. 31 Abs. 3 lit. a. und b. WVK). Allerdings ist Voraussetzung, dass diese mit entsprechendem Vertragsänderungswillen (opinio iuris) vorgenommen werden müssen, was durch die Mitgliedstaaten bis dato nicht erfolgte. Darüber hinaus können internationale Organisationen und/oder ihre Organe zur effektiven Erfüllung der ihnen zugewiesenen Aufgaben über den „sichtbaren“ Wortlaut des völkerrechtlichen Vertrages hinaus mit „verdeckt geschriebenen“ implizierten Kompetenzen („implied powers“) ausgestattet sein. Für das Bündnis kann aber auch durch die Anwendung der „implied powers“-Regel keine Kompetenz für Maß nahmen kollektiver Sicherheit begründet werden. Die NATO verfügt über keine ungeschriebenen Befugnisse, welche für die Ausübung der kollektiven Sicherheitsfunktion erforderlich sind.
5 C. Hillgruber, Die Fortentwicklung völkerrechtlicher Verträge als staatsrecht liches Problem, in: J. Isensee/H. Lecheler (Hrsg.), Freiheit und Eigentum, FS Walter Leisner, S. 58.
B. Schlussbetrachtungen433
Die Frage, ob die Umsetzung von Beschlüssen des SR zum vertraglichen Aufgabenspektrum der NATO gehört, ist – auch bei extensiv verstandener „implied power“ – negativ zu beantworten. Darüber hinaus ist eine Kompetenz zu einseitigen Zwangsmaßnahmen gegenüber Drittstaaten ebenfalls zu verneinen. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass sowohl die normierten als auch ungeschriebenen Vertragskompetenzen völkerrechtsgemäß sein müssen und nicht gegen das Verbot der Vertragsanwendung zulasten Dritter verstoßen dürfen. Eine Ausdehnung militärischer Befugnisse der NATO kommt daher nur im Rahmen des VN-Friedenssicherungssystems (Kapitel VIII VNCharta) in Betracht.
B. Schlussbetrachtungen Insbesondere, da mit der Epochenwende Anfang der 1990er-Jahre die nicht nur für Europa richtungsweisende Möglichkeit bestand, das Nordatlantikbündnis ebenso wie den WP aufzulösen, lebt der von Lord Ismay6 in einem zugespitzten, aber aussagekräftigen Bonmot formulierte „Geist“ der NATO – „to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down“7 – auch fast sieben Jahrzehnte nach Gründung des Bündnisses fort. Allerdings zeigt der Blick auf die geostrategische und politische Weltlage, dass die (trügerische) Weltordnung nach der Implosion der Sowjetunion nunmehr selbst beginnt, zu implodieren8. Die von der NATO gelebte Praxis nach dem Ende der Sowjetunion hat auch zu einer „Verschiebung“ von Begrifflichkeiten geführt. So war es ein Anliegen des Autors, die (fundamentalen) völker- und damit auch verfassungsrechtlichen Unterschiede zwischen einem „System kollektiver Verteidigung“ (Militärbündnis) und einem „System kollektiver Sicherheit“ darzulegen – die auf zwei entgegengesetzten Grundkonzeptionen von Sicherheits politik beruhen. Während sich Verteidigungsbündnisse auf das Ziel der Erreichung eigener militärischer Sicherheit aufgrund der Stärke des Bündnisses gegenüber dem potenziellen militärischen Gegner richten, erstrebt die Grundkonzeption kollektiver Sicherheit hingegen innerhalb der internationa6 Hastings Ismay, 1. Baron Ismay, * 21. Juni 1887 in Naini Tal/Indien, †17. Dezember 1965 in Broadway/Worcestershire war ein britischer Politiker, Diplomat und General. Vom 24. März 1952 bis 16. Mai 1957 war er der erste Generalsekretär der NATO. 7 Vgl. https://www.nato.int/cps/us/natohq/declassified_137930.htm (zuletzt aufgerufen, am 22. Juni 2018). 8 Besipielhaft hierzu die (medialen) Diskussionen rund um das NATO-Gipfeltreffen am 11./12. Juli 2018 in Brüssel: „The Western alliance is dead“, https://usa. spectator.co.uk/2018/07/the-western-alliance-is-dead/ (zuletzt aufgerufen, am 14. Juli 2018).
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Teil 5, Kap. 1: Zusammenfassung und Ausblick
len Rechtsordnung die gemeinsame Sicherheit aller involvierter Staaten auf regionaler oder globaler Ebene unter Einschluss der potenziellen Gegner. Sie gründet die eigene Sicherheit mithin primär gerade nicht auf der eigenen Stärke, sondern verankert sie in der wechselseitigen und damit gemeinsamen/ kollektiven Sicherheit. Ein „System kollektiver Sicherheit“ ist damit – anders als Militärbündnisse wie NATO und WP – auf prinzipielle Universalität i. S. d. Einschlusses aller potenziellen Aggressoren angelegt. Dieser fundamentale Unterschied besteht auch beim Nordatlantikbündnis. Es steht – anders als etwa die VN – nicht jedem Beitrittswilligen offen, der die im NV verankerten Ziele anerkennt. Als weiteren gravierenden Unterschied enthält ein Verteidigungsbündnis für den Fall eines von einem eigenen Mitgliedstaat begangenen Aggressionsaktes keine verbindlichen internen Konfliktregelungsmechanismen. Das ist auch beim NV so. Eine NATO-interne Verpflichtung der übrigen Mitgliedstaaten, einem NATO-Verbündeten, der gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot verstößt, mit kollektiven NATO-Zwangsmaßnahmen entgegenzutreten, sieht er gerade nicht vor. Dieses konzeptionelle und institutionelle Defizit der NATO ist typisch für ein „System kollektiver Verteidigung“, das ja gerade zur Verteidigung gegen einen potenziellen externen Aggressor, nicht aber zur Wahrung der Sicherheit auch gegenüber verbündeten Mitgliedern geschlossen wird.9 Der Begriff der „kollektiven Sicherheit“ ist somit ein terminus technicus, unter dem etwas ganz Bestimmtes verstanden wird. Die NATO kann aufgrund ihrer Historie, Struktur und auch ihres Selbstverständnisses – anders als es das BVerfG und auch einige Völkerrechtler sehen – nicht darunter subsumiert werden. Resümierend kann darüber hinaus festgehalten werden, dass die NATO – obwohl entstehungsgeschichtlich nachweisbar als reines Verteidigungsbündnis auf der Grundlage von Art. 51 VN-Charta konzipiert – sich mittlerweile auch als ausführendes (Hilfs-)Organ der VN bei militärischen Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der VN-Charta versteht.10 Die vorgenommene Untersuchung konnte aufzeigen, dass die NATO ihren politischen und militärischen Operationsrahmen auf der Grundlage eines extrem weit verstandenen Sicherheitsbegriffes erheblich erweiterte. Die vier untersuchten Anlassfälle haben zum Vorschein gebracht, dass maßgebliche politische und militärische Entscheidungsträger in den Mitgliedstaaten – vor allem in den USA – bei 9 D. Deiseroth,
Die NATO, in: Ad Legendum 3/2017, S. 197 ff. auch C. Hillgruber, Die Fortentwicklung völkerrechtlicher Verträge als staatsrechtliches Problem, in: J. Isensee/H. Lecheler (Hrsg.), Freiheit und Eigentum, FS Walter Leisner, S. 53 f. 10 So
B. Schlussbetrachtungen435
ihrem nationalen und globalen Agieren innerhalb und außerhalb der NATO das geltende Völkerrecht nur insoweit respektieren und einfordern, wie es ihnen nützlich erscheint. Darüber hinaus hält sich das Bündnis – wie der Kosovo- und Libyenkrieg gezeigt haben – für berechtigt, sowohl ohne Mandat als auch über Resolutionsanordnungen der VN hinaus in Drittstaaten militärisch zu intervenieren. In einer globalisierten Welt, in der von vielen Akteuren die Entstehung und Verfestigung einer Weltgesellschaft in politischer, wirtschaftlicher und auch gesellschaftlicher Hinsicht propagiert wird, bedarf es auch der zunehmenden Verrechtlichung der internationalen Beziehungen. Eine rechtlich geordnete Weltgesellschaft ist jedoch unvereinbar mit einer einseitigen, unkontrollierten Anwendung militärischer Zwangsmaßnahmen durch Einzelne. Mit der Annahme der VN-Charta haben sich die Staaten 1945 entschlossen, den „Hobbesschen Zustand eines potentiellen Krieges alle gegen alle zu beenden“11 und stattdessen „Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzuführen, die gewährleisten, dass Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird“. An diesem Ansatz führt auch weiterhin kein Weg vorbei.12 Das Schicksal des Gewaltverbotes wird nicht zuletzt davon abhängen, ob der zu seiner kollektiven Durchsetzung in Kapitel VII der VN-Charta vorgesehene Sanktionsmechanismus von allen Völkerrechtsteilnehmern verantwortungsvoll gehandhabt wird13.
11 B. Fassbender, Gegenwartskrise des völkerrechtlichen Gewaltverbotes vor dem Hintergrund seiner geschichtlichen Entwicklung, in: EuGRZ 31 (2004), S. 256. 12 Vgl. Präambel der VN-Charta. 13 So O. Dörr, Gewalt und Gewaltverbot im modernen Völkerrecht, in: APuZ 2004 (B 43/2004), S. 20.
Kapitel 2
Summary The purpose of this work was the analysis of military interventions in Bosnia-Herzegovina, Kosovo, Afghanistan and Libya by the North Atlantic Alliance in the light of international law. The main question was whether or not the legal basis applied by the NATO in argumentation for the military interventions is legitimate from the perspective of the NATO-Treaty. The recognized sources of international law were considered. The investigation was partitioned in the following four research questions: (1) Does the NATO-Treaty principally allow the exercise of a mandate for a so-called „out of area“ deployment? (2) Does the Alliance have a legal basis for military interventions under original NATO law, that is, are the Alliance’s operations in its own original competence? (3) Were there violations of mandatory international law (ius cogens) by the NATO-Treaty and the military interventions examined? (4) To what extent may the NATO-Treaty be interpreted or „stretched“ so that the actions of the North Atlantic Alliance would be considered appropriate under international law? (1) D oes the NATO-Treaty in principle allow the exercise of a mandate for a so-called „out of area“ deployment? According to Art. 5 and 6 of the NATO-Treaty, NATO is a military alliance with the purpose of collective self defense according to UN charter, Art. 51 („Any armed attack on a member state is considered by the other member states as an attack on all“). Each state party has committed to provide assistance in the case of such attacks („mutual defense case“), exercising the right of individual or collective self-defense of the attacked party or parties. If an alliance case occurs, the geographical location of the attacked object is decisive: The NATO-Treaty (Art. 6) defines it as an armed attack of one or more parties within the „North Atlantic area“. If, for example, ships or aircrafts are attacked outside the contract territory, or if the attack consists of
Teil 5, Kap. 2: Summary437
interference with the political, economic or military interests of one or more member states without an actual military attack, this is also considered as an attack as defined by Art. 6 NATO-Treaty and must be fought off. The NATOTreaty does not regulate in which geographical areas NATO may act in an alliance case to ward off a military attack on the „alliance territory“ (Article 6 NATO-Treaty). The worldwide implementation of such military self- defense measures is not excluded in the NATO-Treaty, provided that the requirements of Article 51 of the UN-Charter are fully met. In the cases examined, the requirements of Article 51 of the UN-Charter were not fulfilled, therefore these „out-of-area“-missions were not covered by the NATO-Treaty. In addition, the treaty provisions do not provide a sufficient basis for Alliance action in the service and mandate of the UN in or against third countries. The provision of auxiliary functions in favour of the UN collective security system is envisaged – even implicitly – not to mention the competence to provide humanitarian assistance to third-country nationals without such a mandate. (2) D oes the Alliance have a legal basis for military interventions under original NATO law, that is, are the Alliance’s operations in its own original competence? As the North Atlantic Alliance is a military alliance according to Art. 51 UN-Charter on Collective Self-Defense, an intervention not justified by Article 51 of the UN-Charter („Referral Clause“) can under no circumstances constitute or justify a mutual defense case under Article 5 NATO-Treaty. Any violation of the UN-Charter can and must be pursued by NATO. The explicit regulations in Articles 7 and 8 NATO-Treaty do not allow any violation of the UN-Charter, not even at the request or pressure of the governments of particularly important or potential member states. Because of this reciprocal relationship between the UN Charter and the NATO-Treaty, a legal basis for the Alliance with respect to military interventions in Bosnia-Herzegovina, Kosovo, Afghanistan and Libya cannot be derived from the NATO-Treaty. As NATO has always defined itself as an alliance of politics and especially security policy (Art. 2 NATO-Treaty), it cannot justify its own original competences for military coercive measures by the security concept of the NATO-Treaty.
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Teil 5, Kap. 2: Summary
(3) W ere there violations of mandatory international law (ius cogens) by the NATO-Treaty and the military interventions examined? The cases examined have shown that the North Atlantic Alliance intervened in violation of international law. This led to an increasing erosion of the prohibition of violence (as set out in Art. 2 para. 4 UN-Charter), one of the most important principles of modern international law. These contraventions are accompanied by the violation of mandatory international law (ius cogens). On the other hand, it is not possible to derive any contravention of ius cogens from the NATO-Treaty itself, as it was created on the basis of the UN-Charter and, as previously stated, does not have any own original competencies for military interventions. (4) T o what extent may the NATO-Treaty be interpreted or „stretched“ so that the actions of the North Atlantic Alliance would be considered appropriate under international law? As a rule, the member states have full authority of the scope of interpretation of the founding treaty. They can act on this by means of subsequent interpretative agreements or other forms of „subsequent practice“ (see Article 31 (3) (a) and (b) VCLT). However, this is under the condition that these adaptions must be carried out with the intention to change the contract accordingly (opinio iuris), which has not been done by any of the member states to date. In addition, international organizations and/or their institutions may be equipped with implied powers beyond the „visible“ wording of the international treaty in order to perform their assigned tasks effectively. Both standardized and unwritten contract competencies must be in accordance with international law and must not violate the prohibition of contract application at the expense of third parties. For the Alliance, the application of the implied powers rule cannot justify competence for collective security measures, as NATO itself has no implied powers. The question of whether the implementation of Security Council resolutions belongs to NATO’s contractual range of tasks must be answered with no, even if the „implied power“-rule is interpreted broadly. In addition, no competences on unilateral coercive measures against third countries are covered by the NATO treaty. An extension of military powers by NATO is therefore only possible under the UN peacekeeping system (Chapter VIII UN-Charter).
Teil 5, Kap. 2: Summary439
Conclusion The spirit and purpose of NATO was pointedly formulated by Lord Ismay, NATO’s first secretary general, „to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down“ almost seven decades ago. The early 1990s as a turning point of global history would have provided an opportunity for Europe to dissolve the North Atlantic Alliance, like the Soviet Union had dissolved the Warsaw Pact. However, the geostrategic situation since suggests that the (somewhat deceptively) calm and settled world order after implosion of the Soviet Union is now beginning to implode itself. NATO’s practice after the end of the Soviet Union has also led to a „shift“ of terminology. There are two opposing basic concepts of security policy: a „system of collective defense“ (military alliance) and a „system of collective security“. Collective defensive alliances are aimed at obtaining and maintaining military security of the allies, achieved by the alliance’s strength over its potential military adversary. The basic concept of collective security within the international legal system seeks common security among all involved states at a regional or global level, including potential enemies. Therefore, a member state’s own national security in a system of collective security is not primarily based on its own strength, but anchors in mutual and thus collective security and support of the entire alliance. Unlike military alliances such as NATO and WP, a system of collective security is based on the principle of universality by including the potential aggressors. It was the author’s aim to analyse the constitutional differences between the systems of collective defense and collective security in light of international public law. This difference is evident in the North Atlantic Alliance, that, unlike the UN, is not open to every candidate who recognizes the objectives enshrined in the NATO-Treaty. The defense alliance does not contain binding internal conflict settlement mechanisms for the case that a member of the alliance commits an act of aggression. This holds true for the NATO treaty, which does not present any collective NATO coercive measures for the remaining member states, to react on a NATO ally who violates the international law force prohibition. This conceptual and institutional deficit of NATO is typical of a system of collective defense, which is founded to defend against a potential external aggressor, but not to ensure mutual security of the allied members. The term „collective security“ is thus a technical term with a clearly defined meaning. Due to its history, structure and also its self-understanding, NATO can – in the author’s opinion – not be subsumed under the term „collective security“, although opposing views have been expressed by the German Federal Constitutional Court and some experts on international law.
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Teil 5, Kap. 2: Summary
In summary, it can be stated that NATO – although historically proven to be a pure defensive alliance based on Article 51 of the UN-Charter – now also acts as an executive (auxiliary) body of the UN in measures of military coercions covered by Chapter VII of the UN-Charter. This work has shown that NATO has significantly expanded its political and military operational framework based on an extremely broad understanding of security. The four cases examined – NATO’s military interventions in Bosnia-Herzegovina, Kosovo, Afghanistan and Libya – have shown that key political and military decision-makers in the member states, especially in the USA, respect current international law only to an extent that they consider useful in their political actions both within and outside NATO. Moreover, the wars in Kosovo and Libya have shown that the alliance feels entitled to intervene militarily in non-EU countries without a mandate or order issued by a UN resolution. In a globalized world with many actors propagating the emergence and consolidation of a global society on a political, economic and social level, an increasing juridification of international relations is needed. However, a legally ordered world society is incompatible with a one-sided and uncontrolled use of military coercive measures by individual parties. With the adoption of the UN Charter in 1945, the member states decided to end the „Hobbesian state of a potential war all against all“ and instead „to adopt principles and procedures to ensure that armed force is only applied in the common interest“. There is no way around this approach. The future of the ban on violence will depend on whether or not the sanctioning mechanisms envisaged for its collective implementation in Chapter VII of the UN Charter are handled responsibly by all participants of international law.
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Stichwortverzeichnis 9/11 167 f., 370 ff. Abwandlung 297 ff., 339, 353 Afghanistan 132, 167 ff., 294 f., 307, 370 ff., 403, 422 al-Qaida 168 f., 198, 372, 375 f., 385 f. Änderung siehe unter Vertragsänderung Angriffshandlung 186, 203, 229, 232 ff., 350, 382 Auslegung –– autoritative 210, 237, 261 f., 268, 302 f., 378 –– dynamisch 260, 300 f., 316, 382 –– grammatikalisch 253, 378 f. –– teleologisch 253, 268, 301 f., 334, 365, 382 –– völkerrechtliche Auslegungslehre 249 ff., 327 Auslegungsregeln 252 ff., 265 f., 300 Auslegungsvorgang 257 ff., 316 bewaffnete Konflikte 148, 390, 394, 415, 418 bewaffneter Angriff 195, 233 f., 272, 276, 363, 367 f., 377 ff. –– Proportionalität 201, 203, 240 f., 393 –– Staatlichkeitserfordernis 378 ff. –– Unmittelbarkeit 240 f. Bosnien-Herzegowina 89, 129, 146 ff., 347 ff., 355 BRD 71 f., 75 ff., 283 ff. Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 77 ff., 124, 284, 285 ff., 291 ff., 304, 307, 311 f., 330, 411, 434 DDR 65, 71, 75 ff., 104 f., 114, 116, 128, 410 „Die deutsche Frage“ 75 ff.
effet utile 300, 324, 329 f. Einsatzgebiet 171, 270, 276 ff., 305, 310 f., 353 Friedensbedrohung 150, 186 ff., 348, 355 f., 371 f., 386, 394 Friedensbruch 186, 204 f., 229, 350, 398 Friedensmission 159, 354 Friedenssicherung (kollektive) 335 f., 338 f., 342 f., 352, 365 ff., 372 Gewaltverbot, völkerrechtliches 181 ff., 205 f., 229, 232, 368 f., 372, 381, 397, 414 ff., 432, 434 –– Ausnahmen 183 f., 232, 350, 366 f., 379, 381 Gipfelerklärungen 225, 228 f., 304 ff., 429 Grundgesetz –– Art. 24 Abs. 2 286 ff., 295 f. –– Art. 59 Abs. 2 289 f., 291, 294 ff., –– Art. 87a Abs. 2 285 ff., 296 Gründungsvertrag 258, 290, 300 ff., 329, 331, 333, 359, 369, 378, 432, Handlungsprinzipien der NATO 278 ff. –– Konsensprinzip 282 f. –– Konsultation 97 ff., 142, 164, 195, 280 ff., 306, 353 –– Solidarität 117, 121, 168, 175, 280 f. –– Souveräne Gleichheit 278 f. –– Zusammenarbeit 118, 120 f., 127, 135, 227, 280 f., 306 Hauptvereinbarungen 225 ff., 365 f. Humanitäre Intervention 144, 163, 203 ff., 360 ff., 394 IFOR 155 f.
494 Stichwortverzeichnis
Internationaler Gerichtshof (IGH) 30, 188 f., 212 f., 215, 219 f., 239, 250, 255, 258, 260 f., 264, 300 ff., 326 f., 329, 337, 341, 357, 379 f., 383, 411, 418 implied powers-Lehre 300, 324 ff., 353, 358, 432, Internationale Organisationen 33, 38 ff., 95, 208, 219 ff., –– Interpretationskompetenz 302 f. –– spätere Praxis 260 f., 282, 300, 303, 313 ff. ISAF 171, 294 f., 307, 370, 385 ff. ius cogens 181, 224 f., 411, 414 ff., 422 ff., 432 KFOR 166, 362 kollektive Verteidigung 140, 228, 244, 272 f. Kosovo 90, 131 ff., 156 ff., 307, 360 ff., 390, 403 Legalität 33 ff., 38, 412 Legitimität 24, 33 ff., 395 Libyen 138, 172 ff., 388 ff., 422 NATO –– Entwicklung 66 ff., 85 f. –– Strategische Ausrichtung 101 ff. –– Struktur, militärisch 98 ff. –– Struktur, politisch 95 ff. NATO-Rat 98, 108, 111, 153 ff., 269, 280 f., 331 f. NATO-Vertrag 66, 74 f., 99, 225 f., 270 ff., 291 ff., 312 –– Art. 1, 7 und 8 274 f. –– Art. 2 75, 273 f., 333, 353, 431 –– Art. 5 132, 142, 168, 193, 227, 241 ff., 272 f. –– Art. 6 276 f., 430 f. –– Art. 10 74, 82, 277 –– Präambel 74 f., 270 ff., 275, 278, 333 ff., 342 Nordatlantisches Gebiet 276 f.
Notwehr 202 f., 230, 240, 368, 397 Operationen der NATO –– Operation „Allied Force“ 156, 165 ff., 360 ff. 367 ff. –– Operation „Deliberate Force“ 146, 149 f., 154 ff., 347 ff. –– Operation „Enduring Freedom“ 167 ff., 370 ff. –– Operation „Unified Protector“ 172, 174 f., 388 ff., 397 Regionalorganisation 192 ff., 231, 244 f., 334 ff., 353 f., Repressalien 199 ff. Republik Jugoslawien 129, 136, 147 ff., 157, 160 f., 165 f. Responsibility to Protect (R2P) 175, 389 ff. Russland 86 ff., 101, 127, 131, 135, 139, 142 ff., 153, 197, 306, 362 f., 369 Sanktionen 174, 187, 204, 210, 364, 386, 396, 400 Sanktionsmechanismus 350 f., 400 Schadensersatz 415 ff. Selbstverteidigung 183, 203, 230, 366, 370 ff., 415, 431 –– individuelle 169, 229, 231, 241 f., 342 –– kollektive 190 ff., 231 ff., 270, 372 ff., 421, 430 –– präventive 234 ff. SFOR 156 Sowjetunion 48 ff., 56 ff., 68 ff., 85 ff., 104 ff., 167, 433 Staatennotstand 202 f. Strategische Konzepte der NATO 226 ff., 307 ff. Schutzverantwortung siehe unter R2P Taliban 167 ff., 375 ff. Terror 131 f., 140 f., 168 ff., 198 f., 370 ff., 414
Stichwortverzeichnis495
ultima ratio 201, 205, 424 f. ultra vires-Handeln 226, 327, 357 ff. Vereinigte Staaten von Amerika 48 ff., 60 ff., 86 ff., 103 ff., 167 ff., 404 ff. Vereinte Nationen –– Generalversammlung 222, 232, 235, 360, 391 –– Resolutionen 155 f., 168 ff., 174 f., 217, 347 ff. –– Resolutionsüberschreitung 399 ff., 431 –– Sicherheitsrat 149 ff., 184 ff., 363, 370, 396 ff. –– sog. Blauhelmtruppen 150, 288 Vertrag zulasten Dritter 274, 277 f., 339 ff., 421, 424, Vertragsänderung 291, 297 ff., 304 ff., 324 ff., 339, 353 VN-Charta –– Art. 39, 42 186 ff., 196, 205, 232, 355, 371, 394 –– Art. 51 190, 229 ff., 372 f., 377 ff. –– Art. 103 190 f., 352, 366 –– Kapitel VII 180 ff., 229 ff. –– Kapitel VIII 192 ff., 231, 243 f., 339, 351, 366, 433 –– Zwangsmaßnahmen 185 ff., 349 ff., 360 ff., 372 f., 388, 396 ff.
Völkergewohnheitsrecht 212 ff., 225 ff., 250 f., 258, 263 f., 290, 314, 320, 329, 339, 341 ff. Völkerrecht –– allgemeine Rechtsgrundsätze 188, 215 f., 218 f., 223 f., 228, 332 –– völkerrechtliche Verträge 74, 81 f., 212, 252, 329, 341, 413, 423 Völkerrechtsverständnis 404 ff., 414 Warschauer Pakt 68 ff., 84, 335 Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) 212, 225, 249 ff., 297 ff., 339 ff., 422 ff. –– Art. 31 Abs. 1 253 –– Art. 31 Abs. 2–4 253 ff. –– Art. 32 256 f., 258, 265, 378 –– Art. 33 Abs. 1 262, 263, 268 –– Art. 33 Abs. 2 263 f. –– Art. 33 Abs. 3 264 f., 268 –– Art. 33 Abs. 4 264 ff. –– Art. 35 WVK 342, 422 –– Art. 53 WVK 422 f. –– Art. 71 WVK 423 Zweiter Weltkrieg 47 ff., 60, 72, 75, 83, 94 f., 112, 128, 389 Zwingendes Recht siehe unter ius cogens