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German Pages 480 [482] Year 2011
Horst Junginger
Die Verwissenschaftlichung der „Judenfrage“ im Nationalsozialismus
Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, Bd. 19 Herausgegeben von Klaus-Michael Mallmann
Horst Junginger
Die Verwissenschaftlichung der „Judenfrage“ im Nationalsozialismus
Gewidmet der Karlsruher Jüdin Sophie Ettlinger, die aus Zufall und doch nicht zufällig in dieses Buch geriet, weil sie eine Schreibmaschine besaß, die den nationalsozialistischen Judenforschern von Nutzen war.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2011 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Covergestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Coverbild: Karikatur über den „Mordjuden“ Grynszpan, die im Dezember 1938 im Stürmer erschien. Herschel Grynszpan (geb. 1921, Todesdatum unsicher) erschoss am 7. November 1938 in Paris den deutschen Legationssekretär Ernst vom Rath. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-23977-1 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-71410-0 eBook (epub): 978-3-534-71412-4
Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung: religion matters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Religion, Blut und Rasse aus religionswissenschaftlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Die Universität Tübingen und die Juden: von der Universitätsgründung im Jahr 1477 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Die Weimarer Republik als Höhepunkt und Wende der Judenemanzipation: Institutionalisierungsprozesse und ihr Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5. Die „Judenfrage“ stellt sich neu . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6. Die Auseinandersetzungen um eine Professur zum Studium der „Judenfrage“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7. Antisemitismus in Theorie und Praxis: „the smoking gun“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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8. Antisemitismus in letzter Konsequenz . . . . . . . . . . . . .
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9. Im Fluss der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Archivquellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bibliographie für die Zeit vor 1945. . . . . . . . . . . . . . . .
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Bibliographie Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Einleitung: religion matters Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit dem nach 1933 in Deutschland unternommenen Versuch, die so genannte „Judenfrage“ mit Hilfe der Wissenschaft grundsätzlich und auf Dauer zu lösen. Ihr liegt die Ausgangshypothese zu Grunde, dass der nationalsozialistische Staat seine antijüdische Politik auf vorgeblich objektive Sachverhalte zurückführen musste, um für ihre Durchsetzung das erforderliche Maß an Plausibilität und Zustimmung zu erlangen. Den Anschein eines lediglich subjektiven, sei es religiösen, politischen oder ökonomischen Interesses galt es unbedingt zu vermeiden, sollte der Kampf gegen das Judentum den Charakter einer unabweisbaren Notwendigkeit annehmen. Wie ich in dieser Studie nachzuweisen suche, gehörte eine wissenschaftliche Erklärung für das „Judenproblem“ zu den unabdingbaren Voraussetzungen, um den Ausschluss einer ganzen Menschengruppe aus einem modernen Staatswesen und einer kulturell hoch stehenden Gesellschaft im 20. Jahrhundert rechtfertigen zu können. Ungeachtet des Zivilisationsbruchs, den bereits die ersten antijüdischen Gesetze darstellten, musste es den Verfechtern der nationalsozialistischen Judenpolitik entscheidend darauf ankommen, sich von vormodernen und „mittelalterlichen“ Formen des Antisemitismus zu distanzieren, um stattdessen einen angeblich von jeher vorhandenen Gegensatz zum Judentum als objektive Tatsache und ein auf das Wesen der Juden selbst zurückzuführendes Problem erscheinen zu lassen. Im Zentrum sowohl der politischen als auch der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der „Judenfrage“ stand die Idee der Rasse. Über eine rassenkundliche Kategorienbildung sollte der Nachweis geführt werden, warum die Juden für die deutsche Nation eine Gefahr bedeuteten und welche Bereiche und Aspekte des öffentlichen Lebens besonders davon betroffen waren. Ohne eine wissenschaftlich begründete Annahme jüdischer Rasseeigenschaften hätte sich die Relevanz der „Judenfrage“ als ein existenzielles Gegenwartsproblem kaum verständlich machen und politisch operationalisieren lassen. Sehr viele Deutsche befanden sich bereits in einer zu großen Distanz zum Kirchenchristentum, als dass sie für eine religiöse Argumentation auf der Grundlage traditioneller Glaubensinhalte
1. Einleitung: religion matters
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zugänglich gewesen wären. Eine neue wissenschaftliche Beschäftigung mit der „jüdischen Rasse“ gewann aber auch deswegen an Bedeutung, weil im Zuge der nationalsozialistischen Judengesetzgebung die praktische Schwierigkeit auftrat, dass die zuständigen Instanzen über keine zuverlässige Möglichkeit verfügten, um einen Juden als solchen erkennen und entsprechend behandeln zu können. In vielen Fällen, das heißt insbesondere bei Mischehen, früheren Glaubensübertritten und einem erheblich variierenden Grad der Assimilation stellte es sich als unmöglich heraus, den jüdischen „Rasseanteil“ einer Person exakt zu quantifizieren. Das hatte eine erhebliche Rechtsunsicherheit zur Folge, über die Justiz und Verwaltung beständig Klage führten. Die immensen Probleme bereits bei der Formulierung und dann bei der weiteren Ausgestaltung der Nürnberger Gesetze machen deutlich, wie wenig es der Legislative gelang, geeignete Kriterien zur Bestimmung der „jüdischen Rasse“ zu entwickeln und juristisch zur Anwendung zu bringen. Ein charakteristisches Beispiel für die strukturellen Defizite des nationalsozialistischen Rassenrechts ist der Fall des „Halbjuden“ Otto Citron, der 1935 an der Eberhard Karls Universität Tübingen Germanistik zu studieren begonnen hatte. Citron stammte aus einer seit langem assimilierten jüdischen Familie, war christlich getauft und gehörte wie seine Eltern der evangelischen Kirche an. Nachdem er im April 1934 in Berlin sein Abitur absolviert hatte, stand er vor dem Problem, dass er sich an der dortigen Friedrich-Wilhelms-Universität nicht einschreiben konnte, weil die vom Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen geforderte Aufnahmequote bereits überschritten war. Die Tatsache, dass an der Universität Tübingen weder das Aufnahmequorum von anderthalb, noch der allgemeine Numerus clausus von maximal fünf Prozent jüdischer Studierender erreicht wurde, ermöglichte es Citron, an der württembergischen Landesuniversität ein Germanistikstudium aufzunehmen. Da sich die geplante Promotion bei dem Literaturwissenschaftler Paul Kluckhohn (1886–1957) als nicht durchführbar erwies, wechselte Citron 1937 an die Universität Bonn. Die Bonner Verwaltung nahm nun allerdings Anstoß an dem aus ihrer Sicht zu hohen jüdischen Blutsanteil Citrons und fragte in Tübingen nach, wie es sein konnte, dass Citron unter diesen Umständen der Status eines „Mischlings“ zuerkannt und ihm sogar ein Studentenausweis ausgestellt worden war. Daraufhin setzte die Eberhard Karls Universität intensive Nachforschungen in Gang, die darauf hinausliefen, Citron eine Betrugsabsicht bei der Ausfüllung seiner Ariernachweise zu unterstellen. Citron habe falsche Angaben über seine in Polen geborene Großmutter gemacht und sich erdreistet, diese als Nichtjüdin auszugeben. Erst dadurch sei es ihm möglich gewesen, bei nur einem arischen Großva-
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1. Einleitung: religion matters
ter den Status eines Halbjuden zu erlangen. Zu seiner Rechtfertigung setzte Citron am 14. Dezember 1937 ein ausführliches Schreiben an die Universität Tübingen auf, in dem er auf die frühere Gesetzeslage verwies, nach der seine „nichtvollarische“ polnische Großmutter nun einmal als Nichtjüdin zu gelten hatte: „Diese Formulierung entstand, weil es zu diesem Zeitpunkt vor den Nürnberger Gesetzen nur die Scheidung zwischen Vollarier und Nichtarier aller Nuancen gab. Den zweiten Ahnennachweis habe ich nach Erlaß der Nürnberger Gesetze ausgefüllt und aus der nun hinfällig gewordenen Anmerkungsspalte jede Notiz weggelassen. Denn die halbarische Abstammung meiner Großmutter belastet mich nur mit einem Achtel, das zu den 50 % hinzukommend, mir einen 5/8 nichtarischen Blutanteil zuweist. Nach den Ausführungsbestimmungen der Nürnberger Gesetze, die ich vor Abgabe eines mündlichen oder schriftlichen Tatbestandes genauestens eingesehen habe, werden die 5/8 Leute zu den Halbariern geschlagen und es gilt für sie das gleiche. Das nämliche gilt für die 3/8 Leute, sie zählen zu den Viertel-Leuten. Eine Täuschung oder Umgehung der Gesetze lag mir also vollkommen fern.“1
Der in der Literatur schon öfters aufgegriffene Fall Otto Citrons belegt in eindrucksvoller Weise die Schwierigkeiten der nationalsozialistischen Rassenklassifikation. Es ließe sich noch eine Vielzahl weiterer Beispiele anführen, um die inneren Widersprüche und willkürlichen Zuschreibungen aufzuzeigen, die sich mit dem ideologischen Konstrukt einer „jüdischen Rasse“ verbanden. Warum ein Glaubenswechsel der Vorfahren den Rassenstatus eines Menschen veränderte, blieb ebenso unerklärlich wie eine rassische Besserstellung, die man als Bonus für die Teilnahme am Ersten Weltkrieg oder für andere nationale Verdienste erlangen konnte. Bei den so genannten Ehrenariern, die aufgrund persönlicher Beziehungen zu hohen NS-Funktionären von ihrer „jüdischen Rassenzugehörigkeit“ eximiert wurden, trat das Moment der Willkür besonders krass zutage. Nur ihre geringe Zahl verhinderte es, dass es zu größeren Unmutsbekundungen kam. Die konkrete Anwendung der Rassengesetze ließ sich wie ihre theoretische Begründung oft nur unter Zuhilfenahme einer haarsträubenden Rabulistik bewerkstelligen. Selbst die auf höchster Ebene im Reichsinnenministerium erstellten Denkschriften überboten sich an Formulierungen, die in sich unschlüssig waren und jeglicher Logik entbehr1
Zitiert nach Uwe Dietrich Adam, Hochschule und Nationalsozialismus. Die Universität Tübingen im Dritten Reich, Tübingen 1977, S. 117. Siehe zu Citron auch Hans-Joachim Lang, Für Geschichtsbücher ein Fall von Nazi-Unrecht. Zum heutigen 85. Geburtstag von Otto Citron ein Rückblick auf seine Erlebnisse als Tübinger Student von 1935 bis 1937, in: Schwäbisches Tagblatt, 31.8.2001, S. 24 und ders., Jüdische Lehrende und Studierende in Tübingen als Opfer des Nationalsozialismus, in: Urban Wiesing u.a., Hg., Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus, Stuttgart 2010, S. 619–621.
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ten. In einer von Hans Globke (1898–1973) im November 1935 erarbeiteten Stellungnahme heißt es etwa: „Die Entscheidung darüber, ob ein Deutschblütiger (Mann oder Frau), der durch Heirat Jude geworden ist, nach Auflösung der Ehe wieder Deutscher werden kann, ist (...) von dem Zufall abhängig, auf welches Datum der Tod des Ehegatten oder eines Kindes fällt: (...) Ein Deutschblütiger, dessen einziges Kind die jüdische Mutter überlebt, wenn auch nur kurze Zeit (Tod der Mutter und des Kindes im Wochenbett!), bleibt Jude. Stirbt das Kind aber kurz vor der Mutter, so wird der Mann wieder Deutscher.“ 2
Eine „Beweisführung“ dieser Art erblühte im Irrgarten der Rassenlogik an allen Ecken und Enden und blieb nicht auf einen extremen Rassenfanatiker wie Globke beschränkt.3 In zahllosen Fällen mangelnder Eindeutigkeit bedurfte es einer ausgeklügelten Sophistik, um den jüdischen Blutsanteil eines Menschen zu taxieren und politisch zu bewerten. Auch die Nürnberger Gesetze brachten hier keine grundsätzliche Änderung. Die von ihnen suggerierte Rechtsverbindlichkeit entpuppte sich sehr schnell als Farce und wurde in der Praxis permanent ad absurdum geführt. Wenn gar nichts mehr half, nahm man eben seine Zuflucht zur Beweiskraft des Augenscheins. Als im Sommer 1940 in Hamburg ein jüdischer Lebensmittelhändler wegen Verstoßes gegen die Kriegswirtschaftsverordnung und das Eheverbot zum Tode verurteilt wurde, geriet auch seine „deutschblütige“ Gattin ins Visier des Hanseatischen Sondergerichts. Um der Ehefrau nachweisen zu können, dass sie von der jüdischen Abstammung ihres Mannes wusste, begaben sich die Hamburger Richter auf eine Dienstreise nach Wien, wo sie die Delinquentin befragten. Dem hierüber angefertigten Protokoll lässt sich entnehmen, dass die Richter bereits an einem Kindheitsbild die „jüdische Rassenzugehörigkeit“ des Angeklagten festzustellen vermochten. Auch die Ehefrau hätte durch ihr äußeres Erscheinungsbild und ihr Verhalten einen ausgesprochen jüdischen Eindruck gemacht.4
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Zitiert nach Cornelia Essner, Die ‚Nürnberger Gesetze‘ oder Die Verwaltung des Rassenwahns 1933–1945, Paderborn 2002, S. 167f. 3 Mehrfach trat Globke, der seit 1934 im Reichsinnenministerium arbeitete und 1936 mit Wilhelm Stuckart den ersten amtlichen Kommentar zu den Nürnberger Gesetzen herausgab, für eine Verschärfung der Rassengesetze ein. Nach dem Krieg konnte das ehemalige Zentrumsmitglied Globke allerdings seine Karriere rasch wieder aufnehmen und wurde 1953 unter Konrad Adenauer Staatssekretär und einer seiner engsten Vertrauten. 4 Den Fall schildert Alexandra Przyrembel, ‚Rassenschande‘. Reinheitsmythos und Vernichtungslegitimation im Nationalsozialismus, Göttingen 2003, S. 348f. Er ist auch deswegen bezeichnend, weil es sich um das erste, am 10.10.1940 vollstreckte Todesurteil nach dem „Blutschutzgesetz“ handelte und weil alle Beteiligten seitens der Anklage
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1. Einleitung: religion matters
Die verheerenden, nicht selten tödlichen Konsequenzen der nationalsozialistischen Rassengesetzgebung wurden ebenso wie ihre Absurdität in der Literatur schon häufiger thematisiert. So verständlich die Konzentration auf einzelne Schicksale und auf den von ihnen so einprägsam zum Ausdruck gebrachten Wahnwitz der Rassenideologie auch sein mag, besteht dabei doch eine gewisse Gefahr, die grundsätzliche Frage aus den Augen zu verlieren, auf welche Weise es dem deutschen Gesetzgeber überhaupt gelingen konnte, das Judentum als eine rassische Entität zunächst ein- und dann auszugrenzen. Ohne vorherige Zuordnung der Juden zu einer Bluts- und Rassengemeinschaft wäre ihre Verfolgung sicher nicht möglich gewesen. Wie aber kam es zu dieser Vereinheitlichung und worauf stützte sie sich? Selbst in einer so ausgezeichneten Arbeit wie der von Cornelia Essner wird nicht näher darauf eingegangen. In einem speziellen Unterkapitel über „Die Bedeutung des Religionskriteriums“ erfährt man zwar viel über die Schwierigkeiten der Justiz bei der Anwendung des Judenbegriffs, aber so gut wie nichts über den elementaren Zusammenhang von „jüdischer Rasse“ und jüdischer Religion.5 Woran erkannten die deutschen Behörden einen „Rassejuden“, wenn nicht an seiner Religion? Wie unterschieden sie ihn von einem Angehörigen der deutschen oder arischen Rasse, wenn nicht anhand der althergebrachten und lange internalisierten Entgegensetzung von Judentum und Christentum? Weil „Mischlinge“ und „christliche Nichtarier“ in besonderer Weise der Rechtsunsicherheit ausgeliefert waren, wird ihr Schicksal seit einigen Jahren ebenfalls verstärkt wahrgenommen. Allerdings steht auch hier in der Regel die Darstellung individueller Biographien im Vordergrund. Der politische, historische und religionsgeschichtliche Kontext findet in diesen Studien dagegen nicht immer genügend Beachtung. Zum Teil mangelt es ihnen auch an einer fundierten Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Rassenideologie, deren Aporien unbesehen übernommen werden. Ein besonderes Beispiel für die unzulässige Vermischung rassischer und religiöser Argumente ist die Seligsprechung der katholischen nach 1945 wieder in den Justizdienst übernommen wurden oder ihre Zulassung als Rechtsanwalt wiedererlangten (ebd.). 5 Essner, Die ‚Nürnberger Gesetze‘ oder Die Verwaltung des Rassenwahns, S. 186–201. Dass sich die Autorin bei ihrer Beurteilung des Religionskriteriums auf sehr unsicherem Grund bewegte, verdeutlicht ihre abschließende Interpretation Adolf Eichmanns. Um das Charakteristische seines Verhaltens zu erklären, wird Eichmann ein neuheidnisches Religionsbekenntnis unterstellt, das er der „Deutschen Gottesschau“ Jakob Wilhelm Hauers aus dem Jahr 1930 entnommen habe (ebd., S. 451f.). Das Argument stimmt aber weder formal (recte: Jakob Wilhelm Hauer, Die deutsche Gottschau, Stuttgart 1934) noch inhaltlich.
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Ordensschwester Edith Stein (1891–1942), die als Angehörige der „jüdischen Rasse“ im August 1942 in Auschwitz ermordet, aber als katholische Nonne und Märtyrerin 1987 selig und 1998 heilig gesprochen wurde. Stein hatte nach ihrer Doktorarbeit bei Edmund Husserl im Jahr 1917 vergeblich versucht, an einer deutschen Universität Fuß zu fassen. Als Jüdin wurde sie trotz ausgezeichneter Begabung weder in Freiburg, noch in Göttingen und Breslau zur Habilitation zugelassen. Infolge der nationalsozialistischen Rassengesetze erhielt sie 1933 Lehrverbot und musste ihre Stelle am katholischen Institut für wissenschaftliche Pädagogik an der Universität Münster aufgeben. Obgleich Stein bereits 1922 unter dem Einfluss Max Schelers zum Katholizismus übergetreten war, wurde sie 1942 wie drei ihrer Geschwister als Jüdin und nicht als Christin aus dem besetzten Holland nach Auschwitz deportiert und in Birkenau vergast. Die Nationalsozialisten töteten sie nicht wegen, sondern trotz ihrer Taufe. Aus psychologischen Gründen mag der Wunsch nach christlichen Opfern der Schoah verständlich sein. Er geht aber an der Wirklichkeit der nationalsozialistischen Rassenpolitik vorbei und negiert den Tatbestand, dass Edith Stein ihr auch ohne Konversion zum Opfer gefallen wäre. Eine in dieser Hinsicht vergleichbare Interpretation findet sich auch auf evangelischer Seite. Viele Arbeiten über die „christlichen Nichtarier“ stellen den Aspekt der Verfolgung in den Vordergrund, ohne die historische Dimension und die Komplexität des Rassendiskurses ausreichend zu berücksichtigen. So entsteht der Eindruck, als handle es sich hier um evangelische Opfer des nationalsozialistischen Rassismus, was nur sehr bedingt zutrifft. Zudem hatte sich die Kirche für ihre von den Rassengesetzen betroffenen Mitglieder nicht deswegen eingesetzt, weil sie unter NS-Gesichtspunkten zu einem bestimmten Grad als Juden galten. Sofern sie Unterstützung erfuhren, geschah dies vielmehr aufgrund der Tatsache, dass sie (oder ihre Vorfahren) zum Christentum übergetreten und deshalb in religiöser Hinsicht gerade keine Juden mehr waren. Es wäre völlig verfehlt, von einem Eintreten für die Judenchristen auf eine judenfreundliche Einstellung zu schließen. Die Kirchenführer beider Konfessionen dachten nicht im Entferntesten daran, ihre Stimme zur Verteidigung der Juden zu erheben. Dem nationalsozialistischen Staat wurde auch von kirchlicher Seite zu keinem Zeitpunkt das Recht bestritten, eine Lösung des „Judenproblems“ in seinem Machtbereich herbeizuführen. Kam es zum Streit, dann nicht über die grundsätzliche Rechtmäßigkeit der nationalsozialistischen Judengesetzgebung, sondern über die Frage, inwieweit der staatliche Arierparagraph kirchliche Belange und Interessen tangierte. Dass die Religionszugehörigkeit bei der Segregation der deutschen Juden eine entscheidende Rolle spielte, wird auch an der kirchlichen Amts-
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hilfe ersichtlich, die in großem Umfang bei der Ausstellung der Ariernachweise geleistet wurde. Über die amtliche Feststellung der Zugehörigkeit zur arischen Rasse wurde ein erheblicher Druck auf die Bevölkerung ausgeübt, sich zur deutschen Blutsgemeinschaft zu bekennen und sich auf diese Weise vom deutschen Judentum abzugrenzen. Einer zeitgenössischen Quelle zufolge wurden allein in den ersten beiden Jahren der NSHerrschaft 12,5 Millionen Kirchenbuchauszüge angefertigt.6 Die evangelischen Kirchen leisteten dabei tatkräftig Mithilfe und stellten sich freudig in den Dienst einer guten und wichtigen Sache, wie es in einer offiziellen Werbebroschüre hieß.7 Bezeichnete das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums in der ersten Durchführungsverordnung vom 11. April 1933 mit Nichtariern Personen, die von „nicht arischen, insbesondere jüdischen Eltern oder Großeltern“ abstammten, spezifizierten die Nürnberger Gesetze zweieinhalb Jahre später die Zugehörigkeit zur „jüdischen Rasse“ auf „mindestens drei der Rasse nach volljüdische Großeltern“. Zwei jüdische Großelternteile machten aus einem deutschen Staatsbürger einen „Halbjuden“ oder „jüdischen Mischling ersten Grades“, ein jüdischer Großelternteil einen „Vierteljuden“ oder „Mischlinge zweiten Grades“. Um sich bescheinigen zu lassen, dass man der arischen und nicht der „jüdischen Rasse“ angehörte, war für den „kleinen“ Ariernachweis die Vorlage von sieben Geburtsurkunden erforderlich: außer der eigenen die der Eltern und der vier Großeltern. Für den großen Ariernachweis, der für einen Parteieintritt und bestimmte Berufe benötigt wurde, musste die arische Abstammung bis 1800 zurück nachgewiesen werden. SS-Bewerber hatten die Reinheit ihres Blutes bis zum Jahr 1750 zu dokumentieren. Weil die Einführung einer gesetzlich vorgeschriebenen 6
Manfred Gailus, Kirchenbücher, Ariernachweise und kirchliche Beihilfen zur Judenverfolgung, in: ders., Hg., Kirchliche Amtshilfe. Die Kirche und die Judenverfolgung im ‚Dritten Reich‘, Göttingen 2008, S. 7–26, hier S. 8, mit Bezugnahme auf das Sonntagsblatt der Deutschen Christen „Evangelium im Dritten Reich“ vom 19.5.1935. Zur staatlichen Zusammenarbeit mit kirchlichen Behörden siehe auch Diana Schulle, Das Reichssippenamt. Eine Institution nationalsozialistischer Rassenpolitik, Berlin 2001, S. 243–253. 7 Eine Informationsschrift der Schleswig-Holsteinischen Landeskirche erklärte 1939, dass die Kraft der deutschen Nation auf der Reinheit ihres Blutes beruhe. Der kirchlichen Sippenforschung komme deswegen eine große Wichtigkeit zu: „Millionen von Arierscheinen, die aus den alten Kirchenbüchern herausgezogen wurden, verbürgen die Reinheit der Abstammung und bieten die Gewähr für die Durchsetzung der notwendigen bevölkerungspolitischen Aufgaben. Die Kirche hat in der Erkenntnis der großen Bedeutung dieser Dinge für das Volk und seine Zukunft sich freudig in den Dienst der Sache gestellt.“ Zitiert bei Stephan Linck, ‚…restlose Ausscheidung dieses Fremdkörpers‘. Das schleswig-holsteinische Kirchenbuchwesen und die ‚Judenfrage‘, in: Manfred Gailus, Hg., Kirchliche Amtshilfe, a.a.O., S. 36.
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Beurkundung des Personenstandes in Preußen erst 1874 und reichsweit erst 1876 erfolgte, konnte der Nachweis der arischen Rasse vielfach nur über die Kirchenbücher geführt werden. Der gesetzliche Zwang zur Feststellung einer arischen oder „jüdischen Rassenzugehörigkeit“ erwies sich als ein außerordentlich wirksames Mittel, um die deutschen Juden als „fremdrassig“ zu stigmatisieren und sie auf pseudolegalem Wege ihrer bürgerlichen Rechte zu berauben. Letzten Endes hing von den Einträgen im Ahnenpass die Entscheidung über Leben und Tod ab. Selbstverständlich wurde in den Ahnentafeln aber nicht die Rasse, sondern die Religion eines Menschen verzeichnet und urkundlich beglaubigt. Das Instrument des Ariernachweises bestand aus nichts anderem als aus umgeschriebenen Tauf- oder Konfessionsverzeichnissen. Die nationalsozialistischen Gesetze und die sie begleitenden politischen Verlautbarungen mochten noch so sehr auf das Blut und die genealogische Erbfolge abheben. Außer der Religion stand dem Staat absolut nichts zur Verfügung, um herauszufinden, ob seine Bürger der jüdischen oder der arischen „Rasse“ angehörten. Trotz oder vielmehr wegen der Inkonsistenz des auf einem religiösen Kriterium basierenden Rassennachweises löste die Notwendigkeit, Informationen über die Rassen- respektive Religionszugehörigkeit zu erlangen, einen Boom an genealogischen Nachforschungen aller Art aus. Um sich einen genaueren Überblick über die rassenmäßige Zusammensetzung der deutschen Bevölkerung zu verschaffen, nahmen die Behörden in die am 17. Mai 1939 durchgeführte Volkszählung eine zusätzliche Frage nach der rassischen Abkunft auf. In die dem Zensus beigegebene Ergänzungskarte hatte man entsprechende Angaben über die Abstammung der Vorfahren einzutragen. Die Erläuterung dazu lautete bezeichnenderweise: „Maßgebend ist allein die rassenmäßige, nicht die konfessionelle Zugehörigkeit. Auch Glaubensjuden haben ihre der Rasse nach volljüdischen Großeltern anzugeben.“8 Eine solche Formulierung nahm die Juden gewissermaßen in Beweispflicht, sich selbst zu Rassejuden zu erklären. Aber auch dieser Trick konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier lediglich nach der Religion gefragt und die Antwort darauf als Beleg für eine „jüdische Rassenzugehörigkeit“ ausgegeben wurde. Die von der Gestapo und dem SD bei den Israelitischen Kultusgemeinden und der Reichsvertretung bzw. der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland angestellten Nachforschungen zielten ebenfalls darauf ab, 8
Gudrun Exner und Peter Schimany, Amtliche Statistik und Judenverfolgung. Die Volkszählung von 1939 in Österreich und die Erfassung der österreichischen Juden, in: Geschichte und Gesellschaft 32, 2006, S. 94 und S. 100. Siehe außerdem Jutta Wietog, Volkszählung unter dem Nationalsozialismus, Berlin 2001, S. 153–166.
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Aspekte der Konfessionszugehörigkeit, etwa das Bezahlen von Mitgliedsbeiträgen oder eine Auflistung der Ausgetretenen, in statistisches Informationsmaterial über die „jüdische Rasse“ umzuwandeln. Eine aus dem Vorjahr der Volkszählung stammende Stellungnahme des SD mit dem holprigen Titel „Die derzeitige Erfassung der Juden in Deutschland durch die verschiedenen Behörden, Institute und Ämter und ihre Auswertungsmöglichkeit bei der endgültigen Aufstellung der Judenkarteien“ beschreibt detailliert, welche Quellen dem Sicherheitsdienst für den Aufbau einer Reichsjudenkartei zur Verfügung standen. Auch in diesem Dokument wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich die anstehende Volkszählung nicht nur auf die Religionszugehörigkeit, sondern gerade auf die „blutmäßige Abstammung“ erstrecken werde.9 Zusammen mit den Daten, die aus unterschiedlichsten Anlässen erhoben und ebenfalls in diverse Judenkarteien aufgenommen wurden, gewannen die Behörden im Laufe der Zeit ein umfassendes Bild des deutschen Judentums. Registrierungsmöglichkeiten ergaben sich etwa über die Koppelung der Personenstandsaufnahme durch die Einwohnermeldeämter mit einer polizeilichen Erfassung oder bei der Einführung besonderer Kennkarten, in die seit dem 1. Januar 1939 die Zwangsvornamen Sara und Israel eingetragen werden mussten.10 Von daher standen dem NS-Staat bereits vor der Volkszählung im Mai 1939 eine Vielzahl an Informationen zur Verfügung, die eine reichsweite Erfassung der Juden und eine gezielte Rasterfahndung ermöglichten. Anhand dieser Daten ließ sich die Auswanderung der Juden vorantreiben und im nächsten Schritt auch die Erstellung der Deportationslisten vornehmen. In eigens dafür geschaffenen Einrichtungen wie dem Amt für Sippenforschung der NSDAP, dem Rasse- und Siedlungshauptamt der SS oder der beim Reichsministerium des Innern angesiedelten Reichsstelle für Sippenforschung beschäftigte man sich intensiv mit ahnenkundlichen Problemstellungen. Konnte sich bereits die Erschließung der einfachen Religionsund Verwandtschaftsverhältnisse der Vorfahren als außerordentlich 9
Das undatierte, im Sonderarchiv Moskau befindliche Dokument stammt aus der Feder des SD-Mitarbeiters Helmut Hagelmann. Siehe, Michael Wildt, Hg., Die Judenpolitik des SD 1935 bis 1938. Eine Dokumentation, München 1995, S. 153–155 sowie AleksandarSaša Vuletić, Christen jüdischer Herkunft im Dritten Reich. Verfolgung und organische Selbsthilfe 1933–1939, Mainz 1999, S. 41. 10 Wietog, Volkszählung unter dem Nationalsozialismus, S. 68–80 mit weiteren Beispielen. Das auf Hans Globke zurückgehende Gesetz über die Änderung von Familiennamen und Vornamen vom 5.1.1938 zwang in der zweiten Durchführungsverordnung vom 17.8.1938 (die zum 1.1.1939 in Kraft trat) alle Juden, bei den jeweiligen Standesämtern und Ortspolizeistellen einen zusätzlichen jüdischen Vornamen anzunehmen.
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schwierig gestalten, erforderte eine Fülle von Grenz- und Zweifelsfällen die besondere Aufmerksamkeit der in diesen Institutionen tätigen Rassenexperten. Einen Juden versehentlich als Arier durchgehen zu lassen, war weniger problematisch, als einen deutschblütigen Arier, womöglich Parteimitglied, wegen seines jüdischen Aussehens für einen „Judenstämmling“ auszugeben. Um weniger hart von den antisemitischen Maßnahmen des NS-Staates getroffen zu werden, gaben viele „Mischlinge“ an, von einem außerehelichen, nichtjüdischen Vater abzustammen. Wie konnten solche offenkundigen Schutzbehauptungen entkräftet werden? Was tun, wenn die angeforderten rassenbiologischen Gutachten nicht eindeutig waren oder, was oft genug vorkam, sich gegenseitig widersprachen? Wie mit unehelich geborenen, mit adoptierten oder Findlingskindern verfahren? War es angängig, einer arischen Ehefrau nach der Scheidung von ihrem jüdischen Gatten die Rückkehr in den deutschen Blutsverband zu verwehren? Welche Konsequenzen ergaben sich aus der Konversion, der Wiederverheiratung oder dem Tod eines Ehepartners für die rassische Einstufung der Kinder?11 Durch den gesamten Mischlingskomplex zogen sich Fragen dieser Art, die den Rassensachverständigen erhebliche, häufig unüberwindbare Probleme bereiteten. Einerseits konnte eine Objektivierung der Abstammung nur über die Religion erfolgen, andererseits erbrachte die sippenkundliche Ahnenforschung in vielen Fällen alles andere als eindeutige Resultate. Oft fehlte es an zuverlässigen Informationen über die Religion der Vorfahren, und nicht selten hatte ein vielleicht sogar mehrfacher Partnerwechsel eine derart unübersichtliche Situation geschaffen, dass es vom Zufall oder dem subjektiven Eindruck abhing, ob die mit einem konkreten Fall befassten Richter den Daumen hoben oder senkten. Wie auch immer man mit der strukturellen Antinomie des nationalsozialistischen Rassenrechts umging, so blieb das Religionskriterium doch der einzige Ansatzpunkt für eine rassische Bestimmung, sei es der eines Juden oder der eines Ariers, sei es auf direktem Wege oder via Umkehrschluss. Auch der Nachweis einer arischen Abstammung konnte auf keine andere Weise als über die Konfessionszugehörigkeit der Eltern und Großeltern geführt werden. Waren diese christlich getauft und hatten einer 11 Die Familiengesetz-Novelle vom April 1938 diente dazu, das Verfahren der Ehelichkeitsanfechtung zu systematisieren, allerdings mit geringem Erfolg. An der allgemeinen „Abstammungs-Astrologie“ der Rassenbiologen vermochte sie nichts zu ändern. Jürgen Matthäus, ‚…im öffentlichen Interesse‘. Staatsanwaltschaftliche Abstammungsklagen im Kontext der NS-Judenpolitik, in: ders. und Klaus-Michael Mallmann, Hg., Deutsche, Juden, Völkermord. Der Holocaust als Geschichte und Gegenwart, Darmstadt 2006, S. 131.
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der beiden Kirchen angehört, bedeutete das für ihre Nachkommen die Eintrittskarte in den arischen Rassenverband. Selbst so wenig dem körperlichen Idealbild eines Ariers entsprechende Nationalsozialisten wie Joseph Goebbels und Hermann Göring verdankten ihren Rassenadel dem Taufschein ihrer Ahnen. Auch ausgesprochene Kirchenfeinde wie Alfred Rosenberg und Martin Bormann konnten nur wegen des christlichen Glaubens ihrer Vorfahren Mitglied der arischen Blutsgemeinschaft werden. Interessanterweise bewirkte die Abkehr vom Christentum und der Austritt aus der Kirche auch nur dann eine Änderung der Rassenverhältnisse, wenn sich damit ein Übertritt zum Judentum verband. Deshalb konnte man zwar als Nichtchrist, Neuheide oder Angehöriger irgendeiner anderen Religionsgemeinschaft Reichsbürger, das heißt nach der ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935 Staatsangehöriger deutschen oder artverwandten Blutes sein, nicht aber als Jude. Die Frage nach dem rassischen Status von Nichtchristen erlangte aber keine größere Bedeutung, weil während der ganzen Zeit des Dritten Reiches 95 Prozent der deutschen Bevölkerung einer der beiden christlichen Konfessionen angehörten. Der Normalbürger legte einfach seine Taufbescheinigungen vor und war damit aus dem Schneider. Gelang ihm das nicht, kamen Probleme auf ihn zu, die desto größer waren, je weniger Taufscheine er vorweisen konnte. Man mag es drehen und wenden wie man will, um während des Dritten Reiches Mitglied der arischen Rassengemeinschaft zu sein, bedurfte es einer Beglaubigung durch das Taufsakrament. Die Annahme, dass im Rassenantisemitismus der Nationalsozialisten die Religion durch ein biologisches Kriterium außer Kraft gesetzt worden wäre, ist bereits vom Ansatz her verfehlt. Die Rasse konnte schon deswegen nicht über der Taufe stehen, weil nichts anderes als die Taufe die Rasse bestimmte. Der Gegensatz zwischen einem auf Legalität angewiesenen modernen Staatswesen und einer Rassenpolitik, die den Gedanken der allgemeinen Rechtsverbindlichkeit so frappierend missachtete, kennzeichnete die Behandlung der Juden im nationalsozialistischen Deutschland von Beginn an. Trotz aller Willkür, die der Staat den Juden angedeihen ließ, musste ihm aber zumindest auf der ideologischen Ebene und mit Rücksicht auf das Ausland daran gelegen sein, seine antisemitische Politik nicht nur als berechtigt, sondern auch als rechtens darzustellen. Niemals hätte sich die Verfolgung der Juden mit der Behauptung eines besonderen Rechts auf Unrecht begründen lassen. Auch der nationalsozialistische Unrechtsstaat benötigte einen Legitimitätsdiskurs, der zumindest den Anschein der Rechtsförmigkeit wahrte. Diesem Zweck dienten die Nürnberger Gesetze. Sie waren Ausdruck einer vor dem Krieg durchgängig angewandten Lega-
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litätsstrategie, die vorgab, den Juden das ihnen zustehende Maß an Rechtssicherheit zu gewähren und das deutsch-jüdische Verhältnis insgesamt auf eine tragfähige juristische Grundlage zu stellen. Die Propaganda behauptete sogar, die Situation der Juden in Deutschland würde sich dadurch verbessern und der Hass auf sie nachlassen.12 Dabei beruhte die gesamte Konstruktion eines besonderen Judenrechts auf der Vorstellung, dass es sich bei der „jüdischen Rasse“ um eine objektive Gegebenheit und eine wissenschaftlich bewiesene Tatsache handelte. Auf keinen Fall durfte die antisemitische Gesetzgebung mit religiösen, das heißt mit subjektiven und offenkundig vormodernen Argumenten begründet werden, sollte der Schein der Legitimität gewahrt bleiben. Ohne die Annahme, einem objektiven Sachverhalt Rechnung zu tragen, wäre die Judenverfolgung großen Stils schwerlich durchsetzbar gewesen oder zumindest auf einen nennenswerten Widerstand gestoßen. Die Judenpolitik des Dritten Reiches hing deshalb in elementarer Weise von der angenommenen Wissenschaftlichkeit des Rassenbegriffs ab, der aber selbst wiederum in einer engen Beziehung zur Religion stand. Wegen des symbiotischen Verhältnisses von Rasse und Religion muss auch die Entstehung einer nationalsozialistischen Judenwissenschaft im Zusammenhang mit der allgemeinen Religionsentwicklung gesehen werden. Die nachträgliche, nur allzu berechtigte Kritik an der Unhaltbarkeit rassischer Vorstellungen hat es oft verhindert, ihre subjektive Plausibilität zu verstehen und ihre innere Strukturlogik angemessen zu analysieren. Der Aufschwung, den die universitäre Rassenkunde nach 1933 nahm, kam alles andere als überraschend. Vor allem in den naturwissenschaftlichen Fächern wurden erhebliche Anstrengungen unternommen, um die Existenz einer jüdischen bzw. arischen „Rasse“ samt den dazugehörigen rassischen Eigentümlichkeiten nachzuweisen. Die Umschichtung erheblicher Finanzmittel ermöglichte eine intensive rassenkundliche Grundlagenforschung, die dem Einfluss der Rasse auf das menschliche Leben insgesamt nachging. An den Universitäten entwickelte sich die Idee der Rasse rasch zu einer neuen Leitkategorie, die wegen ihrer gesellschaftspolitischen Relevanz eine enorme Anziehungskraft ausübte. Politischer Opportunismus, berufliches Karrierestreben und der ehrliche Wunsch, auf einem für die deutsche Nation so wichtigen Sektor einen eigenen Beitrag zu leisten, gingen vielfach Hand in Hand. Doch ungeachtet der massiven Konzentration auf die Rassenforschung zeigten sich weder die anthropo12
So etwa das Stuttgarter Neue Tagblatt am 3.1.1936, zitiert bei Eric Ehrenreich, The Nazi ancestral proof. Genealogy, racial science, and the final solution, Bloomington 2007, S. 166.
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logischen, noch die biologischen und medizinischen Fächer in der Lage, irgendwelche materialen Rasseeigenschaften herauszuarbeiten. Die angenommenen Eigenschaften der jüdischen Rasse ließen sich fatalerweise auch bei den Ariern feststellen, wie es umgekehrt genug groß gewachsene Juden ohne Judennase, dafür aber mit blauen Augen und blonden Haaren gab. Eine Ausdehnung des Forschungsspektrums auf die Funktion und die einzelnen Bestandteile des Blutes, auf die Blutgruppen, die Hautleisten oder die Hautfarbe führte so wenig zu wissenschaftlich gesicherten Resultaten, wie die Rückkehr zur Kraniologie (Schädelvermessung) des 19. Jahrhunderts. Weder die Humanbiologie, noch die biologische Anthropologie, die Vererbungslehre, die Erbpathologie oder die Ahnen- und Sippenkunde brachten einen greifbaren Fortschritt im Hinblick auf das zentrale Problem der Rassendifferenz zwischen Juden und Ariern. Was man konkret unter einem semitischen Blut oder einer jüdischen Erbmasse zu verstehen hatte und welche körperlichen Merkmale tatsächlich einem Vertreter der „jüdischen Rasse“ eigneten, blieb gänzlich im Bereich der Spekulation, ohne dass sich dafür ein irgendwie gearteter Beweis erbringen ließ. Das Dilemma des NS-Staates, den Nachweis der jüdischen oder arischen „Rasse“ nur über die Konfessionszugehörigkeit führen zu können, das heißt, für eine moderne Problemstellung nur ein vormodernes Kriterium zur Verfügung zu haben, blieb bestehen und konnte trotz der von den Naturwissenschaften unternommenen Anstrengungen nicht aufgelöst werden. Auch der Topos der „jüdischen Mischrasse“ brachte hier keine Abhilfe. Er vergrößerte das Problem sogar noch, weil das Judentum an seinen Rändern immer unbestimmbarer wurde. Wie sollte der Prozentsatz jüdischen Blutes gemessen werden, das durch die Adern eines „Mischlings“ floss, wenn man nicht einmal wusste, woraus sich das Blut eines Juden im Unterschied zu dem eines Ariers zusammensetzte? Woran konnte man nun aber einen Juden erkennen und im Zweifelsfall von einem Nichtjuden unterscheiden? Das offenkundige Versagen der somatischen Rassenlehre, auf diese entscheidende Frage eine halbwegs seriöse Antwort zu geben, spielte den Ball wieder auf das Gebiet des Geistigen und in den Bereich der Geisteswissenschaften zurück. Wenn sich schon keine körperlichen Eigenschaften der jüdischen Rasse nachweisen ließen, so doch wenigstens ihre geistigen. Von daher war es nicht verwunderlich, dass die Idee der Rasse auch in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen prosperierte und dass die so genannte „Judenfrage“ in ihren wissenschaftlichen Arbeitsplan aufgenommen wurde. So viele Aspekte das „Judenproblem“ im Laufe der Zeit angenommen hatte, so viele judenkundliche Arbeitsfelder eröffneten sich jetzt. Den mit ihnen befassten Fächern oblag es, aus
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der geschichtlichen Entwicklung des Judentums „jüdische Rasseeigenschaften“ abzuleiten und als wissenschaftliche Fakten darzustellen. Der Blick auf die Vorlesungsverzeichnisse der deutschen Universitäten lässt eine deutliche Zunahme an geisteswissenschaftlichen Lehrveranstaltungen erkennen, die über das allgemeine Rassenthema hinaus spezielle Gesichtspunkte der „Judenfrage“ zum Gegensand der Erörterung machten. Im direkten Anschluss an die Vertreibung der jüdischen Hochschullehrer forcierte das Reichserziehungsministerium die Etablierung einer neuen, genuin nationalsozialistischen Judenforschung nach Kräften. Seit Mitte der 1930er Jahre vergaben das Berliner Ministerium und die ihm nachgeordneten Instanzen auf Länder- und Universitätsebene vermehrt Lehraufträge, die sich mit Teilaspekten des „Judenproblems“ befassten. Zwar wurde aus außenpolitischen Erwägungen in den Lehrauftragsbenennungen und im offiziellen Schriftverkehr das Wort Antisemitismus tunlichst vermieden. Doch bestand kein Zweifel daran, dass der stattdessen gebrauchte Terminus „Judenfrage“ eine wissenschaftliche Erforschung des Judentums in antisemitischer Absicht bedeutete. Neben Vorlesungen, Seminarveranstaltungen und Konferenzen zu judenkundlichen Themen wurde eine große Zahl an Forschungs- und Dissertationsvorhaben initiiert, die sich mit allen nur denkbaren Facetten des Judentums in Geschichte und Gegenwart befassten. Publikationen zum „Judenproblem“ erschienen nun in rascher Abfolge und in hoher Auflage. Auch außerhalb des eigentlichen Universitätsbetriebes entstanden Institutionen, die sich in wissenschaftlicher Weise mit der „Judenfrage“ beschäftigten. Diese neue Theoretisierung des „Judenproblems“ entwickelte sich zu einem eigenständigen Forschungsgebiet, das einen zunehmend autonomen Charakter annahm. Dass sich an mehreren Universitäten schließlich sogar die Errichtung spezieller Professuren zum „Studium der Judenfrage“ abzeichnete, macht deutlich, welche Bedeutung die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Problem der jüdischen Rasse gewonnen hatte. Zum Ausgangspunkt des Problems zurückkehrend, stellte man an der Universität Tübingen die Religion der Juden in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Arbeit. Es war kein Zufall, dass Forscher dieser Universität, die am weitesten ad fontes zurückkehrten, auch beim Studium der „Judenfrage“ am weitesten voranschritten.
2. Religion, Blut und Rasse aus religionswissenschaftlicher Sicht In den ersten Nachkriegsjahrzehnten wurde die Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich in starkem Maße von der polarisierenden Gegenüberstellung des nationalsozialistischen Rassenantisemitismus mit dem lediglich religiösen Vorurteil eines traditionellen Antijudaismus dominiert. Vor allem in der so genannten Kirchenkampfgeschichtsschreibung stand – und steht zum Teil bis heute – der Gedanke im Vordergrund, dass die Rassenideologie des Nationalsozialismus und der universale Heilsanspruch des Christentums prinzipiell inkompatibel gewesen seien. Bis weit in die säkulare Geschichtswissenschaft hinein hat sich der Topos eines unversöhnlichen Gegensatzes zwischen dem nationalsozialistischen Materialismus der Rasse und der auf alle Menschen gleichermaßen abzielenden christlichen Erlösungslehre Geltung verschaffen können. Der moderne Antisemitismus unterscheide sich fundamental von der christlichen Judenfeindschaft, weil diese den Juden immerhin die Möglichkeit zugestehe, der Verfolgung durch einen Glaubensübertritt zu entgehen. Dagegen ziele der Rassenantisemitismus mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden auf ausnahmslos alle Juden ungeachtet ihrer Religionszugehörigkeit. An die Stelle religiöser, großenteils veralteter Formen der Judenfeindschaft tretend, sei das charakteristisch Neue des modernen Antisemitismus sein auf einem naturwissenschaftlichen Weltbild aufbauendes antiideelles Totalitätsdenken, dessen Biologismus sich zwangsläufig gegen jede echte Religion richten müsse. Eine solche Interpretation ist in mehrerlei Hinsicht irreführend. Als erstes gilt es zu bedenken, dass es sich bei der den Juden offerierten Taufoption um einen innerchristlichen Beweisgrund handelt, dessen Gültigkeit sich auf den Bereich der christlichen Religion beschränkt. Nur von einer uneingestandenen oder expliziten Warte religiöser Überlegenheit aus kann der Heilsuniversalismus des Christentums als Lösungsansatz für das „Judenproblem“ erscheinen. Die meisten Juden haben es denn auch weit von sich gewiesen, in dem angebotenen Religionswechsel ihren Beitrag zur Lösung der „Judenfrage“ zu sehen. Das Missionsanliegen der Kir-
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che als Schlüssel für die Überwindung des „Judenproblems“ ausgegeben zu wollen, hieße Ursache und Wirkung zu vertauschen. Von frühester Zeit an wurden die Juden gerade deswegen verfolgt, weil sie sich beharrlich und glaubensfest der ihnen, oft unter Anwendung äußeren Drucks, nahe gelegten Konversion verweigerten. Angesichts der langen Geschichte des kirchlichen Triumphalismus wäre es ahistorisch und ein gutes Stück auch unmoralisch, wollte man den Anspruch des Christentums, für das Seelenheil aller Menschen zuständig zu sein, als eine Art analytische Kategorie gegen den modernen Rassenantisemitismus ausspielen. Zum zweiten war auch der von den Nationalsozialisten propagierte Biologismus der Rasse eine durch und durch fiktive Konstruktion bar jeder Entsprechung in der Wirklichkeit. Die bloße Vorstellung einer Rassenmaterie lässt sich deshalb nicht einfach als materialistische Verneinung des religiösen Antijudaismus ausgeben. Wie im ersten Kapitel gezeigt wurde, beruhten die Rassengesetze des Dritten Reiches in elementarer Weise auf der Religion als Unterscheidungsmerkmal zwischen Juden und Deutschen. Ohne Rückgriff auf die kirchlichen Taufregister wäre jeder Rassengesetzgebung die Grundlage entzogen gewesen. Als einzig mögliches Distinktionskriterium zwischen der jüdischen und arischen „Rasse“ bildete die Taufe den archimedischen Punkt der nationalsozialistischen Lösung der „Judenfrage“. Drittens bereitete es theologisch gesehen wenig Schwierigkeiten, Rasse als einen natürlichen Bestandteil der göttlichen Schöpfungsordnung zu interpretieren. Wie die Annahme des christlichen Glaubens aus einem Armen keinen Reichen, aus einer Frau keinen Mann oder, um ein anderes vor 1945 gängiges Beispiel aufzugreifen, aus einem Neger keinen Weißen mache, so wenig könne das Taufsakrament einen Juden in einen Deutschen verwandeln. Nach kirchlicher Lehre bleibt der Bekehrte Glied seines natürlichen Lebenszusammenhangs, der durch die Taufe nicht aufgehoben sondern transzendiert wird. Die Gnade zerstört die Natur nicht, sondern ergänzt und vollendet sie: gratia non destruit, sed complet et perficit naturam. In der Forschung besteht heute weitgehend Einigkeit darüber, dass zwischen den beiden Typen des vormodernen und modernen Antisemitismus ein enger symbiotischer Zusammenhang besteht und dass statt eines antagonistischen Verhältnisses eines der Beeinflussung und Durchdringung anzunehmen ist. Auch im Mittelalter ergänzten aus zeitgenössischer Perspektive jeweils moderne Gesichtspunkte einen davor schon lange bestehenden Antijudaismus der Tradition und des Herkommens. Warum sollte das lange eingewurzelte Zusammenspiel zwischen alten und neuen Formen der Judenfeindschaft gerade durch den Rassenantisemitismus aufgehoben werden? Ist es realistisch zu glauben, dass ein moderner
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Rassenantisemit auf die Verwendung herkömmlicher religiöser Vorurteile verzichten würde, nur weil er nicht mehr zur Kirche geht oder sich nicht mit allen Punkten der kirchlichen Dogmatik einverstanden erklären kann? Gleichermaßen unplausibel wäre es, rassischen Ideen jede Einflussmöglichkeit auf einen religiösen Antijudaismus per se abzusprechen. Als Mixtum compositum bezog nicht erst der nationalsozialistische Antisemitismus seine explosive Kraft daraus, unterschiedliche Elemente zusammenballen und ideologisch komprimieren zu können. Die erforderliche Kritik an einem zu statischen, oft auf theologische Argumentationsmuster fixierten Religionsbegriff ändert freilich nichts an der Pflicht zur geschichtlichen Differenzierung. Hierzu gehört es, die spezifischen Eigenheiten des Antisemitismus im Wandel der Zeiten herauszuarbeiten und systematisch zu verorten. Sofern die Annahme eines religiösen Antijudaismus nicht überzogen und in exklusiver Weise gegen andere Formen der Judenfeindschaft in Stellung gebracht, das heißt zu apologetischen Zwecken instrumentalisiert wird, hat sie durchaus ihre Berechtigung. Es ist das große Verdienst der Religionswissenschaft, die enge Verwobenheit des Religiösen mit dem Nichtreligiösen erkannt und theoretisch verarbeitet zu haben. Ihre auf dem Gebiet der allgemeinen Religionsgeschichte gewonnenen Erkenntnisse sollten auch in der Antisemitismusforschung eine stärkere Beachtung finden. So wenig es eine reine Form von Religion gibt, so wenig ein rein religiöses Vorurteil. Alle klassischen Topoi der christlichen Judenfeindschaft konnten nur in dem Maße eine Wirksamkeit entfalten, wie sie in der Lage waren, in außerkirchliche Bereiche wie das Recht, die Politik oder die Ökonomie etc. einzudringen. Würden sie es nicht tun, hätten die Juden nichts von ihnen zu befürchten. Die Vorstellung eines rein religiösen Ressentiments setzt einen Religionsbegriff in abstracto voraus, der in der geschichtlichen Realität keine Entsprechung hat und der nicht einmal auf einen in völliger Abgeschiedenheit lebenden Eremiten zutrifft. Die aus religionswissenschaftlicher Sicht banale Erkenntnis, dass religiöse Ausdrucksweisen immer und ohne Ausnahme in einem ursächlichen Zusammenhang mit nichtreligiösen Faktoren stehen, sollte dazu führen, auch religiöse Vorurteile weniger unter innertheologischen Gesichtspunkten als im umfassenderen Kontext der politischen, geschichtlichen und kulturellen Entwicklung zu analysieren. Die Stärke der antisemitischen Mythenbildung beruhte auch in der Moderne auf ihrer ungenierten Verbindung von alten religiösen Motiven und neuen, sehr gegenwartsbezogenen Interessen. Deswegen sollte auch die Antisemitismusforschung deutlicher und methodisch genauer zwischen religiösen und nichtreligiösen Erklärungsansätzen unterscheiden.
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Zweifelsohne entstand der politische Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts auf der Grundlage vormoderner Elemente, die er übernahm und an seine eigenen Bedürfnisse anpasste. So kann zum Beispiel das Stereotyp des Juden als Nutznießer fremder Arbeit, als Ausbeuter, Wucherer und Blutsauger kaum beanspruchen, eine genuine Erfindung des Nationalsozialismus zu sein. Es charakterisierte bereits in frühester Zeit den christlichen Blick auf das Judentum und hatte seinen festen Platz im Weltbild kirchlicher Judengegner. Dass solche jahrhundertelang internalisierten Ressentiments in einer ökonomischen Krisensituation wie nach dem Ersten Weltkrieg zu neuem Leben erwachen mussten, leuchtet unmittelbar ein. Der Gedanke einer Neu- oder Wiederbelebung alter antisemitischer Vorurteile ließe sich auch am Bild des entwurzelten, ohne Heimat und Boden rastlos umherziehenden „ewigen Juden“ und vielen anderen Beispielen aus dem Arsenal des religiösen Antijudaismus illustrieren. Das nationalsozialistische Klischee vom internationalen Weltjudentum wäre ohne die christliche Legende des Jerusalemer Schusters Ahasver, der Jesus auf seinem Kreuzweg die Rast verweigerte und deswegen verflucht und zur ewigen Wanderschaft bis zur Rückkehr des Messias gezwungen wurde, überhaupt nicht möglich gewesen. Auch rassischen Zuschreibungen ging eine lange und weit zurückreichende Vorgeschichte voraus. Die Vorstellung spezifisch jüdischer Körpereigenschaften findet sich viele Jahrhunderte vor dem Aufkommen moderner biologischer und anthropologischer Rassentheorien. Eine bestimmte jüdische Physiognomie, zu der insbesondere die Judennase und der Judenbart gehörten, wurde in der mittelalterlichen Kunst in dem Augenblick visuell dargestellt, in dem die technischen und handwerklichen Möglichkeiten dafür vorhanden waren.1 Bildhafte Ausdrücke wie der Judenbart, der Judendorn oder der Judenzopf gingen sogar in den allgemeinen Sprachgebrauch ein.2 Der berühmte odor oder foetor judaicus, der „natürliche“ Gestank des Juden, stellte ein besonders markantes und leicht einprägsames Kennzeichen der Zugehörigkeit
1
Im frühen Mittelalter musste man noch bildliche oder schriftliche Zusatzinformationen hinzufügen, um eine jüdische Gruppenzughörigkeit zum Ausdruck bringen zu können. Siehe Bernhard Blumenkranz, Juden und Judentum in der mittelalterlichen Kunst, Stuttgart 1965, S. 18–31. 2 So wie der Judenbart (Steinbrech) als krautähnliche Pflanze an den Bart und die Haare der Juden erinnerten, so bezeichnete der Juden- oder Weichselzopf (plica polonica) eine auf mangelnde Hygiene zurückgehende Hauterkrankung, in deren Folge sich die Haare verfilzen und, den gedrehten Schläfenlocken orthodoxer Juden nicht unähnlich, zu einer Knotenwicklung der Haarsträhnen führen. Siehe hierzu den Eintrag „Jude(n)“ im Jüdischen Lexikon, Bd. 3, 1929, S. 410–412 mit weiteren Beispielen.
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zum Judentum dar. Dem Volksglauben nach verschwand der foetor judaicus unmittelbar nach der Taufe. Obwohl der evangelische Theologe und Orientalist Johann Jacob Schudt (1644–1722) in seinen zwischen 1714 und 1717 erschienenen Jüdischen Merckwürdigkeiten solche Ansichten über die Juden zurückwies, die ihre körperlichen Eigenheiten auf religiöse Ursachen zurückführten oder gar wie Abraham a Sancta Clara (1644–1709) verbreiteten, dass die Juden auf physische Weise für die Kreuzigung Jesu bestraft würden, ging auch Schudt davon aus, dass es nicht schwierig sei, einen Juden an seiner Nase, den Lippen, den Augen, „auch der Farbe und der gantzen Leibes-Positur“ zu erkennen. Gott selbst habe die Juden mit äußerlichen Merkmalen „theils des Leibes“, „theils des Gemüths“ und „theils der Lebens-Art“ gezeichnet, „als an welchen Stücken ein Jud gar bald von einem Christen zu unterscheiden ist“.3 Allein wegen ihrer Ausdünstung und ihres schmutzigen Äußeren müsse man in den Juden eine empfindliche Störung der göttlichen Ordnung sehen. Von viele Juden gehe ein unangenehmer Geruch aus, den Schudt auf das Knoblauchessen und die unhygienischen Lebensverhältnisse zurückführte, die er im Frankfurter Judenviertel kennen gelernt und im dritten Band seiner Jüdischen Merckwürdigkeiten ausführlich beschrieben hatte. Als im „Großen Judenbrand“ des Jahres 1711 das Ghetto in Frankfurt fast vollständig zerstört wurde und etliche Juden daraufhin in den Häusern von Christen leben mussten, sei ihre schlechte Ausdünstung automatisch zurückgegangen. Schudt glaubte selbst nicht mehr an die Existenz eines foetor judaicus. Seine Vorurteile stützten sich auf ethnographische Beobachtungen, die er unreflektiert mit einem christlichen Konzept sozialer Normen verknüpfte. Nicht alles, was Schudt als typisch für das zeitgenössische Leben der Juden in Frankfurt beschrieb, war falsch. In manchen Dingen kann er durchaus als zuverlässiger Chronist und als ein Vorläufer des wissenschaftlichen Studiums jüdischen Lebens gelten. Doch die methodische Innovation seiner ethnographischen Beschreibung jüdischer Körper- und Charaktereigenschaften verband sich bei ihm sehr oft mit traditionellen antijüdischen Klischees. Weil wahre Zivilisation für Schudt nur im Christentum gefunden werden konnte, richteten sich seine zweifellos noch immer vorhandenen Ressentiments gegen die vermeintliche zivilisatorische Rückständigkeit der Juden und nicht primär gegen ihre Religion. Mit der Darstellung auffallender äußerer 3
Siehe Maria Diemling, ‚Daß man unter so viel tausend Menschen so fort einen Juden erkennen kann‘: Johann Jacob Schudt und der jüdische Körper, in: Fritz Backhaus u.a., Hg., Die Frankfurter Judengasse. Jüdisches Leben in der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 2006, S. 77–89 und S. 298–300, das Zitat S. 79f.
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Merkmale erweckte er den Eindruck einer anthropologischen Konstanz des Judentums, die von Generation auf Generation an die Nachkommen weitergegeben wird. Das bekannteste Beispiel für eine frühe Biologisierung des religiösen Verhältnisses zwischen Christen und Juden ist das Konzept der limpieza de sangre, der Reinheit des Blutes, auf der iberischen Halbinsel im ausgehenden Mittelalter. Als es 1391 in Sevilla und Cordoba zu schweren antijüdischen Ausschreitungen und pogromartigen Unruhen gekommen war, sahen sich die Juden vor die Alternative gestellt, entweder das Land zu verlassen oder zum Christentum zu konvertieren. Politische und ökonomische Krisen machten die übergetretenen Neuchristen in der Folgezeit zu idealen Sündenböcken für jedweden wirtschaftlichen Niedergang. Überdies sahen sich die cristianos nuevos dem Vorwurf des „Judaisierens“, des heimlichen Festhaltens an jüdischen Bräuchen und Sitten ausgesetzt. Je stärker sie öffentlich in Erscheinung und in Konkurrenz zu den Altchristen traten, desto größer wurde für diese das Problem, sich von den Neophyten distanzieren zu können, weil diese als Juden nicht mehr ohne weiteres erkennbar waren. Da die Religion nur noch sehr eingeschränkt als Ausgrenzungsmerkmal zur Verfügung stand, trat die Berufung auf die Reinheit bzw. Unreinheit des Blutes an ihre Stelle. Diese Konstellation führte 1449 in Toledo zum ersten Blutreinheitsstatut (Sentencia-Estatuto), das darauf abzielte, die religiös nicht mehr unterscheidbaren Kryptojuden als solche zu erkennen. Bis sich der Gedanke der limpieza de sangre auf der spanischen Halbinsel allgemein durchsetzen konnte, vergingen noch einige Jahre, in denen es zu hegemonialen Auseinandersetzungen zwischen weltlicher und kirchlicher Macht kam, die sich vor allem an der Frage der Hoheitsrechte über die Juden entzündeten.4 Das Ausweisungsedikt des Jahres 1492 zwang alle Juden unter Todesandrohung, das Land innerhalb von vier Monaten zu verlassen. Die Mehrheit der knapp 100.000 zu dieser Zeit noch in Kastilien und Aragon lebenden Juden leistete dem Folge. Die Verbliebenen scheinen dagegen überwiegend konvertiert zu sein. Ihre Zahl erhöhte sich durch conversos, die wegen der dann auch in Portugal einsetzenden Verfolgung wieder in ihre frühere Heimat zurückkehrten. Nach einer Lockerung der Gesetze erhielten die Konvertiten sogar die Möglichkeit, ihr früheres Eigentum zurück-
4
In der ausgezeichneten, die bisherige Forschung souverän zusammenfassenden Dissertation von Max Sebastián Hering Torres, Rassismus in der Vormoderne? Die ‚Reinheit des Blutes‘ im Spanien der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M., 2006 werden diese Konflikte ausführlich geschildert (ebd., S. 39–63).
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zukaufen, wenn auch zu einem meist wesentlich höheren Preis.5 Von den Altchristen wurden die sich durch soziale Mobilität und einen besonderen Aufstiegswillen auszeichnenden cristianos nuevos, das heißt aus nichtreligiösen Gründen, als eine zunehmende Bedrohung wahrgenommen, so dass der Gedanke der limpieza de sangre wieder an Bedeutung gewann. Neue Statuten zur Reinheit des Blutes wurden als erstes an den Universitäten erlassen, traten dann aber auch in den Militärorden, den religiösen Orden, den Domkapiteln, den Zünften und in Institutionen wie der Inquisition in Kraft. Ohne vorherige genealogische Überprüfung konnte weder ein Studium begonnen, noch ein Stipendienantrag gestellt werden.6 Die in Zweifel stehenden Kandidaten mussten einen vier Generationen zurückreichenden Stammbaum vorlegen, der von eigens dafür beauftragten Sippenforschern (informadores) kontrolliert wurde. Diese holten noch weitere infomaciones genealógicas ein, indem sie etwa Nachforschungen bei Nachbarn und Verwandten anstellten. Eine typische an sie gerichtete Frage lautete etwa, ob man etwas über Vater, Mutter, die Großeltern und weitere Vorfahren wisse, ob diese als Altchristen geboren seien „von reinem Blut, ohne Rasse und Makel“ und ob sie nicht etwa „von Juden oder Mauren oder Konvertiten oder einer anderen neuerlich konvertierten Sekte“ abstammten.7 Weil alle höheren Positionen in Staat und Gesellschaft einen Hochschulabschluss voraussetzten, übten die limpieza-Bestimmungen einen weit reichenden Einfluss aus. Hatte die Kirche während des früheren Streits um die Sentencia-Estatuto noch eine Relativierung des Taufsakraments befürchtet, falls Konvertiten generell der Häresie verdächtig würden, arrangierte sie sich jetzt rasch mit dem Gedanken der limpieza de sangre und propagierte ihn auch innerhalb ihrer eigenen Institutionen. Die Bischöfe und Kirchenführer konnten sich dabei auf antijüdische kanonische Gesetze und insbesondere auf die Bestimmungen des 4. Laterankonzils berufen, das die Juden aus allen öffentlichen Ämtern ausschloss. Dem Argument, dass eine so gravierende Benachteiligung eigentlich nicht mit dem Gebot der christlichen Nächstenliebe zu vereinbaren sei, begegnete der von 1545– 1557 amtierende Erzbischof von Toledo, Juan Fernández Silíceo, mit der Feststellung, dass es völlig falsch wäre, aus der Gleichheit der Menschen vor Gott auch eine Gleichheit der Menschen untereinander abzuleiten. So sehr der König sein Volk und der Papst die Gläubigen liebe, so wenig entstehe daraus ein all5
Michael Grüttner, Die Vertreibung der spanischen Juden 1492, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47, 1996, S. 168, S. 178 und S. 186. 6 Hering Torres, Rassismus in der Vormoderne, S. 64 und S. 69. 7 Ebd., S. 90, das spanische Original, S. 88.
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gemeines Recht, das jedermann erlaube, König oder Papst zu werden. Geradezu absurd wäre es, wenn das Gebot der Menschlichkeit zur Folge hätte, dass man Türken und Heiden genauso wie den eigenen König zu lieben habe.8 Mit diesem Konzept der natürlichen Ungleichheit harmonierte die limpieza de sangre auf das einträglichste. Ein Jahrhundert später verknüpfte der spanische Padre Fray Francisco de Torrejoncillo die katholische Lehre von der Erbsünde mit dem Gedanken der jüdischen Abstammung. In seiner Schrift Centinela contra judíos (Schildwache gegen die Juden), die 1674 zum ersten Mal erschien und der noch zahlreiche weitere Auflagen folgten, sprach Torrejoncillo den Nachfahren Sems, des Urvaters der Juden nach der Völkertafel in Genesis 10, einen auch durch die Taufe nicht abwaschbaren Makel zu. Die kollektive Schuld der Juden am Tod Jesu sei dafür verantwortlich, dass ihre Rasse (raza) befleckt und unrein wurde. Ihre Ursünde mache die Juden zu den geborenen Feinden der Christen. Es sei nicht notwendig, dass alle oder auch nur eine überwiegende Zahl der Vorfahren eines Neuchristen Juden gewesen sein mussten. Nur ein kleiner Bruchteil genügte Torrejoncillo, um ihr jüdisches Wesen hervortreten zu lassen: „Um also Feind eines Christen zu sein, was sich im Sinne einer Erbsünde über die Generationen tradiert, ist es nicht notwendig, beide Elternteile jüdischer Herkunft zu haben, ein Elternteil reicht aus: Es ist nicht wichtig, ob es der Vater ist, es genügt, wenn die Mutter eine Jüdin ist, und diese wiederum muss keine ganze Jüdin sein, es reicht die Hälfte, und nicht mal das, es reicht auch ein Viertel, ein Achtel, und die Heilige Inquisition hat heutzutage sogar Vorfälle des Judaisierens in der einundzwanzigsten Generation vorgefunden.“9
Die Lehre von der Erbsünde ermöglichte es, eine „rationale“ Begründung für die Rechtmäßigkeit der limpieza de sangre zu entwickeln und den Gedanken der Abstammung mit traditionellen Sündenvorstellungen zu verknüpfen. Weil die in der Taufe gewährte Gnade die angeborene, auf den Adamitischen Sündenfall zurückgehende Urschuld (peccatum originale) nur zum Teil aufhebt, bleibt die natürliche Schuldhaftigkeit des Menschen bestehen und setzt sich über die Nachkommen fort. Nur die Eucharistie ist imstande, die von der Erbsünde ausgehende Kette der Schuld zu unterbrechen und das Fehlverhalten des Menschen zu überwinden. Indem die Juden partout nicht einsehen wollen, dass der Übertritt zum Christentum, die Anerkennung des Messias und der Empfang der Sakramente die Voraussetzung auch ihrer Erlösung ist, lag es für die Christen wahrscheinlich 8 9
Ebd., S. 152. Ebd., S. 223 und S. 238.
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nahe, dass sich die Schuld der Juden in ihr Wesen einprägte und von Kind auf Kindeskind weitervererbte. Von ausgewiesenen Forschern wie dem Spezialisten für die Rechtsgeschichte der Juden im Mittelalter Guido Kisch (1889–1985) wurde jeder Versuch zurückgewiesen, in dem Konzept der limpieza de sangre eine Vorläufererscheinung der nationalsozialistischen Rassengesetze zu sehen.10 Kischs Polemik richtete sich vor allem gegen einen Aufsatz von Cecil Roth (1899–1970) aus dem Jahr 1940, der wenig differenzierend von einem Rassenantisemitismus im 15. Jahrhundert gesprochen und diesen als frühe Form der NS-Ariergesetze bezeichnet hatte.11 Wegen des im Mittelalter alles dominierenden religiösen Dogmas sei es nicht angängig, den modernen, durch das Dritte Reich geprägten Rassenbegriff in die Geschichte hineinzulesen. Im Hinblick auf das von Roth betonte Nachlassen des Taufkriteriums schrieb Kisch: „To draw from this conclusion that ‚the prejudice wich had previously been ostensibly religious became racial‘, means indeed reading modern racist conceptions into medieval sources where no justification can be found for such interpretation.“12 Die Warnung vor einer simplifizierenden Gleichsetzung des nationalsozialistischen Rassenstaates mit dem katholischen Spanien des ausgehenden Mittelalters ist sicherlich berechtigt. Doch wäre es ebenso falsch, das Christentum im Mittelalter nur über das kirchliche Dogma und die Totalität des kirchlichen Herrschaftsanspruchs definieren zu wollen. Die Statik in seinem Religionsbegriff ließ Kisch die strukturelle Offenheit auch der mittelalterlichen Religion für nichtreligiöse Entwicklungsfaktoren übersehen. Hering Torres hat auf den wichtigen Sachverhalt hingewiesen, dass von dem spanischen Erzbischof Silíceo im Jahr 1547 wahrscheinlich zum ersten Mal das Wort Rasse (raza) mit Bezug auf die limpieza de sangre verwendet wurde. Rasse bedeutete bei Silíceo in erster Linie Herkunft, Geschlecht (linaje). Obwohl seine Vorstellung von der Reinheit des Blutes eine neue somatische Komponente enthält, können Ansätze einer biologi10
Siehe Guido Kisch, Nationalism and race in medieval law, in: ders. Ausgewählte Schriften, Bd. 3, Sigmaringen 1978 (Erstfassung 1943), S. 179– 204. Kisch, der sich 1915 in Leipzig bei dem Rechtswissenschaftler Adolf Wach habilitiert hatte, emigrierte wie dessen Enkel, der Religionswissenschaftler Joachim Wach, 1935 in die USA. 11 Cecil Roth, Marranos and racial antisemitism, in: Jewish Social Studies 2, 1940, S. 243f. Roth, der 1932 eine dreibändige History of the Marranos herausgegeben hatte, lehrte von 1939 bis 1964 Jewish Studies an der Universität Oxford. 1965 wurde er leitender Herausgeber der Encyclopaedia Judaica. 12 Kisch, Nationalism and race in medieval Law, S. 202, Bezug nehmend auf Roth, Marranos and racial antisemitism, S. 242f. Die von Roth gesetzten relativierenden Anführungszeichen um das Wort ‚racial‘ (von mir als Zitat im Zitat kursiviert) ließ Kisch allerdings außer Betracht.
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schen Genetik bei ihm naturgemäß nicht erwartet werden. Silíceo wollte die Übernahme kirchlicher Ämter davon abhängig machen, dass ihre Inhaber nur Altchristen sein durften, „ohne Rasse eines Juden, Mauren oder Häretikers“.13 Die Anreicherung einer religiös motivierten Judenfeindschaft mit dem Gedanken der Abstammung und der blutlichen Herkunft wurde im darauffolgenden Jahrhundert schon etwas deutlicher von dem Priester Augustín Salucia zum Ausdruck gebracht, der 1599 feststellte, dass für eine rassische Verunreinigung ein jüdischer Ururgroßvater genüge, auch wenn die restlichen fünfzehn Ururgroßeltern „außerordentlich fromme und adlige Christen sein mögen“.14 Wie in der Arbeit von Hering Torres sehr schön herausgearbeitet wird, handelt es sich bei der theologischen Rechtfertigung der limpieza de sangre aber weniger um einen Biologismus der Rasse, als um eine an der galenischen Säftelehre orientierte Humoralpathologie, die den christlichen Reinheitsdiskurs mit einer antisemitischen Pathognostik verband. Für diese Zeit, lange vor dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaft, ein naturwissenschaftliches Rassenkonzept zu erwarten, ginge völlig an der Realität vorbei. Ein anderer wichtiger Unterschied zwischen den Blutreinheitsbestimmungen des 16. und 20. Jahrhunderts ist in der Zentralisierung der Staatsgewalt zu sehen, die es den Nationalsozialisten erlaubte, so gut wie alle Juden und in allen Bereichen der Gesellschaft zu erfassen. Die Statuten der limpieza de sangre galten nur in ausgewählten Institutionen und auch in diesen blieb die für das Mittelalter charakteristische Kluft zwischen Rechtsanspruch und Rechtsdurchsetzung bestehen. Formell wurden die conversos von der Inquisition auch nicht wegen ihres falschen Blutes, sondern wegen ihrer Häresie, also wegen ihres falschen Glaubens, verfolgt.15 Das Argument der Abstammung ergänzte eine bereits bestehenden, zum Teil aber inkonsistent gewordenen religiösen Diskurs, um ihn auf diese Weise an die geschichtlichen Erfordernisse einer neuen Zeit anzupassen. Trotz der genannten Unterschiede lässt sich mit Yosef Haim Yerushalmi bei der limpieza de sangre sehr wohl von einer frühen Form des Protorassismus sprechen: „If, admittedly, we have not quite arrived at the modern concept of race, I submit that we have come perilously close.“16 13
Hering Torres, Rassismus in der Vormoderne, S. 220f. Ebd., S. 221. 15 Ihnen wurde nicht nur Täuschungsabsicht unterstellt, sondern auch, dass sie die Altchristen vom richtigen Weg abbringen würden. Tatsächlich waren am Anfang fast alle Opfer der Inquisition „judaisierende“ Neuchristen. Grüttner, Die Vertreibung der spanischen Juden, S. 179. 16 Yosef Hayim Yerushalmi, Assimilation and racial anti-Semitism: The Iberian and the German models (Leo Baeck Memorial Lecture 26), deutsch als Assimilierung und rassi14
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Dabei geht es weniger um äußerliche Parallelen als um funktionale Äquivalente. Entscheidend ist eine gleich gelagerte Problemstellung, die zu Lösungsstrategien führt, deren innere Strukturlogik – und manchmal auch äußere Form – einander sehr ähnlich sind. Auf die im 16. und 20. Jahrhundert gleiche Frage, wie sich „Kryptojuden“ noch erkennen lassen, nachdem das Kriterium der Taufe in seiner religiösen Überzeugungskraft nachgelassen hatte, wird eine Antwort über die Abstammung und ein neues Verständnis vom Blut des Menschen gesucht. Unter diesem Gesichtspunkt ist es irrelevant, ob die Nationalsozialisten das limpieza de sangre - Statut tatsächlich kannten und sich an ihm orientierten. Würde man Kischs Gegenargument einer generellen Nichtvergleichbarkeit gelten lassen, müsste man auch jeden Zusammenhang zwischen den antijüdischen Erlassen der frühen Kirche – man denke etwa an das Verbot geschlechtlicher Beziehungen zwischen Christen und Juden (Synode von Elvira 306), den Zwang zum Tragen spezieller Judenabzeichen (4. Laterankonzil 1215) oder an das Verbot für Juden, akademische Grade zu erwerben (Konzil von Basel 1434)17 – und der nationalsozialistischen Judenpolitik grundsätzlich in Abrede stellen. Die berechtigte Warnung vor einer hypertrophen Parallelisierung sollte deshalb nicht dazu führen, die Möglichkeit des geschichtlichen Vergleichs per se zu diskreditieren. Niemand käme auch auf die Idee, wegen der Gefahr einer retrospektiven Überinterpretation die Bedeutung des römischen Rechts für die Ausbildung moderner Rechtsstaatlichkeit in Frage zu stellen. Dass es eine Linie der historischen Kontinuität von den antijüdischen Erlassen der frühen Kirche zu den antisemitischen Gesetzen des Dritten Reiches gibt, lässt sich ebenso wenig bestreiten wie die Tatsache, dass sich führende Nationalsozialisten expressis verbis auf die Judenfeindschaft der Kirche bezogen und sie zum Teil sogar als Vorbild nahmen. Als Adolf Hitler im Frühjahr 1928 die nationalsozialistische Bewegung gegen den Vorwurf antikatholischer Tendenzen verteidigte, berief er sich auf den Antisemitismus der Kirche und betonte, dass der Nationalsozialismus ideologisch daran anschließen würde. Es sei alles andere als unkatholisch, Antisemit zu sein: „Der erste Vorläufer im Kampfe gegen das Judentum ist unser gnädigster Herr und Heiland selber. Der zweite war die heilige römisch-katholische Kirche selbst. In Rom hat das scher Antisemitismus. Die iberischen und die deutschen Modelle, in: ders., Ein Feld in Anatot. Versuche über die jüdische Geschichte, Berlin 1993, S. 53–80), New York 1982, S. 16. „the old religious definition of Jewry became a palpable anachronism and yielded increasingly to a racist one.“ Ebd., S. 19. 17 Die Beispiele sind der Aufstellung von Raul Hilberg „Kanonische und nazistische antijüdische Maßnahmen“ (Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 1, Frankfurt am Main, 9 Aufl. 1999, S. 17f.) entnommen und ließen sich noch weiter ergänzen.
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Judentum unter der Herrschaft der Kirche eine Stelle eingenommen, mit der wir völlig zufrieden wären.“18 Gerade im katholischen Bayern beruhte der Erfolg von Hitlers Argumentation darauf, überzeugend an die Einheit zwischen traditionellem und modernem Antisemitismus zu appellieren. Bei einem Treffen mit dem katholischen Bischof Wilhelm Berning wiederholte er die gleiche Aussage im April 1933, ohne dabei auf Ablehnung seitens seiner Gesprächspartner zu stoßen.19 Damit sich ein Feindbild über lange Zeiträume bei vielen Menschen am Leben erhalten kann, bedarf es der konkreten Ausgestaltung und einer den jeweiligen Verhältnissen gemäßen Form. Ein Feind, der nur abstrakt existiert, ist kein wirklicher Feind. Der Mythos von den Juden als Sinnbild des Bösen musste entsublimiert werden, um sich insbesondere unter den Ungebildeten und den in der theologischen Lehre nicht Bewanderten halten zu können. Die Verbindung von geistig religiösen und materiell körperlichen Attributen war deshalb eine wesentliche Voraussetzung für das Überleben antijüdischer Klischeevorstellungen. Ins Auge springende dingliche Merkmale machen den jüdischen Fremdkörper auf Anhieb erkennbar und dienen in besonderer Weise dem Zweck der Ab- und Ausgrenzung. Hat man mit Hilfe vertrauter religiöser Bilder das Typische des Judentums verinnerlicht, benötigt man keine ausgeklügelte theologische Sophistik mehr, um sein Wissen auf Schritt und Tritt bestätigt zu sehen. Die wahrgenommene Verdinglichung ist nicht der Ausgangspunkt des Vorurteils, sondern ein Zeichen für seine weite Verbreitung. Bei besonders auffallenden Charakteristika genügt schon der erste Eindruck, um das äußere und innere Bild, das man von einem Juden hat, als deckungsgleich zu empfinden. Sicherlich gibt es immer Fälle, bei denen der äußere Anschein nachweislich getrogen und das Schema zugegebenermaßen nicht funktioniert hat. Doch das Vorurteil selbst sorgt dafür, dass ein Jude ohne jüdische Merkmale als eine die Regel bestätigende Ausnahme wahrgenommen wird. Die Plausibilität des Augenscheinbeweises rührt daher, 18
„Wie die Bayer. Volkspartei die Religion schädigt“, Rede Hitlers am 21.3.1928, zitiert nach Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen, Bd. II/2, Dok. 242, München 1992, S. 744– 756, hier S. 754. 19 „Hitler berief sich für seine Judenfeindlichkeit auf die katholische Kirche, die die Juden ebenfalls immer als Schädlinge angesehen hätte, die wegen der sittlichen Gefahren verboten hätte, dass Christen bei Juden in Dienst treten. Aus eben diesem Grund hat die Kirche die Juden in das Ghetto verbannt. Er sieht in den Juden nur die Schädlinge für Staat und Kirche und deshalb will er die Juden mehr und mehr zurückdrängen, insbesondere vom Studium und den öffentlichen Berufen.“ Aktennotiz über den Besuch Bischof Bernings und Generalvikar Paul Steinmanns bei Hitler am 26.4.1933, abgedruckt in: Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches, bearbeitet von Carsten Nicolaisen, Bd. 1, Das Jahr 1933, München 1971, S. 46.
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dass er einen bereits vorhandenen Resonanzkörper auf der gleichen Wellenlänge zum Schwingen bringen kann. Ist das Vorurteil weit genug verbreitet, hat jeder irgendwann einmal einen Juden mit bestimmten jüdischen Eigenschaften kennen gelernt oder zumindest andere über ihn erzählen gehört. Von den Nationalsozialisten wurden die antisemitischen Ressentiments des Mittelalters und der Frühen Neuzeit als ein im Ansatz schon vorhandenes, allerdings noch unausgereiftes Rassenbewusstsein interpretiert, das dem vormodernen Menschen immerhin eine plastische Vorstellung und ein besseres Verständnis des jüdischen Volkes gestattete. Die Bewusstmachung dieses durch die Aufklärung gewaltsam unterdrückten Wissens über die Gefährlichkeit des Judentums war das zentrale Anliegen der nationalsozialistischen Judenforschung. Sie verschmähte es aber nicht, bei Bedarf zum Augenscheinbeweis und zu vorwissenschaftlichen Erklärungsansätzen zurückzukehren, wenn es ihr nicht gelang, für konkrete Behauptungen konkrete Nachweise zu erbringen. Rassenbiologische Gutachten argumentierten generell mit der jüdischen Physiognomie, auch wenn sie sich meistens hinter der Floskel des Gesamteindrucks verschanzten und es unterließen, das Jüdische en detail wissenschaftlich zu belegen. Im Ergebnis unterschieden sich diese Feststellungen kaum von Zuschreibungen, wie sie sich schon bei Johann Jacob Schudt finden. Das folgende Beispiel zeigt, dass bei der schwierigen Frage, bis zu welchem Grad der rassischen Kontamination ein „nichtvollarischer“ Studienbewerber noch zum Studium zugelassen werden sollte, das Fehlen eines wissenschaftlichen Maßstabs ebenfalls durch den Rückgriff auf das äußere Erscheinungsbild ausgeglichen wurde. Als im Sommer 1940 der „Judenmischling“ Joachim Hermann um eine Immatrikulation an der Eberhard Karls Universität Tübingen nachsuchte, unterrichtete der Rektor der Universität Otto Stickl den Direktor des Tübinger Kepler-Gymnasiums darüber, dass der Antragsteller auf das genaueste zu überprüfen sei: „Dabei ist zu erwähnen, ob und inwieweit Merkmale der jüdischen Rasse beim Gesuchsteller äußerlich erkennbar sind.“20 Die Inaugenscheinnahme des angehenden Studenten ergab, dass bei Hermann keine jüdischen Rassenmerkmale feststellbar waren, „jedenfalls nicht irgendwie auffallend“.21 Seiner Zulassung zum Studium stand damit nichts mehr im Wege. Dieses Beispiel ist von 20
Rektor Otto Stickl an Oberstudiendirektor Kuno Fladt am 6.8.1940. Zitiert nach HansJoachim Lang, Der Erinnerung Namen geben. Über die jüdischen Studenten an der Eberhard Karls Universität, Tübingen 2008, S. 35f. (mit Bezugnahme auf die Studentenakte Hermanns, UAT 364/10722). 21 Schreiben Fladts an das Stuttgarter Kultusministerium am 22.8.1940, ebd., S. 36.
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besonderer Bedeutung, weil es die Persistenz einer archaischen Vorurteilsstruktur in der Moderne zum Ausdruck bringt. Bereits etliche Jahre vor Erlass der NS-Rassengesetze konnte der jüdische Extraordinarius für Theoretische Physik Alfred Landé 1922 nur mit ministeriellem Oktroi und der hinzugefügten Beschwichtigung „sein Äußeres verrät kaum den Juden“ an die Universität Tübingen berufen werden.22 Hätte der Jude auch noch ausgesehen wie ein Jude, hätte sich der Widerstand der Senatsmehrheit sicherlich nicht überwinden lassen. In der Angelegenheit des Studienbewerbers Joachim Hermann verwies der Tübinger Rektor Otto Stickl achtzehn Jahre später auf einen Geheimerlass des Reichserziehungsministeriums, wonach bei Immatrikulationsgesuchen von Nichtvollariern generell deren jüdisches Erscheinungsbild zu berücksichtigen sei.23 Eine solche Institutionalisierung des Antisemitismus im deutschen Hochschulwesen erinnert in fataler Weise an das frühneuzeitliche Spanien, deren Universitäten wenigstens aufwändige genealogische Befragungen durchführten, um die jüdische oder nichtjüdische Abstammung ihrer Studenten zu eruieren. Die Notwendigkeit, noch im 20. Jahrhundert seine Zuflucht zu einem durch und durch subjektiven und jeder Wissenschaft hohnsprechenden „Beweisverfahren“ via Augenschein nehmen zu müssen, belegt den phantasmagorischen Charakter der Rassenidee, den auch eine elaborierte universitäre Rassenforschung nicht überwinden konnte. Das wissenschaftliche Niveau musste allerdings schon sehr tief gesunken sein, dass man nicht davor zurückschreckte, eine solche Form der Rassendiagnostik anzuwenden. Entgegen der großsprecherischen Theatralik, mit der die nationalsozialistische Rassenkunde auftrat, handelte es sich bei den behaupteten Eigenschaften der Juden nicht im Ansatz um biologische oder anthropologische Konstanten, sondern um konventionelle Stereotypen, die so sehr in Fleisch und Blut übergegangen waren, dass sie den Anschein des Dinglichen angenommen hatten. Die allgemeine Verbreitung antisemitischer Vorurteile erzwang geradezu ihre Hypostasierung in Gestalt körperlicher und geistiger Merkmale. Man sollte nicht den Fehler machen, den vorgeblichen Beweisgrund der Rasse für die Wirklichkeit selbst zu nehmen und sich argumentativ darauf einzulassen. Das Neue des Rassenantisemitismus beruhte auf einer Reformulierung gängiger antijüdischer Klischees und nicht etwa auf der Neuentdeckung einer bislang verborgen gebliebenen Rassensubstanz. In der antagonistischen Entgegensetzung 22
Ebd., S. 15. Mit Landé, der 1931 nach Columbus an die Ohio State University ging, verließ der einzige jüdische Professor die Universität Tübingen. 23 Ebd., S. 35.
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zwischen einem Antijudaismus traditionell religiöser Provenienz und dem politischen Antisemitismus des Dritten Reiches droht diese einfache Erkenntnis in den Hintergrund zu geraten. Vor allem in der Kirchenkampfgeschichtsschreibung wurde es üblich, das christliche Oppositionsmotiv am Gegensatz zum Biologismus der Rasse abzuhandeln, der bereits im Zentrum der kirchlichen Auseinandersetzungen mit dem nationalsozialistischen Neuheidentum gestanden hatte. Einer solchen Sichtweise liegt sowohl ein falscher Rassenbegriff als auch eine falsche Vorstellung von Religion zu Grunde. Der behauptete Materialismus der Rasse, verstanden als eine die religiösen und geistigen Ausdrucksformen des menschlichen Lebens grundsätzlich verneinende Weltanschauung, hat in dieser Form nie existiert. Über das rein Biologische und Somatische hinaus wurde der Begriff der Rasse immer auch von ideellen und ideologischen Faktoren determiniert. Der aus der pflanzlichen und tierischen Zuchtwahl übernommene Vererbungsgedanke gehört zwar zum Kernbestand aller Rassentheorien, doch wäre es verfehlt „Rasse“ darauf reduzieren zu wollen. In der Verengung auf eine somatische Erblehre hätte die Idee der Rasse niemals einen größeren gesellschaftlichen Einfluss erlangen und derart weit in die Bereiche des Geistigen, Politischen und Sozialen eindringen können. Die extreme Position eines rassischen Fatalismus, wie man sie von deutscher Seite oft dem französischen Rassenforscher Gobineau vorgeworfen hat, war weithin fiktiver Natur. Auch der nationalsozialistische Rassendiskurs zeigte sich offen für nichtbiologische Argumente und hatte keinesfalls den ihm unterstellten eindimensionalen Charakter. Unter der Voraussetzung, dass die politische Herrschaft des Nationalsozialismus nicht in Frage gestellt wurde, konnte sich durchaus eine gewisse Variationsbreite an rassentheoretischen Entwürfen entfalten, deren Vertreter sich zum Teil auf das heftigste befehdeten. Auch die kirchliche Kritik an einer Übersteigerung des Rassenbegriffs richtete sich in aller Regel nicht gegen das rassische Prinzip an sich, sondern betraf dessen Gültigkeitsbereich und die Frage, wie weit der Einfluss rassischer Gesetzmäßigkeiten in der Sphäre des Religiösen, das heißt im Hoheitsbereich der Kirchen, gehen durfte. Das Recht, ja die moralische Pflicht des Staates, Abwehrmaßnahmen gegen das Judentum zu ergreifen, wurde selbst von solchen Kirchenvertretern nicht bestritten, die nicht zu den Parteigängern des Nationalsozialismus gehörten. Es gibt vermutlich keine einzige kirchenoffizielle Verlautbarung, welche die Nürnberger Gesetze als illegitim kritisiert oder als mit christlichen Geboten unvereinbar zurückgewiesen hätte. Indem man sich von einer Verabsolutierung der Rassenidee in der Form des Rassenmaterialismus distanzierte, konnte man umso leichter eine gesetzlich legitimierte Gel-
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tung akzeptieren, die umfassende politische Maßnahmen gegen die deutschen Juden beinhaltete. Der falschen Annahme eines rassischen Determinismus entspricht auf der anderen Seite eine idealisierende Vorstellung von Religion, die dazu tendiert, religiösen Aussagen eine absolute Bedeutung beizumessen. Demzufolge sei das eigentliche Wesen des Christentums und eine Adaption rassischer Ideen prinzipiell, das heißt aus religiösen Gründen, nicht vereinbar. Hierbei werden meistens die christliche Nächstenliebe und die Gleichheit aller Menschen vor Gott als die der Rasse am stärksten widerstrebenden Prinzipien genannt. Der unbefangene Blick auf die „allgemeine“ Religionsgeschichte widerlegt freilich nicht nur die These von der Universalität religiöser Normen, sondern generell jede zeitlose, den historischen Kontext einebnende Religionsauffassung. Dessen ungeachtet werden religiöse Wertvorstellungen weithin als absolute oder quasi-absolute Größen aufgefasst, die einen Maßstab zur Verfügung stellen, anhand dessen sich geschichtliche Entwicklungen messen und interpretieren lassen. In der Retrospektive erscheint dann eine Annäherung zwischen religiösem und rassischem Denken prinzipiell ausgeschlossen, weil der Partikularismus jeder Rassendoktrin und der allgemeine, auf alle Menschen gleichermaßen zielende Anspruch des Christentums in einem antithetischen Gegensatz zueinander stehen. Der historische Befund mag noch so sehr gegen ein essentialistisches Religionsverständnis sprechen. Die innere Wahrheit der Religion und ihren unabhängig von der Geschichte bestehenden Wesensgehalt vermag er nicht zu tangieren. Mit einer solchen Religionsauffassung geht zwangsläufig eine Verdoppelung des Wahrheitsbegriffs in einen geschichtlichen und übergeschichtlichen Bereich einher, von der die Erforschung des religiösen Antijudaismus nachhaltig beeinträchtigt wurde. Besonders in der Debatte um das Verhältnis von Rasse und Religion pflegen sich religiöse und nichtreligiöse Argumentsmuster auf nahezu unentwirrbare Weise zu vermischen. Die Ausgangsfrage dieser Studie, wie es dem nationalsozialistischen Staat gelingen konnte, die Zugehörigkeit zur jüdischen Religion in eine Zugehörigkeit zur jüdischen Rasse zu transformieren, würde sich auf einer solchen erkenntnistheoretischen Grundlage nicht beantworten lassen. Jeder Eintrag in den Kirchenbüchern, der einen mosaischen Glauben der Vorfahren dokumentierte, gab die Nachfahren aufgrund ihrer „jüdischen Rasse“ und ihres „jüdischen Blutes“ der Verfolgung preis. Wie lässt sich das wundersame Mysterium der Verwandlung von Religion in Blut erklären und warum konnte das Kriterium der Taufe in einer angeblich glaubenslosen und entchristlichten Gesellschaft eine solche Wirkung entfalten?
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Das Besondere der religionswissenschaftlichen Arbeitsweise kennzeichnet sich als erstes durch die Fähigkeit, von religiösen Inhalten abstrahieren zu können. Glaubenstatsachen haben in der Religionswissenschaft einen anderen erkenntnistheoretischen Stellenwert als in den Religionen selbst. Bei einem so wichtigen Thema wie der Kreuzigung Jesu und der an sein Blutopfer geknüpften Erlösung des Menschen, ja der ganzen Menschheit, kann es nicht ausbleiben, dass die Erforschung der damit unmittelbar in Verbindung stehenden „Judenfrage“ in hohem Maße durch religiöse Gefühle und Vorannahmen beeinflusst wird. Mit dem den Juden zugeschriebenen Gottesmord, dem schlimmsten überhaupt denkbaren Verbrechen, nahm die „Judenfrage“ ihren Ausgang. Sie begleitete die weitere Entwicklung des Christentums bis in die Gegenwart. In der Feier des Abendmahls bzw. der Eucharistie nehmen die Gläubigen den Leib und das Blut Christi zu sich und werden dadurch von ihren Sünden erlöst. Auch wenn viele Christen nur noch an die symbolische Realpräsenz des Auferstandenen glauben, ist es der tatsächliche Genuss seines Blutes und Leibes, der nach überwiegender kirchlicher Lehrauffassung den Vorgang der Entsühnung bewirkt.24 Im rituellen Zentrum des christlichen Heilsgeschehens steht die Einleibung (Inkarnation) des Göttlichen im Irdischen und der Glaube an einen wundersamen Zusammenhang zwischen dem Leib und Blut Jesu und den materiellen Substanzen von Brot und Wein. Das Blut des Gekreuzigten umschließt also eine doppelte irdische und himmlische Wirklichkeit und bildet so die Voraussetzung für die Teilhabe des Christen am ewigen Leben. Als Heilmittel gegen den Tod (farmakon athanasias) ist das Blut Jesu die Zentralkategorie des christlichen Glaubens schlechthin. Bis zum heutigen Tag konstituiert sich die Gemeinde als Leib Christi in der gottesdienstlichen Wiederholung des Blutwunders. In der katholischen Eucharistie wie im evangelischen Abendmahl wird der neue Bund mit Gott unter Auflösung des alten mit dem Blut Jesu besiegelt. Da die Juden den Messias ans Kreuz geschlagen haben, verlieren sie ihre religiöse Vorrangstellung und ihre Auserwähltheit geht auf die Christen über. Das Neue Testament substiutiert das Alte und hebt dessen Glaubensaussagen auf eine neue, höhere Form der Religiosität. Von einem religionsgeschichtlichen Blickwinkel aus ersetzt das Sühneopfer Jesu den vorchristlichen Opferkult. Mit dem Anspruch auftretend, 24
Auf die Unterschiede und den von Anfang an bestehenden Streit über die Frage, ob Jesus im Abendmahl bzw. der Eucharistie substantialiter oder nur symbolisch gegessen und ob sein Blut tatsächlich getrunken wird, kann ich hier nicht eingehen. Der Glaube an das Blutwunder Jesu, in welcher Form auch immer, ist für das Christentum aber insgesamt konstitutiv.
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die magischen Opferriten der Heiden ebenso wie die Kasuistik des jüdischen Ritual- und Opferwesens zu überwinden, entwickelte das Christentum eine sublimere Heilslehre des Blutes, die über das reine Selbstopfer Jesu eine neue Verbindung des Menschen mit Gott ermöglichte. Doch auch die christliche Epiklese bezieht ihre imaginative Kraft bei der Anrufung Gottes aus der uralten Vorstellung vom Blut als dem Sitz des Lebens. Das von jeher am Verblutungstod zu beobachtende Phänomen, dass sich mit dem ausströmenden Blut die Lebenskraft von Mensch und Tier ergießt, gewinnt durch das von Jesus dargebrachte freiwillige Opfer seiner selbst eine neue Bedeutung. Erst sein Sterben macht neues Leben möglich. Indessen besitzt das Blut auch eine dunkle und gefährliche Seite. Es ist nicht nur Symbol alles Lebendigen, sondern zugleich ein machtvolles Sinnbild für den Tod und die Gefahren, die den Menschen in seiner Existenz bedrohen. Diese Ambivalenz des Blutes hat auch der christlichen Erlösungslehre ihren Stempel eingeprägt und den für die Tötung des Messias verantwortlichen Juden den negativen Part im christlichen Heilsgeschehen zugewiesen. Am Blut Jesu scheidet sich das Leben vom Tod, das Gute vom Bösen und auch das Christentum vom Judentum. Der gemeinschaftsstiftende Charakter des Blutes Jesu und die sich in der Eucharistie konstituierende virtuelle Blutsgemeinschaft der Christen werden in erheblichem Maße durch die Abgrenzung von den Juden bestimmt. Sie und ihre „Synagogen des Satans“ repräsentieren die dem Christentum entgegen gesetzte Unheilslehre. Weil die Juden das Lamm Gottes getötet und sein Blut vergossen haben, werden sie den frühen Christen zum Prinzip des Bösen schlechthin. Ihre Religion und ihr Bund mit Gott fällt der Verdammung anheim. Analog zur spirituellen Dimension des jüdischen Blutfrevels entsteht zugleich die ganz konkrete Furcht vor den vom jüdischen Volk ausgehenden Gefahren in der Sphäre des Irdischen. Die sich über das reine Blut Jesu definierende Gemeinschaft der Christen wird nicht nur durch die falsche Lehre der Juden, sondern auch durch ihr daraus hervorgehendes Verhalten bedroht. Im Extremfall ist schon ihre Existenz der lebende Beweis für die Falschheit der christlichen Religion. Um eine Verunreinigung des eigenen Blutes abzuwehren, wird der sexuelle Kontakt mit Juden unter schwerste Strafen gestellt. Aus dem gleichen Schutzbedürfnis heraus wird jüdischen Ammen strikt untersagt, ihre Muttermilch christlichen Kindern zum Trinken zu geben.25 Jüdinnen werden in mehrfacher Hinsicht als eine 25
Die enge Beziehung zwischen Blut und Muttermilch wird besonders von John Edwards hervorgehoben. Siehe ders., The beginnings of a scientific theory of race? Spain 1450–1600, in ders., Religion and society in Spain, c. 1492, Aldershot 1996 (Erstfassung
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Quelle der Gefahr gesehen. Zum einen versinnbildlichen sie den Reiz der Versuchung und die magische Anziehungskraft des Bösen, die schon den Sündenfall Adams verursachte. Zum andern verbindet sich in der von patriarchalischen Überlegenheitsphantasien geprägten Kirche die Angst vor dem bösen Blut menstruierender Frauen mit der Furcht vor der Blutschande und einem jüdischen Blutfrevel, der das Christentum von innen her zu zersetzen droht. Nicht umsonst wurde der Messias von einer reinen Jungfrau geboren. Das lautere und jungfräuliche Wesen Marias als virgo ante und post partum, als Jungfrau vor und nach der Geburt, ließ die Gottesmutter zum Symbol bedingungslosen Vertrauens und schließlich sogar zum Objekt der mystischen Verklärung werden. 26 Wegen der auch dem Blut Jesu inhärenten Ambivalenz war es nicht verwunderlich, dass sich nach dem 4. Laterankonzil, auf dem 1215 die Lehre der Transsubstantiation dogmatisiert wurde, Vorstellungen vom Hostien- und Blutfrevel der Juden rasch ausbreiteten. Den Juden wurde nachgesagt, sie würden mit Messern oder anderen spitzen Gegenständen die heilige Hostie misshandeln und das dabei austretende Blut für ihre eigenen perversen Riten verwenden. Die hier zum Teil als Marterwerkzeug genannten Dornen stellen ein funktionales Äquivalent der Dornenkrone dar, mit der Jesus vor seinem Tod gepeinigt wurde. Außerdem wurde den Juden unterstellt, Christenkinder zu rauben, sie zu töten und ihr reines Blut zur Herstellung der ungesäuerten Brote für das Passahfest zu verwenden oder es dem Wein beizumischen, mit dem am Abend vorher unter antichristlichen Verwünschungen der Sedertisch besprengt wird. Im Gefolge von Ritualmordlegenden kam es häufig zu Pogromen und antisemitischen Gewalttaten. Kapellen und Wallfahrtsorte, die an den Stätten der vermeintlich jüdischen Bluttat entstanden, hielten das abscheuliche Verbrechen der Juden auch späteren Generationen noch im Gedächtnis. Eines der bekanntesten Beispiel ist wahrscheinlich der Tod Simon von Trients an Ostern 1475, für den jüdische Ritualmörder verantwortlich gemacht wurden. Die mit Hilfe der Folter ermittelten Schuldigen wurden verbrannt, wohingegen die vor ihrem Tod Konvertierten milderere Todes1992), S. 5f. Edwards vergleicht hier den Fall einer Jüdin, deren Muttermilch 1943 arischen Kindern zum Trinken gegeben wurde, mit einem Verbotserlass des Jahres 1480 im spanischen Aragon. Obwohl die Religionszugehörigkeit der arischen Kinder 1943 vordergründig keine Rolle mehr spielte, war die panische Angst vor einer Verunreinigung des eigenen Blutes im 20. Jahrhundert nicht geringer als im 15. 26 Es ist ihre besondere Reinheit, die Maria über das normale menschliche Maß hinaushebt. Zwar gebar auch Anna, die Großmutter Jesu, ihre Tochter als Jungfrau. Doch die Fähigkeit zur Aufhebung der Erbsünde beschränkt sich nach katholischer Auffassung allein auf die Mutter Gottes.
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strafen erhielten. 1588 wurde die Verehrung Simons durch Papst Sixtus V. in das Martyrologium Romanum aufgenommen. Papst Pius IX. erhob Simon von Trient zwei Jahrhunderte später am Ende der 1860er Jahre zum christlichen Heiligen, worauf im kirchlichen Umfeld eine Flut judenfeindlicher Schriften erschien. Vor allem die in großer Zahl verbreiteten Publikationen des Paderborner Bischofs Konrad Martin vermochten die Gefühle der katholischen Bevölkerung aufzureizen. Der katholische Gelehrte Henri Roger Gougenot des Mousseaux behauptete 1869 sogar, dass die Juden eine natürliche Charakteranlage zum Ritualmord besäßen. Für sein Buch über die Verjudung der christlichen Völker wurde er von Pius IX. gesegnet und mit einem hohen päpstlichen Orden ausgezeichnet.27 Ungeachtet seiner Feindschaft gegen die katholische Kirche übersetzte Alfred Rosenberg das antisemitische Pamphlet des französischen Autors fünf Jahrzehnte später ins Deutsche.28 Rosenberg wollte damit die Übereinstimmung der nationalsozialistischen mit der christlichen Judengegnerschaft betonen und zeigen, dass der NS-Antisemitismus nicht lediglich eine Wahnvorstellung völkischer Außenseiter war. Wie lange sich die Ausläufer der Ritualmordlegende halten konnten, sieht man daran, dass eine päpstliche Kommission erst 1965 die Seligsprechung des Heiligen Simon rückgängig machte. Gavin I. Langmuir hat auf den religionspsychologisch außerordentlich bedeutsamen Sachverhalt hingewiesen, dass die Juden durch die Ritualmord- und Hostienfrevelbeschuldigung indirekt zu Zeugen für die Wahrheit des Christentums gemacht wurden. Denn wenn die Juden nicht an die Wunderkraft des Blutes Jesu geglaubt hätten, wäre es für sie völlig sinnlos gewesen, das Blut geschändeter Hostien oder getöteter Christenkinder rituell zu missbrauchen. Indem sie so handelten, bekräftigen sie, wenn auch nolens volens, das Dogma der Transsubstantiation.29 Eine Bestätigung ex negatvio durch die Juden war für die Kirche umso wichtiger, weil 27 David Kertzer, Die Päpste gegen die Juden. Der Vatikan und die Entstehung des modernen Antisemitismus, Berlin 2001, S. 172. Der päpstliche Rückhalt war für eine weite Verbreitung derartiger Schriften enorm wichtig. In das Pontifikat Pio Nonos (1846– 1878) fällt auch das Dogma der unbefleckten Empfängnis (1854), in dem gelehrt wird, dass die immaculata conceptio Maria von der Erbsünde befreit. 28 Roger Gougenot des Mousseaux, Der Jude, das Judentum und die Verjudung der christlichen Völker, ins Deutsche übersetzt von Alfred Rosenberg, München 1921. Noch im gleichen Jahr brachte der Hoheneichen-Verlag fünf weitere Auflagen heraus. 29 Gavin I. Langmuir, History, religion, and antisemitism, Berkeley 1990, S. 299f. Für dieses Buch erhielt Langmuir (1924–2005) 1991 den National Jewish Book Award. Siehe auch ders. „Medieval antisemitism“, in: ders., Hg., Towards a definition of antisemitism, Berkeley 1990, S. 307: „The best indication that hidden doubts continued was the way Jews, who assuredly did not believe this dogma, were exploited to prove its truth.“
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auch viele Christen Zweifel daran hatten, dass während der Feier der Eucharistie tatsächlich der Leib Jesu gegessen und sein Blut getrunken würde. Bis zum Vorwurf der Anthropophagie, der ja von manchen Muslimen auch erhoben wurde, war es von hier aus nur noch ein kleiner Schritt. Außerdem fand sich keine zufrieden stellende Antwort auf die Frage der Ubiquität, das heißt inwiefern Jesus an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten gleichzeitig im Abendmahl anwesend gedacht werden konnte. Aufgrund solcher Aporien das Problem auf die Juden zu projizieren, leuchtet psychologisch durchaus ein. Dem fügte David Biale das Argument hinzu, dass es gerade für die große Mehrheit der christlichen Illiterati darauf ankam, sich eine dingliche Konkretion und Profanierung des Blutwunders vorstellen zu können.30 Jede neue Legende eines Hostienfrevels oder Ritualmords musste die Anschauung verstärken, dass sich die Perfidie der Juden mit der Kreuzigung Jesu nicht erschöpft hatte, sondern zu ihrem ureigensten Wesen gehörte. Der den Juden angedichteten Blutdurst war in Wirklichkeit „das Echo der christlichen Sehnsucht nach dem Blut des Heiles“.31 Nicht aus Zufall gehörte das Osterfest im Mittelalter zu den gefährlichsten Tagen des Jahres für die Juden. Sich an Karfreitag in der Öffentlichkeit zu zeigen, konnte für einen Juden unter Umständen lebensgefährlich sein. Die enge Verbindung zwischen dem christlichen Glauben an das Blutopfer Jesu und der Verfolgung der Juden wegen ihres auf Golgatha begangenen und später vielfach wiederholten Blutfrevels lässt erkennen, in welch starkem Maße sich das Christentum über die Negation des Judentums definierte. Die kluge Beobachtung des deutschen Ethnologen Wilhelm Emil Mühlmann (1904–1988), dass die Perhorreszierung blutiger Riten zum Arsenal aller Feindbildkonstruktionen gehört,32 findet in den christlichen Ritualmord- und Hostienfrevellegenden eine reiche Bestätigung.
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David Biale, Blood and belief. The circulation of a symbol between Jews and Christians, Berkeley 2007, S. 113. 31 Miri Rubin, Blut: Opfer und Erlösung in der christlichen Ikonographie, in: James M. Bradburne, Hg., Blut: Kunst, Macht, Politik, Pathologie, München 2001, S. 97. Die von der Kirche eingeforderte Stellungnahme zur Transsubstantiationslehre interpretiert Rubin als definitiven Lackmustest der christlichen Ketzerbekämpfung (ebd., S. 90). 32 Wilhelm Emil Mühlmann, Blut, 1. Religionsgeschichtlich, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Bd. 1, 1957, Sp. 1327f. Als ehemaliger Anhänger rassenideologischer Vorstellungen hatte Mühlmann vielleicht einen besonders geschulten Blick für die Problematik des Blutes. An anderer Stelle habe ich bereits darauf hingewiesen, dass die dritte Auflage der Religion in Geschichte und Gegenwart zu einem Sammelbecken für ehemalige Nationalsozialisten wurde. Siehe Horst Junginger, Hg., The study of religion under the impact of fascism, Leiden 2008, S. 81.
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Eine der methodischen Grundannahmen der Religionswissenschaft geht von der Notwendigkeit zur Distanzierung vom religiösen Gehalt ihrer Gegenstände aus. Wie bei allen Erscheinungen der Religionsgeschichte sucht die Religionswissenschaft auch im Fall der „Judenfrage“ nach nichtreligiösen Erklärungen für bestimmte religiöse Verhaltensweisen. Interpretationen, die selbst auf religiösen Vorannahmen beruhen und normative Glaubensaussagen zum Ausgangspunkt haben, sind mit ihren Methoden und Prinzipien nur schwer vereinbar. Gerade am Beispiel der „Judenfrage“ wird ersichtlich, worin sich eine theologische und eine religionswissenschaftliche Herangehensweise voneinander unterscheiden. Für die christliche Theologie besteht der alles entscheidende Punkt darin, ob das Heilsgeschehen auf Golgatha für wahr gehalten wird oder nicht. Ohne das Norm setzende und alles Nachfolgende präjudizierende Glaubenspostulat des auferstandenen Christus hätte sie keine Existenzberechtigung. Man kann nicht Christ oder christlicher Theologe sein, ohne an die Wirklichkeit der Auferstehung Jesu drei Tage nach seinem Tod zu glauben. Die Kreuzigung Jesu bildet zugleich aber auch den Nervus rerum der „Judenfrage“. So wie sie für die Christen der Wendepunkt zum Heil ist, so für die Juden zum Unheil. Dass überhaupt eine „Judenfrage“ entstehen und zwei Jahrtausende lang nicht gelöst werden konnte, liegt an der Schuld der Juden und an ihrer halsstarrigen Verweigerung, sie anzunehmen. Würden sich die Juden zum christlichen Heiland bekehren und die Autorität des Christentums anerkennen, hätte sich das Problem auf einen Schlag erledigt. Das Dilemma des Christentums ist darin zu sehen, dass es sich von der zu überwindenden jüdischen Vorgängerreligion so schroff als möglich abgrenzen und die Tötung Jesu als die denkbar schwerste Freveltat bezeichnen musste. Gleichzeitig war das Christentum aber in existenzieller Weise auf den jüdischen Deizid angewiesen. Ohne jüdisches Verbrechen kein christliches Heil. Die theologische Schwierigkeit der „Judenfrage“ resultiert aus diesem doppelten Verhältnis gleichzeitiger Anziehung und Abstoßung. In jeder Feier der Eucharistie wird die jüdische Bluttat durch die Erinnerung an das Opfer Jesu in Erinnerung gerufen. Mit der ständigen Enttäuschung konfrontiert, dass gerade die Juden die Wahrheit des Christentums erkennen müssten, statt dessen aber durch ihre trotzige Haltung das Gegenteil bezeugen, lag es religionspsychologisch vermutlich nahe, die Schuld auf die Juden zu projizieren und sie selbst für das „Judenproblem“ verantwortlich zu machen. Das, was für die christliche Theologie das Wichtigste ist, ist für die Religionswissenschaft irrelevant. Ob der mit der Kreuzigung Jesus in Verbindung gebrachte Wahrheitsanspruch des Christentums – oder der irgendeiner anderen Religion – gerechtfertigt ist, fällt nicht in ihren Zu-
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ständigkeitsbereich. Sie kann nur in einem wissenschaftlichen und nicht in einem religiösen Verhältnis zu den von ihr behandelten Gegenständen stehen. Bei der Vielzahl der Religionen, mit denen sie es zu tun hat, ist es eine Selbstverständlichkeit, dass sie sich religiös wertender Urteile enthält und keiner Glaubensweise den Vorzug gibt. Die einfache Erkenntnis, dass nur der religiöse Glaube und nicht der Glaubensinhalt selbst eine religionsgeschichtliche Tatsache ist und dass sich die Religionswissenschaft deshalb im Gegensatz zur Theologie nicht mit Gott und den göttlichen Dingen, sondern nur mit der empirisch fassbaren Religion beschäftigt, bringt einen grundlegenden Wechsel der Perspektive mit sich, der im allgemeinen zwar nicht bestritten, doch in seinen Konsequenzen oft nicht genügend reflektiert wird. Vor allem die damit verbundenen erkenntnistheoretischen Implikationen sind längst nicht ausreichend durchdacht. Wenn der Mensch als Homo faber der Religionsgeschichte anerkannt ist, heißt das auch, ihn zum Schöpfer Gottes zu machen? Wo ist die Religionswissenschaft zwischen Metaphysik und Positivismus, zwischen religiöser Spekulation und Materialismus zu verorten? Was wären die Folgen, würde man in einer religionswissenschaftlichen Erkenntnistheorie Hybridbildungen zulassen oder ausschließen? Obgleich derart grundsätzliche Überlegungen nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind, wird sie, so meine Hoffnung, die Spezifik der religionswissenschaftlichen Objektivierung etwas deutlicher machen können. Ob eine religionswissenschaftliche Untersuchung die Erkenntnis zu befördern vermag, lässt sich letztendlich nur am konkreten Objekt erweisen. Viele Publikationen zur „Judenfrage“ begehen den Fehler, nicht genügend zwischen der Ebene des subjektiven Glaubens und der des religionsgeschichtlichen Sachverhalts zu unterscheiden. Selbst bei rein historischen Darstellungen stößt man auf ein uneingestandenes Oszillieren zwischen einer religiösen und einer geschichtlichen Argumentationsebene. Biblische Wundererzählungen wie die vom Leben und Sterben Jesu erlangen unter der Hand oftmals den Status historischer Begebenheiten und nicht selten werden sogar Bibelzitate verwendet, um historische Sachverhalte zu erklären. Der in der Philosophie als metabasis eis allo genos bekannte Gattungswechsel hat gerade im Hinblick auf die „Judenfrage“ und die Unterscheidung zwischen religiösen und nichtreligiösen Formen der Judenfeindschaft außerordentlich nachteilige Folgen gehabt. Mit einer erstaunlichen Unbekümmertheit zeigen sich selbst Profanhistoriker geneigt, theologische Erklärungsansätze zu übernehmen und in die eigene Darlegung einfließen zu lassen. Viel zu wenig wird bedacht, dass es sich bei der Bibel nicht um ein Geschichts-, sondern um ein Geschichtenbuch handelt, das auch in der theologischen Vermittlung noch das Produkt der
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religiösen Fantasie ist und, wenn überhaupt, nur rudimentär mit wirklichen Ereignissen in Zusammenhang steht. Wenn man aber zwischen Heils- und Realgeschichte nicht genau unterscheidet und religiöse Deutungsmuster unzulässig verallgemeinert, muss es zwangsläufig zu Verzerrungen und Fehlurteilen kommen. Anstatt der Dynamik der Religionsentwicklung in der Moderne Rechnung zu tragen, wird dem Konzept des religiösen Antijudaismus sehr oft ein vormoderner Begriff von Religion zu Grunde gelegt. Dadurch scheint der politische Antisemitismus der Neuzeit in einem schroffen Gegensatz zum Christentum zu stehen. Doch in gleicher Weise, wie das Überleben einer Religion von ihrer Fähigkeit abhängt, sich auf neue Entwicklungen einzustellen, muss auch das religiöse Vorurteil mit der Zeit gehen, um überleben zu können. Wie die Religion selbst, so unterliegt auch das religiöse Ressentiment dem allgemeinen gesellschaftlichen Wandel und hat sich diesem anzupassen, will es bestehen bleiben. Nachdem sich die Theorie vom Absterben der Religion in der Moderne als falsch herausstellte, steht auch nicht zu erwarten, dass sich religiöse Vorurteile unter dem Einfluss der Wissenschaft und des Säkularismus einfach in Luft auflösen. Vielmehr eröffnen vertraute und allgemein verbreitete religiöse Klischees der Kirche in einer Säkularisierungstendenzen ausgesetzten Gesellschaft die Möglichkeit, sich mit ihrer Hilfe zu behaupten und dem drohenden Einflussverlust entgegenzuwirken. Der Antijudaismus kann unter solchen Umständen selbst zu einem mächtigen Faktor der religiösen Erneuerung werden. Er verfügt einerseits über ein breites und tief eingewachsenes Wurzelwerk und wird andererseits auch von solchen Menschen akzeptiert, die der Kirche und einen mehr oder weniger großen Teil ihrer Dogmatik den Rücken gekehrt haben. Wenn man den Entwicklungsgedanken und das Modernisierungstheorem in der Allgemeinen Religionsgeschichte als selbstverständlich erachtet, sollten auch religiöse Stereotypen nicht davon ausgenommen werden. Ein Rassenantisemitismus ohne Verbindung zu anderen Formen der Judenfeindschaft ist schlechterdings undenkbar. Mit der Feststellung, dass die Idee der Rasse keinen neuen Typ des Antisemitismus generiert, sondern zu einem bestehenden ergänzend hinzutritt, soll aber nicht bestritten werden, dass es durchaus zu Spannungen zwischen rassischen und religiösen Vorstellungen kommen kann, ja kommen muss. Es wäre geradezu verwunderlich, wenn die aus beiden Bereichen abgeleiteten Ansprüche so ohne weiteres in Einklang zu bringen wären. Ein solches Spannungsverhältnis lässt sich aber generell für das Aufeinandertreffen von neuen Faktoren des gesellschaftlichen Wandels auf ein traditionelles Religionsverständnis konstatieren und stellt insofern keinen Sonderfall dar. Man denke etwa an den kirchlichen Widerstand
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gegen die Darwinsche Evolutionslehre oder andere Auseinandersetzungen um neue wissenschaftliche oder politische Theorien. Die Überbetonung der nur für einen kleinen Teil der rassenantisemitischen Bewegung charakteristischen Christentumsfeindschaft übersieht, sofern sie nicht überhaupt apologetisch motiviert ist, die Dynamik der Veränderung, die das Christentum im 19. und 20. Jahrhundert auszeichnete. Überdies sind viele Studien zum Verhältnis von Rasse und Religion auf einen Kirchenbegriff fixiert, der das Gros der Laienchristen und ein sich der Kirche entfremdendes und nach neuen weltanschaulichen Orientierungen suchendes Bürgertum außer Acht lässt. Man kann auch beim nationalsozialistischen Antisemitismus der Rasse kaum von einem grundsätzlichen Paradigmenwechsel und einem Quantensprung in der langen Geschichte des abendländischen Judenhasses sprechen. Das Entscheidende am Rassenantisemitismus ist nicht die Rasse und die fiktive Ausdeutung der auf sie zurückgeführten Rassensubstanz. Es handelt sich hierbei nicht um eine autonome, aus sich selbst heraus existierende Größe, sondern um einen neuen Versuch, alten Vorurteilen mit Hilfe einer vorgeblich wissenschaftlich objektiven Methode neues Leben einzuhauchen. Rasse wird deshalb in dieser Untersuchung als eine Chiffre gesehen, die für Wissenschaftlichkeit oder zumindest für das Bemühen um eine wissenschaftliche Vorgehensweise steht und die das Verlangen zum Ausdruck bringt, einen unplausibel gewordenen Antisemitismus des Herkommens und der Tradition auf eine solidere Grundlage zu stellen. Man sollte es sich nicht zu einfach machen und die zunächst mit der Idee der Rasse verbundene Hoffnung auf eine bessere Klassifikation des Menschen als im Grundsatz verfehlt abzulehnen. Im Nachhinein hat man gut reden und kann frühere Erkenntnisse auf der Grundlage späterer Erfahrungen leicht als falsch unbegründet zurückweisen. Auch die Idee der Rasse muss aus ihren eigenen Entstehungsbedingungen heraus verstanden und analysiert werden. Die wissenschaftlichen Entwicklungen auf dem Gebiet der Medizin, der Genetik, des Blutkreislaufs, der Zelltheorie und einer neuen biologischen Anthropologie schufen die Voraussetzungen dafür, dass sich der uralte Mythos von der Lebenskraft des Blutes regenerieren und neu formieren konnte. Wie hätten sich diese neuen Erkenntnisse nicht mit dem alten Blutmythos verbinden können? Wenn man das kaum ansatzweise gelöste Problem der Immunschwäche AIDS bedenkt, sollte man vorsichtig sein, frühere Vorstellungen vom Zusammenhang zwischen bösem Blut und bösem Verhalten als mit einer modernen Denkungsart grundsätzlich unvereinbar zu erklären. Die Suche nach einer wissenschaftlichen Welterklärung blieb nicht auf den Bereich der Natur und Körperlichkeit beschränkt. Es beflügelte auch
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die Herausbildung der so genannten Geisteswissenschaften und bestimmte ebenso die Entwicklung der Universitätstheologie. Die historischkritische Bibelwissenschaft legt ein eindrucksvolles Zeugnis für diese Bemühungen ab. Die Religion musste sich insgesamt der Wissenschaft öffnen und rationalen Erklärungen ein stärkeres Gewicht beimessen, wollte sie nicht Gefahr laufen, als fortschrittsfeindlich wahrgenommen zu werden und als Folge davon ihren Rückhalt in der Gesellschaft zu verlieren. Zwischen den beiden Polen von zu viel und zu wenig Rationalität bewegte sich auch die Entwicklung des religiösen Vorurteils gegen das Judentum. Es musste gleichzeitig religiös und wissenschaftlich sein, wobei die genauen Parameter des Verhältnisses von religiöser Tradition und wissenschaftlichem Fortschritt auszuhandeln und nicht von vornherein festgelegt waren. Wenn man den religiösen Antijudaismus als genuinen Bestandteil der Modernisierung von Religion versteht und im Gesamtkontext der Moderne verortet, erfährt die Erforschung des Antisemitismus eine wichtige Akzentverschiebung. Dann wird nicht die Religion als solche inkompatibel mit dem Antisemitismus der Moderne, sondern nur eine veraltete, unzeitgemäße Form von Religion. In der Tat empfanden viele Menschen die Amtskirche als rückständig und im Widerspruch zu einer modernen Lebensauffassung stehend. Einfach zu sagen, die Juden würden an den falschen Gott glauben und das Mysterium der Taufe als Antwort auf die Probleme der Gegenwart auszugeben, konnte schwerlich eine Erfolg versprechende Strategie sein. Das heißt, die konventionelle Berufung auf die Wahrheit des christlichen Glaubens war für eine Lösung der „Judenfrage“ dysfunktional geworden. Im Gefolge der Aufklärung und der allmählichen Aufhebung der rechtlichen Diskriminierung der Juden in Deutschland wurde eine in herkömmlicher Weise religiös argumentierende Judenfeindschaft mehr und mehr als Anachronismus empfunden und mit dem Adjektiv „mittelalterlich“ belegt. Mit den Emanzipationsgesetzen und spätestens seit Erlass der Weimarer Reichsverfassung war es nicht mehr möglich, den Juden bestimmte Tätigkeiten und Bereiche der deutschen Gesellschaft auf dieser Grundlage vorzuenthalten. Den Juden stand unter den Bedingungen der formalen Gleichberechtigung aller Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften im Deutschen Reich eine Karriere im Staat, der Politik, der Armee, der Universität etc., zumindest theoretisch, offen. Wollte man ihnen umgekehrt den Zugang zu den Zentren der staatlichen Macht verweigern, oder sie, sofern sie sich dort bereits „festgesetzt“ hatten, daraus vertreiben, half die Berufung auf den christlichen Glauben allein nicht weiter. Es war genau diese Dysfunktionalität einer alten Religionsauffassung, die zur Suche nach geeigneteren Segregationskriterien führte. Um eine allgemeine Wirksamkeit zu erlangen, musste der Antise-
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mitismus deshalb nach der religiösen wie nach der wissenschaftlichen Seite hin fundiert sein. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme eröffnete die Kombination von rassischen und religiösen Diskurselementen die Möglichkeit, das Judentum auf der Basis einer „objektiven“ Beweisführung eliminieren zu können. An den religiösen Antijudaismus früherer Zeit anschließend, konnte man sich mit Hilfe der Rassentheorie zugleich von der Unwissenschaftlichkeit eines vormodernen Typs der Judenfeindschaft absetzen. Das ermöglichte es ein weiteres Mal, die Vorzüge des alten mit denen eines neuen Antisemitismus zu synthetisieren. Beide Formen der Judenfeindschaft organisch miteinander zu verbinden, war das Hauptanliegen der sich nach 1933 herausbildenden NS-Judenforschung. Aufgrund besonders geeigneter Voraussetzungen gelang es der Universität Tübingen, sich auf diesem neuen Wissenschaftsgebiet besonders zu exponieren und eine führende Rolle einzunehmen. Nicht von ungefähr wurde an der Eberhard Karls Universität im Jahr 1936 ein erster Lehrauftrag für das Studium des Judentums mit einem unzweideutig antisemitischen Charakter verliehen und nicht umsonst wurde sein Inhaber, Karl Georg Kuhn, im September 1942 der erste Professor des Dritten Reiches, der das Lehrgebiet einer antisemitischen Erforschung der „Judenfrage“ in Vorlesungen und Übungen vertrat. Wie es dazu kam und wie sich die Tübinger Entwicklung in den Gesamtkontext der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik einordnet, ist Gegenstand der vorliegenden Untersuchung.
3. Die Universität Tübingen und die Juden: von der Universitätsgründung im Jahr 1477 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Die Frage eines gelehrten, akademischen oder universitären Antisemitismus rührt an die innere Substanz der Universitätsverfassung. Sieht man in der Überwindung von Unwissen und im Kampf gegen oberflächliche Vorurteile und eine sich lediglich den Anschein der Wissenschaftlichkeit gebende Halbbildung die vornehmste Aufgabe der Universität, wäre die mit den Methoden der Wissenschaft unternommene Verarbeitung antisemitischer Ressentiments das schlechthinige Gegenteil davon. Doch genau dieser Fall trat nach 1933 ein, als sich mit der nationalsozialistischen Judenforschung eine neue Form des Antisemitismus herausbildete, die darauf abzielte, der Judenpolitik des Dritten Reiches eine theoretische Legitimation zu verschaffen. Ein solcher, sich selbst als wissenschaftlich verstehender Antisemitismus bedeutete zwar ein geschichtliches Novum. Er entstand aber nicht im luftleeren Raum ex nihilo. Ihm gingen herkömmliche Formen der Judenfeindschaft voraus, an die er inhaltlich anschloss und auf deren Fundament er aufbaute. Bereits bei der Gründung der Universität Tübingen spielte die Ablehnung des Judentums eine wichtige Rolle. Als Graf Eberhard im Bart (1445– 1496) es 1477 mit „bäpstlicher“ Erlaubnis des „hailigen stuls zu Rom“ unternahm, „ain hoch gemainschul und universitet in unsrer stat Tüwingen zu stifften und ufftzurichten“,1 verwies er gleichzeitig alle in Tübingen lebenden Juden der Stadt. Die Tatsache der Judenaustreibung wurde in der offiziellen Universitätsgeschichtsschreibung nach 1945 gerne verschwiegen. Man konzentrierte sich statt dessen auf die positiven Aspekte der Universitätsentwicklung und stellte das von Eberhard im Stiftungsbrief am 9. Oktober 1477 gebrauchte Bild vom Brunnen des Lebens in den Vor1
Waldemar Teufel, Zur Gründungsgeschichte der Universität Tübingen, in: ‚…helfen zu graben den Brunnen des Lebens‘. Historische Jubiläumsausstellung des Universitätsarchivs Tübingen vom 8.10.–5.11.1977, Tübingen 1977, S. 1–5, das Zitat aus dem Stiftungsbrief, ebd., S. 1.
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dergrund, aus dem tröstliches und heilsames Wissen geschöpft werde, mit welchem sich die menschliche Blindheit und Unvernunft überwinden lasse. In der Zeit vor 1945 hatte man die antijüdische Einstellung des Universitätsgründers allerdings noch ganz anders beurteilt. Die von ihm befohlene Vertreibung der Juden galt während des Nationalsozialismus als sein wichtigstes Vermächtnis, dem sich die Universität von Anfang an verpflichtet gefühlt habe. Schon im 19. Jahrhundert gehörte der Gedanke, dass Eberhard im Bart den Juden, „deren sich einige wieder eingenistet hatten“, den Aufenthalt in Tübingen „ein für allemal verbot“, zum festen Bestandteil der universitären Erinnerungskultur.2 Erst seit wenigen Jahren wird diese dunkle Seite der Universitätsgeschichte kritisch in den Blick genommen. Hier ist besonders die mit dem „Dr. Leopold-LucasNachwuchswissenschaftler-Preis“ ausgezeichnete Dissertation von Stefan Lang zu erwähnen, in der die Eberhard Karls Universität mit großer Kenntnis der zeitgenössischen Quellen im Kontext der württembergischen Judenpolitik behandelt wird.3 Seither wird die Frage nach Eberhards Haltung dem Judentum gegenüber fundiert und offen diskutiert.4 Als Hauptgrund für die Vertreibung der Juden nannte der Stiftungsbrief der Universität Tübingen den Schutz der Studenten vor jüdischen Wucherern. Es heißt dort: „Wir wöllent ouch und gebieten Ernstlichen denen von Tüwingen, das sie kein J u d e n och sust keinen offen w u c h e r e r by in, in der stat oder in iren zwingen und bennen laussen wonhafft beliben.“5 Auch wenn Eberhard für seinen Entschluss einen ökonomischen Grund anführte, muss die von ihm befohlene Ausweisung der 2
Karl Klüpfel und Max Eifert, Geschichte und Beschreibung der Stadt und Universität Tübingen, Tübingen 1849 (Neudruck 1977), hier Bd. 1, Max Eifert, Geschichte und Beschreibung der Stadt Tübingen, S. 84. 3 Stefan Lang, Ausgrenzung und Koexistenz. Judenpolitik und jüdisches Leben in Württemberg und im ‚Land zu Schwaben‘ (1492–1650), Ostfildern 2008. Siehe außerdem ders., Die Ausweisung der Juden aus Tübingen und Württemberg 1477 bis 1498, in: Sönke Lorenz und Volker Schäfer, Hg., Tubingensia. Impulse zur Stadt- und Universitätsgeschichte. Festschrift für Wilfried Setzler zum 65. Geburtstag, Ostfildern 2008, S. 111– 132. 4 So bei Franz-Josef Ziwes, Territoriale Judenvertreibungen im Südwesten und Süden Deutschlands im 14. und 15. Jahrhundert, in: Friedhelm Burgard u.a., Hg., Judenvertreibungen im Mittelalter und früher Neuzeit, Hannover 1999, S. 165–187 und Roland Deigendesch, Judenfeindschaft am Uracher Hof? Zu einer verschollenen und wiederentdeckten Handschrift aus dem Umkreis Eberhards V. von Württemberg, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 64, 2005, S. 85–102. 5 Lang, Ausgrenzung und Koexistenz, S. 41f. bzw. Rudolf Roth, Urkunden der Geschichte der Universität Tübingen aus den Jahren 1476 bis 1550, Tübingen 1877, S. 36 und Karl Klüpfel, Geschichte und Beschreibung der Universität Tübingen (Bd. 2 des auf der vorherigen Seite in Fußnote 2 genannten Werks), S. 5.
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Juden aus Tübingen auf dem Hintergrund einer allgemeinen Judenfeindschaft der Zeit gesehen werden, für die zwischen religiösen und wirtschaftlichen Argumenten kein Gegensatz bestand. Der Kampf gegen „jüdischen Wucher“ findet sich bereits in den Bestimmungen des 4. Laterankonzils, deren 67. Konstitution anordnete, dass den Juden die Gemeinschaft zu entziehen sei, falls sie von den Christen unangemessene Zinsen nehmen würden.6 Biete man den Juden keinen Einhalt, werde das Vermögen der Christen bald erschöpft sein. Die Kirchenführer sollten die Christen deshalb ermahnen, sich des Handelsverkehrs mit den Juden zu enthalten. Aufgabe der weltlichen Macht sei es, für die Durchsetzung der Anordnung zu sorgen und sicherzustellen, dass der Kirche für den von den Juden verursachten Schaden Genugtuung gewährt würde.7 Schon 1456, das heißt zwei Jahrzehnte vor der Universitätsgründung, erging auf dieser Grundlage ein Vertreibungsbefehl durch Graf Ulrich von WürttembergStuttgart (1430–1480), der auch für den Uracher Landesteil Gültigkeit hatte. In Tübingen scheint er jedoch nicht umgesetzt worden zu sein. Eberhard habe sich in seiner Judenpolitik aber daran orientiert.8 Zum Zeitpunkt der Ausweisung der Tübinger Juden durch Eberhard im Bart lebten in der ungefähr 3500 Einwohner zählenden Stadt etwa fünf jüdische Familien. Ihre Schutzherren waren die Grafen von Württemberg, denen Kaiser Karl IV. (1316–1378) 1360 das Judenregal verliehen hatte.9 Dabei handelte es sich um ein königliches Hoheitsrecht, das es Juden ermöglichte, sich gegen Bezahlung unter den Schutz des Kaisers zu stellen. Die persönliche Bindung des Regals an den Kaiser wurde im Laufe der Zeit aber mehr und mehr aufgeweicht. Karl IV. selbst verpfändete es des Öfteren zur Tilgung seiner Schulden. Die Aufnahme von Juden beruhte deshalb weniger auf dem Gedanken, eine fremde Religion zu tolerieren, als auf dem Wunsch nach einer weiteren steuerlichen Einnahmequelle. Das aufwändige Leben bei Hof musste ebenso finanziert werden, wie die zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen. In einer an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen eingereichten antisemitischen Dissertation aus dem Jahr 1852 heißt es, dass die Juden früher 6
Willehad Paul Eckert, Hoch- und Spätmittelalter – Katholischer Humanismus, in: Karl Heinrich Rengstorf und Siegfried von Kortzfleisch, Hg., Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden, Bd. 1, München 1988 (1. Aufl. Stuttgart 1968), S. 210–306, hier S. 222. 7 Ebd. 8 Eifert, Geschichte und Beschreibung der Stadt Tübingen, S. 71. 9 Thomas Miller, Die Judenpolitik Eberhards, in: Graf Eberhard im Bart von Württemberg im geistigen und kulturellen Geschehen seiner Zeit, Stuttgart 1938, S. 83–105, hier S. 84.
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für die Kasse des Kaisers, später aber für die der württembergischen Grafen im Land „gehalten“ worden seien.10 Eberhard im Bart sei der erste gewesen, der mit der Judenvertreibung das Gemeinwohl über seine Privatinteressen gestellt und zum Maßstab seiner Politik gemacht habe.11 Eberhard kam 1459 mit 14 Jahren noch als Minderjähriger im Uracher Landesteil Württembergs an die Regierung. 1474 heiratete er die oberitalienische Adlige Barbara Gonzaga von Mantua, wobei allein bei der Nachfeier in Urach 13.000 Gäste mit 150.000 Liter Wein und 165.000 Broten verköstigt wurden.12 Unter der Devise „Attempto“ (Ich wag es) gründete Eberhard drei Jahre später die Universität Tübingen. Nachdem ihm 1482 die Wiedervereinigung der beiden Landesteile Stuttgart und Urach gelungen war, wurde er von Kaiser Maximilian I. (1459–1519) auf dem Wormser Reichstag 1495 zum Herzog von Württemberg erhoben. Eberhard galt nach Aussage seines Erziehers und späteren Freundes Johannes Naukler (1425–1510) als außerordentlich frommer Mann, der sich streng an die Gebote der Kirche hielt.13 Dass seine Judenfeindschaft auf religiösen Motiven beruhte, steht außer Zweifel. Eberhard sah in der Universität eine Institution, die in Übereinstimmung mit der christlichen Religion stehen und deshalb vor den Juden und ihrem erpresserischen Wucher geschützt werden musste. Aus seiner Sicht wäre es verhängnisvoll gewesen, Juden in einer Stadt zu tolerieren, die zum geistigen Zentrum Württembergs werden sollte. Eine judenfeindliche Einstellung scheint sich bei Eberhard besonders während seiner 1468 unternommenen Pilgerfahrt ins Heilige Land verfestigt zu haben. Dabei hatte er die Stationen des Lebens und Sterbens Jesu besucht, darunter gerade solche Stätten, an denen nach der Überlieferung dem Messias durch die Juden Leid zugefügt worden war. Mit Sicherheit übte dieser unmittelbare Eindruck eine prägende emotionale Wirkung aus.14 Die Tatsache, dass sich in Eberhards Besitz eine wertvolle Handschrift des Trienter Ritualmordprozesses befand, verweist ebenfalls auf seine an10 „Das Interesse dieser Fürsten bei der Judenhaltung bestand also darin, daß ihre Kassen Einnahmen von ihnen zogen.“ Gustav Walcher, Geschichte der Juden in Württemberg in ihrem Verhältniß zum Staat bis 1806, Tübingen 1852, S. 12. 11 Ebd. 12 Gerhard Faix, Eberhard im Bart. Der erste Herzog von Württemberg, Stuttgart 1990, S. 16. Hier auch die Speisenfolge des 22 Gänge umfassenden fürstlichen Mahls. 13 Lang, Die Ausweisung der Juden aus Tübingen, S. 115. Johannes Nauclerus (Vergenhans) war maßgeblich an der Gründung der Universität beteiligt und 1478 auch erster Universitätsrektor. Von 1482–1509 übte er das Amt des Universitätskanzlers aus. 14 So Lang, Ausgrenzung und Koexistenz, S. 43 und Die Ausweisung der Juden aus Tübingen, S. 116.
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tijüdischen Neigungen. Wahrscheinlich entstand diese für den persönlichen Gebrauch überarbeitete Ausgabe der Prozessakten, die über die Hintergründe des von den Juden angeblich begangenen Verbrechens informierte, auf Veranlassung des Trienter Bischofs Johannes Hinderbach, der ein großes Interesse an der Verbreitung der Ritualmordlegende hatte.15 Thomas Miller behauptete 1939 sogar, dass von einem Juden namens Jakob im 14. Jahrhundert in Tübingen ein Ritualmord verübt worden sei. Dieser habe am Ende des Pestjahres 1348 in der Universitätsstadt einen „Christenknaben geschächtet“.16 Die über 600 Seiten umfassende Handschrift des Trienter Prozesses kam vermutlich über Eberhards Schwager, Kardinal Francesco Gonzaga, in seinen Besitz. Mitglieder der GonzagaFamilie pilgerten des Öfteren zum Grab des vermeintlichen Märtyrers Simon von Trient.17 Als Verfasser der Handschrift konnte ein Dominikanermönch namens Erhard („frater Erhardus“), vermutlich ein Schüler des berüchtigten dominikanischen Hetzpredigers Petrus Schwarz (Nigri), ausgemacht werden.18 Nigri (1434–1483), der während des Studiums in Salamanca und Montpellier mit Juden in Kontakt gekommen war und von ihnen Hebräisch gelernt hatte, nahm 1475/76 als Sachverständiger am Trienter Ritualmordprozess teil. Seine 1474 in Regensburg gehaltenen antijüdischen Hasspredigten wurden im Jahr darauf als Tractatus contra perfidos Judeos bei Konrad Fyner in Esslingen gedruckt. Drei Jahre später ließ dieser unter dem Titel Stella Meschiah (Der Stern des Messias) eine erweiterte Fassung des Tractatus folgen. Auf Veranlassung Eberhards siedelte Fyner 1478 nach Urach über und wurde zu einer Art Hofbuchdrucker des württembergischen Grafen.19 Auch wenn sich nicht mit letzter Gewissheit aufklären lässt, unter welchen Umständen die Handschrift der Trienter Prozessakten in den Besitz Graf Eberhards gelangte, kann man 15
Deigendesch, Judenfeindschaft am Uracher Hof?, S. 91ff. So Miller in einem Vortrag im Tübinger Ochsen im März 1939: Zur Geschichte der Juden in Tübingen. Vortrag von Dr. Th. Miller im Kunst- und Altertumsverein, in: Tübinger Chronik, 21.3.1939. 17 Lang, Die Ausweisung der Juden aus Tübingen und Württemberg, S. 117. 18 Ebd., S. 118 und Ziwes, Territoriale Judenvertreibungen, S. 180. 19 Franz Hammer, Das Verhältnis Eberhards zur Presse des Konrad Fyner, in: Graf Eberhard im Bart, a.a.O., S. 67–82, bes. S. 79ff. In dieser auf die Stuttgarter Bibliophilentagung des Jahres 1938 zurückgehenden Aufsatzsammlung erschien ein weiterer Beitrag Hammers mit deutlich antisemitischer Tendenz: Über eine bisher unbekannte Handschrift aus Eberhards Bibliothek (S. 13–24). Der konkrete Anlass für die beiden Beiträge Hammers war wohl die am 21.12.1937 erfolgte Versteigerung der Eberhardschen Handschrift bei Sotheby’s in London. Der amerikanische Büchersammler Lessing J. Rosenwald hatte sie gekauft, um sie nicht den Nazis zu Propagandazwecken in die Hände fallen zu lassen. Deigendesch, Judenfeindschaft am Uracher Hof?, S. 86f. 16
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doch in jedem Fall von einem besonderen Interesse an dem den Juden zugeschriebenen Ritualmord ausgehen. Möglicherweise wurde die Handschrift gerade im Hinblick auf Eberhards antijüdische Neigungen angefertigt.20 Auch in der 1516 publizierten Weltchronik Johannes Nauklers findet der Trienter Ritualmordprozess Erwähnung. Naukler behauptete hier, dass für die Pestpogrome des 15. Jahrhunderts jüdische Brunnenvergifter verantwortlich zu machen seien.21 Als weiteres Beispiel für den antisemitischen Kontext der Zeit werden von Stefan Lang die judenfeindliche Motive in der Sakralkunst des 15. Jahrhunderts angeführt, die sich mit den Ansichten Eberhards gedeckt hätten. So zeigen die zwischen 1476 und 1479 geschaffenen Kirchenfenster im Chor der Tübinger Stiftskirche Juden in negativer Weise. Die Passionsdarstellung des Hochaltars im Kloster Blaubeuren, insbesondere die Geißelung und Verspottung Jesu, lasse ebenfalls eine bildpolemische Judenfeindschaft erkennen.22 Eine noch stärker judenfeindliche Bildaussage habe die Darstellung der Kreuzestragung Jesu in der Stuttgarter Stiftskirche, die um 1445 entstand. Sie zeigt einen durch seinen Hut gekennzeichneten Juden, der Jesus an einem Strick zur Hinrichtung zerrt. Einige grinsende Juden über dem Kreuz weisen sich dabei „als zufriedene Urheber und Hintermänner der Passion des Gottessohnes aus“.23 Noch deutlicher konnten die Juden als Gottesmörder kaum abgebildet werden. Dass sich eine vergleichbare Stigmatisierung von Juden in vielen anderen religiösen Bildwerken der Zeit in und außerhalb Württembergs nachweisen lässt, kann aber schwerlich dazu dienen, die antijüdische Haltung Eberhards zu relativieren. Im Gegensatz zur Eindeutigkeit der von ihm selbst angeführten Belege spricht Lang indes von einer ambivalenten Haltung, die Eberhard den Juden gegenüber eingenommen habe.24 Der Ausdruck Ambivalenz würde aber bedeuten, dass es auch Quellen gibt, die ein judenfreundlicheres Verhalten Eberhards dokumentieren. Davon kann nicht die Rede sein. Auch Roland Deigendesch vermag im Verhalten des Tübinger Uni-
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Deigendesch, Judenfeindschaft am Uracher Hof?, S. 95. Lang, Die Ausweisung der Juden aus Tübingen und Württemberg, S. 120. 22 Der unter Abt Heinrich Fabri durchgeführte Neubau des Klosters Blaubeuren wurde 1493 durch die Weihe des Hochaltars abgeschlossen. Fabri, der schon bei der Gründung der Universität Tübingen beteiligt war, ließ sich dabei in der Form eines Reliefporträts gemeinsam mit dem Landesherrn Eberhard abbilden. Lang, Die Ausweisung der Juden aus Tübingen und Württemberg, S. 122f. sowie ders., Ausgrenzung und Koexistenz, S. 47f., hier auch die Belege für die Tübinger Stiftskirche. 23 Lang, Die Ausweisung der Juden aus Tübingen und Württemberg, S. 113f. 24 Lang, Ausgrenzung und Koexistenz, S. 48. 21
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versitätsstifters keine außergewöhnliche Judenfeindschaft zu erkennen.25 Doch weder der Verweis auf einen allgemein verbreiteten, lediglich „zeittypischen“ Antisemitismus, noch der Schluss in absentia über das Nichtvorhandensein judenfeindlicher Maßnahmen können Eberhard vom Vorwurf freisprechen, ein prononcierter Judengegner gewesen zu sein. Neben dem mentalen Vorbehalt, den Universitätsgründer in keinem allzu schlechten Licht erscheinen zu lassen, spielte hierbei offenbar auch die Intention eine Rolle, die grob überzeichnende Interpretation Eberhards als Vorkämpfer des Antisemitismus, wie sie während des Nationalsozialismus florierte, zurückzuweisen. Die Art und Weise, wie der Württembergartikel in der Germania Judaica den Antisemitismus Graf Eberhards zu verharmlosen sucht, kommt dagegen fast schon einer Geschichtsklitterung gleich. Seinem Autor zufolge muss die Vertreibung der Juden aus Württemberg als ein durchaus normales Element christlicher Herrschaft im Mittelalter angesehen werden. Eine besondere Judenfeindschaft vermag er darin nicht zu erkennen.26 Die jüngst von Sönke Lorenz getroffene Feststellung, dass Eberhard, wie etliche seiner Standesgenossen, ein „überzeugter Judenfeind“ gewesen sei, trifft die Realität weitaus besser.27 Die weite Verbreitung antijüdischer Vorurteile während des Mittelalters lässt sich kaum als Gegenargument anführen, um die Judenvertreibung durch Eberhard im Bart zu entschuldigen. Gerade umgekehrt war die allgemeine antijüdische Stimmung die Vorbedingung dafür, dass es in bestimmten Situationen zu konkreten judenfeindlichen Aktionen kam. Der Blick auf einige andere Universitätsgründungen dieser Zeit kann genaueren Aufschluss darüber geben, inwieweit sich der antijüdische Impuls, der in Tübingen zur Vertreibung der Juden führte, auch andernorts auswirkte. Generell ist hier die Feststellung angebracht, dass die spätmittelalterlichen Universitäten nicht direkt der kirchlichen Jurisdiktion unterstanden, dass sie aber ohne Erlaubnis der Kirche und ohne Übereinstimmung mit der christlichen Religion weder gegründet noch aufrechterhalten werden konnten. Für die Juden war an den Universitäten deshalb nicht nur kein Platz, sie standen ihrem weltanschaulichen Anliegen diametral entgegen. Guido Kisch hat den christlichen Kontext der 1348 erfolgten Gründung der Universität Prag eingehend untersucht und kam zu 25
Deigendesch, Judenfeindschaft am Uracher Hof?, S. 97, S. 99, und S. 101f. Markus Müller, Württemberg, Grafschaft, in: Germania Judaica, Bd. 3/3, Tübingen 2003, S. 2075–2078. 27 Sönke Lorenz, Eberhard im Bart und seine Universität, in: ders. u.a., Hg., Tübingen in Lehre und Forschung um 1500. Zur Geschichte der Eberhard Karls Universität Tübingen (Festgabe für Ulrich Köpf), Ostfildern 2008, S. 10. Lorenz bezieht sich bei seiner Einschätzung nicht zuletzt auf die von ihm betreute Dissertation Stefan Langs. 26
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dem Schluss, dass diese, wiewohl keine kirchliche Einrichtung im engeren Sinn, gleichwohl einen streng konfessionellen Charakter trug.28 Die Erlangung aller akademischer Würden setzte selbstverständlich die Zugehörigkeit zur Kirche voraus, wie auch von den Universitätslehrern und ihren Studenten zahlreiche Glaubensbekenntnisse abverlangt wurden. So musste beispielsweise bei der Promotion ein Eid auf die Jungfräulichkeit Marias geschworen werden. Kisch wies darauf hin, dass es für die mittelalterlichen Universitäten nicht unüblich war, die Häuser von Juden für die eigenen Belange zu verwenden. Auf diese Weise sei bei den Universitätsgründungen in Wien (1365), Heidelberg (1386) und Frankfurt/Oder (1506) verfahren worden.29 Kischs Beobachtungen lassen sich besonders an der Universität Heidelberg verifizieren, die 1386 von Kurfürst Ruprecht I. (1309–1390) mit dem Ziel errichtet wurde, seinem Territorium einen geistigen Mittelpunkt und einen Ort zur Ausbildung der Kirchen- und Staatsdiener zu geben. Zwar verhinderte es Ruprechts judenfreundliche Haltung zunächst, dass antisemitische Maßnahmen in der direkten Gründungsphase zum Tragen kamen. Doch schon ein Jahr nach seinem Tod vertrieb Kurfürst Ruprecht II. (1325–1398), sein Neffe und Nachfolger, alle Juden aus der Pfalz und vermachte ihre Besitztümer der Universität Heidelberg.30 Hatte die Universität zunächst ein eher bescheidenes Dasein gefristet, erfuhr sie durch den ihr inkorporierten jüdischen Besitz einen beträchtlichen Aufschwung. Sie konnte nicht nur einen Teil ihrer Einrichtungen auf Kosten der vertriebenen Juden unterbringen. Auch das Synagogeninventar und die zurückgelassenen Bücher wurden zugunsten der Universität veräußert. Schließlich wurde sogar der jüdische Friedhof gewinnbringend verpachtet. In Anwesenheit Ruprechts II., Ruprechts III. (1352–1410) und der vier Magister der Universität, das heißt der Vertreter der Fakultäten, verwandelte der Wormser Bischof in einem Gottesdienst am 2. Weihnachtsfeiertag des Jahres 1390 das Gebäude der ehemaligen Synagoge „zu Ehren des allmächtigen Gottes“ in eine Marienkapelle.31 Wenige Wochen zuvor hatten im Oktober 1390 dreizehn jüdische Familien die Stadt verlassen müssen. Ihre Synagoge fand daraufhin als Hörsaal und Tagungsort der Congregatio universitatis Verwendung.32 In der sog. Rupertinischen Konstitution stellte Kurfürst Ruprecht II. 1395 eine direkte Verbindung zwischen der Vertrei28
Guido Kisch, Die Prager Universität und die Juden 1348–1848, Amsterdam 1969. Ebd., S. 2f. 30 Ziwes, Territoriale Judenvertreibungen, S. 168ff. 31 Ebd., S. 171. 32 Juden an der Universität Heidelberg. Dokumente aus sieben Jahrhunderten. Begleitheft zur Ausstellung in Heidelberg vom 12.6.–31.8.2002, Heidelberg 2002, S. 4. 29
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bung der Juden und der Sorge um das Seelenheil seiner Landeskinder her.33 Der Stiftungsbrief der Universität Tübingen vom 9. Oktober 1477 ging auf das Freiburger Vorbild zurück, bei dem die antijüdische Komponente allerdings noch deutlicher zum Ausdruck gekommen sei.34 Die Universität Freiburg wurde 1457 durch den österreichischen Erzherzog Albrecht VI. (1418–1463) gegründet. Seine Gattin, Mechthild von der Pfalz (1419–1482), regte zwei Jahrzehnte später die Gründung der Universität Tübingen durch ihren aus erster Ehe stammenden Sohn Eberhard an. Dadurch, dass der Freiburger Stiftungsbrief noch weiter gehende Bestimmungen enthielt, wollte Miller aber das Verdienst Eberhards nicht geschmälert sehen. Die praktische Bedeutung sei in Tübingen viel größer gewesen, weil in Freiburg bereits seit 1401 keine Juden mehr geduldet wurden und somit auch nicht vertrieben werden mussten. Miller zufolge hielt es Eberhard „mit dem hohen Ziel und idealen Sinn seiner Gründung“ für unvereinbar, dass in den Mauern der Universitätsstadt „noch länger Juden wohnten, die nicht bloß die geistige Atmosphäre der Musenstadt mit ihrem fremdartigen Wesen und Leben zu verseuchen, sondern auch den Frieden unter den akademischen und städtischen Bürgern durch wucherische Ausbeutung zu stören drohten“.35 Das der Medizinischen Fakultät durch Eberhard schon 1477 verliehene Privileg, dass ohne ihre Erlaubnis in Tübingen und Umgebung die Arzneimittelkunst nicht ausgeübt werden durfte, habe nicht nur den Kurpfuschern, sondern vor allem den Juden gegolten. Zwar war den Christen im Mittelalter die Verwendung jüdischer Ärzte generell verboten, doch stellte Kaiser Friedrich III. (1415–1493) mehreren jüdischen Ärzten Schutzbriefe aus und hielt selbst einen jüdischen Leibarzt. Ausgerechnet von diesem habe Eberhards Ratgeber Johannes Reuchlin (1455–1522) die hebräische Sprache erlernt.36 Als Eberhard 1482 die Alleinregierung über ganz Württemberg übernahm, sei es ihm möglich geworden, seinen judengegnerischen Zielen noch größere Wirksamkeit verleihen. Um das Land in aller Zukunft von den Juden rein zu halten, bestimmte er in seinem Testament vom 26. Dezember 1492 mehrere Jahre vor sei-
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Ziwes, Territoriale Judenvertreibungen, S. 170f. So Miller, Die Judenpolitik Eberhards, S. 94. 35 Miller, Zur Geschichte und rechtlichen Stellung der Juden in Stadt und Universität Tübingen, in: Robert Wetzel und Hermann Hoffmann, Hg., Wissenschaftliche Akademie Tübingen des NSD.-Dozentenbundes Bd. 1, Tübingen 1940, S. 24 und ders., Die Judenpolitik Eberhards, S. 96f. Siehe außerdem Millers Artikel über Reuchlins Verhältnis zum Judentum, in: Tübinger Blätter 1938, S. 35–39. 36 Ebd., S. 247f. und ders., Die Judenpolitik Eberhards, S. 96f. 34
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nem Tod, dass Juden in seiner Herrschaft weder siedeln noch Handel treiben dürften: „Es ist och unser ordnung und letster will, das fürohin unser Erben in unser Herschaft keinen Juden seßhaft wonen noch dehain (kein) Gewerb tryben lassen.“37
Eberhard habe die völlige Entfernung der Juden aus dem Land für die beste Lösung der Judenfrage gehalten. Der Ausschluss der Juden sei auf diese Weise zu einer Art Grundgesetz in Württemberg und die Landesuniversität Tübingen zum ideologischen Zentrum der Judenpolitik Eberhards geworden. Tatsächlich erlangte Eberhards letzter Wille in der zweiten Regimentsverordnung vom 14. Juni 1498 den Rang eines Landesgesetzes, so dass die Vertreibung der Juden, die sich 1477 auf die Stadt Tübingen beschränkte, nun auf das ganze Land ausgedehnt wurde.38 Es heißt dort, dass die Juden nicht nur Wucher nehmen würden und „Gott dem allmechtigen, der Natur und cristenlicher Ordnung hessig, verschmecht und widerwertig“ seien, auch der gemeine Mann und Untertan würde sie als „verderplich und unlydenlich“ empfinden. Dann folgt der vielfach zitierte Satz von den Juden als ‚nagendem Gewürm‘: „So wöllen wir zu voderst Gott dem allmechtigen zu eeren, ouch handhabung vorberürts Testaments und letsten Willens und von gemains nutzs wegen, das dise nagenden würm die juden in disem fürstenthumb nit gehalten werden.“39
In fast allen späteren Landesordnungen und auch noch im Erbvergleich von 1777 sei dieser Grundsatz wiederholt worden.40 Die Arbeiten des Tübinger Universitätsbibliothekars Thomas Miller zielten generell darauf ab, die Universität und ihren Gründer möglichst positiv, das heißt nach damaligem Verständnis möglichst antisemitisch erscheinen zu lassen. Das gemeinschädliche Wesen der Juden beruhe nicht so sehr auf ihrer Religion, als auf ihrer Rasse. Graf Eberhard im Bart 37 Miller, Die Judenpolitik Eberhards, S. 101 und Lang, Ausgrenzung und Koexistenz, S. 49. 38 „Wenn jener testamentarischen Verfügung Eberhards die Ehre gebührt, die Grundzüge einer Judengesetzgebung im Sinne des Systems der Ausschließung treffend bezeichnet zu haben, so gebührt der Regimentsordnung die selbe Anerkennung, indem sie jene Verfügung durch ein Gesetz in’s Leben einführte, das jenen Grundsätzen treulich entsprach.“ Walcher, Geschichte der Juden in Württemberg, S. 21. 39 Miller, Die Judenpolitik Eberhards, S. 102 und Lang, Ausgrenzung und Koexistenz, S. 52. 40 Miller, Zur Geschichte und rechtlichen Stellung der Juden in Stadt und Universität Tübingen, S. 246.
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habe dies vielleicht noch nicht rational erkannt, aber zumindest instinktsicher gespürt: „Er konnte den Juden nicht nur nicht leiden, weil er ein Feind Jesu und Mariä war, weil er wucherte und betrog, sondern weil er eben ‚Jude‘ war.“41 Millers auf den Nationalsozialismus hin ausgerichtete Beschreibung der Universität Tübingen ist in vielem überzogen, sein Antisemitismus geradezu militant. Die Pestpogrome des 14. Jahrhunderts nannte er wegen der Bedrückung des Volkes durch die Juden nur den äußeren Anlass einer ebenso gerechtfertigten wie konsequenten Judengegnerschaft. Es sei kein Wunder gewesen, dass die Juden der Brunnenvergiftung bezichtigt und deswegen in fast allen größeren Städten verfolgt und verbrannt wurden: „Aber die Aktion traf nur einen Teil der Judenniederlassungen und war nicht nachhaltig genug.“42 Das hätte es den Juden erlaubt, rasch an ihre früheren Wohnorte zurückzukehren. Auch in Tübingen siedelten sie sich wieder an, so dass Eberhard hundert Jahre später wieder vor dem gleichen Problem stand. Trotz der Maßlosigkeit, mit der Miller der Universität Tübingen eine antisemitische Tendenz unterstellte, kann man ihm weder eine intensive Beschäftigung mit ihrer Geschichte, noch eine außerordentliche Kenntnis der einschlägigen Quellen absprechen. Man würde es sich zu einfach machen, wollte man seine Ansichten prinzipiell für falsch halten. Hinzu kommt, dass diese von seinen Zeitgenossen sehr positiv aufgenommen wurden und dass sein Antisemitismus, der uns Heutigen so missfällt, damals in und außerhalb der Universität auf einhellige Zustimmung stieß. Miller (1909–1945) stammte aus einer katholischen Familie in Oberschwaben und wurde 1932 an der Universität Tübingen mit einer Arbeit über Das katholische Kirchengut in Württemberg promoviert. Danach arbeitete er als Bibliothekar, bis er 1941 eingezogen wurde und mit der Wehrmacht am Russlandfeldzug teilnahm. 1944 in Kriegsgefangenschaft geraten, starb er im Januar 1945 in Nowosibirsk an der Ruhr. Seit 1936 trat er mit einer Vielzahl antisemitischer Publikationen in Erscheinung, die vor allem das Leben der Juden in Württemberg und Tübingen thematisierten. Dabei hob er besonders auf die judengegnerische Einstellung der Eberhard Karls Universität ab. Sie sei von Beginn an ein geistiges Widerstandszentrum 41
Eberhard wollte deshalb „nicht bloß ein christliches, sondern auch ein blutbedingtes, bodenständiges und unverfälschtes schwäbisches Volkstum. Er fühlte deutlich, daß die Juden ihm und seinem Volke nicht nur durch den Glauben fremd gegenüberstanden, sondern auch damals wie heute durch ihre rassischen Charaktereigenschaften, besonders ihren schädlichen Wucher als widrige Genossen und am Volkstum ‚nagende Würmer‘, wie es in der Regimentsordnung von 1498 heißt, empfunden wurden.“ Miller, Reuchlins Verhältnis zum Judentum, S. 39. 42 Miller, Die Judenpolitik Eberhards, S. 87.
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gegen das Judentum gewesen sei und habe dessen zerstörerischen Einfluss über die Jahrhunderte hinweg erfolgreich bekämpft. Es sei das Verdienst Graf Eberhards, dass sich die Vorstellung von den Juden als Würmer, die den christlichen Staat an seinen Wurzeln zernagen, im allgemeinen Bewusstsein der württembergischen Bevölkerung verfestigen konnte. Auch sein älterer Bruder Max war nicht frei von antisemitischen Ressentiments, denen er in einem Artikel über den ersten getauften Juden, der an der Universität Tübingen eine Professur erhielt, freien Lauf ließ. Max Miller (1901–1973) arbeitete seit 1929 als Archivar am Staatsarchiv Stuttgart und wurde nach dem Krieg von 1951–1967 Leiter des Hauptstaatsarchivs Stuttgart und der Archivdirektion Stuttgart. Die Veröffentlichungen der Gebrüder Miller müssen auf dem Hintergrund eines in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre aufkommenden archivarischen Interesses an den Juden gesehen werden, das sich im Umfeld der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte herauskristallisierte. Dabei wurde die Erforschung der „Judenfrage“ auf landesgeschichtlicher Ebene, und hier insbesondere die Durchforstung der württembergischen Archive nach Judaica, zu einem der Arbeitsschwerpunkte. Am 6. März 1937 erläuterte der württembergische Ministerpräsident und Kultusminister Christian Mergenthaler (1884–1980) in Stuttgart, worin die Aufgabe der Kommission nach ihrer Neugründung bestehen sollte und an welchen politischen Zielvorgaben sie sich zu orientieren habe. In den Mittelpunkt seiner Ansprache rückte Mergenthaler den Gedanken der Rasse, der, recht verstanden, mit dem Begriff der Wissenschaftsfreiheit nicht kollidieren müsse. Erst der Nationalsozialismus habe die Voraussetzung für eine wirkliche, an den Interessen des eigenen Volkes ausgerichtete Entfaltung der Wissenschaft geschaffen.43 Vorsitzender der mit einem Jahresetat von 20.000 Reichsmark ausgestatteten Kommission wurde der Leiter des Stuttgarter Hauptstaatsarchivs Hermann Haering (1886–1967).44 Etwa ein Drittel der dreißig Kommissionsmitglieder hatte eine Professur an der Universität Tübingen inne, unter ihnen Gustav Bebermeyer, Karl 43 Ansprache Mergenthalers bei der Eröffnungssitzung der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte am 6.3.1937, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 1, 1937, S. 1–6. 44 Die Summe von 20.000 RM wird von Haering (dem Bruder des Tübinger Philosophen Theodor Haering) in einem Brief vom 28.9.1937 an den Tübinger Universitätsrat Theodor Knapp genannt. Er ist abgedruckt bei Volker Schäfer, Tübinger Hochschulhistoriographie anno 1937. Der gescheiterte Plan einer Fortsetzung von Hallers Universitätsgeschichte, in: ders., Aus dem ‚Brunnen des Lebens‘. Gesammelte Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen. Festgabe zum 70. Geburtstag [Volker Schäfers], hg. von Sönke Lorenz und Wilfried Setzler, Ostfildern 2005, S. 234.
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Bihlmeyer, Hans Erich Feine, Wilhelm Gieseler, Hanns Rückert und Adalbert Wahl.45 Auch Max Miller gehörte der Kommission an. Im zweiten Jahrgang der Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte spezifizierte der am Ludwigsburger Staatsarchiv tätige Archivar Walter Grube (1907–1992) die Aufgabenstellung der Kommission dahingehend, dass die Judenfrage als Rassenfrage anzupacken sei, die in eine Landesgeschichte auf rassischer Grundlage einmünden müsse. Für diesen Zweck sei es von entscheidender Bedeutung, der Wissenschaft die Archivquellen zum Judenproblem zu erschließen. Man habe deswegen begonnen, die entsprechenden Aktenbestände zu sichten. Doch die beabsichtigte „Veröffentlichung eines Gesamtverzeichnisses aller Judenakten nach Faszikeln und in Regestenform“ sei sehr aufwändig und wohl nicht so schnell zu erwarten. Abgesehen vom Umfang bestehe die Schwierigkeit vor allem darin, relevante Archivalien in anderen Beständen außerhalb der eigentlichen Judenakten aufzufinden.46 Grube nahm in seinem Artikel auch auf Wilhelm Grau (1910–2000), den Leiter der Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands Bezug, den er vermutlich im September 1936 auf der Jahrestagung des Gesamtvereins der deutschen Geschichtsvereine in Karlsruhe kennen gelernt hatte.47 Graus Forderung nach einer Erfassung aller Judenakten gelte es in Württemberg umzusetzen. Die Geschichte der Judenfrage dürfe nicht länger von Juden oder jüdischen Werken her geschrieben, sondern müsse aus den Quellen neu geschaffen werden.48 Die Forderung nach einer archivarischen „Sicherstellung der Geschichtsquellen zur Judenfrage“ wurde vom Reichsinnenministerium aufgegriffen und Anfang 1937 in eine Weisung zur „Inventarisierung aller Judaica in den Staatsarchiven“ übergelei45
Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 1, 1937, S. 6–15. Walter Grube, Quellen zur Geschichte der Judenfrage in Württemberg, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 1, 1937, S. 118f. Wegen seines antisemitischen Inhalts wurde der Artikel nicht in die 50 Jahre später publizierte Bibliographie Grubes (Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 46, 1987, S. 535–541) aufgenommen. Meinrad Schaab behauptet allen Ernstes, dass sich Grube in ihm um „ausgesprochene Objektivität“ bemüht habe und dass der judenfeindliche Ton erst nachträglich hineinredigiert worden sei. Grube habe sich später „verständlicherweise“ nicht mehr zu dem Artikel bekennen wollen (ebd., 52, 1993, S. 512). Einen ähnlichen Versuch der Reinwaschung unternimmt Gregor Richter in Band 4 der Baden-Württembergischen Biographien, Stuttgart 2007, S. 109–113. 47 Patrizia Papen-Bodek, Judenforschung und Judenverfolgung: Die Habilitation des Geschäftsführers der Forschungsabteilung Judenfrage, Wilhelm Grau, an der Universität München 1937, in: Elisabeth Kraus, Hg., Die Universität München im Dritten Reich, T. 2, Aufsätze, München 2008, S. 242. 48 Grube, Quellen zur Geschichte der Judenfrage in Württemberg, S. 117 bzw. PapenBodek, Judenforschung und Judenverfolgung, S. 242. 46
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tet.49 Von 1940–1942 beim „Archivschutz“ im besetzten Frankreich in Besançon und in Montbéliard tätig, wurde Grube 1967 Nachfolger Max Millers als Leiter der Archivdirektion Stuttgart und des Stuttgarter Hauptstaatsarchivs.50 Die von Mergenthaler bei seiner Ansprache im März 1937 als erstes Arbeitsziel ausgegebene schwäbische Rassen- und Siedlungsgeschichte führte wenige Jahre später zu einer vierbändigen Schwäbischen Rassenkunde, die 1940/41 „in Verbindung mit der Kommission für Württembergische Landeskunde“ im Stuttgarter Kohlhammer Verlag erschien. Es handelte sich dabei um rassenkundliche Studien an der schwäbischen Bevölkerung, die mit Hilfe neuer anthropometrischer Messverfahren genaueren Aufschluss über die rassische Zusammensetzug des Schwabentums erbringen sollten. Unter anderem fand man heraus, dass sich der Schwabe durch Rundköpfigkeit auszeichne und besonders durch seine große Kopf- und Gesichtsbreite von anderen deutschen Bevölkerungsgruppen unterscheide.51 Wilhelm Gieseler (1900–1976), auch im Vorstand der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte, wollte außerdem das Vorurteil widerlegen, wonach viele Bewohner Württembergs äußerlich einen „ostischen“ Eindruck machen würden.52 Einen noch größeren Unsinn erbrachte die rassenkundliche Untersuchung einer Tübinger Schulklasse, mit der sich Hans Endres (1911–2005) im März 1943 für „Religionswissenschaft mit besonderer Berücksichtigung von Religion und Rasse“ an der Universität Tübingen habilitierte. Durch die Befragung der Schüler fand Endres auf experimentellem Wege heraus, dass die „katholische Frömmigkeit mehr gemütsbedingte Naturen, die evangelische Frömmigkeit des deutschen Menschen mehr verstandesbedingte Naturen“ anspreche.53 Thomas Mil49 Matthias Berg, ‚Die 760 Kisten gehen übermorgen nach Frankfurt‘. Von der paradigmatischen zur physischen Aneignung von Archivalien durch die nationalsozialistische ‚Judenforschung‘, in: ders. u.a., Hg., Mit Feder und Schwert. Militär und Wissenschaft – Wissenschaft und Krieg, Stuttgart 2009, S. 248f. Parallel dazu wurde im März 1938 Juden die Benutzung deutscher Archive untersagt. 50 Siehe Regina Kyler, Württembergische Archivleiter im Nationalsozialismus und ihre Nachlässe, in: Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus. 75. Deutscher Archivtag 2005 in Stuttgart, Stuttgart 2007, S. 344f. 51 Siehe zu den Ergebnissen Thomas Potthast und Uwe Hoßfeld, Vererbungs- und Entwicklungslehre in Zoologie, Botanik und Rassenkunde/Rassenbiologie: Zentrale Forschungsfelder der Biologie an der Universität Tübingen im Nationalsozialismus, in: Urban Wiesing u.a. Hg., Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus, Stuttgart 2010, S. 466f. 52 Ebd. 53 Horst Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft, Stuttgart 1999, S. 285f. Das Zitat aus dem Gutachten Gieselers vom 16.3.1943, der die Habilitation „unbedingt“ befürwortete.
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lers Arbeiten zur Geschichte der Juden in Württemberg gehörten ebenfalls in den Zusammenhang einer Rassenkunde des Schwabentums, wobei er seinem Gegenstand entsprechend sehr stark auf Archivquellen zurückgriff. Besonders erwähnenswert ist hier Millers 1939 bei Kohlhammer erschienenes Buch Schwabentum gegen Judentum. Der Kampf um die Judenemanzipation in Württemberg im Spiegel der öffentlichen Meinung, in dem er die Universität Tübingen als antijüdisches Bollwerk beschrieb. Und auch die an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen eingereichte antisemitische Dissertation von Ottmar Weber über die Entwicklung der Judenemanzipation in Württemberg scheint eine direkte Folge der von der Kommission für Württembergischen Landesgeschichte initiierten Erforschung der württembergischen Judenakten gewesen zu sein.54 Entgegen der zum Teil peinlichen Bemühungen Millers und anderer, Graf Eberhard im Bart als eine Art Vorläufer des Nationalsozialismus und frühen Verfechter protorassischer Ideen erscheinen zu lassen, beruhte Eberhards Judenfeindschaft zweifellos auf religiösen Motiven. Wie sein sonstiges Leben wurde auch die Tübinger Universitätsgründung durch seine religiösen Interessen bestimmt und von ihm als besonderer Ausdruck christlicher Frömmigkeit verstanden. Neben Eberhards landesherrlichem Wunsch nach einer eigenen Universität muss das religiöse Anliegen als die eigentliche Triebkraft seines Tuns angesehen werden.55 Auch von Volker Schäfer wird betont, dass die Universitätsgründung Eberhards als ein Akt der Dankbarkeit Gott gegenüber zu verstehen sei. Die vorreformatorische Universität sei insgesamt ein unter der Ämtergewalt des Papstes stehender „corpus ecclesiasticum“ gewesen.56 Sowohl im Hinblick auf die Ebene der privaten Religiosität wie auch hinsichtlich der strukturellen Einbindung in einen größeren kirchenpolitischen Zusammenhang war die von Eberhard befohlene Vertreibung der Juden aus Tübingen die politische Konsequenz seines christlichen Antijudaismus. Von daher klingt es wenig überzeugend, wenn Stefan Lang einerseits konstatiert, 54 Ottmar Weber, Die Entwicklung der Judenemanzipation in Württemberg bis zum Judengesetz von 1828. Ein rechtsgeschichtlicher Beitrag zur Geschichte der Judenemanzipation, Stuttgart 1940, zugleich Bd. 32 der Darstellungen aus der Württembergischen Geschichte, hg. von der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte. Eine kongeniale Rezension Millers findet sich im Weltkampf. Die Judenfrage in Geschichte und Gegenwart 20, 1944, S. 108. 55 So auch Lorenz, Eberhard im Bart und seine Universität, S. 1f. 56 Volker Schäfer, Geburt einer Universität. Zur Gründungsgeschichte der Alma Mater Tubingensis von 1477, in: ders., Aus dem ‚Brunnen des Lebens‘. Gesammelte Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen, Ostfildern 2005, S. 27f. (Erstdruck 1987).
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dass „judenfeindliche Inhalte stets zum zeittypischen Allgemeingut sowohl der altgläubigen als auch der protestantischen Theologie gehörten“, dass andererseits aber die theologische Judenfeindschaft im 15. Jahrhundert zurückgegangen sei und sich eher auf wirtschaftliche Problemfelder verlagert hätte.57 Lang selbst führt das Beispiel des ersten Universitätsrektors Jakob Andreä (1528–1590) an, der eine ausgesprochen judenfeindliche Einstellung an den Tag legte, die sich auf traditionell kirchlichen Argumentationslinien bewegte. Andreä, der von 1562 bis zu seinem Tod als Rektor der Universität Tübingen amtierte, war einer der einflussreichsten Theologen der Zeit und wurde von seinem Herzog sogar als Berater zu den Reichstagen mitgenommen. Die Konkordienformel des Jahres 1577, das heißt ein einheitliches lutherisches Lehrbekenntnis, kam ebenso wie das Konkordienbuch, das drei Jahre später die lutherischen Bekenntnisschriften zusammenfasste, unter seiner maßgeblichen Beteiligung zustande. Andreä kämpfte für die Durchsetzung der Reformation und trug nicht unwesentlich dazu bei, dass sich die lutherische Abendmahls- und Ubiquitätslehre durchsetzen konnte. Auch Andreäs Missionseifer den Juden gegenüber war berühmt. So gelang es ihm bereits in jungen Jahren als Superintendent von Göppingen, einen zum Tod verurteilten Juden in der benachbarten katholischen Herrschaft Rechberg-Weißenstein zur Annahme der christlichen Taufe zu bewegen. Die Altgläubigen hatten sich zuvor vergeblich darum bemüht, diesen Juden mit Namen Ansteet von Weißenstein zu bekehren. Seine vor mehreren hundert Zuschauern erfolgte Sinnesänderung wurde auf das theologische Geschick Andreäs und seine großen Kenntnisse der alttestamentlichen Religionsgeschichte zurückgeführt. Vor allem durch die Darlegung des Alten Testaments in seiner ihm „wolbekannten sprach“ sei dem Juden ein Licht in seinem finsteren Herzen aufgegangen.58 Der Tatsache, dass man Ansteet von Weißenstein bei dem Bekehrungsschauspiel im Juli 1553 mit dem Kopf nach unten zwischen zwei bissigen Hunden aufgehängt hatte, maß Andreä dagegen kein besonderes Gewicht bei.59 Sieben 57 Lang, Ausgrenzung und Koexistenz, S. 102. Siehe auch ders., ‚Spectaculum miserabile‘. Die Hinrichtung des Juden Ansteet in der rechbergischen Herrschaft Weißenstein 1553 und seine Bekehrung durch Jakob Andreae, in: Hohenstaufen / Helfenstein Historisches Jahrbuch für den Kreis Göppingen 11, 2001, S. 81–94 und, bereits zwei Jahrzehnte vorher, Stefan Schreiner, Der Fall des Juden Ansteet – zugleich ein Beispiel protestantischer Inquisition, in: Judaica 37–1, 1981, S. 90–102. 58 Lang, Ausgrenzung und Koexistenz, S. 102f. 59 In der unnachahmlichen Sprache Millers heißt es über Andreäs Missionserfolg des Jahres 1553: „Nachdem schon der Pfarrer von Weißenstein seine Bekehrungskunst am Juden vergebens versucht hatte, gelang es dem damals 25jährigen, den Juden zur
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Jahre später ließ er die Wahrhafftige Geschichte von einem Juden so zu Weissenstein in Schwaben gericht und zum christlichen Glauben ist bekert worden sogar drucken. Auch Andreäs zahlreiche Predigten bezeugen seine feindselige Einstellung den Juden gegenüber, die sich vor allem gegen den ihnen unterstellten Hass auf die Christen richtete. Die Juden würden Gott, Jesus und Maria lästern, die Christen bestehlen, Wucher treiben und die Ziele des Teufels verfolgen. Dass die Juden bei der Kreuzigung Jesu vor Pilatus schrien „sein blut sey uber uns und unsere kinder“, werde auch in der Gegenwart vielfach bestätigt. Falls die Schutzherrn der Juden sie weiterhin auf ihren Territorien duldeten, würden sie sich der Gotteslästerung schuldig machen.60 Der Philosoph und Humanist Johannes Reuchlin galt dem Universitätshistoriker Miller hingegen als judenfreundliche Ausnahme von der allgemeinen antisemitischen Regel. Reuchlin stand seit 1482 in den Diensten Graf Eberhards im Bart. Er begleitete ihn auch auf seinen Italienreisen, wo er mit Papst Sixtus IV. (1414–1484) über die Organisationsstruktur der Universität Tübingen debattierte und wo er auch Marsilio Ficino (1433– 1499) und Pico della Mirandola (1463–1494) kennen lernte. Dieser weite philosophische Horizont verhinderte es, dass Reuchlin zu einem Anhänger Luthers und der Reformation wurde. Vor allem sei aber seine Judenfreundschaft der Grund gewesen, warum er später bei Ulrich von Württemberg (1487–1550), Eberhards Großcousin und seit 1498 Herzog von Württemberg, in Ungnade fiel.61 Sein illusorisches Humanitätsideal habe Reuchlin die grundsätzliche Problematik mit den Juden nicht sehen lassen. Wegen des von Reuchlin ausgehenden judenfreundlichen Einflusses sei es dem zuvor in Rom lebenden getauften Juden Wilhelmus Raymundi möglich gewesen, 1480 nach Tübingen zu kommen. Als Raymundi nicht Professor werden konnte, sei er allerdings im gleichen Jahr wieder abgezogen.62 Dieses Ziel habe indes ein anderer Jude, Matthäus Adriani (geb. 1475, gest. nach 1521), erreicht, „der für sich die Ehre in Anspruch nehmen kann, der erste und lange Zeit auch der letzte jüdische Lehrer der Universität Tübingen gewesen zu sein“. Der aus Spanien stammende und von dort vertriebene Arzt Adriani unterrichtete an der württembergischen Landesuniversität hebräisch und verfasste eine hebräische Sprachlehre, die 1503 bei Thomas Amshelm in Tübingen gedruckt wurde. Weil christlichen Taufe zu bewegen. Daraufhin erlangte der Jude die Gnade, daß er am Hals gehenkt wurde.“ Miller, Die Judenpolitik Eberhards, S. 103. 60 Lang, Ausgrenzung und Koexistenz, S. 103–105, das Zitat aus einer Predigt Andreäs auf S. 105. 61 Miller, Reuchlins Verhältnis zum Judentum, S. 39. 62 Ebd.
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die Tübinger Atmosphäre dem Juden aber nicht günstig gewesen sei, habe er 1513 die Stadt aber wieder verlassen.63 Spätere Anfragen von jüdischen Gelehrten auf eine Lehrtätigkeit seien stets abschlägig beschieden worden, so im Falle von Paul Nicolsen im Jahr 1591.64 Weil die universitäre Beschäftigung mit der hebräischen Sprache vor allem dazu gedient habe, die Juden besser von der Wahrheit des Christentums zu überzeugen, sah Miller im christlichen Bekehrungseifer die Gefahr der Aufweichung einer konsequenten Judengegnerschaft. Herzog Ludwig (1554–1593) habe die Universität Tübingen zwar angewiesen, den Buchbindern der Stadt das Binden „pappistischer“ und jüdischer Bücher zu verbieten, doch die „Hebreische Bibel“ davon ausgenommen.65 Im 18. Jahrhundert sei schließlich sogar ein getaufter Jude, Christof David Bernard (1682–1751), als Hebräischlektor angestellt worden, der von 1718– 1751 in Tübingen wirkte. Wie so oft bei Konvertiten sei auch Bernard in besonderer Weise für das Christentum und gegen seine alte Religion aufgetreten, wobei er nach Miller „eine geradezu fieberhafte Tätigkeit für die Bekehrung seiner Rassegenossen“ entfaltete.66 Bernard verfasste zahlreiche Schriften und Eingaben zur Judenbekehrung und fungierte auch als Übersetzer bzw. Gutachter im Prozess gegen Joseph Süß Oppenheimer. Später habe er allerdings Bücher zur Ehrenrettung der Juden geschrieben.67 Millers Kritik an der christlichen Judenmission muss auf der Folie des nationalsozialistischen Rassendiskurses gesehen werden. Sein Argument, dass die Kirche den betrügerischen Charakter der Juden unterschätzt hätte, zielte auf ein durch die Taufe nicht veränderbares rassisches Wesen des Judentums ab. Die von den Juden ausgehenden Gefahren seien von der Kirche nicht wirklich erkannt worden, auch wenn Einzelne wie der Hofprediger Lukas Osiander (1534–1604) nach üblen Erfahrungen einen „heftigen Abwehrkampf gegen alles Judentum“ führte.68 Auch ein anderer berühmter lutherischer Theologe mit dem Familiennamen Osiander, Johann Adam Osiander (1622–1697), wollte Juden allenfalls zum Zweck der Missionierung tolerieren. Am besten wäre es aber, „wenn in einem christli-
63 So Miller, Zur Geschichte und rechtlichen Stellung der Juden, S. 249f. Adriani war natürlich wie Raymundi Konvertit. 64 Ebd., S. 255. 65 Ebd., S. 251. 66 Ebd., S. 253f. 67 Ebd. 68 Ebd., S. 255.
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chen Staat überhaupt keine Juden lebten“.69 So wenig die von Miller den Juden unterstellten Rasseeigenschaften etwas mit der Realität zu tun hatten, so wenig kann auf der anderen Seite bestritten werden, dass es die Judenfeindschaft, an die Millers Interpretation anknüpfte, tatsächlich gegeben hatte. Mit den Gebietserweiterungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts erhielt das protestantische Württemberg einen deutlichen Zuwachs an katholischen Einwohnern, der die Religionsstruktur des Landes einschneidend veränderte. Der neuen Situation Rechnung tragend, errichtete König Friedrich I. (1754–1816) 1812 in Ellwangen eine katholische Landesuniversität, die indes nur fünf Jahre existierte. Bereits ein Jahr nach seinem Tod wurde sie von seinem Sohn, König Wilhelm I. (1781–1864), als Katholischtheologische Fakultät der Universität Tübingen angegliedert. Dass der König die Interessen des katholischen Bevölkerungsteils stärker berücksichtigen musste, führte in der Konsequenz dazu, dass auch der Drang der Juden nach Gleichberechtigung eine größere Dynamik erhielt. Mit welchem Recht ließ sich den Juden das verwehren, was man den Katholiken zugestand? Hatte die französische Nationalversammlung schon 1791 die Gleichberechtigung der Juden beschlossen, konnte sich dieser Grundsatz in der Vielzahl der deutschen Territorien nur allmählich und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit Geltung verschaffen. Württemberg gehörte hier nicht zu den Vorreitern. Außerdem wurde die Judenemanzipation in Deutschland in erster Linie unter dem Aspekt der Erziehung und weniger als Konsequenz eines für alle Menschen gleichen Rechts gesehen. Selbst bei den Liberalen dominierte die Vorstellung einer zivilisatorischen Rückständigkeit der Juden, die von ihnen nun aber nicht mehr nur auf ihre falsche Religion zurückgeführt, sondern als Folge einer politischen und wirtschaftlichen Benachteiligung aufgefasst wurde. Sogar diejenigen, die für die Gleichstellung der Juden eintraten, erklärten ihre vorherige Erziehung und Assimilation zur Vorbedingung für rechtliche Zugeständnisse. Wollten die Juden gleichberechtigte Mitglieder der deutschen Gesellschaft werden, hatten sie vorher ihre negativen Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften abzulegen. Wie es eine Kommission der württembergischen Abgeordnetenkammer 1828 formulierte, mussten die Juden zuvor „entjudet“ werden, damit ihr Anspruch auf Teilhabe an den bürgerlichen Rechten akzeptiert werden konnte. Wenn schon die Minderheit der libe69 Martin Jung, Die württembergische Kirche und die Juden in der Zeit des Pietismus (1675–1780), Berlin 1992, S. 60. Johann Adam Osiander lehrte seit 1660 als ordentlicher Professor an der Universität Tübingen. 1680 wurde er Kanzler und 1662, 1668 und 1682 drei Mal Rektor der Universität.
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ralen Emanzipationsbefürworter die Bereitschaft der Juden voraussetzte, ihr Judentum und ihre jüdische Identität aufzugeben, so war von der großen Mehrheit der Deutschen in dieser Hinsicht wenig Positives zu erhoffen.70 Viele, wahrscheinlich sogar die meisten Deutschen, vermochten der liberalen Hoffnung wenig abzugewinnen, dass die Juden von selbst die Überlegenheit der christlichen Zivilisation anerkennen und freiwillig auf ihre religiösen Gebräuche und unguten Verhaltensweisen verzichten würden. Dass der Gedanke der Judenemanzipation in einem so prononciert christlichen Staat wie dem Königreich Württemberg auf einen fruchtbaren Boden fallen würde, stand von vornherein nicht zu erwarten. Der unter französischem Einfluss stehende Friedrich I. hatte zwar 1808 versucht, den Juden etwas mehr Rechte einzuräumen, doch das Königliche Obertribunal in Tübingen, damals die oberste Gerichtsbehörde des Landes, hatte ihn daran gehindert.71 Nach einer langen und kontrovers geführten Debatte wurde im württembergischen Landtag schließlich am 25. April 1828 das „Gesetz in Betreff der öffentlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen“ erlassen, das die Benachteiligung der Juden zumindest teilweise aufhob. Der württembergische Innenminister Christoph Friedrich Schmidlin (1780–1830) ließ aber keinen Zweifel daran, dass man keinesfalls eine völlige Gleichstellung des Judentums im Sinn habe. Durch die neuwürttembergischen Gebiete seien in 80 Orten zu den vorhandenen 500 nun einmal 7000 weitere Juden hinzugekommen. Diese würden sich nicht so leicht „ausschaffen“ oder für rechtlos erklären lassen, wie das früher noch unter Berufung auf die Landesordnungen des 16. Jahrhunderts möglich war.72 Andererseits lebte mittlerweile eine größere Zahl von Katholi70
Dieter Langewiesche, Liberalismus und Judenemanzipation in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Peter Freimark u.a., Hg., Juden in Deutschland. Emanzipation, Integration, Verfolgung und Vernichtung, Hamburg 1991, S. 148–163, bes. S. 149 und 155. Hier auch das Zitat aus den Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Württemberg auf dem außerordentlichen Landtage 1828, S. 12. 71 Paul Tänzer, Die Rechtsgeschichte der Juden in Württemberg 1806–1828, Berlin u.a. 1922, S. 25f. 72 „Wenn auch die Ansässigmachung im Lande, der sogenannte Landesschutz, den Juden bis zum J. 1806 beharrlich verweigert und die ‚Ausschaffung, Ausrottung, Elimination [etc.]‘ der unter irgend einem besonderen Schutze eingeschlichenen Juden durch eine Reihe von Landtagabschieden bis zum Erbvergleich von 1770 wiederholt zugesichert und unnachsichtlich vollzogen wurden, so konnte doch jenes Ausschaffungssystem auf diejenigen Juden nicht angewendet werden, die in einzelnen durch Kauf erworbenen Herrschaften schon vor der Erwerbung ansässig gewesen und mit diesen Orten in den Kauf gegeben waren.“ So Innenminister Schmidt, zitiert nach den Verhandlungen in der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Württemberg über den
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ken in Württemberg, so dass sich eine Situation ergeben hatte, die es erzwang, den Juden politische Zugeständnisse zu machen. Der seit 1822 als Kanzler der Universität Tübingen amtierende bekannte Mediziner und Leibarzt des Königs Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth (1772–1835) hatte in der Abstimmung für die Annahme des Gesetzes votiert und dabei die rhetorische Frage aufgeworfen, warum 1,5 Millionen Christen vor gerade einmal 8000 Juden Angst haben sollten.73 Autenrieths Votum wertete Thomas Miller als Verrat an den Prinzipien der Universität und der Eberhardschen Ausschließungspraxis. Die Befürworter des Gesetzes hätten sich von der jüdischen Propaganda und deren Schlagworten überrumpeln lassen.74 Zu den einflussreichen Gegenstimmen gehörte die Eingabe des Tübinger Handels- und Gewerbeverbands vom 31. Januar 1825, die behauptete, dass von einer politischen Gleichstellung der Juden der Niedergang des Tübinger Handels und Gewerbes, aber auch der Ruin der studierenden Jugend ausgehen werde.75 Ein wortstarker Protest gegen das neue Judengesetz kam auch von dem schwäbischen Nationalisten Rudolph Moser, der in seinem 1828 erschienenen Buch über Die Juden und ihre Wünsche in deutlichen Wendungen gegen die liberale Gedanken- und Gefühlserweichung seiner Zeit Stellung bezog. Die Grundsätze der jüdischmosaischen Religion seien total verdorben und von einer christlichen Staatsordnung nicht hinnehmbar. Würde der König den Juden die gleichen politischen Rechte einräumen, müsste das unweigerlich zum Ruin seiner christlichen Untertanen führen. Die Juden seien Fremdlinge und sollten es auch bleiben.76 So sie sich aber bereits wieder in Württemberg angesiedelt hätten, erzwinge der gerechte und geheiligte Selbsterhal-
k. Gesetzesvorschlag die öffentlichen Verhältnisse der Israeliten betreffend, Stuttgart und Tübingen 1828, S. 35. 73 Ebd., S. 28ff. 74 Miller, Zur Geschichte und rechtlichen Stellung der Juden, S. 261. 75 Ebd., S. 263. Der Wortlaut der Eingabe ist abgedruckt bei Thomas Miller, Tübingen und die Judenemanzipation, in: Tübinger Blätter, 1938, S. 41–44. Noch antisemitischer argumentierte die Vorstellung des Ulmer Handels- und Gewerbestandes aus dem gleichen Jahr. Da die Austreibung von mehr als 7000 Juden aus Württemberg zu Problemen mit den Nachbarstaaten führen würde, sollte man diese in einer eigenen Stadt in der Nähe Stuttgarts ansiedeln. Miller, Schwabentum gegen Judentum. Der Kampf um die Judenemanzipation in Württemberg im Spiegel der öffentlichen Meinung, Stuttgart 1939, S. 63ff. 76 Rudolph Moser, Die Juden und ihre Wünsche, Stuttgart 1828, S. 155f. Als Beilage enthielt die Schrift auch Talmudauszüge Johann Andreas Eisenmengers, mit denen Moser die Unmoral der Juden zu beweisen suchte.
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tungstrieb der alteingesessenen Bevölkerung ihre Ausweisung.77 Erst die französische Revolution und ihr Einfluss auf einen Teil des deutschen Volkes habe es möglich gemacht, dass die Juden, dies „zehrende und nagende Gewürm“, die Möglichkeit erhielten, die Grundlagen des christlichen Staates zu untergraben. Vor allem die christenfeindliche Haltung der Juden mache ihre Entfernung zu einem unabweisbaren Erfordernis.78 Ungeachtet der heftigen antisemitischen Polemik Mosers verlieh ihm die Philosophische Fakultät der Universität Tübingen die Doktorwürde für seine Schrift. Das Gesetz des Jahres 1828 beinhaltete für die Juden eine deutliche Verbesserung gegenüber der Verfassung von 1819, die den vollen Genuss der staatsbürgerlichen Rechte noch an das christliche Glaubensbekenntnis gekoppelt hatte und in der es hieß, dass „nichtchristliche Glaubensgenossen“ zur Teilnahme an den bürgerlichen Rechten „nur in dem Verhältnis zugelassen werden, als sie durch die Grundsätze ihrer Religion an der Erfüllung der bürgerlichen Pflichten nicht gehindert sind“.79 Ein knappes Jahrzehnt später wurden die Juden zu anerkannten Untertanen des Königs von Württemberg, denen im Prinzip die gleichen Rechte gewährt werden sollten. Dazu gehörte auch die Berechtigung, sich den Künsten und der Wissenschaft zu widmen. Der Zugang zu den Staatsämtern sowie das aktive und passive Wahlrecht blieb den Juden jedoch weiterhin verschlossen. Eine weitergehende rechtliche Gleichstellung erfolgte erst 1864, als König Karl (1823–1891) mit Ausnahme des Mischehenverbots alle Beschränkungen aufhob, die dem Gesetz von 1828 noch anhafteten.80 Weil Recht haben und Recht bekommen bekanntlich aber zwei verschiedene Dinge sind und weil sich Institutionen wie die Universität vehement dagegen sperrten, Juden die ihnen nun gesetzlich zustehenden Rechte auch tatsächlich zu gewähren, gelang es nur partiell, das Programm der Judenemanzipation in die Realität zu überführen. Je stärker ideologisch relevante Bereiche und Berufe tangiert wurden, desto schwieriger war es für die Juden, Fuß zu fassen. Besonders die sich als dezidiert protestantisch und national verstehende Landesuniversität tat sich schwer, in der Religion der Juden keinen Angriff auf die weltanschauliche Identität des christ77 „Wahre Menschenliebe, das heilige Gefühl für Recht und Unrecht, für Wahrheit und Lüge spricht es aus, daß diese Volksverderber nicht mehr unter uns weilen können und dürfen.“ Ebd., S. 272. 78 Ebd., S. 193. 79 Paul Tänzer, Die Rechtsgeschichte der Juden in Württemberg, S. 64 bzw. Weber, Die Entwicklung der Judenemanzipation in Württemberg, S. 6. 80 Weber, Die Entwicklung der Judenemanzipation in Württemberg, S. 8. 1869 erhielten die Juden schließlich sogar die Erlaubnis zur Heirat eines Christen oder einer Christin.
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lichen Staates zu sehen. Die folgenden Beispiele machen deutlich, dass Juden zwar mittlerweile ohne Probleme studieren konnten. Doch eine Anstellung als Universitätslehrer erwies sich weiterhin als völlig undenkbar. Wollte ein Jude Professor und Staatsbeamter werden, hatte er sich vorher taufen zu lassen und das christliche Glaubensbekenntnis anzunehmen. Und natürlich durfte er keine Ansichten vertreten, die im Königreich Württemberg als politisch anstößig galten oder die vielleicht sogar die Monarchie in Frage stellten. Das führte zu einem erheblichen Konversions- und Anpassungsdruck, deren Mechanismus auf liberaler und demokratischer Seite nicht durchschaut und deshalb mit zum Teil antisemitischen Untertönen als jüdischer Opportunismus kritisiert wurde. Bei dem ersten getauften Juden, der 1811 in Tübingen eine Professur erhielt, Salomo Michaelis (1769–1844), spielte außer der Tatsache, dass er den christlichen Glauben annahm, die Unterstützung durch den König die entscheidende Rolle. Aufgrund seiner Stuttgarter Verbindungen hatte Michaelis im Wintersemester 1810/11 an der Universität Tübingen einen besoldeten Lehrauftrag für französische Sprache und Literatur erhalten. Michaelis war 1809 in Heidelberg zum Christentum übergetreten, weil ihm die dortige Universität mit dem ausdrücklichen Hinweis auf seine jüdische Herkunft eine Anstellung verwehrt hatte. Kurz nach seinem Glaubenswechsel promovierte er als Externer an der Universität Jena, bevor er im Herbst 1810 nach Tübingen kam. Im Zuge der vom württembergischen König und seinem Kurator Wangenheim unternommenen Umstrukturierung der Universität erhielt Michaelis dann ein Jahr später den neu geschaffenen Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur, der die Germanistik in Tübingen begründete.81 Als Dank für die ihm aus Stuttgart gewährte Unterstützung verteidigte Michaelis im Verfassungskonflikt zwischen den Ständen und dem König die Position des Monarchen. Da er außerdem als Zensor für die Regierung arbeitete, hielt sich seine Beliebtheit an der Universität Tübingen in engen Grenzen. So war es nicht verwunderlich, dass Michaelis bereits 1817 wieder aus dem Amt ausschied, um die Redaktion des Staats- und Regierungsblattes in Stuttgart zu übernehmen. Seine Tübinger Professorenzeit beschränkte sich deshalb auf einen Zeitraum von nur fünf Jahren. Bekannt wurde Michaelis auch weniger aufgrund seiner wissenschaftlichen Leistungen, sondern vor allem wegen 81
Siehe Hans-Joachim Lang, Salomo und Adolph Michaelis. Der Taufschein als Eintrittskarte für die Universitätslaufbahn, in: Lorenz und Schäfer, Hg., Tubingensia, a.a.O., S. 449–453, sowie Ursula Burkhardt, Germanistik in Südwestdeutschland. Die Geschichte einer Wissenschaft des 19. Jahrhunderts an den Universitäten Tübingen, Heidelberg und Freiburg, Stuttgart 1976, S. 9f.
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seiner verlegerischen Beziehung zu Friedrich Schiller.82 In der Wahrnehmung der NS-Historiographie hatte Michaelis die Funktion eines Türöffners für eine weitere jüdische Unterwanderung.83 Wie lange sich dieses Negativbild noch über das Ende des Dritten Reiches hinaus halten konnte, zeigt die 1975 erschienene Geschichte der katholischen Theologie an der Universität Tübingen. Ihr Verfasser, der von 1960 bis 1994 an der Universität Mainz lehrende Ordinarius für Kanonisches Recht Georg May, schrieb über Michaelis ganz im Duktus der früheren Zeit: „Ein instruktives Beispiel, wie man in Tübingen Professor werden konnte, liefert die Karriere des wissenschaftlich bedeutungslosen jüdischen Literaten Salomo Michaelis.“84 Der Neffe von Salomo Michaelis, Adolph Michaelis (1797–1863), gehörte zu den ersten jüdischen Studenten an der Universität Tübingen überhaupt. Nachdem er 1811 in Tübingen Philosophie zu studieren begonnen hatte, wechselte er 1814 nach Göttingen zur Jurisprudenz, um dort auch sein Doktorexamen abzulegen. 1817 bewarb er sich auf Initiative seines Onkels auf eine juristische Privatdozentenstelle in Tübingen. Die äußeren Umstände nahmen zwischenzeitlich aber eine ungünstige Wendung für Salomo und Adolph Michaelis, weil ihr Protegé Karl August von Wangenheim (1773–1850) im November 1817 von seinem Amt als Kultusminister zurücktrat und als württembergischer Gesandter zum Bundestag nach Frankfurt ging. Schließlich setzte sich das Kultusministerium auch ohne Wangenheims Unterstützung über den Einspruch der Juristischen Fakultät hinweg, so dass Adolph Michaelis im November 1819 in Tübingen zum Privatlehrer der Rechte ernannt wurde – vier Tage nachdem sein Taufschein in Stuttgart eingetroffen war.85 Noch im gleichen Jahr folgte die 82
Siehe Lang, Salomo und Adolph Michaelis, S. 448–450. Hier ist besonders auf den antisemitischen Aufsatz von Max Miller „Salomo Michaelis. Schützling, Mitarbeiter und Freund des Frhrn. von Wangenheim“ in der Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 3, 1939, S. 158–211 hinzuweisen. 84 Georg May, Mit Katholiken zu besetzende Professuren an der Universität Tübingen von 1817 bis 1945, Amsterdam 1975, S. 355. Auch Mays 16 Jahre später erschienenes Buch Kirchenkampf oder Katholikenverfolgung? Ein Beitrag zu dem gegenseitigen Verhältnis von Nationalsozialismus und den christlichen Bekenntnissen (Stein am Rhein 1991) enthält massive antisemitische Ausfälle. Weil „raffgieriger Geschäftssinn und zersetzender Kulturbetrieb“ unter den Juden vor 1933 nicht gerade selten gewesen seien, hätten sich auch gewissenhafte Katholiken gegen den destruktiven Einfluss der Juden wenden müssen. Ebd., S. 475. 85 Wangenheim war einer der Taufpaten, als Adolph Michaelis am 30.10.1818 in der Nähe Frankfurts zum Christentum übertrat. Thomas Miller, Zur Geschichte und rechtlichen Stellung der Juden, S. 265. Wegen der Beziehung Wangenheims zu den beiden Michaelis hatte Max Miller keine gute Meinung von dem württembergischen Kultusminister. „Die Bindung an die zwei geistig sterilen jüdischen Schmarotzerfiguren“ bewei83
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Festanstellung und 1820 die Ernennung zum außerordentlichen Professor. Weitere zwei Jahre später machte ihn ein königliches Dekret am 14. Juni 1822 zum Inhaber des vierten juristischen Lehrstuhls an der Universität Tübingen.86 Die Parallelen zwischen Adolph Michaelis und Heinrich Heine (1797–1856), der 1825 in Göttingen zum Doktor der Rechte promoviert wurde und der dann, wiederum wenige Jahre nach Michaelis, mit der Taufe das „Entre Billet“ in die europäische Kultur erlangte, sind frappierend. Sie treffen allerdings auch auf Heines Erfahrung zu, dass eine Konversion nicht unbedingt zur gesellschaftlichen Anerkennung führen musste, da auch ein getaufter Juden nicht als Christ, sondern als Jude wahrgenommen wurde. Auf dieser Linie liegt auch die Aussage des bekannten Staatswissenschaftlers Robert Mohl (1799–1875), der seinen zeitweiligen Kollegen an der Universität Tübingen einen getauften Juden „der schlimmsten Art“ nannte.87 Thomas Miller sah in Adolph Michaelis ebenfalls einen typischen Juden, der, nachdem ihm sein Onkel ein Nest an der Landesuniversität bereitet hatte, dafür sorgte, dass ein weiterer „Rassegenosse“, Marum Samuel Mayer (1797–1862), von der Regierung gegen den Willen der Fakultät nach Tübingen berufen wurde.88 Die Eltern Mayers hatten ihren Sohn im Alter von vierzehn Jahren auf die Hechinger Talmudschule südlich von Tübingen geschickt, um ihn dort zum Rabbiner ausbilden zu lassen. Dank der finanziellen Unterstützung durch den König konnte Mayer in Stuttgart das Gymnasium absolvieren und in Tübingen ein Jurastudium aufnehmen. Nach Ablegung des ersten juristischen Staatsexamens bot ihm der württembergische Justizminister Eugen von Maucler (1783–1859) die Verwendung im Staatsdienst an, falls er sich taufen lassen würde.89 Mayer verzichtete und wurde einer der Wortführer im Kampf um die Judenemanzipation in Württemberg. Er verfasste zwei Denkschriften an den König und die Stände, in denen er für die Gleichberechtigung der Juden eintrat. Als er sich 1828 in Tübingen auf eine frei gewordene Professur in se, wie sehr ihm staatsmännische Größe abgegangen sei. Max Miller, Salomo Michaelis, S. 198. 86 Lang, Salomo und Adolph Michaelis, S. 447. 87 Robert Mohl, Lebenserinnerungen, Bd. 1, Stuttgart 1902, S. 188 und S. 146, zitiert nach Miller, Zur Geschichte und rechtlichen Stellung der Juden, S. 268, der überdies Mohls „treffendes Urteil“ rühmt. Seit 1827 an der Universität lehrend, wurde Mohl wegen regimekritischer Äußerung 1845 die Lehrbefugnis entzogen und er aller universitärer Ämter enthoben. 88 Thomas Miller, Zur Geschichte und rechtlichen Stellung der Juden, S. 263 und S. 269. 89 Benigna Schönhagen, Im Licht der Chanukka-Lampe. Zur Situation von Juden in Tübingen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Lorenz und Schäfer, Hg., Tubingensia, S. 479.
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der Juristischen Fakultät bewarb, verwundert es nicht, dass sich diese gegen seine Anstellung aussprach. Obwohl sie ihn für einen sehr talentierten und gründlichen Forscher hielt, glaubte sie „sich aufs bestimmteste gegen die Berufung des Dr. Mayer zu irgendeinem akademischen Amt erklären zu müssen, weil sich Dr. Mayer zur jüdischen Religion bekennt“.90 Die Fakultät berief sich dabei auf den von der Regierung während der Beratungen über das Emanzipationsgesetz geäußerten Grundsatz, in der nächsten Zukunft keine Juden in den württembergischen Staatsdienst aufnehmen zu wollen. Umso mehr gelte das für einen akademischen Lehrer. Der einzige, der sich dem Fakultätsvotum verweigerte, war Samuel Michaelis. Wiederum ohne Rücksicht auf die Wünsche der Fakultät zu nehmen, ernannte das Ministerium Mayer 1829 zum Privatdozenten und 1831 zum außerordentlichen Professor für Römisches Recht. Nachdem er drei Jahre später auch noch zum Christentum übertrat, stand seiner Berufung zum ordentlichen Professor 1837 nichts mehr im Wege.91 Neben politischen, religiösen und beruflichen Motiven spielte bei Mayers Religionswechsel vermutlich auch der Umstand hinein, dass er sich in die Tochter des Pfarrers, der ihn einige Wochen nach der Hochzeit dann auch taufte, verliebte. Seine früheren Aktivitäten vergessen lassend, legte er in der Folgezeit eine zunehmend nationalistische Haltung an den Tag. Als Mitglied des Vaterländischen Vereins verteidigte er die Prinzipien der Monarchie gegen die an der Universität aufkommenden demokratischen Tendenzen, wofür er im Revolutionsjahr 1849/50 sogar zum Rektor ernannt wurde. 1856 verlieh ihm die Regierung den Friedrichsorden und 1862 den Orden der Württembergischen Krone.92 Mayers königstreue Gesinnung und die Vorteile, die ihm daraus erwuchsen, brachten ihm an der Universität keine Sympathien ein. Wie Robert Mohl in seinen Erinnerungen schreibt, habe es sich Mayer im Senat zur Aufgabe gemacht, die Evangelischtheologische Fakultät vor Freisinnigen und die Philosophische vor ungläubigen Lehrern zu bewahren und sei deswegen von ihm und seinen politischen Freunden bekämpft worden.93 90 Das Fakultätsvotum ist zitiert bei Miller, Zur Geschichte und rechtlichen Stellung der Juden, S. 271. 91 Ebd., S. 272 und Schönhagen, Im Licht der Chanukka-Lampe, S. 480. 92 Miller, Zur Geschichte und rechtlichen Stellung der Juden, S. 272. 93 „Bei seinem rabbinischen Scharfsinn und seiner rabbulistischen Dialektik war er kein verächtlicher Gegner, und an Keckheit ließ er es auch nicht fehlen. Eines Tages erlaubte er sich zu sagen, er habe das Glück gehabt, erst als Mann die Lehren des Christentums kennenzulernen und in sich aufzunehmen, während wir als Kinder getauft und mechanisch in der Religion erzogen worden seien; was mich dann zu der Erwiderung bewog, ich sei der Ansicht Sancho-Pansas, daß es doch seine Vorteile habe, ein
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Samuel Marum Mayer ist ein gutes Beispiel für den Anpassungsdruck, dem sich Juden ausgesetzt sahen, wollten sie beruflich vorankommen. Ohne seine religiöse und politische Assimilation wäre er es ihm mit Sicherheit nicht möglich gewesen, an der Universität eine akademische Karriere einzuschlagen. Aber genau diese Anpassungsleistung wurde ihm von konservativer wie liberaler Seite zum Vorwurf gemacht und als typisch jüdisches Verhalten ausgelegt. Ob sich ein Jude nun zur Monarchie oder zur Demokratie bekannte, ob er seiner Religion treu blieb oder sich von ihr abwandte, das eine wie das andere galt als Kennzeichen eines besonderen jüdischen Wesens und wurde als Bedrohung für die sich konstituierende deutsche Nation wahrgenommen.94 Die Unterstellung, dass die Juden es bei ihrem Übertritt zum Christentum nicht ernst meinen würden, mochte in etlichen Fällen sogar einen wahren Kern gehabt haben. Die Ursache dafür lag aber weder am schlechten Charakter noch in dem betrügerischen Wesen der Juden begründet, sondern in ihrem Status minderen Rechts, das ein Verhalten evozierte, wie es sich bei allen unterdrückten Minderheiten findet. Wie die moderne Konversionsforschung belegt, spielen bei Glaubensübertritten nichtreligiöse Faktoren immer eine wichtige Rolle. Das Argument einer von den Juden nur vorgetäuschten Bekehrung offenbart aber auch einen nachlassenden Glauben an die Macht der Taufe und impliziert das Bedürfnis nach einem zuverlässigen Maßstab, mit dessen Hilfe ein Jude auch noch nach seinem Religionswechsel als Jude erkennbar blieb. Eine Lösung des Problems über die Behauptung eines allgemeinen jüdischen Wesens, das sich auch durch das Taufwasser nicht abwaschen lassen würde, konnte zwar als polemisches Schlagwort immer angeführt werden. Sie entsprach aber weder der geänderten Rechtslage, noch dem Wunsch nach einer objektiven und verallgemeinerbaren Erklärung jüdischer Charaktereigenschaften. Je mehr die Taufe an Bedeutung einbüsste, desto wichtiger wurde die Suche nach alternativen Distinktionskriterien, um sich von den Juden abzugrenzen. Die den Prozess der Judenemanzipation begleitenden diskursiven Veränderungen spiegeln sich auch im Fall des jüdischen Rechtsgelehrten alter Christ zu sein.“ Mohl, Lebenserinnerungen, S. 194f., zitiert nach Miller, Zur Geschichte und rechtlichen Stellung der Juden, S. 273. 94 „Whatever Jews did opened them to attack. The orthodox were abused for subservience to the Talmud with its anti-Christian animus, degenerate morality and obsessive ritualism. The enlightened were deemed as dangerous atheists, men without character who dominated the press, polemicised against Christianity and led the destructive movements of the day.“ Ismar Schorsch, The religious parameters of Wissenschaft. Jewish academics at Prussian Universities, in: Year Book Leo Baeck Institute 25, 1980, S. 13.
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Leopold Pfeiffer (1821–1888) wider. Pfeiffer hatte von 1842 bis 1844 an der Universität Tübingen Rechtswissenschaft studiert und war 1847, ein Jahr nach der Promotion, relativ problemlos zum Privatdozenten ernannt worden. Kurz nach der Revolution erlangte er 1852 sogar eine außerordentliche Professur. Da er sich nicht taufen lassen wollte, konnte er selbstverständlich auch kein ordentlicher Professor und Staatsbeamter werden. Das Interessante ist nun, dass seine zahlreichen Anträge für eine Festanstellung nicht mehr mit dem religiösen Argument der Zugehörigkeit zum Judentum abgelehnt wurden. Dem hätte nicht nur das allgemeine politische Fortschrittsdenken, sondern auch die neue Gesetzeslage widersprochen, bei der die allgemeine Religionsfreiheit ein zentrales Element bildete. So hatte die Paulskirchenverfassung 1848 die unmissverständliche Formulierung in den Kanon der Grundrechte aufgenommen, dass der Genuss der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte durch das religiöse Bekenntnis weder bedingt noch beschränkt werden durfte. Wollte man dagegen nicht verstoßen, konnte man die Ablehnung Pfeiffers nicht mehr religiös begründen. Um ihm den Weg zur Professur zu versperren, musste statt dessen auf andere, „sachliche“ Argumente ausgewichen werden.95 Das heißt, die Religionszugehörigkeit des Juden Pfeiffer spielte zwar immer noch die entscheidende Rolle, den neuen Verhältnissen entsprechend nun aber nicht mehr explizit, sondern implizit. Auf diese Weise ließ sich dem Recht Genüge tun, ohne ihm tatsächlich entsprechen zu müssen. Sofern nichts an die Öffentlichkeit drang, konnte man aber durchaus auch ein Verhalten an den Tag legen, das dem Geist und Wortlaut des Gesetzes diametral zuwiderlief wie im Fall Max Büdingers (1828–1902). Als die Philosophische Fakultät 1872 das Ordinariat für Geschichte neu besetzen wollte, brachte sie den renommierten Historiker Büdinger ins Gespräch, der an der Universität Zürich immerhin vier Jahre lang Rektor gewesen war und den man wegen seiner umfassenden Kenntnisse nicht zu unrecht als einen der letzten Universalhistoriker bezeichnet hat. Büdinger, Sohn eines Pädagogen und Landesrabbiners, hatte sich 1851 in Marburg habilitiert und war dann nach Wien gegangen, um beruflich voranzukommen. Von dort wurde er 1861 auf eine außerordentliche Professur nach Zürich berufen, wo er bis 1872 blieb. In Zürich erhielt er einen Ruf auf den Lehrstuhl für allgemeine Geschichte an der Universität Wien, den er nach dem vollzogenen Übertritt zum Katholizismus auch annehmen 95
Abgesehen von der Kritik an seinen Veröffentlichungen wurde die Überfüllung der Hochschulen als Hinderungsgrund genannt. Schönhagen, Im Licht der Chanukka-Lampe, S. 481.
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konnte. Für Tübingen wäre Büdinger ein großer Gewinn gewesen. Obwohl die Fakultät sowohl Büdingers wissenschaftliche Fähigkeiten als auch seine Lehrbegabung außerordentlich hoch einschätzte, konnte sie sich dem Ministerium gegenüber nicht durchsetzen. Wie der württembergische Kultusminister Theodor Geßler (1821–1886) im August 1872 in seinem Bericht an den König schrieb, sähe er keine Probleme darin, für eine naturwissenschaftliche oder eine mathematische Professur „einen Israeliten zur Anstellung zu bringen“. Bei der Geschichte sei das aber unmöglich, denn: „Professor Büdinger ist nämlich ein Jude (der Sohn eines Rabbiners aus Kassel), und so wenig ich Bedenken tragen würde, für eine mathematische oder naturwissenschaftliche oder sprachliche etc. Professur an der Universität einen Israeliten zur Anstellung vorzuschlagen, so sehr scheint mir hingegen ein Anstand vorzuliegen bei einem ethischen Fache, wie die Geschichte, wo das Christenthum und die auf demselben beruhende Cultur-Entwicklung eine so bedeutungsvolle Rolle spielt.“
Auch die ausdrückliche Feststellung der Fakultät, dass Büdingers religiöse Ansichten „auf die Objektivität seiner Geschichtsschreibung keinen störenden Einfluß ausübe“, konnte den Kultusminister in seiner Meinung über die von einem Juden angeblich drohende Gefahr für den sittlichen Gehalt des Geschichtsstudiums nicht umstimmen.96 Die Dreistigkeit, mit der sich die Regierung hier über die von ihr selbst erlassenen Gesetze hinwegsetzte, erstaunt doch einigermaßen, auch wenn der angesehene Jurist Geßler davon ausgehen konnte, dass seine der Verfassung Hohn sprechende Äußerung eine interne Angelegenheit bleiben würde.97 Im Vergleich zu anderen deutschen Ländern und Universitäten, wie etwa Baden und Heidelberg, erfolgte die Einführung der Judenemanzipation in Württemberg nur sehr schleppend und mit einiger zeitlicher Verzögerung. Doch allmählich begannen sich auch im Königreich Württemberg die Verhältnisse zu ändern. Zwar war die Tübinger Landesuniversität noch immer weit davon entfernt, einen ordentlichen Professor jüdischen 96 Schreiben des Kultusministers Geßler an den König am 17.8.1872, zitiert nach Sylvia Paletschek, Die permanente Erfindung einer Tradition. Die Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Stuttgart 2001, S. 316. Paletschek weist darauf hin, dass Geßlers Amtsnachfolger Otto von Sarwey (1825–1900) im Falle des Botanikers Eduard Strasburger (1844–1912) bei der Widerbesetzung des Botanikordinariats 1887 ebenfalls die jüdische Religionszugehörigkeit des Kandidaten ins Spiel brachte (ebd.). 97 Theodor Geßler, seit 1857 ordentlicher Professor der Rechte und seit 1869 auch Kanzler der Universität Tübingen, wurde 1870 zum Kultusminister ernannt, ein Amt, das er bis 1885 ausübte. 1874 verlieh die Universität Tübingen ihrem ehemaligen Mitglied und nunmehrigen Kultusminister die Ehrendoktorwürde.
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Glaubens zu akzeptieren. Aber immerhin nahm im Gefolge der Rechtsangleichung die Zahl jüdischer Studenten zu, ebenso die Bereitschaft, jüdische Promovenden zuzulassen. Als unmittelbare Konsequenz der Emanzipationsgesetze wurde 1832 die Israelitische Oberkirchenbehörde eingerichtet, die bis 1848 dem Ministerium des Innern und dann dem Ministerium des Kirchen- und Schulwesens unterstand. Seither mussten angehende Rabbiner ein wissenschaftliches Studium absolvieren, so dass eine Zunahme jüdischer Doktoranden die logische Folge war. Die Mehrzahl der dreizehn Bezirksrabbinate in Württemberg wurde mit Absolventen der Universität Tübingen besetzt. Im ersten Staatsexamen prüften Rabbiner die Kandidaten in jüdischer Dogmatik, im Talmud und den jüdischen Ritualgesetzen. In den Fächern Bibelkunde und Exegese mussten sie ihre Prüfung jedoch bei Professoren der Theologie oder Philosophie ablegen.98 Die württembergischen Juden hatten sich also nicht nur in ein ihnen fremdes Kirchenmodell einzufügen. Künftige Rabbiner mussten ihr Studium zum Teil auch in theologischen Fächern und bei Prüfern absolvieren, die selbst dann noch auf dem Boden des Christentums standen, wenn sie nicht der Evangelisch-theologischen Fakultät angehörten. Die Rabbinerausbildung hatte also eine eindeutig christliche Schieflage.99 Man stelle sich den umgekehrten Fall vor, dass ein evangelischer Pfarrer vor Ausübung seines Berufs gezwungen worden wäre, jüdische Theologie zu studieren und von Juden examiniert zu werden. Im Jahr 1912 erhielten die Israelitischen Religionsgemeinschaften den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts und somit die Möglichkeit, sich selbst zu verwalten. Die noch bestehenden Beschränkungen wurden aber erst nach 1918 aufgehoben, als dann auch der dem Judentum fremde Begriff der Kirche entfiel. 1924 trat der Israelitische Oberrat an die Stelle der Israelitischen Oberkirchenbehörde.100 Obgleich sich die Universität lange und vehement gegen die Judenemanzipation und ihre praktischen Auswirkungen stemmte, blieb es ihren Mitgliedern unbenommen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine fortschrittlichere Haltung an den Tag zu legen. Dass davon auch Gebrauch 98
Schönhagen, Im Licht der Chanukka-Lampe, S. 478. So Uri R. Kaufmann, Antijudaismus, Anerkennung, Integration, in: Wilfried Barner und Christoph König, Hg., Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland 1871–1933, Göttingen 2001, S. 88. 100 Siehe zu dieser Entwicklung Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 1966, hier S. 410, sowie die Sauers Arbeit zusammenfassende Einleitung des Staatsarchivs Ludwigsburg zum Bestand E 212: https://www2. landesarchiv-bw.de/, s.v. Israelitische Oberkirchenbehörde (zuletzt eingesehen am 13.12.2009). 99
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gemacht wurde, zeigt das Promotionsverfahren des jüdischen Doktoranden Elias Pleßner (1841–1898), das zunächst einen sehr ungünstigen Verlauf nahm, dann aber mit Hilfe der beteiligten Professoren zu einem guten Ende gebracht werden konnte.101 Pleßner stammte aus einer orthodox jüdischen Familie in Breslau. Sein Großvater war der bekannte Breslauer Rabbiner und einflussreiche Prediger Samuel Pleßner (1797–1883), dessen Enkel Elias, der an der Universität Berlin studierte und eine traditionell rabbinische Ausbildung durchlief, 1871 ebenfalls Rabbiner wurde. Seine Dissertation zum Thema ‚Der erste Dialog zwischen Job und Elifas‘ sachlich und sprachlich behandelt, nebst einer allgemeinen Einleitung in das Buch Hiob reichte Elias Pleßner am 31. Mai 1870 an der Universität Tübingen ein. Sie wurde von Adalbert Merx (1838–1909), seit 1869 ordentlicher Professor für Semitische Sprachen, dafür kritisiert, zu sehr in der Scheu befangen zu sein, der eigenen religiösen Tradition mit wissenschaftlicher Distanz zu begegnen. In seinem Gutachten vom 23. Juni 1870 beanstandete Merx außerdem die ungenügend ausgebildete historisch-kritische Methode des Kandidaten. Er sei in Anschauungen befangen, die von der wissenschaftlichen Grammatik schon seit langem überwunden worden seien.102 Ob in das wissenschaftliche Urteil von Merx auch religiöse Vorurteile einflossen, müsste noch genauer eruiert werden.103 Doch das würde nichts an den der Arbeit tatsächlich anhaftenden Mängeln und der Pflicht des Gutachters etwas ändern, an ihnen Kritik zu üben. Noch schwerer als die fachlichen Defizite wog freilich die Tatsache, dass Pleßners Studie bereits als Tübinger Dissertation in der Zeitschrift Die jüdische Presse. Organ für die religiösen Interessen des Judenthums besprochen worden war. Unglücklicherweise hatte der Rezensent nicht nur Pleßners Verharren auf einem orthodoxen Standpunkt gelobt, sondern die besprochene Arbeit auch als „Inauguraldissertation zur Erlangung der philosophischen Doctorwürde an der Universität Tübingen“ bezeichnet.104 Dass diese noch nicht begutachtet und erst wenige Wochen vorher eingereicht worden war, setzte Pleßner dem Verdacht der unrechtmäßigen Verwendung des Doktortitels aus. Die von ihm nicht ohne Stolz nach Tübingen 101 Der Fall Pleßner wird ausführlich geschildert von Hans-Joachim Bechtoldt, Die Promotion des Rabbinatskandidaten Elias Pleßner an der Eberhard-Karls-Universität zu Tübingen im Jahre 1870, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 7–1, 1997, S. 181–203. Hiernach das Folgende. 102 Bechtoldt, Die Promotion des Rabbinatskandidaten Elias Pleßner, S. 190. 103 Ein Satz wie: „Auch über seine sonstige Ausbildung lässt sich auf Grund der allgemeinen Einleitung in den Hiob nur ein abfälliges Urtheil geben, dieselbe strotzt von Geschmacklosigkeiten und ist durchaus oberflächlich“ deutet darauf hin. Ebd., S. 190. 104 Ebd., S. 189.
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geschickte Besprechung, die seine wissenschaftlichen Fähigkeiten belegen sollte, zeitigte deshalb alles andere als die beabsichtigte Wirkung. Kaum eingetroffen, setzte der Dekan der Philosophischen Fakultät Christoph Sigwart (1830–1904) ein Fakultätsrundschreiben auf, in dem er über das Fehlverhalten Pleßners berichtete und Erkundigungen bezüglich des weiteren Vorgehens einholte. Angesichts der Schwere der Anschuldigung, der Mängel der Arbeit und auch in Anbetracht der Tatsache, dass der Kandidat als Rabbinatsmitglied in Berlin unabkömmlich zu sein vorgab und nicht einmal zum Kolloquium anzureisen wünschte, wäre es ein Leichtes gewesen, das Promotionsverfahren an diesem Punkt zu beenden. In der kontrovers, aber weitgehend sachlich geführten Debatte äußerte sich lediglich der Indologe Rudolf Roth (1821–1895) dezidiert ablehnend. Roth ging davon aus, dass tatsächlich ein Täuschungsversuch vorlag. Dabei fügte er den Satz hin: „Dieser Fall mahnt zur Vorsicht gegen die zudringlichen Juden.“105 Ungeachtet aller Schwierigkeiten, die letztlich Pleßner selbst zu verantworten hatte, entschloss sich die Fakultät, ihm eine zweite Chance zu geben. Er solle zwar „mit Anrufung der Gesetze“ bedroht werden, falls er versuche, „irgendwie sich für einen Tübinger Doctor“ auszugeben. Dennoch erhielt er die Erlaubnis, eine neue Dissertationsschrift einzureichen. Daraufhin verfasste Pleßner in große Eile eine zweite Doktorarbeit über Abarbenell und sein Werk, die er Mitte September 1870 mit den weiteren Unterlagen nach Tübingen schickte.106 Das neue Gutachten von Merx beanstandete weiterhin den „in engen jüdischen Anschauungen befangenen“ Standpunkt des Verfassers, doch bescheinigte es der Dissertation, alle erforderlichen Bedingungen zu erfüllen. Pleßner konnte sich also am 13. Dezember 1870 auf die Reise nach Tübingen zur Abhaltung des Kolloquiums begeben, wobei er allerdings die Geduld der Fakultät erneut auf die Probe stellte. Unterwegs krank geworden, musste er in Stuttgart einen Zwischenaufenthalt einlegen, und dann wurde er auch noch durch den Sabbat an der Weiterreise gehindert. Schlussendlich erhielt er vier Tage vor Weihnachten, das heißt am 20. Dezember 1870, seine Doktorurkunde ausgestellt.107 Damit kam ein schwieriges Promotionsverfahren zum Abschluss, das ohne weiteres zu kippen gewesen wäre. Dass die Fakultät und die involvierten Hochschullehrer es nicht taten, zeigt eine grundsätzlich 105
Ebd., S. 191. Ebd., S. 197. In der Arbeit behandelte Pleßner den jüdischen Politiker und Religionsphilosophen Don Isaak Abrabanel/Abravanel (1437–1508), der sich nach seiner Ausweisung aus Spanien in Italien angesiedelt hatte. 107 Ebd., S. 200f. 106
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positivere Einstellung jüdischen Promovenden gegenüber. Die geübte Kritik bewegte sich weitgehend auf der wissenschaftlichen Ebene, obwohl Pleßner einige Angriffsflächen für die Artikulation antijüdischer Vorurteile bot. Noch bemerkenswerter ist der Umstand, dass im Wintersemester 1870/71 von den 26 Doktoranden der Philosophischen Fakultät allein sechs, das heißt fast ein Viertel, Rabbinatskandidaten waren, zu denen noch weitere vier erfolglose jüdische Aspiranten hinzugerechnet werden können.108 Verglichen mit anderen Hochschulstandorten erscheint die schleppende, nur in ganz kleinen Schritten vorangehende Besserstellung der Juden an der Universität Tübingen im 19. Jahrhundert nicht gerade eindrucksvoll. Der Blick auf die württembergische Landesuniversität macht jedoch deutlich, dass sich die Entwicklung in Richtung auf eine stärkere Berücksichtigung des Judentums und seiner legitimen Interessen nicht mehr grundsätzlich aufhalten ließ. Auch in Württemberg wurde die rechtliche Gleichstellung der Juden noch vor der deutschen Reichsgründung gesetzlich verankert. Das widerlegt eine teleologische Geschichtsdeutung, die über die bekannten Stationen des Antisemitismus eine kontinuierliche Entwicklungslinie zu erkennen glaubt, die zielgerichtet in den Holocaust einmünden musste. Weder im 15. noch im 19. Jahrhundert gab es einen durchgängigen „ewigen“ Judenhass, sondern nur konkrete Situationen, in denen sich aus bestimmten, historisch nachvollziehbaren Gründen, ein antisemitisches Verhalten manifestierte. Ohne das Hinzutreten fürstlicher oder ständischer Interessen und ohne die Aufwiegelung der Menschen durch die Propagandisten des religiösen Antijudaismus konnte sich das Zusammenleben zwischen Christen und Juden auch im Mittelalter durchaus normal gestalten. Die präzise Verortung der württembergischen Judenpolitik in die allgemeine geschichtliche Entwicklung lässt für die Themenstellung dieser Arbeit zwei Punkte besonders hervortreten: Zum einen spielte die Universität Tübingen im Hinblick auf das christlich-jüdische Verhältnis mit wenigen Ausnahmen eine durchgängig negative Rolle. Zum andern ist für die antijüdische Einstellung der Universität ihre dezidiert christlich-protestantische Ausrichtung verantwortlich zu machen, bei der dem Einfluss Martin Luthers eine wichtige Bedeutung zukam. Die „kontinuierliche theologische Untermauerung der Judenfeindschaft in Württemberg“ erfolgte auf der Basis der breit rezipierten judenfeindlichen Schriften Luthers.109 Seine antijüdischen Auslassungen fielen an der 108
Ebd., S. 182f., hier auch eine namentliche Auflistung der Promovenden. Stefan Lang, Die Judenpolitik des Herzogtums Württemberg in der Frühen Neuzeit, in: Rolf Kießling u.a., Hg., Räume und Wege. Jüdische Geschichte im Alten Reich 1300– 109
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Universität Tübingen auf einen fruchtbaren Boden und wurden von der württembergischen Regentschaft in die politische Wirklichkeit umgesetzt. Auch Martin H. Jung konstatiert in seiner umfassenden Studie über die württembergische Kirche im 17. und 18. Jahrhundert eine ausgeprägte religiös-konfessionelle Judenfeindschaft, die sich in zahlreichen Initiativen seitens der Kirche niederschlug, „welche die Vertreibung der Juden aus einzelnen Ortschaften oder aus dem Land überhaupt zum Ziel hatten“.110 Mit der fürstlichen Regentschaft, den Landesständen, der Kirche und der Universität hat man sicherlich die vier Hauptgruppen erfasst, die für die Judenpolitik in Württemberg verantwortlich zu machen sind.111 In der Tat hatte sich das Negativbild der nagenden Würmer „von seiner ersten Formulierung 1498 an kontinuierlich gehalten und wirkte bis zum Ende des Alten Reiches fort“.112 Das einigende Band der Judenfeindschaft in Württemberg bildete die christliche Lehre von dem von Gott selbst verworfenen Volk der Juden, das sich in seiner Verstocktheit nicht nur weigerte, den christlichen Messias und die Superiorität des Christentums anzuerkennen, sondern das auch das Geschäft des Satans betrieb und den Christen Schaden zufügte, wo es nur konnte. Weil die Juden nicht Teil der christlichen Heilsgemeinschaft waren, konnten sie im christlichen Staat auch nicht Teil der Volksgemeinschaft sein. So wenig die historische Analyse den Schluss auf einen universalen Judenhass erlaubt, so wenig begründet wäre die Hoffnung darauf, dass die geschichtliche Entwicklung zwangsläufig zur völligen Gleichstellung der jüdischen Minderheit führen musste. Politische oder ökonomische Krisensituationen bargen immer die Gefahr von Rückschlägen noch hinter den Status quo ante zurück. Man muss sich hier nur das Schicksal des an der Universität Tübingen im Jahr 1895 promovierten Leopold Lucas (1872– 1943) ins Gedächtnis rufen, um die Fragilität der Theorie von der politischen Gleichheit aller Menschen zu erkennen. Im Alter von nur 23 Jahren absolvierte Lucas von Berlin aus in einer ähnlichen Geschwindigkeit wie Elias Pleßner bei seinem zweiten Anlauf das Promotionsverfahren in Tübingen: Am 21. November 1895 reichte Lucas seine Doktorarbeit ein, bereits am 9. Dezember war sie begutachtet und am 19. Dezember – fast auf den Tag genau 25 Jahre nach Pleßner – fand das abschließende Kolloqu-
1800, Berlin 2007, S. 121–143, hier S. 138 sowie ders., Ausgrenzung und Koexistenz, S. 369. 110 Jung, Die württembergische Kirche und die Juden, S. 113. 111 Ebd., S. 126. 112 Lang, Die Judenpolitik des Herzogtums Württemberg, S. 142.
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ium statt.113 Wie Pleßner arbeitete auch Lucas im Anschluss daran als Rabbiner. Von Leo Baeck (1873–1956) im Jahr 1940 an die Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums berufen, wurde er als 70-jähriger zusammen mit seiner Frau am 17. Dezember 1942 – fast auf den Tag genau 47 Jahre nach seiner Tübinger Promotion – nach Theresienstadt deportiert, wo er am 13. September 1943 an den Folgen einer Lungenentzündung starb.114 Elias Pleßners Enkel Martin (1900–1973) studierte in Breslau und Berlin semitische und klassische Sprachen, bevor er 1925 an der Universität Breslau promoviert und 1931 an der Universität Frankfurt habilitiert wurde. Nachdem er für kurze Zeit in Frankfurt die Lehrstuhlvertretung von Josef Horovitz (1874–1931) übernehmen konnte, warf ihn 1933 bereits die erste Entlassungswelle aus dem Beruf. Martin Plessner emigrierte noch im gleichen Jahr nach Palästina, wo er zunächst als Schullehrer in Haifa und von 1955 an als Professor an der Hebräischen Universität in Jerusalem wirkte.115 Die entscheidende, besonders von Jacob Katz (1904–1998) aufgeworfene Frage ist in diesem Zusammenhang, warum offensichtlich falsche und unsinnige antisemitische Vorurteile den Übergang in das postemanzipatorische Zeitalter überlebten. Wie konnte die antijüdische Agitation bereits am Ende des 19. Jahrhunderts wieder aufflammen, wo sie doch mit Bildern und Vorstellungen arbeitete, die sich in einem fundamentalen Widerspruch zu jedem rationalen Denken befanden und die durch die Aufklärung radikal widerlegt worden waren?116 Die Antwort, die der Sozialhistoriker Katz gibt, zielt auf eine Transformation der Religion ab, die von einer Transformation religiöser Vorurteile begleitet wurde. Weil das Christentum auch in einem weniger religiösen Zeitalter, wenn auch in einer verfeinerten und abgeschwächten Form, ein bestimmender Zug der europäischen Mentalität blieb, wurde nach seiner Auffassung die „Metamorphose des theologischen Judenbildes in ein scheinbar rationales“ zum wesentlichen Charakteristikum des Übergangs in die neue, nachemanzi-
113 Hans-Joachim Lang, Mit der Waffe der Wissenschaft. Rabbiner Leopold Lucas und der Kampf um die Anerkennung des Judentums, in: Schwäbisches Tagblatt, 15.5.1999, S. 29. 114 Ebd. 115 Siehe zu Martin Plessner Hanne Schönig, Hg., Ausgegrenzte Kompetenz. Porträts vertriebener Orientalisten und Orientalistinnen 1933–1945, zusammengestellt von Ludmila Hanisch, Halle 2001, S. 72f. 116 Jacob Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700–1933, Berlin 1990 (englische Erstausgabe Cambridge 1980), S. 321ff.
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patorische Judenfeindschaft.117 Die richtige Beobachtung von Katz, dass auch in einer modernen Zeit rückständige und „veraltete“ christliche Vorurteile ihre Wirkung ganz offensichtlich nicht verloren, betrifft eine genuin religionswissenschaftliche Themenstellung, die von Katz allerdings nicht mit den Methoden der Religionswissenschaft bearbeitet wurde. Unter dem Gesichtspunkt des religiösen Wandels und einer säkulareren Weltauffassung scheint es durchaus nicht so ungewöhnlich, wenn Menschen zwar noch an den jüdischen Deizid, nicht mehr aber an die Kreuzigung und Wiederauferstehung Jesu zu glauben vermögen.118 So sehr die Persistenz des Religiösen in der Moderne das berechtigte Thema der Religionswissenschaft ist, so wenig können religiöse Vorurteile aus der Moderne ausgeklammert und als bloßer Anachronismus abgetan werden. Dass religiöse Ressentiments ausgerechnet an der Universität zu überleben vermochten, ja sogar zu neuem Leben erwachten, ist dazu angetan, ihr Selbstverständnis grundsätzlich in Frage zu stellen. Wie war es möglich, dass eine Einrichtung, deren ureigenste Aufgabe es ist, zum Abbau primitiver Vorurteile beizutragen, diese theoretisch wie praktisch tradierte? Man hätte von den Universitäten und ihrem Anspruch auf eine wissenschaftliche Welterklärung eigentlich erwarten können, dass sie in der Frage der Judenemanzipation an der vordersten Front des Kampfes gestanden hätten. Dass sie es mit wenigen Ausnahmen nicht taten, ist bezeichnend und ließ für die weitere Entwicklung des deutsch-jüdischen Verhältnisses nichts Gutes erwarten.
117 Ebd., S. 328ff. Katz, der in Frankfurt vor allem unter Karl Mannheim und Norbert Elias Soziologie zu studieren begonnen hatte, lehrte nach seiner Emigration an der Hebräischen Universität Jerusalem, der er von 1969–1972 auch als Rektor vorstand. 118 „As it has been well said, even Christian scholars who maintained that Jesus never existed concurred that Jews crucified him.“ Jacob Katz, Was the holocaust predictable?, in: Yehuda Bauer und Nathan Rotenstreich, Hg., The holocaust as historical experience, New York 1981, S. 36.
4. Die Weimarer Republik als Höhepunkt und Wende der Judenemanzipation: Institutionalisierungsprozesse und ihr Ende Die am 11. August 1919 in Weimar erlassene Verfassung des Deutschen Reiches übernahm in ihrem Artikel 136 die Bestimmungen der Paulskirchenverfassung, wonach der Genuss der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte sowie die Zulassung zu öffentlichen Ämtern unabhängig vom religiösen Bekenntnis zu gewähren seien, und leitete sie in verbindliches Recht über. Eine Benachteiligung der Juden war unter der Bedingung voller Glaubens- und Gewissensfreiheit (Artikel 135) nun per Gesetz verboten. An der Art und Weise, wie sich die Universität den Juden gegenüber verhielt, lässt sich ablesen, inwieweit der Emanzipationsgedanke in einer der zentralen Instanzen des Staates tatsächlich Fuß fassen konnte, oder ob er vielleicht nur widerwillig akzeptiert oder sogar bewusst unterlaufen wurde. Als erstes wirkte sich die Gesetzesänderung bei der Zulassung jüdischer Dozenten zum akademischen Lehrberuf aus. Es handelte sich hier um einen aussagekräftigen Lackmustest, der den Grad anzeigte, bis zu dem der Weimarer Verfassungsstaat mit seinem zentralen Postulat der politischen Gleichberechtigung die deutsche Gesellschaft zu beeinflussen vermochte. Von einem wirklichen Sieg der Judenemanzipation hätte man im Bereich der Hochschulen aber erst dann sprechen können, wenn Juden und Christen nicht nur auf der Ebene der privaten Religiosität, sondern auch im Hinblick auf ihre universitäre Vertretung gleichgestellt worden wären. Hatte die neue Gesetzeslage die Anstellung eines jüdischen so gut wie eines katholischen oder evangelischen Hochschullehrers selbstverständlich oder zumindest möglich gemacht, so problematisch erschien nach wie vor die Institutionalisierung einer Wissenschaft des Judentums, sei es in der Form einer jüdischen Theologie oder einer säkularen jüdischen Geschichts-, Kultur- oder Religionswissenschaft, die einem lange geäußerten Wunsch der deutschen Juden entsprochen hätte. Das eine bedeutete einzelne Juden, das andere das Judentum als solches zu akzeptieren. Ungeachtet des Bemühens der Verfassung, den religiösen Glauben
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eines Menschen zu seiner Privatangelegenheit zu erklären und in der Frage der religiösen Organisation alle Glaubensgemeinschaften prinzipiell gleich zu behandeln, blieben doch die Religion und die angeblich von ihr bewirkten Charaktereigenschaften der Juden der entscheidende Knackpunkt, der eine Normalisierung des deutsch-jüdischen Verhältnisses verhinderte. Weil die Gleichstellung aller Religionsgemeinschaften zwangsläufig zu einer Reduzierung der kirchlichen Vorrechte führte, die in der Monarchie bestanden, konnten gerade die Religionsartikel nur gegen den erbitterten Widerstand der evangelischen und katholischen Kirche durchgesetzt werden. Ihre Ablehnung der Weimarer Demokratie lag nicht zuletzt in dieser objektiven und, verglichen mit der vorherigen Teilhabe an der Verbindung von Thron und Altar, gravierenden Schlechterstellung begründet. Ein zusätzliches Problem bedeutete es für die Kirchen, dass nun ausgerechnet die Juden, die seit fast zwei Jahrtausenden als die geborenen Feinde Gottes und des Christentums galten, Nutznießer der neuen Verfassung wurden und erheblich von ihr profitierten. In der Tat brachte das politische System von Weimar dem Judentum einen noch nie da gewesenen Fortschritt und führte zu einem entsprechenden Aufblühen jüdischen Lebens. Die Renaissance der jüdischen Kultur ergriff die Kunst ebenso wie die Religion, die Wissenschaft und viele andere gesellschaftliche Bereiche.1 Es kam zu einer deutlichen Zunahme jüdischer Verlage, Museen, Zeitungen und zu einem Erstarken der jüdischen Bildungsbewegung. Am Ende der Weimarer Republik erschienen etwa 20 jüdische Wochen- und 80 jüdische Monatszeitschriften, die zur Meinungs- und Gruppenbildung innerhalb des Judentums beitrugen.2 Nicht zufällig gehörten zwei Enzyklopädien zu den wichtigsten Projekten der Selbstvergewisserung des deutschen Judentums. Sprach das vierbändige Jüdische Lexikon (1927–1930) eher ein allgemeines Publikum an, verfolgte die Encyclopaedia Judaica betont wissenschaftliche Interessen. Deren erste neun Bände konnten noch in der Weimarer Republik (1928–1932) erscheinen. Mit dem zehnten Band wurde das Vorhaben aber 1934 gewaltsam beendet. Der Untertitel der Encyclopaedia Judaica „Das Judentum in Geschichte und Gegenwart“ weist eine deutliche Parallele zu dem protestantischen Lexikon Die Religion in Geschichte und Gegenwart auf, das in fünf Bänden zur gleichen Zeit zwi1
Siehe Michael Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, München 2000 und Michael A. Meyer, Hg., Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 4: Aufbruch und Zerstörung 1918–1945, München 2000, hier bes. Paul Mendes-Flohr, „Jüdisches Kulturund Geistesleben“ und „Juden innerhalb der deutschen Kultur“ (S. 125–153 und S. 167– 192). 2 Mendes-Flohr, Jüdisches Kultur- und Geistesleben, S. 149.
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schen 1927 und 1931 erschien. Auch die beiden jüdischen Lexika hatten den Charakter von Kulturenzyklopädien und leisteten einen wichtigen Beitrag zur Herausbildung und Festigung eines jüdischen Milieus. Wie die RGG spielte auch die EJ eine „wissenschaftliche Katalysatorenrolle“, indem sie die maßgeblichen Wissenschaftler und die einschlägige Forschung zu bestimmten Themen zusammenführte.3 Manche Beiträge hatten die Länge einer Buchveröffentlichung und stellten, wie etwa der Kabbala-Artikel von Gershom Scholem (1897–1982), eine herausragende wissenschaftliche Leistung dar.4 Sowohl das Jüdische Lexikon wie die Encyclopaedia Judaica verfolgten das gemeinsame Ziel, Juden wie Nichtjuden die Schätze der jüdischen Kultur vor Augen zu führen. Sie waren wichtige Medien, in denen sich ein modernes jüdisches Bewusstsein Ausdruck verschaffen konnte.5 In öffentlichkeitswirksamen Sektoren wie der Literatur, dem Theater oder der Presse wurde der Einfluss des Judentums noch stärker wahrgenommen, als er es tatsächlich war. Die Antisemiten sprachen deswegen von einem Überhandnehmen jüdischen Einflusses und nutzten die Verunsicherung aus, die weite Teile der Bevölkerung in den Nachkriegsjahren erfasst hatte. Uralte, längst überwunden geglaubte Vorurteile erwachten zu neuem Leben und gaben vielen Deutschen scheinbar plausible Antworten auf politische Probleme, denen sie sich nicht gewachsen fühlten. Sie konnten oder wollten nicht verstehen, dass sich die Juden in einer Situation befanden, in der sie gerade deshalb ein stärkeres Selbstbewusstsein entwickelten, weil sie ihren Platz in der deutschen Gesellschaft einnehmen wollten, der ihnen so lange vorenthalten worden war. Allerdings bildete das deutsche Judentum keine homogene Einheit, wie es das antisemitische Klischee suggerierte. Die innerjüdischen Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Tradition und Moderne glichen vielmehr den Diskussionen, die auch in der deutschen Mehrheitsgesellschaft geführt wurden. Auch im Judentum stellte sich nach dem Ersten Weltkrieg die große Frage, ob man der Religion einen identitätsstiftenden Sinn beimessen sollte und, wenn ja, wie sie sich mit einer modernen Weltauffassung in Übereinstimmung bringen ließ, ohne dabei ihre innere Substanz aufzugeben. Ohne stärkere Ausrichtung an wissenschaftlichen Erklärungsmodellen konnte auch die jüdische Religion nicht bestehen. Doch wie weit darf die Wissen3
Arndt Engelhardt, Die Encyclopaedia Judaica. Verhandlung von Deutungshoheit und kollektiver Zugehörigkeit in jüdischen Enzyklopädien der Zwischenkriegszeit, in: Paul Michel u.a., Hg., Allgemeinwissen und Gesellschaft. Akten des Internationalen Kongresses über Wissenstransfer und enzyklopädische Ordnungssysteme, vom 18. bis 21. September 2003 in Prangins, Aachen 2007, S. 225–246, hier S. 241. 4 Gershom Scholem, Kabbala, in: Encyclopaedia Judaica 9, 1932, Sp. 630–732. 5 Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, S. 126.
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schaft in den Bereich der Religion eindringen, ohne zerstörerisch zu wirken? Müssen sich Wissenschaft und Wunder nicht gegenseitig ausschließen? Wie im Bereich des Christentums gewann auch innerhalb des Judentums ein Lösungsansatz an Einfluss, der auf eine wissenschaftliche Theologie beziehungsweise auf eine religiöse oder theologische Religionswissenschaft hinauslief. Als weiterer Beleg für das neue Selbstbewusstsein des deutschen Judentums können die Bemühungen angesehen werden, die sofort nach Kriegsende unternommen wurden, um eine Akademie für die Wissenschaft des Judentums ins Leben zu rufen. Im Februar 1919 traf sich in Berlin eine Gruppe einflussreicher jüdischer Persönlichkeiten, unter ihnen Ernst Cassirer (1874–1945) und Albert Einstein (1879–1955), um über die Gründung einer Akademie für die Wissenschaft des Judentums zu beraten. Bereits im Juli 1919 konnte der Althistoriker Eugen Täubler (1879–1953) zum ersten Direktor ernannt werden.6 Den ursprünglich von Hermann Cohen (1842–1918) und Franz Rosenzweig (1886–1929) ausgehenden Impuls entwickelte Täubler gemäß seiner eigenen Interessen weiter. In kritischer Auseinandersetzung mit der traditionellen Wissenschaft des Judentums suchte er eine stärkere Professionalisierung und Angleichung an die Universitätswissenschaft zu erreichen. Wegen der schwierigen ökonomischen Situation beschränkte sich der Betrieb der Akademie am Anfang aber auf eine historische, philologische und talmudische Sektion. Die Etablierung weiterer Abteilungen, darunter eine religionswissenschaftliche, ließ sich nicht realisieren.7 Als Täubler 1922 einen Ruf an die Universität Zürich annahm, wurde die Akademieleitung von dem Rabbiner und Philosophiehistoriker Julius Guttmann (1880–1950) übernommen. Ab 1925 hatte Täubler den Lehrstuhl für Alte Geschichte an der Universität Heidelberg inne, doch legte er nach der nationalsozialistischen Machtübernahme seine Professur im Juli 1933 unter Protest nieder und trat auch aus der Heidelberger Akademie der Wissenschaften aus. Täubler siedelte nach Berlin über, wo er eine Lehrtätigkeit an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums übernahm. Von dort aus emigrierte er 1941 in die USA.8 Pläne für die Etablierung einer universitären Wissenschaft des Ju-
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Mendes-Flohr, Jüdisches Kultur- und Geistesleben, S. 126ff. und Christhard Hoffmann, Wissenschaft des Judentums in der Weimarer Republik und im ‚Dritten Reich‘, in: Michael Brenner und Stefan Rohrbacher, Hg., Wissenschaft vom Judentum. Annäherungen an den Holocaust, Göttingen 2000, S. 29. 7 Hoffmann, Wissenschaft des Judentums, S. 26 und S. 30. 8 Heike Scharbaum, Zwischen zwei Welten: Wissenschaft und Lebenswelt am Beispiel des deutsch-jüdischen Historikers Eugen Täubler (1879–1953), Münster 2000, S. 43–46.
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dentums gab es bereits seit den 1830er Jahren.9 Weil jedoch die von Leopold Zunz (1794–1886) und Abraham Geiger (1810–1874) seinerzeit unternommenen Vorstöße auf wenig Entgegenkommen stießen und weil sich weder Preußen noch ein anderer deutscher Staat mit der Schaffung einer judaistischen Professur, geschweige denn eines eigenen Instituts einverstanden erklären konnte, wurde 1854 in Breslau das Jüdisch-theologische Seminar gegründet, das über viele Jahrzehnte hinweg der Rabbinerausbildung diente, bis es 1938 von den Nationalsozialisten geschlossen wurde. 1872 folgte in Berlin die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums und im Jahr darauf, ebenfalls in Berlin, das orthodoxe Rabbinerseminar. Um den inferioren Status der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums öffentlich zum Ausdruck zu bringen, durfte sie sich vor 1920 und nach 1934 nicht einmal als Hochschule, sondern nur als Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums bezeichnen. Im vorherigen Kapitel wurde bereits erwähnt, dass nach ihrer Schließung Leo Baeck (1873–1956) mit den noch verbliebenen Schülern, unter ihnen Leopold Lucas, 1943 in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurde. Wegen der Ablehnung durch die deutschen Kultusbehörden vollzog sich die Entwicklung der Wissenschaft des Judentums gänzlich außerhalb staatlicher Strukturen und beruhte auf der Initiative und den Finanzmitteln von privater Seite. Das Äußerste was die deutschen Behörden den Juden zugestanden, war die Finanzierung einiger Lektorenstellen, die an den Universitäten in Frankfurt, Halle, Hamburg, Leipzig und Marburg zeitweise eingerichtet wurden, weil für bestimmte Aufgaben auf dem Gebiet der hebräischen Sprache und der jüdischen Religion kein christlicher Gelehrter zur Verfügung stand. Solche Lehrstellen kosteten fast kein Geld und ließen sich jederzeit wieder zurückziehen. Als der Leipziger Alttestamentler Rudolf Kittel (1853–1941) einen sachkundigen Mitarbeiter für sein Editionsprojekt der Biblia Hebraica benötigte, innerhalb der Theologie aber niemand fand, griff er auf Israel Isser Kahan (1858–1924) zurück, der schon etliche Jahre vorher Franz Delitzsch (1830–1890) im Institutum Judaicum Delitzschianum als Hilfskraft gedient hatte. Kahan hatte wohl nur an einer Jeschiwa ein Talmudstudium absolviert, aber weder eine Ausbildung zum Rabbiner durchlaufen, noch an einer Universität studiert. Wegen seines Namenswechsels von Cohn zu Kahan und weil er sich im Sinne der Ju9
Siehe zu dieser Entwicklung Michael A. Meyer, Jewish religious reform and Wissenschaft des Judentums. The positions of Zunz, Geiger and Frankel, in: Leo Baeck Institute, Year Book 26, 1971, S. 19–41, Ismar Schorsch, Das erste Jahrhundert der Wissenschaft des Judentums (1818–1919), in: Brenner und Rohrbacher, Hg., Wissenschaft vom Judentum, S. 11–24 und Julius Carlebach, Hg. Wissenschaft des Judentums. Anfänge der Judaistik in Europa, Darmstadt 1992.
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denmission geäußert hatte, kam das Gerücht auf, dass er zum Christentum übergetreten sei, was er allerdings bestritt.10 In der Hauszeitschrift des Institutum Judaicum Saat auf Hoffnung hatte sich Kahan sehr wohlwollend über die Genugtuung der Christen geäußert, die sich immer dann einstelle, wenn sich ein Jude durch die innere Werthaftigkeit des Neuen Testaments überzeugen lasse und wenn er dessen Worte aufnähme, „ohne sich gegen sie zu sträuben, wenigstens solange der Widerspruchsgeist nicht durch die Nennung der Autorität geweckt wird, gegen die Israel mit Blindheit geschlagen ist“.11 Einem anderen Votum zufolge war Kahan an religiösen Fragen aber nicht sonderlich interessiert und zog sich aus dem Lehrkörper zurück, weil ihm die Betonung des Missionarischen Unbehagen bereitete.12 Am 16. November 1911 richtete Kittel eine Eingabe an das sächsische Kultusministerium, in der er ausführlich begründete, warum er einen jüdischen Mitarbeiter benötigte. Seine Argumentation ist in doppelter Hinsicht bezeichnend, weil sie zum einen das Überlegenheitsgefühl eines christlichen Universitätsprofessors zum Ausdruck bringt und weil sie andererseits doch auch eine gewisse Furcht vor der jüdischen Konkurrenz erkennen lässt. „Der Natur der Sache nach“ stünden für die Erforschung der schwierigen und zum Teil entlegenen Sprachdenkmäler des Judentums vom Ende des Alten Testaments bis zum apostolischen Zeitalter leider fast nur Juden zur Verfügung. „Hierdurch entsteht die Gefahr, dass, wo Christen über diese Dinge mitreden wollen, sie sich bei Juden Rats erholen müssen, besonders aber, dass diese Wissenszweige mit der Zeit zu einer Art Geheimwissenschaft des Judentums werden, eine Gefahr, die um so ernster ist, als sich innerhalb des Judentums in neuerer Zeit viel stärker als früher eine jüdisch ‚apologetische‘, d.h. gegen das Christentum aggressiv vorgehende Richtung geltend macht.“
Er werde allerdings darauf achten, „dass mit der Zeit christliche Kräfte, an denen es im Augenblick fast vollständig fehlt“, herangebildet würden. Nach Lage der Dinge sei es dringend notwendig, dass eine jüngere Genera10 Henry Wassermann, Fehlstart: Die ‚Wissenschaft vom späteren Judentum‘ an der Universität Leipzig (1912–1941), in: Stephan Wendehorst, Hg., Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, Leipzig 2006, S. 324–329 sowie ders., Humble prof. Israel Isser Kahan, in: ders., False start. Jewish studies at German universities during the Weimar Republic, New York 2003, S. 21–38. 11 Israel Isser Kahan, Zur Kenntnis des Neuen Testaments bei den Juden, in: Saat auf Hoffnung 32, 1898, S. 130, zitiert nach Wassermann, Fehlstart, S. 325. 12 Karl Heinrich Rengstorf, 85 Jahre Institutum Judaicum Delitzschianum 1886–1971, in: Reinhard Dobert, Hg., Zeugnis für Zion. Festschrift zur 100-Jahrfeier des Evang.-Luth. Zentralvereins für Mission unter Israel, Erlangen 1971, S. 47.
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tion christlicher Theologen heranwachse, die „mit besserem Erfolg als die gegenwärtige“ die geistige Auseinandersetzung mit dem Judentum bestehe.13 Unter den geschilderten Umständen und weil Kahan bereit war, die Lektorenstelle für 1500 Reichsmark im Jahr zu übernehmen, stimmte das Ministerium zu, einen am Alttestamentlichen Seminar anzustellenden Lektor für späthebräische, jüdisch-aramäische und talmudische Wissenschaften zu remunerieren. 1919 wurde Kahan sogar der Titel eines Honorarprofessors verliehen, nachdem er, wie Henry Wassermann nicht ohne Bitterkeit schreibt, „sieben Jahre lang eine Handvoll protestantischer Theologiestudenten darin unterwiesen hatte, eine Seite der Mischna zu lesen ohne den christlichen Halt zu verlieren“.14 Es ist bezeichnend, dass der erste Beginn einer Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums von einem für die Judenmission tätigen jüdischen Lektor für Rabbinica seinen Ausgang nahm. Inhaltlich trug Kahan wenig zur Wissenschaft des Judentums bei. Zu seinem Leipziger Schülerkreis gehörte auch Gerhard Kittel, der einige Jahre später als Vertreter einer antisemitischen NSJudaistik in Erscheinung treten sollte. Kittel lehrte seit 1917 als Privatdozent in Leipzig. Doch er kannte Kahan über seinen Vater – Professor für Alttestamentliche Wissenschaft von 1898–1923 und Rektor der Alma mater Lipsiensis von 1917–1919 – schon seit längerem. Im Vorwort einer Veröffentlichung des Jahres 1914 (Die Oden Salomos) bezeichnete er Kahan als seinen Lehrer, und 1926 widmete er ihm sein bekanntes Buch über Die Probleme des palästinensischen Spätjudentums und das Urchristentum. Für die zweite Auflage der Religion in Geschichte und Gegenwart verfasste Kittel einen Eintrag über Kahan.15 In seiner ersten kompromisslos antisemitischen Publikation über Die Judenfrage nannte er ihn 1933 seinen Hebräischlehrer und jemand, der ihn vor einer „generellen ‚Diffamierung des Judentums‘“ immer bewahren werde.16 13 Eingabe des Dekans der Evangelisch-theologischen Fakultät Rudolf Kittel vom 16.11.1911, HStA Dresden, 10193/9, fol. 1–4. Das Schreiben wird ausführlich zitiert bei Wassermann, Fehlstart, S. 326f. und Christian Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland. Ein Schrei ins Leere?, Tübingen 1999, S. 328f. 14 Wassermann, Fehlstart, S. 327f. 15 „Körperlich unscheinbar, gebrechlich und mit jahrelangem Leiden behaftet, persönlich von ängstlicher Bescheidenheit, literarisch vollkommen unproduktiv, als Lehrer höchst unbeholfen, war er doch für einen kleinen Kreis von Freunden und Schülern um der Lauterkeit seines Charakters willen und durch die immense Fülle seines Wissens, sowie die von ihm ausgehenden Anregungen mannigfachster Art von nicht geringer Bedeutung.“ Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl., Bd. 3, 1929, Sp. 582f. 16 Gerhard Kittel, Die Judenfrage, Stuttgart, 2.–3. Aufl. 1934, S. 92.
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Ungeachtet der dienenden Funktion und des untergeordneten Status, die Kahans Position in Leipzig charakterisierten, öffnete sie eine Tür, durch die sein Nachfolger, Lazar Gulkowitsch (1891–1941), eintreten und der erste Habilitand auf dem Gebiet der Wissenschaft des Judentums in Deutschland werden konnte. Nach Kahans Tod übernahm Gulkowitsch 1924 dessen Lektorat, das er bis 1933 ausübte. Gulkowitsch hatte in Mir im Gouvernement Minsk eine Talmudschule besucht und in Virbalis (Wirbellen, heute Kybartai) eine jüdische Volksschule geleitet und dort auch dem Rabbinat angehört.17 Ab 1919 studierte er an der Universität Königsberg Medizin und Theologie, um 1922 mit einer 24-seitigen Arbeit über Wesen und Entstehung der Qabbala zu promovieren. Er reichte später auch eine medizinische Dissertation ein, doch nahm er dann den ihm in Leipzig 1924 angebotenen Lehrauftrag wahr, ohne das Verfahren in Königsberg zum Abschluss zu bringen. Im Jahr darauf, das heißt im Juni 1925, richtete er eine Voranfrage an die Philosophische Fakultät der Universität Leipzig, ob er sich für späthebräische Religionsgeschichte und Religionsphilosophie habilitieren könne. Als ihm beschieden wurde, dass dies vom Thema her nicht möglich sei, dass aber gegen eine Habilitation auf dem Gebiet der „Wissenschaft des späteren Judentums“ keine Einwände bestünden, reichte er eine Arbeit mit dem Titel Der Hasidismus, religionswissenschaftlich betrachtet ein.18 Allerdings stieß die Habilitationsschrift wegen inhaltlicher und formaler Mängel bei den Gutachtern nicht auf einhellige Zustimmung. Schließlich setzte sich der Religionshistoriker Hans Haas (1886– 1935) als Hauptgutachter mit seinem positiven Votum durch. Insbesondere lobte Haas die religionsgeschichtliche Verortung des Chassidismus, der, wie Gulkowitsch herausgearbeitet habe, deutliche Parallelen zum Christentum aufweise. Im Anschluss an Martin Buber betonte Haas die spirituelle Erlebnisdimension des Chassidismus, die sich gegen eine enge jüdische Dogmatik wende. „Aus demselben Geiste heraus, aus dem ein Jesus gegen den Ritualismus des synagogalen Judentums seiner Tage anging“, habe der Chassidismus sich gegen „den erstarrten Talmudismus“ gekehrt, um die Religion des Judentums zu erneuern und zu vertiefen.19 Indem 17 Siehe hierzu Wassermann, Fehlstart, S. 236f. und den Lebenslauf in seiner Personalakte im UA Leipzig, PA 522, fol. 7 sowie des weiteren Siegfried Hoyer, Lazar Gulkowitsch an den Universitäten Leipzig und Dorpat (Tartu), in: Ephraim Carlebach Stiftung, Hg., Judaica Lipsiensia. Zur Geschichte der Juden in Leipzig, Leipzig 1994, S. 123–131. 18 Schreiben Gulkowitschs vom 22.6.1925 und Antwort des Dekans der Philosophischen Fakultät vom 30.7.1925, in: UA Leipzig, PA 522, fol. 1–4. Der offizielle Habilitationsantrag folgte am 22.11.1925, ebd., fol. 6f. 19 Haas-Gutachten vom 22.1.1926, ebd., fol. 11f. Es ist abgedruckt bei Henry Wassermann, ‚Der Habilitand hat sich stets durchaus unjüdisch bescheiden gehabt…‘. Zur Ge-
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Gulkowitsch den Chassidismus zu einem „gefühlsmäßigen Widerspruch gegen die talmudische Formalreligion“ erklärte, trug er nicht unmaßgeblich zu einer Bestärkung des christlichen Vorurteils bei, wie es sich auch in der gutachterlichen Stellungnahme von Hans Haas unter Berufung auf Martin Buber findet. Zurecht hatte Gershom Scholem bereits Bubers mythopoetische Deutung des Chassidismus als unhaltbar zurückgewiesen.20 Die noch weiter gehende Interpretation des Chassidismus als Negation der talmudischen Formalreligion, der „ihren blutleer gewordenen Begriffen neue Inhalte, ihrer Buchgelehrsamkeit das Gotteserlebnis, ihrer Formgebundenheit die sittliche Tatforderung“ entgegenstellte,21 ließ sich leicht in das Schema eines christlichen Antitalmudismus einfügen. Auf diesem Hintergrund fügte Haas seiner Anerkennung über die „weiterhin tüchtigen Leistungen“, die von dem Habilitanden noch zu erwarten seien, die als Lob gedachte Formulierung hinzu, Gulkowitsch sei bislang stets „durchaus unjüdisch bescheiden“ aufgetreten.22 Nicht zuletzt weil die offenbar unter hohem Anpassungsdruck geschriebene Arbeit Gulkowitschs solche Ergebnisse zeitigte, warf ihr Wassermann einen „Ausverkauf des Chassidismus und stellvertretend auch des Judentums“ vor.23 Vielleicht sollte man die Habilitationsschrift von Lazar Gulkowitsch nicht ganz so negativ bewerten. Sie war in verschiedener Hinsicht ein Erstlingswerk und wäre so sicherlich nicht stehen geblieben, hätte sich ihr Verfasser mit der Kritik einer etablierten Wissenschaft des Judentums auseinandersetzen müssen. Am 18. Juli 1927 erhielt Gulkowitsch schließlich die Venia legendi für die „Wissenschaft vom späteren Judentum“ verliehen, wobei er allerdings seinen Habilitationsvortrag aufgrund fachlicher Mängel ein zweites Mal zu halten hatte.24 Dadurch wurde er zum ersten und wohl auch einzigen Privatdozenten, der als Jude die Wissenschaft des Judentums an einer deutschen Universität vertrat. Nach acht Jahren schichte der Judaistik an der Leipiger Universität, Leipzig 1998, S. 41–44; siehe dazu auch ders., ‚Habilitand‘ Dr. Lazar Gulkowitsch, in: ders., False start, S. 91–94 und ders., Fehlstart, S. 338f. 20 Zur Auseinandersetzung zwischen Buber und Scholem in der Frage des Chassidismus siehe Klaus Samuel Davidowicz, Gershom Scholem und Martin Buber. Die Geschichte eines Missverständnisses, Neukirchen-Vluyn 1995, hier besonders den 3. Abschnitt „Die Chassidismus-Kontroverse“, S. 104–143. 21 Gulkowitsch, Der Hasidismus, religionswissenschaftlich untersucht, S. 63, zitiert nach Wassermann, Fehlstart, S. 339. 22 Ebd., S. 339. 23 Ebd., S. 340. 24 UA Leipzig, Personalakte Gulkowitsch, fol. 23. Die Probevorlesung fand am 8.7.1927 zum Thema „Rationale und mystische Elemente in der jüdischen Lehre“ statt, ebd., fol. 19.
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als Lektor in der Evangelisch-theologischen und fünf Jahren als Privatdozent in der Philosophischen Fakultät stellte Haas zusammen mit Johannes Leipoldt (1880–1965) und Albrecht Alt (1883–1956) im Juni 1932 den Antrag auf eine außerordentliche Professur für Gulkowitsch, dem am 5. August 1932 stattgegeben wurde.25 Gulkowitschs Ernennung markiert den Höhepunkt der akademischen Anerkennung der Wissenschaft des Judentums durch den deutschen Staat in der Weimarer Republik. Diese ‚Blüte‘ sollte allerdings nur von kurzer Dauer sein. Weil er nur einen Lehrauftrag und keine Festanstellung hatte, fiel Gulkowitsch zwar nicht unter das Berufsbeamtengesetz vom 7. April 1933. Doch in einem Schreiben der Fakultät an das Sächsische Volksbildungsministerium hieß es drei Tage später, dass er seine Stelle wohl verlieren werde, und tatsächlich wurde ihm am 22. September 1933 offiziell die Venia legendi entzogen.26 Gulkowitsch hatte aber insofern Glück, als er nach seiner Entlassung in Leipzig einen Ruf auf eine ordentliche Professur für jüdische Studien an der Universität Tartu (Dorpat) in Estland erhielt. Die vom „Verein jüdischer Wissenschaft an der Universität Tartu“ gestiftete Professur beinhaltete zugleich die Leitung eines neu gegründeten Seminars für jüdische Studien, das sich sehr positiv entwickelte. In Tartu war es sogar möglich, einen Doktorgrad im Fach Judaistik (Dr. phil. litt. jud.) zu erwerben.27 Freilich währte auch hier die Zeit einer ungestörten Lehrtätigkeit nicht lange. Nachdem eine prosowjetische Regierung im August 1940 den Beitritt Estlands zur Sowjetunion vollzogen hatte, wurde das Institut geschlossen und Gulkowitsch entlassen. Als im Jahr darauf im Juli 1941 deutsche Truppen das estnische Staatsgebiet besetzten, befanden sich noch etwa 1000 Juden im Land. Das unter der Leitung des früheren Tübinger Studentenführers Martin Sandberger (1911–2010) stehende Sonderkommando 1a begann sogleich nach dem Einmarsch der Wehrmacht mit der planmäßigen Ermordung der estnischen Juden. Bereits am 12. Oktober 1941 schickte Sandberger seinen Vorgesetzen die Erfolgsmeldung, dass es bislang gelungen sei, 25 Ernennung Gulkowitschs zum nichtplanmäßigen außerordentlichen Professor durch das Sächsische Ministerium für Volksbildung am 5.8.1932, ebd., fol. 39. Wie Hoyer schreibt (Lazar Gulkowitsch an den Universitäten Leipzig und Dorpat, S. 126), wollten die Antragsteller damit auch eine „Aufwertung der jüdischen Religionsgeschichte als akademisches Lehrfach im Rahmen der allgemeinen Religionswissenschaften“ erreichen. 26 Schreiben des Ministeriums an Gulkowitsch am 7.10.1933, ebd., fol. 42. Das Fakultätsschreiben mit der Liste derjenigen, deren Zeit in Leipzig abgelaufen war, darunter auch der Religionswissenschaftler Joachim Wach (1898–1955), datiert auf den 10.4.1933, UA Leipzig, Phil. Fak. 40, Bd. 3, fol. 136–146. 27 Hoyer, Lazar Gulkowitsch an den Universitäten Leipzig und Dorpat, S. 127.
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440 Juden zu exekutieren.28 Unter ihnen befanden sich Lazar Gulkowitsch, seine Frau und seine beiden Töchter. Kurz nachdem er aus der Zeitung von Gulkowitschs Entlassung gehört hatte, schrieb der Leipziger Neutestamentler Paul Fiebig (1876–1949) am 12. Oktober 1933 an das sächsische Volksbildungsministerium, um sich selbst für dessen Nachfolge ins Gespräch zu bringen. Es sei notwendig, die von Gulkowitsch geleistete Arbeit „unter christliche Leitung zu stellen“ und „in die neutestamentliche Wissenschaft einzugliedern“.29 Ob man ihm etwas über seine Chancen mitteilen könne. Der zuständige Referent im Ministerium riet Fiebig zur Geduld und wandte sich an die Evangelischtheologische Fakultät, wo dessen Vorpreschen Befremden auslöste. Vor allem Haas zeigte sich konsterniert und nannte Fiebigs Verhalten beschämend. Fiebig sei das Sorgenkind der Fakultät. Seine wissenschaftlichen Leistungen würden allseits als ungenügend eingestuft. Für die Stelle käme nur ein geborener Jude in Betracht.30 Fiebig, der 1902 stellvertretender Direktor des Institutum Judaicum Delitzschianum geworden war, hatte seit dieser Zeit eng mit Kahan und später mit Gulkowitsch zusammengearbeitet. Nach dem Ersten Weltkrieg wirkte er als Pfarrer in Leipzig, wo er sich mit Unterstützung Johannes Leipoldts 1924 für Neues Testament habilitieren und 1930 eine außerordentliche Professur erlangen konnte. Roland Deines nennt ihn deswegen einen der Pioniere der rabbinischen Forschung.31 Obgleich Fiebig angab, die Stelle ohne Gehalt übernehmen zu wollen und obwohl er darauf hinwies, dass er in der letzten Zeit für Polizeistellen in Leipzig und Dresden hebräisch geschriebene Briefe überprüft hätte, überwogen die Bedenken gegen ihn.32 Immerhin wurde er 1939 mit Hilfe der Fakultät zum außerplanmäßigen Professor ernannt und in ein 28
Israel Gutman, Hg., Enzyklopädie des Holocaust, Bd. 1, München 1998, S. 420. Wassermann, Fehlstart, S. 334 bzw. ders., ‚Diaconus‘ Paul Fiebig, in: ders., False start, S. 55 (nach Fiebigs Personalakte im Sächsischen HStA Dresden). Fiebig fügte seinem Schreiben gleich einen Studienplan bei, wie er sich die künftige Arbeit vorstellte. 30 Haas an das Ministerium am 15.1.1934, zitiert nach Wassermann, ‚Diaconus‘ Paul Fiebig, S. 55f. Siehe zu Fiebig auch Hoffmann, Wissenschaft des Judentums, S. 305–317. 31 Roland Deines, Die Pharisäer. Ihr Verständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen Forschung seit Wellhausen und Graetz, Tübingen 1997, S. 425. Hier auch zu der Beziehung zwischen Fiebig und Kahan. Fiebig schrieb für die erste Auflage Der Religion in Geschichte und Gegenwart (Bd. 3, 1912, Sp. 805–835) den Artikel „Judentum“. Siehe hierzu Ulrich Oelschläger, Judentum und evangelische Theologie 1909–1965. Das Bild des Judentums im Spiegel der ersten drei Auflagen des Handwörterbuchs ‚Die Religion in Geschichte und Gegenwart‘, Stuttgart 2005, bes., S. 168ff.; zu Fiebigs NS-Veröffentlichungen: S. 80ff. 32 Siehe das Schreiben des Ministeriums für Volksbildung an Haas vom 14.2.1934 sowie das Schreiben Fiebigs an das Ministerium vom 22.2.1934, HStA Dresden, 10193/9, fol. 60f. 29
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Dozentenverhältnis neuer Ordnung, das mit der Verbeamtung und einem festen Gehalt einherging, übernommen. Auch hierbei gab er an, für die Gestapo und die Zollfahndungsstelle gearbeitet zu haben. Er sei der einzige vereidigte Dolmetscher für Hebräisch und Jiddisch in ganz Deutschland. Seine Anbindung an die Universität Leipzig wäre deshalb auch aus politischen Gründen wichtig.33 Es half nichts. Anstelle Fiebigs kam bei der Nachfolge für Gulkowitsch ein noch nicht promovierter Schüler Leipoldts, Rudolf Meyer (1909–1991), zum Zug, der seit dem 1. April 1934 als dessen studentische Hilfskraft arbeitete. Als Leipoldt im Jahr darauf ein Stipendium für Meyer beantragte, argumentierte er zum einen damit, dass dieser eine ausgezeichnete Dissertation über die Stellung des Kindes im Talmud vorgelegt habe. Zum andern sei es in der gegenwärtigen Lage notwendig, dafür zu sorgen, dass das rabbinische Schrifttum von einem Nichtjuden bearbeitet werde, ein Argument, das im Ministerium auf offene Ohren stieß.34 Nachdem Meyer zum Wehrdienst eingezogen wurde, blieb Fiebig der einzige Vertreter für das Lehrgebiet der „spätjüdischen Wissenschaft“.35 Dass sich die jüdische in eine antijüdische Wissenschaft des Judentums verwandelte, zeigt sich auch daran, dass nicht nur Meyer, sondern auch Fiebig und Leipoldt für das 1939 in Eisenach gegründete deutschchristliche Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben arbeiteten. Eine weitere judaistische Lektorenstelle wurde 1926 an der Universität Halle eingerichtet und im Nebenamt mit Dr. Mojssej Woskin (1884–1944) besetzt. Der aus der Ukraine stammende Woskin hatte vor dem Ersten 33
Schreiben Fiebigs vom 9.5.1939, zitiert nach Wassermann, ‚Diaconus‘ Paul Fiebig, S. 58 sowie ders., Fehlstart, S. 336. 34 Schreiben Leipoldts an das Ministerium für Volksbildung vom 4.11.1935, HStA Dresden, 10193/9, fol. 72. Meyer erhielt zunächst die Hälfte der beantragten 250 Reichsmark und ab 1.6.1936 225 Reichsmark. Der Leiter der Hochschulabteilung des Ministeriums Werner Studentkowski vermerkte am 28.5.1936 über ein Gespräch mit dem Dekan der Evangelisch-theologischen Fakultät Heinrich Bornkamm (1901–1977), dass auch er sich dafür ausgesprochen habe, nur deutsche und keine jüdischen Sachbearbeiter für das besagte Lehrgebiet zu gewinnen. Ebd., fol. 74. 35 Meyer wurde nach dem Krieg Ordinarius für Altes Testament an der Universität Jena. Siehe Susannah Heschel, The Aryan Jesus. Christian theologians and the bible in Nazi Germany, Princeton 2008, S. 267f. und Wassermann, Fehlstart, S. 341f. In dem von Walter Grundmann geleiteten Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben gehörte Meyer dem Arbeitskreis 1b an, der die „Untersuchung des Entstehungsverhältnisses des Christentums unter dem rassischen Gesichtspunkt und unter Einbeziehung des bevölkerungspolitischen und religiösen Einflussverhältnisses Palästinas“ (so auch das Thema des ersten Treffens der Arbeitsgruppe am 15.7.1938 in Leipzig) zum Gegenstand hatte. Siehe dazu die Übersicht von Heinz Hunger vom 3.8.1939, in: Evangelisches Zentralarchiv Berlin, 1C 3/174.
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Weltkrieg in Berlin studiert und nach seinem Wechsel an die Universität Halle 1923 mit einer Arbeit über die Entwicklung der hebräischen Sprache promoviert.36 Im gleichen Jahr gründete er in Leipzig die Hebräische Sprachschule Techijja. Auf einen gemeinsamen Antrag der Evangelischtheologischen und der Philosophischen Fakultät hin wurde Woskin 1926 mit dem Lektorat für rabbinische Literatur und Sprache betraut. Da eine hauptamtliche Bestallung abgelehnt wurde, erhielt Woskin nur 100 Reichsmark pro Monat für seine Tätigkeit. Obwohl er am 27. September 1933 entlassen wurde, konnte er nach Einwendungen seitens der Philosophischen Fakultät noch einige Monate in den Räumen der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft weiterarbeiten. 1937 emigrierte er in die Tschechoslowakei, wo er unter anderem Guido Kisch bei seiner Studie über die Prager Universität behilflich war.37 Im Juli 1943 wurde er mit Frau und Tochter nach Theresienstadt und im Oktober des darauffolgenden Jahrs nach Auschwitz deportiert. Dort wurde er am 20. Oktober 1944 ermordet. Auf Initiative des Orientalisten Paul E. Kahle (1875–1964) hatte die Universität Gießen bereits 1918 ein Lektorat für jüdische Studien eingerichtet, dessen Finanzierung jedoch nicht durch den Staat, sondern durch jüdische Geldgeber erfolgte. Die beiden ersten Stelleninhaber, die Rabbiner Dr. Israel Abraham Rabin (1882–1951) und Jacob Jechiel Weinberg (1884– 1966), unterrichteten nur wenige Semester, denn als Kahle 1923 einen Ruf an die Universität Bonn annahm, kam auch das Lektorat zum Erliegen.38 Nachdem Kahles Nachfolger, der Assyriologe Julius Lewy (1895–1963), einen neuen Anlauf unternommen hatte, konnte die Lektorenstelle 1927 wieder aktiviert und mit Samuel Bialoblocki (1888–1960) besetzt werden.39 Doch auch jetzt stimmte das Hessische Landesamt für das Bildungswesen dem beantragten Lektorat für nachbiblisches Judentum nur deshalb zu, weil die israelitische Kultusgemeinde in Hessen die Finanzierung übernahm.40 Bialoblocki, der in Berlin Orientalistik studiert hatte, promovierte 36
Siehe Wassermann, Our lector, Dr. Woskin, in ders., False start, S. 101f. Über Woskins Leben gibt es aber nur wenig und ungenaue Informationen. 37 Guido Kisch, Die Prager Universität und die Juden 1348–1848, Amsterdam 1969, S. 88, Fußnote 144. 38 Wassermann, A Jewish lectorate in Gießen, in: ders., False start, S. 137–156, hier S. 137–139. Die unterschiedliche Titel der Lektoratsstelle lauteten auf Neuhebräisch und nachbiblisches Judentum, rabbinische Wissenschaften und talmudische Wissenschaften. 39 Siehe zur Vita Bialoblockis seinen Lebenslauf in der Personalakte im HStA Marburg, 307a, acc. 1962/12, Nr. 78. 40 Andreas Lippmann, Marburger Theologie im Nationalsozialismus, München 2003, S. 179.
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1928 in Gießen mit einer Arbeit zum islamischen und jüdischen Eherecht. So wie Rabin parallel zu seinem Gießener Lektorat eine Lehrtätigkeit an der Universität Frankfurt ausgeübt hatte, so unterrichtete Bialoblocki seit 1932 gleichzeitig als Hilfskraft für nachbiblisches Judentum und Neuhebräisch an der nahe gelegenen Universität Marburg. Im April 1933 aufgefordert, seine Tätigkeit einzustellen, konnte er noch bis zur endgültigen Entscheidung für einige Monate weiterarbeiten, weil sich die Evangelischtheologische Fakultät für ihn einsetzte. Am 22. September 1933 wurde Bialoblocki der Marburger und wenige Tage später am 4. Oktober 1933 auch der Gießener Lehrauftrag entzogen.41 Er emigrierte noch im gleichen Jahr nach Palästina und wurde 1957 Direktor des Talmuddepartments an der Bar Ilan Universität in Israel.42 Im Grunde genommen kann man bei den genannten Lektoraten, wenn überhaupt, nur ansatzweise von einer universitären Vertretung der Wissenschaft des Judentums sprechen. Weder hatten ihre Inhaber irgendeinen gefestigten oder gar etatisierten Status, noch waren sie frei, ihre Lehrtätigkeit unabhängig von den an sie gerichteten Vorgaben und Erwartungen zu gestalten. Eigentlich kann nur die Privatdozentenstelle Lazar Gulkowitschs in der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig dazugerechnet werden. Als Mitarbeiter in einer theologischen Fakultät waren die jüdischen Lektoren ausländische Gastarbeiter im Weinberg des Herrn. Ihre Anstellung beruhte allein darauf, dass keine einheimischen Fachkräfte zur Verfügung standen. Diese Art der Wissenschaft entsprach im alten Sinn des Wortes einer ancilla theologiae. Jüdische Lektoren leisteten einen Beitrag dazu, die Wahrheit des Christentums auf den von der Theologie vernachlässigten Gebieten der Rabbinica und Hebraica zu bestätigen. Sicherlich boten unterschiedliche Seminare unterschiedliche Spielräume. Doch ließ der Status der Lektoren keinen Zweifel an ihrer Funktion als untergeordnetem Dienstpersonal aufkommen, das zu tun und zu lassen hatte, was man ihm vorgab. Könnte man unter Berücksichtigung des ‚Aufschwungs‘, den Gulkowitschs Lehrtätigkeit in Leipzig nahm – und ohne seine Entlassung weiter genommen hätte – ein weniger negatives Urteil fällen? Wenn dem zarten Pflänzchen einer Wissenschaft des Judentums mehr Zeit vergönnt und ein besserer Boden bereitet gewesen wäre, hätte 41 Ebd. Julius Lewy war in Gießen am 25.8.1933 rückwirkend zum 1.7.1933 entlassen worden. 42 Wassermann, A Jewish lectorate in Gießen, S. 149–152. I. A. Rabin emigrierte 1935 ebenfalls nach Palästina. J. J. Weinberg wurde 1938 der letzte Direktor des orthodoxen Rabbinerseminars in Berlin und ging dann 1939 nach Polen, wo er mehrfach, u.a. im Konzentrationslager Auschwitz, interniert wurde. Nach dem Krieg leitete er eine Talmudschule in Montreux in der Schweiz. Ebd.
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sie zweifellos kräftigere Triebe schlagen und in weiteren Farben und Formen aufblühen können. Doch der Same fiel unter die Dornen. Mehr noch, was er in wenigen Jahren hervorzubringen in der Lage war, wurde nach 1933 mit kräftiger Hand ausgejätet und als Unkraut vernichtet. An der Geschichte der judaistischen Lektorate zeigt sich, welch enge Grenzen der Judenemanzipation im deutschen Hochschulwesen gesetzt waren. Die politischen Veränderungen hatten in der Weimarer Republik zwar die Berufung eines jüdischen Professors prinzipiell möglich und an einigen Universitäten auch selbstverständlich gemacht. Aber das Zugeständnis beschränkte sich in der Hauptsache auf die naturwissenschaftlichen Fächer, die Rechts- und Staatswissenschaft und die Medizin. Sensible Disziplinen, in denen die weltanschaulichen Grundlagen und das nationale Selbstverständnis des Staates abgehandelt wurden, standen den Juden längst nicht in gleicher Weise offen. Auch in der Hochphase der Judenemanzipation blieb es völlig undenkbar, dass den Juden auch nur ein Lehrstuhl zugestanden worden wäre, der sich mit der Geschichte des Judentums beschäftigt oder die Möglichkeit zur Ausbildung von Rabbinern geboten hätte. Ungeachtet des Weimarer Verfassungsgebots einer Gleichbehandlung aller Religionen blieb die Religion des Judentums von der Universität prinzipiell ausgeschlossen. Das heißt, die Judenemanzipation erfasste zwar den äußeren Bereich der privaten Religiosität, nicht aber die inneren Strukturen des Staates. Wenn der Staat es mit seiner Verfassung ernst gemeint hätte, hätte er entweder die jüdische Religion an der Universität zulassen, oder aber die christlichen Theologien daraus verbannen müssen. Nur an einer einzigen Universität, der 1912 gegründeten und 1914 inaugurierten Universität Frankfurt, kam es in den 1920er Jahren zur ansatzweisen Berücksichtigung einer jüdischen Theologie bzw. jüdischen Religionswissenschaft. An der Frankfurter Stiftungsuniversität bestand aber insofern eine Sondersituation, als sie in starkem Maße auf der finanziellen Unterstützung durch jüdische Geldgeber beruhte und ganz bewusst ohne evangelische und katholische Theologie konzipiert wurde. Wegen der Absicht, der Frankfurter Universität keine theologischen Fakultäten anzugliedern, erhoben sich bereits im Vorfeld heftige Auseinandersetzungen, in deren Verlauf Martin Rade (1857–1940), der bekannte Herausgeber der protestantischen Kulturzeitschrift Die Christliche Welt, verlangte, dem Judentum eine universitäre Vertretung einzuräumen und neben den christlichen auch eine jüdisch-theologische Fakultät einzurichten.43 Wie könne es sein, dass eine lebendige Religion von 600.000 Reichsdeutschen noch immer der staatlichen Anerkennung entbehre? So gut 43
Siehe dazu Hoffmann, Wissenschaft des Judentums, S. 335–345.
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gemeint Rades Idee auch gewesen sein mochte, so wenig Aussicht auf Realisierung bestand für sie. Seine Vorstellung, die Wissenschaft des Judentums und eine jüdische Theologie nach dem Modell der evangelischtheologischen Religionswissenschaft liberalprotestantischer Prägung miteinander zu verbinden, stieß nicht einmal bei den Juden auf allgemeine Zustimmung. Zum einen hatten viele jüdische Wissenschaftler kaum noch einen inneren Bezug zur jüdischen Religion und lehnten es ab, in das Korsett einer jüdischen Theologie eingezwängt zu werden. Und zum andern fürchteten die Vertreter des orthodoxen Judentums, dass Form und Inhalt des jüdischen Glaubens durch eine lediglich wissenschaftliche Behandlung relativiert oder sogar in Frage gestellt werden könnten. Auf evangelischer Seite erhob der Alttestamentler und führende Repräsentant der Religionsgeschichtlichen Schule Hermann Gunkel (1862–1932) grundsätzliche Einwände gegen die Etablierung einer jüdisch-theologischen Fakultät an der Universität Frankfurt. Die „gegenwärtige jüdische Wissenschaft“ sei noch weit davon entfernt, dass man sie wissenschaftlich ernst nehmen könne. Wie lasse sich unter solchen Umständen an eine ganze Fakultät denken, schrieb er an Rade. „Vielmehr steht die Sache noch immer so, daß die einzige Konfession, in der wirklich wissenschaftlicher Geist möglich ist, noch immer die evangelische ist.“44 Gunkels gleichermaßen von Überheblichkeit und Unkenntnis geprägtes Urteil lautete deshalb, dass an die Universität Frankfurt zwar die evangelische, nicht aber die jüdische Religion gehöre. Wenn schon ein Vertreter des liberalen Protestantismus derart ablehnend auf Rades Vorstoß reagierte, war auf konservativer und biblizistischer Seite kaum eine positivere Aufnahme zu erwarten. Die aus Sicht der evangelischen und katholischen Kirche untragbare Situation einer Universitätsneugründung ohne Berücksichtigung ihrer Interessen führte dazu, dass in der Philosophischen Fakultät der Universität Frankfurt schließlich konfessionelle Lehraufträge geschaffen wurden, die den religiösen Bedürfnissen der Studierenden Rechnung tragen sollten. Den Anfang machte Erich Foerster (1865–1945), der seit 1914 einen evangelischen Lehrauftrag für die Geschichte der christlichen Religion innehatte. Daraufhin intervenierte der katholische Bischof von Limburg Augustinus Kilian (1856–1930) bei den zuständigen Stellen, um ein katholisches Pendant zu etablieren. Er schloss dabei an bereits seit längerem bestehende Initiativen an, die von der preußischen Regierung eine stärkere Vertretung der katholischen Theologie an solchen Universitäten Preußens verlangten, an denen es keine katholisch-theologische Fakultät gab. So wie 44 Brief Gunkels an Rade vom 26.3.1912, zitiert nach Hoffmann, Wissenschaft des Judentums, S. 339.
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Politiker des Zentrums zu diesem Zweck in der Preußischen Landesversammlung aktiv wurden, so wandten sich die Bischöfe mehrfach an das Kultusministerium, um ihrem Wunsch nach katholischen Professuren Geltung zu verschaffen.45 Allerdings lösten diese Pläne bei den Protestanten eine massive Gegenbewegung aus, die an der Universität Marburg von Rudolf Otto angeführt wurde. Sie ließen sich deshalb nicht wie gewünscht realisieren, obgleich das Kultusministerium dem katholischen Anliegen wohlwollend gegenüber stand. Der preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker (1876–1933) erwirkte beim Kuratorium der Universität Frankfurt immerhin, dass es 8000 Reichsmark pro Jahr für einen katholischen Lehrauftrag zur Verfügung stellte. Nach der Zustimmung durch den Limburger Bischof wurde der Münsteraner Privatdozent Johann Peter Steffes (1883–1955) im Sommersemester 1922 mit der Abhaltung eines Lehrauftrags für „katholische Religionswissenschaft“ beauftragt. Diese hatte mit ihrem säkularen Pendant jedoch wenig gemein. Öfters wurde für sie der Ausdruck katholische Weltanschauung gebraucht, und de facto entsprach die Lehrtätigkeit von Steffes einer katholischen Weltanschauungslehre. Auch die anderen religionswissenschaftlichen Lehrstellen katholischer Provenienz, die in diesen Jahren an den Universitäten in Münster, Bonn, Würzburg und München geschaffen wurden, dienten expressis verbis dem Ziel, ein katholisches Gegengewicht gegen eine nichtkonfessionelle Religionsforschung zu schaffen, deren Einfluss für gefährlich und den Interessen der Kirchen abträglich gehalten wurde. Man kann es kaum anders als eine Ironie der Geschichte bezeichnen, dass ausgerechnet die erfolgreiche Intervention des katholischen Bischofs von Limburg den Juden die erste offizielle Vertretung an einer deutschen Universität einbrachte. Denn aus Proporzgründen konnte es das preußische Kultusministerium schlechterdings nicht mehr ablehnen, als der Vorstand der Israelitischen Gemeinde Frankfurts im Mai 1921 daraufhin einen eigenen Antrag für einen jüdischen Dozenten einreichte, dessen Lehrgebiet jüdische Religionswissenschaft und jüdische Ethik beinhalten sollte. Die Weimarer Reichsverfassung hatte es unmöglich gemacht, dieses Gesuch zurückzuweisen. Der erste von der Jüdischen Gemeinde vorgeschlagene Kandidat, der Rabbiner Nehemia Anton Nobel (1871–1922), verstarb aber schon im Januar 1922, so dass Franz Rosenzweig (1886–1929) an 45 Siehe hierzu Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft, S. 80–85. Am 25.9.1920 meldete das preußische Kultusministerium ein „Ordinariat für katholische Religionswissenschaft“ für den Staatshaushalt des Jahres 1921 in der Philosophischen Fakultät der Universität Berlin an. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz „Religionswissenschaftliche Lehrstühle für katholische Studenten (1920–1929)“, R 76 Va, Sek. 1, Tit. IV, Nr. 60, fol. 43f.
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seine Stelle trat. Doch auch Rosenzweig, dem der Lehrauftrag im Dezember 1922 erteilt wurde, konnte ihn krankheitsbedingt nicht wahrnehmen. Er litt an einer amyotrophischen Lateralsklerose, von der er wusste, dass sie in wenigen Jahren zu seinem Tod führen würde. Um das Unternehmen nicht zu gefährden, nahm er den Lehrauftrag an, ohne jemand etwas von seiner Krankheit zu sagen. Gleichzeitig suchte er nach einem geeigneten Ersatzkandidaten.46 Schon seit etlichen Jahren dachte Rosenzweig darüber nach, welche äußere Form die Wissenschaft des Judentums annehmen sollte und wie sie sich in Verbindung mit dem deutschen Universitätssystem bringen ließ. In einem langen Brief an Martin Buber, fragte er diesen am 12. Januar 1923, ob er es sich vorstellen könne, den Lehrauftrag zu übernehmen.47 Rosenzweig leitete seit 1920 die jüdische Volkshochschule in Frankfurt und kannte Buber von seiner Vorlesungsreihe „Religion als Gegenwart“, die dieser von Januar bis März 1922 dort gehalten hatte. Die Chance erkennend, die sich dem Judentum jetzt in Frankfurt bot, sprach Rosenzweig Buber gegenüber von einer kleinen Klinke, die in der Lage sei, ein großes Tor zu öffnen.48 Buber äußerte sich zunächst zurückhaltend, weil er daran zweifelte, ob die Jüdische Gemeinde seine Person akzeptieren und ihm volle Lehrfreiheit gewähren würde. Er wusste sehr gut, dass er aus der Perspektive eines normativen Judentums als unsicherer Kantonist galt und dass seine religiösen und religionsphilosophischen Ansichten längst nicht von allen Juden geteilt wurden. Er ging weder zur Synagoge, noch hielt er sich an die jüdischen Speisevorschriften und nahm ohne Bedenken auch nichtkoscheres Essen zu sich. Mit 14 hatte er schon aufgehört, die Tefillin (Gebetsriemen) anzulegen.49 Rosenzweig konnte Buber mit dem Argument beruhigen, dass die Gemeinde nur über das Vorschlagsrecht und darüber hinaus über keine weiteren Einflussmöglichkeiten verfüge.50 Doch Rosenzweig unterschätzte den Widerstand, der sich gegen seinen Wunschkandidaten erhob. Es kam zu schweren Auseinandersetzungen mit der Folge, 46 Willy Schottroff, Nur ein Lehrauftrag. Zur Geschichte der jüdischen Religionswissenschaft an der deutschen Universität, in: Berliner Theologische Zeitschrift, 1987, S. 207. 47 Rosenzweig an Buber am 12.1.1923. Der Brief ist abgedruckt bei Grete Schaeder, Hg., Martin Buber. Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, Bd. 2, Heidelberg 1972, S. 146–149. 48 Ebd., S. 149. 49 Schottroff, Nur ein Lehrauftrag, S. 210. 50 „Wegen Lehrfreiheit ist glaube ich nichts zu besorgen. Die diesbezüglichen Dummheiten werden sich vorher abspielen, im Schoße der Gemeindekörperschaften; nachher kümmert sich kein Mensch mehr um Sie.“ „Die Gemeinde hat nur das Vorschlagsrecht, damit ist ihre Kirchenfürstlichkeit zu Ende.“ Rosenzweig an Buber am 16.1.1923, ebd., S. 211.
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dass Buber erst am 8. Dezember 1923 der Lehrauftrag für jüdische Religionswissenschaft und jüdische Ethik übertragen wurde. Der Streit spitzte das allgemeine Problem einer theologisch gebundenen Religionsforschung in einer Weise zu, die der Situation auf protestantischer Seite entsprach. Einerseits sollten solche mit dem Ausdruck Religionswissenschaft umschriebenen Lehrstellen eine theologische Bindung enthalten und selbstverständlich auch eine religiöse Funktion erfüllen. Auf keinen Fall durften sie die durch das Glaubensbekenntnis vorgegebenen Grenzen überschreiten. Andererseits musste ihr wissenschaftlicher Charakter betont und ihren Inhabern ein höheres als das sonst übliche Maß an Lehrfreiheit eingeräumt werden. Die Wirkung derartiger Lehraufträge wäre außerordentlich beschränkt gewesen, hätten sie sich in herkömmlichen theologischen Bahnen bewegt und die nichtchristliche bzw. nichtjüdische Religionsgeschichte vor allem unter dogmatischen und apologetischen Gesichtspunkten behandelt. Zudem entfaltete die nichtkonfessionelle Religionswissenschaft in der Weimarer Republik eine starke Sogwirkung, so dass es wissenschaftlich und hochschulpolitisch zunehmend schwieriger wurde, die partikularen Interessen einer Religion und die Belange der allgemeinen Religionsgeschichte miteinander zu vereinbaren. Die außertheologische Religionswissenschaft hatte sich schon lange vor dem Ersten Weltkrieg für die Gleichbehandlung aller Religionen eingesetzt, wie sie in der Weimarer Reichsverfassung Gesetz wurde. Im Ergebnis führte das Zusammenlaufen der beiden Entwicklungslinien einer konfessionellen und einer an der allgemeinen Religionsgeschichte orientierten überkonfessionellen Religionsforschung zur theologischen Religionswissenschaft evangelischer, jüdischer und ansatzweise auch katholischer Provenienz. Hatte Rosenzweig während des Krieges noch an eine konventionelle jüdisch-theologische Fakultät gedacht, hielt er diese Organisationsform für zunehmend ungeeignet, um den sich nach dem Ersten Weltkrieg manifestierenden religiösen Bedürfnissen des deutschen Judentums gerecht werden zu können. Gleichzeitig lehnte Rosenzweig aber auch eine Wissenschaft des Judentums ab, die sich gänzlich in wissenschaftlichen oder sogar positivistischen Bahnen bewegte und eine religiöse Bindung strikt ablehnte. Er kritisierte deshalb den Kurs, den die Akademie für die Wissenschaft des Judentums unter der Leitung Täublers nahm als dem Anliegen des Judentums unangemessen und zog sich ganz aus ihrer Arbeit zurück. Aus seiner Sicht kam es nicht darauf an, den bereits bestehenden Büchern über das Judentum noch weitere hinzuzufügen.51 Dessen geistige Not würde sich auf diesem Wege niemals überwinden lassen. Seine eige51
Mendes-Flohr, Jüdisches Kultur- und Geistesleben, S. 136.
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nen Vorstellungen verwirklichte er im Freien Jüdischen Lehrhaus, in das er die jüdische Volkshochschule in Frankfurt mittlerweile überführt hatte. Analog zu einem der Synagoge angegliederten Lehrhaus (bet hamidrasch) sah er in ihm den geeigneten Ort für das gemeinsame Studium der heiligen Schriften des Judentums.52 Dem Ziel einer Wiederverlebendigung der jüdischen Religion diente auch das ehrgeizige Projekt einer neuen Bibelübersetzung, das er zusammen mit Buber in Angriff nahm. Ungeachtet ihrer unterschiedlichen Auffassungen in der Frage des Zionismus und im Hinblick auf die Bedeutung der Synagoge glaubten beide, dass es für die deutschen Juden von elementarer Wichtigkeit sei, wieder ein unmittelbares und lebensmächtiges Verhältnis zu ihrer Religion zu gewinnen. Ihre „Verdeutschung der Schrift“ orientierte sich deshalb mehr an respiratorischen und kolometrischen Gesichtspunkten als an Fragen der Philologie und Ästhetik. Sie sollte bereits im Duktus den jüdischen Geist der hebräischen Bibel zum Ausdruck bringen. Der von Rosenzweig und Buber artikulierte sprachliche Nationalismus wurde aber von jüdischen Literaturkritikern wie Siegfried Kracauer (1889–1966) und Walter Benjamin (1892–1940) als archaisierend, reaktionär und der völkischen Romantik verdächtig nahe stehend kritisiert.53 Die Schwierigkeiten, die Buber mit der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt hatte, entsprachen dem Misstrauen, das Vertretern der evangelischtheologischen Religionswissenschaft wie Rudolf Otto, Friedrich Heiler (1892–1967) und Jakob Wilhelm Hauer (1881–1962) auf protestantischer Seite entgegenschlug. Wie bei ihnen, so fürchtete man auch im Falle Bubers eine Aufweichung des rechten Glaubens und eine zunehmend freie Form der Religiosität, von der man nicht so genau wusste, ob sie nicht irgendwann einmal einen „point of no return“ erreichen und den Boden der Tora und der Synagoge ganz hinter sich lassen würde. Vor allem in der allzu unbekümmerten Beschäftigung mit anderen Religionen, besonders denen des indischen Subkontinents, sah man bei Buber die Gefahr einer Relativierung normativer Glaubenswahrheiten zugunsten einer dem eigenen Belieben überlassenen synkretistischen Religionsdeutung. Andererseits war es gerade die Distanz zur Orthodoxie, die den Vertretern der theologischen Religionswissenschaft ihre Popularität und den Ruf einbrachte, wenn schon keine Ketzer, so doch zumindest Vorkämpfer für religiöse Toleranz zu sein. Sie konnten auf diese Weise vielleicht mehr für ihre Religion tun als die Schar der Frommen, deren Wirkungskreis sich gemeinhin auf die eigene Gruppe beschränkt. Abgesehen von einer star52 53
Ebd. Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, S. 122.
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ken Antipathie jedwedem Formalismus und allen Ausprägungen des Dogmatismus und der Apologetik gegenüber gehörte zu den konfessionsübergreifenden Gemeinsamkeiten der theologischen Religionswissenschaft eine tief sitzende Geringschätzung der „Amtskirche“, deren bürokratische Strukturen, wie sie es selbst erfahren hatten, echtes religiöses Leben bereits im Keim erstickten. Wie sollte unter solchen Umständen den spirituellen Nöten des modernen Menschen abgeholfen werden? Die Repräsentanten der theologischen oder religiösen Religionswissenschaft einigte die Vorstellung eines inneren Zusammenhangs aller religiös Suchenden ebenso wie das Pathos, mit dem sie von der Existenz einer ecclesia invisibilis und eines allgemeinen religiösen Menschheitsbundes sprachen. Auch die Vorliebe für die Mystik und ein sich in religiöser Ergriffenheit ausdrückendes Verhältnis der religiösen Unmittelbarkeit zwischen Mensch und Gott charakterisierte ihre gemeinsame Religionsauffassung. Religionswissenschaftler von Beruf, waren sie Propheten einer neuen Zeit und verkündeten eine Universalreligion jenseits aller konfessionellen Beschränkungen. Dadurch wurden sie in ihren eigenen religiösen Traditionen zu Außenseitern, denen die Religionswissenschaft Hoffnung und ein Stück weit auch eine neue Heimat bot. Offensichtlich brachte die formelle Gleichberechtigung aller Religionen in der Weimarer Republik auch eine jüdische Variante der theologischen oder religiösen Religionswissenschaft hervor, die sich nur unwesentlich von ihrem protestantischen Pendant unterschied. Von einem speziellen jüdischen Wesen, das in einem antisemitischen Sinn völlig neue Ausdrucksformen generieren würde, kann auch auf dem Gebiet der Religionsforschung nicht im Mindesten die Rede sein. Der Institutionalisierungsprozess einer jüdischen Religionswissenschaft an der Universität Frankfurt spiegelt, in ihrem relativen Erfolg wie in ihrem Scheitern, den Stand wider, den die Judenemanzipation in der Weimarer Republik erreicht hatte. Im Unterschied zu Buber standen Otto, Heiler und Hauer aber als Staatsbeamte in einem festen Arbeitsverhältnis und in der akademischen Hierarchie ganz oben. Buber hatte dagegen nur einen schlecht bezahlten Lehrauftrag, der ihm jederzeit gekündigt werden konnte. So regelmäßig Anträge auf eine finanzielle Aufstockung gestellt wurden, so regelmäßig wurden sie abgelehnt. Sein wissenschaftliches Programm musste Buber in Frankfurt auf der Stufe eines kümmerlichen Lehrauftrags entfalten.54 Am 54 Eine Übersicht über seine Veranstaltungen findet sich bei Willy Schottroff, Martin Buber an der Universität Frankfurt am Main (1923–1933), in: Dieter Stoodt, Hg., Martin Buber, Erich Foerster, Paul Tillich. Evangelische Theologie und Religionsphilosophie an der Universität Frankfurt a.M. 1914 bis 1933, Frankfurt a.M. 1990, S. 73–75.
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Ende der 1920er Jahre schien sich für ihn kurzzeitig die Möglichkeit einer von Salman Schocken (1877–1959) finanzierte Stiftungsprofessur zu eröffnen, doch der Plan ließ sich nicht realisieren. Zusammen mit dem Frankfurter Universitätskurator Kurt Riezler (1882–1955) erreichte es der Dekan der Philosophischen Fakultät Walter F. Otto (1874–1958) wenigstens, dass Buber am 11. August 1930 zum Honorarprofessor für Religionswissenschaft ernannt und dass ihm außerdem zum Sommersemester 1931 ein bezahlter Lehrauftrag mit der gleichen thematischen Zuschreibung erteilt wurde.55 Das bedeutete nicht nur einen zweiten Lehrauftrag aus dem Bereich der Wissenschaft des Judentums, sondern für Buber auch die Unabhängigkeit von der Jüdischen Gemeinde. Überdies hatte er nun die Möglichkeit, seinen Doktoranden und Schüler Norbert Nahum Glatzer (1903– 1990) im Nebenfach in Religionsgeschichte prüfen zu können. Glatzer promovierte dann 1931 bei Buber mit Untersuchungen zur Geschichtslehre der Tannaiten, die der Schocken Verlag zwei Jahre später publizierte. Auf Vorschlag des Vorstands der Israelitischen Gemeinde erhielt Glatzer im Juli 1932 außerdem Bubers vormaligen, theologisch gebundenen Lehrauftrag für jüdische Religionswissenschaft und Ethik. Allerdings dauerte die Hochzeit der jüdischen Religionswissenschaft in Frankfurt mit zwei Lehraufträgen kein ganzes Jahr. Nach Erlass des Berufsbeamtengesetzes wurde Glatzer bereits im April 1933 der Lehrauftrag entzogen. Er emigrierte zunächst nach Palästina und siedelte dann 1938 in die USA über, wo er ab 1943 verschiedene Professuren wahrnahm. Von 1950–1973 lehrte Glatzer an der Brandeis Universität, Waltham/Massachusetts, und ab 1973 bekleidete er den Lehrstuhl für Judaistik an der Universität Boston.56 In dem von der Universität Frankfurt am 10. April 1933 im Rahmen des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums verschickten Fragebogen trug Buber bei der Frage, ob er „deutsch-arischer Abstammung und frei von jüdischem Rasseneinschlag“ sei, nicht lediglich das Wort „nein“ ein, sondern schrieb selbstbewusst: „Ich bin jüdischer Abstammung und jüdischen Glaubens“.57 Daraufhin legte ihm der Dekan der Philosophischen Fakultät Erhard Lommatzsch (1886–1975) „im Interesse eines ruhigen Lehrbetriebs“ am 25. April nahe, auf die Abhaltung seiner 55 In seiner Begründung führte Otto am 7.7.1930 aus, dass die Fakultät es für wichtig halte, Buber als ausgezeichneten Lehrer stärker an die Universität zu binden. Als „Denker und Lehrer auf dem umstrittenen Gebiete der religionswissenschaftlichen Problematik“ verdiene er das Vertrauen der Universität. Ebd., S. 98. 56 Schottroff, Martin Buber an der Universität Frankfurt, S. 100 und Renate Heuer und Siegbert Wolf, Hg., Die Juden der Frankfurter Universität, Frankfurt a.M. 1997, S. 116– 119. Siehe auch Glatzers Personalakte im UA Frankfurt. 57 BArch Berlin R 21, 10034.
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Vorlesungen und Übungen im Sommersemester zu verzichten. Aufgrund der politischen Lage sei, wie Lommatzsch zynisch erklärte, mit der Störung seiner Veranstaltungen zu rechnen. Noch grotesker war es, dass Buber kurz darauf eine offizielle Einladung für die am 10. Mai stattfindenden Bücherverbrennung auf dem Frankfurter Römerberg erhielt.58 Der neue, erst am 26. April gewählte Rektor Ernst Krieck (1882–1947) rief Anfang Mai in einem an alle Mitglieder des Lehrkörpers verschickten Schreiben dazu auf, der Verbrennung „marxistischen und korruptionistischen“ Schrifttums beizuwohnen. Im Hinblick auf „die große symbolische Bedeutung dieser Zeremonie“ wünsche er eine zahlreiche Teilnahme seitens der Professorenschaft.59 Dass bei der Bücherverbrennung ausgerechnet der evangelische Hochschulpfarrer Otto Fricke (1902–1954) die Ansprache hielt, führte Buber vor Augen, wie es um den Dialog zwischen Christen und Juden in Deutschland nunmehr stand, zumal Fricke erklärte, dass es darum gehe, „ein Bekenntnis zum deutschen Wesen abzulegen“. „Vor Gott und der Geschichte“ appellierte Fricke insbesondere an die in Uniform anwesenden Korporationen, bereit zu sein, „Deutschland zu jeder Stunde zu schützen und zu schirmen“. Das zu entzündende Feuer sei ein „Wahrzeichen des Willens“, sich aller zersetzenden und undeutschen Schriften für immer zu entledigen.60 Wie konnte sich Buber nicht von den Worten des Hochschulpfarrers angesprochen fühlen? Am 4. Oktober 1933 wurde ihm als rassefremdem Juden offiziell die Lehrbefugnis entzogen. Weil er sich an die Hoffnung auf eine Besserung der Lage klammerte und weil er in einer solchen Notzeit Deutschland nicht verlassen, sondern am Aufbau eines jüdischen Bildungswesens mitwirken wollte, harrte Buber noch weitere fünf Jahre aus. Im März 1938 emigrierte er nach Palästina und übernahm an der Hebräischen Universität in Jerusalem eine Professur für Sozialphilosophie. Der folgende Blick auf den religiösen Dialog, den der liberale Jude Martin Buber und der liberale Protestant Jakob Wilhelm Hauer am Ende der Weimarer Republik miteinander führten, veranschaulicht, dass die Judenemanzipation in dieser Zeit ihren Zenit erreicht und zum Teil bereits überschritten hatte. Die Rückkehr alter, offenbar nur verdrängter, aber 58
Schottroff, Martin Buber an der Universität Frankfurt, S. 106. Gerda Stuchlik, Goethe im Braunhemd. Universität Frankfurt 1933–1945, Frankfurt a.M. 1984, S. 112. Bei der Wahl Kriecks hatte lediglich der frühere Universitätsrektor Albrecht Bethe (der Vater des am 20.4.1933 an der Universität Tübingen entlassenen Hans Bethe) Einwände erhoben. Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz, Teil 2, Bd. 2, Die Kapitulation der Hohen Schulen. Das Jahr 1933 und seine Themen, München 1994, S. 573. 60 Stuchlik, Goethe im Braunhemd, S. 116. 59
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nicht wirklich überwundener antisemitischer Klischeevorstellungen erfolgte ohne Gegenwehr derjenigen, die bis dahin zu den Befürwortern einer politischen Gleichstellung der deutschen Juden gehörten. Der Emanzipationsgedanke hatte die deutsche Gesellschaft nicht wirklich erfasst und innerlich verändert. Er war offensichtlich nur ein äußerliches Akzidenz, das bereits vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten geopfert wurde, um die schwere ökonomische und politische Krise in der Endphase der Weimarer Republik heil zu überstehen. Buber und Hauer entwickelten ab 1929 eine enge, fast freundschaftliche Beziehung, die auf ähnlich gelagerten religiösen, wissenschaftlichen und politischen Ansichten beruhte. Sie kannten sich von den Vorbereitungen für eine religiöse Weltfriedenskonferenz und einer hierfür geplanten Dialogveranstaltung her, die im Jüdischen Lehrhaus in Stuttgart stattfinden sollte.61 Auch wenn beides nicht zustande kam, ergab sich daraus für Hauer und Buber die Möglichkeit einer Verständigung über das Verhältnis der Religionen untereinander und die Frage, wie sie sich zum Krieg, zum Frieden, zum Sozialismus, zum Volk usw. verhalten sollten. Hauer und Buber glaubten an die Notwendigkeit einer religiösen Erneuerung und teilten die Skepsis gegenüber den etablierten Religionen, denen sie nicht zutrauten, das religiöse Bedürfnis der Gegenwart befriedigen zu können. Aus ihrer Sicht war es gerade deren selbstgerechte Saturiertheit, die als erstes überwunden werden musste. Mit der Besinnung auf die religiösen Tiefenschichten des Menschen und der daraus hervorgehenden Durchgeistigung der Lebensführung zielten Buber und Hauer nicht lediglich auf die persönliche Religiosität des Einzelnen. Sie dachten dabei auch an ein neues Gemeinschaftsgefühl und an eine neue Verbindung von Glaube und Volk. Die auf dieser Grundlage sowohl bei Hauer als auch bei Buber vorhandene Tendenz zu einem religiösen Sozialismus hatte bei beiden einen völkischen Einschlag, der ein gegenläufiges Moment zu dem von ihnen in den Vordergrund gestellten religiösen Universalismus bedeutete. Bei Hauer verengte sich der Gedanke einer religiösen Erneuerung des Volkes nach 1933 zu einer völkischen Religionsdoktrin und führte zur Gründung der Deutschen Glaubensbewegung mit dem ultimativen Ziel, das Christentum als weltanschauliches Fundament des Deutschen Reiches abzulösen.
61
Siehe Margarete Dierks, Jakob Wilhelm Hauer, 1881–1962, Heidelberg 1987, S. 160, S. 173f. und S. 187f. Ein handschriftlicher Brief Bubers vom 31.12.1928 (BArch Koblenz, Nachlass Hauer, Bd. 122, fol. 303) markiert vermutlich den Beginn eines umfänglichen Schriftverkehrs zwischen Buber und Hauer, der nur zum Teil Eingang in den von Grete Schaeder herausgegebenen Briefwechsel Bubers fand.
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Hauer hatte nach dem Ersten Weltkrieg als Vikar der evangelischen Kirche in Württemberg eine Gemeinschaft junger Menschen geleitet, die sich nach dem Ort ihrer Zusammenkünfte „Bund der Köngener“ nannte. Seit 1924 veranstalteten die Köngener jährliche Arbeitswochen, bei denen sie über bestimmte Themen diskutierten. Am Anfang ging es vornehmlich um die Auseinandersetzung mit den Positionen der Amtskirche, dann trat die Beschäftigung mit anderen weltanschaulichen Themen in den Vordergrund.62 Unabhängig vom Inhalt hatten diese Treffen einen stark identitätsstiftenden Charakter, der die Gruppe fest um ihren Führer herum zusammenschweißte. Zu der Januartagung 1931 lud Hauer auch Buber ein. Sie stand unter dem Motto „Der Mensch als Maßstab der Gesellschaftsordnung“ und beinhaltete vor allem eine Diskussion des Kommunismus. Buber schrieb Hauer im Mai 1930, dass er gerne kommen werde und dass er dem Anliegen der Köngener geistig nahe stehe.63 Die Arbeitswoche wurde von allen Teilnehmern als ein großer Erfolg im geistigen Ringen um eine wichtige Lebensfrage gewertet, auch wenn Buber durch einige anwesende Nationalsozialisten mit entstellten Talmudzitaten angegriffen wurde. Die nächste Tagung sollte sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigen und im darauf folgenden Jahr stattfinden. Aus organisatorischen Gründen musste sie jedoch auf die erste Januarwoche des Jahres 1933 verschoben werden. Sie trug jetzt den Titel „Die religiösen und geistigen Grundlagen einer völkischen Bewegung“. Als Buber im Februar 1931 seine Teilnahme zusagte, konnte er noch nicht wissen, wie sehr sich das ganze Unternehmen nach der völkischen Seite hin verschieben würde. Im September 1932 machte Hauer ihm den Vorschlag, er solle über „die Judenfrage im Zusammenhang mit der völkischen Bewegung“ referieren.64 Doch Buber bekam das Gefühl, dass er politisch instrumentalisiert werden sollte, und lehnte das Vortragsthema in dieser Form ab. So wichtig ihm das Volkstum sei, schrieb er Hauer ins Stammbuch, so halte er „den Gedanken des völkischen Staates für problematisch und seine heute übliche Verabsolutierung für den geraden Weg zur kommenden Katastrophe“.65 Hauer ließ sich davon nicht beirren und wandte sich 14 Tage später erneut an Buber. Er sei der Meinung, dass Buber wie kein anderer etwas Substantielles „zur Lösung der Judenfrage in der Neuorganisation des 62
Eine Auflistung der Jahrestagungen bei Ulrich Nanko, Die Deutsche Glaubensbewegung, Marburg 1993, S. 85. 63 Buber an Hauer am 6.5.1930, BArch Koblenz, Nachlass Hauer, Bd. 13, fol. 35. 64 Hauer an Buber am 30.9.1932, ebd., Bd. 13, fol. 43. Siehe zu Bubers Teilnahme an der Tagung auch Dierks, Jakob Wilhelm Hauer, S. 199–207. 65 Buber an Hauer am 4.10.1932, BArch Koblenz, Nachlass Hauer, Bd, 13, fol. 44. Das Wort „Staates“ ist im Original unterstrichen.
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deutschen Staates“ beitragen könne. „Wenn Sie, wie Sie sagen, keine Vorschläge dazu zu machen haben, so halte ich es doch für wichtig, dass Sie da wären, um zur Judenfrage von Ihrer religiösen Haltung aus Stellung zu nehmen, die ja sowohl das deutsche Volk wie das Judentum betrifft.“ Buber müsse „unsere Schwierigkeit“ doch einigermaßen begreifen. Es stehe doch außer Frage, dass „unser Theater und unsere Literatur“ von den Juden in einer sehr unguten Weise beeinflusst worden sei. „Oder geben Sie mir darin nicht recht?“ Es käme ihm darauf an, von einem Mann jüdischen Glaubens das zu hören, was hier gesagt werden müsse.66 Buber, der nicht realisierte, wie tief die Kluft zwischen ihm und dem von Hauer verwendete Wort „uns“, das heißt zwischen Deutschen und jüdischen Deutschen mittlerweile geworden war, willigte schließlich ein, um den Dialog nicht abbrechen zu lassen.67 Am 4. Januar 1933 hielt er deshalb auf der Kasseler Arbeitswoche einen Vortrag zum Thema „Israel und die Völker“, der nicht nur Bubers politische Naivität zum Ausdruck bringt, sondern der auch eine bedenkliche Annäherung an den völkischen Jargon enthält.68 Möglicherweise wurde Buber im Nachhinein stärker bewusst, auf was er sich eingelassen hatte, denn er lehnte die von Hauer gewünschte Veröffentlichung seines Vortrages ab. Von nationalsozialistischer Seite hatte Hauer den bekannten Erziehungswissenschaftler Ernst Krieck für eine Teilnahme gewonnen, nachdem Alfred Rosenberg (1893–1946) auf seine Anfragen nicht reagiert und der spätere Ministerpräsident und Kultusminister Württembergs Christian Mergenthaler (1884–1980) wegen Bubers Anwesenheit abgesagt hatte. Krieck trat in Kassel in einer Weise als NS-Propagandist in Erscheinung, die auch andere Teilnehmer als unangenehm empfanden. Nur vier Monate später wurde Krieck Rektor der Universität Frankfurt und somit auch Bubers Vorgesetzter. Von Krieck erhielt Buber die Einladung zur Bücherverbrennung, und über seinen Schreibtisch lief die ministerielle Verfügung, mit der Buber auf den Tag genau neun Monate nach seinem Vortrag in Kassel die Lehrbefugnis entzogen wurde. Von einer lediglich geistigen Auseinandersetzung, wie sie sich Buber vielleicht am Anfang vorgestellt hatte, konnte auf der Kasseler Tagung im Januar 1933 nicht die Rede sein. Außerdem spielte Hauer Buber gegenüber zu diesem Zeitpunkt bereits mit gezinkten Karten. Ohne dass Buber davon wusste, suchte ihn Hauer für eine Mitwirkung bei der Lösung der „Judenfrage“ einzuspannen. Buber sollte als Vertreter einer zionisti66
Hauer an Buber am 18.10.1932, ebd., Bd. 13, fol. 15. Buber an Hauer am 20.10.1932, ebd., Bd. 13, fol. 14. 68 Der 14-seitige Vortrag ist ebenso wie die danach geführte Diskussion im Martin Buber Archiv in Jerusalem überliefert. 67
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schen Dissimilation helfen, die Juden aus dem deutschen Volkskörper herauszulösen, ohne ihm dabei Schaden zuzufügen. Hauer diente sich damit sogar dem Sicherheitsdienst der SS an. Am 9. März 1934 schrieb er an Werner Best (1903–1989), den Verbindungsmann zwischen der SS und der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung, dass er mit führenden Zionisten in Kontakt stehe und dass nach seiner Einschätzung eine „vertragliche Verständigung“ zwischen den Juden und dem Dritten Reich durchaus möglich sei. Die „schwere Erschütterung unseres Welthandels durch das Judentum“ hätte sich vermeiden lassen, wenn man auf diese Weise vorgegangen wäre. Dass die Zionisten das Judentum in Palästina wieder „zu einem klar abgegrenzten Volk“ machen wollten, solle man ausnützen.69 Hauer tat so, als ob er die geeignete Persönlichkeit sei, die hier als Vermittler aktiv werden könnte. Etwa vier Wochen danach traf er sich in München zu einer Besprechung mit Heinrich Himmler (1900–1945) und Reinhard Heydrich (1904–1942), um dann wenig später selbst in den SD einzutreten.70 Im August 1934 nahm Hauer mit Buber zusammen an der zweiten Eranos-Tagung im schweizerischen Ascona teil. Eigentlich sollte es bei diesen Treffen nur um einen geistigen Austausch zwischen westlicher und östlicher Spiritualität gehen und die Politik ausgeschlossen bleiben. Doch Hauer hielt sich nicht daran und brach eine Lanze für das politische System des Nationalsozialismus.71 Darüber hinaus bespitzelte er Buber für den SD. Der von ihm verfasste Bericht über Buber ist zwar nicht überliefert, aber es existiert eine Zusammenfassung, die offenbar von Paul Zapp (1910– 1999), dem zeitweiligen Generalsekretär der Deutschen Glaubensbewegung und Schüler Hauers, angefertigt wurde. Zapp kam über Hauer in Kontakt mit der SS und wurde im Juli 1934 Mitglied und im Februar 1936 hauptamtlicher Mitarbeiter des SD. Sein Weg führte ihn vom Reichssicherheitshauptamt in Berlin zum Einsatzkommando 11a der Einsatzgruppe D. In dem Memorandum von Zapp heißt es, dass Buber ein herausragender Führer des jüdischen Volkes sei, der dessen Fehlentwicklungen erkannt und kritisiert hätte. Hauer schwebe ein Vertrag zwischen dem 69
Hauer an Best am 9.3.1934, BArch Berlin, Nachlass Hauer, Bd. 66, fol. 55, zitiert nach Dierks, Jakob Wilhelm Hauer, S. 243. 70 Siehe zu Hauers SD-Aktivitäten Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft, S. 128–144, zu Hauers Zusammentreffen mit Heydrich und Himmler, S. 128f. und S. 135. 71 „During an informal exchange with the audience he embarked on an apologia for the political scene in Germany. Martin Buber, who had lectured on an aspect of Judaism, saved the situation by turning it into a discussion of Meister Eckhart.“ William McGuire, Bollingen. An adventure in collecting the past, Princeton 1989, S. 26.
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nationalsozialistischen Deutschland und den führenden Repräsentanten des deutschen Judentums vor, um auf diese Weise zu einer gütlichen Lösung der „Judenfrage“ zu kommen. Eine solche Regelung „würde der Greuelpropaganda im Ausland, die in der Hauptsache von den Juden ausgeht, die Spitze abbrechen und wäre ein wichtiger Faktor im Kampf gegen den wirtschaftlichen Boykott, der von Emigranten inszeniert, dann von vielen anderen aufgenommen wurde, die die Situation für sich ausnutzen wollen“.72
Vier Jahrzehnte später verfasste Zapp, nun bereits im Gefängnis sitzend, am 1. Juni 1975 eine Niederschrift, in der er erneut Hauers Beziehung zu Buber thematisierte. Zapp charakterisierte Hauer hier als jemand, der in der „Judenfrage“ nur das Beste gewollt habe. Bei „höchsten Staatsstellen“ sei er vorstellig geworden, um eine Entschärfung des Verhältnisses zwischen Juden und Deutschen zu erreichen. „Insbesondere weiß ich aus unmittelbarer Erfahrung, daß er bemüht war, in der Judenfrage eine menschlich tragbare Lösung zu entwerfen und führende Stellen der nationalsozialistischen Partei dafür zu gewinnen.“ Der für die Tötung von mehr als 13.000 Juden verurteilte Massenmörder Zapp fügte seiner Stellungnahme über Hauer den zynischen Satz hinzu: „Auch er mußte erkennen, daß es nicht in seiner Macht lag, das Unheil abzuwenden.“73 Die doppelbödige Haltung Hauers, der nach außen religiöse Toleranz predigte, aber hinter den Kulissen als gewöhnlicher Antisemit in Erscheinung trat, zeigte sich schon fünf Jahre vorher, als er 1927 nach einer zweijährigen Lehrtätigkeit in Marburg wieder nach Tübingen zurückkehrte. In einem Schreiben an das preußische Kultusministerium plädierte Hauer dafür, nicht den Juden Otto Strauß (1881–1940) zu seinem Nachfolger zu ernennen, weil die Marburger Philosophische Fakultät „schon ein reichliches Element semitischen Blutes“ habe. Im gleichen Atemzug bezeichnete er sich selbst aber als einen „scharfen Gegner des landläufigen Antisemitismus“.74 Acht Jahre später richtete Hauer im März 1935 eine offizielle Eingabe an den Reichserziehungsminister Bernhard Rust (1883–1945), in der er verlangte, den Gleichschaltungsprozess in der deutschen Indologie fortzusetzen und die noch verbliebenen jüdischen Wissenschaftler ihrer Ämter zu entheben. Der jüdische Geist sei prinzipiell unfähig, das indo72
Zusammenfassung von Hauers Bericht vom 21.9.1934, BArch Dahlwitz-Hoppegarten, ZB I 858, fol. 226. Siehe dazu auch Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft, S. 137f. 73 Niederschrift Zapps vom 1.6.1975, zitiert nach Dierks, Jakob Wilhelm Hauer, S. 243. 74 Schreiben Hauers an das preußische Kultusministerium vom 28.10.1927, BArch Koblenz, Nachlass Hauer, Bd. 123, fol. 391f.
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arische Denken zu verstehen. Juden hätten deshalb in der Indologie nichts verloren.75 An der Universität Tübingen suchte Hauer bereits vor dem nationalsozialistischen Machtwechsel die Anstellung jüdischer Dozenten zu verhindern. Ihm sei schon damals klar gewesen, dass eine „Reinigung des deutschen Volks vom jüdischen Element“ gerade an den Universitäten durchgeführt werden musste. Wie er im März 1934 Werner Best mitteilte, hätte er sich aus diesem Grund energisch dagegen gewandt, dass mit Richard Laqueur (1881–1959) „ein Professor, der zwar christlich getauft war, aber jüdischer Abstammung ist“, einen Ruf nach Tübingen erhalten konnte.76 Mit einigen anderen sei er in einem Sondervotum für die „Berufung eines deutschblütigen Professors“ eingetreten. Doch der Kampf sei den damaligen politischen Umständen entsprechend vergeblich gewesen. Vielmehr seien sie von dem Mediävisten Johannes Haller (1865–1947) wegen ihres Antisemitismus wild bekämpft worden.77 Bei Laqueur handelte es sich nicht nur um einen ausgewiesenen Althistoriker, sondern auch um ein aktives Mitglied der politischen Rechten, dessen deutschnationale Einstellung der Hallers kaum nachstand.78 Im Ersten Weltkrieg hatte Laqueur als Hauptmann ein Feldartellerieregiment angeführt und dafür hohe militärische Auszeichnungen erhalten. 1923 nahm er am Ruhrkampf teil. Mit dem Argument der nationalen Unzuverlässigkeit ließ sich seine Berufung schwerlich verhindern. Gleichwohl zog Laqueur den Unmut der nationalsozialistischen Studenten auf sich. Für die am 13. März 1932 stattfindende Reichspräsidentenwahl hatte er eine vaterländische Wahlkampfveranstaltung für Paul von Hindenburg (1847– 75 Hauer an das Reichserziehungsministerium am 4.3.1935, BArch Koblenz, Nachlass Hauer, Bd. 141, fol. 607f. Siehe dazu Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft, S. 186f. sowie ders., Das ‚Arische Seminar‘ der Universität Tübingen 1940–1945, in: Heidrun Brückner u.a., Hg., Indienforschung im Zeitenwandel. Analysen und Dokumente zur Indologie und Religionswissenschaft in Tübingen, Tübingen 2003, S. 187f. 76 Hauer an Best am 9.3.1934, BArch Koblenz, Nachlass Hauer, Bd. 66, fol. 55 bzw. Junginger, Das tragische Leben von Hans Alexander Winkler (1900–1945) und seiner armenischen Frau Hayastan (1901–1937), in: Bausteine zur Tübinger Universitätsgeschichte 7, 1995, S. 83–110, hier S. 84. 77 Hauer an Gustav Bebermeyer (1890–1975), den Gleichschaltungskommisssar der Universität, BArch Koblenz, Nachlass Hauer, Bd. 138, fol. 172 bzw. Junginger, Das tragische Leben, S. 84. 78 Zu Haller siehe Hans-Erich Volkmann, Von Johannes Haller zu Reinhard Wittram. Deutschbaltische Historiker und der Nationalsozialismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 45, 1997, S. 21–46 und Heribert Müller, ‚Eine gewisse angewiderte Bewunderung‘. Johannes Haller und der Nationalsozialismus, in: Wolfram Pyta und Ludwig Richter, Hg., Gestaltungskraft des Politischen. Festschrift für Eberhard Kolb, Berlin 1998, S. 443–482.
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1934) mitorganisiert, zu der in einer großen Zeitungsannonce aufgerufen wurde. Aufgrund dieser Anzeige veröffentlichte Alfons Gerometta für die Tübinger Hochschulgruppe des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes am 11. März einen Gegenartikel, der in markigen Worten gegen den jüdischen und zugleich deutschnational sein wollenden Professor agitierte. Laqueur, dem Gerometta das Recht absprach, für Hindenburg einzutreten, solle „sehr, sehr vorsichtig mit dem Wort vaterländisch“ umgehen. In nicht ganz korrektem Deutsch endete der Beitrag mit einer desto unverhüllteren Drohung: „Die hiesige Studentenschaft und das wissen Sie doch, daß sie in Adolf Hitler ihren Führer sieht, wird sich Ihrer mit großer Vorliebe einmal annehmen“.79 Angesichts einer derart aggressiven Hetze konnte man es Laqueur kaum verdenken, dass er 1932 einen Ruf an die Universität Halle annahm. Dort konnte er dank seines Frontkämpferbonus noch vier Jahre unterrichten, bevor er 1936 zwangsweise in den Ruhestand versetzt wurde. Nicht wegen seines Antisemitismus, sondern weil er mit seinem Artikel „gegen die Ordnung und die guten Sitten des akademischen Lebens“ verstoßen habe, wurde Gerometta vom Disziplinarausschuss der Universität für ein halbes Jahr der Hochschule verwiesen.80 Die Universität konnte das ungebührliche Verhalten des Jurastudenten Gerometta umso weniger tolerieren, als sie in ihrer Mehrheit die nationalkonservativen Ansichten Laqueurs teilte. Doch im Juli des darauf folgenden Jahres wurde Gerometta wieder amnestiert, nachdem er im Februar 1933 wegen seiner politischen Aktivitäten bereits zum Landesführer des NSDStB aufgestiegen war.81 Der politische Zwist zwischen den Studierenden und Lehrenden betraf keineswegs den auf beiden Seiten weit verbrei79
Der Artikel in der Tübinger Zeitung vom 11.3.1932 ist abgedruckt in „…treu und fest hinter dem Führer“. Die Anfänge des Nationalsozialismus an der Universität Tübingen 1926–1934. Begleitheft zu einer Ausstellung des Universitätsarchivs Tübingen (20.6.– 13.8.1983), Tübingen 1983, S. 14. Hindenburg erreichte am 13. März 49,6 Prozent und im zweiten Wahlgang am 10.4.1932 die erforderliche Mehrheit von 53,1 Prozent der Stimmen. Hitler konnte seinen Stimmanteil von 30,2 auf 36,7 Prozent steigern. 80 Adam, Hochschule und Nationalsozialismus, S. 23 sowie Mathias Kotowski, Die öffentliche Universität. Veranstaltungskultur der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Stuttgart 1999, S. 117f. Gerometta hatte fälschlicherweise Laqueur als den Initiator der Veranstaltung ausgegeben und musste deswegen am 12.3.1932 eine Richtigstellung veröffentlichen. Die Tübinger Chronik brachte am 14.3.1932 außerdem Auszüge aus der Wahlkampfrede Laqueurs. Ebd. 81 Das württembergische Kultusministerium übernahm dabei eine zu Hitlers Geburtstag erlassene Verfügung Preußens, alle akademischen Strafen aufzuheben, die Studierende aufgrund ihres Eintretens für den Nationalsozialismus erhalten hatten. Michaela Häffner, Schlägereien und Berufsverbote. Antisemitismus an der Universität, in: Geschichtswerkstatt Tübingen, Hg., Zerstörte Hoffnungen. Wege der Tübinger Juden, Tübingen 1995, S. 182.
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teten Antisemitismus, als vielmehr die revolutionäre Militanz der Studenten, die auch vor der konservativen Professorenschaft und den Hierarchien der Ordinarienuniversität keinen Halt machte. Schon in der Anfangsphase der Weimarer Republik waren die Studierenden und ihre Organisationen deutlich nach rechts gerückt, wobei ihre politische Radikalisierung durch einen starken antisemitischen Impuls vorangetrieben wurde.82 Besonders in den annähernd 50 studentischen Verbindungen, denen 70–80 Prozent der Studierenden angehörten, gewann der Antisemitismus an Boden.83 Der im April 1919 in Tübingen gegründete Nationale Studentenbund führte im Dezember 1920 den Arierparagraphen ein. Er ging im Februar 1921 in den Tübinger Zweig des Hochschulrings Deutscher Art über, der vor allem von den Burschenschaften und den schlagenden Verbindungen getragen wurde und in dem der Antisemitismus einen festen Programmpunkt bildete.84 Bis zur Mitte der zwanziger Jahre erließen fast alle Tübinger Studentenverbindungen Bestimmungen, die eine Mitgliedschaft von Juden untersagten.85 Nicht selten kam es zu Zwischenfällen und zu Übergriffen mit einem antisemitischen Hintergrund in der Stadt. In einem besonders gravierenden Fall hatte eine Meute von etwa 50 Studenten den Tübinger Holzhändler Ludwig Marx am 18. Januar 1923 nach einer Rheinlandkundgebung in aufgereizter Stimmung überfallen und mit Zurufen wie „Schlagt den Juden tot“ schwer misshandelt.86 Bis die von Ludwig Marx erstattete Anzeige vor Gericht verhandelt wurde, verging ein ganzes Jahr. Der Prozess führte durchweg zu Freisprüchen und in einigen wenigen Fällen zu Geldstrafen. Wiederum ein Jahr später kam es am 10. März 1924 vor dem Disziplinarausschuss der Universität zu einer Verhandlung gegen die beiden Rädelsführer Emil Fauth und Julius Hergarden, über die ein umfängliches Protokoll in den Universitätsakten überliefert ist. Die Urteilsbegründung erfolgte ganz im Sinne der Studenten und warf dem Juden Marx ein „aufreizendes Verhalten“ und verächtliche Blicke auf die Kriegs82
Siehe hierzu Dieter Langewiesche, Die Eberhard-Karls-Universität Tübingen in der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für württembergisch Landesgeschichte 51, 1992, S. 359f. und die bei Langewische geschriebene Dissertation Sonja Levsens, Elite, Männlichkeit und Krieg. Tübinger und Cambridger Studenten 1900–1929, Göttingen 2006, S. 165–174 und S. 338–354. 83 Adam, Hochschule und Nationalsozialismus, S. 22 und Häffner, Schlägereien und Berufsverbote, S. 174. 84 Manfred Schmid, Die Tübinger Studentenschaft nach dem Ersten Weltkrieg 1918– 1923, Tübingen 1988, S. 67f. und Martin Ulmer, Antisemitismus in der Weimarer Republik, in: Geschichtswerkstatt Tübingen, Hg., Zerstörte Hoffnungen, S. 84. 85 Häffner, Schlägereien und Berufsverbote, S. 176. 86 Eine ausführliche Schilderung ebd., S. 178–182.
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abzeichen Fauths vor.87 Und wie einige Jahre später bei Alfons Gerometta beschied der Disziplinarausschuss lediglich, dass Fauth „gegen die Anforderungen der Ordnung und guten Sitte des akademischen Lebens“ verstoßen und die Grenze des Erlaubten überschritten habe. Die schwere Körperverletzung endete schließlich mit einem Verweis und der ‚Verurteilung‘ zur Übernahme der Prozesskosten. Wie Gerometta wurden auch Fauth und Hergarden am 27. Juli 1933 amnestiert und galten nun als tapfere Vorkämpfer für die Sache des Nationalsozialismus. Der 1926 gegründete Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund gehörte zu den wichtigsten Organisationen, in denen sich lange vor dem Dritten Reich ein militanter Antisemitismus konsolidierte. Der NSDStB bildete nicht nur die Speerspitze der studentischen, sondern der universitären Judenfeindschaft insgesamt. Entgegen der Meinung Martin Biastochs lässt sich der Befund Norbert Kampes über die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus im Kaiserreich auch auf Tübingen übertragen.88 Die Entwicklung eines studentischen Antisemitismus verlief in Tübingen nicht grundsätzlich anders als an anderen Hochschulorten. Biastochs Einwand, dass einzelne Juden trotz gegenteiliger Beschlüsse in die eine oder andere Studentenverbindung aufgenommen wurden, erweist sich bei näherer Betrachtung als wenig stichhaltig, da solche Ausnahmen von der Regel auf persönlichen Motiven und nicht etwa auf der Idee beruhten, den Antisemitismus unterlaufen zu wollen. Dass der antisemitische Verein deutscher Studenten in Tübingen möglicherweise weniger einflussreich war als anderswo, kann ebenso wenig als Gegenargument gelten, weil es voraussetzt, dass dieser über eine Art antisemitisches Monopol unter den Studierenden verfügt hätte, und weil es nicht berücksichtigt, dass es an der Universität Tübingen so gut wie keine jüdischen Studenten gab, an denen sich judenfeindliche Aktionen entzünden konnten. Das gilt auch für das Fehlen spektakulärer Manifestationen des studentischen Antisemitismus, Biastochs dritter Einspruch.89 Vielmehr 87
Ebd., S. 182 (nach UAT 43a/382). Auch bei einem für sechs Monate relegierten Jurastudenten, der auf eine Vortragsankündigung des württembergischen Kultusministers Berthold Heymann (1870–1939) „Judenlump“ geschrieben hatte, wurde die antisemitische Überzeugung vom Disziplinarausschuss der Universität als mildernder Umstand gewertet. Levsen, Elite, Männlichkeit und Krieg, S. 346. 88 Norbert Kampe, Studenten und ‚Judenfrage‘ im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus, Göttingen 1988 und Martin Biastoch, Tübinger Studenten im Kaiserreich. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung, Sigmaringen 1996. 89 Biastoch, Tübinger Studenten im Kaiserreich, S. 227. Die These des Autors, dass an Universitäten wie Tübingen mit wenig jüdischen Studenten der studentische Antisemitismus geringer ausgeprägt war als an großstädtischen Hochschulen mit einer hohen
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muss die niedrige Zahl jüdischer Studenten gerade umgekehrt als Beleg für einen vorhandenen Antisemitismus oder, etwas weiter formuliert, für ein politisches Klima genommen werden, das Juden keine Entwicklungsmöglichkeit ließ. Für die Zeit der Weimarer Republik lässt sich definitiv sagen, dass die Universität Tübingen nicht nur nicht attraktiv für jüdische Studierende, sondern über die Maßen abweisend war. Als sich beispielsweise die Universität München 1922 in Tübingen nach den Zulassungskriterien für Ausländer erkundigte, erteilte die Universitätsleitung folgende Antwort: „Das akademische Rektoramt nimmt insofern Einfluß auf die Zusammensetzung der Studentenschaft, als es, wenn irgend möglich, rassefremde Ausländer (namentlich Ostjuden) nicht zuläßt und deren Deutschstämmigkeit, wenn sie behauptet wird, verneint.“90
Ein solches Votum verdeutlicht in aller Klarheit, wie es um die Bereitschaft stand, Juden in Tübingen zum Studium zuzulassen. Noch bemerkenswerter ist an dieser Stellungnahme, dass sie über zehn Jahre vor der nationalsozialistischen Machtübernahme den Gedanken der Rasse als Ausschließungskriterium und darüber hinaus als interne Handlungsdirektive benutzte, um „namentlich Ostjuden“ den Zugang zur Universität zu verwehren. Dass die Quote jüdischer Studenten in Tübingen deutlich unter einem Prozent und somit weit unter dem Reichsdurchschnitt lag, kann gar nicht anders als Konsequenz einer bewusst selektierenden Zulassungspolitik interpretiert werden.91 Es wäre absurd, aus der niedrigen Zahl jüdischer Studenten auf einen geringen Antisemitismus zu schließen. Auch die Studenten selbst drangen darauf, die Studiengesuche von Ausländern abzulehnen, sofern es sich dabei um Juden und nicht um Angehörige der „germanischen Rasse“ handelte. Dem Auslandsamt des AStA hatte der akademische Senat das Recht zugestanden, solche Zulassungsanträge Frequenz jüdischer Studenten (ebd., S. 227), übergeht man am besten mit Schweigen, denn sie impliziert, dass der Grad des Antisemitismus von der Zahl der jüdischen Studenten abhing. Nach dieser Logik wären die Juden selbst für die Judenfeindschaft verantwortlich. 90 Benigna Schönhagen, Tübingen unterm Hakenkreuz, Tübingen. Eine Universitätsstadt in der Zeit des Nationalsozialismus, Tübingen 1991, S. 84 (nach UAT 117/231 und 117 D/K 854). 91 Siehe zu den Studierendenzahlen die Tabelle bei Sylvia Paletschek, Die permanente Erfindung einer Tradition. Die Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Stuttgart 2001, S. 131. Sie weist für das Sommersemester 1928 0,46 Prozent jüdischer Studenten in Tübingen aus, dem ein reichsweiter Durchschnitt von 3,57 Prozent entgegenstand. In Preußen lag der Schnitt mit 5–6 Prozent jüdischer Studenten mehr als das Zehnfache über dem Tübinger Wert (ebd., S. 132, Fußnote 153).
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zu begutachten und zu kommentieren. Vor allem bei den so genannten „Ostjuden“ fiel das studentische Votum eindeutig aus.92 Die wenigen jüdischen Studenten in Tübingen hatten es entsprechend schwer, sofern sie ihre Zugehörigkeit zum Judentum nicht verheimlichten. Um sich gegen die antisemitische Hetze zur Wehr zu setzen, gründete ein Teil von ihnen im November 1919 den „Abwehrbund jüdischer Frontsoldaten an der Universität Tübingen“.93 Die jüdischen Studenten wollten es nicht tatenlos hinnehmen, dass sie im Ersten Weltkrieg ihr Leben für Deutschland eingesetzt hatten, nun aber als vaterlandslose Gesellen beschimpft wurden. Eine andere Möglichkeit, sich zusammenzuschließen und gemeinsame Problem zu bereden, bot die von Joseph Wochenmark (1880–1943) und seiner Frau Bella (1887–1944) betriebene koschere Pension in der Wöhrdstraße 23. Sie wurde auch für Studenten, die nicht dort wohnten, zu einem Ort der Begegnung und des politischen und geselligen Austauschs. Joseph Wochenmark war seit 1925 als Lehrer und Vorsänger der jüdischen Gemeinde angestellt. Noch 1933 promovierte er mit einer Arbeit über die jüdische Schicksalsidee bei Jakob Wilhelm Hauer.94 Als er und seine Frau zehn Jahre später von Stuttgart aus in den Osten verfrachtet werden sollten, unternahm das Ehepaar am 8. März 1943 einen gemeinsamen Selbstmordversuch, den Joseph Wochenmark nicht überlebte. Bella Wochenmark wurde wenige Wochen später im April 1943 nach Theresienstadt und im Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert, wo sie unter nicht geklärten Umständen umkam bzw. ermordet wurde.95 Lag das Quorum jüdischer Studenten an der Eberhard Karls Universität bereits außerordentlich niedrig, tendierte es bei den Professoren auch in der Weimarer Republik gegen Null. Der erste jüdische Professor im 20. Jahrhundert wurde Alfred Landé (1888–1976), der sich selbst freilich als konfessionslos empfand und, wie so oft, erst durch den Antisemitismus dazu gebracht wurde, über seine Abstammung nachzudenken. Bereits im Vorfeld seiner Berufung auf das Extraordinariat für Theoretische Physik 92
Levsen, Elite, Männlichkeit und Krieg, S. 345. Hoffmann, Schlägereien und Berufsverbote, S. 176 mit Auszügen aus der Satzung (nach UAT 117/1146). Bei Ulmer, Antisemitismus in der Weimarer Republik, S. 91 ist ein öffentlicher Aufruf des Abwehrbundes abgedruckt, der am 20.5.1920 in der Tübinger Chronik erschien. 94 Joseph Wochenmark, Die Schicksalsidee im Judentum (Veröffentlichungen des Orientalischen Seminars der Universität Tübingen, Bd. 6), Stuttgart 1933. 95 Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft, S. 191 und Martin Ulmer, Neue Heimat nach 13 Jahren Fluchtodyssee. Auf den Spuren von Arnold und Johanna Marque, in: Geschichtswerkstatt Tübingen, Hg., Zerstörte Hoffnungen, a.a.O., bes. S. 320f. und S. 325f. 93
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kam es 1922 zu Protesten und zu großenteils unsachlichen Auseinandersetzungen. Gegen das Argument der Befürworter, nur wissenschaftliche Gesichtspunkte gelten zu lassen, wandte Johannes Haller ein, dass ein Hochschullehrer nun einmal eine Vorbildfunktion für die Jugend habe, und dass man deswegen nicht von den dunklen Flecken in Landés Vita absehen könne.96 Ohne auch nur die Spur eines Beweises beizubringen, wurde Landé unterstellt, dass er Kommunist sei und durch falsche Angaben über die Art und Dauer seines Einsatzes im Ersten Weltkrieg versucht habe, sich ein nationales Image zu erschleichen.97 Der seit 1901 in Tübingen lehrende Physiker Friedrich Paschen (1865– 1947) hatte erhebliche Mühe, seinen Kandidaten durchzubringen. Paschen wusste, dass die jüdischen Vorfahren Landés den eigentlichen Hinderungsgrund darstellten und sprach von „unwissenschaftlicher Hetze“. Er werde sich auf keinen Fall der Ablehnung Landés beugen.98 Erst als er massiv damit drohte, sich bei der Berufung eines anderen Kandidaten jeglicher Zusammenarbeit zu verweigern, setzte sich das Ministerium über die Entscheidung des Senats hinweg und folgte dem Sondervotum Paschens und einiger Kollegen.99 Bevor Landé im September 1922 berufen werden konnte, traf ihn aber vorher noch ein Vertreter des Stuttgarter Kultusministeriums, Ministerialrat Dr. Buhl, zu einem persönlichen Gespräch, um ihn nicht zuletzt nach jüdischen Eigenschaften hin in Augenschein zu nehmen. Dabei habe Landé einen nichtjüdisch sympathischen Eindruck erweckt. „Sein Aeusseres verrät kaum den Juden“, meldete Buhl am 19. September 1922 über sein Treffen an das Ministerium weiter.100 Hätte Landé Buhls Klischeevorstellungen entsprochen, wäre er mit ziemlicher Sicherheit nicht berufen worden. 1929 erhielt Landé die Einladung zu einem Forschungsaufenthalt in die USA. Die sich daraus ergebenden Kontakte erlaubten es ihm, Deutschland zu verlassen und 1931 an der Ohio State University eine Professur anzunehmen. Ein Jahr vor seinem Tod sagte Landé in einem Interview, dass ihn die Tübinger Ereignisse und der antisemitisch motivierte Streit um seine Berufung schwer mitgenommen 96 Siehe zu diesen Debatten um Landé Paletschek, Die permanente Erfindung einer Tradition, S. 323 (nach den Senatssitzungen vom 12.4. und 27.7.1922, UAT 47/39, S. 604 und S. 629–631). 97 Edgar Swinne, Friedrich Paschen als Hochschullehrer, Berlin 1989, S. 92 und S. 104. 98 So Paschen in einem Brief an Arnold Sommerfeld am 24.5.1922, ebd., S. 101. 99 Ebd., S. 95f. und S. 101f. 100 Schreiben Buhls vom 19.9.1922, zitiert nach dem Bericht des Arbeitskreises Universität Tübingen im Nationalsozialismus ‚Juden an der Universität Tübingen im Nationalsozialismus‘ vom 9.1.2006, S. 2 (nach UAT 119/235), in: Wiesing u.a., Hg., Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus, S. 1093.
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hätten. Dadurch sei er sich seiner jüdischen Abkunft überhaupt erst bewusst geworden.101 Paschen war für die damaligen Verhältnisse ein außerordentlich liberaler Hochschullehrer, der keine Probleme damit hatte, Juden bei sich anzustellen oder, ebenso ungewöhnlich, eine Frau als Promovendin anzunehmen. Durch seinen Einsatz für Landé hatte er sich allerdings an der Universität ins Abseits manövriert und nahm es dankbar an, als er 1924 die ehrenvolle Berufung zum Direktor der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in Berlin erhielt.102 Für Paschen waren die Auseinandersetzungen um Landé nicht die erste Erfahrung mit dem universitären Antisemitismus in Tübingen. Zwei Jahrzehnte vorher hatte er die Habilitation seines jüdischen Assistenten Richard Gans (1880–1954) nur mit großer Mühe und gegen erbitterte Widerstände durchsetzen können. Auch damals verwahrte sich Paschen dagegen, dass die Karriere eines jungen und begabten Physikers aufgrund politischer Borniertheit verhindert werden sollte. Wie er im Juli 1903 an seinen akademischen Lehrer in Bonn Heinrich Kayser (1853–1940) schrieb, sei die Habilitation von Gans fast unmöglich gewesen. In Tübingen werde „einer alten Tradition gemäß“ kein Jude in den Lehrkörper hineingelassen, so unmoralisch und unzeitgemäß das auch sei. Die Argumentation Paschens verdient es, ausführlich zitiert zu werden: „Da kommt noch ein anderer Punkt. Hr. Dr. Gans ist jedenfalls israelischer Abstammung, wenn er auch jetzt wahrscheinlich keinen Gebrauch mehr von seiner Religion macht. Es hat mich große Kämpfe gekostet seine Habilitation hier durchzusetzen, da hier einer alten Tradition gemäß kein Jude im Lehrkörper sein soll. So unzeitgemäß und unmoralisch dies auch ist, so ist es doch einmal eine Thatsache, mit der ich rechnen muß.“
Wenn jetzt, wie Kayser vorgeschlagen hatte, ein weiterer jüdischer Habilitand nach Tübingen käme, würde ein Sturm der Entrüstung gegen ihn losbrausen. „Ob ich ein zweites Mal dagegen aufkäme, scheint mir zwei101
Das Interview fand am 3.10.1973 statt. Siehe Stefan L. Wolff, Die Ausgrenzung und Vertreibung von Physikern im Nationalsozialismus. Welche Rolle spielte die Deutsche Physikalische Gesellschaft?, in: Dieter Hoffmann und Mark Walker, Hg., Physiker zwischen Autonomie und Anpassung. Die Deutsch Physikalische Gesellschaft im Dritten Reich, Berlin 2007, S. 91–138, hier S. 107. 102 Siehe dazu den Brief an seinen Nachfolger Walther Gerlach (1889–1979) vom 15.11.1924, Swinne, Friedrich Paschen als Hochschullehrer, S. 109f. Im Mai 1933 verlor Paschen das Direktorat aber wieder, weil er bei einer aus Anlass der Machtergreifung abgehaltenen Feier in der Reichsanstalt die Hakenkreuzfahne einholte. Daraufhin wurde er durch den NS-Physiker Johannes Stark (1874–1957) ersetzt.
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felhaft“. Wäre der Kandidat „mit Sicherheit Israelit, so wäre es besser für ihn, sich hier nicht zu melden. Ich würde ja gerne bereit sein, auch für ihn eine Lanze zu brechen, falls er ein tüchtiger und aussichtsreicher junger Physiker ist. Aber ich fürchte, daß es vergeblich wäre, wenn meine Vermuthung betr. der Religion zutrifft.“103 Die erfolgreiche Lehr- und Forschungstätigkeit von Gans veranlasste Paschen fünf Jahre später, eine außerordentliche Professur für seinen Schüler zu beantragen. Dass nun sowohl die Naturwissenschaftliche Fakultät als auch der Senat Paschens Vorstoß befürwortete und dass seine Königliche Majestät am 30. Dezember 1908 „allergnädigst geruhte, dem Privatdozenten Dr. Richard Gans, Assistent am physikalischen Institut der Universität Tübingen, den Titel und Rang eines außerordentlichen Professors zu verleihen“,104 lag auch an seinen wissenschaftlichen Verdiensten, die dazu beitrugen, das Ansehen der Universität zu erhöhen. Noch wichtiger war es aber, dass sich Gans bereits während des Studiums vom Judentum abgewandt und in einen durch und durch nationalistischen Deutschen verwandelt hatte. Während des Ersten Weltkriegs verlor er einen großen Teil seines Vermögens durch die Zeichnung von Kriegsanleihen, und auch die Aussage eines Zeitgenossen, dass Gans Nationalsozialist geworden wäre, wenn ihn nicht seine jüdische Abstammung daran gehindert hätte, mag nicht ganz aus der Luft gegriffen sein.105 Als sich Gans 1911 an die Universität Straßburg umhabilitierte, verlor er mit dem Verlassen des Königreichs Württemberg zunächst auch seinen Titel als außerordentlicher Professor. Auf Initiative des Straßburger Rektors beim Kaiserlichen Statthalter in Elsaß-Lothringen wurde Gans am 3. Januar 1912 jedoch erneut der Professorentitel verliehen.106 Im gleichen Jahr wechselte Gans auf eine ordentliche Professur an die Universität La Plata in Argentinien. 1925 erhielt er einen Ruf an die Universität Königsberg, den er mit Freuden annahm, um nach Deutschland zurückzukehren zu können. Für eine Lehrtätigkeit in seinem Heimatland blieb ihm noch ein Jahrzehnt, da er 1935 103 F. Paschen an H. Kayser am 7.7.1903, zitiert nach Swinne, Friedrich Paschen als Hochschullehrer, S. 45 sowie ders., Richard Gans, Hochschullehrer in Deutschland und Argentinien, Berlin 1992, S. 13f. 104 Swinne, Richard Gans, S. 17. 105 „Er war zwar ein Gegner der Nazis, aber hauptsächlich, weil sie Antisemiten waren. Sonst war er der Typus des ‚Deutschnationalen‘. Ich sagte einmal in einer Diskussion: ‚Herr Gans, wenn Sie nicht Jude wären, wären Sie ein strammer Nazi!‘ Er wies diese Darstellung nicht zurück.“ Heinz Schmellenmeier, Die ‚Affäre Prof. Dr. Richard Gans‘, in: Swinne, Richard Gans, S. 125; zur Zeichnung der Kriegsanleihen, ebd., S. 51f., zur Abwendung vom Judentum, S. 87. 106 Swinne, Richard Gans, S. 29f.
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wegen seiner jüdischen Vorfahren in Königsberg im Alter von 55 Jahren zwangsweise in den Ruhestand versetzt wurde.107 Der spätere Nobelpreisträger Hans Albrecht Bethe (1906–2005) wurde an der Universität Tübingen im Wintersemester 1932/33 mit der Vertretung des Extraordinariats für Theoretische Physik betraut. Sein Werdegang ähnelt in gewisser Weise dem Landés. Bethe gehörte ebenfalls der Sommerfeldschule der Theoretischen Physik an und war 1928, vierzehn Jahre nach Landé, bei Arnold Sommerfeld (1868–1951) in München promoviert worden. Und auch unter Bethes Vorfahren befanden sich etliche Juden, da seine Mutter Anna geb. Kuhn (1876–1966) aus einer jüdischen Familie stammte. Bethes jüdischer Großvater hatte es sogar geschafft, an der Universität Straßburg Professor für Medizin zu werden.108 Als Bethe geboren wurde, lehrte auch sein Vater als Privatdozent in Straßburg. Dieser erhielt 1915 einen Ruf an die neu gegründete Universität Frankfurt, wo sein Sohn deshalb 1924 ein Studium der Physik, Mathematik und Chemie aufnahm. Hans Bethe wurde christlich erzogen und wuchs in einem betont liberalen und demokratischen Elternhaus auf. Sein Vater, der bekannte Physiologe Albrecht Bethe (1872–1954), ließ sich als Kandidat für die Demokratische Partei bei den Wahlen zum Stadtparlament aufstellen und pflegte enge Beziehungen zur sozialistischen Stadtregierung, nachdem er 1917 zum Rektor der Universität gewählt worden war.109 Bereits in jungen Jahren sei er für politische Fragen sensibilisiert worden, schrieb Hans Bethe später.110 Dass er die allgemeine Atmosphäre in Tübingen als bedrückend empfand, wird auf dem Hintergrund seiner familiären Situation leicht verständlich. In einem Brief an Uwe Dietrich Adam schrieb er Ende 1975, dass er sich „wegen der allgemeinen Einstellung des Lehrkör-
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Siehe zur Vita von Gans außer den genannten Arbeiten Swinnes den Artikel seines frühen Studenten und späteren Freundes Walther Gerlach (Neue Deutsche Biographie, Bd. 6, 1964, S. 64f.) sowie Hans-Joachim Lang, Sein Feld war die Welt. Der Physiker Richard Gans wurde als einer der ersten Juden an der Tübinger Universität habilitiert, in: Schwäbisches Tagblatt, 26.6.2004, S. 27 und Pedro Waloschek, Todesstrahlen als Lebensretter. Tatsachenberichte aus dem Dritten Reich, Nordstedt 2004, S. 33–64. 108 Siehe die Biographie von Jeremy Bernstein, Prophet der Energie: Hans Bethe, Stuttgart 1988 (erste engl. Aufl. 1980), S. 8–11. 109 20 Jahre später wurde er auch dafür, formal aber wegen „jüdischer Versippung“ und seiner Weigerung, sich scheiden zu lassen, zwangsemeritiert. Jörn Kobes und Jan O. Hesse, Hg., Frankfurter Wissenschaftler zwischen 1933 und 1945, Göttingen 2008, S. 144f. Der Gaudozentenbundsführer Heinrich Guthmann nannte Bethes Ehefrau 1943 den „Typus einer frechen Jüdin“, Heiber, Die Kapitulation der Hohen Schulen, S. 573. 110 Bernstein, Prophet der Energie, S. 11.
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pers“ von Beginn an unwohl gefühlt habe.111 Selbst in seinen Vorlesungen hätten viele Studenten das Braunhemd und die Embleme der nationalsozialistischen Organisationen getragen.112 Bethe rechnete nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten bereits damit, dass er wegen seines „Geburtsfehlers“ unter das Beamtengesetz fallen würde. Er bat deshalb in einem langen Brief an Arnold Sommerfeld am 11. April 1933 um Rat, wie er sich verhalten solle und inwieweit für ihn eine Chance im Ausland bestünde. Es sei nicht anzunehmen, „daß der Antisemitismus sich in absehbarer Zeit abschwächen wird, und auch nicht, daß man die Definition des Ariers abändern wird.“113 Neun Tage später wurde Bethe dann tatsächlich die Lehrbefugnis entzogen. Er erfuhr als erstes von einem Doktoranden davon, der brieflich bei ihm anfragte, was er denn nun tun und wen er sich jetzt zum Doktorvater nehmen solle.114 Bethe emigrierte im Oktober 1933 nach England, um von dort aus 1935 in die USA überzusiedeln. Unter dem Eindruck des Dritten Reiches und seiner Kriege wirkte er bei der Entwicklung der amerikanischen Atom- und Wasserstoffbombe mit. Später distanzierte er sich jedoch davon. 1995 rief er in einem offenen Brief an seine Kollegen dazu auf, die Arbeit an den Nuklearwaffen einzustellen. Unter der großen Zahl seiner wissenschaftlichen Ehrungen ragt zweifellos der Nobelpreis für Physik heraus, den Bethe 1967 erhielt. Wie sehr sich die Universität gegen die Aufnahme jüdischer Professoren zur Wehr zu setzen wusste, wird auch am Beispiel Victor Ehrenbergs (1891–1976) ersichtlich, der sich wie Richard Laqueur auf die Nachfolge für den nach dem Weggang Joseph Vogts (1895–1986) freigewordenen Lehrstuhl für Alte Geschichte beworben hatte. Im Gegensatz zu Laqueur war der 1920 in Tübingen promovierte und mit Franz Rosenzweig befreundete Ehrenberg aber kein nationalistischer Reaktionär, sondern ein liberaler Großbürger. In einem Schreiben des Kanzleramts an das Kultusministerium heißt es über ihn, dass ein „ausgesprochen semitischer Typus“ wie Ehrenberg nicht in das „Tübinger Milieu“ passen würde. Und auch mit der darauf folgenden Bemerkung hatte das Kanzleramt nicht ganz Unrecht, dass es nämlich viele Kollegen als Erleichterung empfinden würden, „wenn dieser Kelch an ihnen vorüberginge“. Lange vor der na111 Adam, Hochschule und Nationalsozialismus, S. 29, aus einem Brief Bethes vom 3.12.1975 zitierend. 112 Bernstein, Prophet der Energie, S. 26. 113 Geheimrat Sommerfeld – Theoretischer Physiker. Eine Dokumentation aus seinem Nachlass (Ausstellung im Deutschen Museum vom 6.12.1984–3.2.1985), München 1984, S. 142. 114 Bernstein, Prophet der Energie, S. 27.
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tionalsozialistischen Machtübernahme fasste das Kanzleramt, das heißt eine der zentralen Instanzen der Universität, seinen Standpunkt in dem Satz zusammen: „Ehrenberg ist überzeugter Jude und trägt ausgeprägt semitische Züge, wozu auch die Neigung zum Geistreichseinwollen gehört.“115 Der ebenfalls zur Debatte stehende Fritz Taeger (1894–1960) solle indes nicht offiziell vor Ehrenberg platziert werden, weil die „geistige Potenz“ bei Ehrenberg zugegebenermaßen größer sei und weil ansonsten die Gefahr bestehe, dass eine solche Maßnahme „auf politische Gesichtspunkte zurückgeführt werden“ könnte.116 Der Althistoriker Ehrenberg mochte ein noch so guter Wissenschaftler sein, als Jude, zudem mit ‚typisch jüdischen Eigenschaften‘, war er für das Tübinger Milieu untragbar. Berufen wurde 1932 stattdessen der bis dahin fachlich kaum hervorgetretene Woldemar Uxkull-Gyllenband (1898–1939), der auch danach so gut wie nichts publizierte. Uxkull-Gyllenband starb am 24. Mai 1939 nach einem Autounfall zwischen Tübingen und Reutlingen.117 Das antisemitische Votum des Kanzleramts aus dem Jahr 1930 verstieß zwar gegen geltendes Recht, entsprach aber der tatsächlichen Lage und charakterisierte die Chancen, die ein Jude trotz herausragender Fähigkeiten bei einer Berufung auf eine geisteswissenschaftliche Professur in Tübingen hatte. Ob hierfür ein „Vertrauensmann zur Verhütung der weiteren Verjudung der Professorenschaft in Tübingen“ benötigt wurde, ein Amt, das der Ordinarius für Indogermanische und Slawische Philologie Ernst Sittig (1887–1955) seit 1931 ausgeübt zu haben behauptete, erscheint wenig plausibel und muss wohl eher als eine nachträgliche Übertreibung früherer NS-Meriten gesehen werden.118
115 Schreiben des Kanzleramts an das württembergische Kultusministerium am 25.5.1930, zitiert nach Christhard Hoffmann, Juden und Judentum im Werk deutscher Althistoriker des 19. und 20. Jahrhunderts, Leiden 1988, S. 198 (nach UAT 119, 150). 116 Ebd. 117 Der aus deutsch-baltischem Adel stammende Uxkull-Gyllenband besaß schon als Student ein Auto. Er gehörte dem George-Kreis an und äußerte sich gelegentlich auch antisemitisch und pronazistisch. Seine Persönlichkeit lag der Fakultät weitaus näher als Victor Ehrenberg. Siehe zu Uxkull-Gyllenband den Eintrag von Hartmut Blum in Maria Magdalena Rückert, Hg., Württembergische Biographien, Bd. 1, Stuttgart 2006, S. 283– 285. 118 Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz, Teil 1, Der Professor im Dritten Reich. Bilder aus der akademischen Provinz, München 1991, S. 388, Conrad Grau u.a., Die Berliner Akademie der Wissenschaften in der Zeit des Imperialismus, Teil 3, Die Jahre der faschistischen Diktatur 1933 bis 1945, Berlin 1979, S. 283 und S. 315 sowie Stefan Rebenich, Zwischen Anpassung und Widerstand? Die Berliner Akademie der Wissenschaften von 1933 bis 1945, in: Beat Näf, Hg., Antike und Altertumswissenschaft in der Zeit von Faschismus und Nationalsozialismus, Mandelbachtal 2001, S. 210.
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Angesichts einer gezielt selektierenden Berufungspolitik kann es nicht verwundern, dass an der Universität Tübingen kaum jemand dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums zum Opfer fiel. Mit Ausnahme des „Halbjuden“ Bethe gab es schlichtweg niemand, der wegen seiner jüdischen Vorfahren entlassen zu werden brauchte. Streng genommen handelte es sich bei Bethe auch nicht um eine Entlassung, sondern um die Rücknahme der am 9. November 1932 ausgesprochenen Beauftragung zur Wahrnehmung einer Vertretungsprofessur.119 Die einzige politische Maßnahme sensu stricto betraf den religionswissenschaftlichen Privatdozenten und Assistenten Jakob Wilhelm Hauers, Hans Alexander Winkler (1900–1945). Wegen seiner früheren Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei sah er sich gezwungen, „freiwillig“ seinen Lehrauftrag niederzulegen, nachdem man ihm suggeriert hatte, dass er sich auf diese Weise die Möglichkeit einer späteren Wiederverwendung bewahren könnte. Zusammen mit seiner Frau Hayastan (1901–1937), die am Indogermanisch-slawischen Seminar eine Lektorenstelle für Russisch innehatte, bat Winkler am 22. September 1933 schriftlich darum, auf die Lehrberechtigung „verzichten zu dürfen“.120 Obwohl der außerordentliche Professor für Philosophie Traugott Konstantin Oesterreich (1880–1947) am 23. September 1933 formal aus politischen Gründen nach Paragraph vier seines Amtes enthoben wurde, bestand der eigentliche Anlass dafür in seiner Ehe mit einer Jüdin.121 Auch der Mathematiker Erich Kamke (1890-1961) wurde im November 1937 wegen seiner „jüdischen Versippung“ in den vorzeitigen Ruhestand versetzt, wobei es keine Rolle spielte, dass seine Frau längst den evangelischen Glauben angenommen hatte. Zudem musste seine Tochter 1942 als Halbjüdin ihr Studium aufgeben.122 Der Mathe119 „Die dem Privatdozenten Dr. Bethe übertragene Professur für theoretische Physik wird mit sofortiger Wirkung zurückgezogen.“ Schreiben des württembergischen Kultusministeriums an das Akademische Rektoramt am 20.4.1933, in: USA – Universität Tübingen. Die Amerika-Beziehungen der schwäbischen Landesuniversität im Kaleidoskop, bearbeitet von Volker Schäfer, Tübingen 1976, S. 156. 120 Junginger, Das tragische Leben von Hans Alexander Winkler, S. 92. 121 Oesterreichs Frau bezeichnete sich selbst als eine „konfessionell ungebundene Jüdin mosaischer Religion“, Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft, S. 118f. Oesterreich selbst schrieb am 24.7.1945 an die Württembergische Landesverwaltung für Kultur, Unterricht und Kunst: „Ich bin mit einer Jüdin verheiratet und falle durch meine positive Stellung zur Demokratie seit jeher aus dem Rahmen der Tübinger Universitätsatmosphäre heraus.“ UAT, Personalakte Oesterreich 126/488. Siehe außerdem Sabine Besenfelder, ‚Staatsnotwendige Wissenschaft‘. Die Tübinger Volkskunde in den 1930er und 1940er Jahren, Tübingen 2002, S. 89f. 122 Hans-Joachim Lang, Adelheid Muckelmann: Nach und nach nahmen die Querelen zu. Die Tochter des 1937 von den Nazis entlassenen Mathematik-Professors Erich Kamke wurde 1942 als ‚Halbjüdin‘ aus dem Studium gedrängt, in: Schwäbisches Tagblatt,
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matiker und Dozentenschaftsleiter Erich Schönhardt (1891–1979) wollte seinen Kollegen dadurch entlasten, dass er für die weiterhin ablehnende Einstellung Kamkes dem Nationalsozialismus gegenüber seine nichtarische Ehefrau verantwortlich zu machen suchte.123 In der Medizinischen Fakultät verlor zumindest ein Privatdozent aufgrund der nationalsozialistischen Rassengesetze seine Lehrberechtigung. Weil er als Mischling 1. Grades galt, wurde dem Psychiater Otto Kant (1899–1960) 1938 die Venia legendi entzogen.124 Bei dem 1926 habilitierten Privatdozenten und Oberarzt Siegfried Adolf Heidenhain (1894–1937) sprechen Grüttner und Kinas dagegen von einem freiwilligen Rücktritt mit politischem Hintergrund. Heidenhain, ein entschiedener Gegner des Nationalsozialismus, ließ sich wegen seiner jüdischen Herkunft reaktivieren und zog 1935 nach Berlin, wo er als Stabsarzt tätig wurde. 1934 war ihm der Titel eines außerordentlichen Professors verweigert worden.125 Mit Hans Stamm (geb. 1905, Todesdatum unbekannt) quittierte an der Tübinger Nervenklinik noch ein dritter Arzt jüdischer Abstammung den Dienst.126 Der Privatdozent und Oberarzt an der Hautklinik Karl Hermann Vohwinkel (1900–1949) schied 1937 auf eigenen Antrag aus der Universität aus, da ihm aus politischen Gründen die Umhabilitierung nach Würzburg verwehrt wurde. Der Pharmakologe Paul Pulewka (1896–1989) kam
11.1.2006, S. 21. Der Tübinger Rektor Friedrich Focke denunzierte die Ehefrau Kamkes wenige Monate vor seiner Entlassung in einem Schreiben an das Stuttgarter Kultusministerium mit den Worten: „Erwähnen will ich noch, daß seine Frau wegen ihrer unleidlichen jüdischen Eigenschaften in Dozentenkreisen von jedem allgemein abgelehnt wurde.“ Ebd. 123 Er schrieb in einem Gutachten am 11.3.1936 über Kamke: „In nationaler Hinsicht halte ich ihn für einwandfrei. Dem Nationalsozialismus gegenüber verhielt er sich vor der Machtübernahme ziemlich ablehnend. Ich habe auch jetzt noch den Eindruck, dass er in dieser Hinsicht Hemmungen hat, die ich darauf zurückführe, dass er mit einer nichtarischen Frau verheiratet ist.“ Besenfelder, ‚Staatsnotwendige Wissenschaft‘, S. 96 (nach UAT 126/319a). Schönhardt wurde 1938 ordentlicher Professor an der TH Stuttgart, wo er von 1938–1942 auch das Rektorat innehatte. Michael Grüttner, Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, Heidelberg 2004, S. 153. 124 Michael Grüttner und Sven Kinas, Die Vertreibung von Wissenschaftlern aus den deutschen Universitäten 1933–1945, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55, 2007, S. 185 (nach BArch Berlin, R 4901/312, fol. 418). 125 Ebd. und Lili Zapf, Die Tübinger Juden. Eine Dokumentation, Tübingen 1981 (Erstauflage 1974), S. 50f. Heidenhains Großvater war der bekannte Anatom Martin Heidenhain (1864–1949), seit 1917 ordentlicher Professor und Direktor des Anatomischen Instituts in Tübingen. Bereits Martin Heidenhains Großvater war zum Christentum übergetreten. 126 Bericht des Arbeitskreises Universität Tübingen im Nationalsozialismus „Juden an der Universität Tübingen im Nationalsozialismus“, a.a.O., S. 6.
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seiner Entlassung wegen „jüdischer Versippung“ durch die Emigration in die Türkei zuvor.127 An der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät liefen Ende März 1933 die Verträge der beiden jüdischen Assistenten Helmut Erlanger (1908–1982) und Ludwig Weinheber (geb. 1904, Todesdatum unbekannt) aus und wurden nicht verlängert.128 Der durch den Nationalsozialistischen Studentenbund dominierte AStA hatte schon am 7. Februar 1933 die Entlassung Weinhebers sowie seine schnellstmögliche Ersetzung „durch einen deutschen Volksgenossen“ verlangt.129 Über sein weiteres Schicksal ist wenig bekannt. 1943 taucht sein Name als Mitglied des deutschen Judenrats im Durchgangsghetto Izbica in Ostpolen auf.130 Weinheber starb vermutlich in einem der beiden Konzentrationslager Belzec oder Sobibór, für die Izbica hauptsächlich als Durchgangslager diente. Am 8. Mai 1945 wurde er für tot erklärt. Wegen seiner Betätigung in linksgerichteten Jugendorganisationen galt Helmut Erlanger dem württembergischen Innenministerium als gefährlicher Agitator und „geistiger Kopf“ der SPD. Als Leiter der sozialistischen Jugendorganisation der Roten Falken hielt Erlanger antifaschistische Reden in den Dörfern der Tübinger Umgebung. Am 30. März 1933 wurde er verhaftet und bis zum 7. August im Konzentrationslager Heuberg gefangen gehalten. Währenddessen wurde er am 7. April 1933 infolge des Berufsbeamtengesetzes als Referendar beim Land-
127 Grüttner und Kinas, Die Vertreibung von Wissenschaftlern aus den deutschen Universitäten, S. 185. Die hier noch genannten Karl Heinrich Rengstorf (1903–1992), dem 1936 in Kiel die Lehrbefugnis entzogen wurde, und der Anglist Rudolf Hittmair (1889– 1940), der 1938 in Wien wegen politischer Unzuverlässigkeit entlassen wurde, lassen sich dagegen kaum als Tübinger Verfolgung bezeichnen. Dem Lehrbeauftragten für Pharmazeutische Gesetzeskunde Roland Schmiedel (1888–1966), der seit 1936 an der Universität Tübingen tätig war, wurde 1937 wegen seiner Zugehörigkeit zum Freimaurertum der Lehrauftrag entzogen. Ebd. 128 Bericht des Arbeitskreises Universität Tübingen im Nationalsozialismus „Juden an der Universität Tübingen im Nationalsozialismus“, a.a.O., S. 6f. und Klaus-Rainer Brintzinger, Die Wirtschaftswissenschaftliche Abteilung im Nationalsozialismus, in: Wiesing u.a., Hg., Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus, S. 209f. 129 Alf Lüdke, Vom Elend der Professoren, in: Martin Doehlmann, Hg., Wem gehört die Universität? Untersuchungen zum Zusammenhang von Wissenschaft und Herrschaft anlässlich des 500jährigen Bestehens der Universität Tübingen, Lahn-Gießen 1977, S. 99–127, hier S. 106. 130 Siehe zu Izbica Robert Kuwaɫek, Die letzte Station vor der Vernichtung. Das Durchgangslager in Izbica, in: Andrea Löw u.a., Hg., Deutsche – Juden – Polen. Geschichte einer wechselvollen Beziehung im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2004, S. 165.
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gericht Tübingen aus dem Justizdienst entlassen. Erlanger floh noch im gleichen Jahr in die Schweiz und 1934 über Frankreich in die USA.131 Dass die Universität Tübingen die niedrigste Entlassungsquote unter allen deutschen Universitäten aufweist, kann kaum verwundern, da sie den unter das Berufsbeamtengesetz fallenden Personenkreis bereits lange vorher von sich ferngehalten hatte. Die beiden von Grüttner und Kinas wiedergegebenen Tabellen über die Entlassungen an den deutschen Universitäten zwischen 1933 und 1936 bzw. zwischen 1933 und 1945 zeigen Tübingen jeweils weit abgeschlagen auf dem letzten Platz.132 Hatte die Universität Berlin in den ersten vier Jahren des Dritten Reiches eine Einbuße von 32,4 Prozent ihres Lehrkörpers hinzunehmen, betrug die Zahl der in Tübingen Entlassenen lediglich 1,6 Prozent. Der Abstand zu der an vorletzter Stelle rangierenden Universität Rostock (4,2 Prozent) liegt dagegen bei 2,6 Prozent, der zum reichsweiten Durchschnitt (16,3 Prozent) bei 14,7 Prozent.133 Bei einer Auflistung der Ordinarien würde das Ergebnis für Tübingen noch ernüchternder ausfallen und entspräche den null Prozent entlassener Dozentinnen. Auch beim Anteil des weiblichen Lehrpersonals hält Tübingen zusammen mit drei anderen Universitäten die rote Laterne, obgleich Frauen überproportional stark von der nationalsozialistischen Entlassungswelle betroffen waren. Da in Tübingen (wie in Erlangen, Königsberg und Münster) im Wintersemester 1932/33 keine einzige Frau dem Lehrkörper angehörte, konnte auch keine Dozentin unter das Berufsbeamtengesetz fallen.134 Mit Landé hatte der einzige jüdische Professor die Universität Tübingen im Jahr 1931 verlassen. Die Rücknahme der Lehrbefugnis des mit einer Vertretungsprofessur beauftragten Privatdozenten Hans Bethe lässt sich dagegen schwerlich als Entlassung eines Juden bezeichnen. Über seine Mutter, die sich schon bei ihrer Heirat taufen ließ, hatte Bethe zwar jüdische Vorfahren. Aber er selbst verstand sich 131
Zapf, Die Tübinger Juden, S. 130 sowie Ulmer, Antisemitismus in der Weimarer Republik, in: Geschichtswerkstatt Tübingen, Hg., Zerstörte Hoffnungen, a.a.O., S. 97f. sowie Ulrike Baumgärtner, ‚Es war nie Auswanderung, immer nur Flucht. Die Vertreibung der Juden aus Tübingen, ebd., S. 278–280. 132 Grüttner und Kinas, Die Vertreibung von Wissenschaftlern aus den deutschen Universitäten, S. 126f. und S. 140. Die Autoren schließen hier an die Zahlen Edward Yarnell Hartshornes (1912–1946) an, der für seine 1937 erschienene Doktorarbeit (German universities and National Socialism, London 1937) Deutschland bereist hatte und der nach dem Krieg als „higher education officer“ in der amerikanischen Besatzungszone tätig war. Hartshorne wurde 1946 in Deutschland von einem Kriminellen erschossen. 133 Ebd., S. 126f. Zum Lehrkörper werden gerechnet: Ordinarien, außerordentliche Professoren, Honorarprofessoren, Privatdozenten, Lektoren, Lehrbeauftragte und sonstige Lehrkräfte, nicht aber Emeriti und nichthabilitierte Assistenten. 134 Die entsprechende Tabelle, ebd., S. 142.
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keinesfalls als Jude und war der Religion nach ein getaufter Christ.135 Nur in der Perspektive der nationalsozialistischen Rassengesetze handelte es sich bei Bethe um die Entfernung eines jüdischen Hochschullehrers. Man sollte hier sehr vorsichtig sein und die Terminologie des Dritten Reiches nicht gedankenlos übernehmen. De facto wurde an der Universität Tübingen kein einziger Jude, das heißt ein Hochschullehrer mosaischen Glaubens oder ein Hochschullehrer, der sich aus anderen Gründen als Jude verstand, entlassen, weil sie im Jahr 1933 längst die Kriterien des Berufsbeamtengesetzes erfüllte. Die Ausgangsfrage dieses Kapitels nach dem Grad der Institutionalisierung einer jüdischen Theologie, Judaistik oder der Wissenschaft des Judentums in der Weimarer Republik erübrigt sich, wenn die Zugehörigkeit zum Judentum bereits auf der Ebene der privaten Religiosität als Verbotskriterium für den Eintritt in einen akademischen Beruf galt. In ihrer Einstellung den Juden gegenüber befand sich die Universität Tübingen noch ganz in der voremanzipatorischen Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts, die durch den politischen Umbruch des Jahres 1919 so gut wie unbeeinflusst blieb. Sucht man nach einer Antwort auf die Frage, warum sich der universitäre Antisemitismus in der Weimarer Republik im offenen Widerspruch zur neuen Gesetzeslage nahezu unverändert halten, ja sogar noch verschärfen konnte, muss neben der langen judenfeindlichen Tradition der Universität sicherlich die Niederlage im Ersten Weltkrieg als entscheidender Faktor berücksichtigt werden. Das Anwachsen des Antisemitismus beruhte zu einem guten Teil darauf, dass man den Juden die Schuld für den Krieg und seine verheerenden Folgen in die Schuhe schieben und gleichzeitig von der eigenen Verantwortung ablenken konnte. Denn auch die Universität Tübingen gehörte zu den Institutionen des Staates, die alles in ihrer Macht stehende getan hatten, um die Kriegsbegeisterung der Deutschen wach zu halten und sie von der Notwendigkeit des Krieges gegen die Feinde des Reiches zu überzeugen. Möglicherweise argumentierten die Professoren der Eberhard Karls Universität nicht ganz so extrem wie andere Hochschullehrer, die sich für noch weiter gehende Kriegsziele einsetzten. Dass sie aber in nicht geringem Maße zur Aufhetzung des deutschen Volkes beitrugen und dafür die Verantwortung zu übernehmen gehabt hätten, steht außer Zweifel.136 Etwa 60 Prozent des Tübinger Lehr135
Besenfelder, ‚Staatsnotwendige Wissenschaft‘, S. 87f. Wenn Sylvia Paletschek, Tübinger Hochschullehrer im Ersten Weltkrieg: Kriegserfahrungen an der ‚Heimatfront‘ Universität und im Feld, in: Gerhard Hirschfeld u.a., Hg., Kriegserfahrungen, Essen 1997, S. 83–106 schreibt, dass die Professoren der Universität Tübingen in ihrer Kriegsverherrlichung und ihrem nationalistischen Pathos „relativ moderat“ und „relativ gemäßigt“ gewesen seien (S. 87, S. 90 und S. 105), gilt das 136
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körpers (reichsweit durchschnittlich 70 Prozent) unterschrieben die „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches“ vom 23. Oktober 1914, in der es heißt, dass zwischen dem Geist der deutschen Wissenschaft und dem preußischen Militarismus kein Gegensatz bestehe. „In dem deutschen Heere ist kein anderer Geist als in dem deutschen Volke, denn beide sind eins, und wir gehören auch dazu.“137 Je offensiver die Juden als die Verursacher und zugleich Nutznießer des Kriegs hingestellt wurden, desto weniger brauchte man das eigene Verhalten zu hinterfragen. In einem antisemitischen Weltbild erschien es nicht nur legitim, sondern ideologisch geboten, den alten Kampf gegen die politischen Strömungen des Liberalismus, Sozialismus, Feminismus usw. wieder aufzunehmen, den man bereits vor dem Krieg geführt hatte. Auch die Ablehnung der Demokratie und ihrer politischen Gleichheitsidee gingen Hand in Hand mit dem akademischen Antisemitismus. In einer Sitzung des Großen Senats am 25. Februar 1933 sagte der Jurist und Universitätskanzler August Hegler (1871–1937), dass in Tübingen die „Judenfrage“ dadurch gelöst worden sei, dass man nicht von ihr gesprochen habe.138 Er wollte damit das Verdienst der Universität zum Ausdruck bringen, dass sie keine Juden und somit auch kein „Judenproblem“ hatte. Auch der Biologe Ernst Lehmann (1880–1957) hieb mit seiner Aussage, dass es in Tübingen nicht notwendig gewesen sei, offen über die „Judenfrage“ zu sprechen, in die gleiche Kerbe. Denn „jüdische Professoren hat Tübingen ja ohne viel Worte zu machen stets von sich fernzuhalten gewusst“.139 Wenn es gar nicht mehr anders ging, konnte man auch schon einmal einen jüdischen Dozenten oder einen nicht etatmäßigen außerplanmäßigen Professor zulassen. Aber der innere Burgring des Lehrkörpers blieb für Juden unüberwindbar. Wie es schon Friedrich Paschen formuliert hatte, hielt die Universität Tübingen auch in der Weimarer Republik an ihrer Maxime fest, Juden hier den Zutritt unter allen Umständen nur mit Bezug auf noch extremere Positionen, wie sie etwa vom Seebergkreis vertreten wurden. Würde man diese als Vergleichsgröße weglassen, wäre die Aussage falsch und irreführend. Siehe außerdem Mathias Kotowski, ‚Noch ist ja der Krieg nicht zu Ende‘: Weltkriegsdenken der Universität Tübingen in der Weimarer Republik, in: ebd., S. 424– 438. 137 „Unser Glaube ist, dass für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt, den der deutsche ‚Militarismus‘ erkämpfen wird.“ Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches, Berlin 1914 und Paletschek, Tübinger Hochschullehrer im Ersten Weltkrieg, S. 88. An der bekannten Adresse Johannes Hallers vom 4.10.1917 beteiligten sich etwa 35 Prozent des Tübinger Lehrkörpers (reichsweit etwa 25 Prozent), ebd., S. 89. 138 Adam, Hochschule und Nationalsozialismus, S. 30 (nach UAT 47/40, S. 170). 139 Ernst Lehmann, Die Biologie an der Zeitenwende, in: Der Biologe, 1935, S. 375–381, hier S. 376.
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zu verwehren. Diese tief sitzende Abneigung überdauerte alle Emanzipationsanstrengungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Weder im Kaiserreich noch in der Weimarer Republik kümmerte es die Universität, dass sie durch ihre Verhalten in eklatanter Weise gegen geltendes Recht verstieß. Welchen Wert hatte die Verfassung, wenn das Gebot einer Nichtbenachteiligung aufgrund des religiösen Glaubensbekenntnisses in der Praxis auf diese Weise unterlaufen wurde? Immerhin handelte sich bei der Universität um eine der maßgeblichen Instanzen des Staates und nicht um irgendeinen politischen Verein oder eine antisemitische Studentenverbindung. Das einzige, was sich im Laufe der Zeit geändert zu haben scheint, war die Strategie. Im Weimarer Verfassungsstaat suchte man sich intern und informell zu verständigen und mied öffentliche Äußerungen, um keine Handhabe für eine politische Kritik oder juristische Intervention zu geben. Der tiefere Grund für die ablehnende Haltung allem Jüdischen gegenüber bestand an der Eberhard Karls Universität in ihrem nationalprotestantischen Grundkonsensus, der sich über viele Jahrhunderte hinweg aufgebaut und verfestigt hatte. Es herrschte ein „mehr oder weniger unverhohlener ‚christlicher Antisemitismus‘“ vor, der es auch auf dem Höhepunkt der Judenemanzipation ausschloss, dass ein Jude auf eine ordentliche Professur berufen worden wäre.140 In geringerem Umfang richtete sich die konfessionelle Ausrichtung der Universität auch gegen Katholiken und andere protestantische Denominationen. Von Sylvia Paletschek wird die Berufungspolitik der Universität treffend als „keinesfalls jüdisch, möglichst nicht katholisch“ beschrieben.141 Doch worauf gründete die geradezu panische Angst vor jüdischen Universitätsangehörigen? Welche tatsächlichen Gefahren drohten der deutschen Jugend von einem Hochschulprofessor, der unter seinen Vorfahren irgendwann einmal einen Juden gehabt hatte? Im Nachhinein erscheint es absurd, in welchem Ausmaß die Universität und ihre Angehörigen von uralten Mythen über das Wesen des Judentums beeinflusst waren und wie sehr sie sich in ihrem Handeln davon leiten ließen. An der bereits zitierten Aussage der Universitätsleitung aus dem Jahr 1922, dass sie die gezielte Politik verfolge, Ausländer fremder Rasse, namentlich Ostjuden, nicht zum Studium zuzulas140 Sylvia Paletschek, Entnazifizierung und Universitätsentwicklung in der Nachkriegszeit am Beispiel der Universität Tübingen, in: Rüdiger vom Bruch und Brigitte Kaderas, Hg., Wissenschaften und Wissenschaftspolitik, Stuttgart 2006, S. 402 und dies., Die permanente Erfindung einer Tradition, S. 286f. 141 Paletschek, Die permanente Erfindung einer Tradition, S. 300. Nicht sozialdemokratisch, nicht pazifistisch und nicht weiblich waren drei weitere elementare Kriterien, die ein erfolgreicher Bewerber zu erfüllen hatte (ebd.).
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sen, wird deutlich, dass alteingesessene und über lange Zeiträume hinweg tradierte Ressentiments eine zeitgemäßere und den politischen Umständen besser angepasste Begründung benötigten.
5. Die „Judenfrage“ stellt sich neu Mit der Einrichtung einer Professur für Neues Testament im Jahr 1898 und mit ihrer Besetzung durch Adolf Schlatter (1852–1938) war die Notwendigkeit, sich der Fachkompetenz eines jüdischen Lektors für Rabbinica oder Hebraica versichern zu müssen, in gewisser Weise hinfällig geworden. Schlatter entfaltete in Tübingen ein wissenschaftliches Programm, das sich in bewusster und offensiver Abgrenzung von der liberalen Theologie und der Religionsgeschichtlichen Schule vom Paradigma des Hellenismus ab- und dem rabbinischen Judentum zuwandte.1 Wie bereits in Berlin, wo Schlatter auf Druck kirchlicher Kreise seit 1893 ein „positives“ Antidotum gegen die liberale Theologie Adolf von Harnacks (1851–1930) bildete, wurde er 1898 nach Tübingen berufen, um dort die biblische Wahrheit und das kirchliche Bekenntnis gegen jedweden Ansatz innertheologischer Aufweichung zu verteidigen. Seine vier Jahrzehnte währende Lehrtätigkeit an der Universität Tübingen ließen Schlatter zu einem der prägenden und einflussreichsten evangelischen Theologen des 20. Jahrhunderts werden. Mit seinen Kommentaren zum Neuen Testament und mit seinem ebenso umfangreichen Predigtoeuvre übte er eine enorme Breitenwirkung innerhalb des deutschen Protestantismus aus. Seinen Anhängern galt die von ihm in der Tradition Johann Tobias Becks (1804– 1878) entwickelte Verbindung einer zugleich historischen und biblizistischen Perspektive als zukunftsweisende Methodik, die freilich nicht nur bei Schlatters theologischen Gegnern den Eindruck erweckte, als werde hier die Quadratur des Kreises angestrebt. Bereits in seiner Antrittsvorlesung skizzierte Schlatter am 16. Juni 1898 im Tübinger Stift seine programmatische Hinwendung zur rabbinischen Literatur, die er aber nur dem äußeren Stil nach für verwandt mit dem Neuen Testament hielt, innerlich seien beide „durch eine tiefe Kluft getrennt“. Schlatter vertrat den konventionellen Ansatz der christlichen Substitutionstheologie, nach der 1
Siehe zu Schlatters Tübinger Zeit das umfangreiche Kapitel VII bei Werner Neuer, Adolf Schlatter. Ein Leben für Theologie und Kirche, Stuttgart 1996 (englische Übersetzung als Biography of Germany’s premier biblical theologian, Grand Rapids/Michigan 1996), S. 367–820.
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das alte Gesetzes- und Verdienstdenken der Juden durch den neutestamentlichen Gottesglauben überwunden wird. Da der „Positivismus der Evangelien“ im Gegensatz zur Legendenbildung des palästinischen Judentums religiöse „Thatsachen“ zum Gegenstand habe, erschien Schlatter die christliche der jüdischen Theologie haushoch überlegen.2 Man würde Schlatter missverstehen, wollte man seiner Beschäftigung mit der von der neutestamentlichen Forschung bis dahin weitgehend außer Acht gelassenen rabbinischen Literatur eine philosemitische Note geben. Die von ihm angestrebte Klärung des Verhältnisses zwischen Christen und Juden diente in erster Linie dem Ziel, die Höherwertigkeit der christlichen Religion nachzuweisen und die Juden von der inneren Notwendigkeit ihrer Bekehrung zu überzeugen. Seine Beschäftigung mit dem Rabbinismus erfolgte weder aus einem lediglich historischen oder wissenschaftlichen Interesse heraus, noch sollte sie dem interreligiösen Dialog den Weg ebnen. Sie stand ganz im Banne der christlichen Heilsgeschichte und wollte expressis verbis einer besser begründeten und somit erfolgreicheren Missionierung den Boden bereiten. Diese Art des Philosemitismus und eines nur in der religiösen Binnenperspektive lauteren Wunsches, die Juden an der christlichen Erlösung teilhaben zu lassen, zeichnete sich durch eine tiefe Ambivalenz dem Judentum gegenüber aus, die auch bei Schlatter leicht ins Antisemitische abkippen konnte.3 Über die theologische Differenzierung eines authentisch alten und eines degenerierten modernen Judentums wurde es möglich, das Maß an subjektivem Philosemitismus, das man den der Bekehrung potentiell empfänglichen Juden zugestand, durch einen desto größeren Hass auf die Entartungserscheinungen des zeitgenössischen Judentums zu kompensieren. Nicht umsonst nannte Schlatter in einem viel zitierten Satz die Bekanntschaft mit Adolf Stoecker (1835–1909), dem Vorkämpfer der modernen antisemitischen
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Siehe den auszugsweisen Bericht über „Prof. Schlatters akademische Antrittsrede“ im Kirchlichen Anzeiger für Württemberg 7, 1898, S. 227f. sowie Neuer, Adolf Schlatter, S. 369f. 3 Die Judenfeindschaft Schlatters wurde in der jüngsten Vergangenheit öfters thematisiert. Siehe James E. McNutt, Adolf Schlatter and the Jews, in: German Studies Review 26, 2003, S. 353–370, ders., Vessels of wrath, prepared to perish. Adolf Schlatter and the spiritual extermination of the Jews, in: Theology today, 63, 2006, S. 176–190, Anders Gerdmar, Roots of theological anti-Semitism. German biblical interpretation and the Jews, from Herder and Semler to Kittel and Bultmann, Leiden 2009, S. 253–326 und Hermann Lichtenberger, Adolf Schlatter und das Judentum, in: Christfried Böttrich u.a., Hg., Zwischen Zensur und Selbstbesinnung. Christliche Rezeption des Judentums, Frankfurt a.M. 2009, S. 321–346.
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Bewegung, „das Größte, was mir Berlin gebracht hat“.4 Die Einarbeitung in die Sprache und Literatur der Rabbinen durch die neutestamentliche Theologie muss deshalb vor allem im Kontext einer praeparatio evangelica verstanden werden. Sie ist der Judenmission sogar noch vorgelagert, da sie die intellektuelle Voraussetzung für ihren späteren Erfolg schafft. Dies wird sogar von Neuer in seiner deutlich hagiographische Züge tragenden Schlatterbiographie eingeräumt.5 Noch deutlicher formuliert es Anders Gerdmar, der die Doppeldeutigkeit der Schlatterschen Auseinandersetzung mit dem Judentum hervorhebt und von einer „dual relationship of deep interest and fierce opposition“ spricht. Mit Recht wirft Gerdmar Neuer vor, den antisemitischen Teil dieser Beziehung herunterzuspielen.6 In der Tat zieht sich eine Mischung aus Anziehung und Abstoßung durch Schlatters gesamte theologische Auseinandersetzung mit dem Judentum. Noch kurz vor seinem Tod veröffentlichte er eine Jahresbibellese, die nicht aus Zufall ausgerechnet am 10. November, das heißt an Luthers Geburtstag, die Überschrift trägt: „Die Juden sind Feinde und Geliebte zugleich“. So unmöglich eine Einigung mit der Judenschaft sei, so unmöglich sei es für die christliche Kirche, „ihre Herkunft aus dem Judentum zu verschweigen“. Auf die rhetorisch aufgeworfene Frage, ob Christen Juden gleichzeitig lieben und hassen könnten, antwortete Schlatter mit einem uneingeschränkten ja. Die Juden seien so lange als Feinde anzusehen, so lange sie Jesus als Messias ablehnen und die christliche Heilsbotschaft bestreiten würden.7 Bei Schlatters Nachfolger Gerhard Kittel (1888–1948) lässt sich ein ähnlich doppeldeutiges Spannungsverhältnis zwischen antisemitischem Ressentiment und einem neuen theologischen Interesse für die Religions4
Adolf Schlatter, Rückblick auf meine Lebensarbeit, 2. Aufl., Stuttgart 1977, S. 187, auch zitiert bei Neuer, Adolf Schlatter, S. 311. 5 „Schlatter wollte mit seinem Werk einen Beitrag dazu leisten, dass die Christenheit dem zeitgenössischen Judentum sachgemäß und verstehend zu begegnen vermag. Denn nur so war seiner Überzeugung nach eine fruchtbare Judenmission möglich.“ Neuer, Adolf Schlatter, S. 412. Auch Roland Deines, Die Pharisäer. Ihr Verständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen Forschung seit Wellhausen und Graetz, Tübingen 1997, S. 262 sieht den entscheidenden Anstoß bei Schlatter in einem judenmissionarischen Impuls. Die genaue Kenntnis des Judentums sei für ihn die Voraussetzung einer erfolgreichen Missionsarbeit gewesen. 6 Gerdmar, Roots of theological anti-Semitism, S. 255; zu Neuer S. 253, S. 279 und 290f. Gerdmar weist Neuer überdies sinnentstellendes, um nicht zu sagen verfälschendes Zitieren nach: S. 275, S. 288 und S. 298. Aussagen, die Schlatter in einem positiven Licht erscheinen lassen, werden von Neuer dagegen vornehmlich aus dem unveröffentlichten Briefwechsel Schlatters mit seinem Sohn Theodor eruiert. 7 Adolf Schlatter, Kennen wir Jesus? Ein Gang durch ein Jahr im Gespräch mit Ihm, Stuttgart 1937, S. 457f., Bibellese am 10. November mit Bezug auf Römer 11, Vers 28.
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und Literaturgeschichte des rabbinischen Judentums feststellen. Kittel hatte von 1907 bis 1912 an den Universitäten in Leipzig, Tübingen und Berlin Theologie und Orientalistik studiert und wurde 1913 bei Johannes Leipoldt (1880–1965) in Kiel promoviert.8 Noch im gleichen Jahr erlangte er an der Universität Kiel die Venia legendi für Neues Testament, um während des Krieges von 1914–1918 als Marinefeldgeistlicher der Festung Cuxhaven tätig zu sein. Kittels Gemeinde übernahm dann sein Bundesbruder im Verein deutscher Studenten Ludwig Müller (1883–1945), der fünfzehn Jahre später zum Reichsbischof der Deutschen Evangelischen Kirche werden sollte. Als Kittel am 17. Juni 1933 Müllers Amtsvorgänger Friedrich von Bodelschwingh (1877–1946) in einem langen Brief zum Rücktritt aufforderte, schrieb er: „Ich darf das gerade darum sagen, weil ich restlos von der Deutschheit Ihrer Gesinnung überzeugt bin und weil ich ebenso bestimmt von Müller weiß (ich habe ihm im Jahre 1918 meine Marinegemeinde übergeben), ein wie frommer, gläubiger und betender Mann er ist.“9 1917, im gleichen Jahr in dem er sich an die Universität Leipzig umhabilitierte, wurde Kittel Mitglied der Deutschen Vaterlandspartei, die sich bei Kriegsende als eine nationale Sammlungsbewegung gegen die vom Reichstag erlassene Friedensresolution konstituierte. Die DVLP vertrat einen am Programm der Alldeutschen ausgerichteten annexionistischen Revanchismus und hatte besonders in der Anfangsphase einen enormen Zulauf.10 Sie löste sich nach der Novemberrevolution im Dezember 1918 wieder auf, doch ihr politischer Impuls setzte sich in der antiparlamentarischen Rechten fort und ging zum Teil in die nationalsozialistische Bewegung ein. In Leipzig, wo sein Vater Rudolf Kittel (1853– 1929) den alttestamentlichen Lehrstuhl und von 1917–1919 auch das Rektorat innehatte, war Kittel von 1918–1921 Direktor des Religionslehrerseminars und leitete zugleich den Christlichen Volksdienst. Nachdem er 1921 einen Ruf an die Universität Greifswald erhalten hatte, wurde Kittel 8
Siehe zu Kittels Vita besonders Leonore Siegele-Wenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft vor der Judenfrage. Gerhard Kittels theologische Arbeit im Wandel deutscher Geschichte, München 1980, S. 44–50 und seine Personalunterlagen im Universitätsarchiv Tübingen (UAT 126/326c) und in den BDC-Akten im Bundesarchiv Berlin. 9 Der Brief ist abgedruckt bei Gerhard Schäfer, Die evangelische Landeskirche in Württemberg und der Nationalsozialismus. Eine Dokumentation zum Kirchenkampf, Bd. 2: Um eine deutsche Reichskirche, Stuttgart 1972, S. 176–180, das Zitat S. 178. 10 Auch wenn die in der Literatur oft genannte Zahl von 1,25 Millionen Mitgliedern erheblich übertrieben ist, war die DVLP eine politisch sehr einflussreiche Organisation. Siehe Heinz Hagenlücke, Deutsche Vaterlandspartei. Die nationale Rechte am Ende des Kaiserreiches, Düsseldorf 1997, S. 180f.
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fünf Jahre später aufgrund des frühen Todes von Wilhelm Heitmüller (1869–1926) 1926 zum Nachfolger Schlatters nach Tübingen berufen.11 In seiner noch als Kieler Privatdozent publizierten Schrift Jesus und die Rabbinen betonte Kittel in traditioneller Art und Weise die Einzigartigkeit des Christentums und argumentierte gegen die aus seiner Sicht anmaßende Einstellung jüdischer Theologen, den Talmud auf die gleiche Höhe mit dem Evangelium zu stellen oder sogar zu behaupten, dass Jesus von den Rabbinen, „mit denen der Herr während seines Lebens sich auseinandergesetzt hat“, maßgeblich beeinflusst worden sei.12 Nur einem oberflächlichen Betrachter könne die Parallelüberlieferung von Jesusworten in der rabbinischen Literatur als eine wesensmäßige, über äußerliche Ähnlichkeiten hinausgehende Verwandtschaft erscheinen. Das evangelische Bild des Schriftgelehrtentums werde „nicht im Geringsten“ dadurch berührt, dass sich im Lauf der Jahrhunderte rabbinischer Gelehrsamkeit hin und wieder Äußerungen fänden, die eine gewisse Nähe zum Evangelium erkennen ließen. Auch unter den Rabbinen habe es einige edle Geister gegeben, die „in einzelnen Worten die Fesseln des Traditionalismus und des Zeremonialwesens zu sprengen vermochten und zum reinen Menschentum vordrangen“. Kittel sah darin freilich nur die Ausnahme von der gegenteiligen Regel. „Die Worte, die u n s am Talmud gefallen, sind ihm im Grunde wesensfremd; man könnte fast sagen: es sind die Worte, die nicht in den Talmud gehören.“13 Erschwerend kam für Kittel hinzu, dass sich nach seiner Meinung die jüdische Jesusforschung nicht nur durch eine gänzliche Methode- und Kritiklosigkeit auszeichnete, sondern auch durch ein polemisches Abgrenzungsinteresse. Seine eigene Aufgabe sah er darin, den Unterschied zwischen Jesus und den Rabbinen genauer herausarbeiten. Immerhin handele es sich hier um eine der zentralen Fragen des Chri-
11 Die Lehrtätigkeit des der Religionsgeschichtlichen Schule zugehörenden Heitmüller blieb deshalb eine Episode. Kirchliche Kreise hatten von Beginn an gegen Heitmüller agitiert und schon Ende 1922 wollte das Konsistorium Kittel gegen den erklärten Willen des Ministeriums und der Fakultät durchsetzen. Siehe zum „Fall“ Heitmüller dessen Personalakte (UAT 126/268) und Reinhold Rieger, Die Tübinger evangelisch-theologische Fakultät während der Zeit der Weimarer Republik, in: Rainer Lächele und Jörg Thierfelder, Hg., Württembergs Protestantismus in der Weimarer Republik, Stuttgart 2003, S. 178–183. Auch bei der Berufung Alfred Bertholets (1868–1951) auf den Lehrstuhl für Altes Testament im Jahr 1913 wurde (u.a. von Schlatter) Einspruch wegen der religionsgeschichtlichen Ausrichtung des Kandidaten erhoben. Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft, S. 41. 12 Gerhard Kittel, Jesus und die Rabbinen, Berlin-Lichterfelde 1914, S. 3, S. 6 und S. 15. 13 Ebd., S. 15, Sperrung des Wortes „uns“ im Original.
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stentums; der Gegensatz zu ihnen habe ihm „den Tod gebracht“.14 In Kittels Werk über Die Probleme des palästinischen Spätjudentums und das Urchristentum trat 1926 als zweite wichtige Antriebsfeder seiner Arbeit die kritische Auseinandersetzung mit den an der Allgemeinen Religionsgeschichte ausgerichteten Schriften eines Wilhelm Bousset (1865–1920), Hugo Greßmann (1877–1927) oder auch Carl Clemen (1865–1940) deutlich zu Tage.15 Die Literatur zum palästinischen Spätjudentum breit rezipierend, suchte Kittel der von einer lediglich religionsvergleichenden Betrachtungsweise ausgehenden Synkretismustendenz zu begegnen, um statt dessen die in den entscheidenden Punkten unvergleichbare Einzigartigkeit des Christentums herauszustellen. Entlang der bekannten Streitlinien hinsichtlich rabbinischer und hellenistischer Einflüsse, zwischen Volksfrömmigkeit und Gelehrtenreligion und dem Problem der richtigen Datierung rabbinischer Aussagen betonte Kittel im Anschluss an Schlatter den jüdischen Wurzelboden, auf dem das Christentum erwuchs. Hatte es bei diesem geheißen, dass sich das „ganze Lehrwort Jesu und darum auch der Begriffskreis der Gemeinde aus den Materialien“ zusammensetze, die in Israel herausgebildet worden waren, so dass „kein einziger neutestamentlicher Begriff ohne Vorbildung in der Theologie der Synagoge ist“,16 formulierte Kittel, dass man „nahezu zu jedem der sittlichen Sätze Jesu“ einen „Satz aus dem weiten Gebiet des Judentums“ finden könne, „der in seiner Weise Analoges bietet“.17 Im Hinblick auf das Verhältnis zum Judentum kann diese von Kittel Israel Issar Kahan gewidmete Schrift als ein Meilenstein der protestantischen Beschäftigung mit dem „palästinischen Spätjudentum“ angesehen werden. Auch dass Kittel die Forderung erhob, mit jüdischen Gelehrten in einen wissenschaftlichen Austausch zu treten,18 bedeutete ein Zugeständnis, das man in der deutschen Theologie bis dahin kaum kannte. Die hier zum Vorschein kommende Neujustierung der christlichen Perspektive auf die jüdische Religionsgeschichte muss vor dem Hintergrund der Verände14 Ebd., S. 3f. Dem Urteil von Deines (Die Pharisäer, S. 422), dass es die in der evangelischen Theologie weit verbreitete Auffassung von der „tödlichen Feindschaft zwischen den Pharisäern bzw. ‚Rabbinen‘ und Jesus“ war, die in der neutestamentlichen Wissenschaft eine „verstärkte Hinwendung zur pharisäisch-rabbinischen Überlieferung“ bewirkte, ist deshalb zuzustimmen. 15 Gerhard Kittel, Die Probleme des palästinischen Spätjudentums und das Urchristentum, Stuttgart 1926. 16 Schlatter, Der Glaube im Neuen Testament, Leiden 1885, S. 6. 17 Kittel, Die Probleme des palästinischen Spätjudentums, S. 96. 18 Ebd., S. 19–21.
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rungen gesehen werden, die das politische System der Weimarer Republik mit sich brachte. Eine theologische Abwertung oder sogar Diffamierung des Judentums, wie sie früher gang und gäbe war, ließ sich mit der neuen Gesetzeslage und dem Gedanken der Gleichberechtigung aller Religionen nicht mehr vereinbaren. Noch weiter ging Kittel in einer Rezension der Encyclopaedia Judaica und des Jüdischen Lexikons, in der er für eine vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit dem Judentum plädierte. Im Gegensatz zu vielen christlich-theologischen Enzyklopädien, die Gegenstände des Judentums oft unsachgemäß darstellten, würden die beiden jüdischen Lexika fundierte Einsichten in die Geschichte eines „schon von seinen Anfängen an einzigartigen Volkes“ eröffnen. Die jüdische Geschichte sei „in allen ihren Stadien wert, daß man sich in sie versenkt und an ihr lernt“.19 Wenn man in Kittels Veröffentlichungen zur jüdischen Religionsgeschichte dieser Zeit einen bemerkenswerten Versuch des Verstehenwollens sieht, darf dabei aber nicht vergessen werden, dass sich die Empathie noch immer im Modus einer doppeldeutigen Anziehung und Abstoßung bewegte. Sie konnte jederzeit wieder in ihr Gegenteil umschlagen. Kittel ging es gerade nicht um eine neutrale, lediglich religionsvergleichende Beschäftigung mit dem Judentum. An einigen Stellen findet sich zwar eine ausdrückliche Distanzierung von apologetischen Interessen und jedwedem Versuch, eine Überlegenheit des Christentums zu behaupten.20 Doch hatten solche Bemerkungen eher den Charakter einer captatio benevolentiae, um danach die Einzigartigkeit des Christentums desto deutlicher hervortreten zu lassen. Einerseits betonte Kittel, dass sich die neutestamentliche Forschung vorbehaltlos historisch-kritischer Methoden zu befleißigen habe. Richtig angewandt bräuchten die Christen keine Angst vor ihnen zu haben, da der religionsgeschichtliche Vergleich ein besseres und tieferes Verständnis des eigenen Glaubens ermögliche.21 Andererseits sei es aber für das Christentum eine völlig unmögliche Vorstellung, „daß irgend eine andere Religion etwa auch recht habe.“22 Am wenigsten könne der jüdischen Vorgängerreligion ein Wahrheitsrecht eingeräumt werden. Eine solche, aus religionswissenschaftlicher Sicht höchst fatale Vermengung theologischer und religionsgeschichtlicher Argumentationsstränge sollte sich in der weiteren Auseinandersetzung Kittels mit dem Judentum 19
Deutsche Literaturzeitung, H. 1, 5.1.1929, Sp. 1–5, das Zitat Sp. 4. Etwa in Die Probleme des palästinischen Spätjudentums S. 25 und S. 88. 21 So Kittel in seiner am 28.10.1926 im Geiste Schlatters gehaltenen Antrittsvorlesung an der Universität Tübingen, veröffentlicht als Urchristentum, Spätjudentum, Hellenismus, Stuttgart 1926, hier S. 4 und S. 19 und noch dezidierter im Vorwort seines Buches Die Religionsgeschichte und das Urchristentum, Gütersloh 1932, S. 9f. 22 Kittel, Urchristentum, Spätjudentum, Hellenismus, S. 25. 20
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tatsächlich als verhängnisvoll erweisen. Über die phänomenologische Herausarbeitung des eigentlichen Wesens einer Religion konnte Kittel trotz aller gegenteiliger Versicherungen an der Höherwertigkeit des Christentums festhalten, da die tatsächlich vergleichbaren Elemente nur Einzel-, Ausnahme- und Randerscheinungen betrafen. Der religiöse Kerngehalt des Christentums blieb in Kittels Wissenschaftskonzept von der vergleichenden Religionsgeschichte gänzlich unberührt. Abgesehen von der Unterscheidung zwischen dem depravierten Assimilationsjudentum und dem echten Judentum orthodoxer Frömmigkeit ließ sich die Abwendung von der Idee der religiösen Gleichberechtigung auch mit Hilfe des substitutionstheologischen Ansatzes begründen, wonach das Christentum die guten und bewahrenswerten Seiten der jüdischen Religion in sich aufgenommen habe. Kittel kam es deswegen sehr darauf an, dem Missverständnis vorzubeugen, als ob durch seine Untersuchungen, die grundsätzliche Scheidelinie zwischen Juden und Christen aufgehoben würde. Der entscheidende Schlusssatz in seiner von der Forschung gemeinhin als philosemitisch bewerteten Schrift über Die Probleme des palästinischen Spätjudentums lautete: „Noch einmal: wo Judentum Judentum bleiben will, da kann es nicht anders als dem Anspruch Jesu den Kampf ansagen. Wo aber Jesu εξουσια als Wirklichkeit und Wahrheit anerkannt ist, da hat das Judentum sein Ende gefunden“.23 Die gleiche apodiktische Formulierung findet sich in der ebenfalls 1926 erschienenen Schrift Kittels über Jesus und die Juden. Der christliche Antagonismus dem Judentum gegenüber sei weder mit Intoleranz noch mit Bosheit zu verwechseln, sondern das Resultat einer inneren Notwendigkeit. Auch hier ließ Kittel die Initiative von den Juden ausgehen, die, sofern sie ihrer Religion treu blieben, den Gegensatz spüren und in der Form einer antichristlichen Abwehrhaltung artikulieren müssten. „Wo Judentum Judentum bleibt, da kann der Anspruch Jesu nichts anderes sein als Lästerung und Wahnwitz; etwas andere zu denken, wäre für den Juden, der Jude bleiben will, Sünde und selbst Lästerung.“ 24 Und noch einmal zugespitzt: „Gerade, weil Jesu Anspruch an das für das Judentum Gegebene anknüpft, wird er zum Ärgernis. Denn indem er das Erbgut des Judentums aufnimmt, wird daraus die neue Religion, die nicht mehr Judentum ist, sondern Christusreligion. Das aber heißt für den 23
Kittel, Die Probleme des palästinischen Spätjudentums und das Urchristentum, S. 140. εξουσια als ein neutestamentlicher Zentralbegriff bedeutet Macht, Vollmacht oder Herrschaft 24 Gerhard Kittel, Jesus und die Juden, Berlin 1926 (H. 42 der Stimmen aus der deutschen christlichen Studentenbewegung), S. 35.
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Juden, daß ihm sein Heiligtum entweiht wird. Noch einmal: wo Judentum Judentum bleiben will, muß es dem Anspruch Jesu Kampf ansagen bis zum Letzten. Wo aber Jesu Vollmacht als Wirklichkeit und als Wahrheit anerkannt ist, da hat das Judentum sein Ende gefunden.“25
In dieser Perspektive hatten die Juden nur zwei Möglichkeiten: entweder Bekehrung zum oder Feindschaft gegen das Christentum. Der für Kittel nur durch die Taufe und die komplementäre Selbstaufgabe des Judentums lösbare Widerspruch wurde von ihm mehrere Male an herausgehobener Stelle wiederholt, so dass er fast schon den Charakter eines Glaubensbekenntnisses annahm. Selbst nach der Ermordung des europäischen Judentums bekannte er sich zu der von ihm als metaphysische Notwendigkeit bezeichneten Antithese zwischen christlicher Heils- und jüdischer Unheilsgeschichte.26 Für den dritten Band der Religion in Geschichte und Gegenwart verfasste Kittel einen wichtigen Teil des Judentumsartikels, der das Verhältnis zwischen christlicher und jüdischer Religion behandelte. Auch hier finden sich bemerkenswerte, auf jüdischer Seite zurecht sehr wohlwollend aufgenommene Sätze über die jüdischen Wurzeln des frühen Christentums. An der Zugehörigkeit Jesu zum Judentum bestehe nicht der geringste Zweifel. Das Alte Testament nannte Kittel die Heilige Schrift der Juden, die für das Christentum nicht verhandelbar sei. Alle Versuche, das Christentum aus diesem Kontext herauszulösen, würden aus ihm eine geschichtslose Erscheinung machen, „zudem aber entfernen sie es von dem Mutterboden seiner sittlichen Kraft“.27 Nichtsdestotrotz hielt Kittel an dem unüberwindbaren Gegensatz zwischen Christen und Juden fest. Nach seiner Auffassung blieben die Juden so lange die geborenen Feinde der Christen, so lange sie sich der christlichen Wahrheit verweigerten. Und auch in die25
Ebd., S. 36. Über sich in dritter Person sprechend schrieb Kittel: „Seine These war zu allen Zeiten, dass dieses Judentum, wie es seit der nachexilischen Zeit sich gestaltet und allmählich über das ganze Abendland ausgebreitet hat, im Lichte der biblischen Offenbarung des Alten und des Neuen Testamentes ‚Abfall‘ und ‚Ungehorsam‘, und dass seine Geschichte, theologisch gesehen, ‚Fluch‘ und ‚Verwerfung‘ sei, dass darum die Theologie beide, die ‚Heilsgeschichte‘ wie die ‚Unheilsgeschichte‘ Israels und des Judentums gleich ernstzunehmen und gleich nachdrücklich zu bezeugen habe.“ Gerhard Kittel, Meine Verteidigung (1. Niederschrift im Juni 1945, 2. Niederschrift im November/Dezember 1946), UAT 162/31, S. 6. 27 Gerhard Kittel, „Judentum: III. Judentum und Christentum“, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3, 1926, Sp. 491–494, hier S. 493. Eine ausführliche Interpretation bei Ulrich Oelschläger, Judentum und evangelische Theologie 1909–1965. Das Bild des Judentums im Spiegel der ersten drei Auflagen des Handwörterbuchs ‚Die Religion in Geschichte und Gegenwart‘, Stuttgart 2005, S. 257–277. 26
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sem Lexikonbeitrag stellte Kittel sein Diktum vom Judentum, das sich entweder selbst aufgeben oder dem Christentum den Kampf ansagen müsse, prophetisch an den Schluss.28 Bemerkenswert ist an diesem RGGArtikel auch, dass Kittel von einer Rasse der Juden sprach und dass er sich über den nichtjüdischen Blutsanteil Jesu, den er allerdings von der Menge her als nicht bedeutend ansah, Gedanken machte.29 Für den aus insgesamt drei Teilen bestehenden Artikel über das Judentum hatten die RGG-Herausgeber zwei jüdische Verfasser, Ismar Elbogen (1874–1943) und Leo Baeck (1873–1956), gewonnen. Der Mohr Verlag hegte am Anfang große Bedenken, Juden an der neuen Auflage der Religion in Geschichte und Gegenwart zu beteiligen, doch beruhigte man sich damit, dass ihre Namen nur im Vorwort genannt wurden und dass es deshalb wohl nicht zu antisemitischen Reaktionen kommen werde.30 Hermann Gunkel (1862–1982) als einer der Hauptherausgeber schlug sogar vor, Ismar Elbogen als Fachberater für das nachbiblische Judentum beizuziehen.31 Insgesamt steuerten die drei jüdischen Autoren Leo Baeck, Ismar Elbogen und Julius Guttmann (1880–1950) fast 90 Artikel bei, zudem wurden alle drei Gegenstand eigener biographischer Lemmata. Der hier zum Ausdruck kommende Brückenschlag zwischen der protestantischen Theologie und der Wissenschaft des Judentums war ein einzigartiger Vorgang, der in Deutschland keine Parallele hatte. Allerdings wies schon Leonore Siegele-Wenschkewitz einschränkend darauf hin, dass sich die Artikel jüdischer Verfasser auf Judaica im engeren Sinn beschränkten. Themen, die das christlich-jüdische Verhältnis betrafen, blieben der protestantischen Deutungshoheit vorbehalten.32 Dass in dem Judentumsartikel die Beiträge von Elbogen und Baeck vorne durch den Alttestamentler Otto Eißfeldt (1887–1973) und hinten durch den Neutestamentler Kittel eingerahmt wurden, signalisiert eine klare Einzäunung, die dem Argwohn begegnen 28 „Wo Judentum Judentum bleiben will, da kann es nicht anders, als dem Anspruch der Person Jesu den Kampf ansagen; wo jedoch Jesu Vollmacht als Wirklichkeit und als Wahrheit anerkannt ist, da hat das Judentum sein Ende gefunden.“ Kittel, Judentum: III. Judentum und Christentum, Sp. 494. 29 „Selbst wenn das Blut des Galiläers ein paar Tropfen nicht-jüdischen Blutes enthalten haben sollte, so enthielt es doch auf alle Fälle sehr viele Tropfen voll-jüdischen Blutes.“ Ebd., Sp. 492. 30 So Oskar Siebeck an Horst Stephan am 21.4.1925, Ruth Conrad, Lexikonpolitik. Die erste Auflage der RGG im Horizont protestantischer Lexikographie, Berlin 2006, S. 423. 31 Leonore Siegele-Wenschkewitz, Das Verhältnis von protestantischer Theologie und Wissenschaft des Judentums während der Weimarer Republik, in: Walter Grab und Julius H. Schoeps, Hg., Juden in der Weimarer Republik, Stuttgart 1986, S. 169. 32 Ebd., S. 170.
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sollte, als ob die Interpretation des Judentums in einem protestantischen Lexikon von den Vertretern des Judentums abhinge. Noch bedenklicher war es, dass der Kittelsche Beitrag offenbar nicht nur als Abgrenzung gedacht war, sondern von den Herausgebern bewusst im Kontext der Judenmission verortet wurde. So schrieb es zumindest Oskar Rühle (1901– 1980) als Redaktionsmitarbeiter im Auftrag Gunkels am 30. August 1928 an Kittel.33 Es muss jedoch hinzugefügt werden, dass die Doppelung der Artikel in einen religionsgeschichtlichen und einen theologischen bzw. missionswissenschaftlichen Teil bei den Weltreligionen generell durchgeführt wurde. Auch den Einträgen zum Buddhismus, Hinduismus und Islam wurden Unterartikel beigegeben, die einen deutlich religiösen oder sogar missionarischen Charakter hatten. Überdies finden sich hier wissenschaftlich noch bedenklichere Komplementärbeiträge über die buddhistische, islamische und jüdische Propaganda. Es versteht sich von selbst, dass es keinen Artikel „christliche Propaganda“ gab. Mit einer solchen Doppelung der außerchristlichen Religionsgeschichte in einen theologischen und einen religionsgeschichtlichen Part sollte zum einen religionswissenschaftlichen Ansprüchen Genüge getan werden. Zum andern sollte die evangelische Leserschaft nicht über die christliche Priorität des Lexikons im Unklaren gelassen werden. Die seit der Berufung Schlatters an der Universität Tübingen erfolgte Konzentration der neutestamentlichen Forschung auf das rabbinische Judentum schien es vorderhand überflüssig zu machen, einen jüdischen Lektor für Rabbinica oder Hebraica heranzuziehen, wie das an anderen Hochschulstandorten der Fall gewesen war. Warum sollte man einen jüdischen Lektor anstellen, wenn man über genügend eigene Fachkompetenz verfügte? Die Tübinger Schwerpunktbildung führte jedoch dazu, dass es zu Arbeitsverhältnissen kam, die der Art und dem Status nach den Lektoraten glichen, die in Kapitel vier beschrieben wurden. Als Kittel am 13. März 1928 bei der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft einen Antrag zur Förderung der von ihm beabsichtigten Edition rabbinischer Texte stellte, betonte er, wie wichtig es ihm sei, hierfür auch junge jüdi-
33 „Professor Gunkel als Leiter der biblischen Abteilung der neuen Auflage von RGG bat mich, bei Ihnen anzufragen, ob Sie nicht Lust hätten, für die Neuauflage einen grundsätzlichen Artikel über das Verhältnis von Judentum und Christentum zu schreiben. (...) Er soll ähnlich angelegt sein wie etwa ‚Buddhismus und Christentum‘ und soll eine Art missionarische Auseinandersetzung mit dem Judentum bis zur Gegenwart vom christlichen Standpunkt aus bilden und so dem Artikel über ‚Judenmission‘ vorarbeiten.“ Siegele-Wenschkewitz, Das Verhältnis von protestantischer Theologie, S. 171 und Oelschläger, Judentum und evangelische Theologie, S. 257.
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sche Wissenschaftler heranzuziehen.34 Unter den Gutachtern des Kittelschen Projekts befand sich auch der Berliner Althistoriker Eduard Meyer (1855–1930), der vorschlug, in Berlin eine eigene Sitzung zusammenzurufen und hierzu die beiden an der Berliner Akademie für die Wissenschaft des Judentums lehrenden Ismar Elbogen und Harry Torczyner (1886–1973) einzuladen.35 Aufgrund der positiven Voten der Gutachter wurde das Projekt bewilligt und großzügig gefördert. Doch inwieweit der Kittel von Elbogen empfohlene junge litauische Jurist Gutel Leibowitz (geb. 1898, Todesdatum unbekannt) davon profitierte, lässt sich anhand der Akten nicht nachvollziehen. Dieser arbeitete ab 1928 als Assistent Kittels an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen, scheint aber kein Gehalt dafür bezogen und auch in keinem offiziellen Anstellungsverhältnis gestanden zu haben. Leibowitz hatte an den Universitäten Königsberg und Bern von 1922 bis 1928 Rechtswissenschaft studiert und in Bern auch eine Doktorarbeit eingereicht.36 Am 7. Januar 1928 stellte er von Bern aus in Tübingen den Antrag, als Hörer an der Philosophischen Fakultät zugelassen zu werden. Dabei schrieb er: „Im Auftrage des hochverehrten Herrn Professors Dr. Kittel besorge ich hier die Übersetzung einiger älterer rabbinischer Texte, möchte aber außerdem einige Vorlesungen an der philosophischen Fakultät hören.“37 Leibowitz blieb nur kurze Zeit in Tübingen. 1930 kehrte er nach Litauen zurück, wo er Rektor des hebräischen Gymnasiums in Ukmerge wurde. Für den dritten, 1929 erschienen Band der Religion in Geschichte und Gegenwart verfasste er vier biographische Ar-
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Henry Wassermann, Prof. Dr. Gerhard Kittel, in: ders., False start. Jewish studies at German universities during the Weimar republic, New York 2002, S. 183. 35 Ebd. Die Sitzung, bei der neben Adolf von Harnack auch der Präsident der Notgemeinschaft Friedrich Schmidt-Ott teilnahm, fand am 1.6.1928 statt. 36 Der Berner Rechtshistoriker Hans Fehr (1874–1961) äußerte sich im Januar 1928 in seinem Gutachten außerordentlich positiv über die Arbeit: „Es liegt eine Abhandlung von grossem wissenschaftlichen Wert vor, eine der besten Dissertationen, die ich je zur Durchsicht vor mir hatte. (...) Ich empfehle die ganz vortreffliche Arbeit zur Annahme u. zwar mit dem höchsten Lobe.“ UA Bern BB, 8.2.193. Ein handschriftlicher Lebenslauf vom 28.11.1927, ebd., BB 8.2.196. Die Arbeit von Leibowitz zum Thema „Die Form des jüdischen Vertragsschlusses, insbesondere der Ursprung und die Funktion des symbolischen Tauschgeschäfts im System des jüdischen Vertragsrechts“ ließ sich bislang aber nicht ausfindig machen. Offenbar wurde das Promotionsverfahren auch nicht zum Abschluss gebracht. 37 Schreiben von Leibowitz an die Universität Tübingen am 7.1.1928, Hörerakte Leibowitz, UAT 258/1124.
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tikel über Jakob ben Ascher, Abraham Ibn Daud, Eleasar Kalix und Josef Karo.38 Eine weitere Anstellung, die man am besten als eine Art Hilfsassistenz bezeichnen kann, hatte seit dem Wintersemester 1930/31 der jüdische Privatgelehrte Charles Horowitz (1890–1969) inne. Der aus Landshut in Galizien stammende Horowitz hatte von 1907 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs das Rabbinerseminar in Krakau besucht. Während des Krieges wurde er zwei Mal verwundet. Nach seiner Heirat mit Lea geb. Koller im Jahr 1919 zog er 1923 mit seiner Frau ins Ruhrgebiet nach Oberhausen, wo er auch der jüdischen Gemeinde angehörte. Parallel zu seiner Anstellung an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin arbeitete Horowitz – vielleicht ebenfalls auf Vermittlung durch Ismar Elbogen – zu Beginn der dreißiger Jahre in Tübingen an dem von Kittel herausgegebenen Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament mit.39 Geld oder ein richtiges Gehalt erhielt er dafür offensichtlich nicht. Horowitz übersetzte den Talmud-Traktat Jeruschalmi und überprüfte in dieser Zeit auch die in Schlatters Kommentaren vorkommenden Talmudzitate.40 Nach „eigener Aussage“ sei Horowitz (in Wirklichkeit handelt es sich um die mündliche Mitteilung Hans Strohs aus dem Jahr 1988) durch Schlatters Predigt und Ausstrahlung von der Wahrheit des christlichen Glaubens überzeugt worden. Im Juli 1931 habe Horowitz Stroh gegenüber allerdings zum Ausdruck gebracht, dass er innerlich noch nicht so weit sei, sich tatsächlich taufen zu lassen.41 Als Kittels Assistent Karl Heinrich Rengstorf (1903–1992) vom November 1930 bis zum April 1931 in den Pfarrdienst ging, übernahm Horowitz dessen im Sommersemester 1930 mit einigen Studenten durchgeführte Arbeitsgemeinschaft über rabbinische Texte. Dafür bekam er eine monatliche Vergütung von 25 Reichsmark, die vom Gehalt (200 Reichsmark) des neutestamentlichen Seminarassistenten Walter Grundmann abgezogen wurde.42 Bei dieser Regelung blieb es bis März 1933. Horowitz pendelte in dieser Zeit zwischen Oberhausen, Berlin und 38
Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3, 1929, Sp. 12, Sp. 43f., Sp. 591 und Sp. 637. Der von Oskar Rühle bearbeitete RGG-Registerband aus dem Jahr 1932 enthält einen kurzen Hinweis auf Leibowitz, ebd., Sp. 68. 39 Im Vorwort des ersten TWNT-Bandes aus dem Jahr 1933 wird „ChHorovitz“ (neben Walter Grundmann, Oskar Rühle, Günter Schlichtung u.a.) als treuer Mitarbeiter erwähnt. Der 1978 erschienene Registerband nennt im Autoren- und Mitarbeiterverzeichnis ebenfalls Horowitz, nun aber richtig geschrieben. Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 1, 1933, S. VII und Bd. 10, T. 1, 1978, S. IX. 40 Neuer, Adolf Schlatter, S. 749. 41 Ebd., S. 748f. 42 So Kittel in einem Schreiben an das Rektoramt vom 15.9.1930, UAT 117/692.
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Tübingen, wo er hauptsächlich am Theologischen Wörterbuch mitarbeitete.43 Im April teilte Kittel dem Rektoramt dann mit, dass die Vergütung von Horowitz „von jetzt ab“ in Fortfall komme, um im Juni die Mitteilung dahingehend zu ergänzen, dass die „Hilfsassistenz des bis dahin für das Seminar tätigen Herrn Ch. Horowitz“ nach seinem „Ausscheiden“ von Karl Georg Kuhn (1906–1976) übernommen worden sei.44 Es war alles andere als ein Zufall, dass Horowitz seine Mitarbeit am neutestamentlichen Seminar der Universität Tübingen und am Theologischen Wörterbuch nach dem nationalsozialistischen Machtumschwung einstellen musste. Die Aufkündigung seines kümmerlich entlohnten Arbeitsverhältnisses durch Kittel ist ein deutlicher Beleg dafür, wie das Pendel der Ambivalenz im deutsch-christlichen Verhältnis wieder zurückschlug, nachdem es sich ein klein wenig auf die jüdische Seite hin zubewegt hatte. War die „Judenfrage“ in der Weimarer Republik eine Angelegenheit der Inklusion geworden, so nun eine der Exklusion. Dass ausgerechnet Karl Georg Kuhn, der einige Tage vorher am 1. April 1933 auf dem Tübinger Marktplatz für die NSDAP die offizielle Boykottansprache gehalten hatte, die Stelle von Horowitz übernahm, verdeutlicht, welcher Status einem jüdischen Mitarbeiter bei der neutestamentlichen Erforschung des Urchristentums in Wirklichkeit zukam und wie rasch man sich seiner entledigte. Ging die Lebenskurve nationalsozialistischer Judenforscher wie Grundmann und Kuhn jetzt steil nach oben, so die von Horowitz ebenso steil nach unten. Bereits vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten sah sich Horowitz in Tübingen antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt. An seinem Arbeitsplatz fand er regelmäßig anonyme Drohungen und judenfeindliche Schmähzettel vor und aus seinem Studierzimmer wurden ihm sämtliche Unterlagen gestohlen.45 Das offene Eintreten vieler evangelischer Studenten für den Nationalsozialismus verlieh dem Rat des Dekans der Evangelisch-theologischen Fakultät, er solle Deutschland so schnell als möglich verlassen, zusätzliches Gewicht. In der NS-Presse sei 43 In der Seminarbibliothek der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen sind zwei maschinenschriftliche Manuskripte von Horowitz aus dem Jahr 1932 mit dem Titel „Fragmente aus dem Midrasch und der Haggada, übers. von Ch. Horowitz“ und „Nedarim, übers. von Ch. Horowitz“ überliefert. 44 Gerhard Kittel an das Rektoramt am 11.4. und am 12.6.1933, UAT 117/692 sowie UAT 187/Horowitz. 45 Siehe hierzu Katrin Dönges, Die lange Flucht des Charles Horowitz, in: Schichtwechsel. Journal für die Geschichte Oberhausens, Heft Mai-September 2009, S. 38–41. Quelle für diesen sehr aufschlussreichen Artikel sind v.a. die Unterlagen im Tübinger Universitätsarchiv und die Wiedergutmachungsakte im Düsseldorfer Hauptstaatsarchiv.
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ein gegen Horowitz persönlich gerichteter Hetzartikel erschienen, der dagegen polemisierte, dass sich an der Universität Tübingen noch immer ein jüdischer Lektor herumtreibe.46 Als nun auch noch seine Kinder in der Schule Probleme wegen ihrer jüdischen Herkunft bekamen, verließ Horowitz mit seiner Familie fluchtartig das Land. Im April 1933 fand er zwar für kurze Zeit eine Anstellung an der Bibliotheca Rosenthaliana in Amsterdam, doch zwang ihn die wirtschaftliche Lage dazu, weiterzuziehen. Nach dem fehlgeschlagenen Versuch, in der Nähe von Metz über einen Textilhandel Geld zu verdienen, siedelte die Familie 1937 nach Dijon über, wo Horowitz wiederum ein kleines Textilgeschäft eröffnete. Doch bald waren die Ersparnisse aufgebraucht, so dass sich die Familie nur mit der Unterstützung durch Freunde über Wasser halten konnte. Nach dem deutschen Überfall auf Frankreich und der Besetzung des Landes durch deutsche Truppen spitzte sich die Situation der Familie Horowitz dramatisch zu. 1941 vom SD aufgespürt, gelang es Horowitz erst im letzten Augenblick, mit seiner Familie über die Demarkationslinie nach Valence zu flüchten. Trotz aller Bemühungen, ein möglichst zurückgezogenes und unauffälliges Leben zu führen, wurde Lea Horowitz nach einer Denunziation am 25. August 1942 auf offener Straße verhaftet und deportiert. Ihr Mann floh in höchster Eile mit den drei Kindern, die mit Hilfe des Bischofs von Valence glücklicherweise in einem Klosterinternat Unterschlupf finden konnten. Horowitz nahm einen anderen Namen an und versteckte sich wie ein gehetztes Tier an immer neuen Aufenthaltsorten. Unter abenteuerlichen Umständen gelang es ihm mit knapper Not, den Krieg zu überleben. Seine Frau Lea wurde dagegen in Auschwitz ermordet. Auch sein Vater, seine Mutter und seine Geschwister fielen der Schoah zum Opfer. Kurz nach dem Krieg schrieb Horowitz am 13. August 1946 einen ersten Brief an Otto Michel (1903–1993), den Nachfolger Kittels auf dem neutestamentlichen Lehrstuhl Schlatters. Er sei auf der Suche nach Kopien seiner Manuskripte, die er während seiner Flucht verloren hatte. Außerdem sondierte Horowitz bei Michel, ob für ihn eventuell die Möglichkeit bestand, in Tübingen wieder wissenschaftlich zu arbeiten.47 Beide Fragen blieben ohne eine zufriedenstellende Antwort. Horowitz ging dann als Privatmann seinen Studien nach und promovierte noch im Alter von 71 Jahren an der Universi-
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Dönges, Die lange Flucht des Charles Horowitz, S. 38. Einer der vier Briefe, die im Nachlass Otto Michels im Tübinger Universitätsarchiv überliefert sind (UAT 635/288), ist als Faksimile abgedruckt bei Dönges, Die lange Flucht des Charles Horowitz, S. 40.
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tät Bonn.48 1965 wurde ihm in Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistungen der Professorentitel verliehen.49 Am 5. Dezember 1933 wandte sich Kittel in einem Schreiben an den Staatsminister und Präsidenten der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft Friedrich Schmidt-Ott (1860–1956), um Rechenschaft über die bislang im Zusammenhang der Rabbinischen Texte geleistete Arbeite abzulegen.50 Nachdem die bisherige Förderung im Januar 1933 ausgelaufen war, verwies Kittel darauf, dass die Herausgabe der Rabbinischen Texte mit der Doktorarbeit von Karl Georg Kuhn und der Habilitationsschrift von Karl Heinrich Rengstorf, den beiden Hauptempfängern der Projektgelder, bereits gut vorangekommen sei.51 Im In- und Ausland habe die Reihe großen Anklang gefunden. Mitten in das erfolgreiche Editionsprogramm sei jedoch der infame Wirtschaftsboykott des internationalen Judentums über Deutschland hereingebrochen, wogegen sich der April-Boykott des NS-Staates dann zur Wehr gesetzt habe. Kittel behauptete allen Ernstes, die Juden seien deswegen für die schlechten Verkaufszahlen der Rabbinischen Texte verantwortlich. Bislang hätten nur wenig mehr als hundert Subskribenten gewonnen werden können. Für Kittel waren deshalb die Juden die Schuld daran, dass sich das Projekt nicht selbst tragen konnte, wie er es anfänglich gehofft hatte. Dem einschlägigen Hinweis auf die wissenschaftliche Bedeutung des Editionsvorhabens gab Kittel insofern eine politische, das heißt antisemitische Note, als er die Einzigartigkeit des frühen Christentums als das Resultat eines erfolgreichen Kampfes gegen das Judentum ausgab. Es sei von entscheidender Wichtigkeit, solche For48
Der Titel der 1963 in Tübingen im Selbstverlag erschienenen Doktorarbeit lautete: Sukkah, die Festhütte, übersetzt und interpretiert von Charles Horowitz. Sie wurde zwei Jahrzehnte später 1983 in die von Martin Hengel herausgegebene Schriftenreihe Jeruschalmi, der palästinensische Talmud (Teil II/6) aufgenommen. 49 Ein Glückwunschtelegramm des SPD-Vorsitzenden Willy Brandt vom 16.12.1965 (Pressemitteilungen der SPD, 1965, H. 16) kann auf der ZVDD-Homepage im Zentralen Verzeichnis digitalisierter Drucke eingesehen werden: www.digitalisiertedrucke.de (letzter Abruf am 13.12.2009). 50 Kittel an Schmidt-Ott am 5.12.1933, BArch R 73, 12142. Eine englische Übersetzung des Schreibens ist abgedruckt bei Wassermann, Prof. Dr. Gerhard Kittel, S. 191–193. 51 Karl Heinrich Rengstorf, Seder Naschim. Text, Übersetzung, Erklärung. 1. Heft: Jebamot (Rabbinische Texte, 1. Reihe, Die Tosefta, Bd. 3), Stuttgart 1933 und Karl Georg Kuhn, Der tannaitische Midrasch Sifre zu Numeri, unter Verwendung einer Übersetzung von Prof. Dr. Jakob Winter und mit Beiträgen von Prof. Dr. Gerhard Kittel, Prof. Dr. A. Marmorstein und Prof. Dr. Hans Windisch, bearbeitet und erklärt, 1. Hälfte, vorgelegt von Karl Georg Kuhn (Rabbinische Texte, 2. Reihe, Tannaitische Midraschim, Bd. 2), Stuttgart 1934. Siehe zu beiden die ausführliche Besprechung von Georg Beer in der Orientalischen Literaturzeitung, Nr. 7, 1934, Sp. 426–428.
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schungen in einer wissenschaftlich seriösen Weise weiterzuführen und sie nicht den Amateuren oder, noch schlimmer, den Juden zu überlassen.52 Als geschickter Antragsteller führte Kittel aus, dass er zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen Verlängerungsantrag einreichen wolle. Er erbitte lediglich einige Druckkostenzuschüsse für die fast fertigen Manuskripte. Nachdem er Anfang 1937 vom Kohlhammer Verlag erfahren hatte, dass es Schwierigkeiten mit der Drucklegung gab, schrieb Kittel nunmehr an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, um erneut die wissenschaftliche und politische Bedeutung des Vorhabens herauszustreichen. Es handele sich um das vermutlich einzige Projekt auf der Welt, das die Schriften des Talmudjudentums ohne die Beteiligung von Juden herausbringe. Wie wolle man die Entstehung des Judentums verstehen, wenn man keine wissenschaftlichen Textausgaben zur Verfügung habe? Dass eine Fortsetzung seiner Forschungen auch von politischer Bedeutung sei, begründete Kittel mit dem Hinweis darauf, dass er und Kuhn erst vor kurzem in die Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands berufen worden seien.53 Doch Kittels Intervention blieb der Erfolg versagt. Mit der 15. Lieferung kamen Die Rabbinischen Texte im August 1937 zum Erliegen.54 Erst nach dem Krieg wurde ihre Herausgabe, wiederum mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, fortgesetzt. Die Behauptung Kittels vom 10. Januar 1937, dass an den Rabbinischen Texten keine Juden beteiligt worden seien, stimmte nur bedingt. Zum einen hatte man sich der Mitarbeit von Charles Horowitz und wahrscheinlich auch der von Gutel Leibowitz bedient. Zum andern war mit Arthur Marmorstein (1882–1946), der von 1912 bis zu seinem Tod als Professor am Jew’s College in London lehrte, ein renommierter jüdischer Wissen-
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Hierbei verwies Kittel ausgerechnet auf das Parteiprogramm der NSDAP und den von Gottfried Feder dazu verfassten Kommentar, in dem es heißt, dass Stellungnahmen zur „Judenfrage“ nur von berufener Seite erfolgen sollten. 53 Gerhard Kittel an die Deutsche Forschungsgemeinschaft am 10.1.1937, BArch R 73, 16316. Auch hiervon gibt es eine englische Übersetzung bei Wassermann, Prof. Gerhard Kittel, S. 192f. 54 So zwei Jahrzehnte später der nunmehr alleinige Herausgeber der Rabbinischen Texte Karl Heinrich Rengstorf im Vorwort zur Neuausgabe von Karl Georg Kuhns Sifre zu Numeri, Stuttgart 1959, S. V. Die wirkliche Lage mehr verschleiernd als erhellend schrieb Rengstorf: „Indes war die politische Entwicklung in Deutschland, die 1933 den Nationalsozialismus an die Macht gebracht hatte, judaistischen Studien dieser Art alles andere als günstig.“ Ebd.
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schaftler von Beginn an in das Projekt eingebunden gewesen.55 Marmorstein fungierte bis 1933 als Mitherausgeber der Rabbinischen Texte, die dann von Rengstorf und Kittel gemeinsam und nach dem Krieg von Rengstorf allein herausgegeben wurden. Rengstorf, Kittels Seminarassistent von 1928–1929, habilitierte sich mit einer Übersetzung des Toseftatraktats Jebamot im März 1930 in Tübingen, einer Arbeit, die dann als erste Lieferung der Rabbinischen Texte 1933 bei Kohlhammer erschien. Von Rengstorf stammt auch ein biographischer Eintrag über Marmorstein für die zweite RGG-Auflage.56 Wie weit die Mitwirkung Marmorsteins bei diesem Editionsunternehmen reichte, ist nicht genau ersichtlich. Unter anderem sah er Kuhns 1931 eingereichte Doktorarbeit durch, die der Kohlhammer Verlag 1934 unter dem Titel Der tannaitische Midrasch Sifre zu Numeri herausbrachte. Ab der sechsten Lieferung vom Oktober 1933 sucht man den Namen Marmorsteins allerdings vergeblich unter den Herausgebern der Rabbinischen Texte. Nachdem er Kittels antisemitisches Pamphlet Die Judenfrage gelesen hatte, setzte Marmorstein sofort einen empörten Brief an Kittel und den Kohlhammer Verlag auf und verlangte die Streichung seines Namens.57 Kittel suchte sich zwar zu rechtfertigen und die ganze Sache als Missverständnis darzustellen, doch Marmorstein antwortete erneut „with a bitter and angry refusal“.58 Dessen ungeachtet führte Kittel nach dem Krieg seine Beziehung zu Marmorstein, den er um ein Überdenken seiner Entscheidung gebeten hatte, als Beleg für seine judenfreundliche Einstellung an.59 Mehr noch als die Herausgabe der Rabbinischen Texte wurde das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament zu Kittels eigentlichem Lebenswerk, dessen Bedeutung weit über Tübingen hinausreichte. Nach dem Urteil des Schweizer Theologen Emil Brunner (1889–1966) handelte es sich dabei sogar um „die bedeutendste Leistung protestantischer Theologie seit der 55 Vermutlich war das eine Vorbedingung für die Bewilligung gewesen. Frühe Vorarbeiten der Rabbinischen Texte gingen noch auf die Zusammenarbeit Kittels mit I. I. Kahan zurück. Deines, Die Pharisäer, S. 430. 56 Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3, 1929, Sp. 2022. 57 „My father read this work with bitter disappointment and then sat down to write to the publisher to ask him to delete his name as joint-editor of the series.“ Emile Marmorstein, My father – a memoir, in: Joseph Rabbinowitz und Myer S. Lew, Hg., The Arthur Marmorstein memorial volume. Studies in Jewish theology, London u.a., 1950, S. xxii. 58 Ebd. 59 Gerhard Kittel, Meine Verteidigung, UAT 162/31, S. 63. Dass er der DFG gegenüber geprahlt hatte, ein Forschungsprojekt über das Judentum bewusst ohne Juden durchzuführen, verschwieg er hingegen.
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Reformationszeit“.60 Als Brunner zu dieser Einschätzung kam, lagen gerade einmal drei Bände vor. Da alle Beiträge für den 1933 veröffentlichten ersten Band noch vor Ausbruch des Dritten Reiches geschrieben wurden, erschienen lediglich die Bände zwei (1935), drei (1938) und vier (1942) während der NS-Zeit. Das von Gerhard Kittel seinem Lehrer Adolf Schlatter gewidmete und von ihm allein herausgegebene Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament ist so sehr mit seinem Namen verbunden, dass es unter diesem Namen („familarly known as Kittel“) auch bekannt ist und gewöhnlich als „Kittel“ zitiert wird.61 Ganz im Gegensatz zu seiner früheren Forderung nach einer Zusammenarbeit mit jüdischen Gelehrten scheint Kittel zu keinem Zeitpunkt daran gedacht zu haben, jüdische Autoren zu beteiligen. Die Bedeutung des TWNT als zentrales Referenzwerk der protestantischen Theologie ist, national wie international, unbestritten. Gleichwohl wird seit einiger Zeit ein heftiger Streit darüber geführt, inwieweit sich in ihm antijüdische Einsprengsel bemerkbar machen. Nicht wenige Beiträger standen dem Nationalsozialismus nahe und traten in antisemitischer Weise in Erscheinung, sei es in der Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands oder in dem Eisenacher Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben. Der Zusammenhang ist nicht zu übersehen, dass das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament einerseits NS-Theologen ein Forum bot, Juden andererseits aber verschlossen blieb. Bereits 1984 hatte der niederländische Theologe Johannes Sijko Vos eine eingehende Untersuchung dieser Problematik vorgelegt und war zu dem Schluss gekommen, dass von Antisemitismus im TWNT nicht die Rede sein könne.62 Vor allem die 26 Artikel, die Kittel selbst beisteuerte, sei-
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Emil Brunner, Die Bedeutung des Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament für die Theologie, Beilage zu Bd. 4 des TWNT, ausgegeben im August 1940, abgedruckt in: ders., Ein offenes Wort. Vorträge und Aufsätze 1935–1962, Bd. 2, Zürich 1981, S. 62– 64, hier S. 62. 61 Alan Rosen, ‚Familarly known as Kittel‘. The moral politics of the ‚Theological Dictionary of the New Testament‘, in: Nancy A. Harrowitz, Hg., Tainted greatness. Antisemitism and cultural heroes, Philadelphia 1994, S. 37, hier S. 41f. Rosen übernahm die zitierte Phrase dem Vorwort der englischen Ausgabe des TWNT, die von Geofrey W. Bromiley besorgt wurde und deren erste Auflage von 1964–1976 erschien. 62 Johannes Sijko Vos, Antijudaismus / Antisemitismus im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament, in: Nederlands Theologisch Tijdschrift, 1984, S. 89–110. Zwei Jahre später erschien ein Artikel von Marshall D. Johnson, Power politics and New Testament scholarship in the National Socialist period, in: Journal of Ecumenical Studies 23, 1986, S. 1–24, der besonders auf Walter Grundmann und Georg Bertram einging.
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en frei von antisemitischen Einflüssen.63 Doch unterhalb des eigentlichen Antisemitismus unterschied Vos noch die beiden Formen eines theologischen und exegetischen Antijudaismus, die bei einigen Artikeln bemerkbar seien. Die deutlichsten Spuren einer antijüdischen Exegese fand Vos ausgerechnet bei Karl-Heinrich Rengstorf, dem 1936 wegen seiner Zugehörigkeit zur Bekennenden Kirche die Lehrbefugnis entzogen wurde. Eine antijüdische Tendenz sei bei Rengstorf auf der inhaltlichen Ebene „stark ausgeprägt“.64 Noch weitaus kritischer als Vos urteilte der emeritierte Neutestamentler der Universität Nottingham Maurice Casey, der das TWNT ein „sehr gefährliches“ Werk nannte. Die antisemitischen Bezüge seien zwar nicht auf Anhieb erkennbar und würden sich nur über eine eingehende Textanalyse erschließen lassen. Aber gerade wegen ihrer Einbettung in komplizierte theologische Diskurszusammenhänge sei ihre Wirkung so gefährlich. Die Studenten der Theologie müssten deshalb besonders darauf aufmerksam gemacht und gewarnt werden.65 Auch Wayne A. Meeks, emeritierter Professor für Biblical Studies an der Yale Universität, konstatierte eine fundamental antijüdische Struktur („fundamentally anti-Jewish structure“) des Theologischen Wörterbuchs.66 Zwar sei ein offener Rassenantisemitismus von vornherein nicht zu erwarten. Beim genaueren Hinsehen lasse sich jedoch die implizite Neigung erkennen, die augustinisch-lutherische Heilstheologie mit Elementen einer jüdischen Unheilstheologie zu kontrastieren. Zu einem ähnlichen negativen Urteil wie Meeks kommt der Regensburger katholische Neutestamentler Tobias Nicklas.67 Auch Nicklas stellte nach eingehendem Studium im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament „auf ganz unterschiedlichen Ebenen“ antisemitische Denkschemata fest, angefangen von der Übernahme
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Vos, Antijudaismus / Antisemitismus im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament, S. 93. 64 Ebd., S. 106. 65 „The ‚Theological Dictionary of the New Testament‘ is a very dangerous book, especially in its opening volumes. (...) It follows that this dictionary should be used only with the utmost care. Students should be warned of this hidden menace, and all readers should consult it with their critical wits sharpened to the highest degree.“ Maurice Casey, Some anti-Semitic assumptions in the ‚Theological Dictionary of the New Testament‘, in: Novum Testamentum 41, 1999, S. 291. 66 Wayne A. Meeks, A Nazi New Testament professor reads his bible: The strange case of Gerhard Kittel, in: Hindy Najman und Judith H. Newman, Hg., The idea of biblical interpretation. Essays in honor of James L. Kugel, Leiden 2004, S. 513. 67 Tobias Nicklas, Vom Umgang mit biblischen Texten in antisemitischen Kontexten, in: Hervormde Teologiese Studies / Theological Studies 64, 2008, S. 1895–1921.
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antijüdischer Stereotypen im Hinblick auf das so genannte Spätjudentum, bis hin zu „klar antisemitisch motivierten Fehlurteilen“.68 Diese innertheologische Diskussion, die hier nicht im Detail nachgezeichnet werden kann, ist sicher noch nicht abgeschlossen und wird weiter geführt werden müssen, wobei es darauf ankäme, in größerem Umfang auch jüdische Theologen einzubeziehen.69 Schon von der Anlage und der internationalen Ausrichtung des Theologischen Wörterbuchs her wäre es höchst unwahrscheinlich gewesen, wenn sich in ihm eine offen antisemitische Einstellung manifestiert hätte. Sein Einfluss wäre extrem eingeschränkt gewesen, wenn sich das TWNT gerade an diesem Punkt angreifbar gemacht hätte. Auf der anderen Seite ist kaum anzunehmen, dass Autoren, die sich ansonsten eindeutig antisemitisch und pronazistisch äußerten, ihrer Gesinnung in einem Buchprojekt dieser Art gänzlich entsagten. Immerhin konnte das TWNT mit Zustimmung der Reichsschrifttumskammer ohne jede Einschränkung aufgrund wirklichen oder auch nur vorgeschobenen Papiermangels bis Kriegsende gedruckt werden. Auch das ist ein deutlicher Fingerzeig auf einen nicht ausschließlich wissenschaftlichen Kontext des Kittelschen Wörterbuchs. Ein noch stärkeres Argument für eine kritische Relektüre stellt die Aussage Kittels dar, das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament sei als Beitrag des Protestantismus im Kampf gegen das Judentum zu verstehen. Wenn man das TWNT vom Vorwurf des Antisemitismus freisprechen will, muss das gegen den erklärten Willen seines Herausgebers erfolgen. Als im April 1938 in Halle der evangelische Fakultätentag zusammentraf, stand eine Debatte über die Reform des Theologiestudiums an oberster Stelle der Agenda.70 18 Dekane einschließlich des neu hinzugekommenen Dekans der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Wien diskutierten über die Relevanz des Alten Testaments und des von einigen radikalen Deutschen Christen ebenfalls in Frage bzw. sogar zur Disposition gestellten Hebräischunterrichts für das theologische Curricu68
Ebd., S. 1912. Ich danke in diesem Zusammenhang Jacob Haberman für die Überlassung einer englischen Kopie seines ebenso umfangreichen wie fundierten Artikels über Karl-Georg Kuhn (1906–1976): A German authority on the Talmud and post-biblical Judaism in a time of humanity at the limit (hebräisch), in: Mahut. Journal of Jewish literature and art (hebräisch) 31, 2006, S. 9–56, der sich auch mit dem TWNT und der Beteiligung Kuhns und Rengstorfs beschäftigt. 70 Siehe hierzu den hektographierten „Bericht über die Verhandlungen des Fakultätentages der evangelisch-theologischen Fakultäten Deutschlands“ von Hans Schmidt vom 25.4.1938, BArch R 5101 (Reichsministerium für die kirchlichen Angelegenheiten), 23808, der sich auch in verschiedenen Universitätsarchiven befindet, etwa im Universitätsarchiv Halle, Theologische Fakultät, Rep. 27, Nr. 298. 69
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lum. Für deutschchristliche Theologen wie Walter Grundmann (1906– 1976) und Heinz Eisenhuth (1903–1983) machte es keinen Sinn, das Judentum politisch bekämpfen zu wollen, dabei aber den jüdischen Einfluss auf die christliche Kirche auszunehmen. Sie versuchten deshalb, den Fakultätentag mit einer Denkschrift von der Notwendigkeit zu überzeugen, alles aus dem Studium der evangelischen Theologie zu entfernen, was auf einen Zusammenhang mit der jüdischen Vorgängerreligion hindeuten könnte.71 Die Mehrheit der Dekane zeigte sich damit nicht einverstanden. Ihre Position lag eher auf der Linie einer weiteren Stellungnahme, die von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen eingereicht wurde.72 Eine Abschaffung des Hebräischunterrichts komme aus sachlichen Gründen nicht in Frage, heißt es dort. Auch das Alte Testament gehöre zum elementaren Bestand der christlichen Theologie und somit auch des Theologiestudiums. Die von dem Tübinger Dekan Artur Weiser (1893– 1978) gezeichnete Denkschrift argumentierte einerseits mit der übernationalen Bedeutung des deutschen Protestantismus, die mit einem derartigen Schritt gefährdet wäre. Andererseits sprach sie sich mit deutlich antijüdischen Untertönen dafür aus, den evangelischen Theologiestudenten mit Hilfe authentischer Kenntnisse über das Judentum einen festen Standpunkt in der „Judenfrage“ zu vermitteln. Gerade in der jetzigen Situation bräuchten diese ein fundiertes Wissen über das Judentum und ein tieferes Verständnis für völkische Lebensfragen. Im Kittelschen Duktus heißt es: „Es ist selbstverständlich begrüßenswert, wenn im Rahmen eines theologischen Vorlesungsplanes spezielle Vorlesungen über die Judenfrage, über Christentum und Germanentum, über die rassenkundlichen und biologischen Probleme und deren Bedeutung für die Theologie ihren Platz finden.“73 Gegen eine nur fakultative Erlernung des Hebräischen plädierte 71
Siehe zu dieser Denkschrift, an deren Erstellung auch der Tübinger Kirchenhistoriker Ernst Stracke (1894–1963) beteiligt war, Tobias Schüfer, Walter Grundmanns Pogramm einer erneuerten Wissenschaft: Die ‚Völkische Theologie‘ von 1937 und ihre Ausgestaltung in der ‚Jenaer Studienreform‘, in: Roland Deines u.a., Hg., Walter Grundmann. Ein Neutestamentler im Dritten Reich, Leipzig 2007, S. 232–235; ein hektographierter Durchschlag der Denkschrift in BArch R 5101, 23808. 72 Die Tübinger Denkschrift „Zur Frage der Reform des theologischen Studiums“ findet sich als Anhang zu dem Schmidt-Bericht vom 25.4.1938, BArch R 5101, 23808. 73 Zur Frage der Reform des theologischen Studiums, S. 6. Es erscheint außerordentlich problematisch, hier von einer „sachbezogenen Aufgabenstellung“ zu sprechen, wie es Kurt Meier tut. Siehe ders., Anpassung und Resistenz der Universitätstheologie, in: Leonore Siegele-Wenschkewitz und Carsten Nicolaisen, Hg., Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus, Göttingen 1993, S. 86 sowie ders., Die Theologischen Fakultäten im Dritten Reich, Berlin 1996, S. 312.
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auch die gutachterliche Stellungnahme des Berliner Alttestamentlers Johannes Hempel (1891–1964), die in Schmidts Bericht über den Hallenser Fakultätentag ebenfalls zitiert wird. Wie das Tübinger Votum vertrat auch Hempel die Ansicht, dass der deutsche Theologiestudent das Wesen des Judentums von innen heraus verstehen müsse. Allein über den unterschiedlichen Sprachgebrauch des Hebräischen werde er, auf den „Wesensunterschied seines eigenen arischen und des semitischen Denkens“ aufmerksam gemacht. Er gewinne auf diese Weise einen Eindruck davon, „wie tief die rassischen Unterschiede in das gesamte geistliche und damit zugleich in das religiöse Gefüge hineinreichen“.74 Nicht zuletzt aufgrund des eindeutigen Votums des Fakultätentages nahm das Reichserziehungsministerium Abstand davon, den Hebräischunterricht abzuschaffen.75 Wegen der Brisanz dieser Frage und weil einige deutschchristlich dominierte Landeskirchen Anstrengungen unternahmen, die in die andere Richtung gingen, erbat der Präsident des Hallenser Fakultätentages und Professor für Altes Testament an der Universität Halle Hans Schmidt (1877–1953) von Gerhard Kittel in Tübingen eine weitere Stellungnahme. Kittels Antwort vom 16. Dezember 1938 ist sehr aufschlussreich und charakterisiert in nuce seinen Ansatz, den er im Anschluss an Adolf Schlatter auch im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament verfolgte.76 Kittel sprach sich ohne wenn und aber für eine Beibehaltung des Hebräischunterrichts aus. Die neutestamentliche Gräzität sei ohne Kenntnis des Hebräischen überhaupt nicht zu erfassen. Bestimmte literarische und Verfasserfragen des Neuen Testamentes könnten nur auf der Basis einer eingehenden Kenntnis der hebräischen Sprache verstanden werden. Die ganze Begriffsbildung und damit auch die Ausprägung des theologischen Denkens im Urchristentum beruhe wesensmäßig auf einer hebräisch-alttestamentlichen Begrifflichkeit, die dann aber sprachlich und inhaltlich in neutestamentliche Begriffe übergingen, „vielfach indem sie mit neuem, oft geradezu gegensätzlichen Inhalt gefüllt werden“. Das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament habe es sich zum Ziel gesetzt, den hier vorliegenden begriffsgeschichtlichen Prozess in wissenschaftlich seriöser Weise herauszuarbeiten. Eine wirkliche Aufhellung und Durcharbeitung des Transformationsprozesses vom Alten zum Neuen 74 Bericht über die Verhandlungen des Fakultätentages in Halle, zitiert nach UA Halle, Theologische Fakultät, Rep. 27, Nr. 298, S. 7. 75 So das Reichserziehungsministeriums in einem von Wilhelm Groh gezeichneten Schreiben an das Reichskirchenministerium vom 19.10.1938, BArch R 5101, 23808. 76 Gerhard Kittel an Hans Schmidt am 16.12.1938, BArch R 5101, 23808. Die Anfrage Schmidts, der ab 1914 für kurze Zeit als außerordentlicher Professor auch an der Universität Tübingen gelehrt hatte, ist nicht überliefert.
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Testament sei ohne das Hebräische ausgeschlossen. All diese „sprachlichen und sachlichen Entwicklungen“ müssten Gegenstand des NT-Studiums sein, da an ihnen die „vollkommene Um-Neu-und Gegensatzbildung gegenüber dem Judentum wirklich fassbar und konkret“ werde, und weiter: „Nur wo das Verhältnis Altes Testament – Neues Testament und Judentum – Neues Testament aus der sprachlichen Beherrschung der Fragestellung am Stoff selbst klargelegt wird, wird das Urteil über den schlechthinigen Antijudaismus des NT. ein festes und begründetes sein. Es kann kein falscheres Urteil geben als dies, daß die Beschäftigung mit dem Hebräischen den Studenten judaisiere, – wer in dieser Gefahr ist, wird ihr ohne Hebräisch sehr viel schneller erliegen! Heil Hitler Kittel“77
Kittel verteidigte in seiner Stellungnahme den Hebräischunterricht und die Kenntnis des Alten Testaments mit der antisemitischen Argumentation, dass man seinen Gegner kennen müsse, um ihn wirksam bekämpfen zu können. Demzufolge bestand die Aufgabe des Theologischen Wörterbuchs darin, den „schlechthinigen Antjudaismus“ des Neuen Testaments besser zu begründen und fester zu untermauern. Der von den deutschchristlichen Hardlinern an der Universität Jena vertretene Lösungsansatz, über die Aufgabe des Hebräischunterrichts und eine völlige Loslösung vom Alten Testament dem Vorwurf des „Judaisierens“ und einer zu großen Nähe zum Judentum zu entgehen, wurde von Kittel abgelehnt. Ganz im Gegenteil hielt er eine noch intensivere Beschäftigung mit der jüdischen Religion für notwendig, die beides ermöglichen sollte: am traditionellen Bestand der protestantischen Theologie festzuhalten und gleichzeitig dem politischen Anliegen des Nationalsozialismus zu entsprechen. Der von Kittel in seinem Brief an Hans Schmidt so prononciert formulierte Satz vom schlechthinigen Antijudaismus des Neuen Testaments bedeutete eine weitere Zuspitzung seiner Auffassung, dass zwischen Christentum und Judentum ein metaphysischer Gegensatz bestand, der sich nur durch die Taufe aufheben ließ. Mehrere Male wiederholte er sein Credo vom Neuen Testament als dem antijüdischsten Buch der Weltgeschichte, um den Antagonismus zwischen der christlichen und jüdischen Religion auf den Punkt zu bringen. Erstmals 1933 in seinem Buch über Die Judenfrage ausgesprochen, bekannte er sich vier Jahre später erneut dazu: „Ich nenne auch heute, trotz manches Widerspruches, den ich erfahren habe, das Neue 77 Schreiben des Reichserziehungsministeriums an das Reichskirchenministerium vom 19.10.1938, BArch R 5101, 23808.
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Testament ‚das antijüdischste Buch der ganzen Welt‘“.78 Selbst nach dem Krieg behauptete Kittel noch, der Antijudaismus des Neuen Testaments sei der antijüdischste, den es überhaupt geben könne.79 Welche Schwungkraft die Diskussion der „Judenfrage“ nach dem nationalsozialistischen Machtwechsel bekam, wird besonders an der Kittelschen Schrift Die Judenfrage ersichtlich.80 Aus der Absicht, dem Integrationsbedürfnis des deutschen Judentums stärker Rechnung zu tragen, war urplötzlich das Verlangen nach einer schnellstmöglichen Segregation, aus dem Problem der Assimilation das der Dissimilation geworden. Die Judenfrage ging auf einen Vortrag zurück, den Kittel am 1. Juni 1933 an der Universität Tübingen im Rahmen einer von der evangelisch-theologischen Fachschaft organisierten Vortragsreihe gehalten hatte. Außer Kittel sprachen der Eugeniker und Naturphilosoph Bernhard Bavink (1879–1947) über „Eugenik und Weltanschauung“ und der völkische Theologe Wilhelm Stapel (1882–1954) über „Gottes Reich und Drittes Reich“. Zu den überfüllten Vorträgen, die alle „das Gepräge der nationalsozialistischen Weltanschauung“ getragen hätten, strömten dem Bericht des Fachschaftsleiters Walter Göbell (1911–1988) zufolge nicht nur evangelische Theologiestudenten, sondern Studierende aller Fakultäten.81 Mit der Reihe sei beabsichtigt worden, das Programm der Deutschen Christen in der Öffentlichkeit besser bekannt zu machen. Göbell wies außerdem darauf hin, dass in Tübingen eine Ortsgruppe der Deutschen Christen gegründet wurde und dass die ganze Fakultät dem deutschchristlichen Anliegen offen gegenüber stehe. Nur auf dieser gemeinsamen Grundlage halte er eine „erfolgreiche theologische und nationalsozialistische Arbeit für möglich“.82 Dass ein notorischer Judenfeind wie Stapel, der mit der Monatsschrift Deutsches Volkstum eines der führenden antisemitischen Organe in der Weimarer Republik herausgab, eingeladen wurde, lässt die antijüdische Stoßrich78
Gerhard Kittel, Die Entstehung des Judentums und die Entstehung der Judenfrage, Forschungen zur Judenfrage, Bd. 1, Hamburg 1937, S. 62; das Zitat im Zitat aus ders., Die Judenfrage, Stuttgart, 2. Aufl. 1934, S. 61. 79 Kittel schrieb: „Der Antijudaismus des Neuen Testaments ist deshalb der antijüdischste, den es geben kann, weil er dem Gegensatz an der letzten und tiefsten Stelle, die es überhaupt geben kann, aufzeigt; als einen Gegensatz der tiefer ist als alle völkischen und alle Rassengegensätze der ganzen Welt: als den in der metaphysischen Wirklichkeit verwurzelten und aus ihr gegebenen.“ Gerhard Kittel, Meine Verteidigung, UAT 162/31, S. 7. Im Original steht fälschlicherweise „antijüdischeste“ und „metaphisische“. 80 Gerhard Kittel, Die Judenfrage, Stuttgart 1933 (2. und 3. Aufl. 1934). 81 Siehe den Bericht Göbells in den Theologischen Blättern, 1933, Sp. 373f. Göbell, der 1957 Professor für Kirchengeschichte an der Universität Kiel wurde, schrieb später weit über hundert Artikel für die dritte Auflage der Religion in Geschichte und Gegenwart. 82 Ebd., Sp. 374.
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tung des deutschchristlichen Aufbruchs auch in Tübingen deutlich erkennen. Die Aufgeschlossenheit vieler evangelischer Theologiestudenten dem Nationalsozialismus gegenüber erhielt dadurch eine Bestätigung von prominenter Seite. Nicht wenige unter ihnen traten in die SA ein und übernahmen dort leitende Funktionen. Einer zeitgenössischen Quelle zufolge waren im Tübinger SA-Studentensturm „der größte Teil der Unterführer Theologiestudenten“.83 Kittel widmete das bereits wenige Tage nach seinem Vortrag erschienene Buch Die Judenfrage seinen Bundesbrüdern im Tübinger Verein Deutscher Studenten (VDSt), der 1933 sein 50-jähriges Bestehen feierte. Nachdem es im Gefolge des Berliner Antisemitismusstreits an einigen norddeutschen Universitäten zu einer ersten Gründungswelle gekommen war, hatte sich 1883 auch in Tübingen eine Ortsgruppe des VDSt konstituiert. Eine wesentliche Aufgabe der im Kyffhäuserverband zusammengeschlossenen Vereine Deutscher Studenten bestand darin, den Antisemitismus unter den Gebildeten und an den Universitäten hoffähig zu machen. Zur Initialzündung für ihr Entstehen wurde ein infamer Beitrag des preußischen Historikers Heinrich von Treitschke (1834–1896) aus dem Jahr 1879, der mit dem berühmten Satz „Die Juden sind unser Unglück“ endete, ein Satz den sich der Stürmer später zum Untertitel erkor. Treitschkes Artikel entflammte eine polemische Agitation gegen die rechtliche Gleichstellung der Juden, an der sich an führender Stelle auch der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker (1835–1909) beteiligte. Dessen Einfluss innerhalb des deutschen Protestantismus kann kaum unterschätzt werden. Besonders Theologen und Pfarrer fühlten sich von Stoeckers eloquent vertretenem Programm eines sozialen Christentums mit antisemitischer Grundierung angezogen. Ein Kirchenmann wie Otto Dibelius (1880–1967) hatte sich schon sehr früh dem VDSt angeschlossen, nachdem er am 18. Januar 1900 eine Ansprache Stoeckers beim Reichsgründungskommers gehört hatte.84 Auch von dem württembergischen Landesbischof Theophil Wurm (1868–1953) ist bekannt, dass er sich in deutlichen Worten auf Stoeckers Antisemitis-
83 Jendris Alwast, Die Theologische Fakultät unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, in: Hans-Werner Prahl, Hg., Uni-Formierung des Geistes. Universität Kiel im Nationalsozialismus, Bd. 1, Kiel 1995, S. 91, nach Kirche und Volkstum in Niedersachsen, 1934, S. 64. 84 Marc Zirlewagen, Lebenswege bekannter VDSter, in: ders., Hg., 1881–2006: 125 Jahre Vereine Deutscher Studenten, Bd. 1: Ein historischer Rückblick, Bad Frankenhausen 2006, S. 198.
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mus berief.85 Hatte der Verein Deutscher Studenten zunächst eine betont monarchische Ausrichtung und vertrat die Leitidee einer Verbindung von Deutschtum, Monarchie und Christentum, trat nach dem Ersten Weltkrieg der Führergedanke an die Stelle des königlichen Herrschers. Die extreme Kriegspropaganda des VDSt verwandelte sich nach der Niederlage in eine umso ressentimentgeladenere Feindschaft den Juden gegenüber, denen man die Schuld an allem Schlechten in Deutschland zu geben suchte. Lange vor 1933 kam es zu einer Zusammenarbeit zwischen dem Verein Deutscher Studenten und dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund.86 Insofern bildete der Antisemitismus des VDSt ein Bindeglied zwischen dem reaktionären Nationalismus, wie ihn etwa die Deutschnationale Volkspartei repräsentierte, und der revolutionären Politik der nationalsozialistischen Bewegung. Erwartungsgemäß konnten sich besonders die Anhänger der Deutschen Christen mit den antisemitischen Positionen des VDSt identifizieren. Führende DC-Repräsentanten wie Ludwig Müller (1883–1945), Joachim Hossenfelder (1889–1976) und Wilhelm Kube (1887–1943), ab 1933 Verbandsvorsitzender des VDSt und später Generalkommissar für Weißrussland, gehörten zu den ebenso bekannten wie einflussreichen Mitgliedern des Vereins Deutscher Studenten. Doch das kirchen- und hochschulpolitische Spektrum, das der VDSt erfasste, reichte wesentlich weiter und schloss auch Vertreter der Bekennenden Kirche wie Otto Dibelius und Theophil Wurm ein. Der spätere Bischof Kurt Scharf (1902–1990) trat während seines Theologiestudiums in Tübingen Anfang der zwanziger Jahre dem VDSt bei.87 Auch der spätere baden-württembergische Kultusminister Wilhelm Hahn (1909–1996) schloss sich 1929 als Theologiestudent dem Tübinger VDSt an, dessen Vorsitzender er im Jahr
85 Kurz nach der Reichspogromnacht schrieb Wurm am 6.12.1938 an den Reichsjustizminister: „Ich bestreite mit keinem Wort dem Staat das Recht, das Judentum als ein gefährliches Element zu bekämpfen. Ich habe von Jugend auf das Urteil von Männern wie Heinrich von Treitschke und Adolf Stoecker über die zersetzende Wirkung des Judentums auf religiösem, sittlichem, literarischem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet für zutreffend gehalten und vor dreißig Jahren als Leiter der Stadtmission in Stuttgart gegen das Eindringen des Judentums in die Wohlfahrtspflege einen öffentlichen und nicht erfolglosen Kampf geführt.“ Gerhard Schäfer, Die evangelische Landeskirche in Württemberg und der Nationalsozialismus, Bd. 6, Stuttgart 1986, S. 116. 86 Baldur von Schirach nannte 1929 den VDSt in Tübingen als Beispiel für eine solche Zusammenarbeit. Siehe Michael Grüttner, Die waffenstudentischen Verbindungen im Dritten Reich, in: Marc Zirlewagen, Hg., Kaisertreue, Führergedanke, Demokratie. Beiträge zur Geschichte des Verbandes der Vereine Deutscher Studenten (Kyffhäuser-Verband), Köln 2000, S. 114. 87 Zirlewagen, Lebenswege bekannter VDSter, S. 239.
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darauf sogar wurde.88 Kittel selbst war 1907 gleich zu Beginn seines Studiums in den Verein Deutscher Studenten eingetreten. Wie die Mehrzahl der Universitätsdozenten im Kyffhäuserverband unterschrieb Kittel noch als Kieler Privatdozent die „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches“ vom 23. Oktober 1914, die dagegen Protest erhob, dass die Feinde des Reiches einen Gegensatz zwischen dem Geist der deutschen Wissenschaft und dem Geist des preußischen Militarismus zu konstruieren versuchten.89 Die Bedeutung der mentalen Verarbeitung der Kriegsniederlage kann bei dem sich in der Zwischenkriegszeit neu artikulierenden akademischen Antisemitismus nicht hoch genug veranschlagt werden. Auch in dieser Hinsicht war Die Judenfrage von Gerhard Kittel eine Programmschrift. Sie leitete nach einer Phase zutiefst verletzten Stolzes eine neue Ära nationalistischen Selbstbewusstseins ein. Mit der „Judenfrage“ einen allgemeinen Schlüssel zur Erklärung der politischen Entwicklung gefunden zu haben, bedeutete psychologisch gesehen eine enorme Erleichterung, die nach 1933 in eine nationalistische Emphase einmündete, als die Lösung des „Judenproblems“ zur offiziellen Staatsdoktrin wurde. Als Experte auf dem Gebiet der „Judenfrage“ befand man sich gewissermaßen im Zentrum des staatlichen Handelns und durfte auf eine entsprechende Unterstützung rechnen. Am 1. April hatte der nationalsozialistische Judenboykott stattgefunden und nur eine Woche später war am 7. April das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums erlassen worden, das nach und nach alle rassisch und politisch nicht genehmen Beamten aus ihren Positionen hinausdrängte. Am 1. Juni hielt Kittel seinen noch im gleichen Monat veröffentlichten Vortrag über die „Judenfrage“, in dem er sich anschickte, den vor allem im Ausland erhobenen Vorwurf zurückzuweisen, dass es sich bei diesen Maßnahmen um eine „barbarische Brutalität“ handle.90 Drei Monate vorher hatte Kittel 88 Siehe zu Hahn, der Mitte der 1930er Jahre aus dem VDSt wieder austrat, Marc Zirlewagen, Hahn, Wilhelm, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 27, 2007, Sp. 593–598 (www.kirchenlexikon.de, s.v. Hahn, zuletzt eingesehen am 13.12.2009). 89 Marc Zirlewagen, ‚Um unseres deutschen Volkes Sein oder Nichtsein‘ – Der Kyffhäuser-Verband der Vereine Deutscher Studenten im Ersten Weltkrieg, in: ders., Hg., ‚Wir siegen oder fallen‘. Deutsche Studenten im Ersten Weltkrieg, Köln 2008, S. 242. Auch Kittels Vater unterzeichnete als Ehrenmitglied des VDSt die Erklärung, deren Wortlaut sich auf „Wikisource“ (http://de.wikisource.org, zuletzt eingesehen am 13.12.2009) nachlesen lässt und in deren Schlusssatz es heißt: „Unser Glaube ist, daß für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt, den der deutsche ‚Militarismus‘ erkämpfen wird“. 90 Kittel, Die Judenfrage, S. 7f., zitiert nach der 1934 erschienenen dritten Auflage.
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zusammen mit etwa hundert anderen Personen des öffentlichen Lebens am 28. Februar 1933 in der Tübinger Chronik ein politisches Bekenntnis für die neue Reichsregierung abgelegt.91 Obwohl sich Kittel noch bei der Reichstagswahl im November 1932 für die Deutschnationalen eingesetzt und den Aufruf „Mit Hindenburg für Volk und Reich“ unterzeichnet hatte, trat er am 1. Mai 1933 mit drei weiteren Professoren der Evangelischtheologischen Fakultät (Karl Fezer, Ernst Stracke, Artur Weiser) der NSDAP bei.92 Das erste von Kittel mit seiner Schrift Die Judenfrage verfolgte Ziel war die Zurückweisung jeglicher Kritik an den antijüdischen Maßnahmen des NS-Staates. Zum andern wollte er seinen Mitbürgern das schlechte Gewissen ausreden, als ob das nationalsozialistische Berufsbeamtengesetz nicht mit den Prinzipien des Christentums vereinbart werden könne. Ganz im Gegenteil insistierte er darauf, dass „der Kampf gegen das Judentum vom Boden eines bewußten und klaren Christentums aus zu führen“ sei.93 Gott wolle nicht, dass sich die Deutschen einer falschen Sentimentalität hingäben. Sie sollten vielmehr den unerbittlichen Tatsachen ins Auge sehen und die notwendigen Konsequenzen daraus ziehen.94 Wie Kittel durchaus zugestand, würden einzelne Juden unter den Maßnahmen des NS-Staates schwer zu leiden haben und ihr Schicksal hart sein. Aber es gehe hier nicht um Individuen, sondern um das Schicksal des deutschen Volkes. Es verstehe sich von selbst, dass bei einer grundsätzlichen Lösung der „Judenfrage“ der Einzelne zurücktreten müsse.95 Kaum ein antisemitisches Klischee auslassend, sprach Kittel von dem Überhandnehmen eines verhängnisvollen jüdischen Einflusses in fast allen Bereichen des öffentlichen Lebens.96 Besonders das durch die Assimilation unbemerkt erfolgte Eindringen der Juden in wichtige Berufsfelder des Staates hätte diesen vor erhebliche Probleme gestellt und von innen her zersetzt. Mit einer altbekannten biologistischen Metapher nannte Kittel das entwurzelte und dekadente Judentum ein den „Volkskörper wie eine 91 Die Erklärung erschien am 1.3.1933 in der Tübinger Chronik. Zu den Unterzeichnern aus dem näheren Umfeld Kittels gehörten Karl Georg Kuhn, Wilhelm Pressel, Adolf Schlatter und der Oberstudiendirektor Dr. Eugen Stahlecker. 92 Der gemeinsam mit Max Wundt unterzeichnete Wahlaufruf für Hindenburg, in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA Rp. 76, Nr. 479, fol. 14f. Zum Parteieintritt Tübinger Professoren schreibt Adam (Hochschule und Nationalsozialismus, S. 38): „Zwischen März und Mai 1933 drängte es die Hochschullehrer scharenweise in die Partei, wobei es Mitglieder der Evangelisch-theologischen Fakultät besonders eilig hatten.“ 93 Kittel, Die Judenfrage, S. 8. 94 Ebd., S. 9. 95 Ebd., S. 12. 96 Ebd., S. 24ff. und S. 46ff.
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unheimliche Krankheit durchfressendes Gift“.97 Da für ihn von der Ausscheidung dieses Gifts das Überleben des deutschen Volkes abhing, war Die Judenfrage ein einziges Plädoyer, die Errungenschaften der Emanzipation rückgängig zu machen. Es habe sich als verhängnisvoller Fehler herausgestellt, Juden die gleichen Rechte einzuräumen. Kittel stand hier in der antisemitischen Tradition Stoeckers, um als konservativer Theologe über die „Judenfrage“ der politischen Gleichberechtigung den Kampf anzusagen. Ohne dass er im Frühsommer 1933 bereits einen elaborierten Rassenbegriff entfaltete, bewegte sich Kittels Argumentation ganz im Rahmen der nationalsozialistischen Rassenideologie, die es ihm ermöglichte, zu der althergebrachten, quasi natürlichen Unterscheidung zwischen Christen und Juden zurückzukehren. Niemals könne ein Jude deutscher Staatsbürger sein. Ein Jude als Universitätslehrer und Erzieher der deutschen Jugend sei schlechterdings undenkbar.98 Falls sich die Juden in Deutschland anständig verhielten, könne ihnen ein staatlich garantiertes Gastrecht innerhalb klar definierter Grenzen zugebilligt werden. Weil dies nach Kittels Auffassung allerdings nur sehr selten der Fall war, müsse ihre Zurückdrängung mit „aller Entschlossenheit“ und „restloser Konsequenz“ durchgeführt werden, möge die Welt auch noch so sehr „von Barbarei und von Rückfall in vergangene Zeiten“ schreien.99 Mit seinem die nationalsozialistische Judengesetzgebung übernehmenden Gastkonzept versprach sich Kittel die „radikale Ausrottung“ des liberalen, auf einem falschen Humanitätsideal beruhenden Schlagworts vom deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens.100 Der adäquate Weg für eine Lösung der „Judenfrage“ hätte aus der Sicht Kittels selbstverständlich im Übertritt der Juden zur christlichen Religion bestanden. Das Problem wäre dadurch auf eine ebenso einfache wie für alle Seiten positive Weise aus der Welt geräumt worden. Kittel scheint sich aber zunehmend bewusst geworden zu sein, dass sich die Juden trotz aller Missionsanstrengungen in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit diesem ‚Lösungsansatz‘ verweigerten. Zudem hatte er bei seiner Beschäftigung mit dem so genannten Assimilationsjudentum die Einsicht gewonnen, dass viele Juden aus nichtreligiösen Gründen zum Christentum über-
97
Ebd., S. 25. Ebd., S. 49f. 99 Ebd., S. 40f. 100 Ebd., S. 41. 98
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traten, ihre Bekehrung also nur vortäuschten.101 Obgleich Kittel den Missionsbefehl Jesu weiterhin als für „jede christliche Kirche unverrückbar und unaufgebbar“ bezeichnete,102 ließen Assimilation und Säkularisierung das Mittel der Judenmission als nur noch bedingt tauglich erscheinen. Mit der gleichen Enttäuschung, die schon Martin Luther bei seinen vergeblichen Versuchen, die Juden zu bekehren, befiel, wurde sich Kittel mehr und mehr klar darüber, dass die „Judenfrage“ eine Form angenommen hatte, die einen anderen als nur religiösen Lösungsansatz notwendig machte. Auf diesem schwankenden Grund einer theoretisch zwar noch immer geforderten, praktisch aber unmöglichen Missionslösung diskutierte Kittel seine vier, in der Literatur oft zitierten Möglichkeiten, dem „Judenproblem“ Herr zu werden: „1. 2. 3. 4.
Man kann die Juden auszurotten versuchen (Pogrome); man kann den jüdischen Staat in Palästina oder anderswo wiederherstellen und dort die Juden der Welt zu sammeln versuchen (Zionismus); man kann das Judentum in den anderen Völkern aufgehen lassen (Assimilation); man kann entschlossen und bewusst die geschichtliche Gegebenheit einer ‚Fremdlingsschaft‘ unter den Völkern wahren.“103
Kittel ließ keinen Zweifel daran, dass er die vierte Lösungsvariante, die der nationalsozialistischen Rassengesetzgebung entsprach, favorisierte. Den NS-Gesetzen kam dabei die Funktion zu, die früher die Ghettomauern besaßen: das „Judenproblem“ klar zu umgrenzen, es auf eine relativ kleine Minderheit zu beschränken und überschaubar zu halten. Ein solches Apartheidsystem sollte es verhindern, dass der Mehrheitsgesellschaft Probleme aus der Anwesenheit der Juden erwuchsen. So einfach und wirksam diese Logik in früherer Zeit zu funktionieren schien, so frustrierend war es für Kittel, als er feststellen musste, dass die Apartheidlösung beim Assimilationsjudentum ihren Dienst versagte. Die assimilierten Juden hatten den Glauben ihrer Väter aufgegeben und sich in die deutsche Gesellschaft integriert. Somit konnten sie als Juden nicht mehr so ohne weiteres erkannt und mit Hilfe der Religion aus- bzw. eingegrenzt werden. Es entstand eine ähnliche Konstellation, die im frühneuzeitlichen Spanien in der 101 „Hätte die Kirche an dem Punkt der Judenübertritte das Sakrament ihrer Taufe so heilig gehalten, wie es ihre Pflicht war; hätte sie sich nicht zum Vorspann für die Sünde der Assimilation machen und hätte sie sich nicht zu gesellschaftlichen und geschäftlichen Zwecken mißbrauchen lassen“, wären Kirche und Gesellschaft längst nicht in dieser Weise vom „Judenproblem“ betroffen. Ebd., S. 78. 102 Ebd. 103 Ebd., S. 13.
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Reaktion auf ein Kryptojudentum die limpieza de sangre - Statuten hervorgebracht hatte. Nachdem die Religion als Unterscheidungsmerkmal nicht mehr taugte, übernahm die Rassenzugehörigkeit die Funktion, Juden auch noch nach ihrem Übertritt zum Christentum als Juden ausmachen zu können. Man spürt auf Schritt und Tritt in Die Judenfrage Kittels Angst vor der jüdischen Zersetzung von innen her. Was half die beste Rüstung, wenn das Gift den Körper schon infiziert, die höchste Mauer, wenn sich der Feind bereits intra muros eingenistet hatte und dort unerkennbar sein Unwesen trieb? Auch die von Kittel an zweiter Stelle genannte Lösung der „Judenfrage“ über den Zionismus ging völlig konform mit der nationalsozialistischen Politik, wie sie insbesondere von der Gestapo und dem SD betrieben wurde, um die deutschen Juden über einen erhöhten ökonomischen und politischen Druck zur Auswanderung zu bewegen. Die Diskussion über ihre Ansiedlung im Nahen Osten, auf Madagaskar oder anderswo sollte das Problem als ein territoriales erscheinen lassen, es externalisieren. Nach Kriegsbeginn stellte sich auch dieser Lösungsansatz – wie zuvor schon der Gedanke der Mission, der Assimilation und der Apartheid – als unmöglich heraus und wurde nicht zuletzt mit dem Argument verworfen, dass die Feinde des Reiches durch die ausgesiedelten Juden erheblich gestärkt würden. Was blieb in Kittels viergliedrigem Modell noch übrig? Sicherlich kann man dem Tübinger Neutestamentler nicht vorwerfen, im Juni 1933 den Holocaust antizipiert zu haben. Abgesehen vom zwangsläufigen Paralogismus jeder retrospektiven Geschichtsinterpretation muss die von ihm hypothetisch angeführte Möglichkeit, alle Juden auszurotten, eher als eine rhetorische Figur verstanden werden, mit der er die Notwendigkeit einer „entschlossenen“ und „bewussten“ Judenpolitik unterstreichen wollte. Weil ihm aber offenbar die Hypothese einer Ausrottung des Judentums selbst nicht ganz geheuer war, erklärte er in dem direkt daran anschließenden Absatz, dass eine solche Lösung für „eine ernsthafte Betrachtung“ nicht in Frage komme. Zum einen sei das technisch überhaupt nicht möglich, zum anderen entbehre der Gedanke des inneren Sinns. Die geschichtliche Situation habe Deutschland vor eine Aufgabe gestellt, „die wir meistern sollen. Alle Juden totschlagen aber heißt nicht, die Aufgabe meistern“.104 So unhistorisch es wäre, Kittel hier vorzuwerfen, den Holocaust gerechtfertigt zu haben, so wenig kann man an der Tatsache vorbeigehen, dass sein Gedankenspiel wenige Jahre später zur Realität wurde.
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Ebd., S. 14.
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Sieht man sich Kittels Denkmodell genauer an, erkennt man an seiner Gedankenführung eine innere Dynamik, die bei einem Scheitern aller anderen Lösungsvarianten darauf hinauslaufen musste, sich des „Judenproblems“ dadurch zu entledigen, dass man sich seiner Urheber entledigte. Es sollte einem auch zu denken geben, dass sich mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits unter den Zuhörern seines Tübinger Vortrags Aktivisten des Nationalsozialistischen Studentenbundes befanden, die als Einsatzkommandoführer acht oder neun Jahre später praktisch umsetzten, was Kittel im Juni 1933 hypothetisch andeutete. Erwartungsgemäß erhob sich gegen das Gedankenspiel einer möglichen Ausrottung der Juden sofort Protest. Wie kam ein renommierter Universitätsprofessor dazu, solche Überlegungen anzustellen? In der bekannten englischen Tageszeitung The Jewish Chronicle konnte Kittel am 11. August 1933 lesen: „Is it not significant that when this theologian considers the policy of pogroms he says never a word of condemnation? He rules out pogroms not because they are wicked but only because they are impracticable. It is a question of expediency with him. (…) Hitler’s revolution has been termed ‚the meanest revolution in history‘. Professor Kittel’s book is the meanest handling of the Jewish question.“105
Darauf antwortete Kittel in der zweiten Auflage von Die Judenfrage mit der bezeichnenden Aussage, dass der Verfasser dieses Artikels schwerlich ahne, „ein wie stolzes und einzigartiges Lob dieser Vergleich einem seines Volkes und der Hingabe an seinen großen Führer bewußten Deutschen des Jahres 1933 bedeutet“.106 Außerdem fügte er hinzu, dass er den Gedanken einer Ausrottung der Juden für so absurd halte, dass es sich nicht lohne, „zu seiner Abwehr viele Worte zu verlieren“; selbstverständlich halte er ihn für unchristlich.107 An einer späteren Stelle in Die Judenfrage ist noch ein weiteres Mal von der Ausrottung der Juden die Rede. Bei der Unterscheidung zwischen einem echten, für ihn frommen und orthodoxen Judentum und dem seine wahre Bestimmung verratenden Assimilationsjudentum sprach Kittel vom Fluch der Assimilation und einer auch von den alttestamentlichen Propheten als schwere Sünde gebrandmarkten Vermischung Israels mit den anderen Völkern. „Das Alte Testament bestraft diese Sünde mit Ausrottung.“108 Hier erscheint Gott selbst als Agens der Aus105
Zitiert nach Kittel, Die Judenfrage, S. 115. Ebd., S. 115f. 107 Ebd., S. 14. 108 „Auch der fromme alte Ostjude verflucht noch heute seinen Sohn, wenn dieser in die Assimilation und das Konnubium mit der Nichtjüdin geht.“ Ebd., S. 38f. 106
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rottung. Er bedient sich der Menschen als Werkzeug, um die Verfehlung Israels zu bestrafen. Das jüdische Volk wird hingegen von Kittel als zurecht dem Fluch und der Ausstoßung Gottes unterworfen dargestellt. Die Menschen seien nicht befugt, den Zustand des göttlichen Fluchs aufzuheben. Die den Christen obliegende Pflicht zur Bekehrung der Juden könne nicht bedeuten, dass man sich „den politischen Maßnahmen unseres Staates gegen jene gottgewollte Fremdlingschaft“ widersetzt.109 In Kittels geschichtstheologischem Ansatz werden die politischen Maßnahmen des NS-Staates zu einer von Gott selbst verlangten Strafe für die Sünden der Juden. Einen Tag, nachdem Kittel seinen Vortrag gehalten hatte, erschien im Neuen Tübinger Tagblatt ein Artikel, der den Tübinger Neutestamentler in ebenso polemischem Tonfall wie holprigem Deutsch attackierte.110 Sein Verfasser nannte Kittels Ausführungen „volkstumsfeindlich“ und sprach von einem Skandal, weil Kittel die Judenmission verteidigte und sich „nicht entblödete“, für das Schächten einzutreten. Der als „Alttestamentler“ bezeichnete Kittel habe sich „in schärfsten Widerspruch zum Programm der NSDAP“ gesetzt.111 Obwohl das wahrscheinlich von einem ‚Neuheiden‘ aus dem Umfeld der Deutschen Glaubensbewegung stammende Elaborat kaum ernst genommen werden konnte, benutzte es Kittel in seiner Verteidigung nach dem Krieg, um zu belegen, wie sehr er vom Nationalsozialismus angefeindet worden wäre. Nur dank der Intervention einiger Freunde sei er „vor den drohenden schwersten Folgen“ bewahrt worden.112 Parallel zu seiner Vortragsvorbereitung arbeitete Kittel an einem Buchmanuskript mit dem gleichen Titel, das vom Stuttgarter Kohlhammer Verlag bereits wenige Tage später herausgebracht wurde. Und schon am 13. Juni 1933 erschien in der Tübinger Chronik eine überschwängliche Besprechung, die auch auf den wenige Tage vorher gehaltenen Vortrag Bezug nahm. Ein „vereinzelter scharfer Widerspruch in der Presse“ habe eine umso lebhaftere Erörterung und die „ausdrückliche Zustim109 Gerhard Kittel, Die Judenfrage im Lichte der Bibel, in: Glaube und Volk, H. 8, 1933, S. 154f. 110 Die Judenfrage. Vortrag von Prof. Kittel, Neues Tübinger Tagblatt vom 2.6.1933, S. 6. Gezeichnet ist der Artikel mit W.U.J.B. Das Neue Tübinger Tagblatt wurde am 1.5.1933 als nationalsozialistische Konkurrenzzeitung zur Tübinger Chronik ins Leben gerufen, stellte jedoch Ende 1933 sein Erscheinen wieder ein bzw. fusionierte mit der Tübinger Chronik. 111 Ebd. 112 Gerhard Kittel, Meine Verteidigung, S. 25. Zum Teil ging dieses Argument als historische Tatsache in die Literatur ein.
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mung von nationalsozialistischer Seite“ hervorgerufen.113 Kittels vier Punkte zur Lösung der „Judenfrage“ paraphrasierend, ging der Rezensent besonders auf die von Kittel verlangte Rücknahme der politischen Gleichberechtigung und die sich daraus ergebende Notwendigkeit einer konsequenten Fremdengesetzgebung ein. Dass „gerade für die edlen und gebildeten Juden“ daraus viel bittere Tragik entstehen müsse, sei unvermeidbar: „Die Forderungen, die in dieser Schrift aufgestellt werden, mögen manchem hart und streng erscheinen, aber sie sind nur unerbittliche Folgerungen aus der klar gesehenen Lage der Dinge.“ An dieser Schrift eines „gelehrten Kenners des Judentums“ werde sich jede künftige Diskussion über die „Judenfrage“ zu orientieren haben. Unter der Überschrift „Christlicher Antisemitismus“ brachte das Neue Tübinger Tagblatt am 16. Juni ebenfalls einen außerordentlich positiven Beitrag über Kittels Publikation. Er stammte von dem Tübinger Studentenpfarrer Wilhelm Pressel (1895–1986), den der württembergische Landesbischof Theophil Wurm einen Monat vorher am 12. Mai 1933 als Mitarbeiter in den Oberkirchenrat berufen hatte.114 Pressel, seit dem 1. Oktober 1931 Mitglied der NSDAP und in führender Position im nationalsozialistischen Pfarrerbund tätig, war am 4. Mai 1933, drei Tage nachdem sich Kittel der Partei angeschlossen hatte, für die NSDAP in den Tübinger Stadtrat eingezogen. Pressel gab sich in dem Zeitungsartikel „tief durchdrungen und erschüttert von der unheimlichen Gefährdung und Bedrohung“ des deutschen Volkes durch die Juden und lobte die „ausgezeichnete Untersuchung“ Kittels, weil sie es verstehe, die rassischen und religiösen Aspekte des „Judenproblems“ als eine Einheit zu sehen. Das göttliche Strafgericht an den Juden sei nur durch Gott selbst aufhebbar. Der deutsche Staat könne den Juden allenfalls einen Gaststatus im Rahmen strenger Gesetze gewähren. Selbstverständlich werde ein Jude nach der Taufe kein Deutscher. Kittels Behandlung der „Judenfrage“ geschehe mit „tiefem Ernst und hervorragender Sachkenntnis“ und zeige eine staunenswerte Übereinstimmung mit den „politischen Maßnahmen unserer Tage“. Der angehende Oberkirchenrat und enge Mitarbeiter Wurms schloss mit dem Lob, dass er außer Hitlers Mein Kampf „selten so etwas Klares und so Überzeugendes“ zu diesem Problem gelesen habe. Pressels Votum dürfte in der evangeli113 Professor D. Kittel über die Judenfrage, Tübinger Chronik vom 13.6.1933. Der Beitrag ist mit „Bg.“ gezeichnet. 114 Wilhelm Pressel, Christlicher Antisemitismus, Neues Tübinger Tagblatt vom 16.6.1933. Siehe zu seiner Vita den wenig kritischen Artikel von Johannes Michael Wischnath, Wilhelm Pressel (1895–1986), in: Rainer Lächele und Jörg Thierfelder, Hg., Wir konnten uns nicht entziehen. 30 Porträts zu Kirche und Nationalsozialismus in Württemberg, Stuttgart 1998, S. 299–301.
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schen Studentenschaft seine Wirkung nicht verfehlt haben. Viele Studenten sind erst durch ihn zum Eintritt in die NSDAP bewogen worden.115 Wie groß der Einfluss des Studentenpfarrers war, kann man daran ersehen, dass zu den von Pressel mehrere Male in der Woche abgehaltenen Morgenandachten über hundert Teilnehmer kamen. An seinen Semesterschlussgottesdiensten nahmen sogar bis zu 600 Studenten teil.116 Kittels Ausführungen über die „Judenfrage“ konnten sich gerade hier einer entsprechenden Aufmerksamkeit gewiss sein. Sie fielen in der Tübinger Studentenschaft auf einen besonders fruchtbaren Boden. In den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen des Jahres 1933 ging es für die evangelische Kirche vor allem darum, wie man mit dem deutschchristlichen Aufbruch und seinen Forderungen nach einer Änderung des kirchlichen Lebens umgehen sollte. Sollten die einzelnen Landeskirchen ihre Eigenständigkeit zugunsten einer deutschchristlichen Nationalkirche aufgeben? Welche Konsequenzen ergaben sich aus der staatlichen Judengesetzgebung für die Kirche? In einem der zweiten Auflage von Die Judenfrage beigegebenem zwölfseitigen Addendum mit dem Titel „Kirche und Judenchristen“ diskutierte Kittel genau diesen Punkt einer etwaigen Übertragung der nationalsozialistischen Rassengesetze auf den Bereich der Kirche. Daraus ergab sich die Frage, inwieweit zum Christentum konvertierte Juden oder Christen, deren Vorfahren einmal der jüdischen Religion angehört hatten, noch in der Kirche aktiv sein und vielleicht sogar ein Pfarramt ausüben konnten.117 War es redlich, die Ausscheidung des Judentums aus den staatlichen Berufen zu fordern, sie aber in der Kirche abzulehnen? Kittel antwortete darauf mit einer Variation der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre, dass nämlich die religiöse Gleichheit der Juden vor Gott keineswegs ihre politische Gleichstellung auf Erden nach sich ziehe. Es handelte sich hier für ihn deshalb um eine rein praktische Frage, die sich im Bedarfsfall durch die Gründung eigener judenchristlicher Gemeinden lösen ließ. Kittel wusste aber sehr gut, dass die Debatte um nichtarische Pfarrer ein Scheinproblem betraf, das in der 115 Jörg Thierfelder, Karl Fezer – Stiftsephorus in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Siegfried Hermle u.a., Hg., Im Dienst an Volk und Kirche! Theologiestudium im Nationalsozialismus. Erinnerungen, Darstellungen, Dokumente und Reflexionen, Stuttgart 1988, S. 132. In einem Interview behauptete Pressel am 12.12.1980 dagegen umgekehrt, dass viele Studenten ihn solange bearbeitet hätten, bis er schließlich widerwillig ihrem Parteieintritt zugestimmt habe. Benigna Schönhagen, Tübingen unterm Hakenkreuz. Eine Universitätsstadt in der Zeit des Nationalsozialismus, Tübingen 1991, S. 52. 116 Wischnath, Wilhelm Pressel, S. 302. 117 Kittel, Die Judenfrage, S. 101–113.
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kirchlichen Realität de facto nicht auftrat. Gerade in Württemberg gab es so gut wie keine Pfarrer, die den NS-Gesetzen zufolge als jüdischstämmig galten. Gar von einer „verjudeten“ Kirche zu sprechen, war völlig unangemessen. „Unsere evangelische Kirche ist judenreiner als irgendeine andere Organisation“, schrieb Theophil Wurm vier Jahre später. „Auf 1000 Pfarrer in Deutschland kommen 3 Nichtarier. Die Württembergische Landeskirche gehört zu denen, deren Pfarrstand überhaupt keine Semiten aufweist.“118 Der auf der preußischen Generalsynode am 5. September 1933 erlassene Arierparagraph wurde zu einer wichtigen Scheidelinie zwischen den gemäßigten und den radikalen Deutschen Christen, die in ihrem Kampf gegen das Judentum aus der Sicht der „Gemäßigten“ über das Ziel hinausschossen, weil sie die Judenmission und das Alte Testament ablehnten. Unterhalb dieser Linie und von einer nichttheologischen Perspektive aus gesehen unterschieden sich diese beiden Richtungen deutscher Christen aber nicht wesentlich voneinander, insbesondere nicht in ihrer Einschätzung des „Judenproblems“. Die Sportpalastrede Reinhold Krauses (1893– 1980) vom 13. November 1933 brachte den innerprotestantischen Konflikt zwischen „Gemäßigten“ und „Radikalen“ zum Ausbruch und zog eine Austrittswelle bei den Deutschen Christen nach sich, der sich auch Gerhard Kittel und Karl Fezer anschlossen. In Württemberg führte der Kirchenkampf dazu, dass Wurm und sein engster Mitarbeiter Pressel stark unter Beschuss gerieten, als sie sich offen gegen den Reichsbischof und seine Gleichschaltungsbestrebungen stellten. Wurm erhielt 1934 sogar Hausarrest, was wiederum die Evangelisch-theologische Fakultät der Universität Tübingen in Schwierigkeiten brachte, weil sie sich mit ihrem Landesbischof solidarisierte. Ganz im Sinne Wurms verfasste Kittel während des Kirchenstreits am 8. Oktober 1933 einen ausführlichen Situationsbericht, in dem er die hohe politische Bedeutung des evangelischen Pfarrstandes betonte.119 Selbstverständlich gehe von diesem keine Gefahr für den NS118
Theophil Wurm, Christus, Christentum, Kirche, Stuttgart 1937, zitiert nach Jörg Thierfelder, ‚Es lag wie ein Bann über uns‘. Landesbischof Theophil Wurm und die Judenverfolgung, in: Blätter für Württembergische Kirchengeschichte 1988, S. 455. Am 15.11.1936 hatte Wurm in einer Predigt ausgeführt: „Welche Kreise waren es, die vom 18. Jahrhundert an in steigendem Maß dem jüdischen Einfluß erlagen und mit jüdischem Blut sich mischten? Das waren die, die auch der Bibel und der Kirche entfremdet waren, während die bewußt christlichen Volkskreise in Stadt und Land dieser Überfremdung am meisten widerstanden.“ Ebd., S. 455. 119 „Man übertreibt nicht, wenn man sagt, daß mindestens 80 % der Pfarrerschaft mit heißem und ehrlichem Herzen heute Hitlers Tat anerkennen und ihm folgen wollen.“ Die evangelischen Pfarrer hätten verstanden, dass Adolf Hitler dem deutschen Volk als ein Retter aus der tiefsten Not von Gott gesandt wurde. Dies sei politisch von hoher
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Staat aus, mochten die Gegner der Kirche das Problem mit den nichtarischen Pfarrern und einem angeblichen jüdischen Einfluss innerhalb der Kirche noch so sehr aufblähen. Drei Tage vor diesem offensichtlich an den württembergischen Reichsstatthalter und Gauleiter der NSDAP Wilhelm Murr (1888–1945) adressierten Rechenschaftsbericht hatte Kittel bereits einen langen Brief an Wurm geschrieben, der auch insofern von besonderer Bedeutung ist, weil er in ihm auf seine guten Beziehungen zur nationalsozialistischen Studentenführung der Universität Tübingen verwies, die er dazu veranlasst habe, bei Murr zugunsten Pressels zu intervenieren.120 Die Judenfrage Kittels stieß in der kirchlichen Öffentlichkeit auf große Aufmerksamkeit und wurde auch in theologischen Kreisen breit rezipiert. Als die Evangelisch-theologische Fakultät der Universität Tübingen als Ganzes Stellung gegen die laut gewordene Kritik ausländischer Kirchenvertreter an der deutschen Ariergesetzgebung bezog, versandte sie am 9. November 1933 ein allgemeines Protestschreiben, das sich dagegen verwahrte, der Anwendung des Beamtengesetzes auf die deutschen Kirchen die Legitimität abzusprechen. Kittels Addendum „Kirche und Judenchristen“ einem an zahlreiche Gelehrte im In- und Ausland versandten Schreiben beifügend, erklärte der unterzeichnende Dekan Georg Wehrung (1880–1959), dass sich die Fakultät „einmütig“ zum Grundgedanken dieser Abhandlung bekenne.121 Auch wenn der politische Antisemitismus in diesem Teil der Kittelschen Schrift nicht so krass hervortritt wie im Haupttext, hieß es auch hier, dass die Forderung nach einer Reinigung des öffentlichen Lebens von den Juden keinesfalls unchristlich sei.122 Der Staat habe jeden Grund „konsequent und unerbittlich“ gegen die jüdische Überfremdung vorzugehen.123 Außerdem baute Kittels Beilage über „Kirche und Judenchristen“ ganz auf dem Gedankengang seiner Ausführungen in Die Judenfrage auf, so dass die Zustimmung der Fakultät zu Kittels Affidavit implizit und explizit auch den Inhalt der Buchpublikation selbst betraf. Bedeutung, „weil gerade in Württemberg noch viele auf die Pfarrer schauen. An vielen Orten strahlt das Vertrauen zu Adolf Hitler und der Wille zur Mitarbeit von Pfarrer und Kirche auf die Bevölkerung über.“ Kittels Schreiben an Wurm vom 8.10.1933 in Schäfer, Die evangelische Landeskirche in Württemberg und der Nationalsozialismus, Bd. 2, S. 582. 120 Kittel an Wurm am 5.10.1933, ebd., S. 562–566, hier S. 564. 121 Das Rundschreiben der Fakultät vom 9.11.1933 ist ebenso wie das dazugehörige Anschreiben vom 1.11.1933 abgedruckt in Theologische Blätter, 1933, Sp. 375. 122 Kittel, Kirche und Judenchristen, in: ders., Die Judenfrage, S. 105. 123 Ebd., S. 107.
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Ist der politische Erfolg dieser Briefaktion eher gering zu veranschlagen, blieb die von Kittel propagierte Notwendigkeit einer Reinigung des öffentlichen Lebens von den Juden nicht ohne Wirkung. Noch als Mitglied der Glaubensbewegung Deutsche Christen brachte Kittel auf dem württembergischen Landeskirchentag am 13. September 1933 einen in dieser Form auch angenommenen Resolutionsentwurf mit folgendem Wortlaut ein: „Der Landeskirchentag wolle beschließen: Den Herrn Landesbischof zu ersuchen, beim Landeskirchentag in tunlichster Bälde einen Gesetzentwurf betr. die sinnvolle Anwendung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums auf die kirchliche Verwaltung einzubringen, und zwar mit dem Beifügen, daß rassischen Gesichtspunkten keine rückwirkende Bedeutung zukommt.“124
Wegen des zwei Monate später am 16. November erlassenen Reichskirchengesetzes setzte man eine Behandlung des Antrag jedoch aus, um einer reichsweiten Regelung nicht vorzugreifen. Kittels Forderung nach einer „sinnvollen Anwendung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ wurde aber in zwei wichtigen Bereichen der württembergischen Landeskirche praktisch umgesetzt. Zum einen machten die Evangelisch-theologischen Seminare Württembergs 1934 die Zugehörigkeit zur arischen Rasse verpflichtend. Dem Aufnahmeantrag musste nun auch der Nachweis einer arischen Rassenzugehörigkeit beigefügt werden.125 Ebenso wie das Tübinger Stift standen die theologischen Seminare seit 1928 unter der Leitung und Verwaltung der Landeskirche, wobei der Evangelische Oberkirchenrat wichtige Entscheidungen in Absprache mit der Ministerialabteilung für die höheren Schulen im Stuttgarter Kultusministerium traf. Dass die angehenden Schüler ihre arische Abstammung jetzt bis zu den Großeltern zurück belegen mussten, war indes keine Zwangsmaßnahme des NS-Staates, sondern ein Akt der inneren Überzeugung und des vorauseilenden Gehorsams. Damit herrschten „in einer der kirchlichen Verwaltung unterstellten Einrichtung ab dem Jahre 1934 strengere Bedingungen hinsichtlich der ‚Rassenreinheit‘ als an öffentlichen Schulen, wo sogenannte ‚Nichtarier‘ weiterhin zugelassen waren“.126 Zum zweiten wurde im Dezember 1935 im Evangelischen Stift in Tübin-
124 3. Evangelischer Landeskirchentag, 2. Sitzung, 13.9.1933, S. 40ff., zitiert nach SiegeleWenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft vor der Judenfrage, S. 93f. 125 Siegfried Hermle und Rainer Lächele, Die evangelische Landeskirche in Württemberg und der ‚Arierparagraph‘, in: Hermle u.a. Hg., Im Dienst an Volk und Kirche, a.a.O., S. 181. 126 Ebd., S. 184.
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gen, dem traditionellen Studienhaus zur Heranbildung der geistlichen und geistigen Elite Württembergs, der Arierparagraph eingeführt. Die Landeskirche legte auch hier härtere Maßstäbe an, „als es der NS-Staat in seinem Bereich tat“.127 Die nationalsozialistische Presse zeigte sich hoch erfreut über so viel Entgegenkommen in der Rassenfrage. Selbst die ansonsten nicht gerade kirchenfreundlichen NS-Monatshefte brachten eine anerkennende Mitteilung darüber.128 Der Geist der neuen Zeit hatte allerdings schon seit längerem Einzug in das Evangelische Stift gehalten. Bei der Eröffnung des Wintersemesters 1933/34 sprach der Stiftsephorus Karl Fezer (1891–1960) im Beisein des Universitätsrektors Albert Dietrich (1873–1961) und des Staatskommissars Gustav Bebermeyer (1890–1975) am 26. Oktober 1933 davon, dass der Nationalsozialismus am Stift schon seit langer Zeit „mit offenem Herzen aufgenommen und von entschlossenen Kämpfern bewahrt worden war“. Wie vom Evangelium müsse man auch vom Nationalsozialismus innerlich überzeugt sein, um seine Ideen im täglichen Leben umsetzen zu können.129 Als Reaktion auf einen kritischen Bericht in der Zeitung des NSStudentenbundes zur 400-Jahrfeier des Stifts stellte der damalige Stiftsälteste Martin Elwert fest, dass „der Prozentsatz der SA- und NSDStB-Kameraden im Stift ein vielfacher von dem in der gesamten Studentenschaft ist. Darunter sind nicht wenige alte Kämpfer.“130 Fezer, der von 1931–1956 als Ephorus amtierte, spielte eine wichtige Rolle bei der Politisierung der evangelischen Studenten in Tübingen. Im April 1933 vom evangelischen Fakultätentag zum Beauftragten und Vertrauensmann für die anstehenden Verhandlungen mit den nationalsozialistischen Behörden ernannt, und wie Kittel im Mai 1933 der NSDAP beigetreten, propagierte auch Fezer eine enge Zusammengehörigkeit von Christentum und Nationalsozialis127
So wiederum Siegfried Hermle und Rainer Lächele, ebd., S. 186. Siehe auch Eberhard Röhm, Der württembergische Protestantismus und die ‚Judenfrage‘ im Zweiten Weltkrieg, in: Rainer Lächele und Jörg Thierfelder, Hg., Das evangelische Württemberg zwischen Weltkrieg und Wiederaufbau, Stuttgart 1995, S. 37. 128 „Das bekannte Tübinger Stift, die ‚Pflanzstätte des Württembergischen Pfarrerstandes‘ feierte am 7. und 8. Juni sein 400-jähriges Bestehen. Wie das Amtsblatt der Württembergischen Landeskirche mitteilt, wird von jetzt an zur Aufnahme in das Stift der Nachweis arischer Abstammung gefordert.“ Nationalsozialistische Monatshefte, Juli 1936, S. 659. 129 Semestereröffnung am evangelischen Stift, Tübinger Chronik vom 27.10.1933. Der ebenfalls anwesende Landesbischof Wurm appellierte an das Kirchenvolk, sich treu und fest hinter dem Führer zu scharen. Ebd. 130 Jörg Thierfelder, Karl Fezer – Stiftsephorus in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Hermle u.a., Hg., Im Dienst an Volk und Kirche, a.a.O., S. 148.
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mus. Wie Kittel habe auch Fezer bei seinen Vorlesungen stets das Parteiabzeichen getragen.131 Die Hörerzahlen Fezers und Kittels übertrafen die der anderen Universitätslehrer in der Evangelisch-theologischen Fakultät bei weitem.132 Wie die Verhältnisse in Tübingen auch noch in der Mitte der 1930er Jahre lagen, zeigt sich daran, dass Fezer allein mehr Hörer hatte, als alle Professoren der Philosophischen Fakultät zusammen.133 Nachdem Fezer 1933 einen Ruf an die Universität Berlin abgelehnt hatte, war er von der NS-Presse als unbeugsamer Kämpfer „gegen alles unechte und undeutsche Wesen in Kirche und Theologie“ gewürdigt worden.134 Deswegen kam es nicht von ungefähr, dass mit ihm ausgerechnet ein evangelischer Theologe am 1. Dezember 1933 zum ersten „Führerrektor“ der Universität Tübingen ernannt wurde. Seine vielfachen Appelle an die Studenten, nicht abseits zu stehen und sich politisch zu engagieren, gewannen dadurch noch mehr Gewicht. Die Forderung nach der „politischen Universität“ bildete denn auch das Motto seiner Rektoratsrede vom 18. Januar 1934, in der die Verklärung Adolf Hitlers fast schon religiöse Züge annahm.135 Wegen der kirchenpolitischen Auseinandersetzungen um den württembergischen Landesbischof Wurm wurde Fezers bis 1935 währende Amtszeit als Rektor aber nicht verlängert. Im protestantischen Tübingen hatte es eine erhebliche Bedeutung, dass Hochschullehrer wie Fezer und Kittel die Herzen der Studierenden 131
So der ehemalige Tübinger Student und spätere Professor für Neues Testament Reginald Horace Fuller in seinem Artikel ‚Peace in our time‘ – eine Außenansicht, in: Hermle u.a., Hg., Im Dienst an Volk und Kirche, a.a.O., S. 88f. Kittel habe zudem seine Veranstaltungen regelmäßig mit einem „Heil Hitler“ begonnen (ebd.). 132 Wischnath nennt für das Wintersemester 1936/37 851 Hörer für Fezer, 646 für Kittel und 465 für den an dritter Stelle platzierten Paul Volz. Johannes Michael Wischnath, Eine theologische Baselfahrt im Jahre 1937. Die Tübinger Bekenntnis-Studenten und ihr Besuch bei Karl Barth, in: Bausteine zur Tübinger Universitätsgeschichte 8, 1997, S. 135f. 133 Die größte Hörerzahl (159 Studenten) erreichte dort Max Wundt mit seiner Vorlesung zur Philosophiegeschichte. Ebd., S. 136. 134 „Sein offenes und freudiges Bekenntnis zu Adolf Hitler und dessen Werk hat auf die Pfarrerschaft, insbesondere auf deren junge Generation, einen ungeheuren Eindruck gemacht; daß er als einer der anerkanntesten Führer der deutschen Theologie sich dem Nationalsozialismus anschloß, nahm auch dem letzten Zweifler und Miesmacher die Einrede, echtes Christentum und echter Nationalsozialismus könnten jemals sich widerstreiten.“ Prof. Dr. Fezer bleibt in Tübingen, Neues Tübinger Tagblatt vom 8.11.1933. 135 Die Universität im neuen Staat. Rede des Rektors Dr. Fezer bei der Reichsgründungsfeier der Universität, in Tübinger Chronik, 23.1.1934. Eine Inhaltliche Wiedergabe auch bei Thierfelder, Karl Fezer, in: Hermle u.a., Hg., Im Dienst an Volk und Kirche, a.a.O., S. 139f. Einem Bericht der Tübinger Chronik vom 9.6.1933 zufolge hatte Fezer schon auf einer Veranstaltung des Evangelischen Volksbundes Hitler als Geschenk Gottes an das deutsche Volk bezeichnet und dieses zur tätigen Mitarbeit im neuen Staat aufgerufen.
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für den Nationalsozialismus zu gewinnen und ihren jugendlichen Aktivismus in die richtigen Bahnen zu lenken vermochten. Die Feststellung Grüttners, dass in den meisten Hochschulgruppen der NSDAP evangelische Theologen überproportional vertreten waren,136 findet in Tübingen eine eindrucksvolle Bestätigung. Wie erwähnt hatten auch im Tübinger Studentensturm der SA evangelische Theologen die Mehrheit. Der Hochschulgruppenführer des NS-Studentenbundes und Führer der Tübinger Studentenschaft Eugen Steimle (1909–1987) war bereits von Albert Dietrich in den von ihm als Rektor einberufenen Führerrat aufgenommen worden.137 Er amtierte dann als studentischer Beauftragter Fezers bei der Gleichschaltung der Studentenverbindungen. Steimle stammte aus einem streng pietistischen Elternhaus in Neubulach im Schwarzwald. Er studierte Germanistik und Geschichte und gehörte seit 1932 der NSDAP, der SA und dem NSDStB an. Von 1934–1936 war er Gaustudentenführer Württemberg-Hohenzollern und von 1937–1941 Leiter des Amtes Altherrenbund in der Reichsstudentenführung.138 Am 1. Dezember 1936 wurde er hauptamtlicher SD-Mitarbeiter und Führer des SD-Leitabschnitts Stuttgart. Selbst „Normanne“, bemühte sich Steimle mit Geschick um die von der Reichsstudentenführung favorisierte Überleitung der Stiftsverbindungen Roigel und Normannia in die Deutsche Burschenschaft.139 Der ehemalige Stiftler Ernst Bock machte in seinem Erlebnisbericht über diese Zeit auch darauf aufmerksam, dass sogar die württembergische Kirchenleitung den jüngeren Theologiestudenten empfahl, in die SA einzutreten und dass er selbst im Juni 1934 zusammen mit etlichen anderen Stiftsstudenten an einem zweiwöchigen Schulungskurs des SA-Hochschulamtes auf dem Schadenweilerhof bei Rottenburg teilnahm.140 Der aus Giengen an der Brenz stammende Erich Ehrlinger (1910–2004), NSDAPund SA-Mitglied seit Mai bzw. Juni 1931, war im Oktober 1931 Zugführer in 136
Michael Grüttner, Studenten im Dritten Reich, Paderborn 1995, S. 53. Adam, Hochschule und Nationalsozialismus, S. 52. Von Seiten der Professorenschaft gehörten dem Führerrat u.a. Gerhard Kittel, Ernst Stracke und Max Wundt an. 138 Grüttner, Studenten im Dritten Reich, S. 512f. 139 Dem Problem, dass Theologen in der pietistisch geprägten Landeskirche Württembergs mit Schmissen im Gesicht kaum in den Kirchendienst aufgenommen worden wären, begegnete Steimle dadurch, dass sowohl Stiftler als auch nicht im Stift wohnende Stadtstudenten nur die beiden ersten Mensuren zu fechten hatten. Bei diesen gab es keine „Durchzieher“ und somit auch keine Gesichtsverletzungen. „So konnten die beiden Verbindungen ‚schlagende‘ Burschenschaften werden und dennoch Stiftsverbindungen bleiben.“ Ernst Bock, Feste Burg im Sturm der Zeit, in: Hermle u.a. Hg., Im Dienst an Volk und Kirche, a.a.O., S. 60f. 140 Ebd., S. 57f. 137
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der SA-Sportschule auf dem Schadenweilerhof zehn Kilometer westlich von Tübingen geworden. Während seines Studiums in Berlin gehörte Ehrlinger zum Charlottenburger SA-Sturm 30 und hatte sich dort bereits in einem Milieu der revolutionären Militanz bewegt.141 Auch während seines in Tübingen im Oktober 1931 fortgesetzten Jurastudiums beteiligte er sich an Kampfaktionen der SA und der nationalsozialistischen Studentenschaft. Im Dezember 1933 Obersturmführer geworden, organisierte er mit seinem Sturm 2/216 im Januar 1934 Störaktionen gegen den katholischen Dogmatikprofessor Karl Adam (1876–1966), weil dieser in einem Vortrag die Jugend gegen die Autorität der neuen Staatsordnung aufgehetzt habe.142 Schon im März 1933 hatte Ehrlinger trotz des ausdrücklichen Verbots der Universitätsleitung zusammen mit einem anderen Tübinger Studentenführer, Martin Sandberger, die Hakenkreuzfahne auf dem Gebäude der Neuen Aula aufgezogen. Mit dieser erfolgreichen Aktion jugendlichen Draufgängertums wollte Steimle mit seinem Mitstreiter nach außen hin sichtbar machen, wer nun das Sagen an der Universität hatte.143 Der 1934 an der Universität Tübingen promovierte Jurist Sandberger kann als Musterbild eines nationalsozialistischen Studentenfunktionärs gelten. Er entstammte dem württembergischen „Kernmilieu der protestantischen Ehrbarkeit“, um zunächst im NS-Studentenbund und dann im Sicherheitsdienst der SS Karriere zu machen.144 Im Alter von 20 Jahren trat er als Mitglied der Sängerschaft Alt-Straßburg im November 1931 dem NSDStB, einen Monat später auch der SA und der NSDAP bei. Als im April 1933 Gerhard Schumann (1911–1995) in der Funktion eines Kommissars für die württembergische Studentenschaft in das Stuttgarter Kultusministerium wechselte, rückte Sandberger als Führer der Tübinger Studentenschaft nach. Im August 1933 wurde er in die Reichsleitung der Deutschen Studentenschaft und des Nationalsozialistischen Studentenbundes nach Berlin berufen. Wie etliche andere seiner Kommilitonen trat er 1935 von der SA zur SS über, wo er am 1. Januar 1936 eine hauptamtliche Tätigkeit 141
Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 92–97. 142 Hans Kreidler, Karl Adam und der Nationalsozialismus, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte, 1983, S. 135f. Die mit deutlich antikatholischen Aversionen angereicherte Boykottaktion hatte insofern Erfolg, als das Kultusministerium am 24. Januar ein Vorlesungsverbot gegen Adam verhängte, das aber zwei Tage später wieder aufgehoben wurde. 143 Siehe dazu, Wildt, Generation des Unbedingten, S. 100–104 und Sabine Besenfelder, ‚Staatsnotwendige Wissenschaft‘. Die Tübinger Volkskunde in den 1930er und 1940er Jahren, Tübingen 2002, S. 46–48. 144 Michael Ruck, Korpsgeist und Staatsbewußtsein. Beamte im deutschen Südwesten 1928 bis 1972, München 1996, S. 228f.
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übernahm. Im Zusammenhang eines Disziplinarverfahrens gegen eine ganze Reihe Tübinger Theologiestudenten, die im Wintersemester 1936/ 37 Karl Barth (1886–1968) in der Schweiz einen Besuch abgestattet hatten, setzte sich Sandberger gemeinsam mit Karl Fezer und seinem Mentor bei der SS und dem SD, Gustav Adolf Scheel (1907–1979), dafür ein, dass deren Bestrafung einigermaßen moderat ausfiel.145 Scheel, der eine zentrale Rolle bei der Übernahme studentischer NSFunktionäre in die SS und den SD spielte, hatte am Ende der zwanziger Jahre zwei Semester in Tübingen Theologie und Jura studiert, um 1929 zum Studium der Medizin nach Heidelberg zu gehen. Dass er sich bereits in Tübingen dem Verein Deutscher Studenten angeschlossen hatte, dessen Vorsitzender er in Heidelberg wurde, eröffnete ihm den Weg in eine steile hochschulpolitische Karriere. Kittel kannte Scheels Vater, einen evangelischen Pfarrer, der das Diakonissenmutterhaus in Mannheim leitete, schon seit längerem, und auch der Sohn sei schon als junger Tübinger Student in seinem Hause verkehrt.146 Wie Scheel hatte auch die überwiegende Mehrheit der Tübinger Studentenführer einen protestantischen Hintergrund. Dass sie sich durch einen Antisemitismus, wie er von Kittel in Die Judenfrage vertreten wurde, angesprochen fühlen mussten, versteht sich von selbst. Der Hass auf die Juden bildete das verbindende Element ihrer Tätigkeit im Nationalsozialistischen Studentenbund, im Sicherheitsdienst der SS und dann in den Einsatzgruppen an der Ostfront. Über die genannten Steimle, Ehrlinger und Sandberger hinaus wurden auf ganz ähnliche Weise noch etliche andere Tübinger Studenten zu Massenmördern, die sich an führender Stelle an der Ermordung des europäischen Judentums beteiligten. Neben der ideologischen Rechtfertigung der nationalsozialistischen Judengesetze verfolgte Kittel in Die Judenfrage noch eine zweite, mehr theoretische Intention. Die Kritik an den Schwächen der früheren Auseinandersetzung mit dem Judentum führte ihn dazu, die Überwindung eines von ihm als defizitär erachteten Antisemitismus in den Vordergrund seiner Überlegungen zu stellen. Geblendet durch die Ideen der Aufklärung und des Liberalismus sei die deutsche Intelligenz einer ernsthaften Be145
Wischnath, Eine theologische Baselfahrt, S. 159–164. So Kittel in einer eidesstattlichen Erklärung vom 30.1.1948, die sich in Scheels Spruchkammerakten befindet, Institut für Zeitgeschichte München, Mc 29 bzw. jetzt Sp. 42. Sie ist auch abgedruckt bei Georg Franz-Willing, ‚Bin ich schuldig?‘ Leben und Wirken des Reichsstudentenführers und Gauleiters Dr. Gustav Adolf Scheel 1907–1979, Leoni am Starnberger See 1987, S. 84–87. 146
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schäftigung mit der „Judenfrage“ ausgewichen und trüge deswegen eine Mitschuld daran, dass sie überhaupt erst entstehen und dann so virulent werden konnte. Es sei unredlich, wenn die gleichen Intellektuellen, die früher das Problem verharmlost oder seine Existenz geleugnet hätten, nun versuchen würden, ihre Hände in Unschuld zu waschen. Gerade diejenigen hätten versagt, die eine „wissenschaftliche Begründung hätten geben können“.147 Lediglich die Eberhard Karls Universität Tübingen wollte Kittel von seiner Kritik ausgenommen wissen. Als einzige Universität in Deutschland habe sie in der Vergangenheit Mut bewiesen und die erforderlichen Konsequenzen gezogen, so dass es an ihr im Frühjahr 1933 „weder in der Dozenten-, noch in der Studentenschaft eine Judenfrage gab“.148 Zwar hätte man auch in früherer Zeit die vom Judentum ausgehenden Gefahren gesehen. Doch der Mangel an klarer Erkenntnis habe eine wirklich fundierte Beschäftigung mit ihnen verhindert. Die ältere Judengegnerschaft sei deshalb nicht nur erschreckend harmlos geblieben, sondern jeder Versuch eines „ernsthaften Antisemitismus“ sei schon dadurch diskreditiert gewesen, weil er sich von vornherein als Polemik oder Radauantisemitismus abtun ließ.149 Was Kittel also forderte, war die Überwindung scheinwissenschaftlicher Theorien über das Judentum von Leuten, die keine Ahnung von der jüdischen Religion hatten, geschweige denn hebräische Texte lesen konnten. Mit Recht sei von nationalsozialistischer Seite immer wieder darauf hingewiesen worden, dass sich nur diejenigen zur „Judenfrage“ äußern sollten, die davon auch etwas verstünden.150 Kittel leitete daraus die Notwendigkeit einer neuen wissenschaftlichen Erforschung des „Judenproblems“ ab. Als jemand, der sich schon seit vielen Jahren intensiv mit den einschlägigen Schriften des Judentums befasst hatte, lag es für ihn wahrscheinlich nahe, dass er in der Konstellation des Jahres 1933 den Versuch unternahm, so etwas wie eine nationalsozialistische „Judenwissenschaft“ zu etablieren. Analog zur Transformation der „Judenfrage“ von einer der Integration in eine der Segregation schickte sich die von Kittel vertretene neutestamentliche Erforschung des Judentums nun an, den Ansatz einer konfessionellen Judaistik in eine wissenschaftliche „Antijudaistik“ oder „Antisemitistik“ zu verwandeln.
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Ebd., S. 37. Ebd., S. 35. Ebd., S. 34f. Ebd., S. 9.
6. Die Auseinandersetzungen um eine Professur zum Studium der „Judenfrage“ Den Bemühungen des NS-Staates, zu einer wissenschaftlichen Erforschung des „Judenproblems“ zu kommen, ging als Prolog die Entlassung aller jüdischen Hochschuldozenten voraus. Im Falle Martin Bubers und der von ihm an der Universität Frankfurt vertretenen jüdischen Religionswissenschaft hatte das Berufsbeamtengesetz noch die darüber hinausgehende Funktion, den ersten Ansatz einer von Juden selbst betriebenen Wissenschaft des Judentums aus dem deutschen Universitätssystem zu eliminieren. Nach Ansicht der Nationalsozialisten durfte die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Religion, der Geschichte, der Kultur oder anderen Aspekten des jüdischen Lebens nicht den Juden selbst überlassen werden. Sie galten aus nationalsozialistischer Perspektive als unfähig zu wirklich wissenschaftlicher Arbeit, überdies als parteiisch und voreingenommen. Verständlicherweise hätten sie in der Vergangenheit alles in ihrer Macht stehende getan, um die eigentliche Problematik der „Judenfrage“ zu verschleiern. Unter Berufung auf die ruhmreiche Tradition deutscher Universitätsbildung trat nach 1933 eine neue, genuin nationalsozialistische Judenforschung auf den Plan, die für sich in Anspruch nahm, mit wissenschaftlicher Objektivität und deutscher Gründlichkeit allen mit dem Judentum zusammenhängenden Problemen auf den Grund zu gehen. Einem generellen Trend der Zeit folgend, behauptete sie aber zugleich, dem völkischen Prinzip, das eine liberalistische Wissenschaftsauffassung früherer Zeit vergessen oder bewusst unterdrückt habe, Rechnung tragen zu müssen. Der zwischen Gerhard Kittel und Martin Buber im Anschluss an Kittels Die Judenfrage geführte Streit ist ein nachdrücklicher Beleg dafür, wie das christlich-jüdische Verhältnis unter den geänderten politischen Rahmenbedingungen wieder zum alten Schema offener Judenfeindschaft zurückkehrte. Somit bildete die Beseitigung der jüdischen das Präludium der antijüdischen Wissenschaft. Kittel hatte Buber sein antisemitisches Pamphlet sogleich nach dessen Erscheinen zugeschickt und zeigte sich bass erstaunt darüber, dass dieser
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nicht in der zustimmenden Weise antwortete, die er erwartet hatte. Buber gehörte für ihn in die Kategorie des frommen, nicht durch Säkularisierung und Assimilation angekränkelten Ostjudentums, mit dem sich Kittel der glaubensmäßigen Grundhaltung nach in Übereinstimmung wähnte. Überdies hatte Kittel Buber drei Jahre vorher auf der fünften „Studientagung zur Judenfrage“ im März 1930 in Stuttgart persönlich kennen gelernt. An der von mehreren deutschen Missionsgesellschaften organisierten Zusammenkunft nahmen damals aus Tübingen noch Adolf Schlatter, Karl Heim (1874–1958) und Karl Heinrich Rengstorf teil.1 Von den Genannten hielt lediglich Schlatter einen Vortrag, der indes stark judenmissionarische Züge trug. Wenn sich ein Jude schon nicht zur Freiheit Gottes bekehren wolle, solle er wenigstens „als Israelit ohne Trug im Sklavenstande bleiben“ und nicht „aus Rücksicht auf irdische Verhältnisse und Umgebungen“ seiner religiösen Bindung untreu werden, so Schlatter.2 Aus Kittels Sicht entsprach Buber diesem Modell eines bekehrungsunwilligen frommen Juden, der aber wenigstens an seinem Glauben festhielt und somit ein potentieller Verbündeter im Kampf gegen die Säkularisierungstendenzen der modernen Gesellschaft war. Soweit sich Bubers Ruf „Zurück zur Religion!“ auch gegen das assimilations- und anpassungswillige zeitgenössische Judentum richtete, glaubte Kittel im Einklang mit Buber zu sein. Umso mehr enttäuschte es ihn, dass sich Buber dem von ihm als Anfang eines neuen Religionsgesprächs verstandenen Ausführungen in Die Judenfrage verweigerte. Wahrscheinlich hatte Kittel noch am Morgen des 13. Junis 1933 den zustimmenden Artikel Wilhelm Pressels im Neuen Tübinger Tagblatt gelesen, bevor er am gleichen Tag ein Exemplar der Schrift an Buber schickte. In seinem Begleitbrief schrieb Kittel, es sei ihm durchaus bewusst, dass Die Judenfrage Gesichtspunkte enthalten könnte, die Buber als feindselig erscheinen müssten. Doch „in einem tieferen Sinn“ seien sie es vielleicht doch nicht.3 Zur Enttäuschung Kittels antwortete Buber nach der Lektüre des Buches jedoch unzweideutig ablehnend. Auch wenn Kittel sich „im Tiefsten“ mit ihm verbündet zu wissen meine, könne das niemals seine Interpretation rechtfertigen, von den Juden „Gehorsam unter die Fremdlingsschaft“ zu verlangen. Sollten die Juden, frag-
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Das Programm der Tagung vom 3.–5.3.1930 ist abgedruckt bei Eberhard Röhm und Jörg Thierfelder, Juden, Christen, Deutsche, Bd. 1, 1933–1945, Stuttgart 1990, S. 102f., ein ausführlicher Tagungsbericht in Saat auf Hoffnung 67, 1930, S. 46–61. 2 Saat auf Hoffnung 67, 1930, S 49. 3 Brief Kittels an Buber vom 13.6.1933, in: Martin Buber. Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, hg. und eingeleitet von Grete Schaeder, Bd. 3, Heidelberg 1975, S. 486f.
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te Buber zurück, ihre Diffamierung nicht „bloß als Gottes gerechte Schickung, sondern auch als der Menschen gerechte Tat“ auffassen?4 Auf einen von Buber in den Theologischen Blättern veröffentlichten „Offenen Brief an Gerhard Kittel“ fügte dieser der zweiten Auflage von Die Judenfrage seine „Antwort an Martin Buber“ an.5 Darauf reagierte Buber erneut mit einer betont sachlichen Replik, die wiederum in den Theologischen Blättern erschien.6 Ganz offensichtlich hatte Buber den Ernst der Lage nicht erkannt und glaubte, mit Kittel einen wissenschaftlichen Diskurs über theologische Begriffe, insbesondere über das alttestamentliche Gastsassenkonzept, zu führen. Kittel suchte Buber dagegen als jüdischen Kronzeugen für eine gesetzlich normierte „Fremdlingsschaft“ des deutschen Judentums in Anspruch zu nehmen und wunderte sich, als dieser nicht darauf einging. Im Nachhinein erscheint es einigermaßen irritierend, dass Buber den in Die Judenfrage so offensichtlichen Frontalangriff auf die Errungenschaften der Emanzipation und die Rechte der Juden nicht wahrnahm. Gershom Scholem (1897–1982), dem Buber von seinem Disput mit Kittel erzählt und dem er auch seinen offenen Brief nach Jerusalem geschickt hatte, sah weitaus klarer, welche argumentativen Strukturen und politischen Denkmustern der Kittelschen Schrift über die „Judenfrage“ zugrunde lagen. Am 24. August 1933 schrieb Scholem an Buber: „In der vorigen Woche brachte Fritz Baer aus Deutschland die Broschüre von Gerhard Kittel mit und ich habe sie gerade in diesen Tagen gelesen, mit einem Ekel und einer Empörung, die ich durch Ihren offenen Brief ebenfalls hindurchgespürt habe. Es ist, scheint mir, unter allen schmachvollen Dokumenten eines beflissenen Professorentums, die uns doch immer wieder überraschen, gewiß das schmachvollste. Welche Verlogenheit, welch zynisches Spiel mit Gott und Religion. Und das war einer jener Herren, die von unserer Seite doch noch emporgelobt worden sind.“
Zwangsläufig würde die Realisierung von Kittels Forderungen den Rückfall in längst überwunden geglaubte Zeiten eines voremanzipatorischen Antisemitismus bedeuten.7 Durch die Reaktion Bubers musste sich Kittel in gewisser Weise bestätigt sehen, dass er keine jüdischen Wissenschaftler, von denen ein wirkliches Verständnis für das Anliegen des Christentums offenbar nicht zu er4
Undatierte Antwort Bubers, ebd., S. 487f. Martin Buber, Offener Brief an Gerhard Kittel, in: Theologische Blätter 1933, Sp. 248– 250 und Gerhard Kittel, Antwort an Martin Buber, in: Die Judenfrage, 2. Aufl., Stuttgart 1934, S. 88–100. 6 Buber, Zu Gerhard Kittels ‚Antwort‘, in: Theologische Blätter 1933, Sp. 370f. 7 Brief Scholems an Buber vom 24.8.1933, in: Martin Buber. Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, Bd. 3, S. 501f. 5
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warten stand, am Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament beteiligt hatte. Stattdessen gehörte eine erstaunlich hohe Zahl von Gelehrten mit antisemitischen Ressentiments zu den Beiträgern des TWNT. Aus seinem Tübinger Mitarbeiterstab sind hier besonders Walter Grundmann (1906– 1976) und Karl Georg Kuhn (1906–1976) zu nennen. Die beiden gleichaltrigen und auch im gleichen Jahr verstorbenen Nachwuchswissenschaftler hatten außer einer besonderen Nähe zum Nationalsozialismus auch eine ausgeprägte Abneigung dem Judentum gegenüber gemeinsam. Beide wurden während ihrer Tübinger Ausbildungszeit sowohl in wissenschaftlicher als auch in politischer Hinsicht entscheidend geprägt. Grundmann, der in den zwanziger Jahren auch zwei Semester in Tübingen studiert hatte, arbeitete von Oktober 1930 bis März 1932 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen, wo er am 31. Juli 1931 bei Kittel promoviert wurde.8 Bereits zwei Monate nach Übernahme seiner Assistententätigkeit trat er am 1. Dezember 1930 der Tübinger Ortsgruppe der NSDAP bei. Zum unmittelbaren Anlass dafür wurde offenbar der Besuch einer Wahlkampfveranstaltung der Nationalsozialisten in Stuttgart, bei der er mit Kittel zusammen eine Rede Hitlers gehört hatte.9 Für die beiden ersten TWNT-Bände steuerte Grundmann zwölf Artikel bei und auch an der Redaktionsarbeit des Theologischen Wörterbuchs war er beteiligt. Grundmann verstand sich indes mehr als Schlat-
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Seine Doktorarbeit erschien 1932 im Stuttgarter Kohlhammer Verlag unter dem Titel Der Begriff der Kraft in der neutestamentlichen Gedankenwelt. Zu Grundmanns Vita siehe die Personalunterlagen im Universitätsarchiv Jena, im Hauptstaatsarchiv Weimar und im Bundesarchiv Berlin. Mittlerweile gibt es aber eine umfangreiche Sekundärliteratur, etwa Klaus-Peter Adam, Der theologische Werdegang Walter Grundmanns bis zum Erscheinen der ‚28 Thesen der säschsischen Volkskirche zum inneren Aufbau der Deutschen Evangelischen Kirche‘ Ende 1933, in: Leonore Siegele-Wenschkewitz, Hg., Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus. Theologische und kirchliche Programme Deutscher Christen, Frankfurt a.M. 1994, S. 171–199; Wolfgang Schenk, Der Jenaer Jesus. Zu Werk und Wirken des völkischen Theologen Walter Grundmann und seiner Kollegen, in: Peter von der Osten-Sacken, Hg., Das missbrauchte Evangelium, Berlin 2002, S. 167–279; Roland Deines u.a., Hg., Walter Grundmann. Ein Neutestamentler im Dritten Reich, Leipzig 2007; Anders Gerdmar, Roots of theological anti-Semitism. German biblical interpretation and the Jews, from Herder and Semler to Kittel and Bultmann, Leiden 2009, S. 531–576. Als erste hatte sich Susannah Heschel mit Grundmann und dem Eisenacher „Entjudungsinstitut“ zu beschäftigen begonnen. Siehe hierzu die in der Bibliographie genannten Titel von ihr. 9 Lukas Bormann, Walter Grundmann und das Ministerium für Staatssicherheit. Chronik einer Zusammenarbeit aus Überzeugung (1956–1969), in: Kirchliche Zeitgeschichte 22, 2009, S. 599. Es handelte sich dabei vermutlich um die Rede Hitlers zur vorgezogenen Reichstagswahl in der Stuttgarter Stadthalle am 7.12.1930.
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ter- und weniger als Kittelschüler.10 Nachdem er sich 1933 in Sachsen dem nationalsozialistischen Pfarrerbund und den Deutschen Christen angeschlossen hatte, wurde er noch im gleichen Jahr zum Oberkirchenrat und fünf Jahre später an der Universität Jena zum ordentlichen Professor für Neues Testament und völkische Theologie ernannt. Dass er 1938 auch in die neu gegründete Vereinigung der europäischen Neutestamentler Studiorum Novi Testamenti Societas aufgenommen wurde, hatte er Kittel zu verdanken, der als einziger Deutscher dem SNTS-Committee angehörte.11 Wie Kittel als junger Mann in Leipzig durch Israel Isser Kahan in das Studium der rabbinischen Literatur eingeführt wurde, so erwarb Karl Georg Kuhn seine ersten Kenntnisse über den Talmud und die Mischnah in Breslau von Israel Rabin. Kuhn, dessen Vater Generalsekretär des Evangelischen Jungmännervereins in Schlesien war, hatte im Sommersemester 1935 an der Universität Breslau evangelische Theologie und orientalische Sprachen zu studieren begonnen.12 Das 1928 in Tübingen fortgesetzte Studium schloss Kuhn im April 1931 mit der Promotion in der Philosophischen Fakultät bei Enno Littmann (1875–1958) ab. Wie bereits erwähnt erschien Kuhns Dissertation 1934 im Stuttgarter Kohlhammer Verlag in der den tannaitischen Midraschim gewidmeten zweiten Reihe der Rabbinischen Texte.13 In dem Milieu, in dem sich Kuhn in Tübingen bewegte, bekam er wegen seiner früheren Bekanntschaft mit Rabin und weil er sich in 10 Siehe dazu Grundmanns Autobiographie „Erkenntnis und Wahrheit“ (97 S., begonnen am 1.9.1969) im Landeskirchenarchiv Eisenach. Es habe zu den großen Freuden seines Lebens gehört, dass Schlatter, wie ihm dessen Sohn Theodor berichtete, große Stücke auf ihn hielt und für ihn eintrat, als er sich während des Kirchenkampfes vielen Anfeindungen ausgesetzt sah. Trotz vieler persönlicher Verbindungen mit Juden sei Kittel ein „grundsätzlicher Judengegner“ gewesen. Ebd., S. 21f. 11 Bormann, Walter Grundmann und das Ministerium für Staatssicherheit, S. 597 und Roland Deines, Die Pharisäer. Ihr Verständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen Forschung seit Wellhausen und Graetz, Tübingen 1997, S. 416. Die SNTS-Gründung ging auf die ökumenische Kirchenkonferenz „Faith and Order“ zurück, die im August 1937 in Edinburgh stattfand. 12 Zu Kuhns Vita siehe seine Personalakten in den Universitätsarchiven Tübingens und Heidelbergs sowie seine BDC-Akten im Bundesarchiv Berlin. Ein aktueller biographischer Eintrag, in dem indes Kuhns Engagement für den Nationalsozialismus ausgeklammert wird, findet sich in Dagmar Drüll, Hg., Heidelberger Gelehrtenlexikon 1933– 1986, Berlin 2009, S. 372f. Der Frage, warum jemand wie Kuhn 1964 Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften werden konnte, widmet sich ausführlich Gerd Theißen, Neutestamentliche Wissenschaft vor und nach 1945: Karl Georg Kuhn und Günther Bornkamm, Heidelberg 2009. 13 Eine Rezension von Michael Higger in The Jewish Quarterly Review 27, 1936, S. 208– 212. Die inhaltlichen Fehler seien weniger auf die Übersetzung selbst, als auf Kuhns Kommentierung zurückzuführen.
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Breslau angeblich sogar einmal judenfreundlich geäußert habe, Schwierigkeiten. Kuhn sah sich deshalb verleumderischen Gerüchten ausgesetzt, die offenbar ihren Ausgang vom SA-Sturm 9/126, dem so genannten Assistentensturm, nahmen, in dem Kuhn einen mehrwöchigen Lehrgang absolviert hatte. Kuhn, der am 19. März 1932 in die NSDAP und am 28. April 1933 in die SA eingetreten war, hoffte mit Hilfe eines von ihm selbst beantragten Parteigerichtsverfahrens, der Diffamierung seiner Person begegnen zu können.14 Anscheinend hatte sich das Gerücht bereits an der Universität herumgesprochen und drohte, ein Problem für seine Habilitation zu werden. Eine weitere Schwierigkeit bestand für Kuhn darin, dass sich seine frühere Braut den Kommunisten angeschlossen hatte. Auch er selbst gab zu, 1931/32 die Werke von Marx und Lenin studiert zu haben. Doch dann sei ihm die Unvereinbarkeit des kommunistischen Materialismus mit seiner christlichen Grundhaltung aufgegangen und er daraufhin zu einer entschiedenen Bejahung des nationalsozialistischen Sozialismus gekommen.15 Seine ehemalige Braut Irmgard Gräfin von Hardenberg, mit der Kuhn seit 1925 verlobt war, kam 1934 wegen ihrer politischen Überzeugung sogar ins Gefängnis. Für Kuhn, der sich auch privat neu orientierte und im Mai 1934 die Tochter eines Diakons der Betheler Anstalten heiratete, wurde die Widerlegung der gegen ihn erhobenen Vorwürfe zum Schlüssel, der ihm die Tür zu einem neuen Lebensabschnitt öffnete. Wenn auch das Wort Renegat in seinem Fall zu hoch gegriffen wäre, bedeutete die Verteidigung seiner Ehre gegen die Anschuldigung judenfreundlicher und prokommunistischer Neigungen ein wichtiges psychologisches Moment, das nicht von ungefähr eine Kompensation nach der anderen Seite hin bewirkte. Nachdem er in seinem Verfahren vor dem Parteigericht in jeder Hinsicht Recht bekommen hatte, war für ihn der Weg frei geworden, um sich mit ganzer Kraft auf seine beruflichen und politischen Interessen zu konzentrieren. Das Umfeld des Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament scheint eine nicht geringe Rolle gespielt zu haben, dass seine Beschäftigung mit dem Judentum in ein offen antisemitisches Fahrwasser geriet. Dank der Fürsprache Enno Littmanns erhielt er eine Anstellung an der Tübinger Universitätsbibliothek, bei der er die handschriftlichen Einträge 14
Siehe dazu das Konvolut „Verfahren vor dem Parteigericht“ in UAT 126a/284. „Und weil meine frühere Braut die Konsequenz des Eintritts in die kommunistische Partei gezogen hatte, glaubte auch ich, konsequent sein zu müssen, und trat deswegen im Jahre 1932 in die NSDAP ein.“ So Kuhn während seines Spruchkammerverfahrens nach dem Krieg, zitiert in dem 15-seitigen Urteil vom 18.10.1948, in: StA Sigmaringen, Wü 13, 2657, S. 4. 15
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Theodor Nöldekes (1836–1930) in dem Handexemplar des vierbändigen Lexicon Arabico-Latinum (1830–1837) von Georg Wilhelm Freytag auf Karteikarten übertragen sollte.16 Wegen seines vielfältigen anderen Engagements kam Kuhn seiner Aufgabe jedoch nicht in ausreichendem Maße nach und hatte in der vereinbarten Zeit nur einen Bruchteil des Gesamttextes bearbeitet. Deswegen wollte ihn der Direktor der Universitätsbibliothek Georg Leyh (1877–1968) dazu verpflichten, den umfänglichen Rest unentgeltlich zu transkribieren. Kuhn hatte mittlerweile aber einflussreiche Freunde, so dass die Sache im Sande verlief. Vielleicht war das auch ein Grund dafür, dass Kittel und nicht Littmann zum eigentlichen Förderer und Mentor Kuhns wurde. Kittel hatte sich während des früheren Streits in der SA vehement für Kuhn eingesetzt und ihm den Rücken gestärkt. In einer für Kuhns Rechtsanwalt geschriebenen Erklärung bekräftigte Kittel, dass er alles dafür tun werde, um „den in so unerhörter Weise beschmutzten Ehrenschild Kuhns reinzuwaschen“.17 Er kenne Kuhn schon seit langer Zeit und wisse, dass dieser seine Verlobung sofort auflöste, als er „die ihm vorher unbekannte starke kommunistische Bindung seiner damaligen Braut bemerkte.“18 Wichtiger für Kuhn war jedoch, dass Kittel ihn gegen den Vorwurf des Philosemitismus verteidigte. Kittel bekräftigte denn auch, dass sich Kuhn seit Jahren kritisch mit dem Judentum und seinen Problemen auseinandersetzen würde: „Er steht, wie ich aus vielen Äusserungen weiß, auf dem Standpunkt meiner Schrift über die Judenfrage; dieser Standpunkt ist von den amtlichen Stellen der Partei (Propagandaministerium, Aussenpolitisches Amt) anerkannt worden.“19 16 Siehe dazu UAT 126a/284, nach fol. 9 (Aufstellung über die Arbeit am NöldekeWörterbuch vom 22.5.1935) und fol. 51 sowie die Briefe Kuhns an Littmanns in dessen Nachlass in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Berlin vom 15.1.1932, vom 6.9.1932 und vom 11.1.1948. Auf Vermittlung Littmanns, der mit einer Enkelin Nöldekes verheiratet war, hatte die Universitätsbibliothek den Nöldekenachlass im August 1931 für 35.000 Reichsmark erworben. Der Ankauf des wissenschaftlich außerordentlich wertvollen Nachlasses wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht u.a. der Oberrat der israelitischen Religionsgemeinschaft in Württemberg Geld gespendet hätte. Siehe zum ganzen Vorgang Manfred Ullmann, Die Universitätsbibliothek Tübingen und die Anfänge des arabischen Wörterbuchs, in: Fest-Platte. Beiträge aus der Universitätsbibliothek Tübingen für Berndt von Egidy anläßlich seines Ausscheidens aus dem aktiven Bibliotheksdienst im Juli 2003, hg. von Bettina Fiand u.a., Tübingen 2003 (http://w210. ub.uni-tuebingen.de/dbt/volltexte/2003/826/, zuletzt eingesehen am 13.12.2009), S. 144–147. 17 Kittel an Rechtsanwalt Stockburger am 20.10.1933, UAT 126a/286, Konvolut „Verfahren vor dem Parteigericht“. 18 Allerdings nicht ohne zuvor versucht zu haben, „das Mädchen aus den Klauen des Bolschewismus zu retten“. Ebd. 19 Ebd., Schreiben Kittels vom 20.10.1933.
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Als die Reichsvertretung der Juden in Deutschland unter dem Vorsitz von Leo Baeck am 30. März 1933 an den Evangelischen Oberkirchenrat in Berlin telegrafierte, dass sich die Juden von der evangelischen Kirche bei dem am Tag vorher für den 1. April angekündigten Judenboykott „im Namen der Religion“ ein Wort der Unterstützung erhofften, erfolgte keinerlei Reaktion. Die kritischen Anfragen ausländischer Kirchenvertreter wegen der von SA-Schlägern verübten Misshandlungen an Juden wurden von kirchlichen Stellen sogar als Propaganda abgetan. Dabei scheint man der von der NSDAP ausgegebenen nationalen Parole gefolgt zu sein, dass jeder Deutsche mit Verbindungen zum Ausland seine Stimme für die Wahrheit und gegen die vor allem von den Juden ausgehende antideutsche Hetze erheben solle.20 Die Boykottaktionen, die von einem eigens dafür eingerichteten und unter der Leitung Julius Streichers stehenden Organisationskomitee koordiniert wurden, begannen am Samstag, den 1. April 1933 um 10.00 Uhr. Als Kuhn zur ideologischen Rechtfertigung am Samstagmorgen um 8.30 Uhr für den „Tübinger nationalsozialistischen Ausschuss gegen die jüdische Greuelpropaganda“ von der Rathauskanzel herab die offizielle Boykottansprache hielt, argumentierte er genau in der von der NSDAP vorgegebenen Weise, dass dem neuen Deutschland überhaupt keine andere Wahl geblieben sei, als der vom internationalen Judentum ausgehende Lügenpropaganda mit einem Boykott entgegenzutreten.21 Kuhns Ansprache wurde durch die von den SA-Formationen mitgeführten Schilder wie „Meidet die Juden!“ oder „Kauft nicht bei Juden“ anschaulich bekräftigt. Waren SA-Posten bereits am Vorabend vor „jüdischen“ Geschäften postiert worden, marschierte im Anschluss an Kuhns Rede der Propagandazug der Braunhemden unter Absingen des Horst-Wessel-Liedes und, wie die Tübinger Chronik ebenfalls vermerkte, mit großer Unterstützung des nationalen Tübingen durch die Straßen der Stadt.22 Wenige Tage spä20
So die Vermutung Röhms und Thierfelders, in: dies., Juden, Christen, Deutsche, Bd. 1, S. 150; ein Faksimile des Telegrams der Reichsvertretung, ebd., S. 141. 21 Siehe dazu den Bericht „Gegen die jüdische Greuelpropaganda“ in der Tübinger Chronik vom 3.4.1933. 22 Siehe zu den Reaktionen in Tübingen den Katalog Nationalsozialismus im Landkreis Tübingen. Eine Heimatkunde, Tübingen 1988, S. 311 sowie den in der Presse veröffentlichten Aufruf des Kreisleiters Helmuth Baumert, Widerstand gegen „Juda“ zu leisten: „Ein Volksverräter ist, wer noch ein jüdisches Geschäft betritt!“. Auch das Aufsuchen eines Anwaltsbüros oder der Sprechstunde eines Juden sowie die Lektüre „jüdischer Zeitungen“ und der Besuch „jüdischer Filme“ bzw. jeglicher Handel mit Juden wurde in den Boykott einbezogen. „Jeder, der ihn bricht, stellt sich in die Front der Gegner unseres Volkes und wird wie diese behandelt.“ Zitiert nach Eva-Maria Klein und Martin Ulmer, Die Geschichte einer Vertreibung: Die Familie Hayum, in: Benigna Schönhagen, Hg., Nationalsozialismus in Tübingen vorbei und vergessen, Tübingen 1992, S. 128.
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ter zeigte der Staat mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums am 7. April, dass er es tatsächlich Ernst mit seinem Kampf gegen das Judentum meinte. Obgleich Kuhns wissenschaftliche Begabung außer Zweifel stand, waren doch vornehmlich politische Gründe dafür verantwortlich, dass ihm am 22. Oktober 1934 die Venia legendi für Orientalische Sprachen und Geschichte des Judentums verliehen wurde, ohne dass er dafür eine eigene Habilitationsschrift einreichen musste. Am 11. Mai 1934 hatte Kuhn beim Akademischen Rektoramt sein Habilitationsgesuch gestellt, worauf die Philosophische Fakultät ebenso wie der Kleine Senat zügig ihre Zustimmung aussprachen. Am 31. Juli schrieb Rektor Fezer an das Stuttgarter Kultusministerium, dass er die Erteilung der Lehrberechtigung für Kuhn wärmstens befürworte. Dabei wies er auf die politischen Meriten des Kandidaten hin und dass Kuhn bereits einen Probevortrag über den Gottesnamen Jahwe gehalten und auch schon sein Kolloquium erfolgreich absolviert habe.23 Vermutlich wegen seiner früheren Probleme mit dem SA-Sturm 9/216 reichte Kuhn auf Anraten eines hohen Beamten im Kultusministerium, des Württembergischen Hochschulreferenten Erich Keller (1894–1977), drei Anlagen zu seinem Habilitationsgesuch nach: ein politisches Führungszeugnis des NSDAP–Kreisleiters Helmuth Baumert (1909–1980), das Dienstzeugnis der SA und drittens „Eine Darlegung über Sinn und Ziel meiner wissenschaftlichen Arbeit auf dem Gebiete der semitischen Sprachen und der Geschichte des Judentums vom nationalsozialistischen Gesichtspunkt aus“.24 Kuhns hier gemachte Ausführungen deckten sich höchstwahrscheinlich mit seiner akademischen Antrittsrede, die er am 19. Dezember 1934 über „Die Ausbreitung des Judentums in der antiken Welt“ an der Universität Tübingen hielt. Auch darüber brachte die Tübinger Chronik, ausgerechnet an Heiligabend, einen ausführlichen Bericht.25 Demzufolge nahm Kuhn das aus seiner Sicht explosionsartige Anwachsen des jüdischen Volkes von 4–500.000 im fünften vorchristlichen auf 4–5 Millionen Menschen im ersten nachchristlichen Jahrhundert zum 23 Schreiben Fezers an das Kultusministerium vom 31.7.1934, UAT 126a/284, fol. 2, Kuhns Antrag vom 11.5.1934, ebd., fol. 1. Das positive Votum des Kleinen Senats vom 31.7.1934, UAT 47a/2, fol. 185. 24 Schreiben Kuhns an den Rektor am 22.9.1934, UAT 126a/284, fol. 3. Alle drei Anlagen fehlen in den Akten. Zu Keller, der 1935 als Hochschulreferent der Regierung von Walter Deyhle (1906–1945) abgelöst wurde, siehe Horst Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft, Stuttgart 1999, S. 216f. 25 Die Ausbreitung des Judentums in der antiken Welt. Antrittsrede von Privatdozent Dr. Kuhn von der Philosophischen Fakultät Tübingen am Mittwoch, den 19. Dezember 1934, Tübinger Chronik vom 24.12.1934.
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Ausgangspunkt, um über die inneren Gründe dieses Vorgangs zu reflektieren, in dessen Gefolge die Juden über die ganze Welt zerstreut und, wo sie auch hinkamen, zum Problem wurden. Mit der Tora als geoffenbartem und für alle Juden verpflichtenden Gesetz habe das Judentum auch in der Zerstreuung eine erstaunliche Einheit bewahrt und sich auf der Grundlage eines absoluten Monotheismus seine alte völkische Jahwereligion über die Jahrhunderte hinweg erhalten. In der eigentümlichen Doppelheit von Volk und Religion sei somit der ewige Jude Ahasver zum Inbegriff des Judentums geworden. Kuhn stellte das Problem der Deutschen mit den Juden als eine sich aus dem inneren Wesen des Judentums ergebende Notwendigkeit dar, für das man nicht das deutsche Volk verantwortlich machen könne. Wenn der „ewige Jude als eine mit dem Begriff notwendig gegebene geschichtliche Tatsache begriffen“ werde, sei nur eine Antwort auf die „Judenfrage“ möglich, nämlich die Juden „immer wieder von neuem energisch in ihre Schranken zurückzuweisen“.26 Dass die Tübinger Chronik den Vortrag richtig wiedergab und nicht etwa eine politische Tendenz hineininterpretierte, sieht man daran, dass Kuhn in einem 1935 publizierten Aufsatz die gleichen Argumente und Formulierungen gebrauchte. Er ging hier sogar noch über seinen Vortrag hinaus und thematisierte ganz offen den Antisemitismus als geeignete Lösung des „Judenproblems“.27 In Kuhns Logik war die „Judenfrage“ ebenso wie die antisemitische Reaktion darauf bereits der Existenz des Judentums geschuldet und eine sich aus seinem inneren Wesen unabwendbar ergebende Konsequenz. Ab der zweiten Hälfte der 1930er Jahre wurden im Berliner Reichserziehungsministerium verstärkte Anstrengungen unternommen, um an den deutschen Hochschulen Lehrstellen für das Studium der „Judenfrage“ zu schaffen. Je nach Expertise der dafür in Frage kommenden Dozenten sollten die geschichtlichen, politischen und anderen Aspekte des „Judenproblems“ den Studenten nahegebracht werden. Ende 1935 informierte das Ministerium Walter Frank (1905–1945), den Direktor des Reichsinsti26
Ebd. „Richtig angepackt wird die Judenfrage und praktisch wirksam wird auch jeder Antisemitismus nur dann, wenn der ewige Jude als eine mit dem Begriff notwendig gegebene geschichtliche Tatsache begriffen wird. Es gibt von da aus nur eine einzige mögliche Behandlung der Judenfrage, nämlich die Juden überall dort, wo sie in ihrem Streben nach Macht sich vordrängen und etwa gar zu einer Bedrohung der Wirtsvölker werden, stets und immer wieder von neuem – darauf liegt hier der Nachdruck, weil es eben ein ewiges, nie endgültig lösbares Problem ist –, sie immer wieder von neuem energisch in ihre Schranken zurückzuweisen.“ Karl Georg Kuhn, Die inneren Voraussetzungen der jüdischen Ausbreitung, in: Deutsche Theologie, 1935, S. 9–17, das Zitat S. 17. 27
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tuts für Geschichte des neuen Deutschlands, darüber, dass man an verschiedenen Universitäten Deutschlands Lehraufträge für die Geschichte der Judenfrage einrichten wolle.28 In Halle hatte der schon 1908 mit einer Arbeit über altpersische Keilschriften promovierte Artur HoffmannKutschke (geb. 1882, Todesdatum unbekannt) im Sommersemester 1936 einen ersten Lehrauftrag für die Geschichte des Judentums im Altertum zugesprochen bekommen.29 Laut Vorlesungsverzeichnis der Universität Halle führte der notorische Judenhetzer Hoffmann-Kutschke bis Kriegsende annähernd 90 Seminare und Vorlesungen durch, mit denen er das Judentum zu bekämpfen suchte.30 An der Universität Berlin wurde der frühere Pfarrer und nach 1933 Judenreferent des Propagandaministeriums Wilhelm Ziegler (1891–1962) zum Sommersemester 1937 mit einem Lehrauftrag über die Geschichte der Judenfrage betraut. Gegen Widerstände der Philosophischen Fakultät wurde er vier Jahre später im November 1941 zum Honorarprofessor für Neuere Geschichte, Politik und Judenfrage ernannt.31 Peter Deeg (1908–2005), ein Julius Streicher nahestehender Jurist, erhielt im August 1938 an der Universität Berlin einen Lehrauftrag über „Die Juden in der deutschen Rechtsgeschichte“.32 Der ‚Berufsantisemit‘ Johann von Leers (1902–1965) vertrat seit dem Wintersemester 1936 an der Universität Jena das Fach „Rechts-, Wirtschafts- und politische Geschichte auf rassischer Grundlage“ mit prononciert antisemitischer Ausrichtung. Sein Lehrauftrag wurde 1939 in eine ordentliche Professur umgewandelt.33 Allerdings wurde selbst auf nationalsozialistischer Seite bei den genannten „Judenexperten“ ein gravierender Mangel an fachlicher Eignung konstatiert, so dass man ihre Tätigkeit eher dem Bereich der Propaganda, als dem der Wissenschaft zuordnete. Kuhn war dagegen von seiner Ausbildung und seinen Fähigkeiten her in ganz anderer Weise geeignet, die „Judenfrage“ wissenschaftlich zu er28
Patricia von Papen, ‚Scholarly‘ antisemitism during the Third Reich. The Reichsinstitut’s research on the ‚Jewish Question‘, Diss. phil Columbia University New York 1999, S. 73. Leider blieb diese sehr gute und materialreiche Arbeit unpubliziert. 29 Siehe dazu die Personalakte Hoffman-Kutschkes im Universitätsarchiv Halle, Nr. 8089 und im BArch R 21, Nr. 835, UA Halle, 1931–1945. 30 Einschlägige Veranstaltungstitel lauteten etwa: Luther und die Juden, Lagarde und die Juden, Voltaire und die Juden, Treitschke und die Juden, Das Purimfest und die Juden, Die bolschewistische Weltrevolution und die Juden, Das Purimfest der Juden und der Bolschewismus, Antisemitismus im Altertum. 31 Personalakte Zieglers, Archiv der Humboldt Universität Berlin. 32 Personalakte Deegs, Archiv der Humboldt Universität Berlin. 33 Siehe dazu die Personalakte von Leers’ im Universitätsarchiv Jena und im Hauptstaatsarchiv Weimar. Martin Finkenberger bereitet gerade eine Dissertation zu Johann von Leers vor.
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örtern. Anderthalb Jahre nach seiner Habilitation wurde er im Juli 1936 als Talmudexperte in den Sachverständigenbeirat der Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands berufen.34 Das ermöglichte es ihm, durch eine entsprechende Vortrags- und Publikationstätigkeit auch außerhalb Tübingens auf sich aufmerksam zu machen. Vermutlich auf Initiative Franks hin erkundigte sich das Reichserziehungsministerium am 27. Juli 1936 in Tübingen, inwieweit dort die Möglichkeit bestehe, Kuhn einen besoldeten Lehrauftrag für die Geschichte der Judenfrage zu verleihen.35 Der Antrag der Philosophischen Fakultät vom 2. Oktober 1936 für einen zweistündigen Lehrauftrag mit der Benennung „Sprache, Literatur und Geschichte des Judentums mit besonderer Berücksichtigung der Judenfrage“ wurde zwei Wochen später durch den Rektor Friedrich Focke (1890–1970) an das württembergische Kultusministerium weitergeleitet und von diesem am 11. November 1936 bewilligt.36 Gleichwohl intervenierte Frank als Leiter des Reichsinstituts beim Berliner Reichserziehungsministerium, dass er einen lediglich zweistündigen Lehrauftrag für Kuhn für nicht ausreichend erachte. Angesichts der Schwere des Problems und der Qualität des Kandidaten sei eine Aufstockung dringend geboten. Kuhn werde in Fachkreisen „als der beste nicht jüdische Talmudist“ angesehen. Eben erst habe er auf der Jahrestagung der Forschungsabteilung Judenfrage einen wissenschaftlich herausragenden und „von einer klaren nationalsozialistischen Haltung“ getragenen Vortrag gehalten. Frank fügte hinzu: „Ich bitte dringend, einen solchen Gelehrten nicht als Entgelt für einen nationalpolitisch wichtigen Lehrauftrag durch ein kümmerliches Almosen dem schwersten Daseinskampf zu überlassen.“37 Der Tübinger Rektor reagierte auf Franks Intervention äußerst ungehalten. Man habe Kuhn auch bisher schon jede nur denkbare Unterstützung zukommen lassen und ihn nach Kräften gefördert, so dass es bei einem zweistündigen Lehrauftrag blieb. Immerhin wurde Kuhns Privatdozentenbeihilfe Anfang 1938 aufgestockt. Außerdem erhielt Kuhn 34
Die Berufung durch Wilhelm Grau erfolgte am 24.7.1936, UAT 126a/284, fol. 12. UAT 131/119. Die Anfrage des Ministeriums wird nur indirekt in einem Schreiben des Dekans der Philosophischen Fakultät an das Rektoramt vom 2.10.1936 erwähnt, in dem dieser einen Lehrauftrag für Kuhn beantragte. Es stehe außer Zweifel, dass Kuhn über die Voraussetzungen verfüge, „die eine Behandlung der Judenfrage durch ihn als wünschenswert erscheinen lassen“. 36 Antrag der Philosophischen Fakultät vom 2.10.1936, Schreiben Fockes an das Ministerium vom 16.10.1936 und Erlass des Ministeriums vom 11.11.1936, UAT 126a/284, fol. 15. 37 Das Zitat abschriftlich aus einer Stellungnahme des Reichserziehungsministeriums vom 30.1.1937, UAT 126a/284, fol. 16. 35
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vom Reichsinstitut über einen längeren Zeitraum zwei Stipendien, in denen er „Die Rolle des Talmud im Judentum“ und die „Entstehung und Gesamtentwicklung des Judentums und der Judenfrage“ erforschte.38 Kuhn selbst hatte sich bereits am 12. Dezember 1936 an den Leiter der Forschungsabteilung Judenfrage, Wilhelm Grau (1910–2000), gewandt und nach der Möglichkeit für eine finanzielle Unterstützung gefragt.39 Auf der ersten Arbeitstagung der Forschungsabteilung Judenfrage im November 1936 hielt Kuhn den von Frank erwähnten Vortrag über „Die Entstehung des talmudischen Denkens“, in dem er einleitend die charakteristische Denkmethode und literarische Struktur des Talmud als die eigentlichen Gründe dafür angab, warum sich die am griechischen Denken geschulte abendländische Wissenschaft bislang damit nicht genügend auseinandersetzte.40 Es sei falsch, die Entwicklung des Judentums allein als eine der religiösen Erstarrung und Petrifizierung aufzufassen, wie das früher geschehen sei. Indem Kuhn im Anschluss an Schlatter und Kittel die Argumentation der Wellhausenschule zurückwies, kam er zu dem gegenteiligen Ergebnis, dass sich nämlich das Judentum durch eine außerordentliche Vitalität auszeichne, die „gerade auch das deutsche Volk zur Genüge kennengelernt hat“. Der Talmud sei demzufolge nicht Ausdruck einer Versteinerung und geistigen „Verengerung“, sondern seine konsequenteste Ausgestaltung. Wolle man das Wesen des Judentums verstehen, müsse man den Talmud verstehen.41 In dem Maße, wie es Kuhn gelang, sein Publikum von der Wichtigkeit einer gründlichen Beschäftigung mit dem normativen Schrifttum des Judentums zu überzeugen, konnte er selbst als Experte auf diesem Gebiet in Erscheinung treten. Mit Hilfe zahlreicher hebräischer, griechischer und lateinischer Zitate untermauerte er seine These, dass ein fundiertes Verständnis des Judentums nur auf der Grundlage wissenschaftlicher Kenntnis über den Talmud möglich sei. Gerade weil sich Kuhn bei der Erörterung eines für viele fremden und komplizierten Themas so gekonnt in einem akademischen Diskursfeld bewegte, stieß seine Abgrenzung von den unwissenschaftlichen Laien und selbsternannten Talmudfachleuten auf Zustimmung. Seine Fähigkeit, eine 38 Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966, S. 453f. Eine zweimonatige Studienreise nach Palästina, die drei Mitglieder der Forschungsabteilung Judenfrage unter der Leitung Kuhns in der zweiten Jahreshälfte 1936 unternehmen sollten, kam indes nicht zustande. Ebd., S. 476 und BArch R 49.01, 2595. 39 Kuhn an Grau am 12.12.1936, UAT 162/32. 40 Karl Georg Kuhn, Die Entstehung des talmudischen Denkens, in: Forschungen zur Judenfrage 1, 1937, S. 64–80. 41 Ebd., S. 64f.
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komplexe Materie allgemeinverständlich zur Sprache zu bringen, imponierte den Zuhörern nicht nur bei diesem Vortrag. Da Kuhn zu dem Fazit kam, dass sich das Talmudjudentum auf den allgemeinen Nenner des Formalismus und der Kasuistik bringen lasse, entsprach er andererseits aber auch den Erwartungen seines Publikums, das sich in seiner bereits feststehenden Meinung wissenschaftlich bestätigt sehen konnte.42 Mit seinem auf der zweiten Tagung der Forschungsabteilung Judenfrage im Mai 1937 gehaltenen Vortrag „Weltjudentum in der Antike“ griff Kuhn auf die Thematik seiner Tübinger Antrittsvorlesung zurück.43 Er wolle mit seinen Ausführungen der Frage nachgehen, inwieweit sich bereits den Menschen in der Antike eine „Judenfrage“ im heutigen Sinn gestellt habe.44 Als Weltjudentum par excellence wurde von Kuhn das Diasporajudentum außerhalb Palästinas bezeichnet, das sich mit Ausnahme der Religion in allen Sitten und Gebräuchen dem Hellenentum anzugleichen versucht hätte, um nicht als orientalisches Barbarenvolk zu gelten.45 Davon sei das zum Teil wenigstens bäuerliche Judentum in Palästina zu unterscheiden, das im allgemeinen kein Interesse an der griechischen Sprache, Kultur und Bildung gezeigt habe.46 Doch über ihre gemeinsame Religion als Bindeglied kam es zu jener eigentümlichen, hoch gefährlichen Mischung aus Diaspora- und Talmudjudentum, gegen das sich schon sehr früh gerade auch auf Seiten der christlichen Kirche Widerstand erhob.47 Für Kuhn bildete die Durchsetzung des talmudischen Denkens die Hauptursache für den weiteren Bestand des Judentums und schließlich auch den
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In diese Richtung argumentierte auch der Vortragsbericht in der Tübinger Chronik vom 23.11.1936. Kuhn habe es zu erklären verstanden, warum der Talmud im allgemeinen „unverständlich, wirr und langweilig auf die nichtjüdischen Leser“ wirke. Charakteristische Merkmale des talmudischen Denkens seien „das völlige Fehlen eines geschichtlichen Denkens“, sein Formalismus, eine leere Gedankenakrobatik und die Ausbildung kasuistischen Denkens. „Dr. Kuhn schloß mit dem Hinweis darauf, daß man gerade im talmudischen Denken das Judentum in seiner reinsten Ausprägung kennen lernt.“ 43 Auch dieser Vortrag erschien in der vom Reichsinstitut herausgegeben und von der Hanseatischen Verlagsanstalt Hamburg gedruckten Reihe Forschungen zur Judenfrage, hier Bd. 2, 1937, S. 9–29. 44 Ebd., S. 9. 45 Ebd., S. 18–21. 46 Um der politisch inkorrekten Vorstellung eines bäuerlichen Judentums keinen Vorschub zu leisten, fand Kuhn den „eigentlichen Grundton“ im Talmud indes bei solchen Belegstellen, „in denen wir das typische, vom Boden völlig entwurzelte Handels- und Schacherjudentum erkennen“. Ebd., S. 14. 47 Ebd., S. 26 und S. 29.
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Grund dafür, dass „für uns auch heute noch, nach 2000 Jahren, die Judenfrage ein brennendes Problem ist“.48 In Kuhns Vortrag auf der dritten Arbeitstagung der Forschungsabteilung Judenfrage im Juli 1938 über „Ursprung und Wesen der talmudischen Einstellung zum Judentum“ gewann die Artikulation eines offenen Antisemitismus deutlich an Kontur.49 Das Leben als völkische Minorität habe spezielle Charakteristika im Judentum hervorgebracht, mit denen sich die Juden ihre besonderen Ansprüche zu erhalten gehofft hätten. Insbesondere sei durch den starken Zusammenhalt des jüdischen Volkes in der Diaspora eine Doppelung der moralischen Normen und ethischen Standards bewirkt worden, die es den Juden erlaubt hätte, sich Nichtjuden gegenüber anders zu verhalten als innerhalb der eigenen Gemeinschaft. Ein in der jüdischen Binnenmoral verbotenes Tun werde Nichtjuden gegenüber manchmal sogar als notwendig ausgegeben. Das archaische Stammesdenken eines primitiven Wüstenvolkes habe im talmudischen Partikularrecht seinen Ausdruck und über ein religiöses Auserwähltheitsdenken seine ideologische Rechtfertigung gefunden. Sich in den ausgetretenen Pfaden althergebrachter antitalmudischer Polemik bewegend, unternahm es Kuhn mit großem Sachverstand, solche Belegstellen aus dem religiösen Schrifttum des Judentums beizuziehen, die geeignet waren, einen antijüdischen Projektionsmechanismus zu bedienen, der in der Weimarer Republik mit Ausnahme völkischer Kreise gänzlich außer Gebrauch gekommen war. Kuhn zufolge erkläre der Talmud die Nichtjuden, die Gojim, als außerhalb der geltenden Rechtsordnung stehend und mache sie dadurch gewissermaßen vogelfrei.50 Die von den Rabbinen konservierte Hassstimmung gegenüber allem Nichtjüdischen gehe über eine restriktive Fremdengesetzgebung noch weit hinaus und gestatte jedes mögliche Unrecht und schließlich sogar schwerste Verbrechen, sofern sie sich nicht gegen die Juden selbst richteten. In Kuhns Interpretation galt selbst die Ermordung eines Nichtjuden nach talmudischem Recht als straffrei, es handle sich hier um ein „allgemeingültiges talmudisches Gesetz“.51 Trotz der von Kuhn unternommenen Einordnung solcher „Belege“ in ein komplexes Gefüge rabbinischer Schriftzeugnisse, reduzierte sich seine „Analyse“ letztlich auf die von ihm religionsgeschichtlich nachgewiesene Hasspsychose der Juden auf alles Nichtjüdische. Wie sehr bei seinen Zuhörern 48
Ebd., S. 29. Karl Georg Kuhn, Ursprung und Wesen der talmudischen Einstellung zum Nichtjuden, in: Forschungen zur Judenfrage, Bd. 3, 1938, S. 199–234. 50 Ebd., S. 226–231. 51 Ebd., S. 228. 49
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der antisemitische Impuls im Gedächtnis haften blieb, offenbart der Bericht, den die renommierte Historische Zeitschrift über seinen Vortrag brachte. Kuhns Ausführungen hätten klar aufgezeigt, „welch erschreckenden Haß dieses Volk auf Grund seines religiösen Gesetzes gegen seine Gastgeber“ richte. „Aus den natürlichen Auswirkungen des Fremdenhasses primitiver Beduinen ist in den jüdischen Gesetzen ein wahrhaft dämonisches Instrument des Parasiten gegen die Kulturwelt geworden. Wenn man erfährt, daß für den Juden die Tötung eines Nichtjuden straffrei ist, während ein Nichtjude aber einen Juden auch nur schlägt, des Todes schuldig sein soll, so versteht man, daß die letzthin entscheidende Auseinandersetzung mit den Juden nur im politischen Kampf liegen kann.“52
Kuhn verstand sich zwar als Wissenschaftler und verfiel nur gelegentlich in einen Tonfall der offenen politischen Agitation. Dennoch lief seine Argumentation auf einen für das deutsche Volk unumgänglichen Kampf gegen das Judentum hinaus, der im innersten Wesen des Talmudjudentums begründet lag. Man kann schwerlich einen inhaltlichen Gegensatz zwischen den Äußerungen Kuhns und denen Hobergs über die politische Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit Judentum erkennen. Die Anwesenheit Julius Streichers auf der zweiten Arbeitstagung der Forschungsabteilung Judenfrage belegt ebenfalls, welche politische Dimension die Zusammenkunft hatte. In einem dreistündigen „packenden“ Vortrag ließ sich Streicher ausführlich über die Notwendigkeit einer Verbindung von Wissenschaft und Volk aus.53 Der Wiener Judaist Fritz Werner unterzog die „Forschungen zur Judenfrage“ einer eingehenden Untersuchung und kam zu dem Ergebnis, dass sich die an den Arbeitstagungen beteiligten Wissenschaftler in einem dezidiert politischen Fahrwasser bewegt hätten. Besonders bei seiner Analyse der Beiträge Kittels und Kuhns stellte Werner eine stark selektive Vorgehensweise fest, die keiner irgendwie vertretbaren wissenschaftlich hermeneutischen Methode folgte, „sondern ausschließlich dem Wunsch, die nationalsozialistischen Vorur-
52 So Clemens August Hoberg in seinem Bericht über Kuhns Vortrag auf der dritten Arbeitstagung der Forschungsabteilung Judenfrage, in: Historische Zeitschrift 159, 1938, S. 219–221, das Zitat S. 220. Dieses Zitat aus der HZ findet sich bereits bei Léon Poliakov und Joseph Wulf, Das Dritte Reich und seine Denker, Wiesbaden 1989 (Erstauflage 1959), S. 390. 53 Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut, S. 618. Nach dem Vortrag verharrten die Zuhörer erst sekundenlang in Schweigen, „um dann in stürmischen Beifall auszubrechen“.
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teile über das Judentum mit scheinbar ‚wissenschaftlichen‘ Argumenten zu untermauern“.54 Dennoch bildete die Abgrenzung von einer nur polemischen, jeder seriösen Wissenschaft abholden Beschäftigung mit dem Judentum ein wichtiges Motiv in Kuhns Entwicklung zum nationalsozialistischen Judenforscher. In der Auseinandersetzung mit der sachlichen Unbedarftheit vieler selbsternannter Fachleute auf dem Gebiet der jüdischen Religion, die nach 1933 wie Pilze aus dem Boden schossen, fiel es Kuhn nicht schwer, sich als akademisch geschulter Kenner der Materie zu profilieren. Wie viele Antisemiten konnten die religiösen Schriften der Juden überhaupt im Original lesen? Besonders der Schulchan Aruch (hebr. gedeckter Tisch), ein von Josef Karo (1488–1575) verfasster jüdischer Rechtskodex aus dem 16. Jahrhundert, stand von jeher im Zentrum der völkischen Agitation. In diese Kategorie fiel auch das Buch des Wiesbadener Rechtsanwalts Hermann Schroer, der 1936 im parteieigenen Hoheneichen-Verlag einen Teil des Schulchan Aruch als Blut und Geld im Judentum. Dargestellt am jüdischen Recht herausgab und mit antisemitischen Kommentaren versah. Eine Besprechung dieses dilettantischen Machwerks, das zudem nur einen Teil der von Heinrich Georg F. Löwe im 19. Jahrhundert besorgten Übersetzung wiedergab, nahm Kuhn zum willkommenen Anlass, ein weiteres Mal darauf hinzuweisen, wie wichtig ein fundiertes und professionelles Studium der jüdischen Religionsgeschichte sei.55 Vermochte Kuhn „dem getauften Juden“ Löwe im 19. Jahrhundert eine freie, aber doch einigermaßen richtige Übersetzung zuzugestehen, goss er Hohn und Spott über das laienhafte Unternehmen Schroers, der nicht einmal die Reihenfolge der vier Teile der Arba’a Turim Jakob ben Aschers (ca. 1270–1340), auf die sich Josef Karos Zusammenstellung bezog, zu kennen schien. Kuhn hatte allen Grund, sich über die amateurhafte Anmaßung des antisemitischen Rechtsanwalts lustig zu machen und das Ergebnis als „wissenschaftlich wertlos“ zu bezeichnen.56 Allerdings bedeutete Kuhns Kritik an Schroer keineswegs, dass 54
Fritz Werner, Das Judentumsbild der Spätjudentumsforschung im Dritten Reich. Dargestellt anhand der ‚Forschungen zur Judenfrage‘ Bd. I–VIII, in: Kairos. Zeitschrift für Religionswissenschaft und Theologie 12, 1971, S. 161–194, das Zitat S. 180. „Viele der Ausführungen dieser Spätjudentumsforscher würden erheiternd wirken, hätten sie nicht die ‚wissenschaftliche‘ und selbst ‚theologische‘ Rechtfertigung für einen millionenfachen Mord geliefert. Und wie viele Menschen mögen durch sie zum Antisemitismus angeregt und aufgestachelt worden sein?“ Ebd., S. 194. 55 Karl Georg Kuhn, RZ Blut und Geld im Judentum. Dargestellt am jüdischen Recht (Schulchan aruch), übersetzt von Heinrich Georg F. Löwe sen., 1836, neu hg. und erläutert von Hermann Schroer, Bd. 1: Eherecht (Eben haäser) und Fremdenrecht, München 1936, in: Historische Zeitschrift 156, 1937, S. 313–316. 56 Ebd., S. 315.
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er auch dessen judengegnerische Intention abgelehnt hätte. Seine Einwendungen bezogen sich nicht auf die Notwendigkeit, das Judentum zu bekämpfen, sondern auf die unzulänglichen Mittel, mit der Schroer dabei vorging: „So geht es eben nicht, daß man eine vor hundert Jahren von einem getauften Juden hergestellte Übersetzung nimmt, sie mit einem schwungvollen antisemitischen Titel versieht und einer ebenso schwungvollen antisemitischen Einleitung, und dann durch Herausgabe des Ganzen etwa glaubt, dem Nationalsozialismus einen Dienst zu leisten. Im Gegenteil, man diskreditiert auf diese Weise nur unsere Wissenschaft im neuen Deutschland gerade auf diesem umkämpften Gebiet. Wir können und dürfen heute auf dem Gebiet der Judenfrage nicht so arbeiten, daß wir einfach das unter ganz anderen weltanschaulichen Gesichtspunkten geschaffene Alte übernehmen und nur mit einer neuen Fassade versehen, sondern wir müssen aus den Quellen heraus ganz neu an die Probleme herangehen.“57
Kuhns eigener Ansatz gab vor, dem Antisemitismus des Nationalsozialismus einen besseren Dienst zu erweisen und über ein seriöses, akademisch geschultes Quellenstudium einer Lösung der „Judenfrage“ vorzuarbeiten. In diesem Kontext sind auch seine Vorlesungen und Seminare zu sehen, die er ab dem Sommersemester 1935 an der Universität Tübingen durchführte. Zusammen mit Kittel hielt er bis 1939 eine Arbeitsgemeinschaft über „Rabbinische Texte“ ab, die er nach dessen Wechsel nach Wien allein fortsetzte. Außerdem beschäftigte sich Kuhn mit der Geschichte des Judentums und der Judenfrage.58 Darüber hinaus trat er mit einer Vielzahl öffentlicher Vorträge in Erscheinung, die das universitäre Wissen einem allgemeinen Publikum zu vermitteln suchte.59 Beispielsweise unterrichtete Kuhn am 12., 14. und 17. Januar 1938 die angehende Parteielite auf der NS-Ordensburg Vogelsang über die historische und religiöse Entwicklung des Judentums bis zur französischen Revolution.60
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Ebd., S. 315. Die Titel von Kuhns Veranstaltungen lauteten: Geschichte der Juden in der römischen Kaiserzeit (SS 1937), Der Talmud. Einführung in seine Entstehung und sein Wesen (WS 1937/38), Die Juden im römischen Reich vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum Ausgang des Altertums (SS 1938), Geschichte der Judenfrage und ihrer Lösungsversuche (WS 1938/39), Der Talmud. Eine Einführung in seine Entstehung und sein Wesen (1. Trimester 1940), Geschichte der Juden II. Vom Beginn der Römerherrschaft bis zum Ausgang des Altertums (2. Trimester 1940), Der Talmud. Eine Einführung in seine Entstehung und seinen Inhalt (WS 1944/45). 59 Eine Aufstellung für den süddeutschen Raum von Oktober 1937 bis April 1940 in UAT 162/32. 60 So Kuhn in seinem Urlaubsgesuch am 8.1.1938, UAT 126a/284, fol. 18. 58
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Vor allem seine Tätigkeit für die Forschungsabteilung Judenfrage verschaffte Kuhn eine weit über Tübingen hinausgehende Bekanntheit, so dass er dann auch als möglicher Kandidat für entsprechende Lehrstellen zum Studium der „Judenfrage“ gehandelt wurde. Als die Philosophische Fakultät der Universität Berlin am 23. Juni 1939 einen offiziellen Antrag „auf Errichtung einer Professur zur Erforschung der Judenfrage“ einreichte, wurde Kuhn ausdrücklich als einzig dafür in Frage kommender Gelehrter genannt. Für die „früher so gut wie ausschließlich von Juden betriebene Erforschung des Judentums“ gäbe es nur wenig geeignete Wissenschaftler, die in der Lage seien, dieses neue und politisch wichtige Lehrgebiet fachkundig zu vertreten.61 Kuhns Beiträge für die Forschungen zur Judenfrage gehöre zum Besten, was in den letzten Jahren zur Geschichte des Judentums veröffentlich worden sei: „Diese Arbeiten verbinden mit klarer und gemeinverständlicher Darstellung streng wissenschaftliche Solidität“.62 Zwar bestehe in der Philosophischen Fakultät der Universität Berlin noch keine planmäßige Professur für die Erforschung der Judenfrage, aber ihre Schaffung sei „um die Wichtigkeit der Sache“ willen eine unabweisbare Notwendigkeit und Kuhn der gewiesene Mann dafür.63 Drei Tage zuvor hatten die beiden Orientalisten Richard Hartmann (1881–1965) und Hans Heinrich Schaeder (1896–1957) eine fast wortgleiche Eingabe an den Dekan der Philosophischen Fakultät gerichtet, die von diesem in seinen Antrag übernommen und weitergeleitet wurde.64 Hartmann und Schaeder hatten lediglich die politische Bedeutung der neuen Professur noch etwas stärker betont. Sie würde nicht nur innerhalb der Universität, sondern auch für Regierungs- und Parteistellen eine wichtige Funktion erfüllen.65 Der Hinweis auf Kuhns NSDAP- und SA-Mitgliedschaft, seine Mitarbeit an der Forschungsabteilung Judenfrage und seine ausgedehnte Vortragstätigkeit durfte aber auch in der eingereichten Version nicht fehlen. Schon wenige Tage danach lief im Berliner Rektorat eine positive Stellungnahme des Ministeriums ein. Man ersuche um eine Stellungnahme für die Errichtung einer „Lehrstelle für Talmudistik“ sowie um die Einreichung geeigneter Personalvorschläge. Wegen des Fehlens eines bereits
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UAT 126a/284. Ebd., fol. 2 recte. 63 Ebd., fol. 2 verso. 64 Richard Hartmann und Hans Heinrich Schaeder an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Berlin am 20.6.1933, ebd., fol. 3–5. 65 Ebd., fol. 3. 62
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etatisierten Lehrstuhls käme „zunächst“ ein besoldeter Lehrauftrag in Frage.66 Als man in Tübingen von dem Berliner Vorhaben erfuhr, läuteten dort die Alarmglocken. Am 30. März 1939 war Kuhn bereits die Dozentenbeihilfe verlängert und er auf Vorschlag des Rektors vom 28. Juli am 18. Oktober 1939 zum Dozenten neuer Ordnung ernannt und dadurch in das Beamtenverhältnis übernommen worden.67 Nach Eingang der Nachricht aus Berlin verstärkte man die Anstrengungen zur Schaffung einer judenkundlichen Professur für Kuhn weiter. Der Tübinger Dozentenschaftsleiter Robert Wetzel (1898–1962) schrieb am 13. November 1939 vertraulich („nicht für Berlin bestimmt“) an das württembergische Kultusministerium, dass schon seit längerem an Plänen gearbeitet werde, die in diese Richtung gingen.68 Seine mit Rektor Heinrich Hoffmann (1891–1944) zusammen verfolgte Absicht sei es zunächst gewesen, Kittel „in Anbetracht der auch parteiamtlich anerkannten Bedeutung seiner Forschung über die Geschichte des Judentums“ zur Übernahme einer solchen Professur zu bewegen. Vom Renommee und der fachlichen Ausrichtung her, wäre der Tübinger Neutestamentler als erster dafür in Frage gekommen. Doch Kittel habe sich geweigert, hierfür die Fakultät zu wechseln, das heißt aus der Theologischen Fakultät auszutreten. Da er nun aber aller Wahrscheinlichkeit nach an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Wien eine Professur übernehmen werde, sei eine neue Situation entstanden. Dadurch dass die Universität Berlin vorgeprescht sei und Kuhn unbedingt in die Reichshauptstadt berufen wolle, halte er es für die beste Lösung, wenn Kittel tatsächlich nach Wien ginge. „Dann könnte unser Vorschlag, der zuerst auf die Person Kittels zugeschnitten war und an seinem Widerstand scheiterte, auf die Person Kuhns übertragen und verwirklicht werden.“69 Einstweilen werde das Berliner Vorhaben durch die Reichsdozentenführung zugunsten Tübingens noch etwas gebremst. Der für seine antikirchliche Einstellung bekannte Wetzel fügte noch hinzu, dass Kuhn weltanschaulich gesehen freier sei „als der immer Theologe bleibende Kittel“. Doch auch bei Kuhn sei noch eine gewisse Erziehungsarbeit zu 66 Das Reichserziehungsministerium an die Philosophische Fakultät der Universität Berlin via Rektorat am 28.6.1939, ebd., fol. 6. 67 Die Verlängerung der Dozentenbeihilfe am 30.3.1939: UAT 126a/284, fol. 26, der Rektoratsvorschlag am 28.7.1939: BArch R 21, 10418, die Ernennung zum Dozenten bei gleichzeitiger Einweisung in eine bezahlte Dozentur am 18.10.1939: UAT 126a/284, fol. 33, die Benachrichtigung Kuhns am 2.11.1939: ebd. 68 Schreiben Wetzels an das württembergische Kultusministerium am 13.11.1939, UAT 126a/284, fol. 34. 69 Ebd.
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leisten. In jedem Fall wäre es aber für den renommierten Neutestamentler „eine versöhnende Anerkennung seiner Judenforschung“, wenn dieser Teil seiner Arbeit durch Kuhn in Tübingen fortgesetzt würde.70 Auch der evangelische Missionswissenschaftler Martin Schlunk (1874–1958) hob in einem Schreiben an das württembergische Kultusministerium im Dezember 1939 darauf ab, dass sich „das so fruchtbare Nebeneinander der von Kuhn repräsentierten philologisch-historischen und der von Kittel vertretenen religionswissenschaftlich-historischen Bearbeitung der Judenfrage“ ideal ergänzen würde. Als Nachfolger Kittels hielt Schlunk allein Joachim Jeremias (1900–1979) von der Universität Göttingen für geeignet. Nur Jeremias sei in der Lage, Kittels Judenforschung angemessen weiterzuführen, „an deren Erhaltung der Fakultät sehr viel gelegen ist“.71 Der Überfall auf Polen machte zunächst jedoch allen Plänen für die Schaffung einer neuen Professur einen Strich durch die Rechnung. Dass der Finanzminister während des Krieges die notwendigen Geldmittel freigeben würde, stand nicht zu erwarten. Deshalb tat die Philosophische Fakultät das in ihrer Macht stehende und beantragte am 17. April 1940 einen fünfstündigen besoldeten Lehrauftrag für Kuhn. Die Universität Tübingen sei durch die Forschungen Kittels, Kuhns und Wundts, so der Dekan Carl August Weber (1895–1955), „führend geworden in der wissenschaftlichen Erforschung der weltanschaulich und rassenpolitisch besonders bedeutungsvollen Judenfrage“.72 Weber nannte Kuhn einen hervorragenden Kenner der jüdischen Geschichte und Literatur, dessen Wegberufung unbedingt verhindert werden müsse. Der Dozentenführer und derzeitige stellvertretende Rektor Wetzel habe eine Aussprache mit Kuhn geführt mit dem Ergebnis, dass dieser „bis zur Bereitstellung einer Sonderprofessur zur Erforschung des Judentums durch unsere Universität auf einen Lehrstuhl außerhalb Tübingens verzichten“ werde.73 Zur Unterstützung des Gesuchs hatte Enno Littmann ein Gutachten über Kuhn angefertigt und dessen herausragende Fähigkeiten und Publikationen betont, die mehr bedeuteten „als viele dilettantische oder halbwissenschaftliche Werke über die Judenfrage“.74 Auch Wetzel unterstützte Webers Antrag auf das nachdrücklichste. Es sei jedoch darauf zu achten, dass Kuhn nicht zum Nachfolger für das orientalistische Hauptordinariat aufgebaut werden solle, um so die Ausgaben für die Neueinrichtung einer judenkundli70
Ebd. Schreiben Schlunks an das württembergische Kultusministerium vom 1.12.1939, UAT 126/31, fol. 167–169. 72 Weber an das Rektorat am 17.4.1940, UAT 126a/284, fol. 40. 73 Ebd. 74 Gutachten Enno Littmanns vom 31.3.1940, ebd. 71
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chen Professur zu sparen. Längerfristig müsse es das Bestreben der Universität sein, das wissenschaftliche Potential zu konzentrieren und eine entsprechende Schwerpunktbildung vorzunehmen. Deswegen hielt es Wetzel für notwendig, verwandte Fächer eines größeren Wissenschaftsgebietes „zu massieren, um ihre örtliche, umfassende Bearbeitung zu gewährleisten. Ein erster Schritt zu einer solchen Fachgruppe orientalischer Sprachen- und Kulturgeschichten mit besonderer Betonung des Judentums ist der Lehrauftrag für Kuhn“.75 Diesen durchaus modernen Gedanken universitärer Strukturplanung verfolgte Wetzel auch in einem ganzseitigen Beitrag für die Tübinger Chronik, in dem er die gegenwärtige Situation und künftige Entwicklung der Universität behandelte.76 Bei der rassenkundlichen Neuausrichtung der Universität käme Fächern wie der Biologie, der Anthropologie, aber auch der Religionswissenschaft und der „Judenforschung“ eine wichtige Rolle zu. Die verschiedenen Arbeiten in Tübingen auf dem Gebiet der „Judenforschung“ bedürften der organisatorischen Sicherung. Wie Wetzel weiter ausführte, ließen sich diese Pläne am besten im Zusammenhang einer „Großhochschule Schwaben“ verwirklichen.77 Mit der Losung „Wissenschaft in Wehr!“ hatten auch der neue Rektor Otto Stickl (1897–1951) und der eigens aus Stuttgart angereiste Ministerpräsident und Kultusminister Christian Mergenthaler (1884–1980) bei der offiziellen Rektoratsübergabe zu Jahresbeginn ins gleiche Horn gestoßen.78 Die Ausrichtung der ganzen Hochschularbeit auf den Existenzkampf des deutschen Volkes sei das Gebot der Stunde. Dem habe sich jegliche Hochschulreform unterzuordnen. Nach dem Bericht in der Tübinger Chronik folgten darauf Mergenthalers „richtungsweisende Ausführungen über die Bedingungen wissenschaftlicher Arbeit im Kriege“, in denen er die Universität dafür lobte, dass sie in den vergangenen Jahren „ihre nationalsozialistische Ausrichtung“ klar und entschieden in Angriff genommen habe.79 Der scheidende Rektor Hoffmann wies in seinem Rechenschaftsbericht auf die Bedeutung einer neuen nationalsozialistischen Kulturwissenschaft hin, die auf einem biologischen Weltbild gründe und die völkisch-rassische Lebensgestaltung zum Ziel habe. Dass der rassenbiologische Lehrstuhl Wilhelm Gieselers (1900–1976) am 1. August 1939 zum Ordinariat erhoben wurde, war ihm ebenso wie die am 8. Juni 1939 gegründete Forschungsstelle für rassen75
Wetzel an das Rektorat am 22.4.1940, ebd. Robert Wetzel, Aufgabe und Ausbau der Universität Tübingen, Tübinger Chronik vom 28.6.1940. 77 Ebd. 78 Siehe dazu den ausführlichen Bericht in der Tübinger Chronik vom 12.1.1940. 79 Ebd. 76
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kundliche Kolonialforschung der Dozentenbundsakademie und der im Sommersemester 1939 eingerichteten Lehrstuhl für weltpolitische Auslandskunde und Kolonialwissenschaft ein Beleg für das bereits Erreichte.80 Den Ausbau der „Judenforschung“ ordnete auch Hoffmann in den Kontext einer Stärkung der Rassenkunde ein. In seinem offiziellen Schreiben an das Stuttgarter Kultusministerium unterstützte das Rektorat am 4. Mai 1940 den Antrag der Philosophischen Fakultät vom 17. April. Kuhn gehöre schon heute zu den führenden Wissenschaftlern auf seinem Fachgebiet und sei die gegebene Persönlichkeit, „um an der Universität Tübingen in Lehre und Forschung die Judenfrage zu vertreten.“ Der bezahlte Lehrauftrag müsse als Teileinlösung eines ihm bereits früher gegebenen Versprechens verstanden werden.81 Eine Woche später kam die erfreuliche Antwort des Ministeriums, dass Kuhn der Lehrauftrag mit Wirkung vom Sommersemester 1940 gewährt werde.82 Kuhn, seit 1. Januar 1939 Leutnant der Reserve im Infanterieregiment 35, konnte seinen Lehrverpflichtungen aber nur deshalb nachkommen, weil seine Tätigkeit für die Forschungsabteilung Judenfrage als kriegswichtig eingestuft und er deshalb nicht eingezogen wurde. Am 14. März 1940 wandte sich der Reichsverteidigungsreferent des Reichserziehungsministeriums an des Wehrmeldeamt in Tübingen-Lustnau, um Kuhns Rückstellung zu bewirken. Das Reichsinstitut beabsichtige, ihn im Rahmen einer „Studienreise“ nach Polen zu schicken.83 Als Begründung wurde ausgeführt, dass durch den Sieg des Reiches in Polen einzigartige Forschungsmöglichkeiten entstanden seien, die es ermöglichten, dem Problem des Ostjudentums in ganz neuer Weise nachzugehen: „Da das ostjüdische Problem in Zukunft nie mehr in seiner bisherigen und in seiner jetzigen Gestalt erforscht werden kann, ist es für die Wissenschaft eine dringliche Aufgabe geworden, die mit dem ostjüdischen Problem zusammenhängenden wichtigen Fragen zu untersuchen, solange dazu die Gelegenheit an Ort und Stelle günstig ist.“
Kuhn sei ein führender Hebraist und Talmudist und deswegen vom Reichsinstitut für diese Aufgabe vorgesehen worden. Der Generalgouver80
Ebd. Schreiben des Rektorats (i.V. Hoffmann) an das Ministerium am 4.5.1940, UAT 126a/ 284, fol. 40. 82 Schreiben des Stuttgarter Kultusministeriums vom 11.5.1940. Hoffmann informierte daraufhin am 17.5.1940 den Dekan und den Dozentenführer, dass Kuhns Lehrauftrag für Sprache, Literatur und Geschichte des Judentums zum 2. Trimester 1940 wirksam werde. Ebd. 83 Der Reichsverteidigungsreferent Büchsel an das Wehrmeldeamt Tübingen-Lustnau am 14.3.1940, UAT 126a/284, fol. 38. 81
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neur für die besetzten polnischen Gebiete habe bereits seine Genehmigung erteilt.84 In den Universitätsakten finden sich erwartungsgemäß keine näheren Angaben über den politischen Charakter von Kuhns „Studienreise“ in das besetzte Polen. Doch den Tagebucheinträgen von Adam Czerniaków (1880–1942), dem Judenratsvorsitzenden des Warschauer Ghettos, lässt sich entnehmen, dass Kuhn Anfang Juni 1940 in Warschau auftauchte, um im Archiv und im Museum der jüdischen Gemeinde Nachforschungen anzustellen.85 Kuhn wurde dabei von dem SS-Oberscharführer Gerhard Mende, einem Angestellten des Judenreferats der Gestapo, begeleitet.86 In dem Gespräch, das Kuhn mit Czerniaków, aber auch mit dem polnischen Historiker Majer Baɫaban (1877–1942) führte, ging es um jüdische Bücher und Dokumente und um ihre „Sicherstellung“ durch die Deutschen.87 Bereits Ende Mai hatte der SS-Oberscharführer Franz Avriel von Czerniaków die Öffnung des jüdischen Museums verlangt, das dann noch vor dem 6. Juni aufgebrochen worden sein muss, denn an diesem Tag trug Cerniaków in sein Tagebuch ein, dass die Sammlungen und Vitrinen des Museums bereits abtransportiert worden seien. Kuhn inspizierte deshalb mit Mende zusammen eine noch verbliebene Truhe, die aber kein wichtiges Material
84 Ebd. Am 28.3.1940 befürwortete das Rektorat den Sonderauftrag Kuhns und am 14.5.1940 stellte Kuhn für ca. vier Wochen ab dem 17. Mai ein Urlaubsgesuch, da er eine „wissenschaftliche Reise zum Studium des Ostjudentums in das Generalgouvernement Polen“ unternehmen wolle. Ebd., fol. 38f. 85 Im Warschauer Ghetto. Das Tagebuch des Adam Czerniaków, München 1986, S. 78f. und S. 84, Tagebucheinträge vom 6., 7. und 20. Juni 1940. Czerniaków nahm sich zwei Jahre später am 23.7.1942 das Leben, weil er lieber sterben wollte, als sich an der von ihm verlangten Aufstellung der Deportationslisten zu beteiligen. 86 Das Referat IV B 4 „Judenangelegenheiten“ der analog zum Reichsicherheitshauptamt organisierten Dienststelle des Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des SD hatte etwa 4–6 Mann. Mende versah dort vorwiegend Bürodienste. Insgesamt arbeiteten für die in einem Gebäude in der Aleja Szucha (Szucha-Allee) untergebrachten Dienststelle etwa 800 Deutsche, davon 500–600 in Warschau. Justiz und NS-Verbrechen, bearbeitet von C. F. Rüter u.a., Bd. 20, Amsterdam 1979, Nr. 586, S. 654f. Mit der Planung des am 12.10.1940 errichteten Ghettos wurde im Februar 1940 begonnen. 87 Im Warschauer Ghetto, S. 78f. und S. 83f. sowie Hans Joachim Barkenings, Spuren im Warschauer Ghetto, in: Leonore Siegele-Wenschkewitz, Hg., Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus. Theologische Programme Deutscher Christen, Frankfurt a.M. 1994, S. 115f. Baɫaban, der am 26.12.1942 im Ghetto starb, schrieb mehrere Bücher zur Geschichte der polnischen Juden. Bis zu seinem Tod leitete er das Archiv der Jüdischen Gemeinde in Warschau. Siehe Stefan Lehr, Ein fast vergessener ‚Osteinsatz‘. Deutsche Archivare im Generalgouvernement und im Reichskommissariat Ukraine, Düsseldorf 2007, S. 159 und Barbara Engelking und Jacek Leociak, The Warsaw Ghetto. A guide to the perished city, New Haven 2009, S. 815f.
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enthalten habe.88 Da die der jüdischen Gemeinde entwendeten Sachen, unter denen sich offenbar auch Kultgegenstände befanden, in das Hauptquartier der Gestapo in die Szucha-Allee gebracht wurden, konnte sich Kuhn während seines „Studienaufenthalts“ dort mit ihnen befassen.89 Wie im nächsten Kapitel noch deutlicher werden wird, diente die Requirierung jüdischen Materials in Warschau aller Wahrscheinlichkeit nach dem Bestandsaufbau der antisemitischen Bibliothek der Forschungsabteilung Judenfrage in München. Als der Dekan der Philosophischen Fakultät Carl August Weber am 27. September 1940 beim Rektor nachhakte, wie es um die beantragte Professur zum Studium der Judenfrage stehe, verwies er nicht nur darauf, dass sich Kuhn zu einem hervorragenden Kenner der jüdischen Geschichte und Literatur heraufgearbeitet habe und eine wertvolle Arbeit bei der „wissenschaftlichen Aufklärung über das Judentum“ leiste, sondern explizit auch auf seinen Sonderauftrag in Polen: „Seine Lehrtätigkeit an der Universität war ebenso erfolgreich, wie eine Reihe allgemeinverständlicher Vorträge in verschiedenen Städten verdienstlich waren in der wissenschaftlichen Aufklärung über das Judentum. Seine Vorrangstellung unter allen Forschern wurde vor wenigen Monaten anerkannt durch einen Sonderauftrag zum Studium des talmudistischen Judentums in Polen und zur Sicherstellung talmudistischer Handschriften und Bibliotheken.“90
Übersetzt man das Wort „sicherstellen“ aus der Lingua tertii imperii in die Sprache der Geschichtswissenschaft, besteht wenig Zweifel daran, dass sich Kuhn am Bücherraub der deutschen Okkupanten in Polen beteiligte.91 Falls der Plural des von Weber gebrauchten Wortes „Bibliotheken“ zutrifft, beschränkte sich das Ziel der Kuhnschen „Studienreise“ womöglich nicht auf die polnische Hauptstadt.
88
Tagebucheintrag vom 7.6.1940, Im Warschauer Ghetto, S. 79. Am 2.8.1940 hieß es in der Gazeta Zydowska: „The commune archive was set up with the permission of the authorities. (...) Docent Dr. Kuhn visited the archive as a representative of the authorities.“ Zitiert bei Engelking und Leociak, The Warswaw Ghetto, S. 174. Die zweimal wöchentlich erscheinende Ghettozeitung Gazeta Zydowska zählte auch Marcel ReichRanicki zu ihren Autoren. 89 Czerniakóws Tagebucheintrag vom 21.6.1940 legt nahe, dass dort sichergestelltes Material aus verschiedenen „Quellen“ zusammengeführt wurde. Im Warschauer Ghetto, S. 83f. und Barkenings, Spuren im Warschauer Ghetto, S. 116. 90 Schreiben Webers an das Rektorat am 27.9.1940, UAT 126a/284, fol. 44 sowie UAT 131/128. 91 Siehe zu dem Terminus technicus „sicherstellen“ Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin 2000, S. 571f.
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Auch Dozentenschaftsleiter Robert Wetzel schrieb einige Tage später am 5. Oktober an den Rektor, um die Angelegenheit der judenkundlichen Professur für Kuhn voranzutreiben. Da noch weitere Hochschulen auf den Plan getreten seien, die sich auf diesem Gebiet profilieren wollten, bat er um eine beschleunigte Behandlung. Man solle nicht den Fehler begehen, „auf das Tübinger Vorrecht und den sachlichen Tübinger Vorsprung in der wissenschaftlichen Bearbeitung der Judenfrage zu verzichten“.92 Gleichzeitig ging Wetzel der Möglichkeit nach, ob man vielleicht über die Verwendung einer außerordentlichen Professur der Medizinischen Fakultät dem angestrebten Ziel nähertreten könnte. Deren Dekan solle sich damit einverstanden erklären, auf eine der beiden Oberarztprofessuren an der Medizinischen oder Chirurgischen Klinik „zeitweise zu verzichten“. Angesichts der Bedeutung des Anliegens stimmte die Medizinische Fakultät dem Plan unter der Voraussetzung zu, dass die Gesamtzahl ihrer Lehrstellen dadurch nicht verringert würde und eine Rückgabe bei der Anmeldung von Eigenbedarf gewährleistet sei.93 Diesen Sachstand meldete Wetzel am 21. Oktober 1940 an das Stuttgarter Kultusministerium weiter, wobei er gleichzeitig den Antrag stellte, die 1938 neu geschaffene außerordentliche Professur für Innere Medizin in eine für die Erforschung des Judentums umzuwidmen.94 Auf eine weitere Nachfrage durch Carl August Weber, die den Hinweis enthielt, dass der zuständige Referent des Reichserziehungsministeriums seinem früheren Antrag vom September 1940 bereits mündlich zugestimmt habe, antwortete das württembergische Kultusministerium, dass man in Berlin noch einen weiteren Bericht über die geplante Stelle erwarte, der „insbesondere eine eingehende Begründung der Notwendigkeit und des Umfangs der neuen Professur enthalten sollte“.95 Obwohl sich die Angelegenheit jetzt doch schon einige Zeit hinzog und man in Tübingen langsam ungeduldig zu werden begann, ging man intensiv auf die Berliner Nachfrage ein. Zum einen wies Wetzel am 8. März 1941 erneut auf die dringende Notwendigkeit des intendierten Lehrstuhls hin. 92
Wetzel an den Rektor am 4.10.1940, UAT 126a/284, fol. 44 und UAT 131/128. Wetzel an den Dekan der Medizinischen Fakultät am 5.10.1940 und ders. an Wetzel am 26.10.1941, dabei ausführend: „Im Einverständnis mit dem Direktor der Medizinischen Klinik erklärt sich die Medizinische Fakultät bereit, zur Einrichtung einer Professur für die Erforschung des Judentums die im Haushaltsplan der Medizinischen Klinik vorgesehene Stelle eines beamteten a.o. Professors der Philosophischen Fakultät zur Verfügung zu stellen.“ Beides UAT 126a/284, fol. 44 94 Schreiben Wetzels an den Rektor am 21.10.1940, ebd. 95 Schreiben Webers an den Rektor am 23.12.1940 und Schreiben des württembergischen Kultusministeriums an den Rektor am 1.3.1941, ebd. 93
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Es wäre ein herber Rückschlag für die Universität, „wenn die Judengeschichtsforschungen nicht ihre Fortsetzung und weitere Pflege“ fänden. Der Verlust würde umso schwerer wiegen, „als gerade das Tübinger ‚wissenschaftliche Klima‘ einer biologisch-rassischen Kulturbetrachtung einen kaum sonst wo gegebenen Untergrund und Auseinandersetzungsboden ganz besonders auch für Tübingen bildet“.96 Zum andern verfasste der Dekan der Philosophischen Fakultät eine ausführliche Stellungnahme, in der er eine wohlüberlegte Begründung dafür lieferte, warum die gewünschte Professur an der Eberhard Karls Universität so notwendig sei.97 Weber begann mit dem einleitenden Hinweis auf die besondere Tübinger Tradition in der Rassenforschung, an die der seit 1933 erfolgte Ausbau der Universität „wirkungsvoll“ angeknüpft habe. Auf diesem Hintergrund sei auch bisher schon „die Erforschung des Judentums in Tübingen“ gepflegt worden. Diese Errungenschaft gälte es zu sichern und zu stärken. Den Kern seiner Ausführungen bildete indes die inhaltliche Umschreibung der neuen Professur, deren Aufgabe darin bestehen solle, „aus dem jüdischen Schrifttum und der jüdischen Geschichte die charakteristischen Züge so überzeugend zu entwickeln, daß die jüdische und judenfreundliche Gegnerschaft des Nationalsozialismus und der nationalsozialistischen Hochschule sich einer wissenschaftlichen Diskussion stellen muß. Dies ist vordringlich wichtig für die innere Sicherung des neuen Europas und im weiteren Sinne zur Durchsetzung unseres deutschen Führungsanspruchs.“98
Mit dem hochgesteckten Ziel, dass die neue Professur der Sicherung des deutschen Führungsanspruchs in Europa diene, wollte Weber ihre politische Relevanz begründen und zugleich betonen, dass dafür nur eine hauptamtliche Kraft in Frage käme. Einem traditionellen Wissenschaftsverständnis folgend, fuhr der Dekan fort, dass man die Geschichte und Entwicklung des Judentums von innen her und aus den Originalquellen heraus verstehen müsse, um das Problem tatsächlich angehen zu können. „Bisher sind wir in der schwierigen Lage, die jüdischen Äußerungen 96
Wetzel an den Rektor am 8.3.1941 betr. „Schaffung eines Lehrstuhls für die Erforschung der Geschichte des Judentums; a.o. Professur für Dozent Dr. Karl Georg Kuhn in Tübingen“, UAT 126a/284, fol. 45. 97 Schreiben Carl August Webers an den Rektor am 11.3.1941 betr. „Errichtung eines Lehrstuhls für die Erforschung des Judentums in der Form einer a.o. Professur für Dozent Dr. K. G. Kuhn “, Ebd. und UAT 131/128. Unter der Überschrift „‚Wissenschaftlicher‘ Antisemitismus an der Universität Tübingen“ ist das Webersche Schreiben bei Walter Jens, Eine deutsche Universität. 500 Jahre Tübinger Gelehrtenrepublik, 6. Aufl., München 1993, S. 402 auszugsweise abgedruckt. 98 Ebd.
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schlechthin als jüdischen Geist zu definieren, ohne quellenmäßig und kritisch sagen zu können, worin die jüdische Haltung begründet ist, und welche Ausdrucksformen sie aus sich heraus entwickelt hat.“99 Webers Darlegung lässt sich durchaus als Kritik an einer oberflächlichen und allzu plumpen Rassenkunde verstehen. Es sei ein Trugschluss, das sich jüdische Rasseeigentümlichkeiten allein am Stammbaum ablesen lassen würden. Gerade Kuhn habe deutlich machen können, wie wichtig es sei, hier in die Tiefe zu gehen und sich nicht lediglich auf die äußeren Erscheinungen zu konzentrieren. Es verstehe sich von selbst, dass eine solch schwierige Aufgabe nur von einem wirklichen Sachkenner geleistet werden könne.100 Der Dekan der Philosophischen Fakultät hatte bei seinen Überlegungen offenbar gespürt, dass ein rein biologischer Rassenbegriff der Wirklichkeit des Judentums nicht gerecht werden und viele Aspekte des jüdischen Lebens nicht adäquat erfassen konnte. Das Versagen der naturwissenschaftlichen Disziplinen, körperliche Eigenschaften der jüdischen Rasse nachzuweisen, ermöglichte es den Geisteswissenschaften somit, ihre eigene Fachkompetenz ins Spiel zu bringen. Indem Weber, vermutlich unbewusst, die Religion als zentralen Faktor bei der Bestimmung des jüdischen Wesens bezeichnete, kehrte er zum historischen Ursprung der „Judenfrage“ zurück. Er übernahm dabei die Argumentation von Kittel und Kuhn, dass man das „Judenproblem“ an seiner Wurzel packen müsse, wenn man zu einer tiefgreifenden Lösung kommen wolle. Deswegen war es kein Zufall, dass sich die neue Professur von ihrem fachlichen Zuschnitt her im Zwischenfeld von Religion und Rasse bewegte. Dass die Universität Tübingen großes Interesse an der Einrichtung einer neuen Professur zum Studium der „Judenfrage“ hatte, leuchtet angesichts der Zeitumstände unmittelbar ein. Das „Judenproblem“ stand auf der Skala der politischen Relevanz an oberster Stelle, so dass alle Beteiligten glaubhaft versichern konnten, wie sehr ihnen daran gelegen sei, über ihre Arbeit einen wissenschaftlichen Beitrag für die Lösung dieses so wichtigen Problems zu leisten. Die intendierte Professur passte ausgezeichnet in die neue rassenkundliche Profilbildung, die von der Universitätsleitung wie vom württembergischen Kultusministerium als vorrangiges Ziel ausgegeben und zum Teil bereits verwirklicht worden war. Ein in hohem Maße qualifizierter Gelehrter, der die „Judenfrage“ seit etlichen Jahren mit Erfolg und Sachverstand unterrichtete und dessen politische Loyalität keinen Zweifel aufkommen ließ, stand ebenfalls zur Verfügung. Und dennoch lag man in Tübingen nicht falsch mit dem Gefühl, vom 99 100
Ebd. Ebd.
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Reichserziehungsministerium bei diesem Vorhaben mittlerweile nicht mehr genügend unterstützt zu werden. Seit zwei Jahren unternahm man größte Anstrengungen, um eine solche Professur zu schaffen, ohne diesem Ziel jedoch wirklich näher zu kommen. Der Verdacht schien sich zu bestätigen, als man Ende August 1941 den Bescheid erhielt, dass die beabsichtigte Umwidmung einer medizinischen Oberarztprofessur auf keinen Fall genehmigt würde. Kurz angebunden hieß es, dass diese allein dem Nachwuchs der medizinischen Hochschullehrer vorbehalten bleiben müsse.101 Fragt man nach den Gründen für die sich verhärtende und schließlich ablehnende Haltung des Reichserziehungsministeriums, lassen sich drei unterschiedliche Motivstränge ausmachen. Zum einen wollte das Ministerium deutlich machen, dass man sich das Heft des Handelns nicht aus der Hand nehmen ließ und dass die Entscheidung für eine neue Professur nicht in Tübingen oder Stuttgart, sondern in Berlin getroffen wurde. Es kam dort nicht gut an, dass sich die Antragsteller relativ apodiktisch auf eine „Sonderprofessur“ festgelegt und die Möglichkeit einer Umschichtung innerhalb der Philosophischen Fakultät nie ernsthaft in Erwägung gezogen hatten. Abgesehen von dem nicht gerade freundschaftlichen Verhältnis zwischen Mergenthaler und Bernhard Rust (1883–1945) kam noch dazu, dass mit Walter Frank der wichtigste Unterstützer Kuhns in Ungnade gefallen und nach einigen Querelen Ende 1941 von Martin Bormann (1900–1945) kaltgestellt worden war. Frank hatte sich mehrmals in einer Weise für Kuhn verwandt, die man im Reichserziehungsministerium kaum anders als anmaßend empfinden konnte. Somit bestand kein unmittelbarer Anlass mehr, auf Kuhns Fortkommen in Tübingen besondere Rücksicht nehmen zu müssen. Ein weiterer wichtiger Grund, warum die Tübinger Pläne für ein judenkundliches Extraordinariat schließlich abgelehnt wurden, ist, wie bereits Uwe Dietrich Adam feststellte, wohl darin zu sehen, dass die Vertreibung und dann Ermordung des deutschen Judentums wissenschaftliche Aktivitäten auf diesem Gebiet überflüssig gemacht hatten.102 De facto gab es auf dem Boden des Reiches keine Juden mehr, von denen eine Gefahr ausgehen konnte. Warum also in Zeiten knapper Kassen Geld für ein Problem ausgeben, das sich erledigt hatte? Zwar bestand noch immer die Möglichkeit, das „Judenproblem“ im Weltmaßstab als universal auszugeben. Doch der konkrete Anlass für die Schaffung ei101 Schreiben des Reichserziehungsministeriums an das Kultusministerium in Stuttgart, o.D. (mit Eingangsstempel vom 1.9.1941), ebd., fol. 48. 102 „Daß die überzeugend klingende Begründung für die Errichtung einer solchen Professur beim REM nicht die erhoffte Wirkung hatte, lag sicherlich in der Tatsache, daß man bei der in Angriff genommenen ‚Endlösung der Judenfrage‘ derartiger Lehrstühle nicht mehr bedurfte.“ Adam, Hochschule und Nationalsozialismus, S. 179.
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ner Professur zur Erforschung des Judentums war, zumindest in Tübingen, nicht mehr in ausreichendem Maß gegeben. Nachdem man an der Universität Tübingen erkannt hatte, wie die Entwicklung tatsächlich stand, wurde der Wunsch nach einer Professur zum Studium der „Judenfrage“ zwar nicht ganz aufgegeben, aber doch zunächst einmal auf eine außerplanmäßige und nicht etatisierte Professur für Kuhn reduziert. Der neue Dekan der Philosophischen Fakultät Otto Weinreich (1886–1972) argumentierte im Januar 1942 dahingehend, dass Kuhn zumindest diese Anerkennung seiner Gelehrtenarbeit nicht verwehrt werden dürfe.103 Weinreich konnte dabei ein weiteres Gutachten Littmanns beilegen, das erneut auf die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit Kuhns abhob, wodurch er „den jüdischen Arbeitern auf diesem Gebiet“ weit überlegen sei.104 Doch Weinreich musste Ende September 1942 eine weitere Ermahnung folgen lassen, ehe das Reichserziehungsministerium Kuhn schlussendlich am 28. September 1942 zum außerplanmäßigen Professor ernannte. Man wies Kuhn darauf hin, dass sich daraus kein Anspruch auf die Übertragung eines planmäßigen Lehrstuhls ergebe: „Eine Änderung ihrer Dienstverhältnisse tritt mithin nicht ein.“105 Weinreich ließ nicht locker und unternahm im April 1943 einen neuerlichen Vorstoß, nachdem Kuhn durch die Einberufung seine Lehrauftragsvergütung verloren und seine Frau mit den fünf Kindern finanzielle Probleme bekommen hatte. Obgleich der seinerzeitige Umwidmungsplan gescheitert sei, mahnte Weinreich erneut eine Lösung für Kuhn an. Damals habe man Kuhn versprochen, ihm zu einer beamteten Professur zu verhelfen.106 Dem von Rektor Stickl am 24. April 1943 an das Reichserziehungsministerium weitergeleiteten Antrag blieb der Erfolg wiederum versagt. Weder wollte man in Berlin dem Gedanken einer planmäßigen Professur näher treten, noch sah man sich in der Pflicht, für einen Ersatz der entfallenen Lehrauftragsvergütung zu sorgen. Es bleibe der Tübinger Jubiläumsstiftung über-
103
Weinreich an den Rektor am 23.1.1942, UAT 126a/284, fol. 51. „Genaue Kenntnis der nicht-jüdischen und der jüdischen Quellen befähigen ihn, die Probleme klar zu sehen und vom nichtjüdischen Standpunkt aus darzustellen. Die rabbulistische Kasuistik des Talmuds wird in seinen Aufsätzen gebührend gekennzeichnet.“ Das undatierte Gutachten Littmanns, ebd. 105 Weinreich an den Rektor am 26.9.1942 und Ernennungsschreiben des Reichserziehungsministeriums an Kuhn bzw. auch an den Rektor am 28.9.1942, ebd., fol. 52f. Stickls Glückwunschschreiben an Kuhn vom 16.10.1942 sowie Kuhns Dankschreiben vom 4.11.1942, ebd., fol. 54f. 106 Weinreich an den Rektor am 20.4.1943, ebd., fol. 56. Im gleichen Tenor hatte Wetzel drei Tage vorher am 17.4.1943 an den Rektor geschrieben, ebd. 104
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lassen, Kuhn eine laufende Zuwendung zu gewähren.107 Und auch das Stuttgarter Kultusministerium erhielt auf die Bitte um eine ausnahmsweise Weitergewährung von Kuhns Bezügen eine klare Absage.108 Dass sich die ablehnende Haltung des Reichserziehungsministeriums nicht grundsätzlich gegen die „Judenwissenschaft“ richtete, sondern eher die Universität Tübingen betraf, sieht man an späteren Plänen zur Schaffung einer judenkundlichen Professur an der Universität Frankfurt, die ausdrücklich befürwortet wurden. Und auch an Kuhn als geeignetem Kandidaten hatte das Berliner Ministerium nichts auszusetzen. Ausgangspunkt war in Frankfurt eine Initiative der Parteikanzlei, die sich im Januar 1944 an das Reichserziehungsministerium wandte und die „Errichtung eines Lehrstuhls für Judenkunde“ anmahnte. Da die „Judenfrage“ eine der Kernfragen des Nationalsozialismus sei, hätte sich deren Erforschung schon vor dem Krieg als eine „nachgerade unausweichliche Notwendigkeit“ erwiesen. Mittlerweile sei das Problem zum Weltproblem geworden, somit das Anliegen noch dringlicher. Zwar existierten einige außeruniversitäre Institute, die sich mit dieser Thematik befassen würden. Doch bestehe kein Zweifel daran, dass wirkliche Sachkenner benötigt würden, die in der Lage seien, „die Quellen des talmudischen Judentums ohne jüdische Hilfe“ zu bearbeiten. Für die Heranbildung der benötigten Fachspezialisten bedürfe es eines eigenen Lehrstuhls, der an der Universität Frankfurt etabliert und von Karl Georg Kuhn besetzt werden solle.109 Auf dem Schreiben der Parteikanzlei findet sich ein interessanter handschriftlicher Vermerk von Hermann-Walter Frey (1888–1968), einem ehemaligen Mitglied der Deutschen Christen und von 1933–1945 Referent im Amt Wissenschaft, in dem er einen hochrangigen Kollegen mit folgende Worten um eine Stellungnahme ersuchte: „Der Lehrstuhl ist äußerst wichtig. Prof. Dr. Kuhn der einzige Kenner. Es fehlt völlig an Nachwuchs, der brauchbar ist. Kann nicht eine Ausnahme von der Sperre hierfür erreicht werden?“110 Dieser, Ministerialrat Otto von Rottenburg (1885–1945), antwortete ebenfalls per Hand, dass der Etat für 1944 schon abgeschlossen sei. Vor einer Anmeldung für das Haushaltsjahr 1945 solle man nochmals in Frankfurt
107 Schreiben des Reichserziehungsministeriums an den Tübinger Rektor vom 16.7.1943, ebd. Für das Haushaltsjahr 1943 dürften sowieso keine neuen Planstellen geschaffen werden. 108 So das Kultusministerium in Stuttgart an den Rektor am 30.4.1943, ebd., fol. 58. 109 Schreiben der Parteikanzlei an das Reichserziehungsministerium am 26.1.1944, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, 478 (Professoren der Philosophischen Fakultät der Universität Frankfurt), fol. 92. 110 Ebd.
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nachfragen, ob die Voraussetzungen dort tatsächlich gegeben seien.111 In diesem Sinne schrieb Frey am 24. Februar 1944 an den Rektor der Universität Frankfurt, wobei er die Argumente der Parteikanzlei wiederholte und um eine eingehende Äußerung über die Situation in Frankfurt bat.112 In seiner Antwort betonte der Frankfurter Universitätsrektor in Absprache mit dem Dekan der Philosophischen Fakultät, dass die Bedingungen für einen solchen Lehrstuhl in Frankfurt außerordentlich günstig seien. Neben dem Amt Rosenberg und dem in Frankfurt angesiedelten Institut zur Erforschung der Judenfrage biete sich besonders die Zusammenarbeit mit dem zu reaktivierenden Orientalischen Seminar an.113 Der ebenfalls um eine Stellungnahme gebetene Kurator der Universität vermerkte am 11. März 1944 auf der Rückseite dieses Schreibens, dass er selbst den Ausführungen des Rektors zustimme, dass aber der Frankfurter Oberbürgermeister die Verschiebung des Vorhabens bis nach Kriegsende empfehle.114 Die Reaktion des Reichserziehungsministeriums darauf ist außerordentlich bemerkenswert. Nichts wäre leichter gewesen, als das Vorhaben an diesem Punkt scheitern zu lassen. Doch am 24. Mai 1944 begrüßte das Ministerium die Anregung der Parteikanzlei zur Schaffung einer Professur zum Studium der „Judenfrage“ „aufs wärmste“, dies umso mehr als dadurch einem alten Plan des Ministeriums aus dem Jahr 1939 entsprochen würde.115 Die vom Frankfurter Oberbürgermeister vorgeschlagene Aussetzung sei sachlich nicht begründet und nicht im Sinne des Ministeriums: „Die Verwirklichung des Planes erscheint mir heute mehr denn je ein dringendes Bedürfnis zu sein. Ich werde daher die Errichtung des Lehrstuhls für Judenkunde zum Staatshaushalt 1945 anmelden. Ebenso bin ich mit dem für die Besetzung des Lehrstuhls in Aussicht genommenen apl. Prof. Dr. K. G. Kuhn-Tübingen sehr einverstanden.
111
Ebd. Schreiben des Reichserziehungsministeriums (Frey) an den Rektor der Universität Frankfurt am 24.2.1944, ebd., fol. 93f. 113 Rektor Papoff schrieb am 9.3.1944 an das Reichserziehungsministerium „dass die Universität Frankfurt a.M. von 1924 bis 1934 einen dann weggefallenen Lehrstuhl für Semitische Philologie besaß, dessen letzter Inhaber – ein Jude – sich besonders mit dem talmudischen Judentum beschäftigte. Aus dieser Zeit besteht hier noch ein Orientalisches Seminar, das mit dem geplanten Lehrstuhl verbunden werden könnte.“ Ebd., fol. 95. 114 Ebd. 115 Das Reichserziehungsministerium (Frey) an den Leiter der Parteikanzlei am 24.5.1944, ebd., fol. 97. Frey verwies hier auf ein Schreiben des Ministeriums an die Parteikanzlei vom 10.1.1939 und vom 1.4.1940. 112
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Auf Grund seines gediegenen Wissens und seiner Arbeiten auf diesen Gebieten erscheint Kuhn in erster Linie für den neuen Lehrstuhl ausgewiesen.“116
Die auf dem Hintergrund der militärischen Lage Deutschlands zunehmend bizarrer werdende Diskussion um eine judenkundliche Professur für Kuhn zog sich noch bis in das Jahr 1945 hinein. Weil sich der in Vertretung amtierende Tübinger Rektor Wilhelm Gieseler im Hinblick auf Kuhns Zurückstellung vom Wehrdienst unsicher war, fragte er Mitte Dezember 1944 in Berlin nach, wie er sich verhalten solle. Kuhn sei zwar im Herbst von der Wehrmacht unter dem Stichwort „Sonderelbe Wissenschaft“ freigegeben worden, doch eine uk-Stellung sei nicht erfolgt und er selbst halte sich nicht für befugt, eine solche zu beantragen.117 Am 6. Januar 1945 antwortete das Reichserziehungsministerium, dass es nach Auskunft des Oberkommandos der Wehrmacht für die unter dem genannten Sonderauftrag stehenden Angehörigen der Wissenschaftsverwaltung keines besonderen uk-Antrags bedürfe.118 Das Kodewort „Sonderelbe Wissenschaft“ bezeichnete einen vermutlich auf die Initiative des Reichssicherheitshauptamtes zurückgehenden Führerlass vom 6. Mai 1944, der vor allem Geisteswissenschaftler für kriegswichtige Projekte vom Militärdienst freistellen sollte.119 116
Ebd. Ein handschriftlicher Vermerk auf diesem Schreiben besagte, dass nach einem Erlass vom 25.8.1944 für 1945 kein neuer Haushaltsplan aufgestellt werde. Dem fügte Frey per Hand hinzu: „Die Errichtung ist notwendig. Wir müssen es im Dreier-Ausschuß direkt beraten.“ 117 Gieseler als Rektor i.V. an das Reichserziehungsministerium am 16.12.1944. Dem ging zwei Tage vorher eine Anfrage des Tübinger Wehrbezirkskommandos bei der Universität Tübingen voraus. Da man mehrfach beim Reichsdozentenführer den uk-Antrag für den Oberleutnant d.R. Kuhn unter dem Stichwort „Sonderelbe Wissenschaft“ angefordert, aber nicht erhalten habe, solle die Universität nun selbst den Antrag stellen. BArch R 21, 10.057, s.v. Kuhn. Am 20.5.1944 hatte Kuhn dem Tübinger Rektor die Mitteilung gemacht, dass er jetzt als NS-Führungsoffizier bei einer anderen Division eingesetzt sei (UAT 126a/284, fol. 58a). Anderthalb Jahre vorher war am 21.10.1942 von der Tübinger Chronik gemeldet worden, dass Kuhn seit Sommer 1940 bei der Wehrmacht stehe und jetzt Oberleutnant und Kompaniechef geworden sei. Die Zeitungsnotiz wies auch darauf hin, dass Kuhn als besonderer Kenner der jüdischen Literatur und Geschichte 1940 einen Sonderauftrag zum Studium des talmudistischen Judentums in Polen wahrgenommen hatte. 118 Schreiben des Reichserziehungsministeriums vom 6.1.1945 an das Tübinger Rektorat und das Tübinger Wehrbezirkskommando. Dieses solle sich an den Rektor wenden, falls unbedingt ein Antrag benötigt werde. BArch R 21, 10.057, s.v. Kuhn. 119 Vorausgegangen war am 30.5.1941 ein Führererlass mit dem Tarnnamen „Sonderelbe“, bei dem vor allem Naturwissenschaftler für den Einsatz in der Rüstungsindustrie uk-gestellt wurden. Ludwig Jäger, Seitenwechsel. Der Fall Schneider / Schwerte und die Diskretion der Germanistik, München 1998, S. 327. Jäger diskutiert hier den Fall des Germanisten Benno von Wiese (1903–1987), der offenbar für den Germanischen Wis-
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Inwieweit und in welchem Sonderauftrag Kuhn zum Einsatz kam, ist unklar. Dass Kuhn am 9. Januar 1945 auf Bitten des Rektors drei seiner Publikationen nachreichte,120 könnte darauf hindeuten, dass seine Freistellung im Zusammenhang der in Frankfurt geplanten Professur stand und möglicherweise eine Tätigkeit für das dortige Institut zur Erforschung der Judenfrage beinhaltete. Obwohl Kuhn dem feindlichen Lager Walter Franks angehört hatte, erhielt er 1944 sogar die Unterstützung der Dienststelle Rosenbergs. Bis dahin galt Kuhn als Mann des Frank-Lagers und die Forschungsabteilung Judenfrage als eine von protestantischen Wissenschaftlern dominierte Konkurrenzorganisation. Doch die herausragende fachliche Eignung Kuhns und der Mangel an ähnlich qualifizierten Gelehrten brachte Alfred Rosenberg (1893–1946) dazu, die mögliche Berufung Kuhns an die Universität Frankfurt zu unterstützen. Im März 1941 hatte Rosenberg in Frankfurt sein eigenes Institut zur Erforschung der Judenfrage eröffnet, so dass ihm die Aussicht auf ein engeres Zusammengehen mit der Universitätswissenschaft durchaus gelegen kam, auch wenn der für die neue Professur in Aussicht genommene Kandidat bislang keine Verbindung zu seiner Dienststelle hatte. Ende Oktober 1944 schrieb der persönliche Adjutant Rosenbergs Werner Koeppen (1910–1994) dem Leiter des Instituts zur Erforschung der Judenfrage Klaus Schickert (geb. 1909, Todesdatum unbekannt), dass Rosenberg der Nominierung Kuhns für die Frankfurter Professur zustimme, gleichzeitig aber Wert auf eine Zusammenarbeit Kuhns mit dem Amt Rosenberg lege.121 Fünf Tage vorher hatte Schickert in einem internen Aktenvermerk die Mitteilung des Gaudozentenbundführers von Hessen-Nassau, Heinrich W. Kranz (1897–1945), festgehalten, wonach das Reichserziehungsministerium die Errichtung eines Lehrstuhls für Judenkunde an der Universität Frankfurt ebenso wie seine Besetzung durch Kuhn befürworte.122 Wenn der militärische Zusammenbruch keinen Strich durch die Rechnung gemacht hätte, wäre die Berufung Kuhns an die Unisenschaftseinsatzes des Ahnenerbes der SS abgestellt wurde. Wie viele Wissenschaftler von dem Erlass „Sonderelbe Wissenschaft“ erfasst wurden, liegt im Dunkeln. 120 Kuhn an den Rektor am 9.1.1945, UAT 126a/284, fol. 59. 121 „Ihren Aktenvermerk betreffend Errichtung eines Lehrstuhls für Judenkunde an der Universität Frankfurt a.M. und die Nominierung von Prof. Kuhn für diesen Posten habe ich Reichsleiter Rosenberg vorgelegt. Der Reichsleiter möchte, dass Prof. Kuhn in dieser Eigenschaft auch mit unserer Dienststelle zusammenarbeitet. Ich bitte Sie, in Übereinstimmung mit dem Hauptamt Wissenschaft unserer Dienststelle entsprechende Schritte zu veranlassen.“ Koeppen an Schickert am 31.10.1944, BArch, NS 8, 266, fol. 22 sowie IfZ 252, fol. 465. 122 Aktenvermerk Schickerts vom 26.10.1944, Centre de Documentation Juive Contemporaine, Paris, CXXXIC-51.
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versität Frankfurt sicherlich realisiert worden, zumal der Gaudozentenbundführer und Rassenhygieniker Kranz der Universität ab Januar 1945 auch als Rektor vorstand.123 Drei Jahre später gab Kuhn während seines Spruchkammerverfahrens 1948 zu Protokoll, dass er für so gut wie alle während des Dritten Reiches geplanten judenkundlichen Professuren in Erwägung gezogen worden sei. Dabei nannte er neben Berlin und Tübingen ausdrücklich auch die Universität in Frankfurt und darüber hinaus die Universitäten Straßburgs und Wiens.124 Scheinen die Pläne an der Reichsuniversität Straßburg nicht allzu weit vorangekommen zu sein, wurde dagegen in den Staatshaushalt der am 27. April 1941 eröffneten Reichsuniversität Posen ein Lehrstuhl für die Geschichte und Sprache des Judentums in den Staatshaushalt eingestellt. Es existierte sogar ein eigenes Institut gleichen Namens in Posen.125 Doch herrschte bei der Besetzungsfrage offenbar ein derart chaotisches Durcheinander, dass man bei der Kandidatensuche nicht an Kuhn dachte.126 Wenn man die führende Rolle Kuhns auf dem Gebiet der nationalsozialistischen Judenforschung hervorhebt, muss berücksichtigt werden, dass er nicht nur von einer direkten Unterstützung durch seinen Mentor profitierte, sondern dass Kittel auch indirekt durch seinen Verzicht auf eine Lehrkanzel in der Philosophischen Fakultät Kuhn den Weg ebnete. Ein Austritt aus der Evangelisch-theologischen Fakultät wäre für Kittel einem Verrat an seiner Kirche gleichgekommen. Kittel hatte auf der anderen Seite überhaupt kein Problem damit, an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien ab dem 28. Dezember 1940 einen antisemitischen Lehrauftrag für „Ältere Geschichte des Judentums und der Judenfrage“ zu übernehmen.127 Und auch Kittel schrieb in seiner Nachkriegsverteidigung, 123
Siehe zu Kranz, der Ende 1942 Nachfolger Otmar Freiherr von Verschuers in Frankfurt wurde, Michael Grüttner, Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, Heidelberg 2004, S. 97. 124 Spruchkammerurteil Kuhns vom 18.10.1948, StA Sigmaringen, Wü 13, 2657, fol. 14. 125 BArch R 49.01, 13469, fol. 205–209, Institute der Universität Posen, hier fol. 206. Im Anschriftenverzeichnis der Universitätseinrichtungen hatte das „Institut für Erforschung der Geschichte und Sprache des Judentums“ die Nummer 42 mit der Thüringerstr. 7 als Adresse. 126 Siehe Roland Gehrke, Deutschbalten an der Reichsuniversität Posen, in: Michael Garleff, Hg., Deutschbalten, Weimarer Republik und Drittes Reich, Köln 2001, S. 398 und S. 420 und Gerhard F. Volkmer, Die deutsche Forschung zu Osteuropa und zum osteuropäischen Judentum in den Jahren 1933 bis 1945, in Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte, hg. von Hans-Joachim Torke, Bd. 42, Berlin 1989, S. 176. 127 Siehe hierzu das Protokoll der entsprechenden Kommissionssitzung am 25.10.1939, den Antrag der Fakultät an das Wiener Kultusministerium vom 6.12.1939, den Antrag der Fakultät an das Berliner Reichserziehungsministerium am 16.10.1940 und den Er-
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dass ihm drei Mal „unter glänzenden Bedingungen“ eine Professur für Judaica angeboten worden sei, nämlich in Berlin, Tübingen und Wien.128 Hätte er sich darauf eingelassen, das Fach in der Philosophischen Fakultät zu vertreten, wäre Tübingen sicherlich die erste Universität des Deutschen Reiches mit einem Lehrstuhl für das antisemitische Studium der „Judenfrage“ geworden. An der Universität Wien tat sich bei dem Bemühen der Philosophischen Fakultät, vom Berliner Reichserziehungsministerium eine planmäßige außerordentliche Professur „für die Erforschung der geistigen Grundlagen des Judentums“ zu erhalten, besonders deren Dekan Viktor Christian (1885–1963) hervor. Am 11. Juni 1940 reichte Christian einen offiziellen Antrag dafür ein, den er ähnlich detailliert begründete wie Carl August Weber am 27. September des gleichen Jahres in Tübingen.129 Die Notwendigkeit, das Judentum in seiner Gesamtheit zu erforschen, ergebe sich aus der politischen Bedeutung, die diesem Volkstum zukomme. Leider würde es zu wenig Fachleute und zu viele Laien geben, die sich mit dem „Judenproblem“ beschäftigten. Eine auch noch so gut gemeinte, „sachlich aber zu wenig unterbaute dilettantische Beschäftigung mit diesen Problemen“ sei eher als eine Gefahr für die wirkungsvolle Bekämpfung des Judentums anzusehen. Christian plädierte mit zwei Argumentationssträngen für die Notwendigkeit der intendierten Professur. Zum einen betonte er die materiellen Voraussetzungen, die in Wien so gut wie nirgends sonst seien. Weil Wien seit langer Zeit ein Judengemeinde besaß, hätte die Stadt viele wertvolle Materialien für die Erforschung des Judentums aufzuweisen. „Abgesehen von Urkunden in den Archiven bestand hier eine bedeutende Bücherei und eine wertvolle Sammlung jüdischer volkskundlicher und kultischer Gegenstände, die beide derzeit in staatlichen Instituten Wiens verwahrt werden.“ Bei der von Christian als nächstes erwähnten „umfassenden Bücherei zur Geistesgeschichte des Judentums“, die ihm „leihweise“ übergeben worden sei und die sich jetzt im Orientalischen Institut der Universität Wien befinde, handelte es sich um die Bibliothek des Münchener Rechtsanwalts und Verlegers Ludwig Feuchtwanger (1885–1947), die diesem während des Novemberpogroms 1938 gestohlen worden war. Ludwig lass des Reichserziehungsministeriums vom 28.12.1940, Archiv der Universität Wien, Personalakt Kittel 2193. 128 Kittel, Meine Verteidigung, S. 48. 129 Antrag des Dekans der Philosophischen Fakultät der Universität Wien an das Reichserziehungsministerium für eine Professur zur Erforschung der geistigen Grundlagen des Judentums am 11.6.1940, Archiv der Universität Wien, Dekanat der philosophischen Fakultät 1129.
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Feuchtwanger, der Bruder des Schriftstellers Lion Feuchtwanger (1884– 1958), leitete bis 1936 das Verlagshaus Duncker & Humblot und gab von 1930–1938 die Bayerische Israelitische Gemeindezeitung heraus. 1938 wurde er verhaftet und ins Konzentrationslager Dachau gebracht, seine Bibliothek geplündert.130 Etwa ein Drittel der insgesamt 6000 Bände umfassende Bibliothek Feuchtwangers stellte die Gestapo im November 1938 Walter Wüst (1901–1993) und dem Ahnenerbe der SS zur Verfügung.131 Der damit befasste SS-Untersturmführer Seibert schrieb Wüst, dass die „aus jüdischem Besitz“ sichergestellte Bibliothek Feuchtwangers zahlreiche Judaica, aber auch arabisches, syrisches und anderes Schrifttum zum Morgenland enthalte und wertvolle Dienste leisten könne.132 Wüst wiederum ließ die Bücher Christian zukommen, der seit dem 1. April 1939 die Lehr- und Forschungsstätte für den Vorderen Orient des Ahnenerbes leitete. Am 10. August 1939 meldete der Ahnenerbe-Geschäftsführer Wolfram Sievers (1905–1948) an Christian, dass jetzt 19 Bücherkisten („Bücherei Feuchtwanger“) an ihn abgeschickt worden seien.133 Als Christian vom Ahnenerbe im November 1944 Geld für den Ankauf von „118 Werken antisemitischen Inhalts“ erbat, war die Katalogisierung der Feuchtwanger-Bibliothek offenbar vorangeschritten, denn Christian erwähnte dabei, eine aus ihr zusammengestellte, 908 Bände umfassende „Judaica“-Abteilung, aus der überdies im Jahr 1940 Bücher an das Hauptarchiv der NSDAP ausgeliehen worden seien.134 Es entwickelte sich also mit den gestohlenen Büchern Feuchtwangers ein reger „Leihverkehr“. Das nächste von Christian in seinem Schreiben an das Reichserziehungsministerium am 11. Juni 1940 namentliche genannte Beispiel, mit dem er die für ein universitäres Studium der „Judenfrage“ so günstigen Voraussetzungen in Wien belegen wollte, war die „Fachbibliothek des 130 Siehe Evelyn Adunka, Der Raub der Bücher. Plünderung in der NS-Zeit und Restitution nach 1945, Wien 2002, S. 157–161. 131 Michael H. Kater, Das ‚Ahnenerbe‘ der SS 1935–1945, Stuttgart 1974 (4. Aufl. 2006), S. 122f. Wüst hatte sich aktiv bei der Gestapo darum bemüht, Feuchtwangers Bibliothek übernehmen zu können. 132 H. K. Seibert an Walter Wüst am 26.11.1938, BArch NS 21, Bd. 272, zitiert nach Gerd Simon, Chronologie Viktor Christian: http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/ ChrChristian. pdf (zuletzt eingesehen am 13.12.2009). 133 Sievers an Christian am 10.8.1939, ebd. Wüst beauftragte Christian am 17.8.1939, die „Bibliothek Feuchtwanger“ besonders aufzustellen und zu verwalten. Christian wiederum teilte Sievers am 13.1.1940 mit, dass mit der Katalogisierung der Bücher begonnen werde, sobald Bücherschränke eingetroffen und die Bücher geordnet seien. In einem Tagebucheintrag von Sievers heißt es dann am 3.10.1941, dass 600 Reichsmark für die Ordnung der Feuchtwanger-Bibliothek bewilligt worden seien. Ebd. 134 Christian an das Ahnenerbe am 23.11.1944, ebd.
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Wiener Talmudarchäologen Dr. S. Krauss“. Diese umfasste ursprünglich mindestens 3000 Bände und war dem renommierten jüdischen Gelehrten Samuel Krauss (1866–1948) im Zuge des Judenpogroms am 10. November 1938 in Wien geraubt worden.135 Krauss, dem es 1938 gelang, nach England zu emigrieren, hatte lange Jahre als Dozent an der Israelitisch-theologischen Lehranstalt in Wien gewirkt. Die Publikationsliste des Pioniers der Talmudarchäologie und ungemein produktiven Gelehrten umfasste bis zum Jahr 1936 weit über tausend wissenschaftliche Arbeiten. Mehrfach stand ihm die Gelegenheit zu einem Wechsel ins Ausland offen, den er aber aus familiären Gründen stets ablehnte.136 1937 wurde er zum Rektor der Wiener Lehranstalt ernannt, deren 23.000 Bände umfassende Bibliothek die Nationalsozialisten bereits im August 1938 nach Deutschland abtransportieren ließen. Über die Bibliothek von Krauss heißt es in dem Schreiben von Christian: „Schließlich hat über meine Bitte der Sicherheitsdienst auch die Fachbibliothek des Wiener Talmudarchäologen Dr. S. Krauss, der Professor an der hiesigen israelitischtheologischen Lehranstalt war, dem Orientalischen Institut der Universität Wien als Leihgabe überwiesen. Es bieten sich also in Wien überaus günstige sachliche Voraussetzungen für die Erforschung der geistigen Grundlagen des Judentums.“137
Wohin die Bücher von Krauss zunächst verbracht wurden, ist nicht ganz klar. Ein Zeitzeuge – Moses Rath, der letzte Direktor der Israelitischen Kultusgemeinde Wiens, deren große Bibliothek ebenfalls dem Besitzanspruch der Nationalsozialisten einverleibt wurde –, glaubte sich zu erinnern, dass sie „in toto“ dem Institut zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt oder München zugeschlagen worden seien.138 Da das Frankfurter Institut 1938 aber noch gar nicht existierte, war damit höchstwahrscheinlich die von Günter Schlichting geleitete „Fachbibliothek“ der Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts gemeint. Christian arbeitete später 135
Ein Zeitzeugenbericht dieser professionell durchgeführten Plünderung bei Adunka, Der Raub der Bücher, S. 225f. 136 Siehe Peter Landesmann, Rabbiner aus Wien. Ihre Ausbildung, ihre religiösen und nationalen Konflikte, Wien 1997, S. 248–252. Im Sommersemester 1933 hielt Krauss auch Vorlesungen an der Hebrew University in Jerusalem. Seine Berufung dorthin sei aber abgelehnt worden, weil er als zu wenig orthodox galt. Ebd., S. 208. 137 Schreiben Christians an das Reichserziehungsministerium am 11.6.1940, Archiv der Universität Wien, Dekanat der philosophischen Fakultät 1129. 138 Adunka, Der Raub der Bücher, S. 75. Möglicherweise wurde die Bibliothek auch vom SD übernommen und nach Berlin verbracht. Dies., Bücherraub in und aus Österreich während der NS-Zeit und die Restitution nach 1945, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 22, 2004, S. 187f.
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selbst mit dem Reichsinstitut zusammen, als im Zuge eines Projekts der Forschungsabteilung Judenfrage „historisches und anthropologisches Material“ aus jüdischen Friedhöfen sichergestellt wurde und dabei auch der Währinger Zentralfriedhof in Wien in das Blickfeld der Judenforscher geriet.139 Das Interesse Christians an Büchern und anderem Material jüdischer „Leihgeber“ kannte keine Grenzen.140 Neben den materiellen betonte Christian auch die personellen Voraussetzungen für eine Professur zum Studium der „Judenfrage“ in Wien, die durch die Berufung des Tübinger Neutestamentlers Gerhard Kittel außerordentlich günstig geworden seien. Kittel gelte zurecht als einer der besten Kenner für die Geschichte des vor- und nachchristlichen Judentums. Deshalb habe die Philosophische Fakultät auch darum gebeten habe, ihm einen zusätzlichen Lehrauftrag für die vorislamische Geschichte des Judentums in der Philosophischen Fakultät zuzuweisen. Die „für die Frage nach der Herkunft der Juden wichtige Archäologie des Vorderen Orients“ werde durch „den Gefertigten“, also ihn selbst vertreten. Außerdem wies Christian auf eine mögliche Zusammenarbeit mit den beiden Historikern Otto Brunner (1898–1982) und Wilhelm Bauer (1877–1953) hin, von denen sich besonders Bauer schon öfters mit Problemen des Judentums beschäftigt habe. Was nun allerdings noch fehle, sei „ein Talmudkenner, der gewissermaßen den Mittelpunkt der Forschungen über die geistigen Grundlagen des Judentums zu bilden hätte“.141 Da Christian Kuhn als die „geeignetste Persönlichkeit“ für die vorgeschlagene Professur ansah, hob er auch dessen politische Meriten entsprechend hervor. Derzeit bereite Kuhn zwei Arbeiten über den jüdischen Ritualmord und das Ostjudentum vor, bei denen Kuhn vermutlich seine Warschauer Erkenntnisse auswertete. Auch der Dozentenbundsführer der Universität Arthur Marchet (1892– 1980) befürwortete die Schaffung einer planmäßigen außerordentlichen Professur für die Erforschung der geistigen Grundlagen des Judentums aus wissenschaftlichen wie politischen Gründen auf das wärmste. Die Voraussetzungen für eine „fruchtbringende Arbeit“ auf diesem für den Nationalsozialismus so wichtigen Wissensgebiet seien in Wien so günstig wie sonst
139 Heiber (Walter Frank und sein Reichsinstitut, S. 474f.) schreibt, dass die Idee von Christian selbst ausgegangen sei. 140 Adunka, Der Raub der Bücher, S. 156–158 und dies., Bücherraub in und aus Österreich, S. 189. 141 Christian an das Reichserziehungsministerium am 11.6.1940, Archiv der Universität Wien, Dekanat der philosophischen Fakultät 1129. Auf dem Schreiben wurde gleichentags der maschinenschriftliche Zusatz angebracht, dass sich der Wiener Universitätsrektor Fritz Knoll dem Antrag „in jeder Hinsicht“ anschließe.
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nirgends.142 Der Kurator der wissenschaftlichen Hochschulen konnte deshalb dem Rektor bereits am 14. November 1940 die erfreuliche Nachricht übermitteln, dass vom Reichserziehungsministerium am 31. August anheimgestellt worden sei, die Professur für den Haushalt des Jahres 1941 anzumelden.143 Dem kam Christian am 20. November offiziell nach, wobei er als sachliche Begründung das bereits Gesagte über die Professur und den in Aussicht genommenen Kandidaten wiederholte.144 Christian schrieb auch an Kuhn und informierte den im Felde stehenden Tübinger Wissenschaftler darüber, dass er sich darum bemühe, an der Universität Wien ein planmäßiges Extraordinariat „für das Fach Hebraika und Judaika“ zu schaffen. Kuhn solle ihm die Höhe seiner Tübinger Bezüge nennen und ihm darüber hinaus auch mitteilen, welche Verbesserung er im Falle einer Berufung für unerlässlich erachte, damit er in der Lage sei, beim Ministerium „die richtigen materiellen Forderungen anmelden zu können“. Dank verschiedener „Leihgaben“ seien umfangreiche Bestände in Wien vorhanden. Was jetzt noch fehle, sei ein qualifizierter Bearbeiter.145 Kuhn konnte deshalb nicht im Unklaren darüber sein, dass er es in Wien mit Material zu tun haben würde, das aus jüdischem Besitz stammte. Als sich die Angelegenheit verzögerte, wiederholte Christian den Fakultätsantrag im Dezember 1941 für das darauffolgende Haushaltsjahr. Die Struktur seiner Argumentation blieb dabei gleich, auch wenn er sich einer stärker militärischen Terminologie befleißigte. Der ganze Krieg sei letzten Endes „nur der mit Waffen ausgetragene Kampf gegen das Judentum“. „Ein Kampf wird aber mit umso grösserer Aussicht auf Erfolg geführt, je genauer man seinen Gegner kennt. Die gegenwärtige Behandlung des Judenproblems krankt aber meist an einer unzureichenden Kenntnis der geschichtlichen Voraussetzungen über das Werden des Judentums. Was an Arbeiten zur Geschichte der Juden vorliegt, geht, soweit es sich um die Erschliessung der in hebräischer und aramäischer Sprache verfassten Quellen handelt, fast ausschließlich auf jüdische Verfasser zurück. Es muss daher mit allen Mitteln getrachtet werden, die deutsche Forschung aus dieser Abhängigkeit von fremder Grundlagenforschung zu befreien. Daraus ergibt sich wohl die Notwendig142 Schreiben Marchets an Christian am 12.6.1940, Archiv der Universität Wien, Dekanat der philosophischen Fakultät 1129. 143 Das Schreiben des Kurators an den Rektor vom 14.11.1940 wurde am 16.11.1940 an den Dekan der Philosophischen Fakultät weitergeleitet. Ebd. 144 Anmeldung eines Extraordinariates für die Erforschung der geistigen Grundlagen des Judentums für den Haushalt 1941 durch den Dekan der Philosophischen Fakultät am 20.11.1940, ebd. 145 „Ich habe eine grosse Rabbinerbibliothek als Leihgabe in mein Institut bekommen, ebenso die Bibliotheken der Judengemeinden des Burgenlandes. Es fehlt jetzt eben der Mann, der dieses ganze Material auswertet.“ Ebd., Schreiben Christians an Kuhn am 10.10.1941.
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keit, an irgend einer Stelle des Deutschen Reiches eine Lehrkanzel für die Erforschung der Sprache und Literatur des nachbiblischen Judentums zu schaffen.“
Gerade in Wien ließe sich mit wenig Mitteln viel erreichen. Wie Christian ausführte, besitze das Orientalische Institut „eine überaus reiche jüdische Literatur, die teils aus Synagogen des Burgenlandes und Wiens stammt, teils als geschlossene Studienbibliothek eines Oberrabbiners dem Institut überlassen wurde.“146 Darüber hinaus stünden in der Österreichischen Nationalbibliothek wertvolle Bestände zur Sprache und Geschichte des frühen Judentums zur Verfügung.147 Am 16. Oktober 1942 schrieb Christian erneut an das Reichserziehungsministerium, nun um Einstellung der Professur in den Etat für 1943 bittend. Dabei konnte er eine Denkschrift Kittels „über die Stellung der Judaistik im Rahmen der Gesamtwissenschaft“ beilegen, die das Anliegen der nationalsozialistischen Judenforschung weiter begründete.148 Letzten Endes ließ sich der Plan für ein judenkundliches Extraordinariat auch in Wien nicht realisieren. Die Gründe des Reichserziehungsministeriums für seine ablehnende Haltung zu Beginn der 1940er Jahre dürften in Wien ähnlich gewesen sein wie in Tübingen. Dass möglicherweise auch außenpolitische Erwägungen eine Rolle gespielt haben könnten, erscheint nicht ganz abwegig, lässt sich aber anhand der Akten nicht belegen. Vielleicht hatte man in Berlin tatsächlich etwas die Furcht, dass die amtliche Einrichtung einer antisemitischen Professur den deutschen Anspruch, wissenschaftlich ernst genommen zu werden, desavouiert hätte. Zumindest auf der Ebene der ideologischen Programmatik hielt man im Wissenschaftsministerium daran fest, die ruhmreiche deutsche Universitätstradition nicht nur zu repräsentieren, sondern auch aktiv zu pflegen. In gewisser Weise wäre es dann plausibel gewesen, dass man die Zurückhaltung im 146
Christian an das Reichserziehungsministerium am 10.12.1941, ebd. Die Worte und aramäischer im ersten sowie und Wiens im zweiten Zitat wurden von Christian handschriftlich hinzugefügt. 147 Neuere Forschungen haben gezeigt, dass dort ähnliche „Leihgaben“ und „Überlassungen“ verwahrt wurden. Siehe etwa Murray G. Hall u.a., Hg., Geraubte Bücher. Die Österreichische Nationalbibliothek stellt sich ihrer NS-Vergangenheit, Wien 2004 und ders. und Christian Köstner, ‚...Allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern...‘. Eine österreichische Institution in der NS-Zeit, Wien 2006. 148 Christian an das Reichserziehungsministerium am 16.10.1942 und Kittel an Christian am 11.10.1942, Archiv der Universität Wien, Dekanat der philosophischen Fakultät 1129. Zwischenzeitlich war eine Stellungnahme der Reichsdozentenführung eingelaufen, die erneut die besondere wissenschaftliche, charakterlich und politische Eignung Kuhns hervorhob und vom Gaudozentenbundsführer Marchet am 9.8.1942 an Christian weitergeleitet wurde. Ebd.
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Jahr 1944, als alles verloren war und es kein Halten mehr gab, ablegte. Nimmt man die Etablierung einer Professur für ein bis dato nicht vorhandenes Wissensgebiet als Indiz für die Ausdifferenzierung eines neuen Forschungsfeldes, befand sich die nationalsozialistische „Judenwissenschaft“ in der Endphase dieses Prozesses. Dafür spricht auch die deutliche Zunahme antisemitischer Dissertationen, Forschungsprojekte, Konferenzen, Lehraufträge und Vorlesungen sowie eine Flut von Büchern zur „Judenfrage“. Diese neue Form des Antisemitismus bildet nach meiner Auffassung den Abschluss eines Dreistufenmodells judenfeindlichen Verhaltens von Hochschullehrern, das ich an anderer Stelle diskutiert habe.149 Auf der letzten Ebene eines staatlich institutionalisierten Antisemitismus gingen Elemente persönlicher und akademischer Judenfeindschaft und tief in die Strukturen der Gesellschaft eingegrabene antisemitische Verhaltensmuster eine Verbindung ein. Es handelte sich hier um weit mehr als um einen privaten oder im Medium der Wissenschaft artikulierten Judenhass, sondern um eine neue Form des wissenschaftlichen Antisemitismus, letztlich um eine Wissenschaft des Antisemitismus. Dass der nationalsozialistischen Judenforschung, zynisch gesprochen, ihr „Gegenstand“ abhanden kam, konnte die Entwicklung allenfalls hemmen, nicht jedoch zum Stillstand bringen. Was der nationalsozialistischen Judenwissenschaft ein Ende bereitete, war allein die militärische Niederlage. Bis zuletzt artikulierte der Staat ein elementares Interesse an wissenschaftlich geschulten Judenexperten, die es heranzubilden galt. Dafür benötigte man eine judenkundliche Grundlagenforschung, die in der Lage war, die „Judenfrage“ grundsätzlich zu durchdenken und etwaige Lösungsansätze auf eine solide theoretische Basis zu stellen. Völlig absurd wäre es, wie das nach 1945 vielfach versucht wurde, die antisemitische Zielsetzung der neuen Wissenschaft verneinen und von einem rein wissenschaftlichen Unternehmen sprechen zu wollen, das in keiner Verbindung zur Politik des Dritten Reiches gestanden habe. Als keine Juden mehr in Deutschland lebten, das heißt, als aus nationalsozialistischer Perspektive das „Judenproblem“ für das Reichsgebiet gelöst war, führte das weder zum Ende der Judenverfolgung, noch zum 149 Horst Junginger, Das Bild der Juden in der nationalsozialistischen Judenforschung, in: Andrea Hoffmann u.a., Hg., Die kulturelle Seite des Antisemitismus zwischen Aufklärung und Schoah, Tübingen 2006, S. 172–174. Die erste Stufe wird durch private Äußerungen charakterisiert, die zweite durch die Übernahme und Verarbeitung antisemitischer Stereotypen im Rahmen der eigenen wissenschaftlichen Arbeit. Auf der dritten Stufe wird der Antisemitismus institutionalisiert und zuletzt schließlich sogar zum Gegenstand eines sich ausdifferenzierenden Forschungsfeldes.
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6. Eine Professur zum Studium der „Judenfrage“
Ende der Judenwissenschaft. Die archaische Logik des „ewigen Juden“ blieb auch nach der physischen Eliminierung des deutschen Judentums bestehen. Genau in diese Richtung einer nicht auf Raum und Zeit begrenzten „Judenfrage“ argumentierte der Leiter des Frankfurter Instituts zur Erforschung der Judenfrage Klaus Schickert, als er im März 1944 an der Universität Tübingen einen Vortrag über „Die Arbeit der Wissenschaft an der Judenfrage“ hielt.150 Eingeladen wurde Schickert von der Tübinger Studentenschaft, doch wahrscheinlich stand sein Vortrag bereits in einem Zusammenhang mit der beabsichtigten Berufung Kuhns an die Universität Frankfurt. Im klaren Bewusstsein über die Lage des europäischen Judentums wollte Schickert erläutern, warum es nach wie vor eine „Judenfrage“ gab und warum deshalb die Bedeutung der nationalsozialistischen „Wissenschaft vom Juden“ sogar noch zugenommen hatte. „Da der Jude heute als lebendiges Anschauungsobjekt im Inland kaum mehr vorhanden ist“, wurde Schickert von der Tübinger Chronik zitiert, bestehe die Gefahr, dass „die Aufgeschlossenheit der Oeffentlichkeit für Fragen, die den Juden zum Gegenstand haben, allmählich absinkt“.151 Wolle man sich die „Abgründigkeit“ der „Judenfrage“ vor Augen halten, müsse man mittlerweile schon ins Ausland gehen. Doch sähe man sich die Allianz der Kriegsgegner genauer an, werde deutlich, wer sich dahinter verberge und dass die Einheitlichkeit der Feinde Deutschlands letztlich „durch den Juden gegeben ist als dem Erbfeind arischen Schöpfertums“. Es sei nicht übertrieben, die Juden als den eigentlichen „Hemmschuh für die Verwirklichung einer gerechten Weltordnung“ zu bezeichnen. Solchermaßen universalisiert bedurfte für Schickert die „Judenfrage“ gerade jetzt der größten Anstrengungen. Man dürfe in der wissenschaftlichen „Volksaufklärung“ über das Judentum keinesfalls nachlassen. Dadurch dass die „Judenfrage“ im Weltkrieg eine solche weltpolitische Dimension erlangt hatte, schien für Schickert die „noch junge und dazuhin sehr umfassende ‚Wissenschaft vom Juden‘ einen wesentliche Beitrag zur Kriegsentscheidung“ geben zu können. Der Zeitungsbericht lobte besonders die Prägnanz des Vortrags, der in imponierender Weise „durch die Zeit gestellte Aufgaben von zeitloser Bedeutung“ angesprochen habe. Es sei von Schickert ein seelischgeistiger Kampfplatz betreten worden, auf den sich auch die Universität
150
Die Arbeit der Wissenschaft an der Judenfrage. Ein Tübinger Vortrag des derzeitigen Leiters des Instituts zur Erforschung der Judenfrage, Tübinger Chronik vom 2.3.1944. 151 Ebd.
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„mit Entschiedenheit“ zu begeben habe. „Schaden an ihrem Charakter als Universität wird sie sicher nicht nehmen: sie kann nur gewinnen.“152 Obwohl Schickert von keiner religiösen Position aus argumentierte, lässt sich an seinen Ausführungen doch sehr deutlich erkennen, dass die von ihm thematisierte Universalität der „Judenfrage“ eine in den Bereich des Metaphysischen verweisende Dimension „ewiger“ Geltung besaß, die auf deren religiösen Ursprung zurückging. Diese eigentümliche Doppeldeutigkeit eines metaphysischen Problems mit säkularer Relevanz zeichnete die nationalsozialistische Judenforschung insgesamt aus. Auf der einen Seite wurde die ursprüngliche Verbindung der „Judenfrage“ mit dem Christentum auch von antichristlichen Judengegnern nicht bestritten. Selbst Antisemiten, die der Kirche nicht nahestanden, würdigten ihre historische Rolle in der Auseinandersetzung mit dem Judentum. Auf der anderen Seite war auch die Mehrheit der christlichen Judengegner davon überzeugt, dass sich eine Lösung der „Judenfrage“ in der Gegenwart nicht mehr in traditioneller Weise über die Missionierung der Juden und unter Bezugnahme auf den christlichen Glaubensanspruch bewerkstelligen lasse. Das gilt insbesondere für protestantische Theologen wie Gerhard Kittel, die im Prinzip an der christlichen Pflicht zur Bekehrung der Juden festhielten, in concreto aber anerkannten, dass sich die Zeiten geändert hatten und dass man allein mit einer religiösen Argumentation dem „Judenproblem“ nicht beikommen konnte. Nachdem sich die politischen Rahmenbedingungen für Kirche und Theologie in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre gravierend verschlechtert hatten, war es ausgeschlossen, dass eine konventionell christliche Antwort auf die „Judenfrage“ von Staat und Gesellschaft akzeptiert worden wäre. Daraus ergab sich die Notwendigkeit einer Theoretisierung der „Judenfrage“, die deren religiöse Dimension angemessen berücksichtigte, ohne dabei aber aus einer traditionellen christlichen Binnenperspektive heraus zu argumentieren, weil deren dogmatische Prinzipien den meisten Menschen fremd geworden waren. Deswegen konnte die beabsichtigte Professur zur Erforschung der „Judenfrage“ und das damit intendierte Lehrgebiet einer nationalsozialistischen „Judenwissenschaft“ nicht in einer theologischen Fakultät etabliert werden. Wissenschaftstheoretisch gesehen musste diese Konstellation zwangsläufig auf eine Art theologische Religionswissenschaft hinauslaufen, die auf der Grundlage des nationalsozialistischen Rassendiskurses 152 Ebd. Dem stellvertretenden Studentenführer, Referendar K. H. Thielmann, blieb es vorbehalten, dem Referenten seinen Dank auszusprechen und der Hoffnung Ausdruck zu verleihen, dass Schickert auch im kommenden Semester in Tübingen sprechen werde.
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eine besondere Kompetenz auf dem Gebiet der jüdischen Religionsgeschichte für sich reklamierte. Ein im Zwischenfeld von Theologie und Orientalistik agierender Talmudspezialist wie Kuhn war dazu prädestiniert, als ein führender Vertreter des wissenschaftlichen Studiums der „Judenfrage“ in Erscheinung zu treten. Die ihm am 28. September 1942 verliehene außerplanmäßige Professur bildete einen ersten Abschluss der akademischen Ausdifferenzierung einer nationalsozialistischen Judenwissenschaft. Vom inhaltlichen Zuschnitt her entsprach sein Lehrgebiet einer rassenkundlichen Religionsforschung oder religionswissenschaftlichen Rassenkunde.
7. Antisemitismus in Theorie und Praxis: „the smoking gun“ Das wichtigste Kennzeichen der nationalsozialistischen Judenforschung war ihre strukturelle Anwendungsorientiertheit. Ohne den Antisemitismus des Dritten Reiches hätte sie nicht existiert und ohne den Anspruch, einen Beitrag zur Lösung des „Judenproblems“ zu leisten, wäre sie ohne Sinn und Ziel gewesen. Aus naheliegenden Gründen musste es ihren Repräsentanten nach 1945 aber darauf ankommen, den Zusammenhang zwischen antisemitischer Theorie und antisemitischer Praxis zu entkoppeln und von einem lediglich wissenschaftlichen Interesse am Judentum zu sprechen, das keinerlei Beziehung zur Politik des NS-Staates aufgewiesen hätte. So verständlich der Wunsch nach einem geordneten Rückzug auf den Bereich des ‚unpolitischen‘ Wissens auch gewesen sein mochte, so wenig gerecht wurde er der geschichtlichen Wirklichkeit und so verfehlt wäre es, ihm eine historiographische Relevanz beizumessen. Die theoretische Erforschung und die praktische Lösung der „Judenfrage“ gehörten zusammen wie zwei Seiten der gleichen Münze. Überdies wurde der Antisemitismus nicht vom Nationalsozialismus erfunden und den Universitäten von außen als etwas ihnen Fremdes aufgestülpt. Viele Hochschullehrer mussten nicht eigens von einem angeblich überproportionalen jüdischen Einfluss überzeugt werden. Neben dem Nationalismus und dem Antibolschewismus bildete der Antisemitismus den wahrscheinlich wichtigsten Referenzpunkt gemeinsamer Überzeugungen zwischen der Universität und dem Nationalsozialismus, der eine ideologische Annäherung zweier vorher durchaus nicht so ohne weiteres kompatiblen Denkwelten ermöglichte. Sowohl vom Standpunkt eines nationalkonservativen wie auch eines nationalliberalen Elitedenkens aus musste die NS-Bewegung als plebejisch und ungeistig erscheinen, so dass solchen gemeinsamen Weltanschauungselementen eine zentrale Bedeutung zukam, damit der Nationalsozialismus, wenn auch mit Verzögerung, an den Universitäten Fuß fassen konnte. Bei der Universität Tübingen muss zudem eine außerordentlich lange und fest verwurzelte Tradition akademischer Judenfeindschaft berücksichtigt werden, die von vornherein eine überdurchschnittlich hohe
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Bereitschaft erwarten ließ, sich dem „Judenproblem“ zuzuwenden und es auch theoretisch neu zu durchdenken. Dennoch wäre es unangebracht, die immanenten Beharrungskräfte des Universitätssystems zu unterschätzen, die in der Anfangsphase des Dritten Reiches ein retardierendes Element der nationalsozialistischen Hochschulpolitik bildeten. Die auf ihre wissenschaftliche Selbständigkeit pochenden Universitäten können nicht einfach nur als Handlanger oder Befehlsempfänger der Politik angesehen werden. Selbst bei der Rassenkunde dauerte es einige Zeit, bis sich der politische Impuls in den einzelnen Fächern auswirkte und zu inhaltlichen und strukturellen Veränderungen führte. Bei der „Judenforschung“ spielten außeruniversitäre Einrichtungen eine wichtige Vorreiterrolle, die in ganz anderer Weise in der Lage waren, das „Judenproblem“ anzugehen und dem staatlichen Bedürfnis nach Expertenwissen entgegenzukommen. Insgesamt wurden etwa fünf solcher Institutionen halbstaatlichen Charakters gegründet, in denen man sich theoretisch mit der „Judenfrage“ beschäftigte. Die erste dieser Einrichtungen, die man mit einem modernen Ausdruck Brain trusts oder Think tanks nennen könnte, entstand 1934 im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda. Hervorgegangen aus der Antikomintern, dem Gesamtverband deutscher antikommunistischer Vereinigungen e.V., wurde das Institut zum Studium der Judenfrage seit dem 15. Juni 1934 von Eugen Baron von Engelhardt geleitet, der parallel dazu auch noch Aufgaben in der Antikomintern wahrnahm.1 Von 1935 bis 1939 stand Wilhelm Ziegler dem Institut vor, dessen Leitung dann Wolff Heinrichsdorf übernahm. Nach finanziellen Unregelmäßigkeiten wurde das Institut 1939 in Antijüdische bzw. Antisemitische Aktion umbenannt. Der Etat des in der Wilmersdorferstraße 95 in Berlin angesiedelten Instituts betrug zu Beginn etwa 1000 Reichsmark, erhöhte sich dann aber beträchtlich, wobei die Abgrenzung zu anderen Bereichen des Propagandaministeriums nicht immer sauber eingehalten wurde. Die Aufgaben des Instituts zum Studium 1 BArch R 55, 207, Fiche 1–3, fol. 25. In diesem Bestand des Bundesarchivs findet sich umfängliches Material über das Institut zum Studium der Judenfrage. Gegründet wurde der ab Ende 1933 „Antikommintern“ genannte Gesamtverband von Eberhard Taubert (1907–1976), dem Sachbearbeiter für alle antibolschewistischen Fragen bei der Reichspropagandaleitung der NSDAP. Taubert war an allen antikommunistischen Propagandakampagnen maßgeblich beteiligt und strebte von Anfang an eine Verbindung von Antikommunismus und Antisemitismus an. Von dem auch nach 1945 als Geheimdienstmitarbeiter tätigen Taubert stammt das bekannte Propagandaplakat der CDU „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau!“ aus dem Jahr 1953. Barbara Dankwort, Propaganda und Terror in Weißrussland 1941–1944. Die deutsche ‚geistige‘ Kriegsführung gegen die Zivilbevölkerung und Partisanen, Paderborn 2009, S. 90.
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der Judenfrage lagen weniger auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Forschung, als auf dem der politischen Agitation mit wissenschaftlicher Unterfütterung. Der Ausstoß an Büchern hielt sich deshalb in Grenzen.2 Seit 1937 veröffentlichte man aber eine antisemitische Zeitschrift, die zunächst Mitteilungen über die Judenfrage (1937–1940), dann Die Judenfrage (1940–1943) und zum Schluss Archiv für Judenfragen (1943–1944) hieß. Mit dem Ethnologen Günter Wagner (1908–1952) und dem Orientalisten Otto Rössler (1907–1994) gehörten zwei Tübinger Wissenschaftler zeitweise zum Stamm der hauptamtlichen Mitarbeiter des Instituts zum Studium der Judenfrage.3 Gerhard Kittel kam später im Zusammenhang des geplanten Schauprozesses gegen Herschel Grynszpan in eine Arbeitsverbindung mit dem Institut. Die 1936 eröffnete Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands war noch weitaus erfolgreicher bei ihrem Versuch, Hochschullehrer für eine Mitarbeit zu gewinnen.4 Da das Reichsinstitut ebenso wie die Forschungsabteilung dem Reichserziehungsministerium unterstand, ergaben sich wesentlich bessere Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit und personelle Verflechtung mit den Universitäten. Von Anfang an hatte die Forschungsabteilung Judenfrage die Intention, als weltanschauliche Speerspitze in die Hochschulen hineinzuwirken und dem „Judenproblem“ dort eine größere Geltung zu verschaffen. Wissenschaftler der Universität Tübingen spielten in ihr eine zentrale Rolle, allen voran Gerhard Kittel. Ungeachtet einiger weniger Ausnahmen wie dem katholischen Geschäftsführer Wilhelm Grau (1910– 2000) wies die Forschungsabteilung Judenfrage ein deutlich evangelisches
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1935 gab das Institut ein Buch über Die Juden in Deutschland heraus (8. Aufl. 1939). Klaus Schickerts Dissertation über Die Judenfrage in Ungarn (Berlin 1937) sollte die Reihe Die Juden im Leben der Völker eröffnen, doch mehr scheint nicht erschienen zu sein. Die vermutlich erste Publikation des Instituts wurde noch gemeinsam mit der Antikomintern herausgegeben: F. O. H. Schulz, Jude und Arbeiter. Ein Abschnitt aus der Tragödie des deutschen Volkes, Berlin 1934. 3 Siehe zu Wagner Udo Mischek, Leben und Werk Günter Wagners (1908–1952), Gehren 2002, hier S. 85–87 und zu Rössler die Chronologie Gerd Simons, Vom Antisemiten zum Semitistik-Professor: http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/ChrRoessler.pdf. 4 Über das Reichsinstitut liegt die umfassende Studie von Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands (Stuttgart 1966) vor. Im Anschluss an ihre Dissertation ‚Scholarly‘ antisemitism during the Third Reich. The Reichsinstitut’s research on the ‚Jewish Question‘ aus dem Jahr 1999 veröffentlichte Patricia Papen-Bodek mehrere Aufsätze zu diesem Thema. Siehe dazu die Bibliographie. Ein informativer Überblicksartikel über die Forschungsabteilung Judenfrage von Matthias Berg findet sich in Ingo Haar und Michael Fahlbusch, Hg., Handbuch der völkischen Wissenschaften, München 2008, S. 169–178.
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Übergewicht auf. Mit dem in Eisenach gegründeten Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben entstand der Forschungsabteilung Judenfrage im April 1939 ein ähnlich arbeitendes Konkurrenzunternehmen, dessen Wirkungskreis jedoch weitgehend auf den innerprotestantischen Bereich beschränkt blieb. Noch in seiner Verteidigungsschrift nach dem Krieg betonte Kittel den Gegensatz zu dem von seinem ehemaligen Schüler Walter Grundmann geleiteten Eisenacher Unternehmen. Wie es bereits der Institutsname zum Ausdruck brachte, wollten Grundmann und seine Mitstreiter das Christentum aller jüdischer Wurzeln entledigen.5 Hatte das Eisenacher „Entjudungsinstitut“ innerhalb der evangelischen Theologie einen erheblichen Einfluss, gelang es Grundmann nicht, das Institut stärker an die Universität anzubinden, auch wenn er gelegentlich in den Räumen der Jenaer Evangelisch-theologischen Fakultät Arbeitssitzungen abhielt. Das hatte nicht nur mit starken deutschgläubigen Gegenkräften in Jena zu tun, sondern war auch der allgemeinen kirchenpolitischen Lage geschuldet. Infolge der Entkirchlichung des öffentlichen Lebens hatte eine konventionell theologisch argumentierende „Judenforschung“ kaum Chancen, sich an einer staatlichen Universität als selbständige Einrichtung zu etablieren. Nachdem es wegen persönlicher Rivalitäten, aber auch aufgrund religiöser Differenzen zwischen dem Protestanten Frank und dem Katholiken Grau zum Zerwürfnis gekommen war und Grau im Mai 1938 als Geschäftsführer der Forschungsabteilung Judenfrage entlassen wurde, wechselte er zur Dienststelle Alfred Rosenberg, um dort die Leitung des neu gegründeten Instituts zur Erforschung der Judenfrage zu übernehmen.6 Als „Startkapital“ des Frankfurter Instituts dienten die großen Sammlungen judaistischer Bücher, die der Stadt von ihren jüdischen Einwohnern in früherer Zeit geschenkt worden waren. Frank hatte zuvor vergeblich versucht, die5
Siehe Susannah Heschel, The Aryan Jesus. Christian theologians and the bible in Nazi Germany, Princeton 2008, bes. S. 67–165 sowie weitere in der Bibliographie aufgeführte Artikel von ihr. Ein Überblicksartikel von Nadine Richter und Wolfgang Kraus wiederum in Haar und Fahlbusch, Hg., Handbuch der völkischen Wissenschaften, S. 296–303, 6 Siehe Dieter Schiefelbein, Das ,Institut zur Erforschung der Judenfrage Frankfurt am Main‘. Vorgeschichte und Gründung 1935–1939, Frankfurt o.J. [1993] und ders., Antisemitismus als Karrieresprungbrett im NS-Staat, in: Fritz Bauer Institut, Hg., ‚Beseitigung des jüdischen Einflusses...‘. Antisemitische Forschung, Eliten und Karrieren im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1999, S. 43–71 sowie Patricia Papen-Bodek, Anti-Jewish research of the Institut zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt am Main between 1939 and 1945, in: Jeffry M. Diefendorf, Hg., Lessons and legacies VI. New currents in holocaust research, Evanston, Illinois 2004, S. 155–189 und Dirk Rupnow, Institut zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt am Main, in: Haar und Fahlbusch, Hg., Handbuch der völkischen Wissenschaften, S. 288–295.
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se umfangreichen Bestände der Forschungsabteilung Judenfrage zu inkorporieren. Abgesehen von dem an der Universität Halle geschaffenen religionswissenschaftlichen Institut blieb das Frankfurter Institut zur Erforschung der Judenfrage der einzige institutionelle Erfolg der von Alfred Rosenberg geplanten Parteiuniversität mit dem Namen „Hohe Schule“. Obwohl zwischen der Stadt Frankfurt und der NSDAP bereits im April 1939 ein erster Vertrag abgeschlossen worden war, dauerte es noch bis zum März 1941, bis das Institut zur Erforschung der Judenfrage in der Bockenheimer Landstraße 68/70 endlich eröffnet wurde. An den pompösen Feierlichkeiten nahmen Repräsentanten des europäischen Antisemitismus aus annähernd zehn Ländern teil. Dass man sich in Frankfurt gedanklich bereits mit einer europäischen Lösung der „Judenfrage“ beschäftigte, kam in den von Grau und Rosenberg gehaltenen Vorträgen unverhohlen zum Ausdruck. Nach parteiinternen Querelen und als Spätfolge seines Streits mit Frank musste Grau im Oktober 1942 aber auch diesen Posten wieder aufgeben. Danach übernahm Otto Paul (1888–1944) die kommissarische Leitung,7 um im Oktober 1943 von Klaus Schickert abgelöst zu werden. Zum eigentlichen Markenzeichen des Frankfurter Instituts zur Erforschung der Judenfrage wurde der im großen Stil betriebene Bücherraub. Grau hatte zeitweilig 22 fest angestellte Mitarbeiter, die alle damit beschäftigt waren, die vom Einsatzstab des Reichsleiters Rosenberg in ganz Europa zusammengestohlenen Bücher zu erfassen und zu sortieren. Zum Teil beteiligten sich die Mitarbeiter des Instituts auch selbst an den Beutezügen des ERR.8 Hätte Kuhn 1944 oder 1945 tatsächliche eine Professur zum Studium der Judenfrage in Frankfurt angetreten, hätte er es auf der Grundlage eines riesigen Berges geraubter Bücher getan, deren Besitzer in nicht wenigen Fällen vorher ermordet worden waren. Die Hauszeitschrift des Instituts hatte den Titel Weltkampf. Monatsschrift für die Judenfrage in allen Ländern und erschien zweimonatlich in zwanzig Sprachen und einer Auflagenhöhe von 350.000 Stück. Der Weltkampf erhob den Anspruch, das führende Organ der nationalsozialistischen Judenforschung zu sein und versuchte die „Judenfrage“ sowie den Stand der jeweiligen Lösungsversuche in ganz Europa abzubilden. Die militärischen Erfolge der Wehrmacht erlaubten es, im Juli 1942 eine Außenstelle des Instituts in Łódż einzurichten, die von Heinz Peter Seraphim (1902–1979) geleitet wurde. Seraphim 7
Siehe zu Paul http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/ChrPaulO.pdf (zuletzt eingesehen am 13.12.2009). 8 Siehe hierzu besonders Maria Kühn-Ludewig, Johannes Pohl (1904–1960). Judaist und Bibliothekar im Dienste Rosenbergs. Eine biographische Dokumentation, Hannover 2000.
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beauftragte den Breslauer Theologen Adolf Wendel (1900–1958) überdies mit dem Aufbau einer eigenen Abteilung zum Ostjudentum. In der am 1. Juli 1942 unterzeichneten Vereinbarung wurde festgelegt, dass Wendel die wertvollsten der im Warthegau sichergestellten Bücher in die Arbeitsräume seiner Abteilung überführen und katalogisieren sollte.9 Wendel hatte seit 1933 als Privatdozent in der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Marburg gelehrt und wurde 1936 auf eine außerordentliche Professur für Altes Testament an die Universität Breslau berufen. Am 7. November 1938 stellte er in der dortigen Philosophischen Fakultät den Antrag auf Übertragung einer Professur für Allgemeine Religionswissenschaft, der aber abgelehnt wurde.10 Als Rosenberg herausfand, dass Wendel noch im Dezember 1932 mit dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus zusammengearbeitet hatte, wurde er auf der Stelle entlassen.11 Die neben dem Berliner Institut zum Studium der Judenfrage (1934), der Forschungsabteilung Judenfrage in München (1936), dem Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben in Eisenach (1939) und dem Frankfurter Institut zur Erforschung der Judenfrage (1941) fünfte Einrichtung dieser Art entstand im besetzten Polen, als am 20. April 1940 an Hitlers Geburtstag in Krakau das Institut für Deutsche Ostarbeit (IdO) gegründet wurde. Das IdO besaß in der Sektion Rassen- und Volkstumsforschung ein von Dr. Josef Sommerfeld geleitetes Referat für Judenforschung.12 Der Schwerpunkt der Arbeit lag hier auf der „Ostjudenfrage“, wobei Sommerfeld ganz offen und unumwunden die Vertreibung und Vernichtung des Judentums als Ziel propagierte. So wie die jüdische Judenforschung der Rechtfertigung der jüdischen Existenz und Geschichte diene, so erstrebe die antijüdische „die lückenlose und erschöpfende Begründung für die Vernichtung des Weltjudentums und seinen Ausschluß aus der Gemeinschaft der arischen Völ-
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Eine weitere Aufgabe Wendels lautete: „Feststellung und Sicherung aller Art judenkundlichen Materials im Ghetto Litzmannstadt im Zusammenwirken mit der Ghettoverwaltung.“ Institut für Zeitgeschichte, MA 251, fol. 462f. 10 Peter Maser, Hg., Der Kirchenkampf im deutschen Osten und in den deutschsprachigen Kirchen Osteuropas, Göttingen 1992, S. 121. 11 Schiefelbein, Antisemitismus als Karrieresprungbrett, S. 68. Nach dem Krieg arbeitete Wendel als Religionslehrer in Frankfurt und schrieb für die dritte Auflage der Religion in Geschichte und Gegenwart einige Artikel. 12 Dazu schon Max Weinreich, Hitler’s professors. The part of scholarship in Germany’s crime against the Jews, New York 1946 (2. Aufl. 1999), S. 95–97. In der Vierteljahresschrift des Instituts Die Burg erschienen von Josef Sommerfeld und Peter-Heinz Seraphim v.a. Artikel zur Lösung der „Judenfrage“ in Polen.
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ker“.13 Zusätzlich zu den genannten fünf Brain trusts muss in diesem Zusammenhang auch das Reichssicherheitshauptamt erwähnt werden, wo man sich ebenfalls intensiv mit bestimmten Aspekten des „Judenproblems“ beschäftigte. Hier ging es allerdings weniger um eine antijüdische Grundlagenforschung, sondern um konkretes Wissen zu bestimmten Punkten der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Auch im europäischen Ausland wurden einige antisemitische Judenforschungsinstitute, zum Teil mit deutscher Hilfe, gegründet, so in Italien (1941 Ancona, 1942 Mailand und Triest, 1943 Bologna), in Frankreich (1941 Paris) und in Ungarn (1944 Budapest).14 Hinsichtlich einer herkömmlichen wissenschaftlichen Arbeit, den literarischen Ausstoß und die Interferenzen mit der Universitätswissenschaft gebührt sicherlich der Forschungsabteilung Judenfrage der erste Platz unter allen genannten Einrichtungen. Sie war im Geschäftsbereich des Reichserziehungsministeriums angesiedelt, ohne aber einer Universität direkt zugeordnet zu sein. Ihre inhaltliche und organisatorische Unabhängigkeit erlaubte es ihr, sich deutlicher politisch und ideologisch zu positionieren. Analog zu den Dozentenbundsakademien hatte sie die Funktion, als ideologische Speerspitze Druck auf die Universitäten auszuüben, um noch vorhandene Restbestände einer vornationalsozialistischen Gesinnung zu beseitigen. Die Feierlichkeiten zur Eröffnung der Forschungsabteilung Judenfrage fanden am 19. September 1935 in der Großen Aula der Universität München statt, in deren unmittelbarer Nähe in der Ludwigstraße 22b sie auch angesiedelt war. Ansprachen hielten Karl Alexander Müller (1882–1964), 13
Josef Sommerfeld, Die Aufgaben des Referats Judenforschung, in: Deutsche Forschung im Osten. Mitteilungen des Instituts für deutsche Ostarbeit in Krakau, 1. Jahrgang, H. 7, November 1941, S. 29–35, hier S. 29. Weiter hieß es: „Zu einer Zeit, da das Beispiel des deutschen Volkes Schule macht und die Völker Europas sich in tiefer Besinnung auf ihre völkischen Werte von den Juden befreien, ist es die zwingende Aufgabe der Wissenschaft, mit nüchternen Beweisen und sorgfältigen Untersuchungen zum ersten Mal in der Geschichte ebenfalls auf de[m] Kampfplatz zu erscheinen und mit unabweisbaren Tatsachen, Zahlen und Daten für alle Zukunft die Begründung und Rechtfertigung dieser größten Judenvertreibung aller Zeiten zu erbringen.“ Ebd., S. 31. Siehe hierzu auch Gerd Voigt, Das ‚Institut für deutsche Ostarbeit‘ in Krakau, in: Basil Spiru, Hg., September 1939, Berlin 1959, S. 120. 14 Eine tabellarische Auflistung aller deutschen und nichtdeutschen Insitute bei PapenBodek, Anti-Jewish research, S. 172f. und dies., The Hungarian Institute for Research into the Jewish Question and its participation in the expropriation and expulsion of Hungarian Jewry, in: Peter M Judson und Marsha L. Rozenblit, Hg., Constructing nationalities in east central Europe, New York 2005, S. 226. Ein guter Überblicksartikel von Dirk Rupnow über die NS-Judenforschung insgesamt in Haar und Fahlbusch, Hg., Handbuch der völkischen Wissenschaften, S. 312–322.
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der Leiter des Forschungsabteilung, Theodor Vahlen (1869–1945), der Chef des Amtes Wissenschaft im Reichserziehungsministerium und Walter Frank (1905–1945), der Präsident des Reichsinstituts. Unter der anwesenden Parteiprominenz befand sich auch Rudolf Hess, ein ehemaliger Student des Münchner Historikers Müller. Zur Schar der Ehrengäste gehörten unter anderem der Reichsdozentenführer Gustav Adolf Scheel und die Rektoren von acht Universitäten, unter ihnen Friedrich Focke aus Tübingen. Die Forschungsabteilung Judenfrage sei eine Waffenstätte des geistigen Kampfes gegen das Judentum, lautete der allgemeine Tenor der Festansprachen. „Deutsche Wissenschaft im Angriff“ titelte die ausführlich über die Eröffnung berichtende Tübinger Chronik.15 Zum geschäftsführenden Direktor wurde der junge Historiker Wilhelm Grau (1910–2000) ernannt.16 Grau war 1934 bei Müller mit einer Studie über den Antisemitismus im Mittelalter promoviert worden, in der er ungeniert die Arbeit des jüdischen Gelehrten Raphael Straus ausschlachtete.17 Seine antisemitische Einstellung wies eine deutlich katholische Prägung auf, deren christliche Grundstruktur ihn aber mit Gerhard Kittel verband. Wie er in einem Gespräch mit Helmut Heiber 1959 sagte, habe er ein sehr enges Verhältnis zu dem Tübinger Neutestamentler gehabt und auch dessen Ansicht vom Christentum als antijüdischem Schutzwall geteilt. Sein Anliegen sei die 15 Deutsche Wissenschaft im Angriff. Eröffnung der ‚Forschungsabteilung Judenfrage‘, Tübinger Chronik vom 20.11.1936. Der Bericht vergaß nicht, darauf hinzuweisen, dass bei der anschließenden Arbeitstagung die Tübinger Gelehrten Kittel, Kuhn und Wundt Vorträge halten würden. 16 Siehe zu Grau Patricia von Papen, Vom engagierten Katholiken zum Rassenantisemiten. Die Karriere des Historikers ‚der Judenfrage‘ Wilhelm Grau 1935–1945, in: Georg Denzler und Leonore Siegele-Wenschkewitz, Hg., Theologische Wissenschaft im ‚Dritten Reich‘, Frankfurt a.M. 2000, S. 68–113 sowie dies., Judenforschung und Judenverfolgung. Die Habilitation des Geschäftsführers der Forschungsabteilung Judenfrage, Wilhelm Grau, an der Universität München 1937, in: Elisabeth Kraus , Hg., Die Universität München im Dritten Reich, Bd. 2, München 2006, S. 209–264, außerdem Matthias Berg, ‚Können Juden an deutschen Universitäten promovieren?‘ Der ‚Judenforscher‘ Wilhelm Grau, die Berliner Universität und das Promotionsrecht für Juden im Nationalsozialismus, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 11, 2008, S. 213–227. 17 Wilhelm Grau, Antisemitismus im späten Mittelalter. Das Ende der Regensburger Judengemeinde 1450–1519, Berlin 1934 (2. erweiterte Aufl. 1939) und Raphael Straus, Die Judengemeinde Regensburg im ausgehenden Mittelalter aufgrund der Quellen kritisch untersucht und neu dargestellt, Heidelberg 1932. Straus, der Cousin Ludwig Feuchtwangers, wanderte 1934 nach Jerusalem aus. Feuchtwanger beauftragte dann ausgerechnet Grau mit der Durchsicht der von ihm geplanten Edition des von Straus zusammengetragenen Quellenmaterials. Wie bereits erwähnt wurde Feuchtwangers Bibliothek wenige Jahre später selbst „Quelle“ der nationalsozialistischen Judenforschung. Siehe hierzu auch von Papen, Vom engagierten Katholiken zum Rassenantisemiten, S. 73–79.
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Widerlegung der These gewesen, dass man im Christentum eine Judaisierung des Germanischen zu sehen habe, eine Richtung nach der auch Kittel und Kuhn gewirkt hätten.18 Kittel versuchte lange Zeit zwischen Grau und Frank zu vermitteln, konnte es aber nicht verhindern, dass Grau schließlich seines Amtes enthoben wurde. Ohne das konfessionelle Moment zu überzeichnen, lässt sich bei Walter Frank und der Forschungsabteilung Judenfrage doch eine deutlich protestantische Tendenz erkennen, die bei Alfred Rosenberg zwangsläufig auf entsprechende Ressentiments stoßen musste. Frank blieb zeitlebens ein überzeugter Christ protestantisch-lutherischer Prägung, der wiederum an Rosenberg besonders den Kirchenhasser abstoßend fand.19 Als Sohn eines hohen Beamten im bayerischen Innenministerium wurde Frank 1928 mit einer Arbeit über Hofprediger Adolf Stoecker und die christlich soziale Bewegung bei Karl Alexander Müller in München promoviert.20 Seine Judenfeindschaft bewegte sich in der Tradition Stoeckers und wurde nicht zuletzt durch den antisemitischen Publizisten Wilhelm Stapel (1882–1954) bestärkt, mit dem er früh in Kontakt kam und in dessen Zeitschrift Deutsches Volkstum er publizierte. Im Gegenzug holte Frank dann Stapel in den von ihm im Herbst 1936 eingerichteten Sachverständigenbeirat der Forschungsabteilung Judenfrage, einem überwiegend von Protestanten besetzten Gremium.21 Seine Mitglieder traten zumeist als Redner bei den alljährlich durchgeführten Arbeitstagungen in Erscheinung. Die dabei gehaltenen Vorträge wurden in der hauseigenen Reihe Forschungen zur Judenfrage in der Hanseatischen Verlagsanstalt publiziert. Besondere Arbeitsschwerpunkte bildeten in der Forschungsabteilung Judenfrage die Mischehenproblematik und die Religions- und Geistesgeschichte des Judentums. Ihr Etat betrug am Anfang etwa 2000 Reichsmark pro Monat, wobei im Einzelfall durch das Reichserziehungsministerium oder von anderer Seite eine Aufstockung erfolgte. Zu den vordringlichen Aufgaben 18 Institut für Zeitgeschichte, Zeugenschrifttum 1873, fol. 5. Das Gespräch zwischen Grau und Heiber fand am 5. und 6.12.1959 statt. Siehe dazu auch Heiber, Walter Frank, S. 410 19 Siehe dazu Heiber, Walter Frank, S. 74–77. 20 Frank überbrachte das Buch Hitler im Mai 1928 mit persönlicher Widmung. Heiber, Walter Frank, S. 35. 21 Ihm gehörten noch an: Rudolf Buttmann (Bibliothekswesen), Johannes Alt, Wilhelm Stapel und Franz Koch (Literaturgeschichte), Hans Alfred Grunsky und Max Wundt (Philosophie), Hans Bogner (Alte Geschichte), Wilhelm Ziegler (Weltkriegs- und politische Geschichte), Ottokar Lorenz (Wirtschaftsgeschichte), Herbert Meyer (Rechtsgeschichte), Johannes Heckel (Staatsrecht), Karl Georg Kuhn (Talmud), Gerhard Kittel (Religionswissenschaft), Otmar Freiherr von Verschuer (Biologie) und Philipp Lenard (Naturwissenschaft). Heiber, Walter Frank, S. 421.
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gehörte der Aufbau einer eigenen „judaistischen“ Bibliothek und die Vergabe von Stipendien an zumeist jüngere Forscher. Die inhaltliche Arbeit wurde aber in erster Linie von den assoziierten Hochschullehrern geleistet, die ihre fachliche Kompetenz weitgehend unentgeltlich in die Institutsarbeit einbrachten. Die Forschungsabteilung Judenfrage verfügte über keine eigene Zeitschrift, was aber auch nicht notwendig war, weil ihr mit der renommierten Historischen Zeitschrift eines der maßgeblichen Organe der deutschen Geschichtswissenschaft zur Verfügung stand. Nach ihrer Gleichschaltung räumte die Historische Zeitschrift der Erörterung der „Judenfrage“ einen festen Platz ein. Ihre Herausgeberschaft hatte Karl Alexander Müller 1935 von Friedrich Meinecke (1862–1954) übernommen. Doch bereits zwei Jahre vorher war die Meineckeschülerin Hedwig Hintze (1884–1942) wegen ihrer jüdischen Herkunft und ihrer Nähe zur Sozialdemokratie aus der Liste der HZ-Mitarbeiter entfernt worden.22 Im September 1933 wurde sie aus dem Hochschuldienst entlassen. Die von dem Tübinger Historiker Adalbert Wahl (1871–1957) als „widerliche Jüdin“ bezeichnete Hintze emigrierte 1939 in die Niederlande und starb am 19. Juli 1942, wobei nicht ganz klar ist, ob sie Gift nahm oder infolge ihrer sich täglich verschlimmernden Lebensumstände umkam.23 Um die politische Neuausrichtung auch nach außen zum Ausdruck zu bringen, richtete die Historische Zeitschrift eine eigene Rubrik „Bücher und Aufsätze zur Geschichte der Judenfrage“ ein. Die Aktivitäten der Forschungsabteilung Judenfrage erfuhren in der Historischen Zeitschrift eine ausführliche Darstellung und auch die Bücher von ihren Mitarbeitern wurden auffallend oft und auffallend positiv rezensiert. Wichtig war aber vor allem, dass die Historische Zeitschrift Artikel über die „Judenfrage“ und die Aufgaben der „Judenforschung“ 22 Meinecke begründete am 20.5.1933 in einem Brief an Hintze ihren Ausschluss damit, dass die Historische Zeitschrift durch eine Wissenschaftlerin, die als politisch besonders belastet galt, gefährdet wäre. Ohne den inneren Widerspruch seines Arguments zu sehen, schrieb er Hintze, dass es ihm darum gehe, den wissenschaftlichen Charakter der Zeitschrift „unter allen Umständen“ zu behaupten. Siehe Ursula WiggershausMüller, Nationalsozialismus und Geschichtswissenschaft. Die Geschichte der Historischen Zeitschrift und des Historischen Jahrbuchs 1933–1945, Hamburg 1998, S. 70f. und Peter Th. Walther, Die Zerstörung eines Projektes: Hedwig Hintze, Otto Hintze und Friedrich Meinecke, in: Gisela Bock und Daniel Schönpflug, Hg., Friedrich Meinecke in seiner Zeit. Studien zu Leben und Werk, Stuttgart 2006, S. 120f. 23 Hintzes verzweifelte Lage ist bei Walther, Die Zerstörung eines Projektes, S. 129–135 eindringlich geschildert. Wahls Charakterisierung seiner Kollegin, die von ihm den Rezensionsteil für die neuere Geschichte übernommen hatte, findet sich in einem Brief an Wilhelm Oldenburg, den Verleger der Historischen Zeitschrift (und Vetter Wahls) vom 18.4.1935. Heiber, Walter Frank, S. 280.
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brachte. Von Gerhard Kittel erschien 1941 ein fast 40-seitiger Beitrag über die weltanschaulichen Hintergründe und Motive des englischen Kriegsgegners.24 Ganz im Geist und Stil der nationalsozialistischen Kriegspropaganda geschrieben, legte Kittel dar, warum dem gesunden völkischen Nationalismus des Deutschen Reiches das englische Weltherrschaftsdenken, das sich zwar christlich gebärdete, in Wirklichkeit aber auf antichristlichen, genauer gesagt auf jüdischen Grundlagen fußte, widerstreben musste. Mit deutlich anticalvinistischen und antianglikanischen Wendungen konstruierte der deutsche Lutheraner Kittel Parallelen zwischen dem jüdischen und dem englischen Erwählungsglauben, der das Inselreich zwangsläufig mit den legitimen Interessen Deutschlands in Kollision brachte. Im Gegensatz zu den vom „Inselpharisäismus“ geprägten Engländern, die einem religiösen Imperialismus folgen und nur um Geld und Macht Krieg führen würden, streite Adolf Hitler „um das Recht zur echten Wahrhaftigkeit und echten Moralität“.25 Interessant ist bei Kittels Artikel, dass er sich jeglicher konventionell theologischen Begründung bewusst enthielt, gleichzeitig aber doch religiöse Ursachen für das Verhalten Englands verantwortlich machte. Geschickt nutzte Kittel die Historische Zeitschrift, wie die Forschungsabteilung Judenfrage insgesamt, als Forum, um dem Anliegen der Kirche in einer für sie schwieriger werdenden Zeit öffentliche Geltung zu verschaffen. In Übereinstimmung mit der interdisziplinären Zielrichtung der Forschungsabteilung Judenfrage setzte sich ihr Sachverständigenbeirat aus Vertretern unterschiedlicher natur- und geisteswissenschaftlicher Fächer zusammen. Der Beirat sollte in einem ganz modernen Sinn die Wissenschaftlichkeit einer Arbeitsgemeinschaft gewährleisten, deren Aufgabe darin bestand, sich über einen längeren Zeitraum auf hohem Niveau mit einer gesellschaftlich relevanten Problemstellung zu beschäftigen. Möglicherweise stellte Wilhelm Stapel den ersten Kontakt zwischen Walter Frank und Gerhard Kittel her. Stapel und Kittel kannten sich von der Vorlesungsreihe her, die von der theologischen Fachschaft im Frühsommer 1933 in Tübingen organisiert worden war. Vielleicht ging der Impuls aber auch von Gustav Adolf Scheel aus, der als Studentenführer an der Eröffnungsfeier in München teilnahm und der Kittel persönlich kannte. Dessen ungeachtet war Kittel mit seinem Buch über Die Judenfrage weit über die Wissenschaft und Tübingen hinaus als jemand bekannt geworden, der sich intensiv mit dem Judentum befasste. Der auch international angesehene 24
Gerhard Kittel, Die Wurzeln des englischen Erwählungsglaubens, in: Historische Zeitschrift, Bd. 163, 1941, S. 43–81. 25 Ebd., S. 81.
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Tübinger Neutestamentler spielte von Anfang an eine zentrale Rolle in der Forschungsabteilung Judenfrage. Kittel engagierte sich wie kaum ein anderer und hielt auf fast jeder Arbeitstagung einen Vortrag. Zu fast allen Bänden der Forschungen zur Judenfrage steuerte er einen Beitrag bei. Als vermutlich renommiertestem Wissenschaftler des Sachverständigenbeirats gelang es ihm relativ leicht, die Religion des Judentums zu einem wichtigen Bezugspunkt eines fächerübergreifend agierenden Forschungsverbunds zu machen. Kittels Bedeutung lag zum einen auf dem Gebiet der geschichtlichen Einordnung und theoretischen Konzeptualisierung der „Judenfrage“. Zum andern verfügte Kittel auch über ausgezeichnete Kontakte zum etablierten Wissenschaftsbetrieb. Innerhalb der Forschungsabteilung wurde er als Leitfigur akzeptiert, den man um Rat fragte und der auf der Ebene der persönlichen Beziehungen Einfluss nahm und im Hintergrund die Fäden zog. So fiel es Kittel nicht schwer, noch drei andere Wissenschaftler der Universität Tübingen in der Forschungsabteilung unterzubringen: seinen Schüler Karl Georg Kuhn, seinen Assistenten in der Evangelisch-theologischen Fakultät Günter Schlichting und seinen Kollegen aus der Philosophischen Fakultät Max Wundt. Der bekannte völkische Philosoph Max Wundt (1879–1963) lehrte seit 1929 als ordentlicher Professor an der Universität Tübingen.26 Wie Tilitzki schreibt, habe bei seiner Berufung vor allem Adalbert Wahl seine Hände im Spiel gehabt. Wahl und Wundt waren seit ihrer gemeinsamen Dozentenzeit an der Universität Dorpat miteinander befreundet und gehörten beide der Gesellschaft deutscher Staat, einer Plattform der Deutschnationalen Volkspartei, an.27 Wundt war außerdem Mitglied im Vorstand des Alldeutschen Verbandes. Sein Antisemitismus zeichnete sich durch eine fast schon sakrale Überhöhung des Deutschtums aus, bei der die Berufung auf Martin Luther und die Ineinssetzung von deutsch mit christlich noch stärker antijüdische als antikatholische Züge trug.28 Auf der Basis dieser durch die lutherische Klammer zusammengehaltenen Trias DeutschtumChristentum-Antisemitismus entfaltete Wundt seine Konzeption einer 26 Siehe zu Wundt dessen Personalakte im Tübinger Universitätsarchiv (UAT 126a/539), den biographischen Eintrag von Horst Ferdinand, in: Baden-Württembergische Biographien, Bd. 3, Stuttgart 2002, S. 466–470 sowie Manfred Hantke, Das Philosophische Seminar: Deutsch bis in die Wurzeln, in: Wiesing u.a., Hg., Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus, bes. S. 393–396 und S. 404–409. 27 Christian Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Teil 1, Berlin 2002, S. 283f. 28 So Günter B. Ginzel, Martin Luther: ‚Kronzeuge des Antisemitismus‘, in: Heinz Kremers, Hg., Die Juden und Martin Luther. Martin Luther und die Juden, NeukirchenVluyn 1985, S. 192f.
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völkischen Philosophie und Weltanschauung. Vehement bekämpfte er die „Verjudung“ des Geistes, die viel schwieriger zu überwinden sei, als die „Verjudung“ des Blutes.29 Nur nach vorheriger Bezwingung des jüdischen Geistes, „der sich zum Träger aller uns schädigenden Denkrichtungen gemacht hat“, könne eine völkische Einheit der Deutschen entstehen.30 Die Juden seien „die dunkle Macht der Verneinung, die tötet, was sie ergreift“, sie hätten den Fluch, der an ihren Fersen heftet, nun schließlich auch über das deutsche Volk gebracht.31 Wie eine teuflische Macht habe das Judentum unter den germanischen Völkern gehaust.32 Wundts Alternative entweder Christusgeist oder Judengeist implizierte die Erlösung Deutschlands von den Juden als Voraussetzung für einen Wiederaufstieg zu alter Größe. Seine Abneigung gegenüber allem Parteibetrieb hielt Wundt indes nicht davon ab, sich Alfred Rosenbergs Kampfbund für deutsche Kultur (KfdK) anzuschließen. Dessen Aufgabe bestand vor allem darin, Intellektuelle anzusprechen und als Multiplikatoren für einzelne Elemente der nationalsozialistischen Ideologie zu gewinnen, ohne dabei aber als Parteiorganisation in Erscheinung zu treten. Von mehreren hundert Mitgliedern im Jahr 1929 wuchs der Kampfbund für deutsche Kultur bis zum Oktober 1933 auf etwa 38.000 Mitglieder und ca. 450 Stützpunkte an.33 Wundt gehörte zu den Mitbegründern der Tübinger Ortsgruppe des KfdK, die sich am 8. Juli 1931 auf dem Haus der Sängerschaft Zollern konstituierte.34 Am 10. Februar 1932 gelang es, Alfred Rosenberg zu einem Vortrag nach Tübingen einzuladen, der großes Aufsehen erregte und in dessen Gefolge sich die Zahl der Mitglieder, insbesondere aus akademischen Kreisen, deutlich erhöhte.35 Gerhard Kittel zählte bereits vor der Machtergreifung zu den Mitglie-
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Max Wundt, Was heißt völkisch?, Langensalza 1924, S. 10. Ders., Deutsche Weltanschauung. Grundzüge völkischen Denkens, München 1926, S. 75. 31 Ebd., S. 191f. 32 Ebd., S. 187. 33 Die Zahlen bei Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, 2. Aufl., München 2006, S. 29. 34 Harald Lönnecker, ‚...Boden für die Idee Adolf Hitlers auf kulturellem Felde gewinnen‘. Der ‚Kampfbund für deutsche Kultur‘ und die deutsche Akademikerschaft, in: Friedhelm Golücke u.a., Hg., GDS-Archiv für Hochschul- und Studentengeschichte, Bd. 6, Köln 2002/3, S. 121–144, im Internet zugänglich unter: www.burschenschaftsgeschichte.de, s.v. Lönnecker, hier S. 6f. (zuletzt eingesehen am 13.12.2009). 35 Ebd. Zu den Aktivisten des KfdK gehörte in Tübingen der Universitätsmusikdirektor Karl Hasse (1883–1958), der Slawist Ernst Sittig (1887–1955) und vor allem der Dichter und Künstler Erwin Guido Kolbenheyer (1878–1962). 30
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dern des KfdK, und Jakob Wilhelm Hauer schloss sich ihm im Mai 1933 an.36 In der Forschungsabteilung Judenfrage konnte Wundt seine judeophoben Neigungen und seine philosophischen Interessen in einer wesentlich prononcierteren Form miteinander verbinden als an einer staatlichen Universität. Das Judentum in der Philosophie wurde zu seinem Standardthema, das er mehrfach in Vorträgen und Aufsätzen für die Forschungsabteilung abhandelte. Nach Wundts Auffassung unterlag das Denken der Juden dem blinden Gehorsam an einen erstarrten und formalisierten Nomismus. „Wo sich der Jude daher erkennend seinem Gesetz zuwendet, bringt er es nur zu einem leeren Denken, dass sich in den reinen Verstandesbeziehungen herumtreibt, aber nichts Wirkliches in äußerer oder innerer Anschauung zu erblicken vermag.“37 Somit sei die Philosophie „dem Juden“ etwas gänzlich Wesensfremdes, ihm nicht angeboren „wie den Völkern aus nordischem Blute, den Griechen und Germanen“. Sie werde ihm gerade in der Zerstreuung zur bloßen Maskerade, mit der er seine Zeitgenossen zu täuschen suche.38 Nach der erfolgreichen Zurückdrängung der Juden aus dem öffentlichen Leben wollte Wundt mit seinen Ausführungen nicht mehr primär das Judentum bekämpfen, „was nicht mehr nötig ist“, sondern seine Zeitgenossen davor warnen, sich vom jüdischen Geist in seiner Verkleidung blenden und auf falsche Wege locken zu lassen.39 An dieser Stelle verlieh Wundt seiner Abneigung gegenüber dem ‚jüdischen‘ Neukantianismus Ausdruck, die sich besonders gegen den Marburger Philosophen Hermann Cohen (1842–1918) richtete.40 Am 26. Januar 1939 widmete die Tübinger Chronik Wundts Vortrag über das Judentum in der Philosophie, den er bei der Berliner Vorlesungsreihe der For36
Kittels Mitgliedschaft wird in einem Gutachten der Tübinger Kreisleitung der NSDAP erwähnt, das in einem Schreiben des Sicherheitsdienstes (Referat IV B 2 „Politischer Protestantismus, Sekten“) an das Auswärtige Amt vom 1.9.1943 ausführlich zitiert wird. BArch R 98821. Siehe zu diesem Schreiben auch Anders Gerdmar, Roots of theological anti-Semitism. German biblical interpretation and the Jews, from Herder and Semler to Kittel and Bultmann, Leiden 2009, S. 447–452. Zu Hauer Junginger, Von der völkischen zur philologischen Religionswissenschaft, S. 128. 37 Max Wundt, Das Judentum in der Philosophie, in: Forschungen zur Judenfrage, Bd. 2, Hamburg 1937, S. 76. Das sei die Denkweise des Talmud, „wie sie Dr. Kuhn in dem ersten Bande dieser Forschungen dargelegt hat, das blicklose Denken, das an keiner erfüllten Anschauungen einen Halt hat und darum auf den leeren Gleisen des Verstandes einherfährt.“ Ebd. 38 Ebd., S. 77. 39 Ebd., S. 87. 40 Wundt ließ sich Ende 1937 eigens die Personalakte Cohens aus Marburg nach Tübingen kommen. Anne Chr. Nagel, Hg., Die Philipps-Universität im Nationalsozialismus, Stuttgart 2000, S. 273f.
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schungsabteilung Judenfrage gehalten hatte, eine halbe Seite, in dem nochmals die Hauptlinien seiner Argumentation rekapituliert wurden. Die Juden hätten niemals eine Philosophie und auch keine wirkliche Wissenschaft hervorgebracht. Sie hätten das philosophische Denken als etwas ihnen Fremdes nur äußerlich angenommen, um sich damit in einer fremden Umwelt zu tarnen und ein großes Theater aufzuführen. Bis zu einem gewissen Grade sei „die Teilnahme des Juden an dem Geistesleben seiner Wirtsvölker immer geschauspielert“. Das sei zuletzt bekanntlich so weit gegangen, „dass er überhaupt nicht mehr als Jude erkannt sein wollte“. Dem heimatlosen Denken der Juden fehle der sittliche Ernst. Im Gegensatz zu den Völkern nordischen Blutes vermöge sich der jüdische Verstand nur auf der Ebene der Äußerlichkeit zu bewegen und nicht in die Tiefe des Lebens einzudringen. Das lebendige Ganze des Geistes sei dem jüdischen Denken unzugänglich, so dass es sich darauf konzentrieren müsse, das „was anderen heilig ist, seines Wertes zu entkleiden“.41 Zwei Tage danach brachte die Tübinger Lokalzeitung eine Laudatio zu Wundts 60. Geburtstag, die auf seine völkischen Verdienste einging und dabei besonders seine Mitarbeit im Sachverständigenbeirat der Forschungsabteilung Judenfrage und seine frühen Warnungen vor den Gefahren des jüdischen Einflusses betonte.42 Der evangelisch-lutherische Staats- und Kirchenrechtler Johannes Heckel (1889–1963), seit 1937 Mitglied in der NSDAP und im NS-Dozentenbund, repräsentierte in der Forschungsabteilung Judenfrage wie Frank, Kittel und Wundt einen Antisemitismus, der aus der engen Verbindung von Deutschtum und protestantischem Christentum hervorging.43 Das Dritte Reich ließ sich dadurch als Fortführung des reformatorischen Erbes Martin Luthers verstehen. Heckel, der 1933 Rechtsberater des deutschchristlichen Reichsbischofs Ludwig Müller geworden war und der von 1934 bis 1951 an der Universität München öffentliches Recht und Kirchenrecht lehrte, hielt auf der ersten Arbeitstagung der Forschungsabteilung Judenfrage einen bezeichnenden Vortrag über den zum Christentum kon41 Prof. Wundt, Tübingen, sprach in Berlin ueber ‚Das Judentum in der Philosophie‘, Tübinger Chronik vom 26.1.1939. 42 Geburtstag von Professor Wundt. Aus dem Leben eines erfolgreichen Gelehrten, Tübinger Chronik vom 28.1.1939. 43 Siehe zu Heckel Friedrich Wilhelm Bautz, Heckel, Johannes, in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 2, 1990, Sp. 629f. (www.kirchenlexikon.de, s.v. Heckel, Johannes, zuletzt eingesehen am 13.12.2009) und Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich, Frankfurt a.M. 2003, S. 235. 1940 wurde Heckel Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 1951 Präsident des Verfassungs- und Verwaltungsgerichts der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland.
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vertierten Staats- und Kirchenrechtslehrer Friedrich Julius Stahl (1802– 1861), in dem er das Problem des Assimilationsjudentums an dem für den nationalsozialistischen Diskurs ungewöhnlichen Beispiel eines führenden Konservativen behandelte.44 Da aus seiner Sicht der Glaubenswechsel Stahls an seiner rassischen Eigenart nichts zu ändern vermochte, interpretierte Heckel Stahls Konversion nicht als einen wirklichen Bruch, sondern als Übergang von einer Art jüdischen Verhaltens zu einer anderen.45 Ungeachtet etlicher dezidiert antijüdischer Äußerungen sei Stahls gleichwohl ein unverkennbarer Jude geblieben und habe „das deutsche Staatsrecht und das protestantische Kirchenrecht sozusagen auf jüdisch durchexerziert, gründlicher und breiter als seine Stammesgenossen vor und nach ihm“.46 Das sittliche Reich Stahls sei lediglich die „christlich übermalte theokratische Volksvorstellung der jüdischen Diaspora“ und entbehre als eine nur äußerliche Anstaltsordnung einer wirklichen Sittenlehre, wie sie durch den spezifisch germanischen Zug in Luthers Reichsgottesbegriff zur Entdeckung der verfassungsbestimmenden Kraft der Gemeinschaft geführt habe.47 Wie konnte der Jude Stahl auch das germanisch deutsche Gemeinschaftsprinzip verstehen? Zwar müsse zur Ehre der protestantischen Theologie und Kirchenrechtswissenschaft gesagt werden, dass sie Stahls kirchenrechtliches Werk insgesamt ablehnte. Es sei ein „allzu ungeschicktes, aber von Stahl selbst mitverursachtes, jüdisches Märchen“, dass dieses in der Geschichte des protestantischen Kirchenrechts Epoche gemacht habe.48 Dennoch könne es keinen Zweifel an dem außerordentlichen Einfluss Stahls auf die konservative Bewegung geben. Vor dieser Gefahr wolle Heckel warnen. Deutlich antisemitische Züge trug auch die von Heckel in der Hanseatischen Verlagsanstalt veröffentlichte juristische Begründung des national-
44 Johannes Heckel, Der Einbruch des jüdischen Geistes in das deutsche Staats- und Kirchenrecht durch Friedrich Julius Stahl, in: Forschungen zur Judenfrage, Bd. 1, Hamburg 1937, S. 110–135 bzw. Historische Zeitschrift, Bd. 155, 1937, S. 506–541. Vermutlich lag es am antisemitischen Charakter dieses Artikels, dass er nicht in die von seinem Sohn zusammengestellten Bibliographien aufgenommen wurde. Martin Heckel, Schrifttumsverzeichnis Johannes Heckel aus dem Gebiete des Kirchenrechts und der kirchlichen Rechtsgeschichte, in: Siegfried Grundmann, Hg., Für Kirche und Recht. Festschrift für Johannes Heckel zum 70. Geburtstag, Köln 1959, S. 351–360 und in: ders. Hg., Das blinde, undeutliche Wort ‚Kirche‘. Gesammelte Aufsätze, Köln 1964, S. 725–734. 45 Heckel, Der Einbruch des jüdischen Geistes, S. 517. 46 Ebd., S. 540f. 47 Ebd., S. 528–530. 48 Ebd., S. 524.
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sozialistischen Wehrrechts.49 Heckel widmete diese Schrift dem Geschäftsführer des wehrpolitischen Amtes der NSDAP und stellvertretenden Reichsstatthalter von Bayern, Friedrich Haselmayr (1879–1965), durch den er an die Forschungsabteilung Judenfrage gekommen war und in dessen Arbeitsgemeinschaft für wehrgeistige Forschung er den stellvertretenden Vorsitz innehatte. Wegen der Causa Grau geriet Haselmayr dann aber in Streit mit Frank und verließ im Januar 1939 zusammen mit Heckel die Forschungsabteilung wieder.50 Im Zuge der Gleichschaltung des von Heckel seit 1932 im Tübinger Mohr Siebeck Verlag herausgegebenen Archivs für öffentliches Recht trat seine antijüdische Einstellung ebenfalls deutlich zutage, als ein langjähriger Mitherausgebers des Archivs, Albrecht Mendelssohn Bartholdy (1874–1936), ausscheiden musste, weil er Jude war.51 Sein Name wurde im Sommer 1933 vom Titelblatt gestrichen, noch bevor er im September 1933 in Hamburg aus dem Hochschuldienst entlassen wurde.52 Am 10. Juli 1933 teilte der bekannte Staatsrechtler Carl Bilfinger (1879– 1958) Heckel mit, dass er nicht mehr für das Archiv schreiben werde, falls der Name seines jüdischen Kollegen nicht „aus dem Rubrum der Redaktion“ entfernt würde.53 Nach internen Querelen und weil er sich mit seinen Vorstellungen der Anpassung an den Nationalsozialismus nicht durchsetzen konnte, legte Heckel die Herausgeberschaft des Archivs für öffentliches Recht am Jahresende 1933 nieder.54 Als bei der Festschrift zum 70. Geburtstag für seinen akademischen Lehrer Ulrich Stutz (1868–1938) die Frage auftauchte, ob jüdische Subskribenten in die Tabula gratulatoria aufgenommen werden sollten, wurde das von Heckel vehement verneint: „Wie? 49 Johannes Heckel, Wehrverfassung und Wehrrecht des Großdeutschen Reiches, Hamburg 1939, hier besonders der Abschnitt über „Die rechtliche Sonderstellung der Juden“ (S. 131–134). 50 Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut, S. 1024. 51 Albrecht Mendelssohn Bartholdy – Enkel des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847) und Onkel des Religionswissenschaftlers Joachim Wach (1898–1955) – hatte 1905 eine Tochter des Leipziger Juristen Adolf Wach (1843–1926) geheiratet. Er hatte seit 1920 eine ordentliche Professur an der Universität Hamburg inne und emigrierte 1934, ein Jahr bevor Joachim Wach in die USA ging, nach England. 52 Lothar Becker, Schritte auf einer abschüssigen Bahn. Das Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) im Dritten Reich, Tübingen 1999, S. 85. Auch der Verleger Oskar Siebeck (1880–1936) hielt jüdischer Abstammung verdächtige Wissenschaftler „als Herausgeber oder Mitherausgeber, ja selbst als bereits verstorbene Begründer, auf den Titelblättern seiner Zeitschriften nicht länger für tragbar“. Ebd. 53 Brief Bilfingers an Heckel vom 10.7.1933, ebd., S. 86. Bilfinger, der sich 1922 in Tübingen habilitiert hatte, lehrte von 1924–1935 in Halle, von 1935–1943 in Heidelberg und ab 1943 in Berlin, wo er zugleich dem Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht vorstand. 54 Becker, Schritte auf einer abschüssigen Bahn, S. 116–119.
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Soll ein Jude, eine Koryphäe des Weimarer Systems usw., durch einen Bakschisch die Möglichkeit haben, Seite an Seite mit nationalsozialistischen Politischen Leitern öffentlich auftreten zu können?“55 Einen solchen Fauxpas wollte Heckel unter allen Umständen vermeiden. Kittel war vom Renommee her und auch in konzeptioneller Hinsicht der wichtigste Universitätsvertreter in der Forschungsabteilung Judenfrage. Man merkte es seinen Stellungnahmen zur „Judenfrage“ an, dass sie auf einer langjährigen und intensiven Beschäftigung mit dem Judentum beruhten. Nicht umsonst begann der inhaltliche Teil des ersten Bandes der Forschungen zur Judenfrage mit seinem programmatischen Beitrag über „Die Entstehung des Judentums und der Judenfrage“.56 Er ging auf seinen Vortrag zurück, den er während der ersten Arbeitstagung der Forschungsabteilung Judenfrage vom 19.–21. November 1936 gehalten hatte. Kittel machte drei Faktoren für die historische Entstehung der „Judenfrage“ verantwortlich: erstens das Leben der Juden in der Diaspora als völkische Minderheit unter den Völkern, zweitens das sich im Talmud manifestierende jüdische Gesetzesdenken und drittens den Macht- und Herrschaftsanspruch der Juden, die glauben, das von Gott erwählte Volk zu sein.57 Auf nicht ungeschickte Weise ließ Kittel das traditionelle theologische Schema von der Ablösung des alten Gottesbundes der Juden durch den neuen der Christen als eine an der Entwicklung des jüdischen Volkes verifizierbare geschichtliche Tatsache erscheinen. Die bereits durch die Existenz des Judentums unmittelbar gegebene „Judenfrage“ übertrug Kittel dabei in die Sphäre des Politischen. Das eigentliche Problem des Judentums sei nicht die Religion der Juden, sondern bestehe in der Mischung aus religiösem Talmudgeist und säkularem Herrschaftsanspruch. „Der echte orthodoxe Talmudjude im Ghetto wird oftmals haßerfüllt die Faust ballen und die Hände gen Himmel erheben und Rachegebete über die Ungläubigen rufen; aber er ist nicht der eigentliche Träger der Völkerzersetzung.“58
Durch das Auftreten einer außerhalb des Judentums liegenden Größe, das heißt durch die Entstehung des Christentums, habe die „Judenfrage“ eine 55
Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz, Teil 1: Der Professor im Dritten Reich. Bilder aus der akademischen Provinz, München 1991, S. 237. 56 Gerhard Kittel, Die Entstehung des Judentums und der Judenfrage, in: Forschungen zur Judenfrage, Bd. 1, Hamburg 1937, S. 43–63 (auch als Separatdruck). Die vorausgehenden Seiten enthalten die Präliminarien und die am 19.11.1936 gehaltenen Begrüßungsansprachen. 57 Ebd., S. 60, so von Kittel selbst zusammengefasst. 58 Ebd., S. 61.
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neue Wendung genommen und ihre eigentliche Zuspitzung erfahren. Eine solche „einfache geschichtliche Feststellung, die mit irgendwelchen dogmatischen Wertungen noch gar nichts zu tun hat“, gelte auch für die Kreuzigung Jesu und die Schuld, die das Judentum damit auf sich lud.59 Auf der Grundlage solcherart konstruierter ‚Tatsachenbeweise‘ bezeichnete Kittel das christliche Abendland, „und zwar in ganz gleicher Weise die katholische Kirche wie Luther“, als den „schärfsten Gegner des Judentums“. Auch der Satz, „daß es in der Welt keine unversöhnlicheren Gegner gab und gibt als echtes Judentum und echtes Christentum“, müsse als eine geschichtliche und nicht als eine dogmatische Aussage verstanden werden. Hieran schloss Kittel sein Postulat vom Neuen Testament als dem „antijüdischsten Buch der ganzen Welt“ an.60 Leugne man die von ihm geschilderten Problemzusammenhänge, müsse das zu einer gefährlichen Verharmlosung des „Judenproblems“ führen, wie das in der Vergangenheit leider nicht selten der Fall war. Lange Zeit habe man geglaubt, das Problem ignorieren oder ihm „mit kleinen Mittelchen“ beikommen zu können. Damit sei nun Schluss. Wie bereits in seiner Schrift Die Judenfrage verteidigte Kittel auch jetzt, nach der Implementierung der Nürnberger Gesetze, die antisemitische Politik des Dritten Reiches gegen den Vorwurf der „willkürlichen Brutalität und Barbarei“. Vielmehr sei es „echtes, aus historischer Nüchternheit geborenes politisches Handeln, wenn der Führer des neuen Deutschlands für das deutsche Volk als erstes Volk der Neuzeit das Judenproblem in radikalem Entschluss auf eine völlig neue Grundlage stellte“.61
Auf der zweiten Arbeitstagung in München, die vom 12. bis 15. Mai 1937 stattfand, hielt Kittel einen grundlegenden Vortrag über die Mischehenfrage, das wichtigste theoretische Problem der nationalsozialistischen Judenforschung.62 Es handelte sich dabei um die bereits zu Beginn dieser Studie diskutierte Frage, wann ein Jude aufhört Jude zu sein und anhand welcher Kriterien sich Übergänge und Mischformen erkennen lassen. Kittel wies zunächst auf das strenge Mischehengesetz der Juden hin, wie es unter Esra und Nehemia zwischen 458 und 433 vor Christus erlassen, dann aber wieder aufgegeben worden sei.63 Durch das Entstehen des antiken Weltjudentums und ein zunehmendes Proselytentum habe sich der Sinn 59
Ebd. Ebd., S. 62. 61 Ebd., S. 63 62 Gerhard Kittel, Das Konnubium mit Nicht-Juden im antiken Judentum, in: Forschungen zur Judenfrage, Bd. 2, Hamburg 1937, S. 30–62. 63 Ebd., S. 30 und S. 38. 60
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dieses Gesetzes in sein Gegenteil verkehrt. Aus der Exklusivität des Volkstums und des Blutes sei eine der Religion geworden. „Das Judentum wird eine ‚Religionsgemeinde unter der Fiktion der Blutsgemeinschaft‘.“64 Bis zum Eintritt des Judentums in die Geschichte des christlichen Abendlandes, das heißt bis zum Beginn des Ghettos, habe sich am „Blutkörper“ dieses Judentums ein gravierender „volks- und rassenmäßiger Umschichtungs- und Vermischungsprozeß“ vollzogen. Daraus ging das jüdische Rassengemisch hervor. Die Ursache für das „Judenproblem“, so die Logik Kittels, müsse deshalb in der Geschichte des antiken Judentums liegen, da sich die jüdische Mischrasse in den späteren Jahren ihrer Ghettoexistenz so gut wie rein erhalten habe.65 Indem Kittel den Ursprung der modernen „Judenfrage“ in die Antike zurückverlegte, war klar, dass ihre Lösung der Kompetenz wirklicher Fachleute auf diesem Gebiet bedurfte. Und nicht aus Zufall handelte es sich hierbei um sein eigenes Spezialgebiet der neutestamentlichen Zeitgeschichte. Kittel glaubte in seinem Beitrag nachgewiesen zu haben, dass sich das Judentum in dem von ihm beschriebenen nachexilischen Jahrtausend sowohl in religiöser als auch in bluts- und rassenmäßiger Hinsicht konstituiert habe. Eine wirkliche Antwort auf die Mischehenproblematik hatte Kittel zwar nicht zu bieten. Doch schloss er seinen Beitrag mit einer neuerlichen Verteidigung der nationalsozialistischen Rassengesetze, die nicht ohne Grund besonderen Wert auf das Verbot der Rassenmischung lege. Seine geschichtliche Betrachtung habe unwiderleglich gezeigt, dass „die durch den Nationalsozialismus vollzogene radikale Ausmerzung des Konnubiums zwischen Juden und Nichtjuden nicht, wie fast die ganze außerdeutsche Welt behauptet, eine unerhörte Grausamkeit gegen die Juden ist, sondern in Wirklichkeit der heilsame Zwang für das Assimilationsjudentum, zu seinen eigenen Grundlagen und zu deren Gesetzen zurückzukehren“.66
Am 25. Juni 1937 sprach Kittel auf dem Tag der Wissenschaft der Universität Tübingen erneut über das Problem der jüdischen Rassenmischung. Auch hier erläuterte er das Esra-Nehemianische Mischehengesetz, das in der Diaspora und im Zuge des entstehenden Weltjudentums zunächst aufgeweicht und schließlich sogar pervertiert worden sei.67 Kittels Studium 64
Ebd., S. 42. Das Zitat im Zitat bezog sich auf den dritten Band der Geschichte des Volkes Israels seines Vaters Rudolf Kittel, Stuttgart 1927/29, S. 652–656. 65 Ebd., S. 60f. 66 Ebd., S. 62. 67 Gerhard Kittel, Das Urteil über die Rassenmischung im Judentum und in der biblischen Religion, in: Der Biologe, H. 11, 1937, S. 342–352. Der Beitrag erschien in der Zeitschrift seines Tübinger Kollegen Ernst Lehmann (1880–1957), der in seiner Vorbemer-
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der geschichtlichen Entwicklung des jüdischen Volkes zeitigte ein vierfaches rassenbiologisches, religionsgeschichtliches, theologisches und politisches Ergebnis: Erstens bestätige sich der anthropologische Befund vom jüdischen Rassengemisch, das sich in dem Jahrtausend von Esra bis zum Beginn des Mittelalters formte und das bereits als solches in das Ghetto eintrat. Zweitens ergab Kittels ‚Analyse‘ die für ihn noch wichtigere religionsgeschichtliche Feststellung einer jüdischen Depravationsbildung, die es ihm ermöglichte, das Judentum in zwei Teile aufzuspalten. Das alte Israel und das Volk des Alten Testaments seien nicht einfach mit dem mehr und mehr degenerierenden Diaspora- und Weltjudentum gleichzusetzen, wodurch Kittel „das vermeintliche Judenbuch des Alten Testamentes“ aus der politischen Schusslinie nehmen und an ihm als authentischem christlichen Glaubenszeugnis festhalten konnte. Die „ganz nüchterne geschichtliche Herausarbeitung der biologischen Tatbestände“ führte somit zu dem für Kittels Religionsverständnis elementaren Resultat, dass es sich bei dem Alten Testament um einen weiterhin normativen Text des Christentums handelte, der nicht aufgegeben zu werden brauchte. Zugleich ließ sich alle Kritik am Judentum auf die Depravationserscheinungen der nachexilischen Zeit konzentrieren. Der Blick auf die jüdische Geschichte erweise drittens, dass bereits im alten Volk Israel ein klares Verständnis der Mischehenproblemtik vorhanden war und dass man sich wegen der damit verbundenen Gefahren nicht umsonst dem Einströmen fremden Blutes verschloss. In Anbetracht dieser Tatsache sei klar, dass „eine auf dem biblischen Grund stehende Theologie und Kirche sehr wohl ihrem Volk etwas sagen darf und sagen muß von der aus Gott gesetzten Pflicht zur Reinhaltung des Blutes“. Eine Brücke zur Gegenwart schlagend, verwies Kittel dann auf den Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern Hans Meiser (1881–1956), der schon 1926 eindringlich vor Mischehen zwischen Deutsch-Stämmigen und Juden gewarnt habe. Aus diesem infamen Artikel Meisers im Evangelischen Gemeindeblatt Nürnberg zitierte Kittel die Aussage, wonach Gott einem Volk seine völkische Eigenart und seine rassischen Besonderheiten nicht deswegen gegeben habe, um seine „völkische Prägung in rassisch unterwertige Mischlingsbildungen“ aufgehen zu lassen. Meiser habe ausdrücklich erklärt, dass er auch heute noch voll zum Inhalt seiner damaligen Ausführungen stehe. Die Verwerfung der Ehen zwischen Juden und Christen müsse jenseits aller theologischen Fragen und kirchenpolitischen Kämpfe der Gegenwart allen selbstverständkung schrieb: „Wenn die Judenfrage in so eindeutiger Weise biologisch unterbaut wird, wie das in den folgenden Ausführungen von dem Theologen Kittel geschieht, so kann der Biologe vom Theologen Wesentliches lernen.“ Ebd., S. 342.
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lich sein, die „eine Kirche auf dem Grunde der Heiligen Schrift bejahen“. Viertens konnte Kittel mit Hilfe Meisers ein weiteres Mal die politische Leistung des Dritten Reiches im Kampf gegen die Rassenmischung herausstellen: „Der Nationalsozialismus als Erster hat erneut das Konnubium zwischen Juden und Nichtjuden radikal ausgemerzt. Adolf Hitler hat das deutsche Volk neu gelehrt, an diesem Punkte auf die echten Instinkte [zu] lauschen und gesund [zu] empfinden. Das aber ist keineswegs, was sie draußen, fast in der ganzen Welt über uns sagen, Barbarei, Grausamkeit und Unbill gegen die Juden, sondern es ist erstens eine Rückkehr zu den Normen der Natur und damit zu einer echten und wahrhaften Kultur; und es ist zweitens, wie unsre geschichtlichen Feststellungen unwiderleglich zeigen, der heilsame Zwang für das Assimilationsjudentum, zu seinen eigenen echten Grundlagen und zu deren uralten Gesetzen zurückzukehren.“68
Man fragt sich, wie Kittel nach dem Krieg glauben konnte, dass sich eine derart eindeutige Propaganda für die nationalsozialistische Judenpolitik verheimlichen lassen würde oder gar, sie als ein nur äußerliches Zugeständnis auszugeben, das die Voraussetzung dafür gewesen sei, um von innen her Widerstand gegen das System leisten zu können. Wenn Kittel Anfang 1937 auf einer Tagung des NS-Lehrerbundes erklärte, dass sich der Geist des Talmudjudentums auch hinter den assimilierten Juden verbergen würde und dass nur „sentimentale Weichlichkeit“ heutzutage noch dem Ernst der „Judenfrage“ ausweichen könne, hatten solche Äußerungen einen eminent politischen Charakter und wurden auch in dieser Weise verstanden.69 Bei den Arbeitstagungen der Forschungsabteilung Judenfrage handelte es sich um keine Veranstaltungen akademischer Natur, sondern um parteipolitisch unterstützte und parteipolitisch relevante Symposien. Um die Übereinstimmung mit der Politik des Nationalsozialismus zu unterstreichen, nahmen beispielsweise an der Eröffnung der zweiten Jahrestagung im Mai 1937 der bayerische Reichsstatthalter General Ritter von Epp (1886–1946) und der sächsische Gauleiter, Reichsstatthalter und Ministerpräsident Martin Mutschmann (1879–1950) teil. Den Höhepunkt dieser Konferenz bildete freilich die Rede des als „geschichtsgestaltende Persönlichkeit“ angekündigten Julius Streicher (1885–1946), der einen mehrstündigen Vortrag zum Thema „Mein politischer Kampf gegen das 68
Ebd., S. 350–352. Der Geist des Talmudjudentums. Professor Dr. Kittel spricht auf der Kreistagung des NSLB, in: Tübinger Chronik vom 26.1.1937. Der Schluss lautete: „Was das nationalsozialistische Deutschland mit der Judengesetzgebung getan hat, ist nicht Barbarei, sondern die kühle Folgerung einer nüchternen geschichtlichen Erkenntnis, die die Welt Adolf Hitler noch zu danken haben wird.“ 69
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Judentum“ hielt, in dem er dazu aufrief, das Wissen nicht in den Gelehrtenstuben zu belassen, sondern in das Volk hineinzutragen.70 Um die Reputation der Forschungsabteilung Judenfrage nicht zu beinträchtigen, wurden weder Streichers Auslassungen noch die von Walter Nicolai (1873–1947), zwischen 1913 und 1919 Leiter des Nachrichtendienstes der Obersten Heeresleitung, über den Einfluss der Juden im Ersten Weltkrieg in den Tagungsband aufgenommen. Die politische Relevanz der Münchener Arbeitstagung wird aber auch noch von einer anderen Seite her bestätigt. Unter den Anwesenden befanden sich mit Adolf Eichmann (1906– 1962) und Dieter Wisliceny (1911–1948) auch zwei maßgebliche Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes, die sich auf dem Gebiet des Antisemitismus weiterbilden wollten.71 Hochschullehrer, Politiker und Geheimdienstler saßen also in trauter Eintracht zusammen, um sich über die Lösung der „Judenfrage“ zu verständigen. Kann es ein augenfälligeres Bild für die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Politik geben, als eine Tagung, bei der Kittel, Kuhn, Wundt und Streicher zu den Vortragenden und Eichmann, Epp, Mutschmann und Wisliceny zu den Zuhörern gehörte? Am 5. Februar 1938 fuhren Franz Alfred Six (1909–1975) als Inlandschef des Sicherheitsdienstes und der Leiter der Judenabteilung II/112 Herbert Hagen (1913–1999) persönlich nach München, um sich von Franks Stellvertreter Wilhelm Euler Aufgaben und Funktion der Forschungsabteilung Judenfrage erklären zu lassen. Euler, der die beiden SD-Vertreter durch die Bibliothek führte und ihnen die einzelnen Forschungsprojekte erklärte, regte dabei eine engere Zusammenarbeit und auch einen Bücheraustausch zwischen dem Sicherheitsdienst und dem Reichsinstitut an.72 Auf der nächsten Arbeitstagung im Juli 1938 hielt Kittel offenbar keinen eigenen Vortrag. Der entsprechende Sammelband brachte aber eine 70 Heiber, Walter Frank, S. 618 und Wilhelm Grau in seiner Vorbemerkung zum zweiten Jahresband der Forschungen zur Judenfrage vom 30.9.1937. 71 In einem Aktenvermerk des SD vom 18.4.1937 heißt es, dass wegen der grundsätzlichen Bedeutung der in München gehaltenen Vorträge Eichmann und Wisliceny (der von April bis November 1937 das Judenreferat leitete) die Teilnahme zu ermöglichen sei. BArch, R 58, 565, fol. 17. 72 In den Akten des Reichssicherheitshauptamtes findet sich ein zweieinhalbseitiger Reisebericht Hagens von Mitte Februar 1938 hierüber: R 58, 954, fol. 129–131. Der organisatorische Aufbau des SD zeigt Six 1937/38 als Leiter der Abteilung II (SD-Inland) und der Abteilung II/1 (weltanschauliche Gegner). Der Unterabteilung II/11 stand Erich Ehrlinger vor (zuvor Dieter Wisliceny); sie umfasste die drei Referate II/111–113. In dem von Herbert Hagen geleiteten Judenreferat II/112 arbeitete Adolf Eichmann als Sachbearbeiter für Judenfragen. Im März 1937 stieß Theodor Dannecker zum Judenreferat. Über Ehrlinger und Dannecker bestanden enge Beziehungen nach Tübingen. Siehe dazu das folgende Kapitel.
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Berichtigung seines Beitrages über das Konnubium aus dem Vorjahr. Darin hatte Kittel die halbjüdische Abstammung von Origenes behauptet, was sich jedoch als falsch herausgestellt habe.73 Die dritte Arbeitstagung war auch deswegen wichtig, weil sie eine organisatorische Umstrukturierung mit sich brachte. Nach dem Abgang von Grau wurde die Forschungsabteilung in ein „Hauptreferat Judenfrage“ umgewandelt, dessen Leitung Frank selbst übernahm. Zu seinem Stellvertreter ernannte er Karl Georg Kuhn und brachte damit den gestiegenen Einfluss des jungen Tübinger Forschers zum Ausdruck. Ende 1938 wollte Frank Kuhn sogar zum Leiter der von ihm in Frankfurt geplanten Außenstelle machen.74 Wie Frank im Vorwort zum dritten Band der Forschungen zur Judenfrage schrieb, sah er in der Judenforschung des Reichsinstituts den „Mittelpunkt des Antisemitismus in der deutschen Wissenschaft“, von dem aus er die Erneuerung der Universitäten vorantreiben wollte.75 Auf der vierten und wegen des Krieges dann auch letzten Arbeitstagung, die vom 4. bis 6. Juli 1939 in München stattfand, wandte sich Kittel einem neuen Aspekt der „Judenfrage“ zu: der Erforschung und Interpretation antiker Judenbilder.76 Als Frank im Vorwort des 1940 erschienenen Sammelbandes die „strengwissenschaftliche Arbeit an der Judenfrage“ unter dem Gesichtspunkt ihrer Kriegswichtigkeit erläuterte, wies er besonders auf diese Untersuchungen Kittels hin.77 Die späteren Bände fünf bis neun (1941–1944) gingen nicht auf Konferenzen zurück, sondern enthielten Forschungsbeiträge einzelner Mitglieder. 73 Gerhard Kittel, Die Abstammung der Mutter des Origenes (Die Geschichte eines genealogischen Irrtums), in: Forschungen zur Judenfrage, Bd. 3, Hamburg 1937, S. 235f. 74 Kuhn sei ein ausgezeichneter Talmudist und Kenner der alten Judenfragen und „für den Frankfurter Posten in ganz anderer Weise vorbereitet als Dr. Grau“, zudem Altparteigenosse. Im Gegensatz zu Grau würde Kuhn als sein Vertrauensmann eine enge Zusammenarbeit mit dem Reichsinstitut gewährleisten. Stellungnahme Franks für das Innenministerium vom 9.12.1938, Heiber, Walter Frank, S. 1017. 75 Vorbemerkung Franks vom 29.7.1938, in Forschungen zur Judenfrage, Bd. 3, S. 7f. Das Reichsinstitut sei ein Magnet, der „alles an sich saugt, was eisenhaltig ist in Deutschlands Wissenschaft“. 76 Siehe Gerhard Kittel, Die ältesten jüdischen Bilder. Eine Aufgabe für die wissenschaftliche Gemeinschaftsarbeit und Die ältesten Judenkarikaturen. Die ‚Trierer Terrakotten‘, in: Forschungen zur Judenfrage, Bd. 4, Hamburg 1940, S. 237–249 und S. 250– 259. 77 Ebd., Vorwort Franks vom 29.9.1939. Ludwig Bittner nannte in einer Rezension für die Historische Zeitschrift diesen Band einen wichtigen Schritt zur gesamtwissenschaftlichen Erfassung der Judenfrage, deren Erforschung gerade heute als ein besonderes Verdienst erscheine, „wo wir erkennen müssen, daß die Lösung der Judenfrage im Sinne des Nationalsozialismus die Ausschaltung des gefährlichsten feindlichen Elements aus der Heimatfront und damit auch den Sieg sichert“. Historische Zeitschrift 164, 1941, S. 110–113, das Zitat S. 110.
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Kriegsbedingt konnten die Manuskripte des zehnten und des bereits in Bearbeitung befindlichen elften Bandes nicht mehr gedruckt werden.78 Der laut Heiber im März 1944 ausgelieferte siebte Band wurde allein von Kittel und dem Berliner Anthropologen und Rassenhygieniker Eugen Fischer (1874–1967) bestritten.79 Der von Kittel an die Forschungsabteilung Judenfrage vermittelte Günter Schlichting (1911–1989) übernahm dort die Aufgabe, eine judenkundliche Fachbibliothek aufzubauen. Schlichting stammte aus dem bei Danzig gelegenen Zoppot (Sopot) und trat bereits als junger Student am 1. August 1930 in die NSDAP ein.80 Er sei ein typischer Auslandsdeutscher gewesen und habe sich durch eine besonders nazistische Einstellung hervorgetan.81 Schlichting studierte von 1930–1934 evangelische Theologie an der Theologischen Schule in Bethel und an den Universitäten in Königsberg und Tübingen. 1936 promovierte er bei Kittel mit einer Arbeit über den Toseftatraktat Pea.82 Als Kittels Assistent arbeitete Schlichting auch am Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament mit. Vom 1. Oktober 1934 bis zum 31. März 1936 leitete er mit der Bibliothek der Evanglisch-theologischen Fakultät die größte Seminarbibliothek der Universität Tübingen. Danach arbeitete er dreizehn Monate als Vikar und Verweser einer Pfarrstelle in Danzig bei der Evangelischen Landeskirche der altpreußischen Union und parallel dazu als Bibliothekar an der Bibliothek des Konsistoriums in Danzig. Am 29. März 1937 wurde er in Danzig ordiniert, doch wegen seiner Tätigkeit für die Forschungsabteilung Judenfrage zum Zwecke der wissenschaftlichen Arbeit aus dem unmittelbaren in den mittelbaren Kirchendienst beurlaubt und dem Dekanat in München zugewiesen. Nachdem ihn die Evangelisch-Lutherische Landeskirche in Bayern endgültig in ihren 78
Heiber, Walter Frank, S. 460f. Fälschlicherweise schreibt Heiber, dass auch Band 9 nicht erschienen sei. Ein Exemplar, vermutlich aus dem Besitz Kittels, befindet sich in der Seminarbibliothek der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen. 79 Eugen Fischer und Gerhard Kittel, Das antike Weltjudentum. Tatsachen, Bilder, Texte, Hamburg 1943 (Forschungen zur Judenfrage, Bd. 7). 80 Siehe zu Schlichting seine BDC-Akten, die Personalunterlagen im Bestand des Reichsinstituts (BArch, R 1, Nr. 63, fol. 37ff.) und den seiner Dissertation beigegebenen Lebenslauf. 81 So Wilhelm Euler (der als Genealoge in der Forschungsabteilung Judenfrage eng mit Schlichting zusammengearbeitet hatte) bei seiner Befragung durch Helmut Heiber am 26. und 27.11.1959: Institut für Zeitgeschichte, Zeugenschrifttum, Nr. 1872. Zoppot gehörte von 1871–1920 zum Deutschen Reich und von 1920–1939 zur Freien Stadt Danzig, bevor es im September 1939 „heimgeholt“ wurde. 82 Günter Schlichting, Der Toseftatraktat Pea. Text, Übersetzung, Anmerkungen, Diss. theol., Tübingen 1936.
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Dienst aufgenommen hatte, heiratete Schlichting im September 1938. Seine Arbeit in der Forschungsabteilung Judenfrage begann am 1. Juli 1937. Abgesehen von Walter Frank und drei Sekretärinnen war Schlichting der einzige hauptamtlich Angestellte des Reichsinstituts. Seine Hauptaufgabe bestand im Aufbau einer „Spezialbibliothek zur Judenfrage“, für die er aufgrund seiner Sprachkenntnisse besonders qualifiziert erschien.83 Neben seiner bibliothekarischen Arbeit übernahm Schlichting mit Wilhelm Euler zusammen auch die Zeitschriftensammlung, bei der von überall her Nachrichten und Informationen über die „Judenfrage“ zusammengetragen wurden. Dabei wurde auch ein regelmäßiger Kontakt mit dem Stürmer gepflegt.84 Für die Historische Zeitschrift schrieb Schlichting 1940 einen Artikel über den Aufbau und die Funktion der von ihm geleiteten Bibliothek.85 Es handle sich bei ihr um keine herkömmliche judaistische Fachbibliothek, bei der Bücher oftmals nach jüdischen Kriterien und sogar von jüdischen Bibliothekaren gesammelt würden. Vielmehr werde der Bibliotheksaufbau von dem übergeordneten und nach nationalsozialistischen Kriterien definierten Gesichtspunkt der „Judenfrage“ geleitet. Von daher würden nicht beliebig judaistische Bücher angeschafft, sondern nur solche, die einen Zusammenhang mit der „Judenfrage“ aufwiesen. Hier aber sei von Anfang an Vollständigkeit angestrebt worden. „Ein arischer Freudschüler war dabei genau so zu erfassen wie die Werke von Mischlingen wie Klaus und Erika Mann oder das Wirken Hilferdings.“86 Wichtige Sammelschwerpunkte seien die Biographien von Juden, Ortsgeschichten, die Kriminalität der Juden, die Juden im Weltkrieg, die Ritualmordfrage und insbesondere das Talmudjudentum. Die besten Stücke seiner Bibliothek aufzählend, nannte Schlichting
83 Ein Gutachten des Gaupersonalamts nannte am 28.3.1941 neben Englisch, Französisch und Italienisch insbesondere Hebräisch, Neuhebräisch, Aramäisch und Jiddisch. Die Stellungnahme erfolgte auf Anfrage der NSDAP-Gauleitung München Oberbayern und stand im Zusammenhang eines möglichen Einsatzes als Dolmetscher. Gelobt wurde außerdem Schlichtings einwandfreie politische Haltung. Er gehöre dem SA-Sturm 5/6 an sowie dem NS-Lehrerbund und der Deutschen Arbeitsfront. BArch Berlin, BDC Schlichting. 84 Die umfängliche Sammlung befindet sich jetzt im Institut für Zeitgeschichte; siehe auch Papen-Bodek, Judenforschung und Judenverfolgung, S. 224f. 85 Günter Schlichting, Eine Fachbibliothek zur Judenfrage. Die Münchener Bibliothek des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands, in: Historische Zeitschrift 162, 1940, S. 567–572. 86 Ebd., S. 568.
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„frühe Drucke und wissenschaftliche Ausgaben beider Talmude, außerkanonische Talmudtraktate, ferner Mischna, Tosefta, Midraschim, Targumim. Dazu gehören die mittelalterlichen und neueren Kompendien, wie Maimonides’ Jad Hazaka, Aschers Arba Turim, Karo-Isserles’ Schulchan Aruch (hier ist der noch unzensierte Erstdruck, Venedig 1565 vorhanden), aber auch die Responsen einflussreicher Rabbiner, die oft von weittragender politischer Bedeutung waren. Das Hauptwerk der Kabbala, der Sohar, ist im Erstdruck (Mantua 1558) vorhanden. Ebenso wurde die für die neuere Entwicklung des Ostjudentums, für Chassidismus und Haskala, für die Frankisten, die Karäer und besonders für die Pogrome einschlägige Literatur, meist in neuhebräischer und jiddischer Sprache gesammelt.“87
Weil man besonderes Gewicht auf das Talmudjudentum lege, habe man auch die Berichte und Gutachten der Talmudprozesse in der jüngeren Vergangenheit angeschafft. Der Zionismus, Marxismus und das Freimaurertum durften im Bibliotheksbestand freilich ebenso wenig fehlen wie die „jüdischen Parteiführer des 19. Jahrhunderts (Stahl, Lasker, Bamberger, Marx, Lassalle usw.)“ und das Feld der Emigrantenliteratur. Auch habe man angefangen, die einschlägigen Bestände der großen deutschen Bibliotheken zu erfassen und zu katalogisieren. Mit der Bayerischen Staatsbibliothek, deren Generaldirektor Rudolf Buttmann (1885–1947) dem Sachverständigenbeirat der Forschungsabteilung Judenfrage angehörte, sei bereits der Anfang gemacht worden. Man sei dabei, eine dem speziellen Anliegen der Bibliothek angepasste neue Systematik zu entwerfen. Parallel zum Bibliotheksaufbau sei außerdem ein genealogisches Forschungsunternehmen in Angriff genommen worden, um die jüdische Urheberschaft von Büchern zu eruieren. Jeder, der über Fragen des Judentums arbeite, stehe vor dem Problem, dass er oft nicht wisse, ob „ein Verfasser, Herausgeber, Mitarbeiter usw. Jude, Judenstämmling oder jüdisch versippt“ sei. Ungeachtet der Tatsache, dass die Bibliothek noch nicht für die öffentliche Benutzung freigegeben wurde, werde sie bereits jetzt von Männern der Politik, aber auch von Wissenschaftlern, Studenten und Journalisten intensiv genutzt.88 Belief sich der Bibliotheksbestand am Anfang auf 300 Bände, kamen bis zum Sommer 1940 weitere 20.000 Bände hinzu, Dubletten nicht einge-
87 Ebd. Den Zohar hatte Schlichting mit Hilfe der Auslandsschriftleitung des Stürmers aus der Schweiz herausgeschmuggelt. Heiber, Walter Frank, S. 437. 88 Ebd., S 569. Papen-Bodek berichtet von einer Presseanweisung des Reichspressechefs vom 14.1.1939, die Journalisten aufforderte, in der Münchener Bibliothek zu recherchieren und deren „reichhaltiges Material zur Judenfrage“ zu verwerten. Papen-Bodek, Judenforschung und Judenverfolgung, S. 226.
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rechnet. Bis Kriegsende wuchs die Bibliothek auf etwa 35.000 Bücher an.89 In einem internen Bericht über den Bibliotheksaufbau sprach Schlichting von seiner Bibliothek als einer „scharf geschliffenen Waffe“ in den Händen der nationalsozialistischen Wissenschaft.90 Dieser Bericht war offenbar für das Propagandaministerium gedacht, bei dem sich Frank ungeniert um beschlagnahmte Literatur aus den Beständen jüdischer Institutionen bemühte.91 Bei den von Schlichting so vollmundig beschriebenen Rara handelte sich um außerordentlich wertvolle mittelalterliche Handschriften und um Inkunabeln, die bis zum 15. Jahrhundert zurück reichten. Schlichting verfügte etwa über eine deutsche Handschrift aus dem Jahr 1491 von Bernhardus Ditterichs Buch von der Juden Irrung, eine Inkunabel von Paulus von Burgos, Dialogus contra Judeos (Rom 1470), den Tractatus de judeorum et christianorum communione et conversatione (Straßburg 1472), Peter Schwarz, Der Stern Messiah (Esslingen 1477), Alexander de Nevo, Contra Judeos foenerantes (Venedig 1479), Nikolaus von Lyra, Pulcherrime questiones Judaicam perfidiam in catholica fide improbantes (Venedig 1482), Bücher, die oft nicht einmal in der Frankfurter Hebraicasammlung zu finden waren, geschweige denn über den normalen Buchhandel bezogen werden konnten. Schriften zur Reuchlinistenfehde, frühe Drucke über den Tridentiner Ritualmord (Augsburg 1514) und viele weitere Preziosen ergänzten das Programm. Allein von der Art und vom Umfang des Buchbestandes her ist ausgeschlossen, dass die Akquisition immer auf dem Weg legaler Ankäufe erfolgte. Zudem trugen manche Bücher, die nach dem Krieg noch aufgefunden wurden, Exlibrisstempel ihrer jüdischen Vorbesitzer. Hatte Schlichting in seinem internen Bericht vom 2. September 1939 von 10.000 Büchern gesprochen, nannte er in der publizierten Fassung die doppelte Bestandsgröße von 20.000 Bänden. Ganz offensichtlich wurde die „günstige Gelegenheit“ in Polen zur Vergrößerung der Bibliothek genutzt.92 Dass 89
Sven Kuttner, Geraubte Bücher. Jüdische Provenienzen im Restbestand der Bibliothek der ‚Forschungsabteilung Judenfrage‘ in der Bibliothek des Historicums der UB München, in: Bibliotheksdienst 37, 2003, S. 1060 und Heiber, Walter Frank, S. 38. 90 Günter Schlichting, Die Münchener Bibliothek zur Judenfrage vom 2.9.1939, BArch R 49.01, 2595, fol. 63–68, das Zitat fol. 63. „Wie das Reichsinstitut eine Waffenschmiede, so ist seine Münchener Bibliothek zur Judenfrage das Arsenal, das in immer weiterem Aufbau begriffen, doch schon jetzt für den Einsatz der nationalsozialistischen Wissenschaft im Lebenskampf des deutschen Volkes jederzeit bereit steht.“ Ebd., fol. 68. 91 Besonders abgesehen hatte es Frank auf die Bestände der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums und des Breslauer jüdisch-theologischen Seminars, aber auch auf die Bibliothek des 1935 geschlossenen Institutum Judaicum Delitzschianum in Leipzig. Heiber, Walter Frank, S. 437. 92 Wie Patricia von Papen-Bodek nach aufwändigen Provenienzforschungen herausfand, war neben vielen anderen ausgeplünderten Bibliotheken auch die des Warschau-
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Kuhns „Studienreise“ nach Warschau im Mai 1940 auch der Vergrößerung der Münchener Bibliothek diente, kann als sicher angenommen werden. Schlichting selbst hatte sich nach 1945 einem Gerichtsverfahren zu stellen, bei dem es um die Rechtmäßigkeit eines von ihm bei dem Amsterdamer Antiquar Louis Lamm erworbenen Buches ging. Es handelte sich dabei um ein Exemplar der sehr seltenen mittelalterlichen jüdischen Schmähschrift Toledot Jeschu, die Schlichting 1942/43 bei einem Fronturlaub zu übersetzen begann, weil er sie für das Reichsinstitut in antisemitischer Absicht neu herausgeben wollte.93 Bereits vor dem Krieg hatte der Anschluss Österreichs die Möglichkeit mit sich gebracht, auf extralegalem Wege an jüdische Bücher heranzukommen. Schlichting erhielt beispielsweise Zugänge von der Bücherstelle Wien, die zwischen 1938 und 1940 sichergestellte Literatur aller Art sammelte, um sie dann im Auftrag des Reichspropagandaamtes weiterzuverkaufen, weiterzuverschenken oder zu vernichten.94 Auch der Generaldirektor der Österreichischen Nationalbibliothek Paul Heigl (1887–1945) unterstützte den Bestandsaufbau in München aus beschlagnahmten österreichischen Bibliotheken. Heigl, der kurz vorher in den Sachverständigenbeirat der Forschungsabteilung Judenfrage aufgenommen worden war, hatte im Juli 1938 an ihrer dritten Arbeitstagung teilgenommen und dabei Frank die zu erwartenden „Geschenke“ angekündigt. Frank musste aber versprechen, den Zuwachs geheim zu halten und nur zuverlässige Wissenschaftler, die er selbst ausgewählt hatte, mit ihnen arbeiten zu lassen.95 Zu den ersten Sendungen aus Wien gehörten Bücher, die dem Internationalen Psychoanalytischen Verlag Sigmund Freuds entstammten.96 Heigl besaß „Massen von geraubten Judaica und Hebraica“, die er in großzügiger Weise verteilte. Nach den Akten der bei der Nationalbibliothek angesiedelten Internationalen Austauschstelle ging etwa am 5. Dezember 1940 eine Kiste mit 130 Kilogramm hebraistischen Büchern nach München ab.97 Schlichting war aber nicht untätig und ergriff auch selbst die Initiative. So er Professors Moshe Schorr dazu bestimmt, den Bestand der Münchener Fachbibliothek zu vermehren. Siehe dies., Judenforschung und Judenverfolgung, S. 229. 93 Helmut Heiber, Walter Frank, S. 441. Schlichting war am 1.8.1941 eingezogen worden und fand 1941/42 in Afrika und 1943–1945 in Italien Verwendung. 94 Siehe Evelyn Adunka, Der Raub der Bücher. Plünderungen in der NS-Zeit und Restitution nach 1945, Wien 2002, S. 86–88 und Murray G. Hall und Christina Köstner, Hg., ‚...Allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern...‘. Eine österreichische Institution in der NS-Zeit, Wien 2006, S. 99. Auch die Universitätsbibliotheken des Altreichs schöpften aus dieser Quelle. 95 Hall und Köstner, ‚...Allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern...‘, S. 226. 96 Papen-Bodek, Judenforschung und Judenverfolgung, S. 225. 97 Hall und Köstner, ‚...Allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern...‘, S. 226f.
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wandte er sich am 10. Februar 1940 an das Ministerium für Innere und Kulturelle Angelegenheiten in Wien und bat um die Überlassung von etwa 100 Bänden „der seinerzeit sichergestellten und gegenwärtig im Landesmuseum in Eisenstadt aufbewahrten Hebraica“. Auf die Wichtigkeit seines Anliegens hinweisend, schrieb er: „Das Reichsinstitut, das unter anderem den vom Führer genehmigten Auftrag hat, die größte europäische Fachbibliothek zur Judenfrage aufzubauen, ist mit Kriegsbeginn vom Reichswissenschaftsministerium im Einvernehmen mit dem GBV [Generalbevollmächtigten, H.J.] zur Bedarfsstelle erster Ordnung erklärt worden und hat seine Bücherbestände zu kriegswichtigen Informationen für die zuständigen Stellen auszuwerten.“
Die von ihm gewünschten Bücher würden im wesentlichen der Zeit zwischen 1700 und 1900 entstammen und seien an Ort und Stelle „von uns“ bereits fachmännisch geprüft worden. Sie befänden sich in den HebraicaBeständen „aus den Gemeinden Lackenbach, Kittsee und Frauenkirchen“. „Da ihre Auswertung für Kriegsforschungsaufträge, sowie für Presse und Rundfunk durch das Reichsinstitut noch während des Krieges erfolgen soll, und da sie andererseits durch die Aufbewahrung im feuchtkalten Keller zu Eisenstadt schon bisher angeschimmelt sind und bei längerem Zuwarten Gefahr laufen, völlig zu verderben, würde mit einer baldigen Überlassung der Bücher ebenso dem Interesse der Erhaltung der Bücher – die teilweise bereits auseinanderfallenden Exemplare würden bei uns sofort aus Reichsmitteln gebunden werden – wie dem Reichsinstitut und seiner kriegswichtigen Arbeit dienen.“98
Schlichting zeigte sich hier nicht nur bestens über die „Sicherstellungen“ im Burgenland informiert. Er hatte sich offensichtlich auch selbst nach Eisenstadt begeben, um sich von der Art und Qualität des Diebesgutes zu überzeugen. Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass Schlichting nicht nur indirekt vom Bücherraub in Österreich profitierte, sondern aktiv an ihm teilnahm. In Wien stand die Forschungsabteilung Judenfrage außerdem in Kontakt mit dem österreichischen Reichsarchiv, dessen Direktor Ludwig Bittner (1877–1945) ebenfalls ihrem Sachverständigenbeirat angehörte. Schlichting schrieb Bittner am 30. Januar 1940 und erbat Kopien der Akten zum Bloch-Rohling-Prozess.99 Dabei handelte es sich um einen Rechts98
Schreiben Schlichtings an das Ministerium für Innere und Kulturelle Angelegenheiten in Wien vom 10.2.1940, ebd. 99 Schreiben Schlichtings an Bittner vom 30.1.1940, Archiv der Republik Österreich, Kurrentakten des Haus-, Hof- und Staatsarchivs Z/40, zitiert bei Papen-Bodek, Judenforschung und Judenverfolgung, S. 230.
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streit der 1880er Jahre zwischen dem jüdischen Reichsratsabgeordneten Joseph Samuel Bloch (1850–1923) und dem katholischen Theologen August Rohling (1839–1923) wegen der von Rohling verbreiteten Ritualmordlegende. Dass sich Schlichting dafür besonders interessierte, lag zum einen an dem diesbezüglichen Sammelschwerpunkt der Münchener Bibliothek. Zum andern bereitete Karl Georg Kuhn just in dieser Zeit ein Buch über den jüdischen Ritualmord vor. Die Zusammenarbeit zwischen dem Münchener Reichsinstitut und dem Wiener Reichsarchiv muss aber auch im größeren Kontext der in Angriff genommenen Erschließung aller Judenakten im gesamten Reichsgebiet gesehen werden. Die Forschungsabteilung Judenfrage hatte angefangen, eine „Gesamtübersicht über die Judaica-Bestände aller deutschen Archive“ zu erstellen und über einen Runderlass am 18. Januar 1937 die zuständigen Archive davon in Kenntnis setzen lassen, dass sie entsprechende Auszüge aus ihren Findmitteln und Inventarlisten anfertigen sollten. Der Generaldirektor der Preußischen Archive und Direktor des Reichsarchivs in Potsdam Ernst Zipfel (1891–1966) hatte sich im Oktober 1937 eigens mit Frank und Grau getroffen, um die weitere Vorgehensweise abzusprechen.100 Im Juli 1938 wurde Zipfel Mitglied im Sachverständigenbeirat der Forschungsabteilung Judenfrage. Mit einem ähnlich umfangreichen Englandartikel, wie ihn Kittel für die Historische Zeitschrift geschrieben hatte, leistete Schlichting in den Forschungen zur Judenfrage seinen Beitrag für die deutsche Kriegspropaganda.101 Wie Kittel machte auch Schlichting eine bestimmte religiöse Konstellation auf der britischen Insel für Englands Missachtung deutscher Interessen verantwortlich. Bereits im Ersten Weltkrieg sei Deutschland von der englischen Propaganda zu einer satanischen Macht erklärt worden, an der das Gericht Gottes zu vollziehen sei. Nachdem sich das Deutsche Reich nun anschicke, die „Judenfrage“ einer Klärung zuzuführen, sei der durch den Angloisraelismus geschürte Hass auf Deutschland noch stärker geworden.102 Wesentlich theologischer argumentierend als Kittel, erklärte Schlichting, dass „ein immer hemmungsloseres Judaisieren“ gerade dann die Folge zu sein pflege, wenn das Alte Testament „ohne Vermittlung des Neuen Testaments unter Behauptung der Verbalinspiration und ebenso entschiedener Ablehnung jeder wissenschaftlichen Kritik“ zur eigentlichen Quelle des Glaubens gemacht und unmittelbar auf die Ge-
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Papen-Bodek, Judenforschung und Judenverfolgung, S. 227. Günter Schlichting, Die British Israel-Bewegung, in: Forschungen zur Judenfrage, Bd. 6, Hamburg 1941, S. 42–103. 102 Ebd., S. 61, S. 79 und S. 91f. 101
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genwart bezogen werde.103 Hatte Kittel die Idee des „Inselpharisäsismus“ in den Vordergrund gerückt, so Schlichting die des Angloisraelismus oder der British-Israel-Bewegung, die England für einen Abkömmling des alten Israel hielt. In beiden Fällen kam die Interpretation zu dem gleichen Ergebnis, dass nämlich eine englisch-jüdische Interessengemeinschaft das Inselreich zum erbitterten Gegner Deutschlands werden ließ. Auch für Schlichting war das englische Weltherrschaftsdenken jüdisch bestimmt.104 Bei der Darstellung der Legenden, die bei einem Teil der englischen Christen die Vorstellung hervorbrachte, Nachfahre der zehn verlorenen Stämme Israels zu sein, griff Schlichting auch auf das Entdeckte Judenthum Johann Andreas Eisenmengers (1654–1704) zurück, das er ein „bis heute grundlegendes Werk“ nannte.105 Die eigentliche Funktion der British-Israel-Bewegung sah Schlichting darin, die englische Christenheit zu politisieren und zu „begeisterten Willensträgern des britischen Imperialismus“ zu machen. Dabei werde nicht nur die Bibel gewaltsam uminterpretiert, sondern auch Gott zur Bestätigung der englischen Weltherrschaftsinteressen in Anspruch genommen. Eine solche Gotteslästerung, vor der schon Luther im Blick auf die Kurie zu Tode erschrocken sei, proklamiere zwar Englands Unbesiegbarkeit, werde aber „an der einzigen Antwort zerbrechen, die wir darauf zu geben haben, am deutschen Sieg“.106 Für die am 22. Dezember 1939 in München eröffnete Wanderausstellung des Propagandaministeriums „Raubstaat England“ hatte die Forschungsabteilung Judenfrage nicht nur Bildmaterial zur Verfügung gestellt. Mit Schlichting und Wilhelm Ziegler hielten auch zwei ihrer Mitarbeiter öffentliche Vorträge, um die deutsche Kampfmoral zu stärken und die Kriegsschuld Englands auf das geheime Wirken der Juden zurückzuführen.107 Der konfessionelle Gegensatz zwischen der Forschungsabteilung Judenfrage in München und dem Institut zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt tritt im Vergleich zwischen Günter Schlichting und seinem katholischen Widerpart in Frankfurt, Johannes Pohl (1904–1960), besonders
103
Ebd., S. 85. Ebd., S. 54, S. 56 und S. 87. Das gemeinsame Auftreten von englischen Kirchenfürsten und Rabbinern gegen die deutsche Judengesetzgebung sei ein deutliches Zeichen für die Interessenkoalition der beiden Feinde Deutschlands. Ebd., S. 82. 105 Ebd., S. 50. 106 Ebd., S. 97. 107 Siehe zu der Ausstellung Christoph Kivelitz, Die Propagandaausstellung in europäischen Diktaturen, Bochum 1999, S. 227f. und S. 561f. Das Vortragsthema Schlichtings lautete „Jüdische Moral und Britentum“. Heiber, Walter Frank, S. 631. 104
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hervor.108 Pohl leitete dort seit dem 1. April 1940 die Hebraica-Sammlung der Bibliothek, der wiederum, wie dem Institut insgesamt, der überzeugte Katholik Wilhelm Grau vorstand. Walter Frank sprach deswegen von einer „widernatürlichen Koalition“ zwischen Rosenberg und Grau, „zwischen dem schärfsten Kirchen- und Rom-Gegner der NSDAP und einem katholischen Beicht- und Betkind“.109 Anfang Februar 1940 hatte Frank Schlichting in geheimer Mission nach Frankfurt geschickt, um dort zu erkunden, wie weit die Pläne der Konkurrenz bereits gediehen waren. Dummerweise flog Schlichtings Unternehmen auf und führte zu entsprechend heftigen Reaktionen auf der Seite Rosenbergs.110 Der gegenseitige Vorwurf konfessioneller Gebundenheit war in München wie in Frankfurt nicht ohne Berechtigung. Noch deutlicher als Grau repräsentierte Johannes Pohl das katholische Element in der judenkundlichen Arbeit des Frankfurter Instituts. Pohl war 1927 in Köln zum Priester geweiht und 1929 an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn promoviert worden. Danach hatte er am Päpstlichen Bibelinstitut in Rom gearbeitet. 1934 erhielt Pohl eine Anstellung als Bibliothekar an der Preußischen Staatsbibliothek, wo er zugleich Referent für Hebraica und Judaica wurde. Im Rahmen des Einsatzstabes des Reichsleiters Rosenberg (ERR) beteiligte sich Pohl 1941 am Bücherraub in Griechenland.111 1942 verlagerte sich sein Einsatzort auf die „unter Zivilverwaltung stehenden besetzten Ostgebiete“, wo die Mitarbeiter Rosenbergs noch wesentlich rücksichtsloser vorgingen.112 Die Zahl der in Wilna, Kiew, Minsk und in anderen Städten geraubten Bücher ging in die Hunderttausende. In einem für Alfred Rosen108 Siehe zu Pohl die ausführliche Studie von Maria Kühn-Ludewig, Johannes Pohl (1904–1960). Judaist und Bibliothekar im Dienste Rosenbergs. Eine biographische Dokumentation, Hannover 2000. 109 Brief Franks an Karl Richard Ganzer am 21.2.1940, zitiert bei Heiber, Walter Frank, S. 1012. 110 Als Rosenberg am 12.9.1941 ein Verfahren gegen Frank beantragte, schrieb er über Schlichtings Informationsreise vom 3.2.1941: „Dieses Vorgehen von Frank ist eine Spitzelei übelster Sorte und richtet sich gegen eine Einrichtung der Reichsleitung der NSDAP. Herr Dr. Schlichting ist übrigens ein Mann der Bekenntnisfront. Er und noch andere Herren des Reichsinstituts beweisen, daß Herr Walter Frank immer noch konfessionell gebundene Kräfte verwendet und also er am allerwenigsten die Berechtigung besitzt, es jemandem zum Vorwurf zu machen, daß er früher konfessionell gebunden war.“ BArch, NS 8, Nr. 186, fol. 92–102, hier fol. 99f. 111 Kühn-Ludewig, Johannes Pohl, S. 153. In Griechenland spielte auch die Sicherstellung archivalischer Dokumenten eine wichtige Rolle. Es gab spezielle Einsatzstäbe für Religionswissenschaft (Leiter: Anton Deindl), Athos (Franz Doelger), Griechische Altertumskunde (Richard Harder), Vorgeschichte (Hans Reinerth) und Bibliotheksforschung (Theodor Buheitel). Ebd. 112 Siehe dazu ausführlich Kühn-Ludewig, Johannes Pohl, S. 181–196 und S. 224–229.
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berg geschriebenen Bericht bezifferte Pohl am 29. April 1943 die ERR-Beute aus jüdischem Besitz auf ca. 550.000 Bände.113 Zusätzlich zu den im Ausland sichergestellten Beständen erhielt das Institut zur Erforschung der Judenfrage aber auch Bücher aus Lieferungen deutscher Finanzämter, die das Vermögen der deportierten Juden verwalteten. Diese immensen Zugänge aufzunehmen, stellte die Bibliotheksmitarbeiter in Frankfurt vor eine fast unlösbare Aufgabe. Wie Pohl in seinem Bericht deshalb zugeben musste, hätte man von den bislang in Frankfurt angekommenen 300.000 Büchern erst die Hälfte ausgepackt, von denen wiederum nur etwa 20 Prozent (knapp 28.000) schon katalogisiert worden seien.114 Da sich aber auch andere Instanzen an den Bibliotheksplünderungen beteiligten und weil nicht wenige Bücher vor Ort vernichtet wurden, lag die Gesamtzahl der geraubten Bücher in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten östlich, südlich und westlich der deutschen Landesgrenzen weit über der halben Million, die Pohl in seinem Bericht im April 1943 genannt hatte. Pohls theoretischer Schwerpunkt lag in der Tradition Rohlings und Eisenmengers auf dem Talmud, über den er eine Vielzahl kleinerer Artikel, etwa im Stürmer, veröffentlichte. Zu seinen Aufgaben in Frankfurt gehörte unter anderem die Erstellung eines Talmudlexikons. Allerdings bewegten sich Pohls wissenschaftliche Fähigkeiten nicht auf gleicher Höhe mit seinen Ambitionen, was selbst Rosenberg auffiel, der ihn des Öfteren ermahnte, besser und genauer zu arbeiten. Noch während seiner Tätigkeit bei der Preußischen Staatsbibliothek hatte Pohl im Frühsommer 1939 den Versuch unternommen, sich an der Universität Berlin für Talmudistik zu habilitieren. Der Dekan der Philosophischen Fakultät, der Germanist Franz Koch (1888–1969), fragte am 17. Juli 1939 deshalb bei Gerhard Kittel wegen eines Gutachtens an, das dieser am 8. November 1939 von Wien aus nach Berlin schickte.115 Dass Kittel die von Pohl eingereichte Arbeit über die katholische Talmudzensur als ungenügend bewerten würde, stand von vornherein zu erwarten und war, nimmt man Pohls sonstigen Arbeiten als Vergleichsmaßstab, auch durchaus berechtigt. Pohl hätte sich zwar einem wichtigen Thema zugewandt, doch es werde von ihm in einer Art und Weise abgehandelt, die den Ansprüchen einer Habilitation auf keinen Fall genügen würde. Wie Kittel weiter ausführte, fehle es Pohl nicht nur am 113 Ebd., S. 228 und Anja Heuß, Kunst- und Kulturraub. Eine vergleichende Studien zur Besatzungspolitik der Nationalsozialisten in Frankreich und der Sowjetunion, Heidelberg 2000, S. 173f. 114 Kühn-Ludewig, Johannes Pohl, S. 228. 115 Ebd. S. 105–113, nach Pohls Personalakte im Archiv der Humboldt Universität. Da Koch ebenfalls dem Sachverständigenbeirat der Forschungsabteilung Judenfrage angehörte, stand Pohls Anfrage unter keinem guten Stern.
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historischen Grundverständnis, sondern auch an den für sein Thema notwendigen Talmud- und Hebräischkenntnissen. Das führe dazu, dass sich Pohl oft in Abhängigkeit von den Sekundärquellen, etwa der Talmudübersetzung „des Juden Lazarus Goldschmidt“, begeben müsse.116 Auch das Zweitgutachten des protestantischen Alttestamentlers Johannes Hempel (1891–1964) sowie die Voten der beiden Orientalisten Hans Heinrich Schaeder und Richard Hartmann kamen zu einem ähnlich negativen Urteil. Pohls Habilitationsvorhaben hatte nicht die mindeste Chance, realisiert zu werden. Für eine seriöse akademische Lehrtätigkeit fehlten bei ihm schlichtweg die Voraussetzungen. Auch bei der Frage der Besetzung eines judenkundlichen Lehrstuhls an der Reichsuniversität Posen fiel die Bewertung eindeutig negativ aus.117 Zudem hatte mit Karl Georg Kuhn ein wissenschaftlich ganz anders ausgewiesener Talmudexperte Anfang 1939 in Berlin einen viel beachteten Vortrag gehalten, der den Unterschied zwischen einer wissenschaftlichen und einer unwissenschaftlichen Talmudforschung deutlich machte. Nicht umsonst stellten Hartmann und Schaeder im Juni 1939 den Antrag, eine Professur zum Studium der „Judenfrage“ einzurichten und mit Kuhn zu besetzen. Wie eng in der Forschungsabteilung Judenfrage Theorie und Praxis miteinander zusammenhingen, veranschaulicht ihre Beteiligung an der Ausstellung „Der ewige Jude“, die das Propagandaministerium vom 8. November 1937 bis zum 31. Januar 1938 im Bibliotheksbau des Deutschen Museums in München durchführte. Die Propagandaschau wurde am 8. November von Goebbels persönlich eröffnet, wobei er in seiner Ansprache die wissenschaftliche Grundlage des Gezeigten betonte. Man habe großen Wert darauf gelegt, keine demagogische oder in einem üblen Sinn propagandistische Schau aufzuziehen, „wir haben alles, was wir zu sagen haben, wissenschaftlich belegt und untermauert“.118 Die Menschen wären sicherlich nicht in so großer Zahl in die Ausstellung geströmt, wenn sie das Gefühl gehabt hätten, dass es sich dabei um eine bloße Propagandaangele116
Ebd., S. 110. Auf eine Anfrage des Reichserziehungsministeriums im April 1941 antwortete Alfred Baeumler für das Amt Rosenberg, dass Pohl als wissenschaftlich ungenügend eingestuft werde und deshalb als Dozent an der Universität Berlin nicht zugelassen worden sei. „Einen Lehrstuhl für Geschichte und Sprache des Judentums kann Pohl nicht übernehmen.“ Kühn-Ludewig, Johannes Pohl, S. 115. 118 So Goebbels nach dem Bericht in den Münchener Neuesten Nachrichten vom 9.11.1937, zitiert bei Brigitte Zuber, Großmachttraum im Andachtsraum. Welche Ausstellungen Münchner Schülerinnen und Schüler 1933–1943 klassenweise besuchten, in: Einsichten und Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte 2, 2009, S. 128–146, auch http://www. km.bayern.de (zuletzt eingesehen am 13.12.2009). 117
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genheit und nicht um das wirkliche Bild des Juden handelte, das sie zu sehen bekamen. Allein in den ersten drei Monaten kamen weit über 400.000 Zuschauer.119 Sowohl das „hauseigene“ Institut zum Studium der Judenfrage als auch die Münchener Forschungsabteilung Judenfrage waren an der Vorbereitung beteiligt und stellten Material zur Verfügung, das zum Teil aus jüdischem Besitz stammte.120 Kittel selbst bekundete Anfang 1939, dass er für die Ausstellung „geeignete Wandsprüche über die Juden aus der antiken Literatur“ ausgesucht habe.121 Seine Mitwirkung an der Propagandaschau „Der ewige Jude“ beinhaltete aber auch die Auswahl antiker Judenkarikaturen, die in der Ausstellung eine Rolle spielten und mit denen er sich in dieser Zeit intensiv beschäftigte. Es handelte sich dabei vor allem um Terrakottafiguren aus dem Rheinischen Landesmuseum in Trier. Genau die gleiche „Judenfratze“ aus diesem Trierer Bestand, die Kittel in seinen Publikationen verwendete, wurde auch in der Ausstellung gezeigt und diente einem Vorabbericht des Völkische Beobachters sogar als Aufhänger.122 Im Januar 1938 würdigte der Völkische Beobachter in einem weiteren Bericht die Ausstellungskonzeption und lobte die abwechselnde Darstellung von Schrecken verbreitenden Bildern und lächerlich machenden Judenfratzen als psychologisch besonders wirkungsvoll.123 Im vierten Band der Forschungen zur Judenfrage brachte Kittel eine genaue Beschreibung der Trierer Terrakottafiguren, darunter den in der Ausstellung gezeigten flachstirnigen Judenkopf mit stark gekrümmter Nase.124 Er interpretierte solche Judenkarikaturen als Zeichen eines erwachenden antijüdischen Instinkts und als bewusste Verspottung des Judentums in zeitgemäßer Form. Dass die Judenfiguren in Trier „vor allem den wollüstigen Juden, gelegentlich auch die sich ihm hingebende schamlose 119
Heiber, Walter Frank, S. 476f. So Wilhelm Euler 1959 im Gespräch mit Helmut Heiber, Institut für Zeitgeschichte, Zeugenschrifttum Euler, 1872, fol. 8. 121 Brief Kittels an Karl Georg Kuhn am 24.1.1939, Naturhistorisches Museum Wien, Anthropologische Abteilung, Korrespondenz 1939. 122 Judenfratzen – geschichtlich verbürgt. Gesicht des Juden vor 1700 Jahren – Die ältesten Judenplastiken auf der Ausstellung ‚Der ewige Jude‘ in München, in: Völkischer Beobachter vom 30.10.1937, abgedruckt bei Zuber, Großmachttraum im Andachtsraum, Internetausgabe, S. 13. 123 „Der Alp, der sich beim Durchschreiten dieses Infernos auf die Brust legt, wird noch beklemmender in den folgenden Räumen, deren Wände mit grinsenden Judenfratzen bedeckt auf einen zustürzen.“ Symbol des Unheils, Völkischer Beobachter vom 16.1.1938, zitiert nach Zuber, Großmachttraum im Andachtsraum, Internetausgabe, S. 6. 124 Gerhard Kittel, Die ältesten Judenkarikaturen. Die ‚Trierer Terrakotten‘, in: Forschungen zur Judenfrage, Bd. 4, Hamburg 1940, S. 250. 120
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Frau“ schildern würden, sei wohl kein Zufall. Eine Gruppe daraus nannte Kittel gar die „älteste Verspottung der Rassenschande“, die sich erhalten habe.125 Kittel verwendete den gleichen Judenkopf aus dem römischen Trier auch in einem Aufsatz über „Die Rassenmischung des Judentums in ihren geschichtlichen Voraussetzungen“126 und in einem Artikel für den Schulungsbrief der NSDAP.127 Eine neue Dimension erhielt die Wiedergabe solche Judenbilder in dem von Kittel mit dem Berliner Rassenforscher Eugen Fischer (1874–1967) zusammen herausgegebenen Band Das antike Weltjudentum. Unter der Überschrift „Die ältesten Karikaturen des Weltjudentums“ benutzte Kittel die Trierer Terrakotten als historischen Beweis für eine frühen Judengegnerschaft und die „antijudaistische Verachtung des Juden in der Volksmeinung und seine Verhöhnung in der volkstümlichen Posse“.128 Mit dem Abdruck dieser antiken Judendarstellungen bezweckte Kittel die Anschaulichmachung eines ewigen Judentums, das sich in seinem inneren Wesen und äußeren Erscheinungsbild über viele Jahrhunderte hinweg gleich geblieben und schon in der Antike von seinen Zeitgenossen verspottet worden sei. Genau die gleiche Intention verfolgte die Münchener Ausstellung „Der ewige Jude“. Als wissenschaftliche Begleitveranstaltung führte die Forschungsabteilung Judenfrage um die Jahreswende 1937/1938 eine stark beachtete öffentliche Vortragsreihe durch, an der sich auch die drei Tübinger Hochschullehrer Kittel, Kuhn und Wundt beteiligten. Kittel sprach am 16. Dezember über „Die rassische Entwicklung des antiken Judentums“, Wundt am 9. Dezember über „Die Juden in der Philosophie“ und Kuhn am 11. Januar 1938 über „Der Talmud als Spiegel des Judentums“. Weitere Vorträge hielten Professoren der Universitäten München, Königsberg und Berlin: Hans Alfred Grunsky über „Baruch Spinoza“, Kleo Pleyer über „Die Juden in der kapitalistischen Wirtschaft“, Franz Koch über „Goethe und die Ju-
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Ebd., S. 252f. und S. 258f. Gerhard Kittel, Die Rassenmischung des Judentums in ihren geschichtlichen Voraussetzungen, in: Kosmos. Handweiser für Naturfreunde, 1939, S. 152. 127 Gerhard Kittel, Staatsbürgertum ohne völkische Verpflichtung bedeutet nationalen Untergang und soziales Chaos. Das Beispiel der jüdischen Zersetzung des Ersten Römischen Imperiums, in: Der Schulungsbrief, 6. Folge, 1939, S. 239–246. Im Anschluss an den Artikel wurden zahlreiche „Bilder zur Arbeit von Prof. G. Kittel“ abgedruckt. Bei den Karikaturen aus Trier lautete die Bildunterschrift: „Vielleicht die ältesten historischen Vorläufer des ‚Stürmer‘“. 128 Gerhard Kittel, Die ältesten Karikaturen des Weltjudentums, in: ders. und Eugen Fischer, Das antike Weltjudentum, S. 172. Die Bildunterschrift für den in der Ausstellung „Der ewige Jude“ gezeigten Judenkopf lautete hier: „Flachstirniger Kopf, stark gekrümmte Nase. Charakteristisches Lächeln.“ Ebd., S. 176f. 126
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denfrage“ und Wilhelm Ziegler über „Die Juden in der Weltpolitik“.129 Die Münchner Neuesten Nachrichten schrieben über Wundts Vortrag, dass er die jüdische Philosophie wegen ihres rein formalistischen und alles relativierenden Denkens, dem jegliche Verantwortung fehle, kritisiert habe.130 Kittels Ausführungen wurden für ihre strenge Wissenschaftlichkeit gerühmt, wobei der Tübinger Neutestamentler besonders auf den Kampf der Kirche gegen das Judentum eingegangen sei. Erst das Christentum habe vor allem durch die scharfen Ehegesetze der frühen christlichen Kaiser der verhängnisvollen Entwicklung der Rassenmischung Einhalt geboten.131 Den größten Zuspruch erhielt indes der Auftritt Karl Georg Kuhns, der stürmischen Beifall hervorrief. Sein äußerst lebendig gehaltener Vortrag habe mit mathematischer Genauigkeit das Wesen des Judentums charakterisiert. Dabei seien von Kuhn besonders drei Dinge angesprochen worden: „die maßlosen Beleidigungen des Christentums, die ekelerregende Breite der Kasuistik auf sexuellem Gebiet und schließlich die gehässige Einstellung des Talmud gegen Nicht-Juden“.132 Nach München wurde die Ausstellung „Der ewige Jude“ in Wien gezeigt, wo sie der Wiener Gauleiter Odilo Globocnik (1904–1945) am 30. Juli 1938 eröffnete. Den eigentlichen Eröffnungsvortrag hielt jedoch Arthur Seyß-Inquart (1892–1946), der Reichsstatthalter der „Ostmark“, wenige Tage später am 2. August.133 Hatte die Ausstellung in München mit einem Ausblick auf das „verjudete“ Wien geendet, wurden ihr dort sechs weitere 129 Heiber, Walter Frank, S. 626. Pleyer, der 1937 an der Universität Königsberg Nachfolger des dort entlassenen Hans Rothfels wurde, war 1925 in Tübingen von Johannes Haller promoviert worden. Seinerzeit hatte sich Pleyer auch an den gewalttätigen Aktionen gegen den Pazifisten Julius Gumbel beteiligt und war dafür sogar verhaftet und wegen Landfriedensbruch angeklagt worden. Siehe René Betker, Kleo Pleyer, in: Haar und Fahlbusch, Hg., Handbuch der völkischen Wissenschaften, S. 478f. 130 Die Juden in der deutschen Philosophie, in: Münchner Neueste Nachrichten vom 11.12.1937, S. 1. 131 Das Judentum der Antike. Seine rassische Entwicklung, in: Münchner Neueste Nachrichten vom 18.12.1937, S. 4. Drei Tage vorher war der Vortrag Kittels angekündigt und er selbst für seine politisch klare und entschiedene Haltung in der Judenfrage gelobt worden (ebd., 15.12.1937, S. 14). 132 Den ‚Talmud‘ aufs Visier. Ein Vortrag von Dr. Karl Georg Kuhn, in: Münchner Neueste Nachrichten vom 13.1.1938, S. 4. 133 Siehe dazu Bernhard Denscher, ‚Der ewige Jude‘. Antisemitische Propaganda vom ‚Anschluß‘ zum Novemberpogrom, in: Der Novemberpogrom 1938. Die ‚Reichskristallnacht‘ in Wien, o.O. o.J. [Wien 1989], S. 43–52. Der Titel des Wiener Ausstellungskatalogs lautete Der ewige Jude, hg. vom Institut für Deutsche Kultur- und Wirtschaftspropaganda, o.O., o.J. [Berlin 1938], 23 S. Bei diesem wie auch bei dem Münchener „Katalog“ (Der ewige Jude. 265 Bilddokumente, gesammelt von Dr. Hans Diebow, München o.J. [1938], 128 S.) handelte es sich lediglich um eine kommentierte Bildsammlung.
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Säle angefügt, in denen die Erfolge in der Judenpolitik seit dem „Anschluss“ dokumentiert wurden. Seyß-Inquart stellte denn auch einen Bezug zwischen der Eingliederung Österreichs und dem gleichzeitigen Ausscheiden des Judentums aus dem deutschen Volkskörper her.134 Auch in Wien war der Publikumserfolg der Ausstellung überwältigend. Innerhalb von nur zwei Monaten wurde sie von 350.000 Zuschauern besucht. Und wie in München musste sie wegen des großen Andrangs auch in der ehemaligen österreichischen Hauptstadt verlängert werden. Im Anschluss daran wurde sie vom 12. November 1938 bis zum 14. Januar 1939 in Berlin gezeigt. Danach ging sie nach Bremen (4.2.–5.3.1939), Dresden (bis 23.3.1939) und Magdeburg (22.5.–11.6.1939). Während des Krieges kam sie in leicht modifizierter Form in Paris und anderen Orten zum Einsatz.135 Rechnet man noch die Begleitveranstaltungen und die ausführliche Berichterstattung in der Presse hinzu, muss man von einem Millionenpublikum ausgehen, das durch die Ausstellung „Der ewige Jude“ angesprochen und in seinen antisemitischen Ansichten bestärkt wurde. Die enorme propagandistische Wirkung verdankte sich nicht zuletzt der wissenschaftlichen Bestätigung des Gezeigten. Gerade bei den überzeugten Antisemiten konnte der Impuls nicht ausbleiben, nun auch selbst aktiv werden zu wollen und mitzuhelfen, das in so eindrucksvoller und beklemmender Weise dargestellte Problem aus der Welt zu schaffen. In Berlin wiederholte die Forschungsabteilung Judenfrage ihr erfolgreiches Münchener Veranstaltungskonzept und hielt im Januar 1939 eine noch besser besuchte Vortragsreihe mit dem Titel „Judentum und Judenfrage“ ab. Und auch in Berlin stellte die Universität Tübingen mit Kittel, Kuhn und Wundt ein Drittel der Referenten. Kittel sprach am 13. Januar 1939 über „Die historischen Voraussetzungen der Rassenmischung des Judentums“, Wundt am 18. Januar ein weiteres Mal über „Das Judentum in der Philosophie“ und Kuhn einen Tag später am 19. Januar über „Der Talmud“. Weitere Vorträge hielten der Rassentheoretiker Otmar Freiherr von Verschuer über „Die körperlichen Rassenmerkmale des Judentums“, der Philosoph Hans Alfred Grunsky über „Baruch Spinoza“, der mit Kittel befreundete Bevölkerungswissenschaftler Friedrich Burgdörfer über „Die Juden in Deutschland und der Welt“ und die Historiker Karl Richard Ganzer, Kleo Pleyer und Erich Botzenhardt über Richard Wagner und das Judentum, den jüdischen Kapitalismus und den politischen Aufstieg des Judentums bis zur Revolution von 1848.136 In dem Artikel von Walter Frank 134 135 136
Kivelitz, Die Propagandaausstellung in europäischen Diktaturen, S. 223f. Ebd., S. 558. Heiber, Walter Frank, S. 627f.
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„Deutsche Wissenschaft gegen das Weltjudentum“, den die Tübinger Chronik am 18. Januar 1939 zum Abdruck brachte, kennzeichnete der Leiter des Reichsinstituts die Berliner Vortragsreihe als imponierenden Beleg für das Leistungsvermögen der nationalsozialistischen Judenwissenschaft.137 Ohne deren Bedeutung übertreiben zu wollen, wurde ihr von Frank eine zentrale Funktion bei der Einordnung des „Judenproblems“ in größere politische und geschichtliche Zusammenhänge beigemessen. Mit deutlichen Anklängen an eine herkömmliche christliche Judenfeindschaft nannte Frank das Judentum die Nachtseite und eines der großen negativen Prinzipien der Weltgeschichte.138 Deswegen müsse man entsprechend auf der Hut sein und sich so umfassend als möglich mit den Juden auseinandersetzen. Das könne seriöser Weise nur in einer fächerübergreifenden Arbeitsgemeinschaft erfolgen, wobei es Frank nicht versäumte, hier die großen Verdienste der Tübinger Wissenschaftler herauszustellen. Um die Zusammenarbeit mit den Universitäten zu verstärken, habe er eben erst alle deutschen Hochschulen angeschrieben und dabei auch das Angebot gemacht, preiswürdigen Arbeiten zur „Judenfrage“ eine finanzielle Förderung zuteil werden zu lassen. Sicherlich werde das „Judenproblem“ nicht durch die Wissenschaft gelöst, sondern allein durch entschiedenes politisches Handeln. Dennoch sei „eine auf streng wissenschaftlicher Beweisführung begründete Aufklärung“ unabdingbar, um die deutsche Bevölkerung von der Notwendigkeit einer durchgreifenden Auseinandersetzung und eines letztlich unvermeidbaren Kampfes zu überzeugen. Frank schloss mit dem Satz: „Indem wir diese Waffen schärfen und eine geistige Truppe in diesen Waffen üben, dienen wir der moralischen Aufrüstung unserer Nation in ihrem großen Kampf gegen den internationalen jüdischen Feind.“139
Am darauffolgenden Tag erschien am 19. Januar 1939 in der Tübinger Chronik ein ausführlicher Bericht über Kittels Berliner Vortrag, der die jüdi137 Deutsche Wissenschaft gegen das Weltjudentum. Von Walter Frank, Präsident des Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, in: Tübinger Chronik vom 18.1.1939. 138 „So wenig etwa Judas Ischariot samt seinen dreißig Silberlingen und samt dem Strick, an dem er sich zuletzt erhängte, verstanden werden kann ohne den Herrn, dessen Gemeinschaft er hohnlächelnd verriet und dessen Antlitz ihn doch verfolgte bis zur letzten Stunde – so wenig kann jene Nachtseite der Geschichte, die sich Judentum nennt, verstanden werden ohne seine Einordnung in die Gesamtheit eines geschichtlichen Prozesses, in dem Gott und Satan, Schöpfung und Zersetzung in ewigem Ringkampf liegen.“ Ebd. 139 Ebd.
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sche Rassenmischung zum Gegenstand hatte.140 Kittel behandelte demnach ein weiteres Mal das Problem der jüdischen Mischrasse, den Erfolg des Mischehenverbots Esras, den Verfall desselben und den daraus hervorgegangenen jüdischen Rassenbrei, den Kittel mit einem Ausdruck aus dem Talmud „Issa“ nannte. In dem gleichen Artikel wurde auch der von Otmar Freiherr von Verschuer am 14. Januar gehaltene Vortrag über das Verhältnis der geistigen und körperlichen Eigenschaften der jüdischen Rasse besprochen. Mit Ausnahme weniger körperlicher Unterschiede – als Beispiel nannte Verschuer die Hautleisten der Fingerkuppen, die bei der jüdischen Rasse mehr Wirbelmuster, beim nordischen Menschen aber mehr Schleifenmuster aufweisen würden – könne bei einem Rassengemisch wie dem Judentum in dieser Hinsicht wenig Genaues gesagt werden. Auf geistigem Gebiet lägen die Dinge aber anders. Vor allem im Hinblick auf die Anfälligkeit und den Verlauf von Krankheiten würden sich deutliche Unterschiede zwischen den beiden Rassen erkennen lassen. Nach Verschuer kennzeichne sich „der Jude“ durch eine starke Schmerzempfindlichkeit, ein besonderes Arztbedürfnis und durch rasche Unzufriedenheit. Einer größeren jüdischen Resistenz gegen Tuberkulose stehe eine stärkere Neigung zu Stoffwechselkrankheiten, namentlich Zuckerkrankheit, entgegen. Außerdem seien Juden anfälliger für erblich bedingte Nervenkrankheiten.141 Dass die Tübinger Chronik so ausführlich auf derart primitive Vorurteile und unwissenschaftliche Zuschreibungen einging, hatte sicherlich auch damit zu tun, dass der nunmehrige Direktor des Frankfurter Instituts für Erbbiologie und Rassenhygiene von Oktober 1923 bis September 1927 als Assistenzarzt an der Medizinischen Poliklinik der Universität Tübingen gearbeitet und noch viele Kontakte nach Tübingen hatte. Kurz nachdem Verschuer 1927 Privatdozent geworden war, holte ihn Eugen Fischer als Abteilungsleiter an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik.142 Verschuer trat schon in sei140 ‚Wie wurde das Judentum?‘ Universitätsprofessor Dr. Kittel-Tübingen sprach in Berlin, Tübinger Chronik vom 19.1.1939. 141 „Schizophrenie findet sich oft bei Juden, und es ist sicher kein Zufall, daß sie häufiger als Menschen anderer rassischer Zusammensetzung an Verfolgungs- oder Verarmungswahn – nicht dagegen an Versündigungswahn – leiden.“ Ebd. 142 Siehe zu Verschuer Ludger Weß, Humangenetik zwischen Wissenschaft und Rassenideologie. Das Beispiel Otmar von Verschuer (1896–1969), in: Karsten Linne und Thomas Wohlleben, Hg., Patient Geschichte. Für Karl Heinz Roth, Frankfurt a.M. 1993, S. 166–184, Eric Ehrenreich, Otmar von Verschuer and the ‚scientific‘ legitimization of Nazi anti-Jewish policy, in: Holocaust and Genocide Studies 21, 2007, S. 55–72 und Marc Zirlewagen, Verschuer, Otmar, in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 27, 2007, Sp. 1437–1447 (www.kirchenlexikon.de, s.v. Verschuer, zuletzt eingesehen am 13.12.2009).
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nem ersten Marburger Studiensemester 1919 dem Verein deutscher Studenten bei, der sich durch die Verbindung von Deutschtum und Christentum mit einer deutlich antijüdischen Tendenz auszeichnete. Sowohl in Dahlem als auch in Frankfurt nahm er aktiv am kirchlichen Leben teil und wie Schlichting galt auch Verschuer als bekenntniskirchlich orientiert.143 Verschuer entwickelte seine erbpathologischen und rassenhygienischen Vorstellungen im Rahmen eines dezidiert christlichen Weltbildes. Bezeichnend für seine Einstellung ist sein Beitrag über „Die Rasse als biologische Größe“ in dem von Walter Künneth und Helmuth Schreiner 1933 herausgegebenen Sammelband Die Nation vor Gott, in dem er die Sterilisierung von Erbkranken als praktische Nächstenliebe den Gesunden gegenüber bezeichnete.144 Zusammen mit Kittel, Kuhn, Wundt, Fischer und etlichen anderen verlieh er der Forschungsabteilung Judenfrage ein deutlich evangelisches Gepräge. Auf der zweiten Münchener Arbeitstagung hielt Verschuer einen programmatischen Vortrag über die Notwendigkeit der interdisziplinären Zusammenarbeit, um die Trennung zwischen einer natur- und geisteswissenschaftlichen Rassenauffassung zu überwinden.145 Voller Stolz über die starke Beteiligung von Wissenschaftlern der eigenen Universität veröffentlichte die Tübinger Chronik nach Abschluss der Berliner Vortragsreihe einen langen zustimmenden Bericht.146 Der Erfolg der Reihe sei überwältigend gewesen. Was der einfache Mann auf der Straße nur instinktiv über die Juden wisse, sei hier auf höchstem wissen143 Siehe zu Verschuers religiöser Einstellung Hans-Peter Kröner, Von der Rassenhygiene zur Humangenetik. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik nach dem Kriege, Stuttgart 1998, S. 28, S. 32, S. 103, S. 236 und S. 276 sowie Hans-Walter Schmuhl, Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927–1945, Göttingen 2005, bes. S. 203, S. 209f. und S. 539. 1933 unterschrieb Verschuer einen Aufruf der Jungreformatorischen Bewegung (ebd., S. 203). 144 Walter Künneth und Helmuth Schreiner, Die Nation vor Gott. Zur Botschaft der Kirche im Dritten Reich, 3. Aufl., Berlin 1934, S. 35. Die Eugenik bedürfe der Ethik, die wiederum im Metaphysischen wurzele. „Der bekannte Kindersegen im evangelischen Pfarrhaus zeigt, daß aus dieser Religiosität gesundes, biologisches Leben entspringt.“ Ebd., S. 36. 145 Otmar von Verschuer, Was kann der Historiker, der Genealoge und der Statistiker zur Erforschung des biologischen Problems Judenfrage beitragen?, in: Forschungen zur Judenfrage, Bd. 2, Hamburg 1937, S. 216–222. Seine Ausführungen, schrieb Verschuer an Eugen Fischer am 20.5.1937, seien „mit Beifall aufgenommen worden“, auch wenn „die extremen Antisemiten“ nicht zufrieden damit sein könnten. Schmuhl, Grenzüberschreitungen, S. 307. 146 Erich Teuber, Die Wissenschaft geht ins Volk. Maßgebende Beteiligung Tübinger Dozenten an der Berliner Vortragsreihe ‚Judentum und Judenfrage‘, in: Tübinger Chronik vom 9.2.1939.
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schaftlichen Niveau aufgezeigt worden. Damit sei das alte Vorurteil vom bloßen Radauantisemitismus des Nationalsozialismus widerlegt. Trotz aller „strengwissenschaftlichen Formulierung“ seien die Referate bei ihrer Darstellung des Judentums als das negative Element der Weltgeschichte, das im ewigen Kampf mit dem positiven Prinzip der Schöpfung liege, volksnah und politisch begeisternd gewesen. Unter den in Berlin zusammengekommenen „hervorragendsten Gelehrten aller Fakultäten“ hob der Bericht lediglich den Auftritt Kuhns heraus, dessen Talmud-Vortrag alle anderen Vorträge an Klarheit übertroffen habe. Etwa 2500 Menschen seien von Kuhn „über die auch heute noch wirkenden Gesetze des Talmud“ aufgeklärt worden.147 Auch der Völkische Beobachter beschäftigte sich ausführlich mit dem Ausführungen des Tübinger Talmudspezialisten und erklärte sie zum eigentlichen Höhepunkt der Reihe. Kuhn habe den schlüssigen Beweis dafür erbracht, dass der Talmud „das jüdische Wesen und den jüdischen Geist“ in reinster Form zum Ausdruck bringe. Darum sei die Auseinandersetzung mit ihm nicht gegenstandslos geworden, „wenn auch der moderne Jude, besonders der westeuropäischer Prägung, oft nur noch wenig vom Talmud weiß“.148 Von Kuhns Berliner Vortrag existiert überdies eine von der Pressestelle der Universität Tübingen an die Schriftleitungen diverser Zeitungen verschickte Zusammenfassung. Demzufolge behandelte Kuhn den Talmud als die umfassendste Selbstdarstellung des jüdischen Wesens, die einen Einblick gewähre in die „für unser Gefühl vielfach so abstruse talmudische Denkmethode“.149 Frage man sich, welche Seiten des Talmud von jeher auf Kritik stoßen würden, seien drei Dinge besonders zu nennen. Erstens die maßlose Beschimpfung des Christentums, insbesondere der Person Jesu und seiner Mutter Maria, zweitens die ekelerregende Breite und Selbstverständlichkeit der Darstellung sexueller Dinge und drittens die hassvolle Einstellung der Juden den Nichtjuden gegenüber.150 Es ist anzunehmen, dass die von Kuhn aufgezählten klassischen Topoi traditioneller Talmudpolemik auch den Inhalt seines für 1939 angekündigten Talmudbuches bestimmt hatte. Ein von ihm im Rahmen der Tübinger Dozentenbundsakademie gehaltener und später publizierter Vortrag zum
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Ebd. Die Gedankenakrobatik des Talmud, in: Völkischer Beobachter vom 21.1.1939. 149 Pressestelle der Universität an die Schriftleitung (N.N.), i.A. Prof. Eisser vom 24.1.1939, UAT 126a/284, fol. 22. 150 „Diese für den Talmud typische, gehässige Einstellung zum Nichtjuden ist der Hauptgrund der seit alters bestehenden feindlichen Einstellung gegen den Talmud und damit gegen das Judentum selbst.“ Ebd. 148
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Talmud weist ebenfalls in diese Richtung.151 Nach einleitenden Bemerkungen über die geschichtliche Entwicklung des Talmud (Halacha, Gemara) kam Kuhn auch hier sehr schnell auf den jüdischen Talmudgeist und das innere Wesen des Judentums zu sprechen, das sich im jüdischen Rechtsdenken und Rechtsbüchern wie dem Schulchan Aruch einen adäquaten Ausdruck verschafft habe. Was dem Juden Recht sei, müsse für den Nichtjuden zwangsläufig Unrecht bedeuten. Im Extremfall seien den Juden alle Arten von Verbrechen, ja sogar Mord und Totschlag erlaubt, um ihre Interessen durchzusetzen. Ihre hasserfüllten Einstellung den Nichtjuden gegenüber habe zwangsläufig eine antisemitische Gegenreaktion auslösen müssen. Insofern sei es verständlich, dass der Talmud seit vielen Jahrhunderten immer wieder aufs Neue angegriffen werde. Vier Tage nach seinem großen Auftritt in Berlin hielt Kuhn am 23. Januar 1939 in Tübingen einen weiteren Dozentenbundsvortrag, den er zu einer selbständigen Schrift mit dem Titel Die Judenfrage als weltgeschichtliches Problem ausarbeitete.152 Die wiederum von der Pressestelle der Universität Tübingen zirkulierte Vortragszusammenfassung stellte den antisemitischen Charakter seiner Argumentation noch deutlicher heraus. Die „Judenfrage“ sei so alt wie das Judentum. Sie könne somit nicht auf „außerjüdische Umweltbedingungen“ zurückgeführt werden, sondern müsse ihre Ursache im Wesen des Judentums haben. Dem Text der Pressestelle zufolge unterschied Kuhn drei charakteristische Züge bei der geschichtlichen Entwicklung des jüdischen Volkes. Erstens die jüdische Zerstreuung, die das vom eigenen Boden losgelöste Judentum zum „parasitären Händlervolk“ der Welt schlechthin werden ließ. Dabei hätte sich die wirtschaftliche Tätigkeit der Juden auf das engste mit einer „völkischen Kampfmoral“ verbunden, die nicht nur auf den eigenen Vorteil aus sei, sondern dem „völkisch Andersartigen“ bewusst Schaden zufügen wolle. Das eigentliche Charakteristikum des Judentums bildete für Kuhn aber die typische „Verkettung von Volk und Religion“, die letztlich auf rassischen Voraussetzungen beruhe.153 Vergleicht man den Inhalt dieser Zusammenfassung mit der publi151 Karl Georg Kuhn, Der Talmud, das Gesetzbuch der Juden, in: Robert Wetzel und Hermann Hoffmann, Hg., Wissenschaftliche Akademie Tübingen des NSD.-Dozentenbundes, Bd. 1: 1937, 1938, 1939, Tübingen 1940, S. 226–233. 152 Karl Georg Kuhn, Die Judenfrage als weltgeschichtliches Problem, Hamburg 1939. Auf der vierten Arbeitstagung der Forschungsabteilung Judenfrage behandelte Kuhn im Juli 1939 das gleiche Thema. 153 „Die eigentümliche Ausgestaltung dieses Wesensgefüges ist letzthin nur zu erklären aus der besonderen rassischen Erbanlage des Judentums. Diese spezifisch jüdische Erbanlage, die in einer zweitausendjährigen Geschichte auf das Schärfste im Judentum herausgezüchtet wurde, ist so auch das eigentlich Gefährliche und Schädliche für die
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zierten Schrift, zeigt sich, dass die Pressestelle den Vortrag durchaus richtig wiedergab. Die Judenfrage als weltgeschichtliches Problem ist sicherlich Kuhns antisemitischste Publikation. Hier werden die Juden nicht nur für alle möglichen Fehlentwicklungen in Deutschland schuldig gesprochen. Auch die Verantwortung für den Antisemitismus wird ihnen in die Schuhe geschoben, der von Kuhn zu einer ebenso folgerichtigen wie berechtigten Reaktion auf ihr Verhalten ausgegeben wird. Nicht nur vom Inhalt sondern auch vom sprachlichen Ausdruck her passte sich Kuhn mit dieser Schrift der nationalsozialistischen Propaganda an. Die „talmudischen Wirtschaftsgesetze“ nannte Kuhn ein „Kampfmittel“ zur Durchsetzung jüdischer Interessen. Jenes „typisch jüdische, skrupellose und hemmungslose Wirtschaftsgebaren“ sei darauf angelegt, die Wirtsvölker der Juden bewusst zu schädigen.154 Ausführlich ging Kuhn in Die Judenfrage als weltgeschichtliches Problem auf die gegenseitige Bedingtheit von Rasse und Religion ein. Die Juden verstünden sich als Gottes auserwähltes Heilsvolk, definierten sich aber gleichzeitig über ihre blutmäßige Abstammung.155 Deswegen umschließe die „Judenfrage“ eine doppelte religiöse und rassische Seite und lasse sich nicht einseitig, etwa auf dem Weg der Konversion, auflösen. So wie Kuhn mit Hilfe der Religion das Wesen der jüdischen Rasse erklärte, so half ihm umgekehrt der nationalsozialistischen Rassenbegriff, die Konsequenzen der jüdischen Religion besser zu verstehen. Aus der Mischung von religiösen und rassischen Faktoren ergebe sich die einzigartige Gefährlichkeit des jüdischen Volkes. Als die mittelalterlichen Ghettomauern unter dem Ansturm der Französischen Revolution einstürzten, war das entscheidende Hemmnis für die Entfaltung des jüdischen Machtanspruchs gefallen. Da Kuhn eine Lösung der „Judenfrage“ über die Taufe, die Assimilation und den Zionismus ablehnte, blieb auch für ihn nur eine Art Apartheidlösung übrig, die allerdings den Fehler besaß, in der Praxis nicht realisierbar zu sein. Was die Juden jetzt im nationalsozialistischen Deutschland erleben würden, sei lediglich die Ernte dessen, was sie in den letzten 150 Jahre gesät hätten. Nun werde ihnen die Rechnung für ihre Verfälschung des geschichtlichen Sinns der Emanzipation präsentiert. Deutschland sei nicht mehr wehrlos wie früher. So wie der Führer am Grab des von einem Juden erschossenen Landesgruppenleiters in der Schweiz, Wilhelm Gustloff Rassensubstanz des Wirtsvolkes bei einer Blutvermischung mit den Juden“. Pressestelle der Universität an die Schriftleitung (N.N.), i.A. Prof. Eisser vom 24.1.1939, UAT 126a/284, fol. 22. 154 Kuhn, Die Judenfrage als weltgeschichtliches Problem, S. 21f. 155 Ebd., S. 24.
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(1895–1936), gesagt habe „Wir verstehen die Kampfansage, und wir nehmen sie auf!“, so habe Hitler in geschichtlich einzigartiger Weise die Voraussetzungen dafür geschaffen, „eine wirkliche, den gesamtgeschichtlichen Gesichtspunkten allein gerecht werdende Lösung der Judenfrage“ möglich zu machen.156 Die Mitarbeit an einer Einrichtung wie der Forschungsabteilung Judenfrage eröffnete Kuhn als jungem Wissenschaftler die Möglichkeit, in einer Weise öffentlich wahrgenommen zu werden, wie das an der Universität nicht denkbar gewesen wäre. Es muss für ihn ein erhebendes Gefühl gewesen sein, als Dreißigjähriger zu den maßgeblichen Experten für ein gesellschaftliches Problem von höchster Dringlichkeit zu gehören und von allen Seiten nur positive Reaktionen zu bekommen. Doch lässt sich auch bei einem renommierten und schon lange etablierten Universitätsprofessor wie Kittel erkennen, wie der politische Zuspruch die Bereitschaft erhöhte, sich als „Judenforscher“ zu betätigen, um dadurch einen substantiellen Beitrag für die Lösung der im Dritten Reich als existentiell angesehenen „Judenfrage“ zu leisten. Dieser Verlockung konnte Kittel umso weniger widerstehen, als die Wirkungsmöglichkeit eines Universitätstheologen in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre dramatisch zurückgegangen waren. Hier bot sich die einzigartige Chance, das theologische Fachwissen gegen den allgemeinen Trend einer planmäßigen Zurückdrängung kirchlichen Wirkens aufzubieten. Zugleich sank aber, auch das ist unübersehbar, die Bereitschaft zur kritischen Hinterfragung der eigenen Arbeit und das Interesse, alternative Interpretationsansätze auch nur in Erwägung zu ziehen. Das völkische Wissenschaftsprinzip des Nationalsozialismus beruhte gerade darauf, alles auszuschließen, was dem Herrschaftsanspruch des eigenen Volkes abträglich sein konnte. Der so oft gegen die Wissenschaft gerichtete Vorwurf, nur sich selbst zu genügen und Erkenntnisse nur für den universitären Elfenbeinturm zu produzieren, konnte der nationalsozialistischen Judenforschung beim besten Willen nicht gemacht werden. So sehr das „Judenproblem“ während des Dritten Reiches einer Lösung bedurfte, so groß waren die Möglichkeiten für die damit befassten Wissenschaftler, von den politischen Entscheidungsträgern ernst genommen zu werden und in die Gesellschaft hineinwirken zu können. Der bereits erwähnte Artikel Kittels für den Schulungsbrief, in dem Kittel die „jüdische Zersetzung des Ersten Römischen Imperiums“ mit der Situation des Deutschen Reiches in der Weimarer Republik parallelisier-
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Ebd., S. 47.
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te,157 ist in zweierlei Hinsicht von besonderer Bedeutung. Zum einen erstaunt es, dass sich ein international angesehener evangelischer Theologe für einen antisemitischen Hetzartikel in einem Parteiorgan der NSDAP hergab. Im gleichen Heft erschien ein Artikel von Alfred Rosenberg über den Wettkampf der Ideen und von Wilhelm Frick (1877–1946), seines Zeichens Reichsinnenminister, über die Bedeutung der Nürnberger Gesetze. Das gab Kittels Beitrag eine offiziöse Note und entsprechend fiel er auch aus. Seiner Geschichtsinterpretation zufolge wäre das Deutsche Reich wie das Alte Rom durch die Juden von innen her zersetzt worden und in sich zusammengestürzt, wenn nicht Adolf Hitler auf den Plan getreten wäre und dem Judentum Paroli geboten hätte. Dem alten, in Tübingen wohlbekannten Bild vom jüdischen „Wurm der Zersetzung“, der die Wurzeln des Staates unterirdisch zernagt, kam in Kittels Argumentation eine zentrale Funktion zu und wurde von ihm mehrere Male wiederholt. Das Judentum stehe „in der vordersten Reihe der Zersetzungsmächte“, so dass Deutschland nur die Alternative hatte, entweder unterzugehen oder sich der Juden zu erwehren.158 Zum zweiten ist an Kittels Artikel die enorme Reichweite seiner antisemitischen Hetze bemerkenswert. Der Schulungsbrief erschien in einer Auflagenhöhe von etwa 4,7 Millionen Exemplaren und hatte eine exorbitante Verbreitung, wobei noch die Zweitleser und der Abdruck in der Tübinger Chronik hinzugerechnet werden müssen. Die Möglichkeit, ein Millionenpublikum zu erreichen und ideologisch zu beeinflussen, war auch für einen nationalsozialistischen Hochschullehrer nicht alltäglich. In der von Baldur von Schirach herausgegebenen Zeitschrift Wille und Macht, dem „Führerorgan der nationalsozialistischen Jugend“, stieß Kittel ins gleiche Horn und behauptete eine kontinuierliche Linie von der antiken zur modernen „Judenfrage“. Damals wie heute sei ein „leidenschaftlicher Antisemitismus“ die zwangsläufig Reaktion darauf.159 Im Zusammenhang des Reichsparteitages des Jahres 1938 veröffentlichte Kittel einen gleichermaßen antisemitischen Beitrag in der Bücherkunde, der von Hans Hagemeyer (1899–1993) herausgegebenen monatlichen Re157 Gerhard Kittel, Staatsbürgertum ohne völkische Verpflichtung bedeutet nationalen Untergang und soziales Chaos, in: Der Schulungsbrief, hg. vom Hauptschulungsamt des Reichsorganisationsleiters der NSDAP, 1939, S. 239–246. Der Artikel wurde am 19.6.1939 in der Tübinger Chronik in der Rubrik „Schwabens Beitrag zum deutschen Geistesleben“ abgedruckt. Hier trug er den Titel: Zersetzung und Auflösung des Bürgerrechts des Ersten Römischen Imperiums. Staatsbürgertum ohne völkische Verpflichtung bedeutet nationalen Untergang und soziales Chaos. 158 Kittel, Staatsbürgertum ohne völkische Verpflichtung, S. 240. 159 Gerhard Kittel, Das antike Weltjudentum, in: Wille und Macht, H. 13, 1.7.1941, S. 8– 12, hier S. 12.
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zensionszeitschrift der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums Alfred Rosenbergs, über den Untergang des ersten römischen Imperiums.160 Auch hier stellte Kittel eine Verbindung zwischen der Zersetzungstätigkeit der Juden im alten Rom und im Deutschen Reich her. Im Jahr 41 habe ein alexandrinischer Großkaufmann seinem verschuldeten Geschäftsfreund nicht umsonst auf einem Papyrus den Satz „Hüte Dich vor den Juden“ geschrieben.161 Immer wenn in der Geschichte diese Warnung unbeachtet blieb, sei es zu Konflikten mit den Juden gekommen. So wie die römischen Legionen seinerzeit am Euphrat um Europas Ostgrenze rangen und die Juden das Reich im Herzen Roms zersetzten, so kämpften die deutschen Truppen 1914 bei Tannenberg „dieselbe Entscheidungsschlacht“ zur Verteidigung Europas.162 Die Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums führte beim Reichsparteitag Großdeutschland die Ausstellung „Europas Schicksalskampf im Osten“ durch, die von Alfred Rosenberg am 6. September 1938 eröffnet wurde.163 An diesem Parteitag nahm Kittel nicht nur als persönlicher Ehrengast des Führers teil. Bei der von Hans Hagemeyer organisierten Ausstellung gestaltete Kittel auch einen eigenen Raum, in dem die Ausbreitung des Judentums im Römischen Reich dargestellt wurde.164 Dafür hatte er eigens in Tübingen im Stil der Harnackschen Ausbreitung des Christentums eine große Karte zeichnen lassen, die im Raum 5 der Ausstellung gezeigt wurde. Abgesehen von seinem Beitrag in der Bücherkunde steuerte Kittel auch einen Artikel für den Begleitband zur Ausstellung bei, der von den beiden Reichsamtsleitern Hans Hagemeyer und Georg Leibbrandt (1899–1982) herausgegeben wurde.165 Hier schilderte Kittel ein weiteres Mal die Juden als Zersetzungsmacht über die Zeiten und Länder-
160 Gerhard Kittel, Der Untergang des ersten römischen Imperiums, in: Bücherkunde. Organ des Amtes Schrifttumspflege, 1938, S. 461–463. 161 Ebd., S. 461. 162 Ebd., S. 463. 163 Siehe zum Parteitag und der Ausstellung Der Reichsparteitag Großdeutschland vom 5. bis 12. September 1938. Offizieller Bericht über den Verlauf des Reichsparteitags mit sämtlichen Kongressreden, München 1938 sowie Kivelitz, Die Propagandaausstellung in europäischen Diktaturen, S. 202–204. 164 Der offizielle Katalog der Parteitagsausstellung nennt Kittel als einen der Mitarbeiter und enthält auch eine kurze Beschreibung dieses Raums: Europas Schicksalskampf im Osten. 4 Jahrtausende europäische Geschichte in Funden, Kunstwerken, Karten, Urkunden und Schriften, Berlin 1938, S. 44–47. 165 Gerhard Kittel, Einbruch des Orients, in: Hans Hagemayer und Georg Leibbrandt, Hg., Europa und der Osten, München 1939 (Schriftenreihe der Bücherkunde, Bd. 7), S. 61–71.
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grenzen hinweg.166 Nach Erreichung ihres Ziels, würden die Juden das Purimfest feiern, an dem sie die Nichtjuden verfluchen und sich vor Freude sinnlos betrinken. „Es ist nicht verwunderlich, daß sich schon damals eine scharfe antisemitische Bewegung regte.“167 Später sei das jüdische Rassengemisch im Ghetto untergetaucht, bis es durch die Emanzipation Gelegenheit erhielt, den abendländischen Völkern „dasselbe Verhängnis“ zu bringen „wie anderthalb Jahrtausende früher dem römischen Reich: die seelische und rassenmäßige Zersetzung“.168 Ein Teil des von Kittel für den Reichsparteitag bereitgestellten Materials fand ein dreiviertel Jahr später bei der in Wien vom Naturhistorischen Museum durchgeführten Ausstellung über „Das körperliche und seelische Erscheinungsbild der Juden“ eine weitere Verwendung. Die Ausstellung wurde von dem Leiter der Anthropologischen Abteilung des Nathurhistorischen Museums, Josef Wastl (1892–1968), organisiert, der im Vorfeld zahlreiche wissenschaftliche und politische Institutionen anschrieb und um Mithilfe bat. Dabei wandte sich Wastl auch an die Gestapo und den Sicherheitsdienst der SS, weil er Gegenstände verwenden wollte, die sich vormals im Besitz der Jüdischen Gemeinde Wiens befanden. Noch vor dem Novemberpogrom waren Mitte Oktober 1938 bereits in Wien Synagogen geschändet und ein Brandanschlag auf die Talmud-Thora-Schule in der Malzgasse verübt worden, bei dem auch das im gleichen Gebäude befindliche Jüdische Museum in Mitleidenschaft gezogen wurde. Auf deren Bestände hatte es Wastl abgesehen, als er am 24. Februar 1939 Adolf Eichmann den freundlichen Vorschlag machte, die nicht gesicherten und nur notdürftig verpackten Bestände lieber dem Völkerkundemuseum zur Aufbewahrung zu übergeben, weil sie dort besser aufgehoben wären.169 Etwa einen Monat vorher hatte sich Wastl am 19. Januar auch an den Tübinger Judenforscher Karl Georg Kuhn, der ihm von Viktor Christian als „Spezialist auf dem Gebiete der Geschichte des jüdischen Volkes“ empfohlen worden war, gewandt, ob er von ihm „Material leihweise oder käuflich für die Ausstellung“ erhalten könnte.170
166 „Ihr Herrschafts- und Überlegenheitsanspruch ist schon damals, wie zu allen Zeiten, ohne Grenzen.“ Kittel, Einbruch des Orients, S. 64. 167 Ebd. 168 Ebd. 169 Siehe Bernhard Purin, Hg., Beschlagnahmt. Die Sammlung des Wiener Jüdischen Museums nach 1938, Wien 1995, S. 8–12. Das Schreiben Wastls an Eichmann vom 24.2.1939 befindet sich in der Korrespondenz des Naturhistorischen Museums. 170 Schreiben Wastls an Kuhn am 19.1.1939, Naturhistorisches Museum Wien, Anthropologische Abteilung, Korrespondenz 1939. Ich danke Dr. Margit Berner von der Abtei-
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Nachdem Kuhn Kittel über die Anfrage Wastls in Kenntnis gesetzt hatte, antwortete Kittel seinem Schüler am 24. Januar, dass er bereit wäre bei der Ausstellung in Wien mitzuwirken und dass er sogar schon etwas Material zusammengestellt hätte.171 Auch seine „Parteitagskarte“ über die Ausbreitung des Judentums im Römischen Reich wollte Kittel wieder zum Einsatz bringen. Es seien vorher allerdings noch einige kleinere Berichtigungen vorzunehmen. Außerdem wollte Kittel wieder einige „geeignete Wandsprüche über die Juden aus der antiken Literatur“ zur Verfügung zu stellen, „wie ich das schon für die Ausstellung ‚Der Ewige Jude‘ und ‚Deutschl[a]nds Schicksalskampf im Osten‘ getan habe“.172 Am 27. Januar teilte Kuhn Wastl mit, dass er mit Kittel gesprochen habe und dass dieser geeignetes Anschauungsmaterial besäße. Daraufhin setzte sich Wastl direkt mit Kittel in Verbindung, der ihm am 7. Februar in einem ausführlichen Brief Mitteilung über die von ihm für geeignet erachteten Ausstellungsgegenstände machte.173 Kittel schlug vor, 20–25 zweckdienliche Fotos von Köpfen „aus sicher jüdischer Abbildung oder Skulptur aus der Spätantike“ auszuwählen. Geeignete Sprüche aus dem Talmud und der spätantiken Literatur werde er ebenfalls zusammenstellen und in den nächsten Tagen nach Wien schicken. „Es gibt dabei genug für die ‚seelischen Eigenschaften‘ der Juden Charakteristisches.“ Bei der Wandkarte sei jedoch zu beachten, dass mit ihr nicht der falsche Eindruck erweckt werde, als ob die jüdischen Wanderungen mit den Stammeswanderungen der Germanen vergleichbar wären. Es handle sich dabei in erster Linie um die Wanderungen vieler Einzelner, was nicht verwischt werden dürfe. „Der Sinn meiner Karte ist gerade der, den Anfang des Problems ‚Weltjudentum‘ und damit des eigentlich jüdischen Problems überhaupt anschaulich zu machen“. Der Zeitraum von 400 vor bis 600 nach Chr. sei für das Verständnis der körperlichen und seelischen Struktur des modernen Judentums grundlegend. Es sei nun schon die dritte Ausstellung dieser Art, mit der er sich intensiv befasse. „Ich halte es für einen ungemein glücklichen Gedan-
lung Archäologie, Biologie und Anthropologie für Kopien aus diesem Bestand. Danach das Folgende. 171 Brief Kittels an Kuhn am 24.1.1939, Naturhistorisches Museum Wien, Anthropologische Abteilung, Korrespondenz 1939. 172 Ebd.; im Original „Deutschlnds“, richtig: „Europas“. In Ergänzung hierzu könne man seinen in Nürnberg nicht verwirklichten Vorschlag umsetzen und in Wien ein Album auslegen, in dem „an ca. 60 Photos aus allen Ländern 1 bestimmtes Symbol auf antiken jüdischen Denkmälern abgebildet wäre, das die Ausbreitung der Juden veranschaulicht“. Ebd. 173 Kittel an Wastl am 7.2.1939, ebd. Das vorausgehende Schreiben Wastls ist undatiert.
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ken, auf dem Wege über das konkrete Ausstellen die Judenfrage zu einem Verständnis der Volksgenossen zu erschließen.“174 Vier Tage später orderte Wastl 20–25 Fotos jüdischer Köpfe und Skulpturen für die Ausstellung sowie 60 Fotos für das Album, worauf Kittel am 18. Februar 1939 eine erste Sendung nach Wien schickte. Sie enthielt seine Wandkarte und einige für den Zweck der Ausstellung passende Wandsprüche, die Kittel mit den Worten kommentierte: „Den Wandsprüchen habe ich einige von mir gesammelte altkirchliche Synodalbeschlüsse beigegeben. Für Ihre anthropologischen Zwecke werden vor allem die Canones über die Mischehen wichtig sein, die vielleicht gerade in Wien als altkirchliches Gegenstück zu den Nürnberger Gesetzen einen guten Hinweis geben könnten.“
Der Brief schloss mit der Bitte, das Material nur für die Ausstellung zu verwenden, da er sich jede weitere öffentliche, „insbesondere literarische Verwendung“ selbst vorbehalte.175 Die in Wien dann gezeigte Wanderungskarte der Juden im Römischen Reich trug den Titel „Die Verbreitung des siebenarmigen Leuchters (Menorah) im Imperium Romanum“. Sie wurde mit drei längeren Textzitaten und der Wiedergabe von etwa 50 Belegstellen ergänzt, die den Eindruck einer wissenschaftlichen Beweisführung erweckten.176 Auch in anderen Schauräumen der Ausstellung wurden in analoger Weise die Charakteristika der jüdischen Rasse mit Hilfe von Fotos und Karten visualisiert. Ein mit der Überschrift „Die Judenfrage ist nur durch eine klare Scheidung der ‚Nichtjuden von den Juden‘ lösbar“ versehener Raum enthielt mehrere menschliche Schädel und Reproduk174
Ebd. Kittel an Wastl am 18.2.1939, ebd. Die Karte hatte Kittel von einem seiner Studenten, Otto Stumpff, durchpausen lassen, der dafür zwölf Reichsmark als Entlohnung erhielt. Ungefähr zu dieser Zeit erstellte Kittel eine ausführliche Liste der antijüdischen Gesetze der alten Kirche. Gerade mit Blick auf die „Rassen-Mischehe“ sei zu betonen, dass die Christen in früheren Jahrhunderten sehr genau gewusst hätten, „wie wenig es dem Gebot Gottes entspricht, die elementaren Grundsätze des Blutes zu mißachten“. Auch wenn die Motive damals nicht biologischer, sondern religiöser Natur gewesen seien, habe man sich gleichwohl durch die Ahnung um natürliche und schöpfungsmäßige Gegebenheiten leiten lassen. Die antijüdische Gesetzgebung der alten Kirche sei ein klarer Beweis für die „unbezweifelbare Tatsache, daß die aus echten biologischen Erkenntnissen geborenen Notwendigkeiten niemals mit echter unverbildeter religiöser Notwendigkeit im Widerspruch stehen können“. „Die altkirchlichen Synoden und die Judenfrage, von Professor Gerhard Kittel, Tübingen“, o,.D. [ca. 1938/39], BArch NS 15, 496, fol. 154–156. 176 Eine Reproduktion der Karte und des Begleittextes bei Horst Junginger, Das Bild des Juden in der nationalsozialistischen Judenforschung, in: Andrea Hoffmann u.a., Hg., Die kulturelle Seite des Antisemitismus zwischen Aufklärung und Schoah, Tübingen 2006, S. 206f. 175
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tionen menschlicher Köpfe, mit denen der körperliche Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden dargestellt werden sollte.177 Wie erwähnt setzte sich Wastl sechs Tage später am 24. Februar 1939 mit Adolf Eichmann in Verbindung. Dessen Chef, der Inspekteur der Wiener Sicherheitspolizei Walter Stahlecker (1900–1942), stammte ebenso wie Eichmanns Mitarbeiter Theodor Dannecker (1913–1945) aus Tübingen. Stahlecker residierte in Wien im Palais Albert Rothschild, das auch Eichmanns Zentralstelle für jüdische Auswanderung beherbergte. Die Bibliothek Rothschild hatte Stahlecker, großzügig wie man nur mit fremdem Eigentum sein kann, Ende 1938 der Österreichischen Nationalbibliothek vermacht.178 Am 1. März 1939 erhielt Wastl von Kittel die zweite Sendung zugeschickt, die sich in drei Rubriken gliederte: Erstens handelte es sich um 53 Fotos mitsamt dazugehöriger Beschriftung für das Album, zweitens um „eine Sammlung von 37 Köpfen und Gestalten der Römischen Kaiserzeit: a) die sogenannten Trierer Terrakotten (7 Photos); b) eine Bronze aus Trier; c) drei alexandrinische Terrakotten; d) 11 ägyptische Mumienbilder der Römischen Kaiserzeit; e) dazu besonders die besonders schönen Bilder der Herodes-Tochter Aline und ihrer Kinder (3 Photos); f) Gestalten und Köpfe aus den Dura-Wandbildern (12 Photos).“
Drittens fügte Kittel „noch 2 Photos von Esther und Mardochai als Ergänzung zu der neulich schon eingeklebten Skizze“ bei.179 Kittel betonte, dass nicht bei jedem einzelnen der Mumienbilder sicher sei, dass es sich dabei auch tatsächlich um Juden handeln würde. Es stehe nur fest, dass diese charakteristischen Köpfe „in dem von Juden stark durchsetzten Ägypten der Kaiserzeit“ hergestellt worden seien. Auch bei den Synagogalbildern 177
Ein Foto dieses Raums ist bei Hans-Joachim Lang, Die Namen der Nummern. Wie es gelang, die 86 Opfer eines NS-Verbrechens zu identifizieren, Frankfurt a.M. 2007 (Erstauflage 2004), S. 139 abgedruckt. Lang verweist mit Recht auf die Parallele zwischen der Wiener Ausstellung und jener monströsen Sammlung von Judenschädeln, die August Hirt an der Reichsuniversität Straßburg aufbaute und zu deren Zweck eigens 86 Juden ermordet wurden. Ein anderes Foto dieses Raums bei Purin, Beschlagnahmt, S. 31. Hier auch weitere Abbildungen der Ausstellung. 178 „Der Buchbestand wurde bereits Ende 1938 von dem damaligen Führer des SDLeitabschnitts Wien, der das Rothschild’sche Gebäude seit den Umbruchstagen innehat, dem jetzigen SS-Brigadeführer Dr. W. Stahlecker in den Besitz der Nationalbibliothek eingewiesen, nicht zum wenigsten, um die Bestände geschlossener durch die größte wissenschaftliche Bibliothek der Ostmark dem Reichsbesitze zu erhalten.“ So der Leiter der Nationalbibliothek Paul Heigl an den Sonderbeauftragten Adolf Hitlers für das geplante „Führermuseum“ in Linz, Hans Posse, am 7.7.1941, Murray und Köstner, ‚...Allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern...‘, S. 129f. 179 Kittel an Wastl am 1.3.1939, ebd.
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wisse man weder, ob sie von jüdischen Künstlern oder nach jüdischen Modellen gemalt wurden, nur dass sie in der Synagoge als Wandschmuck dienten und von daher „wohl auf alle Fälle als charakteristisch für diejenige Bevölkerung, aus der das Proselytentum in das Judentum einströmte und damit die Rassenmischung vollzog“ angesehen werden könnten.180 Für die insgesamt 92 Fotos hatte Kittel rund 200 Reichsmark verauslagt, die ihm von Wastl rückwirkend erstattet wurden. Da Kittel dieses Anschauungsmaterial auch in seinen Publikationen verwertete, lässt sich relativ gut nachvollziehen, wie er die Existenz eines ewigen Judentums historisch zu begründen suchte. Eine besondere Rolle spielte in seiner Argumentation eine erst 1932 in Dura Europos am Euphrat entdeckte Synagoge, die einen reich bemalten Wandschmuck aufwies, auf den sich Kittel bei seiner Beweisführung stützte. Aus dem in archäologischer wie in religionsgeschichtlicher Hinsicht einzigartigen Fund der seit den 1920er Jahren erschlossenen Stadt Dura Europos,181 griff sich Kittel vor allem das Estherbild in der Synagoge heraus, um damit dem alten völkischen Stereotyp vom jüdischen Purim an den Nichtjuden mit einem sensationellen Fund eine neue wissenschaftliche Beweiskraft zu geben. Für Kittel war das aufgefundene Estherbild ein charakteristisches Beispiel „für den Haß und Herrschaftsanspruch der Juden über die Nichtjuden“. Sein Inhalt erklärte er als die triumphierende Darstellung des persischen Großkönigs, „der seine echte Gemahlin verlässt, um die Jüdin Esther zur Königin zu machen, wie daraufhin 75000 Nichtjuden niedergemetzelt werden, wie der den Juden feindliche Minister Haman gehängt und an seiner Stelle der Volljude Mardochai zum ersten Berater des Großkönigs erhoben wird“.182
Möglicherweise sei es kein Zufall, dass sich gerade dieses Bild der Nachwelt erhalten habe. Bereits damals sei in der Judenschaft mit dem Purimfest („und wird heute noch“) alljährlich eine große Feier abgehalten, um mit der Esthergeschichte dem jüdischen Triumph über die Nichtjuden zu
180
Ebd. Siehe hierzu den Artikel Dura-Europos, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Bd. 2, 1958, Sp. 287–292, v.a. den Abschnitt des Direktors des Orientalischen Instituts der Universität Chicago Carl Hermann Kraeling (Sp. 288–290). 182 Gerhard Kittel, Staatsbürgertum ohne völkische Verpflichtung, S. 242. Ein Abdruck des Estherbildes findet sich im beigefügten Fototeil. Im Text selbst ließ Kittel von Otto Stumpff eine Zeichnung anfertigen, die er auch in seinem Artikel über Die Rassenmischung des Judentums in ihren geschichtlichen Voraussetzungen (Kosmos, 1939, S. 154) zum Abdruck brachte. 181
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gedenken.183 Für Kittel war es deshalb nicht verwunderlich, dass „auch schon Martin Luther einst seinen ganzen Zorn“ über das Buch Esther ausgegossen habe.184 Wie sehr die Vorstellung vom jüdischen Purim an den Nichtjuden die Vorstellungswelt des nationalsozialistischen Antisemitismus bestimmte, zeigt auch eine Äußerung Walter Franks, der in einem Vortrag Adolf Hitler als den „größten ‚Haman‘ der Weltgeschichte“ und den Zweiten Weltkrieg als „letzten rasenden Versuch des Weltjudentums“ bezeichnete, um den Führer des Dritten Reiches in einem neuen Purim zu erwürgen.185 Als sich Kittel am 26. März 1939 bei Josef Wastl für die Überweisung der 200 Reichsmark bedankte, bat er um die Zusendung von Fotos der Ausstellung wie auch um eventuelle Zeitungsberichte darüber. Dem kam Wastl am 1. Juli nach, wobei er darauf hinwies, dass die im Mai eröffnete Ausstellung nach wie vor glänzend besucht werde.186 Vermutlich erhielt Kittel hierbei auch den ausführlichen Bericht aus der Abendausgabe des Neuen Wiener Tagblatts vom 8. Mai 1939 zugeschickt, der besonders auf die von Kittel bereitgestellten Materialien einging.187 Der Artikel machte sich Kittels Argumentationsschema zu eigen und verwies auf die Menorah als jüdisches Symbol, anhand dessen die Ausbreitung des Judentums besonders gut nachweisbar sei. Auch zahlreiche andere vorderasiatischen Denkmale würden erkennen lassen, dass die Juden schon in der römischen Kaiserzeit weite Wanderungen unternahmen und dass sie vor 3000 Jahren im wesentlichen die gleichen Gesichtszüge aufwiesen wie heute. „Es zeigen sich immer wieder dieselben Grundrassentypen, die uns den Juden verraten“.188 Der Berichterstatter hatte sich aber auch durch die Gegenüberstellung der spanisch-gallischen Synodialbeschlüsse mit den Nürnberger Gesetzen beeindrucken lassen. Dadurch sei bewiesen, dass auch die katholische Kirche „die Notwendigkeit empfand, ihre Glaubensgenossen vor dem schädlichen Einwirken der Juden zu beschützen“.189 Dass Wastl in seinem Brief an Kittel auf den guten Besuch der Ausstellung hinweisen konnte, war auch insofern von Bedeutung, weil er für seine wissenschaftlich ange183
Kittel, Staatsbürgertum ohne völkische Verpflichtung, S. 242. Ebd. 185 Zitiert nach Heiber, Walter Frank, S. 681. 186 Kittel an Wastl am 26.3.1939 und Wastl an Kittel am 1.7.1939, Naturhistorisches Museum Wien, Anthropologische Abteilung, Korrespondenz 1939. 187 Das Erscheinungsbild der Juden. Eine interessante Sonderausstellung des Naturhistorischen Museums, in: 6-Uhr-Abendblatt vom 8.5.1939, auszugsweise wiedergegeben bei Purin, Beschlagnahmt, S. 13f. 188 Ebd., S. 13. 189 Ebd., S. 14. 184
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legte Ausstellungskonzeption kritisiert worden war, die den Zuschauern zuviel abverlangen würde. Schon bei der Pressebesichtigung hatte Wastl auf den wissenschaftlichen Anspruch der Darstellung hingewiesen. Durch „rein wissenschaftliche Methoden“ solle gezeigt werden, dass die Unterscheidungsmerkmale der Juden durchweg erbbedingt seien und dass eine Lösung des Judenproblems deswegen nur durch eine strenge Scheidung der Rassen möglich sein werde.190 Am 9. Mai brachte das Wiener Neue Tagblatt in seiner Morgenausgabe einen weiteren Bericht, der als besonders interessant vermerkte, dass im Vergleich mit der Münchener Ausstellung „Der ewige Jude“ die Wiener Schau „zu denselben Ergebnissen kommt wie jene Ausstellung, obwohl sie sich nicht propagandistischer, sondern rein wissenschaftlicher Methoden bedient“.191 Im Tagebuch von Joseph Goebbels findet sich ein in dieser Hinsicht bemerkenswerter Eintrag über die Münchener Ausstellung, in dem es heißt: „Mit Streicher Ausstellung ‚Der ewige Jude‘ besichtigt. Sie ist in den Argumenten vorzüglich. Aber zu akademisch und zu wissenschaftlich. Zuviel Material. Ich lasse kürzen und besser ordnen. Dann wird sie sehr gut.“192 Aus der Sicht des nationalsozialistischen Politikers zählte als erstes der Publikumserfolg, dem sich der Grad der Wissenschaftlichkeit unterzuordnen hatte. Um ein Massenpublikum zu erreichen, durfte der Anteil an theoretischer Abstraktion nicht zu hoch sein. Kittels „Wanderungskarte“ verlangte eindeutig zu viel intellektuelle Anstrengung von einem normalen Ausstellungsbesucher. Andererseits wäre eine reine Propaganda, die bei den Besuchern das Gefühl aufkommen ließ, mit Gräuelmärchen abgespeist zu werden, von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Auf die richtige Mischung propagandistischer und sachlicher Elemente kam es deshalb an. Bei dem an die Ausstellung anschließenden Kinofilm „Der ewige Jude“ verschob sich das Gewicht noch stärker hin zur politischen Propaganda. Er lief im Dezember 1940 in den deutschen Kinos an und kann als Paradebeispiel audiovisueller Manipulation gelten. Der Anspruch blieb indes der gleiche wie bei der Ausstellung, nämlich mit Hilfe objektiver Tatsachen über das wahre Wesen des Judentums aufzuklären. Die Aufklärung diente in diesem Zusammenhang allerdings weniger der Vermittlung von Informationen – diejenigen, die den Film sahen, wa-
190 Zitiert bei Dirk Rupnow, Vernichten und Erinnern. Spuren nationalsozialistischer Gedächtnispolitik, Göttingen 2005, S. 121. 191 Juden seit drei Jahrtausenden unverändert, in: Neues Wiener Tagblatt vom 9.5.1939, zitiert nach Rupnow, Vernichten und Erinnern, S. 121. 192 Elke Fröhlich, Hg., Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente, Teil 1, Bd. 3, München 1987, S. 329.
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ren in der Regel bereits überzeugte Antisemiten –, sondern der Aktivierung von Emotionen und der Radikalisierung der Judenpolitik. Die Strategie des Legalismus hatte ausgedient und sollte allenfalls dem Schein nach aufrechterhalten werden. Goebbels entwickelte das Konzept eines antisemitischen „Dokumentarfilms“ in der direkten Reaktion auf die Reichspogromnacht und in Übereinstimmung mit einer strategisch geplanten Verschärfung der nationalsozialistischen Judenpolitik.193 Als Hitler am Abend des 10. November 1938 einen Empfang für die deutsche Presse gab, verkündete er vor etwa 400 Journalisten und Verlegern die neuen Propagandarichtlinien.194 Die Zeit des Redens sei nunmehr vorbei und die deutsche Nation an einem Punkt angelangt, wo sie nicht mehr mit sich spaßen lasse. Die „pazifistische Platte“ habe sich abgespielt. Man müsse dem deutschen Volk klar machen, „daß es Dinge gibt, die, wenn sie nicht mit friedlichen Mitteln durchgesetzt werden können, mit Mitteln der Gewalt durchgesetzt werden müssen“.195 Wie schon bei der Ausstellung „Der ewige Jude“ lieferte das Goebbelsche Institut zum Studium der Judenfrage auch Material und Hintergrundwissen für den von Fritz Hippler (1909–2002) produzierten Film. Das Skript schrieb Dr. Eberhard Taubert (1907–1976) von der Antikomintern, der später für die Propaganda in den besetzten Ostgebieten verantwortlich zeichnete. Offenbar wurden auch die von Kittel für die Ausstellung beigesteuerten Zitate aus der jüdischen Literatur eingearbeitet. Vor allem die religiösen Szenen des Films in den Sequenzen 33–35 wurden durch eingestreute Zitate aus dem normativen Schrifttum des Judentums „belegt“ und durch eine düster orientalisierende Musik untermalt.196 Es wäre noch genauer zu prüfen, inwieweit die im Film wiedergegebenen Zitate und Belegstellen der philologischen Exaktheit entbehrten und tatsächlich vom Original abwichen.197 Eine wichtige Funktion hatte im Film auch die 193
Siehe dazu Felix Moeller, Der Filmminister. Goebbels und der Film im Dritten Reich, Berlin 1998, S. 239f. und Christian T. Barth, Goebbels und die Juden, Paderborn 2003, S. 149–153. 194 Eine von Wilhelm Treue kommentierte Fassung der „Rede Hitlers vor der deutschen Presse“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 6, 1958, S. 175–191. 195 Ebd., S. 182f. 196 Sequenz 33: das Purmifest als „jüdisches Rachefest“ (49:14–52:18, 184 Sekunden), Sequenz 34: Unterricht in einer Talmudschule als „politische Erziehung eines Parasitenvolkes“ (52:18–54:10, 112 Sekunden), Sequenz 35: „heuchlerisches Beten und Schachern“ in einer polnischen Synagoge (54:10–59:01, 291 Sekunden). Siehe Stig HornshøjMøller, ‚Der ewige Jude‘. Quellenkritische Analyse eines antisemitischen Propagandafilms, Göttingen 1995, S. 153–167. 197 Die Gegenüberstellung bei Stephan Dolezel für Stellen aus dem Talmud und dem Schulchan Aruch scheint mir nicht so gravierende Unterschiede zu ergeben. Stephan
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Verwendung von verschiedenen „Wanderungskarten“ der Juden, deren „Wanderungslinien“ in Bewegung gesetzt wurden und so den Eindruck einer unheimlichen Ausbreitung der Juden verstärkten. Sie galten als eine der technischen Innovationen des Films. Die Suggestivkraft solcher Bedrohungsbilder, zumal wenn sie in der vielleicht bekanntesten Szene mit der Ausbreitung einer Rattenplage verknüpft wurden, war enorm. Sicherlich bestand der hauptsächliche Unterschied zwischen Ausstellung und Film in der kriegsbedingten Verschärfung der „Judenfrage“. Der Beginn des Krieges brachte einen weiterer Radikalisierungsschub, der die bereits durch das Pogrom vom November 1938 verschlechterte Situation der Juden in Deutschland dramatisch zuspitzte. Mit dem Zweiten Weltkrieg ergab sich außerdem die Möglichkeit, die Ressourcen der besetzten Länder für die ideologische Kriegsführung auszunützen. Nachdem die Wehrmacht am 8. September 1939 das polnische Łódż eingenommen hatte, beauftragte Goebbels bereits einen Monat später Hippler, in diesem Zentrum des ostjüdischen Lebens, möglichst authentische Filmaufnahmen zu drehen.198 Am 31. Oktober 1939 flog Goebbels selbst nach Łódż, um sich vor Ort ein Bild über die Lage zu machen. Er sah dort seine schlimmsten Befürchtungen und Vorurteile bestätigt. Noch in seinem Tagebuch wird der Schrecken sichtbar, der Goebbels in Łódż befiel.199 Schon vor seiner Polenreise hatte sich der Propagandaminister erste Filmproben angesehen, darunter auch „Synagogenaufnahmen von außerordentlicher Prägnanz“.200 Die dem Film zugedachte Aufgabe, der Nachwelt ein SchrecDolezel, ‚Schicksalswende‘ und ‚Der ewige Jude‘. Antisemitische Filmpropaganda am Anfang der NS-Ostexpansion (1939–1940), in: Die Juden in den böhmischen Ländern. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 27.–29. November 1981, München 1983, S. 292 198 Hippler solle alles filmen, was ihm vor die Flinte komme: „Das Leben und Treiben auf den Straßen, das Handeln und Schachern, das Ritual in der Synagoge, das Schächten nicht zu vergessen. Wir müssen alles an diesen Ursprungstätten aufnehmen, denn bald werden hier keine Juden mehr sein. Der Führer will sie alle aussiedeln, nach Madagaskar oder in andere Gebiete. Deshalb brauchen wir diese Filmdokumente für unsere Archive“. Zitiert nach Christian Hardinghaus, Filmpropaganda für den Holocaust? Eine Studie anhand der Hetzfilme ‚Der ewige Jude‘ und ‚Jud Süß‘, Marburg 2008, S. 36. 199 Am 2.11.1939 hielt er fest: „Fahrt durch das Ghetto. Wir steigen aus und besichtigen alles eingehend. Es ist unbeschreiblich. Das sind keine Menschen mehr, das sind Tiere. Das ist deshalb auch keine humanitäre, sondern eine chirurgische Aufgabe. Man muß hier Schnitte tun, und zwar ganz radikale. Sonst geht Europa einmal an der jüdischen Krankheit zugrunde.“ Fröhlich, Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil 1, Bd. 3, S. 628. Siehe dazu auch Stefan Mannes, Antisemitismus im nationalsozialistischen Film. ‚Jud Süß‘ und ‚Der Ewige Jude‘, Köln 1999, S. 57f. 200 Tagebucheintrag vom 24.10.1939, Fröhlich, Die Tagebücher von Joseph Goebbels, a.a.O., S. 619.
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kensbild des Ost- und Ghettojudentums zu bewahren, erfuhr dadurch eine besondere Dringlichkeit, dass die Deutschen zwischen dem 15. und 17. November 1939 alle Synagogen in Łódż zerstörten. Nun sollte das propagandistische Bild allein die Erinnerung an sie wach halten. Wie Stig Hornshøj-Møller in seiner eingehenden Studie herausfand, stammten etwa ein Drittel aller Einstellungen des Films „Der ewige Jude“ aus Polen.201 Bereits im Vorspann des Films wurden die Kinobesucher davon unterrichtet, dass sie Original-Aufnahmen aus polnischen Ghettos zu sehen bekommen würden.202 Am 11. April 1940 erhielt Łódż den Namen Litzmannstadt, und am 30. April wurde das Ghettogelände abgesperrt. Das von Gerhard Kittel gemeinsam mit Eugen Fischer verfasste Buch über das antike Weltjudentum hatte das erklärte Ziel, zu veranschaulichen, „in welchem Maße schon die antike Weltjudenfrage eine gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische und rassische Frage gewesen ist“.203 Analog zu der Ausstellung und dem Film „Der ewige Jude“ vertraten auch die beiden Autoren die Auffassung, dass es ein rassisch bestimmtes „ewiges Wesen“ des jüdischen Volkes geben würde, das sich über die Jahrhunderte hinweg erhalten habe. Egal wie sich die Juden auch immer zu tarnen suchten, dem geschulten Blick der beiden Rassenforscher konnte der sich dahinter verbergende jüdische Rassentypus nicht entgehen. Um die Kontinuität des „Judenproblems“ zu visualisieren, stellte Kittel Fotos antiker Mumienbilder neben Porträtaufnahmen von Juden, die Fischers Mitarbeiter Anfang 1940 in Łódż gemacht hatten, und verglich sie miteinander. Kittel und Fischer konnten sich keineswegs sicher sein, dass die ausgewählten Mumienporträts aus den ersten nachchristlichen Jahrhunderten tatsächlich Juden darstellten und nicht lediglich Menschen, die wegen ihres Aussehens von ihnen für Juden gehalten oder zu Juden deklariert wurden.204 Das hielt sie jedoch nicht davon ab, Aufnahmen dieser angeblichen Vertreter der jüdischen Rasse mit Fotos von polnischen „Ghettojuden“ aus Litzmannstadt zu parallelisieren. Einem solchen ‚antiken Juden‘ 201
Hornshøj-Møller, ‚Der ewige Jude‘, S. 24. „Die zivilisierten Juden, welche wir aus Deutschland kennen, geben uns nur ein unvollkommenes Bild ihrer rassischen Eigenart. Dieser Film zeigt Original-Aufnahmen aus polnischen Ghettos, er zeigt uns die Juden, wie sie wirklich aussehen, bevor sie sich hinter der Maske des zivilisierten Europäers verstecken.“ Ebd., S. 43f. 203 Fischer und Kittel, Das antike Weltjudentum, S. 11. 204 Bei diesen Mumienbildern handelte es sich um frontal gemalte Porträts, die im römerzeitlichen Ägypten auf Kopfhöhe in die Bandagen der Mumien eingewickelt wurden, um den Toten ein Gesicht zu geben. Die Funde konzentrierten sich auf die ägyptische Oasenstadt Fayyum. Siehe dazu Mareile Haase, Mumienporträt und ‚Judenbild‘ 1933–1943–1996, in: Christoph Auffarth und Jörg Rüpke, Hg., Studien zur römischen Religion in Antike und Neuzeit, Stuttgart 2002, bes. S. 251–255. 202
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wurde das Foto eines polnischen Juden beigesellt, dessen Bildunterschrift lautete: „Sehr ähnlicher Typ: Jude aus Litzmannstadt, photographiert 1940“.205 Somit deckte sich nicht nur die Hauptaussage des Fischer-Kittelschen Buches vom sich „ewig“ gleich bleibenden Juden mit der des Films, sondern auch die Art der Beweisführung mit Hilfe von Material, das sich der Besetzung Polens verdankte. Fischer hatte Anfang 1940 vier seiner Mitarbeiter in das von den Deutschen okkupierte Łódż geschickt, um sie dort eine anthropologische Reihenuntersuchung durchführen zu lassen, bei der sie von etwa 250 Juden Finger- und Handabdrücke nahmen.206 Da sie nun schon einmal da waren, konnten sie auch Aufnahmen von charakteristischen polnischen „Ghettojuden“ machen, wobei der Impuls wahrscheinlich von Kittel ausging. Kittel bat Fischer auch darum, seine Auswahl antiker Judenbilder aus der Sicht des Anthropologen rassentypologisch zu beurteilen. Auf Wunsch Fischers wiederum ließ Otmar Freiherr von Verschuer, sein Nachfolger als Direktor des Berliner Kaiser-WilhelmInstituts für Anthropologie, Dias von Kittels „Judenbildern aus Ägypten“ für die hauseigene Sammlung anfertigen.207 Alle drei kannten sich von ihrer gemeinsamen Tätigkeit im Sachverständigenrat der Forschungsabteilung Judenfrage und deren Arbeitstagungen her. Kittel brachte in Das antike Weltjudentum aber auch seine Trierer Terrakotten zum Einsatz, die er die „ältesten Karikaturen des Weltjudentums“ nannte und mit denen er nicht nur die Existenz einer Weltjudenfrage ‚belegte‘, sondern die er auch als „Beweis der damaligen antijudaistischen Verachtung der Juden in der Volksmeinung und seine Verhöhnung in der volkstümlichen Posse“, das heißt als Beweis für eine schon damals ausgelöste antisemitische Gegenreaktion ausgab.208 Wie in dem Film „Der ewige Jude“ das Purimfest als „jüdisches Rachefest“ dargestellt wurde, so erklärte auch Kittel, dass die Juden jedes Jahr das Purimfest zum Gedenken an den Sieg über die Nichtjuden feiern würden. Dabei werde aus dem Estherbuch vorgelesen „und eine wilde Orgie der Freude über die Vernichtung der Gegner abgehalten.“209 205
Ebd., S. 116f., Nr. 71 und 71a bzw. auch S. 120f., Nr. 79 und 79a. Hans-Walter Schmuhl, Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927–1945, Göttingen 2005, S. 446f. Das genaue Datum der „Forschungsreise“ ist nicht bekannt. In den Akten des KaiserWilhelm-Instituts für Anthropologie findet sich jedoch eine abschließende Kostenaufstellung vom 31.3.1940 in Höhe von 1853,96 Reichsmark. Ebd. 207 Ebd., S. 445. 208 Fischer und Kittel, Das antike Weltjudentum, S. 172. 209 Ebd., S. 85. Kittels Abschnitt über das jüdische Purimfest (S. 80–89) trug bezeichnenderweise den Titel „Die Menschenfeinde“. 206
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Die Arbeitsgemeinschaft zwischen Kittel, Fischer, Verschuer und Hans Fleischhacker (1912–1992) galt als Musterbeispiel für die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Geistes- und Naturwissenschaft, die durch die Forschungsabteilung Judenfrage angestoßen wurde und die es ermöglichte, dass man sich gegenseitig half, die Defizite der eigenen Rassenkonzeption auszugleichen. Nicht nur für Goebbels, auch für Kittel und Fischer hatte die Situation der in Litzmannstadt unter unmenschlichen Bedingungen lebenden Juden die Funktion einer self-fulfilling prophecy, die auf eine mit Händen zu greifende Weise die eigenen Projektionen bestätigte. Der Krieg führte hier zu einer Entgrenzung des wissenschaftlichen Ethos wie auch der allgemeinen menschlichen Moral, die im Falle der Juden außer Kraft gesetzt zu sein schien. Der Tübinger Anthropologe Hans Fleischhacker führte 1941/42 ebenfalls Hautleistenuntersuchungen an etwa 300 Juden im Ghetto in Litzmannstadt durch.210 Dabei kam er wie Otmar von Verschuer zu dem Ergebnis, dass man an einer unterschiedlichen Musterverteilung der Papillarleisten Juden von anderen Rassen morphologisch unterscheiden könne. Mit dieser Arbeit habilitierte sich Fleischhacker im Sommer 1943 an der Universität Tübingen! Nachdem er von Juni 1941 bis Oktober 1942 als Abteilungsleiter des Rasse- und Siedlungshauptamtes in Litzmannstadt gearbeitet hatte, übernahm er im Juni 1943 die heikle Aufgabe, zusammen mit Bruno Beger (1911–2004) im Auftrag August Hirts (1898–1945) und des SS-Ahnenerbes im Konzentrationslager Auschwitz geeignete Juden für die an der Reichsuniversität Straßburg im Aufbau befindliche Schädelsammlung auszuwählen.211 Ursprünglich war dafür auch der Tübinger Religionswissenschaftler Hans Endres (1911–2004) vorgesehen. Doch wegen eines gegen ihn anhängigen Ehrengerichtsverfahrens wurde er nicht in das Konzentrationslager Auschwitz mitgenommen.212 Noch im Juli 1944 habilitierte sich Endres ebenfalls an der Universität Tübingen mit einer rassenkundlichen Untersuchung an einer Tübinger Schulklasse für „Vergleichende Religionswissenschaft mit besonderer Berücksichtigung von Religion und Rasse“.213 Einer seiner Hauptgutachter war dabei der Direktor des Rassenbiologischen Instituts Wilhelm Gieseler, der auch die Arbeit seines früheren Assistenten Fleischhacker begutachtete. Im Gegensatz zu Endres wurde Fleischhacker relativ problemlos entnazifiziert. Nachdem er einige Jahre als Assistent am Frankfurter Institut für 210
Siehe Elke Thran, Hans Fleischhacker, in: Wiesing u.a., Hg., Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus, S. 853–862. 211 Siehe Lang, Die Namen der Nummern, S. 153–159. 212 Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft, S. 280–283. 213 Ebd., S. 287f.
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Vererbungswissenschaft gearbeitet hatte, holte ihn Gieseler nach Tübingen, wo Fleischhacker im März 1960 die Habilitationsleistung ein zweites Mal anerkannt und ihm die Dozentur für Anthropologie wiedererteilt wurde. Ein Jahrzehnt später musste sich Fleischhacker 1970 einem Gerichtsverfahren stellen, das jedoch im März 1971 mit einem Freispruch endete. Auch die Übernahme von Büchern und anderem Hab und Gut aus jüdischem Besitz, sei es von Privatpersonen oder Institutionen, ließ sich während des Krieges wesentlich leichter bewerkstelligen als in Friedenszeiten. Hatte die „Reichstauschstelle“ an der Berliner Staatsbibliothek schon vorher in nicht unbedeutendem Umfang Bücher von emigrierten und enteigneten Juden weiterverteilt, erhöhte sich der Umschlag geraubter Bücher nach dem Überfall auf Polen in exorbitantem Umfang.214 Von dem Bücherraub profitierten auch die Universitätsbibliotheken, die jedoch angehalten wurden, diese Neuzugänge zu separieren und von der allgemeinen Nutzung auszuschließen. Um keine Spuren zu hinterlassen sei, wie es in den beigegebenen Anschreiben solcher „Geschenke“ üblicherweise hieß, von einer Empfangsbestätigung abzusehen. Auf keinen Fall dürften solche Bücher „abgegeben, verkauft oder auf anderem Wege wieder in den Verkehr gebracht werden“.215 Am Beispiel der Bibliothek des Stuttgarter Arztes Cäsar Hirsch (1885–1940) lässt sich die kriegsbedingt neue Dimension des Bücherraubs gut erkennen. Die von der Gestapo beschlagnahmte medizinische Bibliothek des Chefarztes am Stuttgarter Marienhospital hatte im Juni 1938 in 29 Kisten Eingang in die Tübinger Universitätsbibliothek gefunden. Bibliotheksdirektor Georg Leyh (1877–1968) quittierte ihren Empfang am 22. Juni 1938 und legte den Schriftwechsel mit der Gestapo im Ordner „Geschenke“ ab.216 Offenbar hatte man aber Hemmungen und ver-
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Die jetzige Generaldirektorin der Berliner Staatsbibliothek Barbara SchneiderKempf bezifferte in einem Radiointerview mit dem Deutschlandfunk am 2.5.2007 die Zahl der von der Reichstauschstelle insgesamt umgeschlagenen Bücher auf etwa eine Million. 215 Ein vervielfältigtes Schreiben dieser Art ist wiedergegeben bei Hans-Joachim Lang, Reichstauschstelle, Preußische Staatsbibliothek und die Gestapo als Bücherlieferanten der UB Tübingen, in: Hans Erich Bödeker und Gerd-Josef Bötte, Hg., NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preußische Staatsbibliothek, Vorträge des Berliner Symposiums am 3. und 4. Mai 2007, München 2008, S. 139. Daraus auch das Zitat. 216 Ebd., S. 138. Siehe auch ders., Ein Geschenk der Gestapo. Wie die Tübinger EberhardKarls-Universität zur Privatbibliothek von Cäsar Hirsch gekommen ist, in: Maria KühnLudewig, Hg., Displaced books. Bücherrückgabe aus zweierlei Sicht. Beiträge und Materialien zur Bestandsgeschichte deutscher Bibliotheken im Zusammenhang von NS-Zeit und Krieg, Hannover 1999, S. 100–108 und ders., Chronik der Enteignung. Wie Cäsar
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wahrte die Bücher nur, anstatt sie zu verwerten. Erst als die Finanzbehörden während des Krieges grünes Licht gaben, wurde ein großer Teil der Bibliothek, immerhin an die 900 Bücher und Zeitschriftenbände, magaziniert, ein kleiner Teil weiterverteilt bzw. die Dubletten auch weiterverkauft. Ein vor dem Krieg noch rudimentär vorhandenes Unrechtsbewusstsein, sich auf diese Weise jüdischen Eigentums zu bemächtigen, hatte sich nun verflüchtigt. Zur gleichen Zeit, als das Finanzamt Berlin-Moabit den Fall fiskalisch abzuschließen gedachte, nahm sich Hirsch im Mai 1940 in den USA aus Verzweiflung über seine Situation das Leben.217 Auf mehr als fragwürdige Weise kam auch ein großer Teil der Privatbibliothek des Hallenser Staats- und Völkerrechtlers Max Fleischmann (1872–1943) in den Besitz der Bibliothek des Öffentlich-Rechtlichen Seminars der Universität Tübingen. Fleischmann war wegen seiner jüdischen Vorfahren in Halle 1935 zwangsweise in den Ruhestand versetzt worden und siedelte sechs Jahre später nach Berlin über. Am 14. Januar 1943 wollte ihn die Gestapo festnehmen, weil er sich weigerte, den Judenstern zu tragen. Um seiner Verhaftung zu entgehen, beging Fleischmann Selbstmord. Schon im März 1943 hatte man in Tübingen Wind von der „günstigen Gelegenheit“ bekommen, für wenige tausend Reichsmark die Bibliothek Fleischmanns übernehmen zu können.218 Nachdem der Rektor den Fakultätsantrag für die Bewilligung der beantragten Summe gleichentags an das Stuttgarter Ministerium weiterleitete, konnte die Universität das Geld im Juni 1943 an die Witwe Fleischmanns überweisen und noch im gleichen Monat die gewünschten Bücher in Besitz nehmen. Die der Universität Tübingen im September 1941 angebotene Reiseschreibmaschine der Karlsruher Jüdin Sophie Ettlinger (geb. 1885, das genaue Todesdatum ist unbekannt) bezeichnet einen besonders schweren Hirsch vom deutschen Staat um sein Vermögen gebracht wurde, in: Schwäbisches Tagblatt vom 7.2.2003. 217 Lang, Reichstauschstelle, S. 138f. Hirsch war am 31.3.1933, am Vortag des Aprilboykotts, der sich besonders gegen jüdische Ärzte und Rechtsanwälte richtete, aus Deutschland geflohen. Zur Eintreibung der „Fluchtsteuern“ wurde sein Haus und Vermögen in Stuttgart beschlagnahmt und staatlicherseits verwertet, das heißt ausgeplündert. 218 Felix Genzmer (1878–1959) schrieb nach einer Besprechung mit drei Kollegen am 8.4.1943 an den Rektor: „Da ich glaube, die günstige Gelegenheit nicht ungenützt vorbeigehen lassen zu dürfen, bitte ich Ew. Magnifizienz zu bewirken, dass dem völkerrechtlichen Seminar für den Ankauf ein ausserordentlicher Betrag von RM 5000,– bewilligt wird.“ Hans-Joachim Lang, Die Tübinger Juristen-Fakultät als Schnäppchenjäger. Zum Schicksal der Privatbibliothek des verfolgten Völkerrechtlers Max Fleischmann aus Halle, in: Stefan Alter u.a., Hg., Bibliotheken in der NS-Zeit. Provenienzforschung und Bibliotheksgeschichte, Wien 2008, S. 182.
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Fall nationalsozialistischen Raubs. Die Sophie Ettlinger gestohlene Schreibmaschine diente zwar auch der Bereicherung, aber mehr noch der Effizienzsteigerung im Kampf gegen das Judentum. Das hebt ihr Beispiel aus dem Bereich des bandenmäßigen Diebstahls, wie ihn staatliche Instanzen im großen Stil an den deportierten Juden durchführten, noch heraus. Am 18. September 1941 fragte das Reichserziehungsministerium bei der Universität Tübingen nach, ob Interesse an einer fabrikneuen Reiseschreibmaschine aus sichergestelltem jüdischen Besitz bestehe, die vom Karlsruher Polizeipräsidenten, Abteilung Jüdische Vermögen, am 18. Juli 1941 zum Verkauf angeboten worden war.219 Bei der „Inventarisierung des Umzugsguts“ der Jüdin „Sofie Sara Ettlinger“ aus Karlsruhe sei eine „fabrikneue Reiseschreibmaschine ‚Marke Torpedo‘ mit hebräischen Typen sichergestellt worden, die auf hebräische Art von rechts nach links schreibt“. Bevor die Schreibmaschine anderweitig verwertet würde, stellte das Reichserziehungsministerium der Universität anheim, „sie für eine der altphilologischen oder theologischen Fakultäten zum Taxwert im Wege des Freihandverkaufs zu erwerben“. Bei Interesse an einer „Übernahme“ solle man sich umgehend melden. Nachdem das Rektorat die Anfrage des Ministeriums am 8. Oktober 1941 an die Philosophische und Evangelisch-theologische Fakultät weitergeleitet hatte, schrieb der Dekan der Philosophischen Fakultät Carl August Weber noch am gleichen Tag zurück und bat, die Schreibmaschine der Fakultät „zum Erwerb sicherzustellen“. Sie solle der Forschungsstelle zur Geschichte des Judentums unter der Leitung Karl Georg Kuhns nutzbar gemacht werden.220 Auch Artur Weiser wünschte als Dekan der Evangelisch-theologischen Fakultät die Schreibmaschine in Besitz zu nehmen und wandte sich am 13. Oktober direkt an das Reichserziehungsministerium, um den eigenen Anspruch anzumelden. Mit Karlsruhe habe er sich „zu diesem Zweck“ direkt ins Benehmen gesetzt. Den Karlsruher Polizeipräsidenten ließ er am gleichen Tag wissen: „Für die dort aus dem Vermögen der Sophie Sara Ettlinger, Ww., Karlsruhe, Herrenstr. 22, sicher gestellte Reiseschreibmaschine mit hebräischen Typen besteht bei diesseiti-
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UAT 117C/18, Akademisches Rektoramt, hiernach das Folgende. Auf die Nachfrage des Rektors, aus welchen Mitteln die Schreibmaschine erworben werden solle, vermerkte Weber handschriftlich: „Das wesentliche ist, dass nicht die anderen Universitäten uns zuvorkommen. Erst wenn das gesichert ist und wir den Preis kennen, kann ich sagen, wie weit die Mittel der Fak.[ultäts|-Kasse reichen werden.“ Ebd. 220
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ger Fakultät Interesse am Erwerb. Ich bitte um Mitteilung des Taxwertes der Maschine, Heil Hitler! Weiser.“221
Am 15. Oktober schrieb der Tübinger Rektor nach Karlsruhe, dass die Universität die Schreibmaschine für die „Judenforschung“ und die Evangelisch-theologischen Fakultät gut gebrauchen könne und dass sie deshalb nicht anderweitig abgegeben werden solle: „Die Universität Tübingen benötigt hier für die Forschungsstelle zur Geschichte des Judentums und für die Evangelisch-theologische Fakultät eine Schreibmaschine mit hebräischen Typen. Die erwähnte Forschungsstelle ist die einzige dieser Art an deutschen Universitäten. Ich bitte deshalb, die Maschine in erster Linie der Universität Tübingen anzubieten.“222
Doch seit dem Angebot aus Karlsruhe waren bereits etliche Wochen vergangen, so dass die Universität Tübingen den kürzeren zog. „Auf ihre Anfrage vom 15. Oktober 1941“, antwortete der Karlsruher Polizeipräsident am 16. Oktober, „teile ich Ihnen mit, dass die im obenbezeichneten Lift sichergestellte Reiseschreibmaschine mit hebräischen Typen zwischenzeitlich von mir an das Institut der NSDAP zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt a.M. Bockenheimerlandstr. 70 im Wege des Freihandverkaufs abgegeben wurde“. Falls jedoch eine andere badische Außenstelle seiner Behörde über eine solche Schreibmaschine verfüge, werde er diese veranlassen, sich direkt mit der Universität ins Benehmen zu setzen.223 Nun konnten Wilhelm Grau, Johannes Pohl und Klaus Schickert von der Frankfurter Konkurrenz auf Sophie Ettlingers fabrikneuer Reiseschreibmaschine hebräische Zitate abtippen und nicht Karl Georg Kuhn oder ein Mitglied der Evangelisch-theologischen Fakultät in Tübingen. Bei dem zwischen der Universität Tübingen, dem Karlsruher Polizeipräsidenten und dem Reichserziehungsministerium geführten Briefwechsel ist die Offenheit bemerkenswert, mit der man sich über die Aneignung der von einer deportierten Jüdin stammenden Schreibmaschine verständigte. Man kannte sogar ihren Namen und ihren früheren Wohnort. Aufgrund welchen Rechts glaubten der Rektor und die beiden Dekane der Universität Tübingen Sophie Ettlingers Besitz übernehmen zu dürfen? Auch bei einer noch so weiten Auslegung des nationalsozialistischen 221 Dekan Artur Weiser an das Polizeipräsidium Karlsruhe am 13.10.1941. Ebd. Das Wort „sicher gestellt“ so im Original. Bei dem Namen „Sarah“ wurde der Buchstabe „h“ ausgestrichen. 222 Schreiben des Rektors an den Herrn Polizeipräsidenten in Karlsruhe vom 15.10.1941, ebd. 223 Ebd.
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Rechtsempfindens musste allen Beteiligten klar gewesen sein, dass die Karlsruher Jüdin ihre Schreibmaschine nicht freiwillig hergegeben hatte. Man könnte fast meinen, dass die Tübinger Universitätsvertreter von einer Art natürlichem Anspruch ausgingen, der es ihnen erlaubte, an nationalsozialistischem Raubgut zu partizipieren. Wie etliche ihrer Familienmitglieder wurde Sophie Ettlinger im Rahmen der Bürckel-Wagner-Aktion am 22. Oktober 1940 nach Gurs abgeschoben. Nach dem Waffenstillstand mit Frankreich, wollten sich die beiden Gauleiter von Baden und der Saarpfalz Robert Wagner (1895–1946) und Josef Bürckel (1895–1944) besonders hervortun und fassten den Plan, alle Juden aus ihren Gauen, aber auch aus dem ihnen unterstellten Elsass und Lothringen, zu deportieren. Am 22. und 23 Oktober wurden mehr als 6500 badische, pfälzische und saarländische Juden am helllichten Tag und vor aller Augen festgenommen, in Züge verfrachtet und in das französische Internierungslager Gurs an der spanischen Grenze verschleppt.224 Schon im ersten Winter starben in Gurs etwa 1000 Menschen an den unmenschlichen Bedingungen im Lager. Mit einem zutreffenden Ausdruck wurde Gurs wegen der dort herrschenden Lebensumstände, aber auch wegen dem, was vielen noch bevorstand, als Vorhölle bezeichnet. Als am 20. Januar 1942 auf der Wannsee-Konferenz in Berlin eine formelle Entscheidung für die „Endlösung der Judenfrage“ getroffen worden war, begann Theodor Dannecker sogleich, die Deportation der Juden aus Frankreich in die Vernichtungslager in die Wege zu leiten.225 Mit Adolf Eichmann besprach Dannecker am 1. Juli 1942 in Paris Fragen der organisatorischen und rechtlichen Durchführung einer schnellstmöglichen und restlosen „Freimachung“ Frankreichs von den Juden.226 Um vor Ort die letzten Vorbereitungen für einen möglichst raschen „Abschub“ der Juden zu treffen, fuhr Dannecker als Vorbote des Todes am 18. Juli selbst in das Internierungslager nach Gurs. Der Besuch sei aber für ihn „eine ziemliche Enttäuschung“ gewesen, weil er mit wesentlich mehr Juden im Lager gerechnet habe. Seine Abschubpläne musste er deswegen
224 Siehe dazu besonders Johannes Obst, Gurs. Deportation und Schicksal der badischpfälzischen Juden 1940–1945, Mannheim 1986, Josef Werner, Hakenkreuz und Judenstern. Das Schicksal der Karlsruher Juden im Dritten Reich, Karlsruhe 1988 und Stefanie Gerlach und Frank Weber, ‚...es geschah am helllichten Tag!‘ Die Deportation der badischen, pfälzischen und saarländischen Juden in das Lager Gurs/Pyrenäen, Stuttgart 2004. 225 Siehe hierzu den bei Obst (Gurs, S. 95) abgedruckten Aktenvermerk Danneckers vom 10.3.1942, in dem er erklärte, dass er jetzt mit der französischen Regierung in Verhandlungen „wegen des Abschubs von rd. 5000 Juden nach dem Osten“ eintreten werde. 226 Auch hiervon gibt es einen Aktenvermerk. Eine Kopie bei Obst, Gurs, S. 95f.
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nach unten korrigieren.227 Zwischen dem 5. August und dem 1. September 1942 verließen vier Deportationszüge Gurs, um die Todgeweihten mit einem Zwischenstopp im Durchgangslager Drancy in die Vernichtungslager im Osten zu bringen. Unter den 2212 Juden, die nach Auschwitz kamen, befand sich auch Sophie Ettlinger.228 Die meisten von ihnen wurden sofort nach der Ankunft umgebracht. Was bewog die deutschen Behörden, die Karlsruher Jüdin Sophie Ettlinger erst über tausend Kilometer nach Gurs und dann noch einmal zweieinhalbtausend Kilometer nach Auschwitz zu fahren, „nur“ um sie dort zu ermorden? Welch ein Aufwand, um einen Menschen zu töten! Um ein solches Verhalten für sinnvoll zu erachten, musste in Danneckers Vorstellungswelt das Judentum tatsächlich zu einer satanischen Macht und zum negativen Prinzip der Weltgeschichte geworden sein, wie es die nationalsozialistische Judenforschung behauptete. Als ob er ihr sein „faites vos jeux“ zurufen wollte, schrieb am 22. Januar 1942 nunmehr der Polizeipräsident Mannheim, Abteilung Jüdische Vermögen, an die Universität Tübingen: „Ich verwerte das gesamte Vermögen der aus Mannheim ausgewiesenen Juden. Ich bin im Besitz einer neuen Reiseschreibmaschine ‚Erika‘ mit hebräischen Typen und bitte um Mitteilung darüber, ob Sie Interesse an dem Erwerb dieser Reiseschreibmaschine haben. Von einem Fachgeschäft ist der Wert der Maschine auf RM 231,- geschätzt. Falls Sie Interesse an der Maschine zum obigen Preis haben, bitte ich um umgehende Nachricht.“229
Und erneut bat der Dekan der Philosophischen Fakultät, der aus Karlsruhe stammende Klassische Philologe Otto Weinreich, der mittlerweile Carl August Weber abgelöst hatte, den Rektor der Universität Tübingen, die angebotene Schreibmaschine der Fakultät „zum Erwerb sicherzustellen. Sie soll unserer Forschungsstelle zur Geschichte des Judentums unter der Leitung von Karl Georg Kuhn nutzbar gemacht werden“.230 Um nicht wieder leer auszugehen, wandte sich Rektor Otto Stickl sofort am 28. Januar 1942 an den Mannheimer Polizeipräsidenten, dass die „an der Universität 227 So Dannecker in seinem Bericht an seine Vorgesetzten Helmut Knochen (1910–2003) und Kurt Lischka (1909–1989) am 20.7.1942, zitiert nach Gerhard J. Teschner, Die Deportation der badischen und saarpfälzischen Juden am 22. Oktober 1940, Frankfurt a.M. 2002, S. 276. 228 Die Zahlen bei Gerlach und Weber, ‚...es geschah am helllichten Tag!‘, S. 49. Ein Foto der bei ihrer Deportation 57-jährigen Sophie Ettlinger geborene Levy findet sich im Gedenkbuch für die Karlsruher Juden unter http://my.informedia.de/gedenkbuch.php? PID=2 (zuletzt eingesehen am 13.12.2009). 229 UAT, 117C/18. Das Wort „umgehende“ im Original unterstrichen. 230 Weinreich an Stickl am 28.1.1942, ebd.
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Tübingen bestehende Forschungsstelle zur Geschichte des Judentums“ eine Schreibmaschine mit hebräischen Typen dringend benötige, um hinzuzufügen: „Als bisher einzige solche Forschungsstätte an deutschen Universitäten dürfte ihr Anspruch allen anderen vorangehen.“231 Da seit dem Angebot aus Mannheim nur sechs Tage vergangen waren und weil der Briefwechsel an dieser Stelle endet, kann vermutet werden, dass die Schreibmaschine tatsächlich nach Tübingen ging, um die Effizienz der Kuhnschen „Judenforschung“ zu erhöhen. Auch in der Zeit des Nationalsozialismus gehörte die korrekte Wiedergabe hebräischer Zitate zu den Voraussetzungen für eine Beschäftigung mit dem Judentum, die den Namen „wissenschaftlich“ verdiente. Eine more judaico von rechts nach links schreibenden Schreibmaschine konnte hier wertvolle Dienste leisten. So wie die nationalsozialistische „Judenforschung“ von vornherein auf eine praktische Lösung der „Judenfrage“ abzielte, so wurde sie hier gewissermaßen zur Nutznießerin des eigenen Erfolgs. Bei sichergestellten jüdischen Handschriften und Büchern bestand wie bei einer beschlagnahmten Schreibmaschine das Besondere darin, dass das Raubgut nicht lediglich der materiellen Bereicherung diente, sondern dem erklärten Ziel, das Judentum mit Hilfe jüdischer Ressourcen zu bekämpfen. Bei einer derart anwendungsorientierten Wissenschaft wie der NSJudenforschung mussten sich zwangsläufig eine Vielzahl von Übergängen zwischen dem theoretischen und dem praktischen Kampf gegen das Judentum ergeben. An der Schnittstelle zwischen Politik und Wissenschaft angesiedelt, gehört das Erstellen von Gutachten zum elementaren und nicht per se verwerflichen do ut des zwischen der Nachfrage des Staates und dem Angebot der Universitäten. Politisches Handeln zu legitimieren und fachwissenschaftlich abzusichern, konnte aber während des Nationalsozialismus, zumal auf dem Gebiet der „Judenfrage“, schwerlich Neutralität oder politische Unschuld für sich reklamieren. Eine wissenschaftliche Unterstützung der nationalsozialistischen Judenpolitik muss nicht nur als moralisch verwerflich angesehen werden. Sie barg auch das Potential für ein Abgleiten in eine Kollaboration mit kriminellen Implikationen. Das gilt meines Erachtens auch für die gutachterliche Stellungnahme, die Kittel im Auftrag des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda 1942 über Herschel Grynszpan (geb. 1921, Todesdatum unsicher) anfertigte.232 Vermutlich liefen die ersten Kontakte über Wilhelm Ziegler, einen 231
Stickl an den Mannheimer Polizeipräsidenten am 28.1.1942, ebd. Siehe hierzu Horst Junginger, Politische Wissenschaft. Reichspogromnacht: Ein bisher unbekanntes Gutachten des antisemitischen Theologen Gerhard Kittel über Herschel Grynszpan, in: Süddeutsche Zeitung, 9.11.2005, S. 13. 232
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ehemaligen Pfarrer, der mit Kittel zusammen dem Sachverständigenbeirat der Forschungsabteilung Judenfrage angehörte. Von 1935 bis 1939 leitete Ziegler das Institut zum Studium der Judenfrage des Propagandaministeriums, das einen groß angelegten Schauprozess gegen Herschel Grynszpan, der am 7. November 1938 in Paris den deutschen Legationssekretär Ernst vom Rath (1905–1938) erschossen hatte, aufziehen wollte.233 Dafür suchte man verschiedene Gutachter, die dem propagandistischen Anliegen eine größere Glaubwürdigkeit verleihen sollten. Wie Wilhelm Gustloff sollte auch Ernst vom Rath zu einem von den Juden erschossenen Blutzeugen der Bewegung stilisiert werden. Bereits am 15. November 1938 hatte das Institut zum Studium der Judenfrage dem zuständigen Oberregierungsrat im Propagandaministerium Wolfgang Diewerge (1906–1972) die angeforderten Vorschläge „für eine propagandistische Auswertung des Mordprozesses“ zugeschickt. Dieser teilte Ziegler am 24. Januar 1939 mit, dass er bereit sei, 15.000 Reichsmark für die Sonderaktion des Instituts auszugeben.234 Diewerge, der als Sonderbeauftragter des Propagandaministeriums bereits an dem Davoser Prozess gegen David Frankfurter (1909–1982), den Mörder Gustloffs, teilgenommen hatte, zeichnete mit dem Völkerrechtler Friedrich Grimm (1888–1959) für die Vorbereitung des geplanten Schauprozesses gegen Grynszpan verantwortlich. Nach den von Diewerge für den Prozess aufgestellten Richtlinien galt es dabei sechs Punkte besonders zu beachten: Grynszpan sei ein vom Weltjudentum gedungener Mörder, bei dem Mord handle es sich um den Kriegsbeginn gegen Deutschland, es komme darauf an, die Beteiligung Frankreichs nachzuweisen, die Blutschuld des Judentums sei durch Paralleltatbestände zu bestätigen, der Kampf gegen das Judentum sei als Kampf für den Frieden darzustellen, und sechstens sei der Gedanke der jüdischen Kollektivschuld zu betonen.235 Das Urteil stand schon lange vor Prozessbeginn fest und lautete auf Todesstrafe wegen Hochverrats.236 Nachdem Grynszpan von Frankreich auf Druck der deutschen Regierung völkerrechtswidrig ausgeliefert und in das Konzentrationslager 233 Siehe Helmut Heiber, Der Fall Grünspan, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 1957, S. 134–172 und Friedrich Karl Kaul, Der Fall des Herschel Grynszpan, Berlin 1965. 234 Schreiben des Instituts zum Studium der Judenfrage an Diewerge vom 15.11.1938 und Schreiben Diewerges an Ziegler vom 24.1.1939, BArch, R 55, 20.979, fol. 24–29 und fol. 96. In dem ersten Schreiben ist von einem in Paris im Entstehen begriffenen Internationalen Institut zum Studium der Judenfrage die Rede, deren Mitarbeiter nach Berlin eingeladen werden sollten. 235 Ebd., Nr. 983, fol. 2–6. 236 So Diewerge an einen namentlich nicht genannten Staatssekretär am 13.11.1941, ebd. fol. 79.
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Sachsenhausen überstellt worden war, kam er im Sommer 1941 in das Untersuchungsgefängnis nach Berlin-Moabit. Im November 1941 sollte er dem Volksgerichtshof vorgeführt werden, was sich jedoch verzögerte. Am 9. Dezember 1941 suchte Kittel Grynszpan in Begleitung von Dr. Hans Künne, dem ersten Staatsanwalt am Volksgerichtshof, im Gefängnis auf, um ihn einem eingehenden Verhör zu unterziehen. Im Anschluss daran verfasste der Tübinger Neutestamentler ein umfangreiches zehnseitiges Gutachten, von dem sich mit Ausnahme der ersten Seite Durchschläge im Bundesarchiv in Berlin und im Centre de Documentation Juive Contemporaine in Paris erhalten haben.237 Kittel kam darin den Diewerge-Richtlinien sehr nahe, wobei er die Gedankenführung aus seinen Veröffentlichungen übernahm und an die Bedürfnisse seiner Auftraggeber anpasste. Die Einzigartigkeit des Judentums bestehe in seiner Stellung als Minderheit zwischen den Völkern. Zwar würde es auch unter diesen erbitterte Feindschaften und zuweilen tödliche Gegensätze geben. Doch der Hass der Juden auf die Nichtjuden sei damit nicht vergleichbar. Bei der Erscheinung des Weltjudentums ziele die Feindschaft nicht gegen dieses oder jenes Volk, sondern gegen alle Nichtjuden generell. Das klassische Beispiel für den Charakter der Juden sei das Purimfest aus dem Buch Esther, das seit 2000 Jahren als Hassgesang auf die Gastvölker der Juden und deren politische Instanzen begangen würde. Die Vorstellung der jüdischen Diaspora nationalsozialistisch paraphrasierend, nannte Kittel das Judentum eine quer zu den Völkern lebende „wesenhaft parasitäre Erscheinung“. „Das Wesen des Parasiten ist: 1. dass er seine eigene Existenz immer nur als Gast eines Anderen hat; 2. dass unter seinen Aspekten die Existenz dieses Anderen ihren Sinn und Zweck nicht in sich selbst hat, sondern allein darin, von ihm, dem Parasiten, ausgesogen zu werden und seiner, der Parasiten, Existenz dienstbar zu sein; 3. dass jener andere, wenn keine Gegenmassnahmen erfolgen, unweigerlich an ihm zu Grunde gehen muss; 4. dass dies alles dem Parasiten als ein Gesetz der Natur bzw. der göttlichen Vorsehung erscheint. Das ist die talmudische Stellung des Juden zum Nichtjuden.“238
Es sei nun aber nicht so, dass man zwischen Grynszpans Tat und seiner talmudischen Gesinnung einen direkten Zusammenhang herstellen könne. Grynszpan sei kein frommer Jude oder auch nur ein besonders religiöser Mensch gewesen. Wahrscheinlich sei er nicht einmal in der Lage, den Talmud im Original zu lesen. An keiner Stelle lasse sich „unmittelbar und 237
BArch, R 55, 628, Fiche 1, fol. 26–36 und Centre de Documentation Juive Contemporaine, Paris, CXXXII, fol. 117–126. Leider fehlt mit der ersten Seite auch die Datumsangabe. 238 Ebd., S. 3 (fol. 29 und fol. 119).
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konkret“ nachweisen, dass Grynszpan von einzelnen Sätzen aus dem Talmud inspiriert wurde. Man müsse daher anders vorgehen und die Beziehung zwischen Tat und Motiv mit Hilfe einer indirekten Beweisführung herstellen.239 Auf diese Weise kam Kittel dann doch zu dem gewünschten Ergebnis, dass nämlich bei Grynszpan die talmudische Mentalität „unabhängig von jeder Einzelbegründung“ die selbstverständliche Grundlage seiner Existenz war und ihn in seinem Handeln leitete. Zweifellos habe Grynszpan eine talmudische Einstellung durch seine Familie und Umgebung in sich aufgenommen, etwa bei der Feier des Purimfestes. Es sei völlig ausgeschlossen, dass bei der Erinnerung an die Vernichtung der Judenfeinde nicht auch Grynszpan in den letzten Jahren an Adolf Hitler und seine Herrschaft dachte. Dennoch lägen die Dinge nicht so einfach, dass man aus Grynszpans Purimgesinnung eine unmittelbare Mordabsicht ableiten könne.240 Um dessen wirkliche Motivlage durchschauen zu können, bedurfte es der Interpretation durch einen theologisch geschulten Wissenschaftler wie Kittel, der an dieser Stelle die Gelegenheit wahrnahm, ein positives Wort über den Wert der Religion als solcher einzuflechten. Dem traditionellen Schema verhaftet, dass der Mangel an Glauben sittliche Entartung nach sich ziehe, führte Kittel Grynszpans Tat nicht nur darauf zurück, dass er sie in Erfüllung jüdischer Normen beging, sondern, dass er gleichzeitig dafür vom Glauben abgefallen sein musste. Das ursprüngliche und eigentliche Anliegen des orthodoxen Judentums sei dadurch pervertiert und in die Sphäre des Politischen hineingetragen worden. Von dem nicht mehr oder nicht mehr wirklich religiösen Juden Grynszpan ging eine noch viel größere Gefahr aus, da er beides in sich vereinigte: den falschen Glauben und den Glaubensabfall, also die beiden Dinge, die Kittel an den Juden am meisten verabscheute. Grynszpan sei in Paris höchstwahrscheinlich mit jüdisch-deutschen Emigranten und kommunistischen Kreisen in Berührung gekommen, die ihn entsprechend beeinflussten. „Er hat also offenbar im Augenblick seiner Tat nicht im eigentlichen Sinn als reli239
„Es kann sich allein um einen indirekten Schluss handeln, der freilich in diesem Fall um so kräftiger durchzuführen sein wird.“ Ebd., S. 5 (fol. 31 und fol. 121). 240 „Nun ist natürlich eine solche Ostjudenfamilie nicht einfach in grobem Sinn eine Familie von aktivistischen Mördern, d.h.: von Menschen, die bei jeder Gelegenheit ihre nichtjüdischen Mitmenschen totzuschlagen suchen. So einfach liegen die Dinge nicht. Der durchschnittliche Ostjude ist dazu nicht bloss im allgmeinen zu feige; er ist nicht bloss dadurch gehemmt, dass er genau weiss, so etwas würde zu schweren Unzuträglichkeiten für die Judenschaft führen; sondern vor allem sind diese Juden seit Jahrhunderten in einer Tradition des sich Duckens, in der man ‚um des Friedens willen‘ d.h. um des friedlichen und unangefochtenen Lebens willen, seine eigentliche Gesinnung über den Nichtjuden verbirgt, wobei man im allgemeinen die Erfahrung gemacht hat, dass man mit dieser Methode in jeder Hinsicht gut fährt.“ Ebd., S. 6 (fol. 32 und fol. 122).
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giöser Fanatiker gehandelt, sondern als in diesem Zeitpunkt mehr oder weniger a-religiöser Mensch, bei dem der religiöse Hass in das rein Politische umgeschlagen war“. Grynszpans Umgang mit der Pariser Judenschaft und ihren kommunistischen Tendenzen hätte die Wirkung gezeitigt, „in jene latente, bis dahin aber noch in irgendeinem Sinn religiös gebundene und von der Aktivität zurückgehaltene Grundgesinnung des Hasses und der talmudischen Einschätzung des Nichtjuden den Funken des Aktivismus zu werfen. Es ist wahrscheinlich in der Tat nicht zufällig, dass jetzt, in diesem Augenblick und in diesem Zusammenhang, jene uralten talmudischen Grundsätze, die ihm von Vätern und Vorvätern her und von Kind auf im Fleisch und Blut waren, zur Tat des Mordes wurden.“ 241
Mit Hilfe des Rassegedankens konnte Kittel einen Zusammenhang zwischen der zugleich religiösen und nichtreligiösen Einstellung Grynszpans herstellen und daraus die hoch explosive Mischung einer weltlichen Purimgesinnung konstruieren. Es sei wiederum kein Zufall, „dass unter diesen Pariser Juden derjenige, bei dem der Funke zündet und die Tat ausgelöst wird, ein mit eben dieser uralten und gemein jüdischen Mentalität geladener junger Talmudjude ist. Denn im Hintergrund steht der Gedanke, dass dieser Schuss in der deutschen Botschaft das Fanal sei für das gottgewollte Purim über die Judenfeinde.“242
Am 31. Dezember 1941 erhielt Oberregierungsrat Diewerge Kittels Gutachten von dem zuständigen Referenten Schmid-Burgk zugeschickt, der in seinem Begleitschreiben auf Kittels große wissenschaftliche Reputation als Talmudexperte hinwies, so dass seine Stellungnahme gerade im Ausland ihre Wirkung nicht verfehlen werde. Kittel hätte zur Vorbereitung die Grynszpan-Akten eingesehen und auch Diewerges Gelbbuch durchgearbeitet.243 Außerdem habe Kittel mit dem Vizepräsidenten am Volksgerichtshof Karl Engert (1877–1951) und dem Oberreichsanwalt Ernst Lautz (1887–1979) über den Fall Grynszpan gesprochen. Von Engert sei vorgeschlagen, worden, noch ein historisches Gutachten darüber ausarbeiten zu lassen, dass zahlreiche Kriege von den Juden angezettelt wurden und dass
241
Ebd., S. 9f. (fol. 35f. und fol. 125f.). Ebd., S. 10 (fol. 36 und fol. 126). 243 Schmid-Burgk an Diewerge am 31.12.1941, ebd., fol. 26 und fol. 117. Wolfgang Diewerge, Anschlag gegen den Frieden. Ein Gelbbuch über Grünspan und seine Helfershelfer, München 1939. Diewerge hatte davor schon zwei Bücher zum Fall Gustloff publiziert: Der Fall Gustloff. Vorgeschichte und Hintergründe der Bluttat von Davos und Ein Jude hat geschossen. Augenzeugenbericht vom Mordprozeß David Frankfurter, München 1936 und 1937. 242
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auch der gegenwärtige Krieg ein Werk der Juden sei.244 Kittel selbst habe empfohlen, den mit ihm bekannten schwedischen Neutestamentler Hugo Odeberg (1898–1973) als ausländischen Experten und besonderen Sachkenner des nachtalmudischen jüdischen Schrifttums heranzuziehen. Doch sei ungeachtet der positiven Einstellung Odebergs zum Dritten Reich vorher zu prüfen, ob die Zuziehung eines Schweden wirklich gewünscht werde. Wenn ja, erscheine es zweckmäßig, „ihn durch Prof. Kittel nach Deutschland bitten zu lassen“.245 Der geplante Schauprozess verzögerte sich aber mehr und mehr und wurde schließlich ganz ad acta gelegt, wobei vor allem außenpolitische Erwägungen eine Rolle gespielt zu haben scheinen. Hinzu kam, dass Grynszpans Anwalt eine homosexuelle Beziehung zwischen seinem Mandanten und Ernst vom Rath ins Spiel brachte. Eine Diskussion darüber drohte die mit dem Prozess verfolgte Propagandastrategie zu diskreditieren. Als Kittel am 8. Dezember 1941 nach Berlin fuhr, liefen die Vorbereitungen allerdings noch auf Hochtouren. Kittel reiste bereits am Tag vor seiner Befragung Grynszpans an, um sich auf das Verhör einzustellen und noch einige Besprechungen durchzuführen.246 Am Abend hielt er vor der Antisemitischen Aktion und interessierten Mitarbeitern des Propagandaministeriums im gelben Saal des Kaiserhofs, einem der ersten Hotels der Stadt, das gegenüber der Reichskanzlei lag und das von den Nationalsozialisten gewöhnlich für offizielle Zwecke genutzt wurde, einen Vortrag.247 Kittels Thema lautete „Die Äußerungen der normativen religiösen Schriften des Judentums über die Stellung der Juden zum Nichtjuden“, wobei man annehmen darf, dass er wie in seinen Veröffentlichungen und anderen Vorträgen dieser Zeit den religiös begründeten Hass der Juden auf die Nichtjuden thematisierte. Außerdem gab es am Morgen des 9. Dezember noch ein gemeinsames Frühstück, an dem neben Kittel Vizepräsident Karl Engert, Professor Friedrich Grimm, der Ministerialrat in der Auslandsabteilung des Propagandaministeriums Heinrich Hunke (1902–2000), Walter Tießler (1905–1951) von der Reichspropagan244
Ebd. Auch Schmid-Burgk wollte die Reihe der Sachverständigen noch weiter vergrößern. Ein Wirtschaftssachverständiger sollte nachweisen, dass die Juden die Weltherrschaft über das Geld besäßen. Ein anderer Gutachter sollte zeigen, dass sich alle Propagandamittel in den Händen der Juden befänden, und ein Sachverständiger des Reichssicherheitshauptamtes sollte schließlich darlegen, wie sehr die gegnerischen Geheimdienste im Sold der Juden stünden. 245 Ebd. 246 In den Unterlagen des Propagandaministeriums sind für eine Besprechung mit Kittel am 8.12.1942 32,25 Reichsmark an Spesen vermerkt. BArch R 55, 373, Fiche 2, fol. 88f. 247 Am 29.11.1941 lud einer der Abteilungsleiter der Antisemitischen Aktion, der Orientalist Dr. Josef Denner, Wolfgang Diewerge zu Kittels Vortrag ein. Ebd., 628, Fiche 1, fol. 14.
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daleitung der NSDAP und der namentlich nicht genannte Leiter der Rundfunkabteilung teilnahmen.248 Die Hauptaufgabe von Kittels Gutachten bestand in dem Nachweis, dass die Ermordung vom Raths den eigentlichen Beginn des jüdischen Angriffskrieges gegen das Deutsche Reich darstellte. Seine ‚Analyse‘, „dass dieser Schuss in der deutschen Botschaft das Fanal sei für das gottgewollte Purim über die Judenfeinde“, hatte die Funktion, den von den Deutschen angezettelten Weltkrieg als legitime Verteidigung gegen die perfiden Absichten des Judentums erscheinen zu lassen. Ohne dass er einen konkreten Beleg dafür erbringen musste, dass Herschel Grynszpan ein von vom internationalen Weltjudentum gedungener Mörder war, konnte er über eine indirekte Beweisführung darlegen, wie dieser durch die normativen Schriften der Juden zu seiner Tat angestiftet wurde. Dafür brauchte Grynszpan kein Mitglied der jüdischen Religion zu sein. Seine Rassenzugehörigkeit, das heißt seine ihm von den Vorvätern vererbte und in Fleisch und Blut übergegangene Purimgesinnung bildete aus der Sicht des Tübinger Neutestamentlers Kittel Grynszpans Motiv, das ihn bei seiner Tat leitete. Die gleiche interpretatorische Grundstruktur kennzeichnete auch die nachstehend abgebildete Karikatur über den „Mordjuden“ Grynszpan, die im Dezember 1938 im Stürmer erschien. Der in westliche Kleidung gekleidete, durch seine Physiognomie aber trotz der Mimikry als Jude kenntliche Grynszpan erschießt aus seinem durch Talmud und Schulchan Aruch abgegrenzten Schlupfwinkel Ernst vom Rath. Der Schlüssel zu den jüdischen Geheimschriften, die dem „Mordjuden“ als Handlungsanleitung dienten, steckt noch. Die Visualisierung des Attentats in dieser StürmerAusgabe deckt sich weitgehend mit der um ein Verhör und das Studium der nationalsozialistischen Gerichtsakten ergänzten Textanalyse Kittels. Was in die Karikatur noch nicht eingearbeitet werden konnte, findet sich in Kittels Gutachten, nämlich die Erfahrung eines mehrjährigen Krieges, dessen Glück sich im Dezember 1941 durch die sowjetische Gegenoffensive zu wenden begonnen hatte. Der analytische Schlüssel zum Verständnis des Judentums und zur Aufklärung über seine geheimen Absichten bestand für Kittel in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der rabbinischen Literatur. Durch seine Expertise im Fall Grynszpan gewann diese
248 Abteilung Rundfunk Ref. Scholz an den Herrn Leiter Rundfunk (vermutlich Diewerge selbst) am 3.12.1941, ebd., fol. 15. Scholz machte darauf aufmerksam, dass Kittels Vortrag mit „unserem Kameradschaftsabend“ zusammenfalle, so dass es im Anschluss daran noch ein Glas Bier geben würde.
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eine Bedeutung, die noch über die antisemitische Intention der StürmerKarikatur hinausging.
8. Antisemitismus in letzter Konsequenz Die von Max Weinreich bereits 1946 gemachte Beobachtung, dass die nationalsozialistische Judenforschung alle Schritte einer sich verschärfenden Judenpolitik des Dritten Reiches ideologisch begleitete,1 bestätigt sich besonders bei der Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands und ihren Mitarbeitern. Man hatte dort in der Regel kein Problem damit, offen zuzugeben, dass die wissenschaftliche Erforschung der „Judenfrage“ legitimatorischen Zwecken und der theoretischen Untermauerung der staatlichen Judenpolitik diente. Im Zuge der praktischen Anwendung der Rassengesetze wurde den nationalsozialistischen Judenforschern bewusst, dass die Lösung des „Judenproblems“ für die Juden selbst gravierende Folgen haben würde. Nach den Nürnberger Gesetzen bedeutete die Reichspogromnacht einen zweiten Quantensprung in der antisemitischen Politik des NS–Staates. Ein bis dahin unbekannter Gewaltausbruch, der nicht mehr nur vor dem Recht und dem Eigentum, sondern auch vor dem Leben der Juden keinen Halt mehr machte, wurde zum Ausgangspunkt einer qualitativ neuen Eskalationsstufe, die erst im Krieg überboten werden sollte. Mit ungläubigem Staunen blickte die Welt auf Deutschland und fragte sich, wie in einem modernen und zivilisierten Land eine solche Explosion antisemitischen Hasses möglich sein konnte. Im Gegensatz dazu herrschte auf Seiten der deutschen Politik und der nationalsozialistischen Judenforschung die Meinung vor, dass mit der Ermordung Ernst vom Raths das internationale Weltjudentum zum Angriff geblasen hatte und dass man alles daran setzen müsse, um bei der sich abzeichnenden Auseinandersetzung als Sieger hervorzugehen. Wie schon beim Aprilboykott des Jahres 1933 wurden auch im November 1938 die staatlichen ‚Gegenmaßnahmen‘ zur legitimen Abwehr erklärt, die für das Überleben Deutschlands unumgänglich seien. Aus dieser Logik heraus hatte Gerhard Kittel in seinem Gutachten über Herschel Grynszpan geschrieben, dass die Schüsse auf Ernst vom Rath in der Pariser Gesandtschaft als Fanal eines jüdischen Angriffskrieges zu ver1
Max Weinreich, Hitler’s professors, S. 239f.
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stehen seien, dem man sich unter Aufbietung aller Kräfte entgegenzustellen habe. Wie die allermeisten Kriege unter dem Vorwand der Selbstverteidigung geführt werden, so war es auch für den Krieg gegen das Judentum in psychologischer Hinsicht von entscheidender Bedeutung, das eigene Verhalten als alternativlos, ja sogar als überlebensnotwendig erscheinen zu lassen. Ohne die Rhetorik der legitimen Verteidigung wäre es wohl in den meisten Fällen nicht möglich, die eigene Bevölkerung von der Notwendigkeit, Krieg führen zu müssen, überzeugen zu können. Der noch „rauchende Colt“ Grynszpans wurde von Kittel als ultimativer Beweis dafür ausgegeben, dass die Juden es ernst meinten und zum entscheidenden Schlag gegen Deutschland ausgeholt hatten.2 Hitlers Ansprache vor den Vertretern der deutschen Presse am 10. November 1938 brachte sehr deutlich zum Ausdruck, dass die nationalsozialistische Führung den Casus belli für gegeben hielt und dass deshalb jetzt die Friedensrhetorik zugunsten einer aktiven Kriegspropaganda aufgeben werde. Die Strategie des Legalismus hatte aus der Sicht Hitlers ihre Aufgabe erfüllt. In der Situation einer offenen Feldschlacht kam es darauf an, sie durch eine aggressive Propaganda der Mobilmachung abzulösen. Dass in diesem Krieg die Grundsätze der Moral, des Rechts und das Leben der feindlichen Kombattanten viel gelten würden, stand nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs nicht zu erwarten. Kittels martialische, wenngleich hypothetische Mutmaßung aus dem Sommer 1933, dass man die Juden eben ermorden müsse, falls sich alle anderen Wege, die „Judenfrage“ zu lösen, als unmöglich herausstellen sollten, enthielt sicherlich keine Prophezeiung im Stile Hitlers, aber doch die latente Vorstellung, das „Judenproblem“ zur Not auch mit Gewalt aus der Welt zu schaffen. Eine vergleichbare Rhetorik findet sich bei Wilhelm II. (1859–1941), der schon 1927 geschrieben hatte, das beste wäre der Einsatz von Gas, um sich der Juden zu entledigen.3 Am Anfang des Jahrhunderts warnte der Wiener Bürgermeister Karl Lueger (1844–1910) die Juden Österreichs davor, sich „wie ihre Glaubensgenossen in Russland“ zu sehr mit den sozialdemokratischen Revolutionären einzulassen. „Wir in Wien 2
Die Metapher der „smoking gun“ stammt aus dem zweiten Irakkrieg, in dem sie die sog. Weapons of Mass Destruction bezeichnete. 3 „Die Presse, die Juden und die Mücken sind eine Pest, von der sich die Menschheit so oder so befreien muss – I believe the best would be gas.“ So Wilhelm II. an seinen amerikanischen Freund Pouitney Bigelow am 15.8.1927, zitiert nach John C. G. Röhl, Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, München 1995, S. 220. 1920 hatte Wilhelm II. erklärt, dass die Welt nicht eher Ruhe haben werde, bis „alle Juden tot geschlagen oder wenigstens des Landes verwiesen wären“. John C. G. Röhl, Wilhelm II., Bd. 3: Der Weg in den Abgrund 1900–1941, München 2008, S. 1291f.
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sind Antisemiten, aber zu Mord und Totschlag sind wir bestimmt nicht geschaffen. Wenn aber die Juden unser Vaterland bedrohen, dann werden auch wir keine Gnade kennen.“4 Die Bereitschaft, unter bestimmten Umständen eine gewaltsame Lösung der „Judenfrage“ in Erwägung zu ziehen, kann angesichts der zahlreichen Pogrome, denen sich das Judentum bis in die Neuzeit ausgesetzt sah, nicht lediglich als misslungener Scherz oder intellektuelle Entgleisung abgetan werden. Solche Äußerungen enthalten ein latentes Gewaltpotential, das in der langen Geschichte des Antisemitismus oft genug Realität wurde. Was aber, wenn der Casus belli tatsächlich für gegeben erachtet wird? Die gutachterliche Stellungnahme Kittels im Fall Herschel Grynszpan ist ein Beleg dafür, wie sich das dem antisemitischen Vorurteil inhärente Strukturprinzip der projektiven Schuldumkehr vorzugsweise an die heiligen Schriften der Juden anzuheften pflegt. Auch in den Publikationen Kittels und Kuhns wurde der Talmud zu einer Projektionsfläche für antijüdische Ressentiments, die sich dort in einer unmittelbaren und augenfälligen Weise zu bestätigen schienen. Seit dem Mittelalter bildete der Talmud ein besonderes Angriffsziel für antijüdische Hassausbrüche.5 Den Pariser Talmudverbrennungen fielen im Jahr 1242 Wagenladungen voll von Talmudexemplaren zum Opfer. Es ging dabei aber nicht nur darum, ein aus Sicht der Christen wider- oder antichristliches Buch zu verbrennen. Dem Judentum sollte auch seine geistige Grundlage genommen werden.6 Von jeher wurde der Talmud als ein Sammelsurium von gotteslästerlichen Absurditäten und antichristlichen Bösartigkeiten gelesen, für die man die Juden verantwortlich machte und für die man sie auch zur Rechenschaft ziehen wollte. Alexander Patschovsky weist zurecht darauf hin, dass sich antitalmudische Invektiven und Aggressionen gegen die Juden nicht voneinander trennen lassen. Wie man im Talmud eine „Ansammlung von Monstrositäten sah, so im Juden ein Monstrum“.7 In der nationalsozialistischen Judenforschung erlebte der Antitalmudismus früherer Zeiten eine 4
Bürgermeister Dr. Lueger über die aktuellen Fragen, in: Volksblatt für Stadt und Land vom 8.12.1905, zitiert nach Peter Pulzer, Die Wiederkehr des alten Hasses, in: Michael A. Meyer, Hg., Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 3, München 2000, S. 234. 5 Siehe hierzu die Einträge Talmud, Talmud Jew und Talmud trials von Aryeh Tuchman, Carsten Kretschmann und Edward Peters, in: Richard S. Levy, Hg., Antisemitism. A historical encyclopedia of prejudice and persecution, Bd. 2, Santa Barbara 2005, S. 698– 702. 6 Alexander Patschovsky, Judenverfolgung im Mittelalter, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 41. Jg., 1990, S. 2. 7 Alexander Patschovsky, ‚Der Talmudjude‘. Vom mittelalterlichen Ursprung eines neuzeitlichen Themas, in: Alfred Haverkamp und Franz-Josef Ziwes, Hg., Juden in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters, Berlin 1992, S. 23.
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erstaunliche Renaissance. Mit ihrem ostentativen Pathos der Aufklärung über die wahren Absichten des Judentums stand sie ganz in der Tradition eines Johann Andreas Eisenmenger (1654–1704), der mit dem Buch Entdecktes Judenthum seine Zeitgenossen von dem geheimen Wollen der Juden in Kenntnis setzen wollte.8 Eisenmengers antisemitische ‚Frühaufklärung‘ wurde zweihundert Jahre später durch den katholischen Theologen August Rohling (1839–1931) popularisiert.9 Die Ansichten Rohlings, der auch als Gutachter in verschiedenen Ritualmordprozessen in Erscheinung trat, fanden nicht zuletzt deshalb so große Verbreitung, weil sie von kirchlicher Seite unterstützt wurden.10 Rohling bot jedem eine Belohnung von 1000 Talern, der ihm ein falsches Zitat oder eine schiefe Übersetzung aus dem Talmud nachweisen würde.11 Die in der völkischen Bewegung weit verbreitete Methode, das schändliche Verhalten der Juden mit Hilfe von ‚Belegstellen‘ aus dem Talmud zu ‚verifzieren‘, war nicht besonders originell und konnte sich bei Eisenmenger und Rohling aus einem umfangreichen Zitatenschatz bedienen. Eine solche Talmudinterpretation kennzeichnete auch die Veröffentlichungen Alfred Rosenbergs und Julius Streichers. Rosenbergs Unmoral im Talmud aus dem Jahr 1920 bestand fast nur aus kommentierten Talmudzitaten, und auch im Stürmer stand der Talmud im Zentrum der antisemitischen Agitation. In Analogie zu Rohling setzte Rosenberg ein Preisgeld von 3000 Mark aus, falls ihm jemand eine falsche Talmudübersetzung nachweisen würde.12 Obwohl Wissenschaftler wie Karl Georg Kuhn und Gerhard Kittel natürlich nicht so primitiv vorgingen, reduzierte sich auch ihre Beschäftigung mit dem Talmud in den dreißiger und vierziger Jahren darauf, das unsittliche Verhalten der Juden mit Hilfe einschlägiger Zitate zu belegen. Fritz Werner hat diese Art zu argumentieren am Beispiel der Forschungen
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Johann Andreas Eisenmenger, Entdecktes Judenthum, Frankfurt a.M. 1700, hier v.a. Kapitel 8 „Was die Juden von ihrem Talmud lehren und was davon zu halten seye“ (S. 293–453). 9 August Rohling, Der Talmudjude. Zur Beherzigung für Juden und Christen aller Stände, Münster 1871. 10 Siehe Olaf Blaschke, Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich, Göttingen 1997, bes. S. 74f. In Deutschland sorgte der Bonifatius-Verein für eine weite Verbreitung der Schriften Rohlings, und in Österreich gehörte Karl Lueger zu den Unterstützern Rohlings. 11 So die Münsterländische Volkszeitung am 7.2.1944, wiedergegeben bei Hannelore Noack, Unbelehrbar? Antijüdische Agitation mit entstellten Talmudzitaten. Antisemitische Aufwiegelung durch Verteufelung der Juden, Paderborn 2001, S. 441. 12 Noack, Unbelehrbar? Antijüdische Agitation mit entstellten Talmudzitaten, S. 341.
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zur Judenfrage gut aufgearbeitet und deutlich kritisiert.13 Die elaborierte Bibelexegese, die im 19. Jahrhundert die theologische Wissenschaft ausgezeichnet hatte, wurde von Kittel und Kuhn beim religiösen Schrifttum des Judentums ad absurdum geführt. Wie in früherer Zeit diente der talmudische Textkorpus nun wieder als ein Steinbruch, dem sich nach Belieben Material entnehmen ließ, um damit das eigentliche Wesen des Judentums anschaulich zu machen. Die Auszüge aus dem Talmud und der spätantiken Literatur, die Kittel den Propagandaausstellungen in Wien und München zur Verfügung stellte, sind lediglich Extrembeispiele des bekannten Genres einer in antisemitischer Absicht unternommenen Aufklärung über das Judentum. Wenn jemand eine Garantie dafür geben konnte, dass ‚richtig‘ zitiert wurde, dann waren es die beiden Talmudexperten Kittel und Kuhn. Nationalsozialistische Politiker zeigten sich für eine solche Absicherung von fachwissenschaftlicher Seite außerordentlich dankbar. So ließ der Münchener Gauleiter Adolf Wagner (1890–1944) den Referenten der die Ausstellung „Der ewige Jude“ begleitenden Vortragsreihe, bei der Kuhn über den Talmud als Spiegel des Judentums und Kittel über die rassische Entwicklung des antiken Judentums gesprochen hatten, seinen enthusiastischen Dank übermitteln. Nun sei erwiesen, dass der Antisemitismus sehr wohl auf sachlichen Voraussetzungen beruhe und nicht nur als die Angelegenheit von Radaubrüdern abgetan werden könne. Gauamtsleiter Walter Wüster stellte mit Befriedigung fest, dass sich die Wissenschaft durchaus in der Lage gezeigt habe, „dem Juden die Maske vom Gesicht zu reißen“.14 Die Propaganda des Dritten Reiches bekam durch die nationalsozialistische Judenforschung wissenschaftlich bestätigt, was früher einmal als abstoßendes völkisches Vorurteil gegolten hatte. Wegen der besonderen Textgattung des Talmud als Rede und Gegenrede eröffneten sich nahezu unbegrenzte Möglichkeiten, um Belegstellen für dieses oder jenes Verhalten der Juden aufzufinden. Wie ein Spiegel reflektierte der Talmud alle nur denkbaren Untaten, die den Juden von jeher zugeschrieben wurden. Seine Stärke bezog der Antitalmudismus auch im Dritten Reich aus der imaginativen Kraft religiös grundierter antijüdischer Vorurteile. Der deutsche Judaist Hermann Greive (1935–1984) bezeichnete diese Spiegelung zutreffend als Umkehrung des Talmud oder
13 Fritz Werner, Das Judentumsbild der Spätjudentumsforschung im Dritten Reich, in: Kairos 12, 1971, S. 161–194. Siehe zu Kuhn außerdem die unveröffentlichte theologische Abschlussarbeit von Mechthild Gunkel über Karl Georg Kuhn als Mitarbeiter an den ‚Forschungen zur Judenfrage‘, Gießen 1987. 14 Beide Zitate nach Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966, S. 626f.
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als „umgekehrten Talmud“.15 Im Modus des Antitalmudismus konnte man nicht nur die eigenen Ressentiments auf das Wesen des Judentums projizieren, sondern auch an ihren Verursachern, den Juden, abreagieren. Der Antitalmudismus wird deshalb durch eine strukturelle Tendenz zum Aktivismus gekennzeichnet, der die verbale Kritik an den einmal durchschauten Machenschaften der Juden in konkretes Handeln überführt. Die nationalsozialistische Judenforschung behandelte den Talmud in der Perspektive einer Camera obscura als weltanschaulichen Grundlagentext, an dem sich die mit dem Wesen des Judentums in Verbindung gebrachten Perversionen als das genaue Gegenteil der eigenen Wertvorstellungen aufzeigen ließen. Bezeichnete der Antitalmudismus ursprünglich eine religiöse Vorurteilsstruktur, die auf dem christlich-jüdischen Gegensatz beruhte, konnte er später auch von Nichtchristen vertreten und gegen nichtreligiöse Juden gewendet werden. Nach Kittels Auffassung waren die ihrer Religion entfremdeten Juden noch weitaus gefährlicher, weil sie sich an eine säkulare Umwelt angepasst hatten und aufgrund ihrer Mimikry nicht mehr so ohne weiteres als Juden erkennbar waren. Es bedurfte besonderer Kenntnisse und Fähigkeiten, um die Tarnung des Assimilationsjudentums in seiner vielgestaltigen Ausprägung aufdecken zu können. Die nationalsozialistische Judenwissenschaft beschrieb natürlich nicht das Wesen und die wahren Charakterzüge der Juden, sondern reflektierten ihr Denken und ihre Beziehungen ihnen gegenüber. In Wirklichkeit spiegelten die Judenforscher im Talmud die eigenen Vorurteile und das Verhalten des deutschen Staates. Der von Greive auf den Punkt gebrachte chiastische Zusammenhang eines feindlichen Vorbildes und vorbildlichen Feindes beschreibt sehr genau die Funktionsweise antitalmudischer Ressentiments.16 So entsprachen die Nürnberger Gesetze exakt dem, was die Tübinger Talmudexperten als jüdisches Partikularrecht ausgaben. Ein besseres Modell für eine völkische Binnenethik als die nationalsozialistische Volksgemeinschaft lässt sich kaum denken. Wenn jemand seiner Rechte beraubt wurde, dann waren es die Juden im Dritten Reich. Auch das behauptete jüdische Weltherrschaftsstreben folgte dem Schema des projektiven Umkehrschlusses, wie es in den Protokollen der Weisen von Zion seinen prägnantesten Ausdruck fand. Hätte Deutschland den Krieg gewonnen, wäre es nicht mehr weit von einer Weltherrschaft entfernt gewesen, die man als das finale Ziel des internationalen Judentums bezeichnete. 15 Hermann Greive, Der ‚umgekehrte Talmud‘ des völkischen Nationalismus, in: Judaica 23, 1967, S. 1–27 und Der Talmud. Zielscheibe und Ausgangspunkt antisemitischer Polemik, in: Günther B. Ginzel, Hg., Antisemitismus, Bielefeld 1991, S. 304–310. 16 Greive, Der ‚umgekehrte Talmud‘, S. 27.
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Die unschwer als psychologische Rechtfertigung der eigenen Vorurteile erkennbare Interpretation der normativen Schriften des Judentums durch Kittel, Kuhn und andere NS-Judenforscher nahm als erstes Anstoß an der religiösen Sonderstellung des jüdischen Volkes. Alles weitere folgte aus der Annahme, dass die Juden eine besondere Beziehung zu Gott für sich reklamierten, die ihnen nicht zustand. Mit der Konstruktion einer jüdischen Rasse sollte die darauf beruhend Fehlentwicklung des jüdischen Volkes wissenschaftlich objektiviert und historisch verifiziert werden. Je weiter die antijüdische Politik des NS-Staates voranschritt, desto konkreter traten in der Talmudinterpretation Kittels und Kuhns die Untaten der Juden an den Nichtjuden in den Vordergrund. Besonders in ihren Beiträgen für die Forschungen zur Judenfrage thematisierten sie das Paradigma der jüdischen Unmoral, die alle Arten der Diffamierung, des Betrugs, der Manipulation, der Beraubung und Aufhebung der körperlichen Unversehrtheit usw. umfasste. Ein solches Verhalten werde den Juden im Talmud und Schulchan Aruch nicht nur erlaubt, sondern unter bestimmten Umständen sogar zur Pflicht gemacht. Der Antitalmudismus folgte hier einerseits der politischen Entwicklung des Dritten Reiches, wie er andererseits ein appellatives Moment verstärkte und mehr oder weniger offen verlangte, auf die einmal erkannte Gefahr entsprechend zu reagieren. Dass der Talmud eine ausgesprochene Gehässigkeit gegenüber den Nichtjuden zeige, stand für Kuhn unumstößlich fest.17 Das primitive nomadische Wüstengesetz der Juden sei von ihnen auch in der Zerstreuung beibehalten worden und bestimme ihr Verhalten zu der übrigen Bevölkerung bis heute.18 Nichtjuden würden durch die talmudische Rechtsordnung, die in Kuhns Augen eigentlich eine Unrechtsordnung war, geradezu für vogelfrei erklärt.19 Unter den Beispielen, die Kuhn jetzt für den behaupteten jüdischen Hass auf die Nichtjuden anführte, rangierte nach der durch den Talmud gebotenen Übervorteilung der Nichtjuden im Handel und im Geschäftsverkehr nun schon an zweiter Stelle ein talmudisches „Gesetz über Mord und Totschlag“.20 Ein allgemeines Tötungsverbot gelte nur für die Juden untereinander. Im talmudischen Rechtsverhältnis zwischen Juden und Nichtjuden sei es genau umgekehrt: „War der Getötete Nichtjude und ein Jude der Mörder, dann ist der Jude auf jeden Fall straffrei, sogar wenn 17
Karl Georg Kuhn, Ursprung und Wesen der talmudischen Einstellung zum Nichtjuden, in: Forschungen zur Judenfrage, Bd. 3, Hamburg 1938, hier bes. S. 212–214. 18 Ebd., S. 215. 19 Karl Georg Kuhn, Der Talmud – das Gesetzbuch der Juden, in: Robert Wetzel und Hermann Hoffmann, Hg., Wissenschaftliche Akademie des NSD.-Dozentenbundes. Jahresbände, Bd. 1, Tübingen 1940, S. 230f. 20 Ebd., S. 231.
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die Tötung absichtlich geschehen ist.“21 Die Annahme einer extremen jüdischen Binnenethik wurde mit Hilfe entsprechender Talmudzitate von Kuhn jetzt im Krieg dahingehend ergänzt, dass den Juden schwerste Verbrechen und sogar die Tötung von Nichtjuden erlaubt sei. Der Antitalmudismus hatte hier seine letzte Stufe erreicht. Wegen seiner eigenen militärischen Verwendung konnte Kuhn diesen Gedanken aber theoretisch nicht weiterentwickeln. Auch seine für 1940 angekündigte Monografie über den Talmud blieb unveröffentlicht. Ganz anders dagegen Kittel, der in den Kriegsjahren insgesamt etwa fünfzehn Artikel und zusammen mit Eugen Fischer auch ein Buch veröffentlichte. Die meisten dieser Publikationen hatten eine offen antisemitische Stoßrichtung. In zwei Beiträgen, die selbst für Kittels judenfeindliche Einstellung als extrem gelten können, ging der Tübinger Neutestamentler in besonderer Weise auf den angeblich im Talmud begründeten Hass der Juden auf die Nichtjuden ein.22 Beide Artikel erschienen in der antisemitischen Hauszeitschrift des Propagandaministeriums, die 1937 am Anfang Mitteilungen zur Judenfrage, ab der 13. Nummer des vierten Jahrgangs 1940 Die Judenfrage und ab 1943 Archiv für Judenfragen hieß. Kittel kannte nicht nur den früheren Leiter des Instituts zum Studium der Judenfrage Wilhelm Ziegler von der Forschungsabteilung Judenfrage und der Ausstellung „Der ewige Jude“ her. Im Zusammenhang des Grynszpan-Prozesses war er auch in eine nähere Beziehung zum Propagandaministerium getreten. Kittels Artikel über „Das talmudische Denken und das Judentum“ erschien am 1. Oktober 1942 etwa zur gleichen Zeit, als auch der vierte Band des Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament herauskam, dessen Vorwort Kittel im August 1942 geschrieben hatte. Allein schon diese zeitliche Parallelität ist dazu angetan, das Anliegen des Theologischen Wörterbuchs zu diskreditieren. In dem nicht sehr langen Propagandaartikel für Die Judenfrage begann Kittel mit dem Hinweis auf die gänzlich andere Denkweise des Talmud, die den meisten Menschen vollkommen unverständlich und grotesk erscheinen müsse. Und auch für diejenigen, die sich anhand von Übersetzungen mit der talmudischen Literatur näher befasst hätten, beschreibe der Talmud eine Welt, „zu der schlechterdings keine Brücke und kein Zugang führt, und von der man nicht begreift, wie ihre Abstrusität zu Menschensinnen sprechen, vollends aber, wie sie Menschen als etwas Wichtiges und Wesentliches erscheinen kann“.23 Unter Berufung auf Karl 21
Ebd. Gerhard Kittel, Das talmudische Denken und das Judentum, in: Die Judenfrage, 1.10.1942, S. 208f. und Die Behandlung des Nichtjuden nach dem Talmud, in: Archiv für Judenfragen, 1943, S. 7–17. 23 Kittel, Das talmudische Denken und das Judentum, S. 208. 22
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Georg Kuhn und seinen „grundlegenden Vortrag“ im November 1936 auf der ersten Arbeitstagung der Forschungsabteilung Judenfrage wollte Kittel das Missverständnis ausräumen, als ob es sich beim talmudischen Denken um eine Abart oder eine besonders extreme Erscheinungsform des Judentums handeln würde. Mit Kuhn bezeichnete Kittel die talmudische Denkmethode vielmehr als „die konsequenteste Ausgestaltung“ und die „entschiedendste Ausprägung“ des jüdischen Geistes.24 Die vom jüdischen Denken ausgehende „Zer-Setzung“ sei die Verneinung und Zerstörung dessen, was bei den Völkern und Kulturen ansonsten als „Setzung“ gegeben sei. Über eineinhalb Jahrtausende hinweg hätte die Judenschaft den talmudischen Geist tradiert und sei durch ihn wesenhaft geprägt worden. Für Kittel gehörten deshalb Talmudgeist und jüdische Rassenzugehörigkeit organisch zusammen. Alle Juden, egal ob säkular oder religiös, waren als Angehörige der gleichen Rasse Träger einer spezifischen Talmudgesinnung: „Ob der Einzeljude in einer orthodoxen talmudischen Familie aufwächst, oder ob er als freier Assimilations- und Zivilisationsjude längst allen Ghetto- und Talmudgeruch abgestreift zu haben meint: so wie sein Blut dasselbe bleibt, so bleibt auch sein Denken dasselbe.“25
Insbesondere werde den Juden ihr Verhalten den Nichtjuden gegenüber durch den Talmud vorgegeben. So werde der Status vollen Menschseins nur den Mitgliedern der eigenen Rasse zugebilligt, den Nichtjuden dagegen vorenthalten. „Talmudisch gedacht ist der Jude allein der eigentliche Mensch, der diesen Namen verdient.“26 Der Nichtjude verhalte sich zum Juden wie die Spreu zum Weizen, wie der Staub zur Perle, wie die Fehlgeburt zum lebenden Kind, wie das Tier zum Menschen. Selbst ein Hund verdiene aus Sicht der Juden den Vorzug vor einem Nichtjuden. Am Ende der von Kittel dem Talmud entlehnten Vergleichsreihe stand als Höhepunkt der talmudischen Unmoral die Tötung der Nichtjuden. Diese werde vom Talmud „ausdrücklich und grundsätzlich“ erlaubt und für straffrei erklärt. Einen Nichtjuden umzubringen, liege für einen Juden auf der gleichen Ebene wie die Tötung eines Stückes Vieh oder einer Giftschlange, der man das Gehirn zerschmettert, um nicht von ihr gebissen zu werden.27 24
„Die Fremdartigkeit und Abstrusität des ganzen Talmud ist nichts als die Fremdartigkeit und Abstrusität des Judentums selbst; die wesenhafte Art dieses Volkes selbst ist es, die sich im Wesen des Talmud und des talmudischen Denkens spiegelt.“ Ebd., S. 208. 25 Ebd., S. 208. 26 Ebd. 27 Ebd.
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Kittels Beitrag über „Die Behandlung des Nichtjuden nach dem Talmud“ erschien im ersten Heft des Archivs für Judenfragen. Schriften zur geistigen Überwindung des Judentums als Leitartikel in der Gruppe A „Der Antijudaismus und seine Begründung“. Ihm gingen die einleitenden Bemerkungen des Hauptschriftleiters Friedrich Löffler voraus, in dem dieser zum Ziel der neuen Zeitschrift erklärte, die vom „Judaismus“ für die Völker der Erde ausgehende Gefahr in ihrem tiefsten Wesen zu ergründen und über sie aufzuklären.28 Danach folgte ein langes antisemitisches Zitat von Theodor Fritsch, bevor sich Kittel auf zehn Seiten darüber ausließ, wie die Nichtjuden von den Juden gewöhnlicherweise behandelt würden.29 Dieser Artikel in der antisemitischen Hauszeitschrift des Propagandaministeriums unterschied sich kaum noch von einer der Goebbelschen Hetzreden und entsprach in seiner Gedankenführung dem Gutachten, das Kittel über Herschel Grynzspan verfasst hatte. Er enthielt eine zugespitzte Form des Antitalmudismus, die sich vor allem mit dessen letzter Konsequenz, nämlich der vom Talmud erlaubten oder sogar gebotenen Tötung der Nichtjuden beschäftigte. Die Vernichtung des europäischen Judentums lief auf Hochtouren, als Kittel hier den jüdischen Mord an den Nichtjuden zu einer logischen Konsequenz des jüdischen Denkens erklärte. In den normativen Schriften des Judentums seien Weisungen eines abgrundtiefen Hasses gegen die Nichtjuden enthalten, die „bis hin zur vollen Freiheit der Tötung“ reichten.30 Erneut führte Kittel das jüdische Verhalten auf die durch Rasse und Religion bestimmte Entwicklung des Judentums zurück, die in der Welt keine Parallele habe. Es gehöre zum Wesen der Juden, dass sie den Fremden, den Gojim oder Acherim, den Status gewöhnlichen Rechts und normalen Menschsseins generell absprächen. Der Nichtjude stehe für den Juden nicht nur außerhalb des Judentums, sondern auch „außerhalb des normalen, des eigentlichen Menschentums“. Nicht von ungefähr verwende der Talmud außerordentlich drastische Ausdrücke und bezeichne die Nichtjuden als Unrat oder als Dornen, die man im Feuer verbrennt, als Dung, der auf den Dunghaufen gehört.31 Kittel scheute sich nicht einmal, den nationalsozialistischen Terminus technicus des „Untermenschen“ zu gebrauchen, um damit zu beschreiben, wie die Juden Nichtjuden für gewöhnlich charakterisieren würden. Diese seien aus jüdischer Sicht „von der Gottheit Verworfene, Verabscheute, von ihr nicht als Menschen Anerkannte“, in Kittels Sprachgebrauch „Nicht-Menschen“.32 28 29 30 31 32
Friedrich Löffler, Weg und Ziel, in: Archiv für Judenfragen, H. 1, 1943, S. 1–5, hier S. 1. Gerhard Kittel, Die Behandlung des Nichtjuden nach dem Talmud, in: ebd., S. 7–17. Ebd., S. 7. Ebd., S. 10. Ebd., S. 11.
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Solchermaßen enthumanisiert und zu den eigentlichen Feinden nicht nur dieses oder jenes Volkes, sondern der ganzen Menschheit erklärt, habe das Leben eines Nichtjuden für den Juden seinen Wert verloren. „Jetzt erst ist jener Satz vom Töten des Nichtjuden im ganzen Licht. Dieser Nichtjude ist ja kein Mensch im eigentlichen Sinn, im Sinn der Schöpfung Gottes. Er ist lediglich ein Etwas.“33 Wie in seinem Grynszpan-Gutachten argumentierte Kittel auch hier mit einer talmudischen Latenz, die gerade bei den nicht mehr religiösen Juden zu einer besonderen Gefahr werde. In Kombination mit einem säkularen Weltherrschaftsanspruch habe das jüdische Auserwähltheitsdenken verheerende Folgen für die Nichtjuden.34 Die „fantastischen Wunschträume einer apokalyptischen jüdischen Weltherrschaft“ würden einen zugleich religiösen und politischen Fanatismus entstehen lassen, der sich zwangsläufig gegen die Regierungen der Nichtjuden richten und zu kriegerischen Auseinandersetzungen führen müsse. Handelte es sich am Anfang um die durch den Talmud erlaubte Tötung Einzelner, stand am Ende der Kittelschen Argumentation die massenhafte Vernichtung der Feinde des Judentums: „Am Anfang des zweiten Jahrhunderts glaubten die Juden in Nordafrika und in Zypern ihre Stunde gekommen und brachen zu einem Aufstand los. Allein in Zypern haben sie damals eine Viertelmillion Menschen umgebracht, in der Cyrenaika nicht weniger, zum Teil in den grausamsten Formen die Menschen schlachtend. Irgendein Problem von Recht oder Unrecht des politischen Mordes am Nichtjuden existiert für das talmudische Denken nicht. Die Frage kann höchstens sein, ob er zweckmäßig ist, ob er zu einem Erfolg führen wird; und der Erfolg müsste heißen: daß er zu einem Fanal werden könnte für die allgemeine Vernichtung der Gegner und für die Stunde des Judentums!“35
In pathetischen Worten vorgetragen, kulminierte Kittels Antitalmudismus im jüdischen Massenmord an den Nichtjuden. Man könnte hier sogar von einer talmudischen Endlösung der Nichtjudenfrage sprechen. In zwei Vorträgen, die Kittel 1943 und 1944 an der Universität Wien hielt, bettete er seine am Talmud entfalteten Projektionen in eine weiter gefasste geschichtstheologische Welterklärung ein, die bei dem rassisch depravierten Judentum der Antike ihren Ausgang nahm und in der Gegenwart endete. Der erste Vortrag vom 22. März 1943 über „Die Entste-
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Ebd., S. 11. Ebd., S. 16f. Ebd., S. 17.
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hung des Judentums“ wurde noch im gleichen Jahr publiziert.36 Kittel bezeichnete in ihm die Geschichte als die große Lehrmeisterin, von der man Entscheidendes über die Entwicklung des Judentums erfahren könne. Als Einstieg diente ihm das bekannte Lamento über die durch die Aufklärung zu Fall gebrachten Ghettomauern, die das „Judenproblem“ bis dahin sicher umschlossen hatten. Erst das Zeitalter eines falsch verstandenen Humanismus und der politischen Gleichmacherei habe die Methoden der Ghettoisierung und der Kennzeichnung der Juden mit speziellen Abzeichen in Misskredit gebracht; „sie galten vorher als eine unbestrittene Ordnung der abendländischen Christenheit und sind von vielen Synoden nicht nur gutgeheißen, sondern anbefohlen worden.“37 Das Millennium vom sechsten vor- bis zum sechsten nachchristlichen Jahrhundert, das heißt vom Beginn des Exils bis zum Ende des antiken Judentums, sei für die Entstehung und Wesensbildung des Judentums von zentraler Bedeutung gewesen. Weil die Juden im anschließenden Jahrtausend in der Abgeschlossenheit des Ghettos gelebt und sich dadurch ihre rassischen Eigenarten nahezu unverändert erhalten hätten, müsse man das antike Weltjudentum studieren, um einen wirklichen Einblick in die Wesensart des jüdischen Volkes zu erhalten. Hatte für Kittel das alte Israel imerhin noch einer einigermaßen einheitlichen orientalischen Rasse angehört, sei es vor allem über die Aufhebung des Konnubiums und infolge der Missachtung früherer Grundsätze zu einem rassischen Durchmischungsprozess erheblichen Ausmaßes mit „Einschlägen von Negerblut“, aber auch unter Beimischung von „nordischen Rassenelementen“ gekommen.38 Mit dieser Konstruktion einer der jüdischen Depravation vorausgehenden rassischreligiösen Kohärenz ließ sich die Bedeutung des Alten Testaments auch im Nationalsozialismus aufrecht erhalten und die jüdische Entwicklung in einen positiven, vom Christentum aufgenommenen, und einen in das Talmudjudentum und das jüdische Rassengemisch eingeflossenen negativen Bestandteil aufspalten. Indem Kittel den religiösen Gegensatz zwischen Christentum und Judentum auf eine rassische Ebene verschob, konnte er alle christlichen Schlagworte einer jüdischen Kasuistik, Theokratie und Gesetzesreligion einfließen lassen, ohne dass sie auf Anhieb als religiöse Vorurteile kenntlich waren. Unter Rückgriff auf den Rassegedanken war es ihm möglich, eine gewissermaßen objektive Erklärung dafür zu geben, warum sich die 36
Gerhard Kittel, Die Entstehung des Judentums, in: Die Welt als Geschichte, H. 1/3, 1943, S. 68–82. 37 Kittel, Die Entstehung des Judentums, S. 68. 38 Ebd., S. 72. Kittel wandte hier die rassischen Erkenntnisse Hans F. K. Günthers über das moderne Judentum auf die Zeit vor dem Ghetto an.
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jüdische Heils- in eine Unheilsgeschichte verwandeln musste. Mit der auch von Kuhn vertretenen Ansicht, dass rassische und religiöse Gesichtspunkte in der „Judenfrage“ als eine Einheit zu betrachten seien, ließ sich je nach Bedarf die eine oder die andere Seite des Problems herausstreichen. Genau in der Mitte des von Kittel beschriebenen weltgeschichtlichen Millenniums hätte für die Juden die Möglichkeit einer Änderung ihres Verhaltens bestanden. Doch statt ihre Chance wahrzunehmen und sich zu besinnen, taten sie das genaue Gegenteil und schlugen Jesus ans Kreuz. Dem frühen Christentum sei deshalb gar nichts anderes übrig geblieben, als sich gegen das jüdische Volk zu wenden. Als er vor Jahren das Neue Testament „das antijüdischeste Buch der Welt“ und das Urchristentum „die antijüdischeste Bewegung der Welt“ genannt habe, sei er dafür von christlicher wie von a-christlicher Seite heftig kritisiert worden.39 Doch er wisse felsenfest, dass er damit Recht habe. Für das Judentum folge aus dem Auftreten des Messias ein unerbittliches „Entweder–Oder“, das bei der falschen Entscheidung Israels Existenz „schlechthin“ in Frage stelle.40 Nicht ohne Grund sei die Geschichte der Juden zur Unheilsgeschichte geworden, für sie selbst, aber auch für die nichtjüdischen Völker. Kittel nannte deswegen das johanneische Wort „Euer Vater ist der Teufel“ nicht nur „eine gelegentliche, zufällige, sondern eine neutestamentliche Grundaussage“.41 Dieser ebenso freimütigen wie drastischen Verteufelung des Judentums setzte der Tübinger Neutestamentler die christliche Erfolgsgeschichte entgegen, die nicht zuletzt darin bestand, dem jüdischen Weltherrschaftsanspruch wirksam widersprochen zu haben. Frühere Formen der Judengegnerschaft seien von einer erschütternden Wirkungslosigkeit gewesen. Erst dort, wo das Christentum zur Herrschaft gelangte, habe sich die Situation grundlegend geändert: „So ist es eine geschichtliche Tatsache, daß durch den Eintritt des Christentums in die abendländische Geschichte der schon vorher mannigfach vorhandene, aber uneinheitliche und deshalb unwirksame ‚Antijudaismus‘ zu einer erstmaligen Geschlossenheit umgeformt und für ein Jahrtausend als ‚eine der undiskutierten Voraussetzungen der abendländischen Kultur‘ gesetzt wurde.“42
Damit war das Ende des antiken Weltjudentums gekommen und das Zeitalter des Ghettos begann. Vor der Tür des Ghettos stand aber ein volles
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Ebd., S. 79. Das Wort „antijüdischeste“ so im Original. Ebd. Ebd. Ebd., S. 81
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Jahrtausend lang „als der Wächter, der sein Wächteramt als ihm von Gott zu treuen Händen gesetzte Aufgabe weiß: das christliche Abendland“.43 Das sich über den Abwehrkampf gegen das Judentum definierende christliche Abendland stand auch im Mittelpunkt von Kittels anderem, nicht publizierten Vortrag vom 15. Juni 1944.44 Und auch hier ist sein Bemühen unübersehbar, die religiöse Dimension der „Judenfrage“ als den entscheidenden Punkt des Problems auszugeben, ohne sich dabei aber als christlicher Theologe dem Vorwurf religiöser Voreingenommenheit auszusetzen. Jeder Historiker, „ob Jude oder Christ, ob Freund oder Gegner des Christentums“, werde zugeben müssen, dass es allein die christliche Religion war, die den Ansturm der Juden zum Stehen brachte.45 Indem das Abendland christlich wurde, sei der zwar vorher schon vorhandene, aber nichtreligiöse und weithin unwirksame Antijudaismus „in die christliche Lehre von dem Fluch und der Verwerfung des Judentums“ überführt worden. Erst danach habe die Möglichkeit bestanden, eine wirkliche Mauer gegen alle Formen der Judaisierung aufzuwerfen.46 Dass die Ghettoisierung der Juden bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zur dauerhaften und stabilen Lösung der „Judenfrage“ werden konnte, sei nicht zufällig geschehen, sondern das Ergebnis eines wesenhaft zum Christentum gehörenden Antijudaismus. Jede „echte Verkündigung des Christentums in der Nachfolge Jesu Christi“ sei zu allen Zeiten und in jeder Hinsicht dem Judentum antithetisch entgegengesetzt. Die Stoßrichtung gegen das Judentum gehöre zum Grundbestand des christlichen Weltbildes und der christlichen Verkündigung. Aufgrund dieser Leistung sei das Christentum zu einem wichtigen Faktor in der Rassenentwicklung des Abendlandes geworden.47 Kittels erster Wiener Vortrag vom März 1943 hatte eine ähnliche Gedankenführung, aber einen anderen, nicht auf das Christentum, sondern auf das Judentum abzielenden Schluss. Kittel bezeichnete hier die Zeit der Aufklärung als den Beginn der großen Krise, die „jene undiskutierte Selbstverständlichkeit der Ghettolösung“ problematisch werden ließ und ihre Christlichkeit in Frage stellte. „Das christliche Abendland fing an, seine Stellung zur Judenfrage zu lockern und preiszugeben, fing an, jenes Wächteramtes sich zu schämen und es zu verleugnen.“48 Selbstkritisch sprach Kittel das Versagen einer „depravierten Pseudo-Christlichkeit“ an, 43 44 45 46 47 48
Ebd., Kursivierung im Original. Gerhard Kittel, Das Rassenproblem der Spätantike, ein Durchschlag in: UAT, 126/31. Ebd., S. 4. Ebd., S. 8. Ebd., S. 7. Kittel, Die Entstehung des Judentums, S. 82.
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die das Judenproblem klein geredet und die notwendigen Gegenmaßnahmen als inhuman und unchristlich ausgegeben habe. Deshalb trage eine salzlos und harmlos gewordene Kirche einen Teil der Schuld, dass im Gefolge der Aufklärung plötzlich wieder die Gefahr eines neuen Weltjudentums entstehen konnte. Beim Nachdenken über die aktuelle Gegenwartsentwicklung schien Kittel aber erkannt zu haben, dass die historische Form des Ghettos und eine Apartheidlösung, die er noch in Die Judenfrage propagiert hatte, nicht mehr zeitgemäß war. Mit der Ausweisung der Juden aus Deutschland war ihre Ghettoisierung obsolet geworden. Und auch das Ghetto in Warschau oder in Litzmannstadt stellte keine Lösung dar, die sich auf Dauer aufrechterhalten ließ. Die moderne „Judenfrage“ mit einer mittelalterlichen Methode lösen zu wollen, machte in den 1940er Jahren keinen Sinn mehr. Am Ende seines zweiten Wiener Vortrags vom Juni 1944 begann Kittel deswegen darüber zu reflektieren, welche Konsequenzen sich daraus ergaben und wie sich diese in sein geschichtstheologisches Modell einordnen ließen. Was blieb übrig, wenn alle anderen Versuche zur Lösung der „Judenfrage“ in einer Sackgasse stecken blieben? Gedanklich zu seinem Ausgangspunkt des Jahres 1933 zurückkehrend, schloss mit einem deutlichen Hinweis auf den Holocaust: „Als das christliche Abendland die Tür des Ghetto aufbrechen ließ, gab es damit zugleich sich selbst preis. Es erlag den ebenso verführerischen wie unchristlichen Maximen von der ‚liberté‘ und ‚égalité‘, die diese Tür verbrämten. In Wirklichkeit war es eine Tür der Dämonen; in Wirklichkeit führte sie nicht in ein paradiesisches Tal, sondern in ein Tal des Chaos und des Fluches und des Grauens.“
Und weiter: „Darf es den wundernehmen, der die Geschichte als Lehrmeisterin weiß und ehrt, wenn dort, wo in einem furchtbaren Ringen der Ausgang aus dem Tal erkämpft wird, alles Grauen sich sammelt und alle Dämonen wüten?“49
Kittel wies in seiner Nachkriegsverteidigung selbst darauf hin, dass er mit dieser Aussage „vor einem fast tausendköpfigen Auditorium der Wiener Universität“ ganz bewusst den Judenmord ansprechen wollte, um die Dramatik des Geschehens aufzuzeigen.50 Von den „planmässigen und in grossem Umfang durchgeführten Judenverfolgungen und -morden in Polen und Russland“ habe er Anfang 1943 durch seinen auf Urlaub weilen49
Ebd., S. 82. Das Wort „Ghetto“ so im Original. Gerhard Kittel, Meine Verteidigung, in: UAT, 162/31, S. 43. Allerdings wollte Kittel die Erwähnung des Holocausts jetzt als eine Art Widerstandshandlung ausgeben, die ihn fast ins Gefängnis gebracht hätte.
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den Sohn erfahren.51 Die von ihm zehn Jahre vorher hypothetisch angedachte Beseitigung des „Judenproblems“ über die Beseitigung der Juden schien so abseits aller realen Möglichkeiten nicht gewesen zu sein. Es waren aber nicht nur die Wiener Zuhörer, die Kittel über die Leistung des Christentums bei der Lösung der „Judenfrage“ aufklärte und die von ihm erfuhren, dass es gerade die Nichtbeachtung des christlichen Lösungsansatzes war, die zu dem in seinem Schlusssatz beschriebenen Grauen geführt hatte. Am 12. August 1944 verschickte der Landeskirchenrat der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern diesen Vortrag Kittels im Rahmen der kirchlichen Berufshilfe an sämtliche Pfarrämter der Landeskirche. Der bayerische Landesbischof Hans Meiser (1881–1956) hatte noch auf dem Deckblatt vermerkt, dass der Vortrag mit ausdrücklicher Zustimmung seines Verfassers als „Berufshilfe“ an die evangelischen Geistlichen versandt werde.52 Kam also ein evangelischer Soldat während seines Fronturlaubs mit möglichen Gewissensbissen über die Ermordung der Juden zu seinem Heimatpfarrer, konnte ihn dieser anhand der Kittelschen Ausführungen theologisch darüber aufklären, warum es soweit kommen musste. Von dem anderen Wiener Vortrag schickte Kittel am 9. September 1944 einen mit persönlicher Widmung versehenen Durchschlag an den württembergischen Landesbischof Theophil Wurm (1868–1953).53 Kittel und Wurm standen seit Jahren in einem engen Austausch und lagen auch in ihren Ansichten über die „Judenfrage“ in etwa auf der gleichen Linie. Am 4. Februar 1939 hatte Wurm in einem Brief an Heinrich Himmler ausdrücklich auf Kittels Mitarbeit bei der Forschungsabteilung Judenfrage und seinen am 13. Januar 1939 in Berlin gehaltenen „und von der gesamten Parteipresse sehr gewürdigten“ Vortrag über die historischen Voraussetzungen der Rassenmischung des Judentums abgehoben.54 In seinem Schreiben an den Reichsführer-SS vergaß der württembergische Landes-
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Ebd. Traugott Simon, Schlimme Sache. Gerhard Kittel und die Juden, in: Korrespondenzblatt, herausgegeben vom Pfarrer- und Pfarrerinnenverein in der evang.-luth. Kirche in Bayern, 1997, S. 176. 53 „Mit verehrungsvollem Gruß in ernsten Tagen. K.“, Eberhard Röhm und Jörg Thierfelder, Juden, Christen, Deutsche 1933–1945, Bd. 4, Teil 2, Stuttgart 2007, S. 342f. und S. 617. 54 Eberhard Röhm und Jörg Thierfelder, Juden, Christen, Deutsche, Bd. 2, Teil 1, Stuttgart 1992, S. 314. Auch im Evangelischen Pressedienst (Ausgabe B für kirchliche Blätter) war am 1.2.1939 ein anerkennender Bericht über Kittels Berliner Vortrag erschienen. Als hervorragender Kenner der jüdischen Rassengeschichte habe Kittel gezeigt, „wie das theologische Wissen hier an einer Stelle für die klare Erkenntnis eines unserem Volke gestellten brennenden Problems wertvolle Mitarbeit leistet“. Ebd., S. 4. 52
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bischof auch nicht, Himmler darüber zu informieren, dass Kittel beim letzten Parteitag als Ehrengast des Führers teilgenommen hatte. Zwischen dem Juni 1933, als Kittel in seiner viel beachteten Publikation über Die Judenfrage hypothetisch von der Möglichkeit gesprochen hatte, alle Juden umzubringen, falls sich das „Judenproblem“ nicht auf andere Weise lösen ließe, und dem Juni 1941, als mit dem Überfall auf die Sowjetunion ein solcher Lösungsansatz seiner tatsächlichen Realisierung entgegensah, lagen nur acht Jahre. Seine Ausführungen waren seinerzeit in der Tübinger Studentenschaft breit diskutiert worden und fielen gerade bei den politisch aktiven Studenten auf einen fruchtbaren Boden. Einige Mitglieder des NS-Studentenbundes beteiligten sich nach dem Überfall auf die Sowjetunion an verantwortlicher Stelle daran, den Holocaust in die Tat umzusetzen. Zweifellos wurden sie in ihrer antisemitischen Einstellung und auch in der Überzeugung, dass es bei dem Zweiten Weltkrieg um die schlichte Alternative „sie oder wir“ ging, durch die Argumente eines wissenschaftlich so renommierten Universitätsprofessors wie Kittel bestärkt. Bereits Michael Wildt wies in seiner grundlegenden Studie über das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes darauf hin, dass eine distinkte Gruppe späterer NS-Kriegsverbrecher an der Universität Tübingen für den SD rekrutiert wurde.55 Einige unter ihnen hatten mit hoher Wahrscheinlichkeit am 1. Juni 1933 zu den Zuhörern des Kittelschen Vortrags über die „Judenfrage“ gehört. Dass die nationalsozialistischen Studentenfunktionäre den Inhalt und die Stoßrichtung seiner gleichnamigen Schrift kannten und auch die Diskussion um die verschiedenen Lösungsansätze für die „Judenfrage“ mitbekommen hatten, kann ebenfalls mit Sicherheit angenommen werden. Zur entscheidenden Figur, die in Tübingen und in Heidelberg eine Verbindung zwischen der Universität und dem SD herstellte, wurde Gustav Adolf Scheel (1907–1979). Das von der SD-Führung entwickelte Konzept, den akademischen Nachwuchs für eine nachrichtendienstliche Tätigkeit zu gewinnen, setzte Scheel mit großem Erfolg an den beiden Universitäten, an denen er studiert hatte, in die Realität um. Scheel stammte aus einem gut bürgerlichen evangelischen Elternhaus. Weil sein Vater seit 1922 das Diakonissenmutterhaus in Mannheim leitete, besuchte er in Mannheim das Gymnasium und machte dort 1928 das Abitur.56 Nach ei55 Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 89–104. Siehe auch ders., Von der Universität ins Reichssicherheitshauptamt. Tübinger Exekutoren der ‚Endlösung‘, in: Wiesing u.a., Hg., Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus, S. 791–807. 56 Siehe zu Scheels Vita besonders Georg Franz-Willing, ‚Bin ich schuldig?‘. Leben und Wirken des Reichsstudentenführers und Gauleiters Dr. Gustav Adolf Scheel 1907–1979.
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nem ersten Studiensemester in Heidelberg wechselte Scheel zum Wintersemester 1928/29 an die Universität Tübingen. Seinem Ziel gemäß, Pfarrer bzw. Sozialpfarrer zu werden, schlug er zunächst das Studium der evangelischen Theologie ein. Nachdem er bereits das Hebraicum absolviert hatte, wechselte Scheel dann aber in seinem dritten Studiensemester zur Medizin, wo er glaubte, dem sozialen Anliegen des Christentums besser gerecht werden zu können. Wie Kittel in einer eidesstattlichen Erklärung zur Entlastung Scheels nach dem Krieg am 30. Januar 1948 versicherte, sei Scheel als Sohn eines ihm nahestehenden Pfarrers bereits als junger Tübinger Student in seinem Haus verkehrt.57 Scheel trat in Tübingen sogleich dem völkisch-antisemitischen Verein Deutscher Studenten bei, einer farbentragenden und schlagenden Verbindung im Kyffhäuser-Verband. FranzWilling vermerkt in seiner Scheel-Biografie, dass außer Scheel noch weitere vierzehn Pfarrersöhne dem VDSt angehörten.58 Im Wintersemester 1929/30 wurde Scheel auch Vorsitzender des sich durch einen betont protestantischen Nationalismus auszeichnenden Vereins Deutscher Studenten. Außerdem schloss er sich rasch dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund an. Ein weiterer Politisierungsschub erfolgte 1930, als er an die Universität Heidelberg wechselte. Dort trat er noch im gleichen Jahr am 1. Oktober in die SA und am 1. Dezember in die NSDAP ein. Danach folgte ein rasanter Aufstieg, der Scheel über seine Tätigkeit in der Heidelberger Studentenschaft bis in höchste Staatsämter brachte. Als Gaustudentenführer und Kreisführer Südwest der Deutschen Studentenschaft war er von Januar bis April 1933 auch Vorsitzender des Heidelberger AStA, in dem der Verein Deutscher Studenten zusammen mit anderen farbentragenden Verbindungen die hauptsächliche Rekrutierungsbasis des NS-Studentenbundes bildete. Im Wintersemester 1933/34 wurde Eine Biographie, Leonie am Starnberger See 1987, Birgit Arnold, ‚Deutscher Student, es ist nicht nötig, daß Du lebst, wohl aber, daß Du Deine Pflicht gegenüber Deinem Volk erfüllst‘. Gustav Adolf Scheel, Reichsstudentenführer und Gauleiter von Salzburg, in: Michael Kißener und Joachim Scholtyseck, Hg., Die Führer der Provinz. NS-Biographien aus Baden und Württemberg, Konstanz 1997, S. 567–594, Horst Ferdinand, Scheel, Gustav Adolf, NS-Politiker, Reichsstudentenführer, Arzt, in: Baden-württembergische Biographien, hg., von Bernd Ottnach, Bd. 2, Stuttgart 1999, S. 394–399 und Marc Zirlewagen, Scheel, Gustav Adolf, in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 26, 2005, Sp. 1270–1275 (www.kirchenlexikon.de, s.v. Scheel, zuletzt eingesehen am 13.12.2009) sowie seine BDC-Akten im Bundesarchiv Berlin. 57 Die Erklärung findet sich in den Aktenbeständen des Münchener Instituts für Zeitgeschichte (Zeugenschrifttum 646, Scheel, Sp. 42) und ist auch abgedruckt bei FranzWilling, Bin ich schuldig?, S. 84–87. Die im rechtsextremen Druffel-Verlag erschienene Scheel-Biographie Franz-Willings, der 1942/43 bei Karl Alexander Müller in München promoviert worden war, zeigt eine deutlich revisionistische Tendenz. 58 Franz-Willing, Bin ich schuldig?, S. 10.
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Scheel in einen vom Rektor Wilhelm Groh (1890–1964) gebildeten Führerrat berufen, der eine ähnliche Funktion und Struktur hatte wie sein Tübinger Pendant. Wirklich bekannt wurde Scheel aber dadurch, dass er in Heidelberg am 17. Mai 1933 die Ansprache bei der Bücherverbrennung auf dem Universitätsplatz hielt. Das Heidelberger Tagblatt berichtete am nächsten Tag ausführlich über Scheels Rede, in der er die Zersetzung des Geistes durch jüdische und marxistisch-bolschewistische Literaten gebrandmarkt hatte.59 In Tübingen kam es dagegen zu keiner Bücherverbrennung, weil sich der Kommissar für die württembergischen Studentenschaften Gerhard Schumann (1911–1925) offenbar dagegen aussprach und sie verhinderte.60 Noch im April 1933 hatte der Tübinger Studentenschaftsführer Martin Sandberger einen Fünfpunkteplan angeordnet, mit dem er wirksame Maßnahmen „zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur“ einforderte.61 Schumann, der mittelalterliche Autodafés für unzeitgemäß hielt, setzte sich stattdessen für die Säuberung von Buchhandlungen, Leihbüchereien und Universitätsbibliotheken ein. Die parallel zur Bücherverbrennung durchgeführten Aktionen der Studentenschaft gegen den „untauglichen Hochschullehrer“ stießen in Tübingen hingegen auf größere Resonanz.62 Scheel war noch keine 30 Jahre alt, als er aufgrund seiner politischen Verdienste am 22. November 1935 zum Ehrensenator der Universität Heidelberg ernannt wurde. Wie Rektor Groh in seiner Laudatio ausführte, rechnete er insbesondere die Säuberung der Ruperto Carola von Juden und anderen missliebigen Personen zu den Leistungen Scheels.63 Scheel hatte sich bereits beim Kampf gegen den deutsch-jüdischen Mathematiker und Pazifisten Julius Gumbel (1891–1966) hervorgetan. Auch die so genannten Gumbelkrawalle im August 1931 gingen auf Scheels Initiative
59 Werner Treß, ‚Wider den undeutschen Geist‘. Bücherverbrennungen 1933, Berlin 2003, S. 191 und Norbert Giovanni, Zwischen Republik und Faschismus. Heidelberger Studentinnen und Studenten 1918–1945, Weinheim 1990, S. 174f. 60 Siehe hierzu Simone Bautz in ihrer unveröffentlichten Dissertation, Gerhard Schumann – Biographie. Werk. Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors, Diss. Gießen 2008, S. 124–127. 61 Treß, ‚Wider den undeutschen Geist‘, S. 113f. und S. 189f. 62 Bautz, Gerhard Schumann, S. 124f. In diesen Kontext scheint auch jener studentische Leserbrief in der Tübinger Chronik vom 2.6.1933 gehört zu haben, der Kittels am 1. Juni gehaltenen Vortrag über „Die Judenfrage“ als Skandal bezeichnete. In seiner Eigenschaft als Landesführer des NSDStB entschuldigte sich Schumann deshalb am 6.6.1933 öffentlich im Neuen Tübinger Tagblatt dafür. Ebd. 63 Ferdinand, Scheel, S. 396.
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zurück.64 Im Sommer 1932 wurde dem Privatdozenten und titularmäßigen Professor für mathematische Statistik Gumbel die Venia legendi entzogen, weil er sich angeblich in abfälliger Weise über Deutschlands Teilnahme am Ersten Weltkrieg geäußert habe. Bei der Besetzung der Häuser der jüdischen Studentenverbindungen durch nationalsozialistische Kommandos hatte Scheel ebenfalls seine Hände im Spiel.65 Früher als andere erkannte Scheel die Zeichen der Zeit und trat im September 1934 von der SA in die SS über. Gleichzeitig wurde er hauptamtlicher SD-Mitarbeiter. Hatte er in Berlin zunächst die SD-Schule aufgebaut und bis zum Sommer 1935 auch selbst geleitet, übernahm er von Werner Best (1903–1989) im Juli 1935 die Führung des SD-Oberabschnitts Südwest. Vor allem Scheels Bemühungen war es zu danken, dass in den vier Jahren, in denen er bis 1939 als Oberabschnittsleiter fungierte, derart viele Angehörige der Eberhard Karls Universität für eine SD-Tätigkeit rekrutiert werden konnten. Die Verzahnung von Universität und Sicherheitsdienst gelang ihm noch besser, als er im November 1936 zum Reichsstudentenführer ernannt wurde. Einige Monate vorher hatte Scheel im Juni 1936 geheiratet, wobei sein Vater die Trauung des in SS-Uniform vor dem Altar erschienenen Sohns durchführte.66 Seit April 1938 Inspekteur der Sipo und des SD in Stuttgart, wurde Scheel im Sommer 1940 Befehlshaber des SD im Elsass, das nach Beendigung des Westfeldzuges dem Gau Baden zugeschlagen wurde. Bereits im Mai 1940 hatte sich Scheel mit zwei Einsatzkommandos nach Straßburg begeben, um als erstes die Abschiebung der elsässischen Juden in Angriff zu nehmen. Mit Martin Sandberger forderte Scheel einen seiner besten Mitarbeiter aus dem SD-Oberabschnitt Südwest zur Unterstützung an.67 Im Mai 1941 wurde Scheel zum Höheren SS und Polizeiführer des SD-Oberabschnitts Alpenland in Salzburg und im November 1941 sogar zum Gauleiter und Reichsstatthalter in Salzburg ernannt. Von 1942–1945 Präsident des Deutschen Akademischen Auslandsamtes, trat der Multifunktionär Scheel im September 1944 auch die Nachfolge Walter Schultzes (1894– 1979) als Reichsdozentenführer an. Insofern kann es kaum verwundern, dass Hitler ihn in seinem politischen Testament als Leiter des Kultusministeriums vorsah. Nach dem Krieg und einer dreijähriger Internierung war 64 Scheel schrieb in einem Lebenslauf am 7.5.1934: „Seit 1931 wurde der Kampf gegen den bekannten Juden Gumbel unter meiner Führung durchgeführt.“ Institut für Zeitgeschichte München, 646, Zeugenschrifttum Scheel. 65 Michael Grüttner, Die Studenten im Dritten Reich. Geschichte der deutschen Studentenschaft, Paderborn 1995, S. 213. 66 Franz-Willing, Bin ich schuldig?, S. 16. 67 Heydrich beorderte Sandberger aber wenige Tage später wieder in die Berliner SDZentrale zurück. Wildt, Generation des Unbedingten, S. 526f.
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Scheel ab 1949 als Arzt in einem Hamburger Krankenhaus tätig. Wegen seiner Zugehörigkeit zum so genannten Naumann-Kreis, einer Gruppe ehemaliger Nationalsozialisten um den letzten Staatssekretär im Propagandaministerium Werner Naumann (1909–1982), wurde Scheel 1953 verhaftet, aus Mangel an Beweisen aber wieder freigesprochen.68 Von 1954 bis 1979 arbeitete er als niedergelassener Arzt mit eigener Praxis in Hamburg. Scheel galt innerhalb des SD als kirchennah und dem Christentum wohlgesonnen. Nationalsozialismus und Christentum bildeten für ihn keinen Gegensatz, sondern eine organische Einheit. Vor allem in den sozialpolitischen Maßnahmen des Dritten Reiches sah er ein positives Tatchristentum verwirklicht, das unter Umständen auch gegen die Machtansprüche der Kirchen verteidigt werden musste. Die nationalsozialistische Volksgemeinschaft erschien ihm als die den Deutschen adäquate Form eines christlichen Sozialismus. Hohe kirchliche Würdenträger beider Konfessionen bestätigten nach dem Krieg die moralische Integrität Scheels, der sich stets für die Belange der Kirchen eingesetzt habe. Der spätere Tübinger Universitätsrektor Helmut Thielicke (1908–1986) nannte ihn sogar eine „der wenigen erfreulichen und anständigen Figuren in der höheren NS-Hierarchie“.69 In einem Nachruf in den Akademischen Blättern, der Zeitschrift des Verbandes der Vereine Deutscher Studenten, wird Scheel geradezu als Ehrenmann dargestellt.70 Dieses positive Bild beruhte nicht zuletzt darauf, dass Scheel im Gegensatz zu Albert Derichsweiler (1909– 1997), seinem Amtsvorgänger als Reichsstudentenführer, einen Ausgleich zwischen den Studentenverbindungen und dem Nationalsozialismus suchte. Scheel gab sich große Mühe, anfallende Probleme bei der Eingliederung der Korporationen in die nationalsozialistische Studentenschaft in beidseitigem Einvernehmen zu regeln. Das konnte ihm auch deswegen gelingen, weil die Programmatik der Studentenverbindungen und die des Nationalsozialistischen Studentenbundes in nicht wenigen Punkten, etwa bei der Frontstellung gegen das Judentum oder im Hinblick auf einen chauvinistischen Nationalismus, Gemeinsamkeiten aufwies. Die Sympathien, die Scheel im Gegenzug dafür entgegengebracht wurden, hielten noch weit über das Jahr 1945 hinaus an.71 68 Dem Naumann-Kreis gehörten u.a. auch Werner Best, Wolfgang Diewerge, Franz Alfred Six und Eberhard Taubert an. 69 Helmut Thielicke, Zu Gast auf einem schönen Stern. Erinnerungen, Hamburg 1984, S. 125 und S. 244. 70 Horst Müller, Ein deutsches Leben. Gustav Adolf Scheel (1907 bis 1979), in: Akademische Blätter, 1980, S. 139f. 71 Scheel blieb Mitglied im VDSt, der sich 1952 an der Universität Tübingen neu konstituierte und bereits 1954 in der Lage war, ein neues Vereinshaus zu kaufen. Siehe Geb-
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Scheels Zögling Martin Sandberger gehörte wenige Jahre, nachdem er am 1. Januar 1936 hauptamtlicher SD-Mitarbeiter geworden war, als Leiter des Sonderkommandos 1a zum führenden Personal des nationalsozialistischen Massenmords an den Juden. Scheel förderte Sandbergers Karriere wo er nur konnte.72 Anfang 1936 gelang es ihm, Sandberger trotz einer aussichtsreichen juristischen Karriere als persönlichen Referenten und Berichterstatter für Wissenschaft und Erziehung nach Stuttgart zu holen. Scheel stellte ihm beste Leumundszeugnisse aus und nannte ihn einen der tüchtigsten Männer des SD-Oberabschnitts Südwest.73 Bei Sandberger gingen weltanschauliche Zuverlässigkeit, ein im nationalsozialistischen Sinn anständiger Charakter und besondere Führungsqualitäten eine Verbindung ein, die Scheel für mustergültig hielt. Sandbergers beruflicher Werdegang nahm einen für die württembergische Innenverwaltung typischen Verlauf. Hatte man an der Landesuniversität in Tübingen studiert und gehörte der evangelischen Kirche und einer der maßgeblichen Verbindungen an, standen einem so gut wie alle Möglichkeiten offen. Sandberger entstammte überdies dem „Kernmilieu protestantischer Ehrbarkeit“ in Württemberg mit zahlreichen Pfarrern in der Familie.74 Viele der im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg geborenen Aktivisten des NS-Studentenbundes kamen auf einem ähnlichen Weg über die Eberhard Karls Universität in den württembergischen Landesdienst.75 Weil sein Vater als leitender Angestellter bei der I.G. Farben AG arbeitete, ging Sandberger in Frankfurt zur Schule, die er im März 1929 mit dem Abitur beendete. Das noch im gleichen Jahr in Frankfurt begonnene Studium der Rechts- und Staatswissenschaften schloss er im Mai 1933 an der Eberhard Karls Universität mit dem ersten juristischen Staatsexamen ab. Bereits im November 1931 war er in Tübingen als Mitglied der Sängerschaft Alt Straßburg im Sondershäuser Verband in den NSDStB und einen Monat später in die SA eingetreten. Bei der Datierung seines NSDAPEintritts gab es zwar Probleme, doch die Gauleitung genehmigte schließhard R. Keuffel, Hg., 120 Jahre Vereine Deutscher Studenten zu Tübingen, Tübingen 2003, S. 38–40 und S. 167. 72 Siehe zu Sandberger neben seinen BDC-Akten im Bundesarchiv Berlin besonders Michael Wildt, Generation des Unbedingten, S. 98–104, S. 170–173 und S. 578–591 sowie Michael Ruck, Korpsgeist und Staatsbewußtsein. Beamte im deutschen Südwesten 1928 bis 1972, München 1996, S. 228f. und S. 241, 73 Wildt, Generation des Unbedingten, S. 171. 74 Ruck, Korpsgeist und Staatsbewußtsein, S. 228. 75 Michael Ruck, Kollaboration, Loyalität, Resistenz. Administrative Eliten und NSRegime am Beispiel der südwestdeutschen Innenverwaltung, in: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Hg., Formen des Widerstandes im Südwesten 1933–1945. Scheitern und Nachwirken, Ulm 1994, S. 127 und S. 145.
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lich im Februar 1935 die Rückdatierung der Parteiaufnahme auf den 1. Dezember 1931.76 In einem Lebenslauf vom 1. Juli 1936 erklärte Sandberger, dass er von Juli 1932 bis Juli 1933 Studentenschaftsführer und von Mai bis Juli 1933 Hochschulgruppenführer des NSDStB in Tübingen gewesen sei.77 Auf eine vorübergehende Tätigkeit bei der Reichsführung der Deutschen Studentenschaft folgte von Mai bis September 1934 eine hauptamtliche Anstellung in der Obersten SA-Führung und dann bis März 1935 beim Chef des SA-Ausbildungswesens Gottlob Berger (1896–1975). Sein im Juni 1933 am Tübinger Amtsgericht begonnenes Referendariat setzte Sandberger 1934 in Stuttgart fort. Im November 1933 promovierte er an der Universität Tübingen mit einer Arbeit über Die Sozialversicherung im nationalsozialistischen Staat. Bereits 1935 von der SA in den SD übergetreten, übernahm Sandberger zu Beginn des Jahres 1936 eine hautpamtliche Tätigkeit beim SD-Oberabschnitt Südwest in Stuttgart, wo er die Abteilung II/2 „Lebensgebiete“ leitete. Seit 1937 übte er parallel dazu das Amt eines Gebietsführers in der Reichsstudentenführung aus.78 Als Scheel 1939 zum Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD in Stuttgart berufen wurde, wollte er eigentlich Sandberger dorthin mitnehmen. Doch Heydrich hatte Sandbergers besondere Fähigkeiten erkannt und kommandierte ihn im Oktober 1939 zur Einwandererzentralstelle nach Gotenhafen (Gdynia) ab.79 Im Anschluss daran leitete er die Einwandererzentralstelle in Litzmannstadt (Łódż) mit etwa 1000 Mitarbeitern.80 Nach einem Treffen mit Himmler am 22. April 1941 wurde er vom Reichsführer SS mit der Koordination der Siedlungsmaßnahmen in der Untersteiermark beauftragt und von seinen anderen Verpflichtungen im Reichssicherheitshauptamt entbunden.81 Dort leitete der mittlerweile zum Regierungsrat aufgestiegene Sandberger laut Geschäftsverteilungsplan vom März 1941 im Amt I (Personal) die Lehrplangestaltung der SD-Schulen, das heißt das Referat I B 3. Außerdem 76
BArch, BDC PK Sandberger. Die Rückdatierung wurde von der Reichsleitung der NSDAP nicht so ohne weiteres akzeptiert, weil Sandberger zwischen Dezember 1932 und April 1937 keine Mitgliedsbeiträge bezahlt hatte. Sandberger gab am 5.6.1937 eine eidesstattliche Erklärung darüber ab, dass er in Übereinstimmung mit dem Kreisleiter die Bezahlung seiner Beiträge wegen des (nicht von ihm verschuldeten) Nichtvorliegens der Mitgliedskarte ausgesetzt habe. Ebd. 77 Siehe Wildt, Generation des Unbedingten, S. 98f. 78 Ebd., S. 171. 79 Ebd., S. 172. 80 Markus Leniger, Nationalsozialistische ‚Volkstumsarbeit‘ und Umsiedlungspolitik 1933–1945. Von der Minderheitenbetreuung zur Siedlerauslese, Berlin 2006, S. 149–161, hier S. 152. 81 Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, hg. im Auftrag der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, Hamburg 1999, S. 152.
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amtierte Sandberger im RSHA als Vertreter des Leiters der Gruppe I B „Erziehung, Ausbildung und Schulung“, Erwin Schulz (1900–1981). Im Juni 1941 führte Sandberger das Sonderkommando 1a der Einsatzgruppe A an, das im Windschatten der 18. Armee zwischen der Rigaer Bucht und dem Peipussee zum Einsatz kam. Von den insgesamt 900 Mann der Einsatzgruppe A entfiel mit 105 Personen ein knappes Neuntel auf Sandbergers Kommando. Doch weil sich die Besetzung Estlands schwieriger als erwartet gestaltete, wurde sein Sonderkommando zunächst in Lettland und Litauen tätig. Um den 10. Juli wandte sich das Sonderkommando 1a den größeren Städten Estlands zu. Als die Wehrmacht am 25. Juli 1941 Tallin (Reval) eingenommen hatte, begann Sandberger mit seinen Leuten im August, die estnische Hauptstadt von den Juden zu säubern.82 In einem ersten umfangreichen Lagebericht machte er am 27. September Meldung über die bisherigen Erfolge seines Kommandos, wobei er besonders auf die gute Zusammenarbeit mit der einheimischen Bevölkerung hinwies.83 Zweieinhalb Wochen später meldete er am 12. Oktober 1941 die Zahl von 440 ermordeten Juden an seine Vorgesetzten weiter.84 Allerdings lebten in Estland nur etwa viereinhalbtausend Juden, so dass für Sandberger und sein Einsatzkommando wenig Möglichkeiten bestanden, sich auszuzeichnen. Mit Beginn der deutschen Besatzung durften sich die Juden nicht mehr frei bewegen und ihr Vermögen wurde eingezogen. Sandberger hatte sogleich eine Anordnung erlassen, wonach jeder Jude einen mindestens 10 Zentimeter großen Judenstern tragen musste.85 Bis Mitte Dezember stieg die Zahl der von Sandberger und seinen Leuten getöteten Juden auf 610. Im Verlauf des Winters 1941/42 wurden dann auch die Juden Tallinns umgebracht, die zunächst als Arbeitskräfte eingesetzt und deswegen verschont worden waren. Am 1. Juli 1942 summierte 82 Siehe zu Sandbergs Tätigkeit in Estland auch Ruth Bettina Birn, Die Sicherheitspolizei in Estland 1941–1944. Eine Studie zur Kollaboration im Osten, Paderborn 2006. 83 Wildt, Generation des Unbedingten, S. 580–582. 84 Sandberger schrieb dabei: „Die männlichen über 16 Jahre alten Juden wurden mit Ausnahme der Ärzte und der eingesetzten Juden-Ältesten durch den estnischen Selbstschutz unter Kontrolle des Sonderkommandos exekutiert. Für die Stadt und den Landkreis Reval ist dies noch im Gange, da die Fahndung nach den sich versteckt haltenden Juden nicht abgeschlossen ist. Die Gesamtzahl der in Estland erschossenen Juden beträgt bisher 440. Nach dem Abschluss dieser Massnahmen werden etwa 500 bis 600 Jüdinnen und Kinder am Leben sein. Die Landgemeinden sind schon jetzt judenfrei.“ Ebd., S. 583f. 85 Wie erwähnt verteidigte Gerhard Kittel noch am 22.3.1943 in seinem Vortrag an der Universität Wien Ghetto und Judenabzeichen als konsequente Maßnahme christlicher Judengegnerschaft. Erst das Zeitalter der Assimilation und des modernen Weltjudentums hätten diese Methoden diffamiert. Kittel, Die Entstehung des Judentums, S. 68.
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Sandberger seine ‚Erfolgsquote‘ für das erste Jahr seines Einsatzes auf 921 getötete Juden.86 Außerdem ließ Sandberger auch Kommunisten und bolschewistische Funktionäre umbringen, soweit er ihrer habhaft werden konnte. Noch im Mai 1943 verlangte er härteste Maßnahmen gegen Kommunisten „ohne Objektivitäts- und Humanitätsduselei“.87 In den ersten Wochen seines Einsatzes hatte Sandberger Mitte Juli auch die im Landesinneren gelegene Stadt Tartu (Dorpat) heimgesucht.88 Unter den dort getöteten Juden befand sich der Talmudgelehrte Lazar Gulkowitsch (1898– 1941), der 1924 das Lektorat für späthebräische, jüdisch-aramäische und talmudische Wissenschaften von Israel Kahan an der Universität Leipzig übernommen hatte. Kahan wiederum zählte Gerhard Kittel zu einem seiner frühen Schüler. Gulkowitsch war im September 1933 in Leipzig die Venia legendi entzogen worden. Danach hatte er an der Universität Tartu eine Professur für jüdische Studien übernommen. Zusammen mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern gehörte er acht Jahre später offenbar zu den ersten Opfern der von Sandberger in Estland initiierten Massaker.89 Am 6. Dezember 1941 wurde Sandberger wegen seiner erfolgreichen Arbeit zum Kommandeur der Sipo und des SD in Estland mit Dienstsitz in Tallinn ernannt, zuletzt im Rang eines SS-Standartenführers. Im Juli 1942 folgte die Ernennung zum Oberregierungsrat. Als Tallinn im September 1944 durch die Rote Armee befreit wurde, hatten gerade einmal fünf Juden die deutsche Okkupation überlebt. Neben der Ermordung der Juden beteiligte sich Sandberger aber auch bei der Ausplünderung jüdischen Kulturgutes, wobei es immer wieder zu Spannungen mit dem Einsatzstab des Reichsleiters Rosenberg über das ‚Erstverwertungsrecht‘ kam. Als Sandberger im Januar 1942 beispielsweise die Beschlagnahmung der Bibliothek des jüdischen Arztes und Kunstsammlers Dr. Gness meldete, erhielt er vom Reichssicherheitshauptamt zunächst den Bescheid, die Angelegenheit in der Schwebe zu halten. Ein Telegramm instruierte ihn dann aber am 27. Februar, alles so schnell als möglich in Sicherheit zu bringen.90 Im 86
Wildt, Generation des Unbedingten, S. 584–586. Ebd., S. 587. 88 Krausnick Helmut, Hitlers Einsatzgruppen. Die Truppe des Weltanschauungskrieges, Frankfurt a.M. 1993, S. 152. 89 Siehe dazu auch Siegfried Hoyer, Lazar Gulkowitsch an den Universitäten Leipzig und Dorpat (Tartu), in: Judaica Lipsiensia, Leipzig 1994, S. 129. Die genauen Todesumstände von Gulkowitsch und seiner Familie sind unbekannt. 90 Am 27.2.1942 telegrafierte der SS-Sturmbannführer Braune an Sandberger: „Ich bitte, die Judaika für RSHA Amt VII zu verpacken u. falls möglich abzusenden, oder zumindest so zu lagern, daß Einsatzstab Rosenberg keinen Einblick in diesen Teil des Materials erhält.“ Lutz Hachtmeister, Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, München 1998, S. 238. Siehe zu Julius Gness (1887–1957) Patricia Ken87
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September 1943 wurde Sandberger nach Berlin zurückbeordert, um kurz darauf bei der „Entjudung“ Italiens eingesetzt zu werden. In Verona war Sandberger dem Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD Wilhelm Harster zugeordnet. In dessen BdS-Stab leitete er zeitweise die Abteilung III, wobei seine Aufgabe unter anderem darin bestand, Zuständigkeitsfragen mit den Militärkommandanturen zu klären. Sandberger schlug Harster im November 1943 vor, diesen über den Militärverwaltungsstab eine spezielle „Information über die Judenaktion“ zukommen zu lassen, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass für die Lösung der „Judenfrage“ allein die Einheiten der SS zuständig waren.91 Anfang 1944 übernahm Sandberger im Reichssicherheitshauptamt unter Walter Schellenberg (1910– 1952) die Leitung der mit sieben Referaten ausgestatteten Gruppe VI A „Allgemeine auslandsdienstliche Nachrichten“. Vier Jahre später wurde Sandberger am 8. April 1948 wegen der von ihm begangenen Verbrechen zum Tod verurteilt. Doch weil er prominente Fürsprecher aus Politik und Kirche hatte, die massiv zu seinen Gunsten intervenierten, wurde seine Strafe bereits am 31. Januar 1951 auf lebenslängliches Zuchthaus reduziert. Am 9. Januar 1958 konnte Sandberger im Alter von 47 Jahren das Gefängnis wieder verlassen und in ein bürgerliches Leben zurückkehren. Ein 1970 gegen ihn angestrengtes Gerichtsverfahren wurde von der Staatsanwaltschaft Stuttgart zwei Jahre später eingestellt. Sandberger verbrachte seinen Lebensabend in einem Stuttgarter Seniorenstift und starb am 30. März 2010 im Alter von 98 Jahren. Erich Ehrlinger (1910–2004), der zusammen mit Sandberger am 8. März 1933 auf der Neuen Aula der Universität Tübingen zum Zeichen der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus die Hakenkreuzfahne aufgezogen hatte, kam wie Sandberger im Juni 1941 zur Einsatzgruppe A, wo er das Sonderkommando 1b übernahm. Sein Lebensgang und seine Entwicklung vom nationalsozialistischen Studentenaktivisten zum SDMitarbeiter und schließlich zum Massenmörder an der Ostfront gleicht nedy Grimsted, Roads to Ratibor: Library and archival plunder by the Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg, in: Holocaust and Genocide Studies 19, 2005, S. 410, S. 426 und S. 446. 91 Die den militärischen Stellen drei Tage später übermittelte Information lautete: „Aus Anlaß der Anfrage einer Mil.-Kdtr. wird darauf hingewiesen, daß die Verhaftung aus politischen oder Rassengründen, sowie Bewachung oder Nachschub solcher Internierter nicht Angelegenheit der Organe der Mil.-Verw. sind. Die Verw.Gruppen der Mil.Kdtrn. haben sich daher nicht damit zu befassen, sondern alle derartigen Angelegenheiten sind an die Dienststellen des Höchsten SS- und Polizeiführers ihres Bereiches abzugeben.“ Carlo Gentile und Lutz Klinkhammer, Gegen die Verbündeten von einst. Die Gestapo in Italien, in: Gerhard Paul und Klaus-Michael Mallmann, Hg., Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. ‚Heimatfront‘ und besetztes Europa, Darmstadt 2000, S. 532.
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dem Sandbergers. Ehrlinger wurde 1910 in Giengen an der Brenz als Sohn des Stadtpflegers und späteren Bürgermeisters (1929–1945) Christian Ehrlinger geboren.92 Nach dem Abitur in Heidenheim an der Brenz begann er 1929 in Tübingen Jura zu studieren, wechselte jedoch im Jahr darauf an die Universität Kiel und 1931 nach Berlin. Dort trat Ehrlinger am 1. Mai 1931 in die SA und vier Wochen später am 1. Juni in die NSDAP ein. Von Mai bis September 1931 gehörte er dem berüchtigten und für seine Gewalttätigkeit bekannten Charlottenburger SA-Sturm 33 an. Zum Wintersemester 1931/32 kehrte Ehrlinger an die Universität Tübingen zurück, wo er sein Studium im Mai 1933 mit der ersten juristischen Staatsprüfung abschloss. Fast zur gleichen Zeit wie Sandberger begann er kurz darauf mit dem Referendariat beim Tübinger Amtsgericht. Zunächst Zugführer in der SA-Sportschule Schadenweilerhof bei Rottenburg, wurde Ehrlinger im Juni 1933 Obertruppführer und Abteilungsleiter beim SA-Sportlager Feldstetten auf der Schwäbischen Alb. Anfang 1934 nahm er an einem Führerlehrgang des SA-Hochschulamtes in Zossen teil. Im März 1934 gab Ehrlinger den Vorbreitungsdienst als Gerichtsreferendar und somit eine Laufbahn im württembergischen Staatsdienst auf und wechselte zum SAHochschulamt, wo er dem Chef des SA-Ausbildungswesens Gottlob Berger unterstand. Berger, der später zu einem der wichtigsten Mitarbeiter Heinrich Himmlers werden sollte, spielte als Mentor Ehrlingers eine ähnliche Rolle wie Scheel für Sandberger. Die Liebe zu Sport und Wehrertüchtigung hatte Ehrlinger mit seinem väterlichen Förderer ebenso gemeinsam wie die Herkunft aus Ostwürttemberg.93 Der Sohn eines Gerstetter Sägewerkbesitzers und hoch dekorierte Freiwillige des Ersten Weltkriegs Berger hatte sich bald nach der Demobilisierung verschiedenen Freikorps und geheimen Wehrformationen angeschlossen.94 Bereits im November 1922 trat Berger der NSDAP bei, ein 92
Ehrlingers Vita ist relativ gut erforscht. Siehe besonders Michael Wildt, Erich Ehrlinger – ein Vertreter ‚kämpfender Verwaltung‘, in: Klaus-Michael Mallmann und Gerhard Paul, Hg., Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien, Darmstadt 2004, S. 76–85 und Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen, bearbeitet von Christian Frederic Rüter, Bd. 18, Amsterdam 1978 S. 69ff. sowie Ehrlingers BDC-Akten. 93 Bergers Heimatort Gerstetten und Giengen an der Brenz liegen nur etwa 20 Kilometer auseinander. Von Königsbronn, dem Geburtsort von Sandbergers Vater, sind es ebenfalls nur ca. 20 Kilometer bis Giengen und Gerstetten. In dem bei Giengen gelegene Hermaringen wurde 1903 der Hitler-Attentäter Georg Elser (1903–1945) geboren. Elser ging von 1910 bis 1917 in Königsbronn zur Schule. 94 Siehe zu Berger besonders Joachim Scholtyseck, Der ‚Schwabenherzog‘ Gottlob Berger. SS-Obergruppenführer, in: Kißener und Scholtyseck, Hg. Die Führer der Provinz, S. 77–110 und das im rechtsextremen Askania-Verlag erschienene und offen revisionisti-
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Schritt, den er nach dem Verbot der Partei zum 1. Januar 1931 offiziell wiederholte, nachdem er 1923 zum ersten und 1929 zum zweiten Mal eine Ortsgruppe der NSDAP in seiner Heimatgemeinde ins Leben gerufen hatte. In den frühen zwanziger Jahren gründete Berger den Wehrverband Ulm/Land und beteiligte sich maßgeblich am Aufbau der Schwarzen Reichswehr, die über die illegale Ausrüstung paramilitärischer Verbände das vom Versailler Friedensvertrag geforderte Wiederbewaffnungsverbot zu umgehen suchte. In seinem bürgerlichen Beruf arbeitete Berger zunächst als Lehrer in Gerstetten. 1928 ging er an die „Versuchsvolksschule“ nach Wankheim bei Tübingen, deren Rektor er 1929 wurde. Seit Januar 1931 war Berger Führer des Tübinger SA-Sturms. Er genoss nicht nur in der SA, sondern auch in der Universitätsstadt hohes Ansehen. Im Vorfeld des fünfjährigen Jubiläums des SA-Sturms 10/125 brachte die Tübinger Chronik einen ausführlichen Bericht darüber, versehen mit einem Foto, das den „Unterkommissar Berger und seine Stellvertreter“ zeigt.95 Am Tag der Jubiläumsfeier gab es erneut großes Lob für „Vatter Berger“, der den SASturm am 1. März 1931 von Helmuth Baumert (1909–1980), seit 1930 Ortsgruppenleiter und von 1932–1937 Kreisleiter der NSDAP, übernommen hatte. Den Festgottesdienst in der mit einer Hakenkreuzfahne geschmückten Stiftskirche hielt der Tübinger Studentenpfarrer Wilhelm Pressel.96 Berger, der ein sehr angespanntes Verhältnis zum württembergischen Reichsstatthalter Wilhelm Murr hatte, wechselte 1936 zur SS über. Als er am 1. Juli 1938 von Himmler zum Chef des neu geschaffenen „Ergänzungsamtes“ innerhalb des SS-Hauptamtes ernannt wurde. Der mittlerweile zum Oberregierungsrat und Referenten für körperliche Jugenderziehung aufgestiegene Berger gab seine Stelle im württembergischen Kultusministerium auf, um sich ganz dem Dienst in der SS zu verschreiben. Kurz davor hatte er seine erste große Bewährungsprobe, als er beim Anschluss Österreichs am 12. März 1938 in einem Vorauskommando mit Himmler in Wien einrückte. Ende September 1939 übernahm Berger die Aufstellung des Volksdeutschen Selbstschutzes in Polen. Sein eigentlicher Karrieresprung erfolgte jedoch am 1. April 1940 mit der Berufung zum Chef des SSHauptamtes. Berger zeichnete nun für die Rekrutierung von Freiwilligen für die Waffen-SS verantwortlich, deren Aufbau als die eigentliche Leistung Bergers im Dritten Reich angesehen werden kann. Wie erwähnt sche Buch Robert Küblers Chef KGW. Das Kriegsgefangenenwesen unter Gottlob Berger, Lindhorst 1984. 95 Tübinger Chronik vom 28.3.1933. Bergers Stellvertreter waren der Staffelführer Albert Danner und der erste Sturmführer des SA-Sturms 10/125, Kreisleiter Helmuth Baumert. 96 Siehe den Bericht in der Tübinger Chronik vom 2.5.1931.
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wurde Berger am 1. April 1943 Himmlers Verbindungsmann beim Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete. Am 21. Juni des gleichen Jahres folgte die Ernennung zum SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS. Im August 1944 wurde Berger mit der Niederschlagung des Aufstandes in der Slowakei betraut. Wegen seiner Erfolge stand Berger auch in der Gunst Hitlers, der ihn im Oktober 1944 zum Generalinspekteur des Kriegsgefangenenwesens machte. Am 22. April 1945 traf Berger das letzte Mal im Führerbunker mit Hitler zusammen. Als einer der zwölf Angeklagten im Wilhelmstraßenprozess wurde Berger 1949 zu 25 Jahren Haft verurteilt. Zwei Jahre später wurde die Strafe jedoch auf zehn Jahre reduziert und Berger Ende 1951 aus dem Landsberger Kriegsverbrechergefängnis entlassen. Ehrlinger, der am 22. Juni 1935 in die SS eintrat, wurde bereits im September 1935 in das SD-Hauptamt nach Berlin berufen, wo er unter Franz Alfred Six (1909–1975) als Stabsleiter bei der Zentralabteilung II/1 (Juden, Konfessionen, Gegner) bzw. I/3 (Presse und Museum) arbeitete. Im Frühjahr 1938 beteiligte er sich beim Aufbau der SD-Dienststelle in Wien. Mittlerweile zum stellvertretenden Leiter der Zentralabteilung II/1 aufgestiegen, verschickte Ehrlinger am 14. November 1938 ein Telegramm an alle SS-Oberabschnitte, in dem er von den zuständigen SD-Führern bis zum 21. November Erfahrungsberichte über die während der Pogromnacht durchgeführten Aktionen anforderte. Ehrlinger wollte wissen, ob es dabei zu Plünderungen, körperlichen Züchtigungen oder ähnlichem gekommen war.97 Mit Kriegsbeginn war Ehrlingers weiterer Aufstieg vorprogrammiert. Wie es bereits in einem Dienstzeugnis vom 17. April 1935 hieß, galt er seinen Vorgesetzten als „Typ des unbeirrbaren, überzeugten, kompromisslosen und vorwärtsdrängenden nationalsozialistischen Kämpfers und fähigen Führers von Fronteinheiten“.98 Bei der Einrichtung des Reichssicherheitshauptamtes im September 1939 war er sogar anstelle Otto Ohlendorfs (1907–1951) für die Übernahme des Inlandsbereichs im Gespräch.99 Am Polenfeldzug nahm Ehrlinger in einem Einsatzkommando unter SS-Brigadeführer Lothar Beutel (1902–1986) teil. Just in der Zeit als Karl Georg Kuhn von Tübingen aus seine „Studienreise“ in das Warschauer Ghetto unternahm, diente Ehrlinger dem Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Warschau als Leiter der SD-Abteilung III. Von August 1940 bis Februar 1941 hielt sich Ehrlinger im Rahmen eines von 97
Dieses Rundschreiben vom 14.11.1938 ist auf der Homepage des Multimedia Learning Centers des Simon Wiesenthal Centers als Dokument 78 der Reihe „Die Kristallnacht“ online zugänglich. 98 Wildt, Generation des Unbedingten, S. 168. 99 Ebd., S. 276.
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Gottlob Berger ausgehenden Sonderauftrags in Norwegen auf, bei dem es um die Gewinnung von Freiwilligen für die Waffen-SS und die Zusammenarbeit mit Vidkun Quisling (1887–1945) ging. Im Juni 1941 übernahm Ehrlinger die Leitung des Sonderkommandos 1b der von Walter Stahlecker angeführten Einsatzgruppe A. Als Ehrlinger am 28. Juni mit seiner etwa 70–80 Mann starken Truppe in Kaunas (Kowno) einrückte, tobte dort seit drei Tagen ein verheerendes Massaker, das von dem in einem Vorauskommando in die litauische Hauptstadt geeilten Stahlecker mit Hilfe einheimischer Antisemiten durchgeführt wurde. Obwohl Ehrlinger schon am 5. Juli über Ukmerge – wo der frühere Assistent der Tübinger Evangelisch-theologischen Fakultät Gutel Leibowitz 1930 die Leitung des hebräischen Gymnasiums übernommen hatte – in das lettische Dünaburg (Daugavpils) weiterzog, beteiligte er sich mit seinen Leuten an den Mordaktionen in Kaunas so gut er konnte.100 Über die Judenmorde in dem 200 Kilometer nordöstlich von Kaunas gelegenen Daugavpils berichtete Ehrlinger in einer Ereignismeldung am 16. Juli 1941 kurz und knapp: „Durch das Ek. 1b wurden bis jetzt 1150 Juden in Dünaburg erschossen.“101 Die Juden hatte er dabei entweder aus ihren Häusern heraus verhaftet oder an öffentlichen Plätzen zusammengeführt, um sie dann zu den bereits vorbereiteten Exekutionsstätten außerhalb der Stadtgrenze bringen zu lassen. Außerdem stellte Ehrlinger die Tötungskommandos zusammen und überwachte die Durchführung der Aktionen. Zum Teil legte der als hartgesotten und durchsetzungsstark beschriebene Ehrlinger auch selbst Hand an. Über eine Erschießungsaktion in Dünaburg heißt es in dem Gerichtsurteil gegen Ehrlinger vom 20. Dezember 1961: „Die Juden wurden jeweils zu 10 Mann teils vor der Grube mit dem Gesicht zur Grube hin stehend, teils kniend durch Genickschuss erschossen; sie fielen in die Grube und die nächsten folgten ihnen, noch bevor die Erschossenen zugeschüttet oder sonst abgedeckt waren. Die jeweils folgenden hatten auch von ihrem Sammelplatz unweit der Grube aus die Schüsse hören können, von denen zuvor ihre Leidensgenossen tödlich getroffen worden waren. Auch bei dieser Exekution war der Angeklagte E. zeitweilig zugegen. Mit umgehängter Maschinenpistole, die Arme in die Hüfte gestützt, stand er breitbeinig an der Grube und beobachtete den Erschiessungsvorgang. Bei dieser Erschiessung wurden wenigstens 80 jüdische Männer umgebracht.“102
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Siehe Wildt, Generation des Unbedingten, S. 593. Über das weitere Schicksal von Leibowitz konnte bislang nichts in Erfahrung gebracht werden. 101 Ebd., S. 594. 102 Justiz und NS-Verbrechen, Bd. 18, 1978, S. 84.
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Aufgrund seiner vielfach gelobten Führereigenschaften wurde Ehrlinger am 9. Dezember 1941 von Heydrich zum Kommandeur der Sipo und des SD für den Generalbezirk Kiew im Reichskommissariat Ukraine ernannt.103 Obwohl die Zahl der ukrainischen Juden durch die Massentötungen der beiden Einsatzkommandos 4a und 5 schon erheblich dezimiert war – allein in Babij Jar wurden am 29. und 30. September 1941 33.771 Juden ermordet –, gab es in Kiew und Umgebung immer noch Juden und Partisanen, die umzubringen waren. Die Listen mit den zur Exekution vorgesehenen Personen wurden dem KdS Ehrlinger vorgelegt und von diesem abgezeichnet. „Waren für eine Exekution ausreichend Häftlinge bestimmt worden, setzte der Kommandeur den Exekutionstag fest.“104 In der Regel fanden die Erschießungen samstagmorgens statt, doch zum Teil ging man auch zum Mittel der Vergasung über. Wegen der „grauenhaften Begleiterscheinungen“ und „seelischen Belastungen“ der SS-Männer, die mit dem Ausladen und Vergraben der auf diese Weise getöteten Juden beauftragt waren, wollte Ehrlinger eigentlich an der Erschießungsmethode festhalten. Er stieß damit aber auf Widerspruch beim Reichssicherheitshauptamt.105 Von Ehrlinger wurde gesagt, dass er seine Dienststelle mit Härte und Strenge geführt habe und dass er sich nicht zu schade war, persönlich an den Erschießungen teilzunehmen. „Einmal griff er selbst zur Waffe und schoss, wütend darüber, dass es zu langsam ging, auf die Häftlinge, noch bevor sie sich zum Erschiessen hingelegt hatten.“106 Nachdem Ehrlinger bereits im September 1942 den Leiter der Einsatzgruppe C, Dr. Max Thomas (1891–1945), als Befehlshaber der Sipo und des SD in Kiew vertreten hatte, wurde er im August 1943 von Ernst Kaltenbrunner (1903–1946) beauftragt, die Geschäfte des BdS zu übernehmen. Am 6. September 1943 stieg Ehrlinger noch eine Stufe höher, als ihn Kaltenbrunner zu seinem Beauftragten beim Befehlshaber der Heeresgruppe Mitte und zum Chef der Einsatzgruppe B machte. Am 18. Oktober 1943 wurde der erst 32jährige Ehrlinger zum BdS Russland-Mitte/Weißruthenien und rückwirkend zum 1. September auch zum SS-Standartenführer ernannt.107 Von den 103
Wildt, Erich Ehrlinger – ein Vertreter ‚kämpfender Verwaltung‘, S. 80. Justiz und NS-Verbrechen, Bd. 18, S. 103. 105 Ebd., S. 103f. 106 „Ein andermal schoss er ebenfalls selbst mit, nachdem ihm Dr. Schumacher als Exekutionsleiter erklärt hatte, es seien Kommandoangehörige unwillig darüber, dass nur sie schiessen müssten, während der Kommandeur nur zusehen würde. Im Anschluss an diese Exekution erklärte der Angeklagte E. mit ernsten Worten Dr. Schumacher, dass er selbst zu Hause eine Frau mit 4 Kindern habe und, wenn der Krieg verloren werde, man ihn und sie alle wegen dieser Vorgänge hier zu Recht am nächsten Laternenpfahl aufhängen würde.“ Ebd., S. 104. 107 Wildt, Generation des Unbedingten, S. 598f. 104
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75.000 Juden, die beim deutschen Einmarsch im Juni 1941 in Minsk lebten, waren etwa 60.000 in einem neu errichteten Ghetto zusammengepfercht worden. In weniger als einem Monat schrumpfte die Zahl der Ghettoinsassen auf etwa 9000 und bis Anfang Oktober 1942 auf etwa 2000 Personen zusammen. Das Ghetto aufzulösen und die noch verbliebenen Juden umzubringen, war die Aufgabe Ehrlingers. Bereits bei seiner ersten Dienstbesprechung als BdS kritisierte er, dass immer noch so viele Juden in Minsk leben würden und dass manche SS-Führer noch keinen einzigen Schuss abgegeben hätten. Ehrlinger verpflichtete deswegen alle Offiziere zur Teilnahme an den Judenexekutionen.108 Nach der erfolgreichen Durchführung seiner Aufgaben in Weißrussland kehrte Ehrlinger Anfang 1944 nach Berlin zurück. Am 1. April 1944 wurde er zum Amtschef I (Personal) berufen. Vermutlich schon mit Blick auf die Nachkriegszeit und etwaige Rentenansprüche folgte im Juli 1944 die Ernennung zum Oberst der Polizei und die Übernahme in das Beamtenverhältnis. Ehrlinger, der kurze Zeit vorher noch davon gesprochen hatte, dass er wegen seiner Verbrechen am nächsten Laternenpfahl aufgehängt werden würde, hoffte insgeheim wohl doch darauf, sich irgendwie in die neue Zeit hinüberretten zu können. Damit lag er nicht ganz falsch. Bei Kriegsende abgetaucht, führte Ehrlinger unter dem Namen Erich Fröscher mehrere Jahre lang ein unbehelligtes Leben. Zu Beginn der 1950er Jahre siedelte er nach Konstanz über, wo er als Empfangschef beim dortigen Spielkasino arbeitete. Ehrlinger fühlte sich mittlerweile so sicher, dass er wieder seinen richtigen Namen annahm. 1954 wurde er Autovertreter und brachte es in kurzer Zeit zum Leiter der Volkswagenvertretung in Karlsruhe, der früheren Heimatstadt Sophie Ettlingers. Vier Jahre später wurde Ehrlinger am 9. Dezember 1958 in Karlsruhe festgenommen und am 20. Dezember 1961 mit einer zum Teil abenteuerlichen Begründung lediglich wegen Beihilfe zum Mord verurteilt.109 Außerdem erkrankte Ehrlinger während der Haft, so dass nicht einmal seine Verurteilung zu zwölf Jahren Gefängnis Rechtsgültigkeit erlangte. Am 20. Oktober 1965 wurde der Haftbefehl gegen ihn außer Vollzug gesetzt und Ehrlinger aus dem Gefängnis entlassen. Die endgültige Einstellung des Verfahrens folgte am 3. Dezember 1969. Da Ehrlinger da108
Ebd., S. 599. Auch eine außerordentlich brutale Gefangenenerschießung durch Ehrlinger auf dem Gut Michalowka in der Nähe Kiews wollte das Gericht nicht als Mord gewertet wissen, sondern als eine Tötung, die der Aufrechterhaltung der Disziplin und Ordnung dienen sollte. Es hielt somit nur den Tatbestand des Totschlags für gegeben, der aber zum Zeitpunkt des Urteils bereits verjährt war. Wildt, Generation des Unbedingten, S. 597. 109
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nach noch 35 Jahre lebte, scheinen auch Zweifel an der Schwere seiner Krankheit angebracht. Der unmittelbare Vorgesetzte von Ehrlinger und Sandberger, Dr. Walter Stahlecker (1900–1942), steigerte die Zahl der ermordeten Juden in eine Höhe, die außerhalb jedes normalen Vorstellungsvermögens liegt. Durch seinen ebenso rastlosen wie effizienten Einsatz konnte Stahlecker die Erfolgsquote getöteter Juden vom zwei- und drei- in den vier- und fünf-, ja sogar in den sechsstelligen Bereich hochtreiben. Wenn der Ausdruck Monster in Menschengestalt für einen nationalsozialistischen Schwerverbrecher zutrifft, dann für Stahlecker. Es war ein Segen für die Menschheit, als es Partisanen gelang, den Führer der Einsatzgruppe A, Anfang März 1942 so zu verwunden, dass er drei Wochen später seinen Verletzungen erlag. Und doch hatte Stahleckers Leben eine durchaus normale und in vielem typische Entwicklung von einem gewöhnlichen Antisemiten zum vielleicht erfolgreichsten Judenmörder des Dritten Reiches genommen. Seine herausragende Rolle bei der Vernichtung des europäischen Judentums lässt sich am besten als eine Mischung aus Normalität und Exzess, als einen zur Normalität gewordenen Exzess charakterisieren. Stahlecker hatte wie Ehrlinger und Sandberger an der Universität Tübingen Jura studiert. Er war außerdem in der idyllischen Stadt am Neckar aufgewachsen und zur Schule gegangen.110 Geboren wurde Stahlecker in Sternenfels nördlich von Pforzheim, wo sein Vater als evangelischer Pfarrer tätig war. Dieser, der promovierte Oberstudienrat Eugen Stahlecker, wurde 1906 Rektor der Tübinger Mädchenrealschule. Eugen Stahlecker gehörte der Württembergischen Bürgerpartei an, für die er seit 1919 im Tübinger Gemeinderat saß. Bei der von Wilhelm Bazille (1874–1934) gegründeten Bürgerpartei handelte es sich um den regionalen Ableger der Deutschnationalen Volkspartei, deren politische Programmatik großen Einfluss in Württemberg hatte.111 Theophil Wurm (1868–1953), seit 1920 110 Siehe zu Stahlecker v.a. Hans-Joachim Lang, Die mörderische Karriere des Walter Stahlecker. Vom studentischen Sicherheitsbataillon zur Einsatzgruppe der Sicherheitspolizei, in: Schwäbisches Tagblatt vom 18.5.1996, S. 31, ders., Die mörderische Karriere des Walter Stahlecker, in: Geschichtswerkstatt, Hg., Erinnern gegen den Schlußstrich. Zum Umgang mit dem Nationalsozialismus, Freiburg 1997, S. 147–156, Jürgen Schuhladen-Krämer, Die Exekutoren des Terrors. Hermann Mattheiß, Walther Stahlecker, Friedrich Mußgay, Leiter der Geheimen Staatspolizeileitstelle Stuttgart, in: Kißener und Scholtyseck, Hg., Die Führer der Provinz, S. 405–443, Heinz-Ludger Borgert, Stahlecker, Walter, in: Maria Magdalena Rückert, Hg., Württembergische Biographien, Bd. 1, Stuttgart 2006, S. 267–269 und seine Personalunterlagen im Universitätsarchiv Tübingen und im Hauptstaatsarchiv Stuttgart. 111 Wilhelm Bazille, im Ersten Weltkrieg Präsident der Zivilverwaltung in der von den Deutschen besetzten belgischen Provinz Limburg, wurde 1924 württembergischer
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Dekan der evangelischen Kirche in Reutlingen, gehörte nach dem Krieg eine kurze Zeit lang für die Württembergische Bürgerpartei dem Stuttgarter Landtag an. Nicht anders als die DNVP hatte auch die Bürgerpartei eine deutlich antisemitische Ausrichtung, die besonders bei der Reichstagswahl im Juni 1920 herausgekehrt wurde, um mit dem offenen Appell an antijüdische Ressentiments Stimmen zu gewinnen. „Achtung, Wählerinnen! Achtung, Wähler! Wer nicht von dem internationalen Judentum regiert sein will, wer sich zu dem Satze bekennt: Deutschland den Deutschen, der stimme am 6. Juni nur für Württ. Bürgerpartei“ lautete ein von der Bürgerpartei in der örtlichen Presse veröffentlichter Wahlaufruf.112 Am 1. März 1933 rief Eugen Stahlecker zusammen mit vielen anderen angesehenen Tübinger Bürgern dazu auf, bei der vier Tage später stattfindenden Reichstagswahl für die Nationalsozialisten zu stimmen.113 Walter Stahlecker hatte in seinem Umfeld reichlich Gelegenheit, die Verbindung von Judenfeindschaft und politischem Aktivismus als etwas Normales und in Übereinstimmung mit bürgerlichen Wertvorstellungen Stehendes kennen zu lernen. Eine antisemitische Einstellung zu haben, galt hier keineswegs als moralisch verwerflich oder als Widerspruch zu einem christlichen Weltbild, das sehr stark durch ein konservatives Luthertum geprägt war. An die Stelle einer politisch reaktionären, großenteils monarchischen Verklärung der Vergangenheit, trat bei der Nachkriegsgeneration aber der kompromisslose Kampf zur Überwindung der Weimarer „Judenrepublik“, die als das größte Hindernis für einen Wiederaufstieg des Deutschen Reiches gehalten wurde. Stahlecker war noch nicht einmal eingeschrieben, als er sich im Frühjahr 1919 dem Tübinger Studentenbataillon anschloss, das in der Nacht des 31. März 1919 nach Stuttgart ausrückte, um bei der Niederschlagung des dort ausgerufenen
Staatspräsident und in Personalunion auch Kultus- und Wirtschaftsminister. Sein ebenfalls der DNVP angehörender Finanzminister Alfred Dehlinger (1874–1959) übte dieses Amt durchgängig bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1942 aus. 112 Tübinger Chronik vom 2.6.1920. Ein Faksimile des Wahlaufrufs bei Martin Ulmer, Antisemitismus in der Weimarer Republik, in: Geschichtswerkstatt Tübingen, Hg., Zerstörte Hoffnungen. Wege der Tübinger Juden, Tübingen 1995, S. 90. 113 In dem am 1.3.1933 in der Tübinger Chronik erschienenen Wahlaufruf erklärte sich eine große Zahl im allgemeinen nicht der NSDAP angehörender Persönlichkeiten Tübingens als auf dem Boden der Reichsregierung stehend. Zu den Unterzeichnern des Aufrufs gehörten neben den bereits genannten Kittel, Kuhn, Pressel und Schlatter auch die Professoren Bebermeyer, Borries, Dannenbauer, Eisser, Feine, Fuchs, Geiger, Gerber, Gieseler, Hasse, Heberer, Hennig, Kroh, Lehmann, Leyh, Matthaei, Reinerth, Ritter, Schneider, Schönfeldt, Sittig, Stoll, Stracke, Traub, Usadel, Wahl und Wundt.
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Generalstreiks teilzunehmen.114 An dem anschließenden Einsatz Tübinger Studenten bei der Niederschlagung der Münchener Räterepublik scheint sich Stahlecker indes nicht beteiligt zu haben. Allerdings beendete er erst im Januar 1920 die Schule, um dann im Sommersemester 1920 an der Eberhard Karls Universität ein Jurastudium zu beginnen. Als das Studentenbataillon wegen der Bestimmungen des Versailler Vertrages aufgelöst werden musste, schloss sich Stahlecker mit einigen Studenten der württembergischen Polizeiwehr und dann der paramilitärischen Organisation Escherich (Orgesch) an, die von dem ehemaligen Tübinger Promovenden Georg Escherich (1870–1941) im Juli 1920 gegründet worden war.115 Danach betätigte sich Stahlecker und andere Tübinger Studenten im Umfeld der illegalen Organisation Consul (O.C.). Mitglieder dieser Terrorgruppe ermordeten am 26. August 1921 den Zentrumspolitiker Matthias Erzberger und am 24. Juni 1922 den deutschen Außenminister Walther Rathenau. Der an der Eberhard Karls Universität eingeschriebene Nationalsozialist Dietrich von Jagow (1892–1945) führte in Tübingen und Umgebung für die Organisation Consul Wehr- und Schießübungen durch, an denen auch Stahlecker teilnahm. Hitler hatte von Jagow außerdem mit dem Aufbau der SA und der NSDAP in Württemberg beauftragt.116 Ob Stahlecker tatsächlich, wie er in einem späteren Lebenslauf angab, schon 1921 Mitglied der NSDAP wurde, sei dahingestellt. Im Dezember 1922 nahm er jedenfalls an den schweren Auseinandersetzungen teil, die sich in Göppingen vor dem Gasthaus „Walfischkeller“ anlässlich einer Parteikundgebung ereigneten. Die etwa hundert aus München angereisten SA-Angehörigen wurden noch durch zwanzig Tübinger Studenten ergänzt, unter denen sich auch Stahlecker befand. Eine schwere Verletzung, die er sich dabei zuzog, bestärkte seinen Ruf als kompromissloser und draufgängerischer Kämpfer für den Nationalsozialismus. Abgesehen von der NSDAP und den genannten paramilitärischen Organisationen gehörte Stahlecker zeitweilig auch dem Alldeutschen Verband und dem Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund an. Wie sein Vater und seine beiden Brüder schloss sich Stahlecker während des Studiums der ursprünglich 114 Manfred Schmid, Die Tübinger Studentenschaft nach dem Ersten Weltkrieg 1918– 1923, Tübingen 1988, S. 90–93. Zur Unterstützung der 750 Mann starken Studenteneinheiten, unter denen sich mit Duldung des Ephorats auch 96 Stiftsstudenten befanden, sistierte die Universitätsleitung den Vorlesungsbetrieb. Von den insgesamt 3000 Tübinger Studenten im Wintersemester 1919/20 waren 1200 Korporationsstudenten; von diesen gehörten 800 dem Studentenbataillon an. Ebd., S. 90 und S. 116 115 Siehe Sonja Levsen, Sonja, Elite, Männlichkeit und Krieg. Tübinger und Cambridger Studenten 1900–1929, Göttingen 2006, S. 283f. 116 Schuhladen-Krämer, Die Exekutoren des Terrors, S. 418.
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durch das Evangelische Stift geprägten Verbindung Lichtenstein an, der mittlerweile aber vor allem Medizin- und Jurastudenten angehörten und die politisch weit nach rechts gerückt war. Das Verbindungsleben wurde zu einem wichtigen Faktor von Stahleckers persönlicher Entwicklung, die trotz aller in den völkischen Verbänden gepflegten antibürgerlichen Attitüde den Habitus einer elitären Bürgerlichkeit hervorbrachte, die für sich Führungsaufgaben im Rahmen der bestehenden Verhältnisse beanspruchte. Das 1924 abgeschlossene Erste Staatsexamen fiel eher mäßig aus.117 Doch nach seinem Referendariat in Tübingen und Reutlingen und der zweiten Höheren Justizdienstprüfung sowie der Promotion im Jahr 1927 folgte bereits zwei Jahre später die Ernennung zum Regierungsrat, als Stahlecker eine Tätigkeit im Landesdienst der Oberämter Ehingen und Saulgau übernommen hatte, bevor er im Februar 1930 kommissarischer Leiter und im August Direktor des Arbeitsamtes Nagold wurde. Sein beruflicher Aufstieg war vermutlich auch der Grund dafür, warum er sich nach der Wiederzulassung der NSDAP nicht aktiv um einen Wiedereintritt bemühte. Das warf nach 1933 Probleme auf, weil ein weiteres Fortkommen nunmehr die Parteimitgliedschaft voraussetzte. Stahlecker geriet außerdem in den Streit zwischen dem württembergischen Ministerpräsidenten Mergenthaler und dem Reichsstatthalter Murr, seinem Protegé. Um seinen erneuten Parteieintritt auf den Mai 1932 zurückzudatieren und Stahlecker gegen den Widerstand Mergenthalers im November 1933 als Oberregierungsrat zum Vertreter Württembergs in Berlin zu ernennen, bedurfte es eines gewissen Drucks von Seiten Murrs. Murr gelang es auch, Stahlecker im Mai 1933 in die württembergische Polizeiverwaltung einzubauen und dem Leiter des Politischen Polizeiamtes, Hermann Mattheiß (1893–1934), als Stellvertreter zur Seite zu stellen. Mattheiß hatte sein Amt nach einer Phase der Umstrukturierung vom Reichskommissar für das Polizeiwesen in Württemberg, Dietrich von Jagow, übernommen. Auch Mattheiß war ein nationalsozialistischer Hardliner, der dafür sorgte, dass das im März 1933 auf dem Heuberg bei Stetten am Kalten Markt eingerichtete Schutzhaftlager bis zu seiner Auflösung im Dezember gleichen Jahres mit Sozialdemokraten und Kommunisten gut gefüllt blieb. Allerdings hatte sich Mattheiß wegen seines allzu offensiven Auftretens viele Feinde gemacht, so dass ihm Murr durch Stahlecker die Grenzen aufzeigen wollte. Mattheiß hatte in Tübingen Jura studiert und in der SA Karriere gemacht. Er war ein dezidierter Antisemit und stand der antichristlichen 117
Nur bei der kirchenrechtlichen Teilprüfung erreichte er mit einer Arbeit über „Die Stellung der Bischöfe nach katholischem Kirchenrecht“ eine bessere Note. SchuhladenKrämer, Die Exekutoren des Terrors, S. 420.
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Ludendorff-Bewegung nahe. Im Zusammenhang mit dem Röhm-Putsch und als Konsequenz der in Württemberg besonders heftigen Auseinandersetzung zwischen SA und SS wurde Mattheiß am 1. Juli 1934 in einer Kaserne in Ellwangen kaltblütig erschossen.118 Stahlecker, SS-Mitglied seit Mai 1932, wurde daraufhin rückwirkend am 14. Mai 1934 Leiter der Politischen Polizei Württembergs. Auch wenn Stahlecker an der Ermordung von Mattheiß nicht persönlich beteiligt gewesen zu sein scheint, belegt die Ausschaltung eines alten Kampfgefährten aus der SA nachdrücklich, mit welcher Brutalität die neuen Machthaber vorgingen. Wenn man, mitten im Frieden, die nationalsozialistische Konkurrenz auf diese Weise aus dem Weg räumte, stand zu erwarten, dass man während eines Krieges mit den wirklichen Feinden des Reiches noch ganz anders verfahren würde. Als der im Juni 1936 zum Chef der deutschen Polizei ernannte Heinrich Himmler sich daran machte, alle polizeilichen Arbeitsbereiche neu zu strukturieren und auf die Interessen der SS auszurichten, sollte Stahlecker eine wichtige Rolle spielen. Im Oktober 1936 zum Leiter der Stuttgarter und im Mai 1937 der Breslauer Staatspolizeileitstelle bestellt, avancierte Stahlecker im Jahr darauf bereits zum Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD in Österreich. Ihm wurde auch die Leitung der im August 1938 gegründeten Zentralstelle für jüdische Auswanderung übertragen. Stahlecker hielt sich jedoch ganz im Hintergrund und delegierte die Arbeit an seinen Untergebenen Adolf Eichmann. Das gleiche wiederholte sich ein Jahr später in Prag, als man dort im Juli 1939 begann, die Auswanderung der Juden zu forcieren.119 Bei der Zerschlagung der „Rest-Tschechei“ und der faktischen Annexion des noch übrig gebliebenen tschechischen Staatsgebiets hatte Stahlecker die Einsatzgruppe II geleitet, deren drei Einsatzkommandos am 15. März 1939 von Süden her auf mährisches Gebiet eindrangen.120 Eine wichtige Aufgabe dieser Einheiten bestand darin, sich der Archivalien der jüdischen Organisationen und ihres Schriftgutes zu bemächtigen, um damit später Deportationslisten erstellen bzw. auch Liquidierungen vornehmen zu können.
118 Siehe zu Mattheiß, Schuhladen-Krämer, Die Exekutoren des Terrors, S. 405–416 und Roland Maier, Hermann Mattheiß. Leiter der Politischen Polizei in Württemberg, in: Hermann G. Abmayr, Hg., Stuttgarter NS-Täter. Vom Mitläufer bis zum Massenmörder, Stuttgart 2009, S. 117. 119 Siehe dazu Gabriele Anderl, Die ‚Zentralstelle für jüdische Auswanderung‘ in Wien, Berlin und Prag – ein Vergleich, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 23, 1994, S. 275–299. 120 Siehe Oldrich Sládek, Standrecht und Standgericht. Die Gestapo in Böhmen und Mähren, in: Paul und Mallmann, Hg., Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg, S. 317–339.
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Bereits nach fünf Wochen wurde Stahlecker zum Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Böhmen und Mähren ernannt. Als mit dem Überfall auf Polen die Zahl der unter deutscher Herrschaft lebenden Juden auf annähernd zwei Millionen anstieg, entstand der Gedanke, auf polnischem Gebiet ein riesiges Ghetto einzurichten. Gemeinsam mit Eichmann entwickelte Stahlecker die Idee eines speziellen Sammel- oder Reichsghettos, für das in der Nähe der ostpolnischen Stadt Lublin ein geeigneter Platz gesucht wurde. Im Oktober kamen beide überein, das hierfür notwendige Durchgangslager etwa hundert Kilometer südwestlich von Lublin bei Nisko zu errichten. Beide trafen sich in dieser Zeit fast jeden Sonntag, um das Vorhaben durchzusprechen.121 Wegen technischer Schwierigkeiten und weil sich der Generalgouverneur von Polen, Hans Frank (1900–1946), dagegen aussprach, wurde der Plan im Frühjahr 1940 wieder aufgegeben. Stattdessen stellte man nun Überlegungen an, alle Juden auf die südostafrikanische Insel Madagaskar zu deportieren. Eichmann und sein Mitarbeiter Theodor Dannecker rechneten aus, dass man mit 120 Schiffen und einer Quote von 1500 Juden pro Schiff etwa vier Jahre benötigen würde, um vier Millionen Juden nach Madagaskar zu schaffen.122 So irreal der Gedanke eines Inselghettos angesichts der britischen Seehoheit im Nachhinein auch erscheinen mag, so sehr entsprang er der inneren Logik einer forcierten und dann externalisierten „Ghettolösung“. Zudem konnte sich der Ansatz, die „Judenfrage“ über eine örtliche Separierung der Juden zu lösen, auf prominente Vordenker wie Gerhard Kittel berufen. Kittel wurde nicht müde zu betonen, wie gut und erfolgreich das christliche Abendland das „Judenproblem“ in den Griff bekommen hatte, als es die Juden in Ghettos einschloss. Eichmann kannte den Tübinger Neutestamentler außerdem von der zweiten Jahrestagung der Forschungsabteilung Judenfrage her, auf der Kittel von einem im Ghetto tausend Jahre erfolgreich abgeschlossenen jüdischen Rassengemisch gesprochen hatte. Doch wurde auch die „Ghettolösung“ von der Dynamik des nationalsozialistischen Antisemitismus eingeholt, als es sich nach Kriegsbeginn herausstellte, dass diese sowohl aus organisatorischen als auch aus ideologischen Gründen dem angestrebten Ziel einer endgültigen Bereinigung des „Judenproblems“ nicht gerecht werden konnte. Aber erst das Unternehmen Barbarossa, benannt nach dem Anführer des Dritten Kreuzzuges Friedrich I., ermöglichte den Übergang von der Deportati121 Siehe Schuhladen-Krämer, Die Exekutoren des Terrors, S. 425 und zum allgemeinen Kontext Hans Safrian, Die Eichmann-Männer, Wien 1993, S. 68–86. 122 Siehe dazu Richard Breitman, Der Architekt der ‚Endlösung‘. Himmler und die Vernichtung der europäischen Juden, Paderborn 1996, S. 174.
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ons- zur Endlösung der „Judenfrage“. Der neue Kreuzzug im Osten eröffnete eine realistische Option, mit dem Bolschewismus und dem Judentum die beiden Hauptfeinde des Dritten Reiches in einem Aufwasch zu erledigen. Ruft man sich Stahleckers Engagement in diversen paramilitärischen Verbänden nach dem Ersten Weltkrieg in Erinnerung, kann es nicht überraschen, dass auch der Zweite Weltkrieg in ihm einen entschiedenen Protagonisten fand. Im Kampf gegen das Judentum, der nun mit militärischen Mitteln geführt wurde, erfüllte sich sein Leben und Wollen. Stahlecker wurde nicht von ungefähr zum Prototyp eines nationalsozialistischen Weltanschauungstäters, der genau wusste, was er tat, und der alle nur denkbaren Anstrengungen unternahm, um so viele Juden als irgend möglich zu töten. Nachdem er im April 1940 zum Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Norwegen ernannt worden war, folgte am 6. Februar 1941 die Berufung zum SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei. In der unmittelbaren Vorbereitungsphase des Angriffs auf die Sowjetunion gehörte Stahlecker zu den hochrangigen SD-Führern, die von Heydrich für besondere Aufgaben vorgesehen waren. Selbstverständlich nahm er am 17. Juni 1941 auch bei der Besprechung in den Konferenzräumen des Reichssicherheitshauptamtes teil, bei der Heydrich die Einsatzgruppen- und Einsatzkommandoführer zusammenrief, um ihnen letzte mündliche Instruktionen zu geben und sie mental auf das Kommende einzustellen.123 Wie sehr Stahlecker darauf brannte, an die Front zu kommen und selbst an der Ausrottung des europäischen Judentums mitzuwirken, sieht man daran, dass er sich nicht damit zufrieden gab, sein Werk im Windschatten der am frühen Morgen des 22. Juni 1941 vorrückenden militärischen Verbände zu verrichten. Vielmehr eilte er zum Gefechtsstab der Heeresgruppe Nord voraus, um noch am gleichen Abend – einer anderen Quelle zufolge am nächsten Tag – mit einigen Vertrauten in Tilsit einzutreffen, wo er den Leiter der dortigen Staatspolizeistelle Hans-Joachim Böhme (1909–1960) unter Hinweis auf seine Sondervollmachten damit beauftragte, in einem 25 Kilometer breiten Grenzstreifen östlich der litauischen Grenze sämtliche Juden und des Kommunismus verdächtige Personen als „vorbeugende Sicherheitsmaßnahme“ zu exekutieren.124 Die
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Siehe Breitman, Der Architekt der ‚Endlösung‘, S. 216–218. Siehe Andrej Angrick und Peter Klein, Die ‚Endlösung‘ in Riga. Ausbeutung und Vernichtung 1941–1944, Darmstadt 2006, S. 63f., Wolfgang Curilla, Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrussland 1941–1944, Paderborn 2006, S. 137 sowie allgemein zur Tätigkeit von Stahleckers Einsatzgruppe Wolfgang Scheffler, Einsatzgruppe A, in: Peter Klein, Hg., Die Einsatzgruppen in der besetzten 124
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Durchführung der Sonderbehandlung habe so schnell als möglich zu erfolgen. Außerdem seien die litauischen Selbstschutzkräfte zu Pogromen anzuhalten.125 Anfang Juli meldete die Stapo-Stelle an das Reichssicherheitshauptamt, dass die „Säuberungsaktion“, in die auch der in Memel stationierte Martin Sandberger eingebunden war, 5500 Juden das Leben kostete.126 In der litauischen Stadt Kowno (Kaunas, Kauen) lebten vor dem Krieg etwa 40.000 Juden. Als sie am 24. Juni 1941 durch die Wehrmacht eingenommen wurde, kam es unter Stahleckers Oberbefehl zu verheerenden Massakern lokaler Antisemiten, bei denen die Synagogen der Stadt zerstört und ein ganzes jüdisches Wohnviertel niedergebrannt wurde. Noch bevor Erich Ehrlinger mit seinem Sonderkommando am 28. Juni in Kowno eintraf, waren über 1500 Juden ermordet worden. Am 1. Juli 1941 fiel wenige Tage später Riga in die Hände der Deutschen. Auch hier begann Stahlecker unmittelbar nach seiner Ankunft, die Ermordung der Juden zu organisieren. Weil er es schaffte, die einheimischen Kräfte planvoll und effizient einzusetzen, konnte er seine Erfolgsziffern bereits in der Anfangsphase des Krieges deutlich in die Höhe treiben. In Stahleckers Auftrag stellte der lettische Kollaborateur Viktor Arajs (1910–1988) Anfang Juli ein eigenes Kommando zusammen, das ungefähr 28.000 lettische Juden ermordete.127 Stahlecker achtete aber auch auf eine gute Kooperation mit den militärischen Verbänden der Wehrmacht. Als ein außerordentlich führungs- und durchsetzungsstarker Vertreter der Endlösungspolitik Himmlers konnte er sehr unangenehm werden, wenn sich jemand bei den von ihm gewünschten Judenaktionen quer stellte. Den Generalstabschef des rückwärtigen Heeresgebietes Nord, Arno Graf von Kriegsheim, bedrohte Stahlecker wegen angeblich defätistischer Äußerungen und weil er die wahllose Erschießung von Juden als ein für einen Deutschen unwürdiges Verhalten bezeichnet hatte, mit einem Kriegsgerichtsverfahren. Er schrieb eigens an Himmler, dass man heimlich Material gegen Kriegsheim sammeln solle, um ihm später den Prozess machen zu können.128 Sowjetunion 1941/42. Die Tätigkeits- und Lageberichte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, Berlin 1997, S. 29–51. 125 Curilla, Die deutsche Ordnungspolizei, S. 137f. 126 Das Schreiben der Stapo-Stelle Tilsit von Anfang Juli 1941 ist auszugsweise abgedruckt bei Wolfgang Benz u.a., Hg., Einsatz im ‚Reichskommissariat Ostland‘. Dokumente zum Völkermord im Baltikum und in Weißrussland 1941–1944, Berlin 1998, S. 73f. 127 Curilla, Die deutsche Ordnungspolizei, S. 915. Siehe zur Zusammenarbeit zwischen Stahlecker und Arajs auch Angrick und Klein, ‚Die Endlösung‘ in Riga, S. 76 sowie Andrew Ezergailis, The holocaust in Latvia 1941–1944, Riga 1996, S. 181. 128 Schuhladen-Krämer, Die Exekutoren des Terrors, S. 431f. Stahleckers Fernschreiben an Himmler datiert auf den 14.2.1942.
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Bezeichnend für Stahleckers Verhalten ist auch seine Reaktion auf die „Vorläufigen Richtlinien für die Behandlung der Juden im Gebiet des Reichskommissariats Ostland“, die Hinrich Lohse (1896–1964) am 2. August 1941 erlassen hatte. Weil ihm die bereits sehr weitgehenden Vorschläge Lohses immer noch nicht ausreichten, verfasste er vier Tage später eine dagegen gerichtete Stellungnahme, in der er ausführlich darlegte, wie eine effektive Behandlung des „Judenproblems“ seiner Meinung nach aussehen sollte.129 Stahlecker kritisierte den Reichskommissar Ostland dafür, dass er die durch den Krieg geschaffene Situation und die damit verbundenen Möglichkeiten für eine radikale Behandlung der „Judenfrage“ nicht wirklich erfasst habe. Das Argument Lohses, die Juden zum Zweck des Arbeitseinsatzes am Leben zu lassen, fand Stahlecker nur bedingt stichhaltig. Bei einer Belassung der Juden in normalen Arbeitsverhältnissen sei die Gefahr einer politischen Unruhebildung größer als der ökonomische Gewinn, den man durch die Ausnutzung ihrer Arbeitskraft erzielen könne. In Anbetracht der wenigen deutschen Ordnungskräfte wäre damit zu rechnen, dass die Juden noch „lange Zeit ihr Parasitendasein fortführen und eine fortdauernde Unruhequelle bleiben“ würden.130 Die von Stahlecker durchaus befürwortete Ausbeutung der Juden als Arbeitssklaven bildete für ihn nicht den Endpunkt einer radikalen Behandlung der „Judenfrage“, sondern den planmäßig in die Wege zu leitenden ersten Schritt zur Ausrottung des europäischen Judentums. Unter Beachtung deutscher Sicherheitsinteressen hielt Stahlecker die Bildung spezieller „Judenreservate“ für eine geeignete Übergangslösung. „Falls nicht unterdes die Gesamtreinigung des europäischen Raumes von allen Juden spruchreif geworden ist“, könnten in diesen Judenreservaten tatsächlich geeignete Beschäftigungsverhältnisse geschaffen werden, mit deren Hilfe sich eine optimale Verwertung jüdischer Arbeitskraft ermöglichen lasse.131 Als kühl analysierender Vordenker der Schoah war er Lohse aber bereits einen Schritt voraus. Das Judenghetto stand nicht am Ende seiner Überlegungen, sondern bezeichnete den Beginn des bewusst in Angriff genommenen Völkermords, der unter bestimmten sicherheitspolitischen
129 Stahleckers Entwurf vom 6.8.1941 ist auszugsweise wiedergegeben bei Benz u.a., Hg., Einsatz im ‚Reichskommissariat Ostland‘, S. 42–46. Siehe zum Streit zwischen Stahlecker und Lohse auch Christopher Browning, Die Entfesselung der ‚Endlösung‘. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939–1942, mit einem Beitrag von Jürgen Matthäus, Berlin 2006 (englische Erstausgabe 2003), S. 415–419 und S. 450f. 130 Benz u.a., Hg., Einsatz im ‚Reichskommissariat Ostland‘, S. 44. 131 „An Unterkunft und Verpflegung wird den Juden in den Reservatsräumen nur soviel zugebilligt, wie zur Erhaltung ihrer Arbeitskraft unbedingt erforderlich ist.“ Ebd., S. 45.
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Bedingungen auch die Vernichtung durch Arbeit als eine sinnvolle Variante enthalten konnte. Traurige Berühmtheit erlangte Stahlecker durch zwei nach ihm benannte Berichte, in denen er das Reichssicherheitshauptamt über die Zahl der in seinem Einflussgebiet getöteten Juden informierte. Der erste so genannte Stahlecker-Bericht betraf die Zeit von Kriegsbeginn bis zum 15. Oktober 1941. Stolz meldete Stahlecker, dass es gelungen sei, 127.319 Personen umzubringen, darunter 3976 Kommunisten. In seiner Auflistung fehlen jedoch 5500 „in Litauen und Lettland durch Pogrome beseitigte Juden“, 2000 „im altrussischen Raum exekutierte Juden, Kommunisten und Partisanen“, 748 „Geisteskranke“ und die bereits erwähnten 5502 im Grenzstreifen bei Tilsit „liquidierten Kommunisten und Juden“. In der Summe bedeutete das für einen Zeitraum von nur dreieinhalb Monaten 135.567 getötete Menschen.132 Der noch monströsere zweite StahleckerBericht umfasste ca. 150 Seiten und enthielt 19 Anlagen. Er wurde als Geheime Reichssache in 50 Ausfertigungen verschickt und trug den Titel „Gesamtbericht der Einsatzgruppe A vom 16. Oktober 1941 bis 31. Januar 1942“. Darin bezifferte Stahlecker die Zahl seiner Opfer auf 240.410 Juden, Kommunisten, Partisanen, Geistskranke und eine Gruppe „Sonstige“. Die überwiegende Mehrzahl (218.050) unter ihnen waren Juden. Wie in einem modernen Geschäftsbericht hatte Stahlecker die Darstellung grafisch aufbereiten lassen und mit einer eigens angefertigten Karte anschaulich gemacht. In die Karte mit dem Titel „Von der Einsatzgruppe A durchgeführte Judenexekutionen“ waren für die verschiedenen Regionen Särge eingezeichnet, denen die Zahl der getöteten Juden beigestellt wurde. Beim Sarg für Estland, dem Einsatzort Martin Sandbergers, stand als Zusatz in Großbuchstaben „JUDENFREI“. Die „Geschätzte Zahl der noch vorhandenen Juden“ wurde dagegen mit insgesamt 128.000 angegeben. Rechnet man beide Stahlecker-Berichte zusammen, kommt man für den Zeitraum von gerade einmal sieben Monaten auf die unvorstellbare Gesamtsumme von 375.977 getöteten Menschen, die überwiegende Mehrheit Juden, aber auch Kommunisten, Partisanen, Geisteskranke und „Sonstige“. Der Judenmord hatte hier eine Dimension erreicht, die sich der Vergleichbarkeit mit allen früheren Formen eines auch noch so gewalttätigen Antisemitismus entzieht. Dass Stahleckers „Geschäftsbericht“ an einigen Stellen der Exaktheit entbehrte und wie alle Geschäftsberichte manchmal übertrieben gewesen sein mochte, vermag nichts daran zu ändern. Bei einer derart gro132
Stahlecker-Bericht vom 15.10.1941, zitiert nach Helmut Krausnick und HansHeinrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938–1942, Stuttgart 1981, S. 606.
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ßen Zahl von Einzelaktionen konnte es gar nicht ausbleiben, dass sich Ungenauigkeiten, Fehler und Redundanzen bei der Auflistung einschlichen.133. Außerdem fehlen in Stahleckers Gesamtbilanz etwa 100.000 Juden, die von anderen, ihm nicht unterstehenden SS-Verbänden sowie Einheiten der Wehrmacht ermordet wurden.134 Es war geradezu Stahleckers Markenzeichen, dass er Tausende von Kilometern auf Überlandfahrten zurücklegte, um durch seine Anwesenheit vor Ort eine möglichst effiziente Durchführung der Schoah sicherzustellen.135 Wie ein apokalyptischer Reiter aus dem Johannesevangelium zog er über das Land, Tod und Schrecken verbreitend, wo er auch hinkam. Er schien wie besessen gewesen zu sein, die Erde von einem Feind zu erlösen, den er sich schlimmer nicht vorstellen konnte. Seine Führungsstärke und die Fähigkeit, Probleme ebenso wie das Entwicklungspotential konkreter Situationen rasch zu erkennen, heben Stahlecker unter den Exekutoren der Endlösung heraus und lassen ihn als Primus inter pares erscheinen. Seine führende Rolle bei der Vernichtung des europäischen Judentums zeigt sich auch daran, dass er als Einsatzgruppenführer und BdS Ostland eigentlich an der Wannsee-Konferenz teilnehmen sollte. Weil er offenbar nicht abkömmlich war, ließ er sich durch seinen Untergebenen, den Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Lettland, Dr. jur. Rudolf Lange (1910–1945), am 20. Januar 1942 in Berlin vertreten.136 Wenige Wochen danach erlitt Stahlecker bei Gefechten mit Partisanen südwestlich des Ilmensees Verletzungen am Gesäß und der rechten Hand und starb noch während des Fluges ins Lazarett nach Pleskau.137 Kurz vorher war er noch zum Höheren SS- und Polizeiführer in Frankreich ausersehen worden. Er wäre damit in die Spitze der SS-Hierarchie aufgerückt. Der ehemalige Tübinger Studentenfunktionär Eugen Steimle (1909– 1987) leitete von September bis Dezember 1941 das Sonderkommando 7a der Einsatzgruppe B und von August 1942 bis Januar 1943 das Sonder133 Siehe dazu Hans Heinrich Wilhelm, Die Einsatzgruppe A der Sicherheitspolizei und des SD 1941/42. Eine exemplarische Studie, in: Krausnick und ders., Hg., Die Truppe des Weltanschauungskrieges, S. 608f. Für den Zeitraum des zweiten Berichts nimmt Wilhelm eine Zahl von rund 230.000 durch die Einsatzgruppe A und ihre einheimischen Helfershelfer getötete Juden an. 134 Ebd., S. 609. 135 In dem vom Bundesarchiv, Außenstelle Ludwigsburg u.a., herausgegebenen Ausstellungskatalog, Ruth ‚Sara‘ Lax 5 Jahre alt, deportiert nach Riga. Deportation und Vernichtung badischer und württembergischer Juden, Ludwigsburg 2002 gibt es auf S. 57 einige Fotos von Stahleckers Überlandfahrten. 136 Ebd., S. 64f. Der genaue Grund für Stahleckers Nichtteilnahme ist unbekannt. 137 Rudolf-Dieter Müller und Hans Erich Volkmann, Hg., Die Wehrmacht. Mythos und Realität, München 1999, S. 938 sowie Angrick und Klein, Die ‚Endlösung‘ in Riga, S. 450.
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kommando 4a der Einsatzgruppe C. Für die während dieser Zeit begangenen Verbrechen wurde er 1948 zum Tode verurteilt.138 Geboren in dem Schwarzwalddorf Neubulach in der Nähe von Calw, wuchs Steimle in einem sehr religiösen Elternhaus auf, in dem Hausgottesdienste und die Bibelstunde der pietistisch geprägten Liebenzeller Mission stattfanden, deren Hauptsitz nur etwa zwanzig Kilometer nördlich von Neubulach entfernt liegt. Er sei streng christlich erzogen worden und „habe jederzeit vor der religiösen Überzeugung Anderer Achtung gehabt“, bekundete Steimle während seines Gerichtsverfahrens nach dem Krieg.139 Ein solcher Satz mochte vielleicht die Richter beeindrucken. Auf Steimles Einstellung den Juden gegenüber traf er sicher nicht zu. In Anbetracht seiner Tätigkeit für den Nationalsozialistischen Studentenbund, den SD, das Reichssicherheitshauptamt und ab 1941 für die Einsatzgruppen B und C erscheint die Behauptung einer besonderen religiösen Toleranz als außergewöhnlich dreist. Für seinen Übereifer bei der Beteiligung am württembergischen Judenpogrom wurde im Juli 1939 sogar ein Disziplinarverfahren der SS gegen ihn eingeleitet.140 Steimle hatte in Berlin und Tübingen Geschichte, Deutsch, Französisch und Philosophie studiert und im Mai 1935 in Tübingen die erste Prüfung für das Höhere Lehramt absolviert. In Tübingen war Steimle auch in die Arbeit des Nationalsozialistischen Studentenbundes hineingewachsen, wo er rasch zu einem führenden Studentenfunktionär avancierte. Im engen Zusammenwirken mit Karl Fezer, dem seit Dezember 1933 amtierenden ersten Führerrektor der nationalsozialistischen Ära, trug Steimle im Herbst 1935 dazu bei, dass die Übernahme der Stiftsverbindungen Roigel und Normannia – Steimle war selbst Normanne – in die Deutsche Burschenschaft relativ problemlos vonstatten ging.141 Bereits 1933 war Steimle Hochschulgruppenführer des NSDStB und Führer der Tübinger Studentenschaft geworden. Danach übernahm er das Amt des Gaustudentenführers Württemberg-Hohenzollern, um schließlich von 138 Um die Aufarbeitung der Vita Eugen Steimles hat sich besonders Rainer Lächele verdient gemacht. Siehe ders., Vom Reichssicherheitshauptamt in ein evangelisches Gymnasium. Die Geschichte des Eugen Steimle, in: ders. und Jörg Thierfelder, Hg., Das evangelische Württemberg zwischen Weltkrieg und Wiederaufbau, Stuttgart 1995, S. 260–288 und ders., Vom Reichssicherheitshauptamt in ein evangelisches Gymnasium. Die Geschichte des Eugen Steimle, in: Hans Otto Binder, Hg., Die Heimkehrertafel als Stolperstein. Vom Umgang mit der NS-Vergangenheit in Tübingen, Tübingen 2007, S. 61–74 und S. 154f., siehe außerdem Steimles BDC-Akten im Bundesarchiv. 139 Lächele, Die Geschichte des Eugen Steimle, S. 270. 140 Ebd., S. 262. Was sich Steimle genau zu Schulden kommen ließ, ist nicht bekannt. 141 Siehe Ernst Bock, Feste Burg im Sturm der Zeit, in: Siegfried Hermle u.a., Hg., Im Dienst an Volk und Kirche! Theologiestudium im Nationalsozialismus, Stuttgart 1988, S. 61.
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Gustav Adolf Scheel in die Reichsstudentenführung geholt zu werden. Dort leitete er von 1937 bis 1941 das Amt Altherrenbund. Parteimitglied seit März 1932, gehörte Steimle auch der SA an. 1933 wechselte er in die SS über. Nach seiner Assessorprüfung im März 1936 folgte er dem Werben Scheels und trat als hauptamtlicher Mitarbeiter in die Dienste des SD. Als begabter und aufstrebender junger SD-Führer wurde Steimle mit dem Aufbau des SD-Unterabschnitts Württemberg beauftragt, eine Aufgabe, die er zur vollsten Zufriedenheit seiner Vorgesetzten erledigte. Ein Personalbericht vom 8. Juli 1937 bezeichnet ihn als einen „der bekanntesten und angesehensten Parteiführer Württembergs“. Er sei bereits als SASturmführer und Mitglied der Gauleitung vom SD übernommen worden. „Der von ihm als Stabsführer zur Zeit vorgenommene Aufbau des SD-Unterabschnitts Württemberg ist zweifellos für das Reich vorbildlich.“ Es sei ihm gelungen, die allerbesten Kräfte für die SD-Arbeit zu gewinnen „und Leistung und Ansehen des SD ungeheuer zu heben“.142 Verfügte er in seiner Stuttgarter Dienststelle zunächst über zwölf hauptamtliche Angestellte, wuchs der Stuttgarter SD-Leitabschnitt bis zum Frühjahr 1939 auf 30 Dienststellenangehörige an und hatte, alle Außenstellen und V-Leute eingerechnet, insgesamt 190 Mitarbeiter.143 Der Amtssitz des SD befand sich zunächst im Stuttgarter Wilhelmspalais, dem ehemaligen Wohnsitz des letzten württembergischen Königs. Im November 1939 wechselte man in die Reinsburgerstraße 32/34, wo, nach Referaten aufgeteilt, 30 Zimmer bezogen wurden. Ungeachtet seiner Tätigkeit in der Reichsstudentenführung hielt Steimle die Zügel als Leiter seines Leitabschnitts fest in der Hand. Die von ihm verschickten Schulungsbriefe, Rundschreiben und Anweisungen an die Außenstellen lassen erkennen, dass es auch hier mit seiner später reklamierten Duldsamkeit in religiösen Dingen nicht weit her war. Abgesehen vom Judentum konzentrierten sich Steimles Aktivitäten besonders auf die Organisationen der katholischen Kirche und die christlichen wie nichtchristlichen Sekten, aber auch auf die Deutschgläubigen und den Tannenbergbund. Wegen ihrer angeblichen Nähe zum Judentum galt ihm die Internationale Vereinigung der Bibelforscher als die „gefährlichste aller Sekten“.144 Im Grunde genommen erregten alle Religionsgemeinschaften abseits des protestantischen Mainstreams das Misstrauen des Stuttgarter SD. Über die Deutschen Christen hieß es im Lagebe142
Zitiert nach Lächele, Die Geschichte des Eugen Steimle, S. 262. So die Zahlen, die im Stabsbefehl Nr. 28 vom 25.3.1939 genannt werden. StA Ludwigsburg, K 110, Büschel 50. 144 Schulungsbrief Nr. 1 vom 5.8.1936, StA Ludwigsburg, K 110, Büschel 42. Auch die Zeugen Jehovas, die Neuapostolische Kirche und die Anthroposophen zogen die Aufmerksamkeit des SD besonders auf sich. 143
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richt des 4. Vierteljahrs 1938, dass diese nach dem Auflösungsbeschluss vom 28. Dezember 1938 in Süddeutschland praktisch nicht mehr vertreten und die noch verbliebenen 30 Geistlichen völlig isoliert seien.145 Von besonderem Interesse ist dieser Lagebericht von Ende 1938 auch deswegen, weil Steimle in ihm die Geschehnisse der wenige Wochen zurückliegenden Reichspogromnacht rekapitulierte. Demnach seien achtzehn Synagogen verbrannt und bei zwölf Synagogen die Einrichtung demoliert worden. Insgesamt seien 878 Juden verhaftet worden, von denen sich noch 40 im Gefängnis befänden. Im Verlauf der Aktion hätten sich dreizehn Todesfälle und zwei Selbstmordversuche ereignet. In fünf Fällen sei es in Stuttgart und Heilbronn zu Plünderungen gekommen. Lediglich einzelne Parteigenossen hätten sich bei der Übernahme von jüdischen Geschäften und jüdischen Besitzes unrühmlich benommen. 253 Juden hätten sich sofort zur Auswanderung bereit erklärt.146 Bis zum September 1941, als Steimle das Sonderkommando 7a der Einsatzgruppe B von Walter Blume (1906–1974) übernahm, scheint er die meiste Zeit mit der SD-Arbeit in Stuttgart befasst gewesen zu sein. Steimles Tätigkeit an der Ostfront fand im Gefolge des deutschen Vormarschs auf Moskau statt, wobei von seiner Einheit nicht nur Juden, sondern auch Partisanen und kommunistische Funktionäre ermordet wurden.147 Das von ihm zwischen August 1942 und Januar 1943 angeführte Sonderkommando 4a der Einsatzgruppe C hatte vorher Erwin Weinmann geleitet, ein ehemaliger Kommilitone Steimles aus Tübingen. Einsatzorte Steimles waren jetzt unter anderem Gorodnie und Klinzy im Oblast Brjansk. Als nach der Niederlage von Stalingrad die Heeresgruppen Süd und Mitte zum Rückzug gezwungen wurden, ging auch das Sonderkommando 4a über Kursk, Konotop und Bruisk nach Minsk zurück, wo es aufgelöst und sein Personal der Dienststelle des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD Russland-Mitte und Weißruthenien, Erich Ehrlinger, eingegliedert wurde.148 Mit der Leitung der Abteilung VI B (Westeuropa) übernahm Steimle im Februar 1943 eine hohe Funktion im Reichssicherheitshauptamt. Wohl bereits im Hinblick auf die Nachkriegszeit wurde er 1943 pro forma zum 145 Geheimer Lagebericht des 4. Vierteljahrs 1938 des SD-Unterabschnitts Württemberg-Hohenzollern, ebd., K 110, Büschel 44. 146 Ebd., K 110, Büschel 44. Steimles Rechenschaftsbericht ging vermutlich auf die erwähnte Anfrage Ehrlingers aus dem Berliner SD-Hauptamt vom 14.11.1938 zurück. 147 Siehe Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen, S. 160f. Einsatzorte waren u.a. Kalinin, Rshew, Sytschewka, Velikiye Luki und Wjasma. In der Einsatzmeldung 133 vom 14.11.1941 heißt es: „Das SK 7a hat in Rshew einen Ordnungsdienst und einen Judenrat eingesetzt.“ Ebd., S. 322. 148 Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen, S. 168.
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Studienrat am Dillmann-Realgymnasium in Stuttgart und damit zum Beamten auf Lebenszeit ernannt.149 Wegen seiner Verdienste um die SS und den SD erhielt er noch am 20. Mai 1944 im Alter von nur 35 Jahren die Ernennung zum SS-Standartenführer. Nach Kriegsende konnte sich Steimle unter falschem Namen zunächst versteckt halten. Am 1. Oktober 1945 wurde er aber verhaftet und zweieinhalb Jahre später für seine Beteiligung an der Ermordung von mehr als 500 Juden während seines ersten Einsatzkommandos am 10. April 1948 zum Tod verurteilt. Allerdings wandelte ein vom amerikanischen Militärgouverneur John McCloy eingerichteter Ausschuss das Todesurteil bereits im Januar 1949 in eine zwanzigjährige Haftstrafe um.150 Nachdem sich zahlreiche Kirchenfunktionäre für ihn eingesetzt hatten, konnte Steimle das Gefängnis in Landsberg am 28. Juni 1954 als freier Mann verlassen. Ab 1955 arbeitete er als Geschichtslehrer am Gymnasium der Zieglerschen Anstalten in Wilhelmsdorf südlich von Tübingen. Am 27. August 1942 aß Heinrich Himmler zusammen mit dem stellvertretenden Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, Kurt Daluege (1897– 1946), und der Witwe Walter Stahleckers, Luise-Gabriele geborene Freiherrin von Gültlingen, um 16.00 Uhr in Prag zu Mittag.151 Direkt danach fanden auf der Prager Burg Besprechungen zwischen Himmler, seinen Untergebenen und hochrangigen NS-Vertretern statt, bei denen es um personelle Veränderungen im Protektorat Böhmen und Mähren ging, die nach dem Tod Heydrichs am 4. Juni notwendig geworden waren. Bereits drei Tage später erhielt der Tübinger Mediziner Dr. Erwin Weinmann (geb. 1909, Todesdatum unsicher) zum 1. September 1942 die Bestellung zum Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Böhmen und Mähren, eine Position, die Stahlecker 1939 innegehabt hatte. Erwin Weinmann stammte wie sein zwei Jahre älterer Bruder Ernst aus Frommenhausen bei Rottenburg.152 Beide hatten um die Mitte der zwanziger Jahre an der Universität Tübingen Medizin zu studieren begonnen. Im Dezember 1931 trat Erwin Weinmann in die NSDAP, im Juni 1932 in die SS ein. Als Mitglied des NS-Studentenbundes engagierte er sich zusammen mit Martin Sandberger besonders in der Arbeit für den AStA, dem er im Sommersemester 1932 als Fraktionsführer des NSDStB angehörte. Seine spätere Frau Elisabeth arbeitete seit November 1933 als Sekretärin der Kreisleitung der Deutschen Studentenschaft und des NS-Studentenbundes und hatte dort viel mit 149
Lächele, Die Geschichte des Eugen Steimle, S. 272. Ebd., S. 271. 151 Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, S. 530. 152 Siehe zur Vita Erwin Weinmanns dessen BDC-Akten und Wildt, Generation des Unbedingten, S. 99, S. 178–180, S. 201f., S. 352, S. 507 und S. 738. 150
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Sandberger und ihrem späteren Ehemann zu tun, den sie 1937 heiratete. Sie hatte sich früh dem Bund Jungdeutschland und dann dem Bund Königin Luise, einer der DNVP nahestehenden nationalistischen Frauenorganisation angeschlossen, die 1934 in die NS-Bewegung aufging. Nach der Approbation im April 1934 arbeite Weinmann als Praktikant am Hygieneinstitut und nach der Promotion im Januar 1935 als Assistenzarzt an der Poliklinik in Tübingen. Er galt als guter Arzt, dem eine medizinische Laufbahn an der Universitätsklinik offen stand. Wie es in einer Personalbeurteilung aus dem Jahr 1938 aber hieß, galt seine Neigung mehr dem SD.153 Für eine Tätigkeit beim SD gab er deswegen den Arztberuf auf. Seit dem 1. Dezember 1936 hatte er eine Stabsleiterstelle beim SD-Oberabschnitt Südwest inne. Im Jahr darauf wurde er zum SD-Hauptamt nach Berlin berufen. Dort übernahm er vom 26. Oktober 1940 bis zum 5. Juli 1941 die Leitung des Berliner SD-Oberabschnitts. Im Frühjahr 1940 leitete Weinmann das Einsatzkommando I Belgien, um sich danach militärische Verdienste im sicherheitspolitischen Einsatz in Lothringen zu erwerben, wo er dem Befehlshaber der Sicherheitspolizei Metz, Anton Dunckern (1905–1985), zugeordnet war. Für seine Mitwirkung bei der „Bereinigung Lothringens von volks- und reichsfeindlichen Elementen“ wurde Weinmann mit dem Kriegsverdienstkreuz ausgezeichnet.154 Am 1. Januar 1941 übernahm er überdies im Reichssicherheitshauptamt die Stelle des Gruppenleiters IV D „Besetzte Gebiete“. Anfang 1942 löste er Paul Blobel (1891–1951) als Führer des Sonderkommandos 4a der Einsatzgruppe C ab, das die Massaker von Babij Jar im September 1941 zu verantworten hatte. Weinmann, der das Sonderkommando 4a seit dem 13. Januar 1942 leitete, war vermutlich auch bei den Judenmorden in Charkow beteiligt, die Anfang 1942 auf dem Gelände einer ehemaligen Traktorenfabrik stattfanden und mehrere Tage andauerten. In der Ereignismeldung vom 4. Februar 1942 heißt es über eine solche Erschießungsaktion lapidar: „305 Juden, die der deutschen Wehrmacht abträgliche Gerüchte verbreiteten, wurden sofort erschossen.“155 Wie zuvor bereits in Poltawa kamen offenbar auch in Charkow Gaswagen für die Tötung von Juden zum Einsatz. Weitere Aktionen des Sonderkommandos 4a fanden in Belgorod und Melichowo nordöstlich von Charkow statt.156 Der im August 153 „Weinmann war Assistenzarzt am Universitätskrankenhaus Tübingen. Er wird von dort immer wieder angefordert, um Oberarzt zu werden. Weinmann ist ein ausgezeichneter Arzt, aber auch ein ebenso ausgezeichneter SD-Mann. Seine Neigung gehört überwiegend dem SD.“ Zitiert nach Wildt, Generation des Unbedingten, S. 179. 154 Wildt, Generation des Unbedingten, S. 352. 155 Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen, S. 168 bzw. S. 326, Fußnote 204. 156 Ebd., S. 168.
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1942 von Steimle abgelöste Weinmann erhielt für seinen erfolgreichen Einsatz am 1. September 1942 die Beförderung zum SS-Standartenführer. Am 21. Dezember 1944 wurde er zum SS-Oberführer ernannt. In seiner Eigenschaft als BdS Böhmen und Mähren nahm Weinmann an den Kämpfen um Prag teil, als sich die tschechische Bevölkerung am 5. Mai 1945 mit einem Aufstand gegen die deutschen Besatzer zur Wehr setzte. Nach Aussage des Hausmeisters des SD-Leitabschnitts, Gustav Brandl, soll er am 9. Mai in Prag angeschossen worden sein und sich dann das Leben genommen haben. Der Kriminalbeamte Jakob Kiefer beeidete indes, dass Weinmann am 11. Mai 1945 im tschechischen Gefangenenlager Rokezan erschossen wurde.157 Obwohl das Reutlinger Amtsgericht Weinmann am 9. Juni 1949 für tot erklärte, kamen immer wieder Gerüchte auf, er habe sich in den Nahen Osten abgesetzt. Auch die Staatssicherheit der DDR glaubte 1972, dass Weinmann im ägyptischen Alexandria lebte und dort für die Polizei arbeitete.158 Zur Gruppe der Tübinger Exekutoren der Endlösung mit einem Studienabschluss an der Eberhard Karls Universität ist neben den genannten Erich Ehrlinger, Martin Sandberger, Walter Stahlecker, Eugen Steimle und Erwin Weinmann auch der in Schorndorf als Sohn eines kaufmännischen Angestellten geborene Albert Rapp (geb. 1908, Todesdatum unbekannt) zu rechnen. Bereits als Schüler bewegte sich Rapp im Umfeld rechtsstehender politischer Gruppierungen. 1924 wurde er Mitglied im Bund Oberland und in der von Christian Mergenthaler geführten nationalsozialistischen Freiheitsbewegung, die später mit der NSDAP fusionierte. Gleichzeitig gehörte Rapp aber auch dem Christlichen Verein junger Männer in Schorndorf an. Sein 1928 in München begonnenes Jurastudium setzte er im fünften Semester an der Eberhard Karls Universität fort. Wie er nach dem Krieg während seines Verfahrens beim Landgericht Essen aussagte, sei er dort über nationalsozialistische Studenten in Berührung mit dem SD gekommen.159 Noch während des Studiums nahm er an einem dreiwöchigen Lehrgang bei der Reichswehr teil. Im Dezember 1931 schloss sich Rapp der NSDAP und zu Beginn des Wintersemesters 1932/33 der SA an. Während 157 Jan Björn Potthast, Das jüdische Zentralmuseum der SS in Prag. Gegnerforschung und Völkermord im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2002, S. 388f. 158 Ebd., S. 389. 159 Das Urteil ist abgedruckt in Justiz und NS-Verbrechen, Bd. 20, 1979, S. 719–815, hier S. 721. Siehe zu Rapp auch Kerstin Freudiger, Die juristische Aufarbeitung von NSVerbrechen, Tübingen 2001, S. 74–79 und Klaus Michael Mallmann, Lebenslänglich. Wie die Beweiskette gegen Albert Rapp geschmiedet wurde, in: ders. und Andrej Angrick, Hg., Die Gestapo nach 1945. Karrieren, Konflikte, Konstruktionen, Darmstadt 2009, S. 254–269.
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seines Referendariats wurde er im Mai 1933 Sturmbannadjutant und 1934 Sturmführer der SA in Schorndorf. Die enge Bindung an die SA ließ ihn erst im Juni 1936 zur SS überwechseln. Zugleich trat er am 1. Juni 1936 als hauptamtlicher Mitarbeiter in die Dienste des SD, wobei Rapp nicht nach Stuttgart, sondern zum SD-Unterabschnitt Baden nach Karlsruhe ging. 1937 übernahm er dort in der Funktion eines Stabsleiters die Abteilungen I (Personal und Verwaltung) und II (Gegner und Lebensgebiete). Ende 1937 wurde Rapp als Leiter der Hauptabteilung II in den SD-Oberabschnitt Ost nach Berlin berufen. Von dort ging er Anfang 1939 zum SD-Hauptamt und wurde Stabsführer in der Zentralabteilung II/2 (Lebensgebietsmäßige Auswertung). Am 9. November 1938 erfolgte die Beförderung zum SSHauptsturmführer und am 30. Januar 1939 zum SS-Sturmbannführer. Ungeachtet seiner Tätigkeit für den SD wurde Rapp im württembergischen Innenministerium als beurlaubter Regierungsassessor geführt und 1939 zum Regierungsrat ernannt und verbeamtet.160 Am Polenfeldzug nahm Rapp im Rahmen des Unternehmens Tannenberg in einer Einheit der Sicherheitspolizei und des SD unter Erich Naumann (1905–1951) teil. Rapp hatte in der von Naumann angeführten Einsatzgruppe VI die Führung des SD inne.161 Er wurde aber sehr bald nach Posen abkommandiert, wo er in einem Sonderstab des Höheren SS- und Polizeiführers Wilhelm Koppe (1896–1975) die „Evakuierung“ von Polen und Juden koordinierte. In diesem Zusammenhang verfasste Rapp, zugleich Führer des SD-Leitabschnitts Posen, eine große Zahl an Erlassen und Rundschreiben, mit denen er die nicht „eindeutschungsfähigen“ Bevölkerungsteile so schnell und umfassend als möglich zu deportieren suchte. Es war in erster Linie seinem Organisationsgeschick zu danken, dass bis zum 17. Dezember 1939 annähernd 88.000 Menschen in das Generalgouvernement abgeschoben werden konnten.162 Im April 1940 wurde Rapp aus Posen abberufen und mit der Leitung des SD-Leitabschnitts München betraut. Er blieb in dieser Position, bis er im Februar 1942 die Führung des Sonderkommandos 7a der Einsatzgruppe B übernahm, dessen Leitung Steimle bis Dezember 1941 innegehabt hatte. Die meisten der Rapp nach dem Krieg zur Last gelegten Morde erfolgten in 160
Justiz und NS-Verbrechen, Bd. 20, S. 722. Klaus-Michael Mallmann u.a., Hg., Einsatzgruppen in Polen. Darstellung und Dokumentation, Darmstadt 2008, S. 39. 162 Browning, Die Entfesselung der ‚Endlösung‘, S. 80–84. Siehe außerdem Götz Aly, ‚Endlösung‘. Völkerverschiebung und Mord an den europäischen Juden, Frankfurt a.M. 1995, S. 69, S. 77, S. 84, S. 87–90 und S. 109f. sowie Peter Klein, Die ‚Gettoverwaltung Litzmannstadt‘ 1940 bis 1944. Eine Dienststelle im Spannungsfeld von Kommunalbürokratie und staatlicher Verfolgungspolitik, Hamburg 2009, S. 136–141. 161
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und um Klinzy, das die Deutschen von September 1941 bis September 1943 besetzt hielten.163 In den zwei Jahren der deutschen Okkupation wurden so gut wie alle Juden in Klinzy ermordet. Weil sich Rapp im Januar 1943 eine Verletzung durch Granatsplitter am linken Arm zuzog, wurde er nach einem Lazarettaufenthalt in Smolensk nach Deutschland zurückversetzt und im Frühjahr oder Frühsommer 1943 zum Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD in Braunschweig ernannt.164 Als einer der Ostexperten des SD übernahm der zwischenzeitlich zum Oberregierungsrat beförderte Rapp im Oktober 1944 im Amt VI (Ausland) des Reichssicherheitshauptamts die Gruppe VI C „Osten, Russisch-japanisches Einflussgebiet“. Die Abteilung VI B „Deutsch-italienisches Einflussgebiet in Europa, Afrika und dem Nahen Osten“ leitete seit 1943 Eugen Steimle und die Abteilung VI A „Allgemeine auslandsnachrichtendienstliche Aufgaben“ seit Januar 1944 Martin Sandberger. Das heißt, von den sechs Hauptabteilungen im Auslandsamt VI wurden gegen Kriegsende drei von Tübinger Hochschulabsolventen angeführt. Rapp, der am 30. Januar 1941 zum Obersturmbannführer ernannt worden war, erhielt noch an Hitlers letztem Geburtstag am 20. April 1945 seine Beförderung zum SS-Standartenführer. Dann setzte er sich mit Otto Ohlendorf, dem Amtschef SD-Inland und vormaligen Leiter der Einsatzgruppe D, nach Flensburg zum Stab Dönitz ab. Danach tauchte er unter und hielt sich bis zu seiner Festnahme im Februar 1961 unter dem Namen Alfred Ruppert versteckt. Am 23. März 1965 wurde er des gemeinschaftlichen Mordes an 1180 Menschen für schuldig befunden und zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt.165 Während seines Prozesse beim Landgericht Essen gab Rapp zu Protokoll, dass von seinen Tübinger Kommilitonen allein acht nach Abschluss ihres Assessorexamens hauptamtliche Mitarbeiter des SD geworden seien.166 Rapp nannte keine Namen, so dass von den bislang genannten Personen nur Erich Ehrlinger und Martin Sandberger dieser Gruppe zugerechnet werden können. Wer die anderen waren, wird sich möglicherweise nicht vollständig aufklären lassen. Sicherlich gehörte aber Eberhard Reichel (geb. 1908, Todesdatum unbekannt) dem Kreis der von Rapp angesprochenen Tübinger SD-Mitarbeiter mit einer juristischen Vorbildung an. Reichel stammte aus dem nur etwa zehn Kilometer von Neubulach,
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Siehe zu den Verbrechen Rapps in Klinzy im Februar 1942 Curilla, Die deutsche Ordnungspolizei, S. 845. 164 Justiz und NS-Verbrechen, Bd. 20, 1979, S. 723. 165 Ebd., S. 719. 166 Davon seien fünf vor Kriegsbeginn wieder ausgeschieden. Ebd., S. 721.
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dem Geburtsort Steimles, entfernt gelegenen Calw.167 Schon als Jugendlicher schloss er sich 1925 dem paramilitärischen Wehrverband Werwolf an, der in Deutschland zu dieser Zeit etwa 30.000 Mitglieder hatte. Reichel besuchte in Calw das Gymnasium und begann nach dem Abitur im Jahr 1928 in Erlangen ein Jurastudium, das er an der Eberhard Karls Universität abschloss. In Tübingen promovierte er 1934 zum Dr. jur. Dort legte er auch drei Jahre später sein Assessorexamen ab. Im März 1937 trat er in den SD und ein Jahr später am 15. Februar 1938 in die SS ein. Insgesamt arbeitete Reichel vierzehn Monate, das heißt von März 1937 bis Mai 1938, als hauptamtlicher SD-Mitarbeiter. Im Anschluss daran übernahm er beim Oberfinanzpräsidium Stuttgart seine erste Beamtenstelle. Der zwischenzeitlich zum Regierungsrat ernannte Reichel wurde im November 1939 Hauptabteilungsleiter beim Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD in Stuttgart. Reichel hatte sowohl die Unterstützung Scheels, der seine Beförderung zum SS-Hauptsturmführer am 1. Dezember 1939 und zum SS-Sturmbannführer am 20. April 1940 befürwortete. Er wurde aber auch von Gottlob Berger protegiert, der im April 1943 seine Ernennung zum Obersturmbannführer vorschlug. Allerdings lehnte Heydrichs Nachfolger Kaltenbrunner den Vorschlag Bergers ab, weil Reichel noch zu jung und nicht verheiratet sei. Berger war es auch, der Reichel in Verbindung mit dem Auswärtigen Amt brachte, wo dieser Anfang 1941 im Referat D IX (Volkstumsfragen) der Deutschland-Abteilung zum Legationssekretär ernannt wurde. Im April 1943 übernahm Reichel die Leitung des neu gebildeten Referats für Volkstumsfragen in der Referatsgruppe Inland II. Dadurch wurde er auch für die deutschen Volksgruppen im Ausland und deren Anwerbung für die Waffen-SS zuständig. Ein interner Geschäftsverteilungsplan vom Januar 1945 nennt darüber hinaus die politische Steuerung der deutschen Volksgruppen im Ausland und die Umsiedlung und Evakuierung deutscher Volksgruppen als Arbeitsgebiete Reichels. Des weiteren oblag ihm die Verantwortung für die wissenschaftliche Volkstumsarbeit der Forschungsgemeinschaften und der Publikationsstellen. Zu den vom Auswärtigen Amt und vom Reichssicherheitshauptamt gemeinsam finanzierten Forschungsstellen gehörten beispielsweise das Deutsche Auslandswissenschaftliche Institut, das Wannsee-Institut und das Institut für Grenz- und Auslandsstudien in Berlin, das Südostinstitut München, das Osteuropa-Institut Breslau und die in Tübingen angesiedelte Forschungsstelle Orient.168 Der dem Amt VI des Reichssicherheitshauptamtes angehö167
Siehe zu Reichel Hans-Jürgen Döscher, Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der ‚Endlösung‘, Berlin 1987, S. 285–288. Danach das Folgende. 168 Ebd., S. 288.
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renden und aus Gründen der Tarnung auch Reichsstiftung für Länderkunde genannten Forschungsstelle Orient wurde im Sommer 1944 eine Arbeitsgemeinschaft Indien angegliedert, die unter der Leitung Jakob Wilhelm Hauers stand.169 Dass Reichel nach dem Krieg Generalsekretär der 1953 in Stuttgart gegründeten Deutsch-Indischen Gesellschaft wurde, ist vermutlich im Zusammenhang mit den früheren Aktivitäten zur Werbung von indischen Freiwilligen für einen Kriegseinsatz auf europäischem Boden unter deutschem Oberbefehl zu sehen. Berger, der eigentliche Schöpfer und Organisator der Waffen-SS, fand 1952 durch Vermittlung der Firma Bosch in Stuttgart eine Anstellung. Er wurde 1964 pensioniert und starb 1976 in seiner Heimatgemeinde Gerstetten. Auch der promovierte Jurist Rudolf Bilfinger (1903–1998) lässt sich den von Rapp genannten acht SD-Mitarbeitern mit einem Jura-Abschluss an der Universität Tübingen zuordnen. Bilfinger wurde 1903 in Eschenbach bei Göppingen als Sohn des evangelischen Pfarrers Hermann Bilfinger geboren. Dessen Bruder, Rudolf Bilfingers Onkel, war der bekannte Jurist Carl Bilfinger (1879–1958), der sich 1922 an der Universität Tübingen habilitiert hatte, bevor er 1924 einen Ruf an die Universität Halle annahm.170 Carl Bilfinger fand im vorigen Kapitel Erwähnung, weil er einen erpresserischen Brief an den Herausgeber des Archivs für öffentliches Recht, Johannes Heckel, geschrieben und mit seinem Rückzug gedroht hatte, falls der Jude Albrecht Mendelssohn-Bartholdy weiterhin als Mitherausgeber genannt würde. Bei den Bilfingers handelte es sich um eine alteingesessene württembergische Familie mit genealogischen Verbindungslinien bis ins 16. Jahrhundert zurück. Auch der Tübinger Universitätskanzler und lutherische Reformator Jakob Andreä (1528–1590) gehört zu den Vorfahren der Familie Bilfinger. Als Superintendent in Göppingen hatte Andreä seinerzeit einen zum Tode verurteilten und mit dem Kopf nach unten zwischen zwei bissigen Hunden aufgehängten Juden von der Wahrheit des christli-
169 Siehe Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft, S. 241–247 sowie allgemein zur Reichsstiftung für Länderkunde Michael Fahlbusch, Reichssicherheitshauptamt Abteilung VI G (Reichsstiftung für Länderkunde), in: Ingo Haar und Michael Fahlbusch, Hg., Handbuch der völkischen Wissenschaften, München 2008, S. 545–555. 170 Carl Bilfinger, der 1933 Mitglied der NSDAP und 1934 der Akademie für Deutsches Recht wurde, lehrte ab 1935 in Heidelberg und ab 1943 in Berlin, wo er auch dem Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht vorstand. 1949 kehrte er an die Universität Heidelberg zurück. Von 1950–1954 amtierte er außerdem als Direktor des Heidelberger Max Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht.
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chen Glaubens überzeugt.171 Nach dem 1921 in Heilbronn abgelegten Abitur arbeitete Rudolf Bilfinger bei einer Bank in Göppingen und als kaufmännischer Angestellter in einer Metallwarenfabrik. Noch vor dem HitlerPutsch trat er 1923 in die NSDAP ein. Im Sommersemester 1925 begann Bilfinger an der Universität Tübingen Jura zu studieren und schloss sich der Tübinger Burschenschaft Roigel an.172 1929 ließ er sich in Tübingen als Rechtsanwalt nieder und absolvierte 1932 sein Assessorexamen. Im gleichen Jahr promovierte er zum Dr. jur. und arbeitete danach als Rechtsanwalt in Tübingen, bevor er Anfang 1934 im Landratsamt in Bahlingen bei Freiburg in den Staatsdienst eintrat. Doch schon im Mai 1934 wechselte er an die Staatspolizeileitstelle Stuttgart, deren Leitung Walter Stahlecker ab dem 14. Mai 1934 innehatte. Stahleckers Amtsvorgänger Hermann Mattheiß war nach seiner Entlassung am 11. Mai drei Wochen später am 1. Juli 1934 endgültig aus dem Weg geräumt worden. Bilfinger, der 1933 für kurze Zeit der SA angehört hatte, trat im November 1937 in die SS ein. Gleichzeitig wurde er in das Referat Organisation und Recht im Hauptamt Sicherheitspolizei in Berlin übernommen.173 Der mittlerweile zum SS-Hauptsturmführer ernannte Bilfinger fand während des Polenfeldzuges ebenfalls im Referat „Tannenberg“ Verwendung, wo er die zweimal am Tag einlaufenden Berichte der Einsatzgruppen sichtete und in einem Tagesbericht „Unternehmen Tannenberg“ zusammenfasste.174 Hierbei hatte er höchstwahrscheinlich auch mit Albert Rapp zu tun, der in der Einsatzgruppe VI die SD-Aktivitäten koordinierte. Im Reichssicherheitshauptamt leitete Bilfinger das Referat I B 1 „Organisation der Sipo“. Ab September 1940 war der am 15. März 1940 zum Oberregierungsrat ernannte Bilfinger für einige Monate als Verwaltungsleiter beim Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Krakau tätig, um nach seiner Rückkehr nach Berlin im Reichssicherheitshauptamt die Leitung der Gruppe II A „Organisation und Recht“ zu übernehmen. In dieser Eigenschaft nahm er an mehreren Besprechungen teil, die im Anschluss an die Wannsee-Konferenz durchgeführt wurden, um bei der „Endlösung“ auftretende organisatorische und juristische Schwierigkeiten zu diskutie171 Siehe dazu Kap. 3, S. 45. Zur Verwandtschaftsbeziehung zwischen der Familie Bilfinger und Jakob Andreä, der mit seiner ersten Frau zwischen 1547 und 1579 zwanzig Kinder zeugte, siehe http://worldroots.com (zuletzt eingesehen am 13.12.2009). Ich danke dem Ahnenforscher Günter H. Todt für die Bestätigung dieser Angabe. 172 Ruck, Korpsgeist und Staatsbewußtsein, S. 229. 173 Wildt, Generation des Unbedingten, S. 931 174 Ebd., S. 429. Siehe dazu auch Bernhard Brunner, Der Frankreich-Komplex. Die nationalsozialistischen Verbrechen in Frankreich und die Justiz in der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2004, S. 68.
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ren. Mit vierzehn weiteren Teilnehmern erörterte Bilfinger in der zweiten dieser Nachfolgebesprechungen, die am 6. März 1942 in Eichmanns Referat IV B 4 stattfand, das Problem der Zwangssterilisierung von so genannten Mischlingen 1. Grades. Es sei „keinesfalls beabsichtigt, die Mischlinge als dritte kleine Rasse auf die Dauer am Leben zu erhalten“, heißt es im Besprechungsprotokoll darüber.175 Eine andere, damit in Zusammenhang stehende Aufgabe Bilfingers bestand darin, die Ausraubung der Juden mit den nationalsozialistischen Gesetzen in Übereinstimmung zu bringen und ihr eine pseudolegale Rechtfertigung zu verschaffen. Bilfinger verwandte all seinen juristischen Scharfsinn auf die Frage, wie man im Zusammenwirken mit den Finanzverwaltungen das Hab und Gut der deportierten Juden in den Besitz des Staates bringen könne. Der wohl auf ihn zurückgehende Einsatz einer Abwesenheits- oder Nachlasspfleger genannten Instanz ermöglichte dabei die Übereignung jüdischer Besitztitel auf gesetzlichem, quasilegalem Wege.176 „Der Vermögensverfall zugunsten des Reiches tritt wie der Verlust der Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes ein“, heißt es kurz und knapp in einem Erlassentwurf Bilfingers vom 27. November 1941.177 Die Versteigerung „jüdischen Umzugsgutes“ bildete daraufhin die gängige Methode, um das Eigentum „verzogener“ Juden dem Deutschen Reich einzuverleiben. Auf diese Weise fiel auch die Reiseschreibmaschine Sophie Ettlingers in den Besitz des Staates und wäre in das Inventar der Universität Tübingen eingegangen, wenn nicht das Institut zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt schon vorher den Zuschlag erhalten hätte. Bilfinger als einen juristischen Drahtzieher der „Endlösung“ zu bezeichnen, ist sicher nicht übertrieben. In einem Schnellbrief an den Judensachbearbeiter im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, Dr. Erhard Wetzel (1903–1975), forderte er am 29. Januar 1942, die Endlösung der „Judenfrage“ so schnell als möglich in die Wege zu leiten: „Alle Maßnahmen zur Judenfrage in den besetzten Ostgebieten sind unter dem Gesichtspunkt zu treffen, daß die Judenfrage für ganz Europa generell gelöst werden muß. 175 Die „Besprechungsniederschrift“ der Zusammenkunft findet sich auf der Homepage der Gedenk- und Bildungsstätte des Hauses der Wannseekonferenz: www.ghwk.de, das Zitat S. 5f. (zuletzt eingesehen am 13.12.2009) und ist auch bei Robert M. W. Kempner, Eichmann und Komplizen, Zürich 1961, S. 170–178 abgedruckt. Der am 6.3.1942 ebenfalls anwesende Vertreter des Propagandaministeriums Schmid-Burgk war für den geplanten Schauprozess gegen Herschel Grynszpan zuständig und hatte am 31.12.1941 Kittels Gutachten seinem Vorgesetzten Diewerge zugeschickt. 176 Siehe dazu Hans G. Adler, Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland, Tübingen 1974, S. 145–147. 177 Schreiben Bilfingers an das Reichsfinanzministerium vom 27.11.1941, ebd., S. 505f.
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Dabei sind in den besetzten Ostgebieten derartige Maßnahmen, die der endgültigen Lösung der Judenfrage und damit der Ausscheidung des Judentums dienen, in keiner Weise zu behindern. Gerade in den besetzen Ostgebieten ist eine recht baldige Lösung der Judenfrage anzustreben.“178
Sowohl Bilfinger als auch Wetzel nahmen am 29. Januar 1942 an der ersten Wannsee-Nachfolgekonferenz in den Räumen des Ostministeriums teil.179 Bilfinger verfasste seinen Schnellbrief offenbar im Nachgang zu dieser Besprechung, die der konkreten Umsetzung des Völkermords an den Juden diente. Im März 1943 wurde Bilfinger zum sicherheitspolizeilichen Einsatz nach Frankreich abgeordnet, um unter dem Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Frankreich, Dr. Helmut Knochen (1910– 2003), von August 1943 bis Anfang 1944 das Einsatzkommando Toulouse zu übernehmen. Einer der Mitarbeiter Knochens schrieb am 23. Oktober 1943 an den SS-Obersturmbannführer und KdS Toulouse Bilfinger, dass Knochen großen Wert darauf lege, so viele Juden als möglich aus den neu besetzten Gebieten zu deportieren. Bilfinger solle deshalb möglichst umfassende Verhaftungen vornehmen, wobei „nicht nur die zur Festnahme aufgegebenen, sondern auch noch andere Juden“ mit zu ergreifen seien.180 1944/45 kehrte Bilfinger an seine alte Wirkungsstätte in Polen als Verwaltungschef beim BdS Krakau, Walther Bierkamp (1901–1945), zurück. Bei Kriegsende von den Amerikanern festgenommen und in französische Haft überstellt, verurteilte ihn ein französisches Militärgericht am 13. Juni 1953 wegen seiner Tätigkeit in Toulouse zu einer Gefängnisstrafe von acht Jahren, die jedoch durch seine Internierungszeit als abgegolten galt. Bilfinger kehrte nach Deutschland zurück und trat erneut in den Staatsdienst ein. Am Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in Mannheim brachte er es bis zum Oberverwaltungsgerichtsrat. Als Mitte der 1960er Jahre seine Vergangenheit publik zu werden drohte, wurde er im März 1965 vom Dienst suspendiert und auf eigenen Antrag hin im Juni 1965 in den Ruhestand versetzt. 33 Jahre später starb Bilfinger am 5. August 1998 als unbe178 Zitiert nach Götz Aly, ‚Endlösung‘. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt a.M. 1995, S. 403. Wetzel hatte Ende 1939 beim Chef der Zivilverwaltung in Posen als Beauftragter für rassenpolitische Fragen gearbeitet und war dabei wie Albert Rapp mit der „Aussiedlung“ von Polen und Juden befasst. 179 Siehe Mark Roseman, Die Wannsee-Konferenz. Wie die NS-Bürokratie den Holocaust organisierte, München 2002, S. 74f. und S. 142–144. 180 Serge Klarsfeld, Vichy – Auschwitz. Die ‚Endlösung der Judenfrage‘ in Frankreich, Darmstadt 2007, S. 570. Arno Klarsfeld, der Vater des damals achtjährigen Serge, wurde am 28.10.1943 aus Nizza nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Er hatte seine Familie hinter einem Wandschrank versteckt und sich dann der Gestapo gestellt, um die Familie zu retten. Ebd.
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scholtener Pensionär in Hechingen, einer Kleinstadt 25 Kilometer südlich von Tübingen. Unklar ist, ob Rapp in seine Liste Tübinger SD-Mitarbeiter auch den 1911 in Recklinghausen geborenen Otto Hunsche einrechnete, der eine zeitlang in Tübingen Jura studiert hatte.181 Hunsche hatte 1932 sein Abitur in Recklinghausen gemacht und im Anschluss daran in Tübingen ein Jurastudium begonnen. Hier schloss er sich auch dem Verein deutscher Studenten an.182 Das Studium beendete Hunsche jedoch in Münster. Dort wurde er 1933 Mitglied in der SA und 1937 in der NSDAP. Nach dem zweiten juristischen Staatsexamen übte er in verschiedenen Orten Ostpreußens eine richterliche Tätigkeit aus. Anfang 1940 trat er in die Dienste der Geheimen Staatspolizei und übernahm bei der Düsseldorfer StapoLeitstelle die Abteilung II „Innere Sicherheit“. Hunsche wechselte im November 1941 zum Reichssicherheitshauptamt in das von Adolf Eichmann geleitete Dezernat IV B 4, wo er unter dem Juristen Dr. Friedrich Suhr (1907–1946) Unterdezernent und Sachgebietsleiter für Rechtsfragen wurde. Sein Tätigkeitsschwerpunkt betraf vor allem die Bearbeitung von Staatsangehörigkeitsfragen, die im Zug der elften Durchführungsverordnung zum Reichsbürgergesetz auftraten. In enger Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt musste ein juristisches Verfahren entwickelt werden, mit dem Juden aus insgesamt fünfzehn europäischen Staaten deportiert werden konnten, ohne dabei außenpolitische Verwicklungen heraufzubeschwören.183 Neben der Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit drehte sich Hunsches Arbeit vornehmlich um die Einziehung des Vermögens der in die Vernichtungslager abgeschobenen Juden. Außerdem oblag Hunsche die Aufsicht über die vermögensrechtlichen Verhältnisse der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland.184 Im Sommer 1942 181 Siehe zu Hunsches Vita vor allem die Angaben in seinem Nachkriegsprozess vor dem Frankfurter Schwurgericht, in: Justiz und NS-Verbrechen, Bd. 33, 2005, S. 17–21 und S. 65–71 sowie Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich, Frankfurt a.M. 2003, S. 275. 182 Gebhard R. Keuffel, Hg., 120 Jahre Verein Deutscher Studenten, Tübingen 2003, S. 204. Eine ganze Reihe weiterer prominenter Mitglieder des Tübinger VDSt sind in dieser Festschrift mit einer Kurzbiographie vertreten: Gerhard Kittel (S. 175–177), Hanfried Lenz, der Sohn des Rassenhygienikers Fritz Lenz (S. 177–180), der spätere Bischof Kurt Scharf (S. 182–187), der Historiker Kurt Borries (S. 196f.), der Neutestamentler Martin Dibelius (S. 198), der Jurist Hans Gerber (S. 201), der spätere württembergische Kultusminister Wilhelm Hahn (S. 201f.), der Wirtschaftspolitiker Oswald Lehnich (S. 209) sowie Gustav Adolf Scheel (S. 214f.). 183 Ein diesbezüglicher Erlass Heydrichs vom 5.3.1943 ging auf die Vorarbeiten Suhrs und Hunsches zurück. Justiz und NS-Verbrechen, Bd. 33, 2005, S. 20. 184 Ebd., S. 19.
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zum Regierungsrat ernannt, übernahm Hunsche im November gleichen Jahres das Aufgabengebiet Friedrich Suhrs, als dieser mit der Leitung des Einsatzkommandos 4b der Einsatzgruppe C betraut wurde. Gemeinsam mit Adolf Eichmann, Rudolf Bilfinger, Erhard Wetzel und anderen Judenexperten nahm Hunsche am 27. Oktober 1942 an der dritten „Endlösungskonferenz“ teil, auf der die Frage der Sterilisation fortpflanzungsfähiger Mischlinge 1. Grades vertieft wurde.185 Als im Mai 1943 wegen der Gefahr von Bombenangriffen auf Berlin die große Judenkartei des Reichssicherheitshauptamtes nach Prag ausgelagert wurde, ging auch ein Teil des Personals nach Prag, darunter Hunsche. Im März 1944 gehörte er dem Sondereinsatzkommando Eichmann an, das nach dem deutschen Einmarsch in Ungarn die Deportation und Vernichtung der ungarischen Juden ins Werk setzte. Als Eichmanns Rechtsberater für Judenfragen hatte er die entsprechenden Gespräche mit der ungarischen Regierung zu führen, die dazu gebracht werden sollte, nicht nur die Judengesetzgebung des Deutschen Reiches, sondern auch dessen radikale Methoden bei der Lösung der „Judenfrage“ zu übernehmen. Ab dem 15. Mai 1944 gingen zunächst vier Güterzüge am Tag mit jeweils etwa 3000 Juden nach Auschwitz ab. Von dem jüdischen Gemeindeführer Rudolf Kastner (Kasztner, 1906–1957) auf die von den Deportierten zu erduldenden Qualen hingewiesen, entgegnete Hunsche: „Hören Sie endlich mit Ihren Greuelmärchen auf. Ich bin der Sache nachgegangen. Hier sind die Berichte. Es sind höchstens 50–60 Personen, die pro Transport sterben.“186 Bis zum 9. Juli 1944 wurden auf diese Weise in weniger als zwei Monaten 437.402 ungarische Juden nach Auschwitz verbracht, von denen 300.000 sofort nach ihrer Ankunft umgebracht wurden. Als der ungarische Reichsverweser Miklós Horthy (1868– 1957) unter dem Eindruck des sowjetischen Vormarschs Anfang Juli 1944 einen Deportationsstopp erließ, konnten Eichmanns Männer nur noch im Geheimen und in eigener Regie den „Abschub“ der Juden organisieren. Die dabei veranlasste Verbringung von 1200 Insassen aus dem bei Budapest gelegenen Sammellager Kristarcsa Mitte Juli nach Auschwitz bildete später den Hauptanklagepunkt in Hunsches Gerichtsverfahren. Nach Beendigung seines Einsatzes in Ungarn kehrte Hunsche zunächst nach Berlin zurück, wo er die Evakuierung seiner Dienststelle nach Hof vorbereitete und belastendes Aktenmaterial verbrannte. Ende April 1945 floh er nach Altaussee, wo sich bereits Eichmann und einige seiner eng185 Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1999, S. 443f. Die Wortwahl so bei Hilberg. 186 Ebd., S. 914. Siehe dazu auch den Artikel „Judenvernichtung“, in: Der Spiegel vom 29.4.1964, S. 38.
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sten Mitarbeiter sowie hohe SS-Führer und die rumänische Exilregierung aufhielten.187 Am 5. September 1945 wurde Hunsche von den amerikanischen Militärbehörden verhaftet und bis April 1946 interniert. Danach büßte er bis zum 17. August 1948 eine Gefängnisstrafe ab. Da Hunsche in seinem Entnazifizierungsverfahren am 7. Oktober 1948 lediglich zum Mitläufer erklärt wurde, konnte er die Wiederzulassung als Rechtsanwalt betreiben, die er 1954 erreichte. Danach eröffnete er im westfälischen Datteln eine Rechtsanwaltskanzlei, bevor er 1957 erneut in Haft genommen und 1962 zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. In einem erneuten Verfahren am Frankfurter Schwurgericht wurde das Urteil jedoch aufgehoben und am 26. August 1969 in eine zwölfjährige Haftstrafe wegen Beihilfe zum Mord umgewandelt.188 Das Fachgebiet von Hans Reichle (1910–1994), einem weiteren SDMitarbeiter, der an der Universität Tübingen studiert hatte, war indes nicht die Jurisprudenz, sondern Latein, Griechisch, Französisch und Englisch. Reichle verband eine freundschaftliche Beziehung mit Eugen Steimle, die das Jahr 1945 überdauerte.189 In dem von Steimle angeführten SDLeitabschnitt Stuttgart arbeitete Reichle als Leiter der Abteilung II. Während der Auseinandersetzungen um den württembergischen Landesbischof Wurm, der sich der Eingliederung in die von den Deutschen Christen verlangte evangelische Reichskirche verweigerte, hatte sich Reichle im November 1934 für Wurm eingesetzt und als SA-Führer die Tübinger Theologiestudenten für eine Solidaritätskundgebung mobilisiert. Am 11. November 1934 fuhr er mit 450 Studenten nach Stuttgart, wo sie von Wurm in der Leonhardskirche mit dem Ruf „Salve ecclesia militans“ begrüßt wurden, auf den sie mit dem „Deutschen Gruß“ antworteten.190 Aufgrund der großen Unterstützung für Wurm konnte dieser seine Amtsgeschäfte bereits am 20. November 1934 wieder aufnehmen. Nach Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft wurde Reichle 1955 Lehrer am Tübinger Keplergymnasium.191 Ob Reichle in einem darüber hinausgehenden Sinn zu dem von Rapp angesprochenen Personenkreis gehörte, ist unklar. 187
Justiz und NS-Verbrechen, Bd. 33, 2005, S. 21. Ebd., S. 21 und S. 64f. 189 Ich danke Frau Berthild Reichle für Auskünfte über die Beziehung ihres Mannes zu Steimle. 190 So Ernst Bock (Feste Burg im Sturm der Zeit, S. 66f.), der Reichles SA-Sturm angehörte. Einige Tage später sah sich Reichsbischof Müller genötigt, die kommissarisch eingesetzte Kirchenleitung aus Stuttgart wieder abzuberufen. Sein Rechtswalter August Jäger, der Wurms Absetzung betrieben hatte, war bereits am 29.10.1934 zurückgetreten. 191 Siehe den Nachruf im Schwäbischen Tagblatt vom 30.6.1994, S. 27: Der Herr des Rings. Zum Tode von Kepi-Oberstudiendirektor Hans Reichle. 188
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Mit Sicherheit stand Georg Leibbrandt (1899–1982) nicht auf Rapps Liste, obwohl er zeitweise in Tübingen studierte und als Teilnehmer der Wannsee-Konferenz und hochrangiger Mitarbeiter im Ministerium für die besetzten Ostgebiete maßgeblich an der Ermordung der europäischen Juden beteiligt war. Leibbrandt hatte ab 1920 in Marburg, Tübingen, Leipzig und London ein Studium der Theologie, Philosophie und Volkswirtschaft absolviert und sich während seiner Tübinger Zeit der christlichen Studentenverbindung Wingolf angeschlossen.192 Leibbrandt, der neben Russisch auch Ukrainisch sprach, wurde zum wichtigsten Russlandexperten Alfred Rosenbergs. Im Außenpolitischen Amt der NSDAP leitete er die Ostabteilung, und im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete übernahm er im Juli 1941 die wichtige Hauptabteilung I „Politik“. Wilhelm Kinkelin (1896–1990), im Ostministerium Leiter der Abteilungen I/3 (Ukraine) und I/7 (Volkstums- und Siedlungspolitik) sowie einer von Leibbrandts Untergebenen, hatte in Tübingen und München Medizin studiert und Ende 1924 an der Eberhard Karls Universität sein Staatsexamen abgelegt.193 Nach der Promotion zum Dr. med. in Tübingen im Jahr 1926 arbeitete Kinkelin bis 1928 als Assistenzarzt am Krankenhaus in Heidenheim an der Brenz. Danach eröffnete er in Gönningen bei Pfullingen eine Arztpraxis. Als frühes Mitglied des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes trat Kinkelin im September 1930 in die SA und im April 1931 in die NSDAP ein. Zuvor hatte er sich aber schon seit etlichen Jahren im Umfeld der Pfullinger Nationalsozialisten bewegt. Zum 1. Januar 1934 wurde Kinkelin in das Tübinger Erbgesundheitsgericht berufen, wo er über die Zwangssterilisation von so genannten Erbkranken, Minderwertigen und Gemeinschaftsunfähigen zu befinden hatte.194 Im Mai 1935 gab er seine Arztpraxis auf und ging nach Berlin in den Stab des Reichsbauernführers Richard Walther Darré (1895–1953). Dort übernahm er verschiedene Funktionen, unter anderem die Schriftleitung der Monatsschrift für 192 Siehe zu Leibbrandts Vita Eric J. Schmaltz, Leibbrandt, Georg, in: Haar und Fahlbusch, Hg., Handbuch der völkischen Wissenschaften, S. 370–373 und ders. und Samuel D. Sinner, The Nazi ethnographic research of Georg Leibbrandt and Karl Stumpp in Ukraine, and its North American legacy, in: Ingo Haar und Michael Fahlbusch, Hg., German scholars and ehtnic cleansing, 1920–1945, New York 2005, S. 51–85 sowie Kurt Pätzold und Erika Schwarz, Tagesordnung: Judenmord. Die Wannsee–Konferenz am 20. Januar 1942, Berlin 1992, S. 225–227. 193 Siehe zu Kinkelin Hermann Taigel, ‚Vom starken Bauernblut und dem nährenden Heimatboden‘. Wilhelm Kinkelin, in: Beiträge zur Pfullinger Geschichte, H. 10, 1999, S. 37–67 und Andreas Zellhuber, ‚Unsere Verwaltung treibt einer Katastrophe zu...‘. Das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete und die deutsche Besatzungsherrschaft in der Sowjetunion 1941–1945, München 2006, S. 108. 194 Taigel, ‚Vom starken Bauernblut und dem nährenden Heimatboden‘, S. 38f.
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Blut und Boden Odal. Gleichzeitig übte Kinkelin Leitungsaufgaben im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS aus. Zu diesem Zweck war er am 1. Januar 1936 im Rang eines Standartenführers in die SS übernommen worden.195 Im Januar 1937 wurde Kinkelin zum stellvertretenden Kurator des SS-Ahnenerbes berufen, doch schied er nach internen Querelen zusammen mit Darré im Februar 1938 wieder aus. Der im Mai 1940 zum SS-Oberführer beförderte Kinkelin arbeitete ab Juli 1943 als Abteilungsleiter im Ostministerium Alfred Rosenbergs. Auf Vorschlag Gottlob Bergers wurde er am 21. Juni 1943 zum SS-Brigadeführer und Führer im Stab des SSHauptamtes befördert und am 18. November 1943 zum Ministerialdirigenten im Ostministerium ernannt.196 Kinkelin unterstützte Bergers Bemühungen, ukrainische Freiwillige für die Waffen-SS zu gewinnen und ein „Polizeiregiment Galizien“ aufzustellen. Auch die Betreuung der Volksdeutschen in der Ukraine fiel in das Aufgabengebiet Kinkelins. Nach Kriegsende stellte er sich im September 1945 in Gönningen der Polizei und wurde daraufhin bis Februar 1946 im Sammellager in Balingen knapp 40 Kilometer südlich von Tübingen interniert. Währenddessen hatte er sicherlich Kontakt mit Gerhard Kittel, der sich von November 1945 bis Oktober 1946 im Balinger Lager befand und dort auch als Lagerpfarrer tätig war.197 Weil Kinkelin trotz seiner hochrangigen Funktionen in seinem Entnazifizierungsverfahren im Februar 1949 lediglich als „minderbelastet“ eingestuft wurde, konnte er noch im gleichen Jahr nach Gönnigen zurückkehren und seine Arztpraxis wieder eröffnen. Am Ende der 1960er Jahre zog er nach Pfullingen um, wo er sich als Heimatforscher einen Namen machte und 1990 im Alter von 94 Jahren starb.198 Leibbrandt hatte sich noch weitaus mehr zu Schulden kommen lassen als Kinkelin. Als Leiter des Sonderstabes Ost beteiligte er sich 1941 an führender Stelle am Kunstraub und der „Sicherstellung herrenlosen jüdischen Besitzes“ durch den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (ERR).199 Am 21. Januar 1942 vertrat Leibbrandt das Ostministerium bei der WannseeKonferenz und organisierte die acht Tage später im Dienstgebäude des Ostministeriums in der Berliner Rauchstraße abgehaltene erste Nachfolgekonferenz. Die Leitung hatte er aber an Otto Bräutigam (1895–1992) delegiert, der auf Vorschlag Leibbrandts zum Verbindungsführer zwischen 195
Ebd., S. 40. Ebd., S. 42. 197 UAT, 126/31, fol. 6. 198 Taigel, ‚Vom starken Bauernblut und dem nährenden Heimatboden‘, S. 43. 199 Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich, S. 364. Der Sonderstab Vorgeschichte im ERR wurde von dem früheren Tübinger Archäologen Hans Reinerth (1900–1990) angeführt. 196
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dem Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete und dem Auswärtigen Amt bestellt worden war. Bei dieser Besprechung am 29. Januar 1942 suchte man mit einem weit gefassten Judenbegriff möglichst viele „Judenmischlinge“ in die in der Vorwoche am Großen Wannsee besprochene „Endlösung der Judenfrage“ einzubeziehen. Zu den siebzehn Teilnehmern dieses ersten Nachfolgetreffens gehörten die bereits erwähnten Bilfinger, Suhr und Wetzel, aber auch der Berliner Rassenanthropologe Eugen Fischer,200 der wenig später mit Kittel zusammen ein Buch über das antike Weltjudentum publizieren sollte. Kittel und Leibbrandt kannten sich überdies vom Reichsparteitag des Jahres 1938, bei dem Kittel einen Teil der Parteitagsausstellung „Europas Schicksalskampf im Osten“ gestaltet hatte. In dem von Leibbrandt herausgegebenen Sammelband Europa und der Osten veröffentlichte Kittel 1939 einen Artikel über den „Einbruch des Orients“, in dem er seinen Ausstellungsbeitrag thematisierte. Wenige Monate vor der Wannsee-Konferenz mischte sich Leibbrandt Ende Oktober 1941 in die Auseinandersetzung zwischen Walter Stahlecker und dem Reichskommissar Ostland, Hinrich Lohse, über die Art und Weise der Durchführung des Holocaust ein. Dabei schrieb Leibbrandt am 31. Oktober 1941 an Lohse, dass er von einer Beschwerde des Reichssicherheitshauptamtes über ihn wegen seines Verbots der Erschießung von lettischen Juden in Libau erfahren habe. Auf Leibbrandts dringende Bitte um Berichterstattung antwortete Lohse am 15. November, dass er die „wilden Judenexekutionen in Libau“ untersagt hätte, weil sie „in der Art ihrer Durchführung nicht zu verantworten waren“. Außerdem machte sich Lohse, der nicht prinzipiell gegen die Ermordung der Juden eingestellt war, als Vertreter der Zivilverwaltung Sorgen über den dadurch verursachten Arbeitsausfall, der sich nachteilig auf die Wirtschaftskraft wichtiger Betriebe auswirken musste. Daran schloss er die Gegenfrage an: „Ich bitte, mich zu unterrichten, ob Ihre Anfrage vom 31. Oktober als dahingehende Weisung aufzufassen ist, daß alle Juden im Ostland liquidiert werden sollen? Soll dieses ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht und wirtschaftliche Interessen (z.B. der Wehrmacht an Facharbeitern in Rüstungsbetrieben) geschehen? Selbstverständlich ist die Reinigung des Ostlandes eine vordringliche Aufgabe; ihre Lösung muß aber mit den Notwendigkeiten der Kriegswirtschaft in Einklang gebracht werden.“201
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Siehe Czesɫaw Madajczyk, Hg., Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan, München 1994, S. 39 und zur Rolle Leibbrandts Ernst Piper, Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München 2007, S. 592f. 201 Pätzold und Schwarz, Tagesordnung: Judenmord, S. 95f. und Angrick und Klein, Die ‚Endlösung‘ in Riga, S. 283.
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Otto Bräutigam übermittelte Lohse am 18. Dezember 1941 die bejahende Antwort Leibbrandts: „In der Judenfrage dürfte inzwischen durch mündliche Besprechungen Klarheit geschaffen sein. Wirtschaftliche Belange sollen bei der Regelung des Problems grundsätzlich unberücksichtigt bleiben.“202 Wegen interner Schwierigkeiten zwischen Rosenbergs Dienststelle und der SS wurde Leibbrandt am 10. August 1943 durch den Chef des SSHauptamtes Gottlob Berger abgelöst. Nach dem Krieg wurde Leibbrandt zwar angeklagt, doch das Landgericht Nürnberg stellte das Verfahren am 10. August 1950 ohne Schuldspruch wieder ein. Über das weitere Leben Leibbrandts, der sich im süddeutschen Unterweissach 35 Kilometer nordöstlich von Stuttgart niederließ, ist wenig bekannt. Ein Spiegel-Artikel erwähnte im September 1966 lediglich, dass er als Leiter des Bonner Büros der bundeseigenen Salzgitter AG tätig sei.203 Eine wichtige Rolle als Verbindungsglied zwischen der NSDAP und dem NS-Studentenbund in Tübingen, aber auch zwischen den verschiedenen SD-Dienststellen in Tübingen, Stuttgart und Berlin spielte Ernst Weinmann (1907–1947), der spätere Oberbürgermeister der Universitätsstadt Tübingen.204 Weinmann stand seit 1936 der Tübinger Außenstelle des SDLeitabschnitts Stuttgart vor. Obwohl er am 28. Juli 1939 für zwölf Jahre zum Oberbürgermeister ernannt wurde, galt er seit 1941 gleichzeitig als hauptamtlicher SD-Mitarbeiter.205 Wie sein zwei Jahre jüngerer Bruder ging Ernst Weinmann in dem 60 Kilometer südwestlich von Tübingen gelegenen Rottweil zur Schule. Bereits 1925 hatte er sich an der Gründung der Rottweiler Ortsgruppe der NSDAP beteiligt und auch in Tübingen machte er sich beim Aufbau der NS-Partei verdient. Es sei, wie es in einer späteren Beurteilung hieß, nicht zuletzt seinen Bemühungen zu danken gewesen, dass die Neuaufrichtung der NSDAP in den Jahren von 1927 bis 1930 von fünf auf rund 60 Parteigenossen erkämpft werden konnte.206 Ab 202
Ebd. „Wannsee-Konferenz. Hacke empfohlen“, Der Spiegel vom 19.9.1966, S. 62. 204 Siehe zu Weinmann vor allem seine BDC-Akten im Bundesarchiv sowie drei Artikel von Hans Joachim Lang, ‚Umsiedlungskommisar‘ in Serbien. Am 22. Dezember 1946 wurde Tübingens OB zum Tode verurteilt (Schwäbisches Tagblatt vom 21.12.1991), Im eigenem Interesse total evakuiert. Ein Tübinger OB war an Kriegsverbrechen in Serbien beteiligt (Schwäbisches Tagblatt vom 28.2.1991) und Ernst Weinmann: Tübinger Oberbürgermeister und Belgrader Deportationsminister, in: Benigna Schönhagen, Hg., Nationalsozialismus in Tübingen, Tübingen 1992, S. 208–220. 205 So der Amtschef I des Reichssicherheitshauptamtes, SS-Standartenführer Erich Ehrlinger, in seinem Vorschlag vom 3.10.1944, Weinmann zum SS-Obersturmführer zu ernennen. Bundesarchiv Berlin, BDC, SSO Ernst Weinmann. 206 Schönhagen, Tübingen unterm Hakenkreuz, S. 43 und Lang, Ernst Weinmann: Tübinger Oberbürgermeister und Belgrader Deportationsminister, S. 209. 203
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dem Sommersemester 1928 studierte Ernst Weinmann an der Eberhard Karls Universität Zahnmedizin. Währenddessen gehörte er der Landsmannschaft Ghibellinia an. Nach dem ersten Staatsexamen im Herbst 1931 folgte, drei Jahre vor seinem Bruder Erwin, im Dezember 1931 die Promotion mit einer gleichfalls nur etwa 25-seitigen medizinischen Doktorarbeit.207 Der von 1932 bis 1939 als Zahnarzt in Tübingen praktizierende Ernst Weinmann betätigte sich politisch vor allem in der NSDAP und in der SA, der er bis 1938 angehörte, als er relativ spät im Rang eines Obersturmführers zur SS überwechselte. Der zeitweise auch als Ortsgruppenleiter und stellvertretender Kreisleiter Amtierende gehörte seit Mai 1933 für die NSDAP dem Tübinger Gemeinderat an, bis 1935 amtierte er auch als Fraktionsführer.208 Unter gleichzeitiger Ernennung zum SS-Sturmbannführer wurde Weinmann im April 1941 in das Reichssicherheitshauptamt übernommen. Bereits im Vorjahr hatte er sich zweimal für einige Zeit in Jugoslawien aufgehalten und bei der in Angriff genommenen Um- bzw. Aussiedlung von Slowenen mitgewirkt, die Platz machen sollten für eine Besiedlung durch Deutsche. Wenige Tage nach dem deutschen Überfall auf Jugoslawien am 6. April 1941 amtierte Weinmann bereits ab dem 18. April als Referent für Umsiedlungswesen beim Militärbefehlshaber in Serbien. Zum andern war Weinmann als Angehöriger und ab 1943 als stellvertretender Leiter der Einsatzgruppe Serbien in die Maßnahmen zur Ermordung der serbischen Juden eingebunden. Schon seit April 1941 mussten sich alle Juden unter Androhung der Todesstrafe registrieren lassen. Als es nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 zu einer verstärkten Partisanentätigkeit serbischer Widerstandskämpfer kam, führte dies zu einer gravierenden Verschärfung der Lage der Juden und zur systematischen Festnahme aller jüdischen Männer, die entweder Zwangsarbeit verrichten mussten oder in die rasch errichteten Konzentrationslager verbracht wurden. Bis Dezember 1941 ermordeten deutsche Militäreinheiten die männlichen Juden, bis Mai 1942 auch die jüdischen Frauen und Kinder in Serbien. Auf Sabotageakte der Serben reagierten die deutschen Besatzer völkerrechtswidrig mit Geiselerschießungen, die als „Sühneleistung“ im Verhältnis 1:100 durchgeführt wurden. 207 Ernst Weinmann, Klinische Untersuchungen über die zahnärztliche Diathermie, Diss. Tübingen 1931 (27 S.), Erwin Weinmann, Ein Fall von Lipodystrophia progressiva, Diss. Tübingen 1934 (23 S.). 208 Auf einem in der Tübinger Chronik am 6.5.1933 abgedruckten Foto der NS-Fraktion sind neben Weinmann u.a. Kreisleiter Baumert und Studentenpfarrer Pressel zu sehen. Ein Abdruck des Fotos bei Lang, Ernst Weinmann: Tübinger Oberbürgermeister und Belgrader Deportationsminister, S. 208.
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Wie der Chef der deutschen Militärverwaltung in Belgrad, Staatsrat Dr. Harald Turner (1891–1947), am 17. Oktober 1941 an den Höheren SS- und Polizeiführer Richard Hildebrandt (1897–1952) schrieb, sei es keine schöne Arbeit gewesen, 600 Männer an die Wand zu stellen, dann 2000 und kürzlich noch einmal 1000.209 Einen Tag später kam Friedrich Suhr, Otto Hunsches Vorgesetzter im Referat IV B 4 des Reichssicherheitshauptamtes, aus Berlin nach Jugoslawien, um bei der Ermordung der serbischen Juden mitzuwirken. Weitere zwei Tage später trafen am 20. Oktober Wilhelm Fuchs, Harald Turner, Ernst Weinmann und der ebenfalls aus Berlin angereiste Vertreter des Auswärtigen Amtes, Franz Rademacher (1906–1973), in Belgrad zusammen, um die Vernichtung der noch übrig gebliebenen Juden zu besprechen. Im Anschluss daran verfasste Rademacher einen Bericht „über das Ergebnis meiner Dienstreise nach Belgrad“, deren Zweck in der „Abschiebung von 8000 Juden“ bestand, wie es in seinem Dienstreiseantrag am 15. Oktober geheißen hatte.210 Seinem Reisebericht zufolge prüfte Rademacher, „ob nicht das Problem der 8000 jüdischen Hetzer, deren Abschiebung von der Gesandtschaft gefordert wurde, an Ort und Stelle erledigt werden könne“.211 Im Verlauf der Aussprache hätte sich aber ergeben, dass es sich gar nicht um 8000, sondern nur um 4000 Juden handelte, von denen überdies bereits 3500 erschossen worden seien. Außerdem musste sich Rademacher die Klagen Turners anhören, der entgegen den Wünschen des Auswärtigen Amtes die Abschiebung der Juden nach Rumänien, in das Generalgouvernement oder in den Osten, und nicht ihre Ermordung vor Ort, favorisierte. Rademacher fuhr fort: „Ins einzelne gehende Verhandlungen mit den Sachbearbeitern der Judenfrage, Sturmbannführer Weimann [sic!] von der Dienststelle Turner, dem Leiter der Staatspolizeileitstelle, Standartenführer Fuchs und dessen Judenbearbeitern ergaben: 1) 209
„[U]nd zwischendurch habe ich dann in den letzten 8 Tagen 2000 Juden und 200 Zigeuner erschießen lassen nach der Quote 1 : 100 für bestialisch hingemordete deutsche Soldaten und weitere 2200, ebenfalls fast nur Juden, werden in den nächsten 8 Tagen erschossen. Eine schöne Arbeit ist das nicht! Aber immerhin muß es sein, um einmal den Leuten klar zu machen, was es heißt, einen deutschen Soldaten überhaupt nur anzugreifen, und zum andern löst sich die Judenfrage auf die Weise am schnellsten.” Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, S. 733. 210 Rademachers Bericht vom 25.10.1941 ist abgedruckt bei Léon Poliakov und Joseph Wulf, Das Dritte Reich und seine Diener, Wiesbaden 1989 (Erstausgabe 1956), S. 33–37. Ein Faksimile seines Dienstreiseantrags vom 15.10.1941, ebd., S. 35. Siehe zu Rademachers Dienstreise nun auch Eckart Conze u.a., Hg., Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010, S. 254f. 211 Ebd., S. 33.
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Die männlichen Juden sind bis Ende dieser Woche erschossen, damit ist das in dem Bericht der Gesandtschaft angeschnittene Problem erledigt. 2) Der Rest von etwa 20 000 Juden (Frauen, Kinder und alte Leute) sowie rund 1500 Zigeuner, von denen die Männer ebenfalls noch erschossen werden, sollte im sogenannten Zigeunerviertel der Stadt Belgrad als Ghetto zusammengefasst werden. Die Ernährung für den Winter könnte notdürftig sichergestellt werden.“212
Der Judenreferent des Auswärtigen Amtes merkte noch an, dass sich die Zusammenarbeit mit den Judensachbearbeitern von Fuchs, namentlich mit Ernst Weinmann, weitaus besser gestaltet habe als mit Turner. Die Aussprache mit Weinmann habe ergeben, dass „bei den unmittelbaren Sachbearbeitern und ausführenden Organen eine örtliche Lösung der ganzen Frage im Gegensatz zu Turner selbst optimistisch beurteilt werde“.213 Weil aber die in Aussicht genommene Donauinsel Mitrovica unter Wasser stand, wurde die Internierung der Juden in Semlin (Zemun) auf der anderen Seite der Save vorgenommen. Semlin lag zwar auf kroatischem Gebiet, doch die kroatische Regierung willigte ohne Zögern ein, die Juden dort in einem Lager zusammenzusperren. Nachdem Anfang März 1942 der angeforderte Gaswagen aus Berlin eingetroffen war, begann man damit, jeden Tag, Sonn- und Feiertage ausgenommen, eine bestimmte Zahl jüdischer Frauen und Kinder aus dem Lager zu holen und auf die serbische Seite zu fahren. Direkt an der Save wurde der Schlauch mit dem Wageninneren verbunden, „und das Vehikel fuhr mit seinen sterbenden Juden durch die Stadt zu einem Schießplatz, wo bereits Gräber für die Leichen ausgehoben waren“.214 Hatte die Zahl der Lagerinsassen im März noch 5000–6000 Menschen betragen, fiel sie bis zum April auf die Hälfte. Am 10. Mai 1942 lebte niemand mehr. Der seit dem 6. Januar 1942 als neuer Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD amtierende Emanuel Schäfer (1900–1974) konnte deshalb befriedigt nach Berlin melden, dass mit Ausnahme der in Mischehe lebenden Juden die „Judenfrage“ in Serbien gelöst sei. Den nicht mehr benötigten Gaswagen schickte Schäfer nach Berlin zurück. Er sollte in Weißrussland zum Einsatz kommen.215 Zu diesem Zeitpunkt befand sich Weinmann nicht mehr in Belgrad. Wo er im Sommer 1942 genau Dienst tat, ist nicht bekannt. Die Verleihung des Ehrenzeichens der Bulgarischen Infanterie am 8. August 1942 legt aber nahe, dass er sich weiterhin im Südosten Europas aufhielt. Die lange Ab212
Ebd., S. 34. Die falsche Schreibung von Weinmanns Namen war wohl der Grund dafür, warum seine Beteiligung an dieser Aktion lange Zeit unbekannt blieb. 213 Ebd., S. 37. 214 Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, S. 736. 215 Ebd., S. 737.
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wesenheit des Tübinger Oberbürgermeisters von seinen Dienstgeschäften veranlasste die Stadtverwaltung mehrfach, die Rückkehr Weinmanns zu erwirken, ohne Erfolg. Weinmann kehrte erst Ende Oktober 1944 nach Tübingen zurück, als die Kriegslage jedwede Umsiedlungsaktivitäten unmöglich gemacht hatte. Seine weitere Amtszeit beschränkte sich indes auf wenige Monate, da er sein Rathaus bereits am 17. April 1945 wieder verließ, um sich bei Herannahen der französischen Militärverbände der kämpfenden Truppe anzuschließen. Im Juni 1945 setzte er sich zunächst ins Allgäu ab, kehrte aber im Juli nach Tübingen zurück, um sich zu stellen. Das erwies sich als schwerer Fehler, denn die französische Militärverwaltung internierte ihn zunächst in Reutlingen und lieferte ihn im April 1946 nach Jugoslawien aus. Von einem Belgrader Militärgericht im Dezember 1946 zum Tod verurteilt, wurde er kurz darauf am 20. Januar 1947 gehängt. So wenig Ernst Weinmann als Zahnarzt und Oberbürgermeister dem Rand der deutschen Gesellschaft zugerechnet werden kann, so wenig der frühere Tübinger Polizeipräsident Dr. jur. Wilhelm Harster, der am 24. Februar 1967 wegen der Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mehr als 82.000 Fällen unter Anrechnung einer bereits in den Niederlanden verbüßten Strafe zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Der aus dem niederbayerischen Kehlheim stammende Harster hatte in den zwanziger Jahren in München und Erlangen Jura studiert und 1927 in Erlangen promoviert.216 Ab 1928 arbeitete er als Regierungsassessor bei der Kriminalpolizei in Stuttgart, wo bereits sein Vater vor dem Ersten Weltkrieg am Aufbau der Königlich Württembergischen Landespolizeistelle mitgewirkt hatte. Harster wechselte im Frühjahr 1931 zur politischen Abteilung des Polizeipräsidiums Stuttgart, um wenig später im Juli 1931 zum Regierungsrat ernannt zu werden. Nach der Versetzung des als liberal geltenden und von den Nationalsozialisten angefeindeten Tübinger Polizeidirektors, Dr. Hermann Ebner (1896–1964), übernahm Harster im Januar 1934 zunächst kommissarisch die Leitung des Polizeipräsidiums in Tübingen.217 Ende 1934 wurde Harster dann endgültig übernommen und rückte zum 1. Oktober auf die Planstelle des Polizeidirektors ein, blieb aber zugleich stellvertretender Leiter des Württembergischen Politischen Landespolizeiam216 Zu Harsters Vita siehe die Biogramme bei Friedrich Wilhelm, Die württembergische Polizei im Dritten Reich, Stuttgart 1989, S. 244–247 und ders., Die Polizei im NS-Staat, Paderborn 1997, S. 210f. sowie die Angaben in Justiz und NS-Verbrechen, Bd. 25, 2001, S. 397–400. 217 Nach der „auf Betreiben regionaler Parteifunktionäre“ erfolgten Ablösung Ebners wurde dieser als Oberamtsverweser nach Herrenberg abgeschoben. Wilhelm, Die württembergische Polizei im Dritten Reich, S. 242f.
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tes.218 Die über Harsters Ernennung berichtende Tübinger Chronik hob besonders seinen guten Kontakt zur einheimischen Bevölkerung hervor. Harster habe sich im Laufe des Jahres „durch sein leutseliges und umgängliches Wesen bald die Herzen der Tübinger erobert“.219 Am 29. Oktober 1935 schloss sich Harster, der im März 1933 in die NSDAP und im November 1933 in die SS eingetreten war, dem SD an. Der gleichermaßen politisch zuverlässige wie aufstiegsorientierte Harster wurde am 1. April 1937 als Regierungsrat auf den Reichshaushalt übernommen und zur Staatspolizeileitstelle nach Berlin versetzt.220 Nach dem Anschluss Österreichs wirkte Harster daran mit, in Österreich politische Sicherheitsstrukturen aufzubauen. Er selbst übernahm schon im März 1938 die Leitung der Staatspolizeileitstelle Innsbruck. Im Herbst 1939 kurz als Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Krakau verwandt, wurde Harster am Jahresende als IdS nach Kassel versetzt. Nach dem deutschen Einmarsch in die Niederlande am 10. Mai 1940 amtierte Harster ab dem 15. Juli als Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD. In der vom Reichskommissar Arthur Seyß-Inquart (1892–1946) eingesetzten Zivilregierung übernahm er unter dem Höheren SS- und Polizeiführer und Generalkommissar für das Sicherheitswesen Hanns Albin Rauter (1895–1949) die Verantwortung für den Polizeiapparat.221 In dieser Eigenschaft arbeitete Harster eng mit dem Reichssicherheitshauptamt zusammen, um die niederländischen Juden in die Lager im Osten abschieben zu können. Vor allem das am 28. August 1941 von Harster geschaffene Sonderreferat „J“ diente dazu, die Arbeit der seit sechs Monaten bestehenden Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Amsterdam in Richtung auf die Deportation der niederländischen Juden weiterzuentwickeln. Eine Organisationsverfügung Harsters vom gleichen Tag listete die einzelnen Arbeitsgebiete des Wilhelm Zöpf (geb. 1908, Todesdatum unbekannt) unterstehenden Sonderreferats „J“ auf.222 Nach der Wannsee-Konferenz 218
Ebd., S. 246. Dr. Harster kommt wieder. Die Polizeidirektorenstelle in Tübingen endgültig besetzt, Tübinger Chronik vom 24.12.1934. Der Bericht (mit Foto Harsters) erschien auf der gleichen Seite, auf der auch die antisemitische Antrittsvorlesung Karl Georg Kuhns über „Die Ausbreitung des Judentums in der antiken Welt“ besprochen wurde. 220 Wilhelm, Die Polizei im NS-Staat, S. 210. 221 Siehe zum Aufbau der sicherheitspolizeilichen Arbeit in den Niederlanden Guus Meershoek, Machtentfaltung und Scheitern. Sicherheitspolizei und SD in den Niederlanden, in: Paul und Mallmann, Hg., Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg, S. 383–402. 222 Demzufolge gehörte u.a. der „Arbeitseinsatz von Juden“, „die Hortung jüdischen Vermögens“, die Betreuung der verschiedenen jüdischen Organisationen und die „Durchschleusung von Juden als Vorausmassnahme für die kommende Aussiedlung“ zu den Aufgaben des Sonderreferats. Justiz und NS-Verbrechen, Bd. 25, 2001, S. 407–409. 219
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betrieb Harster eine weitere Verschärfung der antisemitischen Maßnahmen in den Niederlanden, die nun unmittelbar auf die Endlösung der „Judenfrage“ abzielten. Zu diesem Zweck richtete er analog zur Organisationsstruktur des Reichssicherheitshauptamtes ein eigenes Judenreferat IV B 4 ein, das als wichtigsten Tätigkeitsschwerpunkt die „Vorbereitung der Endlösung“ aufwies.223 In enger Kooperation mit Eichmanns Judenreferat in Berlin gelang es Harster und seinen Untergebenen, bis Kriegsende 107.000 Juden zu deportieren, von denen die allermeisten ermordet wurden. Der Vertreter des Auswärtigen Amtes beim Reichskommissariat, Otto Bene (1884–1973), machte am 25. Juni 1943 seinen Vorgesetzten in Berlin Meldung über den Stand der „Entjudung“ der Niederlande und zitierte dabei aus einem Geheimbericht Harsters: „In seinem Geheimbericht an den Reichskommissar schreibt der Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD wie folgt: Von den ursprünglich in den Niederlanden gemeldeten 140.000 Volljuden ist nun der 100.000 Jude aus dem Volkskörper entfernt worden (genaue Zahl etwa 102.000). Davon wurden bisher 72.000 zum Arbeitseinsatz nach dem Osten abgeschoben. Weitere 10.000 Juden haben das Land anderweitig verlassen (Abschiebungen in reichsdeutsche Konzentrationslager, in Internierungslager, Übersiedlung nach Theresienstadt, Auswanderung, Landesflucht). Fast 20.000 Juden sind zurzeit in den Lagern Westerbork, Vught und Barneveld konzentriert. Somit wurde in 11 Monaten die Entjudung der Niederlande annähernd zu drei Vierteln gelöst.“224
Zu den Opfern der maßgeblich von Harster verantworteten Deportationen gehörte auch die katholische Nonne und Philosophin Edith Stein, die wenige Tage nach einem kritischen Hirtenbrief der katholischen Bischöfe am 2. August 1942 verhaftet wurde.225 Doch nicht wegen ihres katholischen 223
Schreiben Harsters vom 3.2.1942 an verschiedene Dienststellen, ebd., S. 411f. Auch wenn Harster hinter den Terminus „Endlösung“ in Klammern die Spezifizierung „Durchschleusung durch die Zentralstelle für jüdische Auswanderung, Umsiedlungsaktionen, Lager Westerbork, Vorbereitung der Aussiedlung“ hinzusetze, besteht kein Zweifel daran, dass sich Harster über die wahre Bedeutung des Ausdrucks im Klaren war. 224 Justiz und NS-Verbrechen, Bd. 25, 2001, S. 487–489, das Zitat S. 487. 225 Siehe hierzu die Befragung Harsters durch Robert M. W. Kempner, in: ders., Edith Stein und Anne Frank. Zwei von Hunterttausend. Die Enthüllungen über die NSVerbrechen in Holland vor dem Schwurgericht in München, Freiburg 1968, S. 92 sowie Bob Moore, Victims and survivors. The Nazi persecution of the Jews in the Netherlands 1940–1945, London 1997, S. 128 und die historisch unbedarfte Studie von Waltraud Herbstrith, Edith Stein – ihr wahres Gesicht? Jüdisches Selbstverständnis, christliches Engagement, Opfer der Shoa, Berlin 2006, S. 111–118. Yaacov Lozowick schreibt (Hitlers Bürokraten, Zürich 2000, S. 200), dass Harster selbst den Befehl zur Verhaftung der ‚katholischen Juden‘ gab.
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Glaubens, sondern weil sie den deutschen Besatzern als ein Mitglied der „jüdischen Rasse“ galt, wurde Edith Stein am 7. August deportiert und zwei Tage später im Vernichtungslager in Auschwitz ermordet. Insgesamt ließen etwa 59.000 niederländische Juden ihr Leben in Auschwitz. Harster, der zweifellos einer der Hauptverantwortlichen für den Holocaust in den Niederlanden war, erhielt zur Belohnung für seine Arbeit am 9. November 1942 die auch finanziell lukrative Beförderung zum SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei.226 Im September 1943 wurde Harster als Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD nach Verona versetzt, um die Befreiung Norditaliens von Juden und Partisanen voranzutreiben. Er arbeitete dort unter anderem mit Martin Sandberger und Theodor Dannecker zusammen. Ihren Höhepunkt erreichte Harsters Karriere während des Dritten Reiches, als er am 9. November 1944 zum SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Polizei ernannt wurde. Am 12. Dezember 1944 folgte die Verleihung des Eisernen Kreuzes I. Klasse. Im Gegensatz zu seinen unmittelbaren Vorgesetzten in den Niederlanden Hanns Albin Rauter und Arthur Seyß-Inquart, die nach dem Krieg zum Tod verurteilt und 1946 in Nürnberg gehängt (Seyß-Inquart) bzw. im März 1949 in den Niederlanden erschossen (Rauter) wurden, kam Harster mit einer relativ milden Strafe davon. Am 23. März 1949 durch den Sondergerichtshof in Den Haag wegen Kriegsverbrechen zu zwölf Jahren Haft verurteilt, wurde er im Oktober 1955 entlassen und nach Deutschland abgeschoben. Nach einem erfolgreich durchlaufenen Entnazifizierungsverfahren und der Einstufung als „minderbelastet“ wurde er am 27. Oktober 1956 als Regierungsrat bei der Regierung von Oberbayern angestellt und dann auch zum Oberregierungsrat ernannt. Unter zunehmendem Druck der Öffentlichkeit ließ sich Harster im Juli 1963 pensionieren. Vier Jahre später wurde er schließlich vom Landgericht München II zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt. Paul Zapp (1904–1999) bildete in doppelter Hinsicht eine Ausnahme unter den bisher genannten Beispielen nationalsozialistischer Gewaltverbrecher aus dem Umfeld der Universität Tübingen. Er gehörte als bekennender „Neuheide“ weder der evangelischen noch der katholischen Kirche an. Zum andern rührten seine Kontakte zum Sicherheitsdienst der SS nicht von einer Zugehörigkeit zum NSDStB her. Vielmehr trat er als Generalsekretär der Deutschen Glaubensbewegung über Werner Best in eine nähere Beziehung zum SD. Unter Auslassung des Stuttgarter Zwischenschritts führte ihn sein Weg direkt von Tübingen zum SD-Hauptamt nach 226
Wilhelm, Die Polizei im NS-Staat, S. 256f. Harsters Jahreseinkommen stieg dadurch auf 19.000 Reichsmark. Ein Feldwebel, Oberwachtmeister oder Facharbeiter verdiente zu dieser Zeit etwa 2580 Reichsmark im Jahr. Ebd.
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Berlin. Obgleich Zapp nach 1933 als führendes Mitglied und Verkünder einer neuen Religion in Erscheinung trat, war er in einem normalen evangelischen Milieu aufgewachsen und sozialisiert worden. Bereits mit siebzehn Jahren hatte er sich dem Köngener Bund angeschlossen, einer Abspaltung der Schülerbibelkreisbewegung unter der Führung Jakob Wilhelm Hauers. Nach dem Abitur in Kassel begann Zapp eine kaufmännische Lehre bei der Deutschen Bank und arbeitete dann zwei Jahre im Geschäft seines Vaters mit, wo er wegen der misslichen wirtschaftlichen Lage aber 1928 wieder ausschied.227 Im Jahr darauf fand er bei Borsig in Berlin eine Anstellung. Ab 1931 studierte Zapp anderthalb Semester an der Universität Berlin Philosophie, Geschichte und Volkswirtschaft, bevor er 1932 eine Stelle als Verwaltungskorrespondent bei Shell annahm. Dort hörte er jedoch im April 1934 wieder auf, um sich noch enger seinem väterlichen Freund und Mentor Hauer anzuschließen. Zapp siedelte nach Tübingen über und wurde sowohl Hauers persönlicher Referent als auch Generalsekretär der Deutschen Glaubensbewegung, die sich im Juli 1933 zunächst als Dachverband und an Pfingsten des darauffolgenden Jahres als eigenständige neue Religion konstituiert hatte. Die Deutsche Glaubensbewegung trat zunächst mit dem Anspruch auf, neben der evangelischen und katholischen Kirche den Status einer gleichberechtigten dritten Konfession zu erlangen. Doch dann wollte man das Christentum in Deutschland insgesamt durch eine neue pagane Religion ersetzen. Ganz im Gegensatz zu diesen hochfliegenden Zielen fiel die Deutsche Glaubensbewegung aufgrund ihrer inneren Widersprüche schon im Frühjahr 1936 wieder auseinander und löste sich wenig später ganz auf. Während seiner Tübinger Tätigkeit als Generalsekretär trat Zapp, der mit seiner Frau der evangelischen Kirche erst im März 1934 den Rücken gekehrt hatte, auch als Schriftsteller deutschgläubiger Erbauungsliteratur in Erscheinung.228 Im Zuge seiner Bemühungen um eine staatliche Anerkennung der Deutschen Glaubensbewegung kam Hauer in Kontakt mit Werner Best, Reinhard Heydrich und Heinrich Himmler. Im Sommer 1934 wurde er selbst in die SS und den SD aufgenommen. Die SS-Führung versuchte ihrerseits, den von der deutschgläubigen Bewegung ausgehenden Impuls für die eigenen Ziele auszunützen. Sie verfolgte die Entwicklung der neuen Religion mit Skepsis und unsicher darüber, ob es sich bei der Deutschen Glaubensbewegung nicht lediglich um ein völkisches Außenseiterphäno227 Siehe zu Zapps Vita vor allem seine BDC-Akten im Bundesarchiv und die für seinen Prozess vor dem Landesgericht München I zusammengetragenen Daten, abgedruckt in Justiz und NS-Verbrechen, Bd. 39, 2005, S. 431–508. 228 Siehe dazu die Bibliographie.
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men mit der üblichen Tendenz zum religiösen Sektierertum handelte, das der ideologischen Geschlossenheit des NS-Staates nur abträglich sein konnte. Werner Best fiel die Aufgabe zu, die neue Religion im Blick zu behalten und ihre wertvollen Kräfte der SS zuzuführen. Zu diesen zählte auch Paul Zapp, der sich im Juli 1934 der SS und dem SD anschloss. Im Tübinger SS-Sturm 8/63 wurde er als Schulungsleiter tätig. Wie sein Mentor Hauer trat er erst 1937 der NSDAP bei. Als sich Anfang 1936 bei der Deutschen Glaubensbewegung Auflösungserscheinungen bemerkbar machten, wurde die Mitarbeit im SD für Zapp eine gute Möglichkeit, seine weltanschaulichen Interessen weiter zu verfolgen und seit Februar 1936 als Referent in der Hauptabteilung III des SD-Hauptamtes auch ein Gehalt dafür zu beziehen. Seine Aufgabe bestand zunächst darin, die von den Außenstellen eingehenden Berichte auf religiös-weltanschaulichem Gebiet zu bearbeiten. Später leitete Zapp in der Hauptabteilung II (SD-Inland) das Katholizismusreferat.229 Dieses war der weltanschaulichen Gegnerbekämpfung untergeordnet, in der Erich Ehrlinger als Abteilungsleiter zu seinen unmittelbaren Vorgesetzten gehörte. Ende 1937 wurde Zapp zum Leitabschnitt Breslau versetzt, wo er von November 1937 bis April 1940 für die weltanschauliche Ausbildung des SS- und SD-Nachwuchses in Schlesien, später für den Bereich des Generalgouvernements, zuständig wurde. Parallel dazu fand Zapp beim Anschluss Österreichs und des Sudetenlandes Verwendung.230 Zapps SS-Karriere verlief auf der üblichen Bahn vom Untersturmführer (30.1.1938) zum Obersturm-, Hauptsturm-, und Sturmbannführer (11.9.1938, 30.1.1939, 1.8.1940). Am 9. November 1942 erreichte er mit der Ernennung zum Obersturmbannführer seinen höchsten Dienstgrad in der SS. Bei Beginn des Polenfeldzuges wurde Zapp zunächst zum Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD nach Krakau abkommandiert, um ab Mai 1940 als Schulungsreferent im Rahmen des weltanschaulichen Unterrichts für die Anwärter des „Leitenden Dienstes“ in Berlin zu arbeiten.231 Ab Ok229
Wolfgang Dierker, Himmlers Glaubenskrieger. Der Sicherheitsdienst der SS, seine Religionspolitik und die ‚politische Religion‘ des Nationalsozialismus, in: Historisches Jahrbuch, 2002, S. 324 und ders. Himmlers Glaubenskrieger. Der Sicherheitsdienst der SS und seine Religionspolitik 1933–1941, Paderborn 2002, S. 213–217 und S. 376f. 230 Zur Erinnerung an den 13. März und den 1. Oktober 1938 erhielt Zapp sowohl die Ostmark- als auch die Sudetenland-Medaille. BArch Berlin, BDC SSO Paul Zapp. Worin seine Tätigkeit genau bestand, ist unklar. In Österreich war Zapp dem von Walter Stahlecker angeführten SD-Leitabschnitt Wien zugeordnet. 231 „Es handelte sich hierbei um die Ausbildung des Nachwuchses für den höheren Dienst im Reichssicherheitshauptamt. Die Teilnehmer waren ausgesuchte Nationalsozialisten, von denen man sich sicher war, daß sie voll und ganz hinter den Interessen der Machthaber des Dritten Reiches standen.“ Urteil vom 26.2.1970, a.a.O..
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tober 1940 unterrichtete Zapp in der 25 Kilometer nordöstlich von Berlin gelegenen SD-Führerschule Bernau. Hierbei bildete die Auseinandersetzung mit dem Judentum den Schwerpunkt seiner Schulungsarbeit.232 Ein im Archivzentrum für historische Dokumentation in Moskau aufgefundenes Schulungsexposé Zapps über die „Judenfrage“, das wohl Ende 1940 geschrieben und Anfang 1941 Heinrich Himmler vorgelegt wurde, lässt seine Denk- und Argumentationsweise gut erkennen.233 Demnach stellte Zapp das jüdische Auserwähltheitsdenken als „die tragende Idee des Judentums“ in den Vordergrund. Die angebliche Verheißung im Alten Testament, dass Israel dazu ausersehen sei, die Welt zu beherrschen, reicherte Zapp mit modernen ‚Beweisen‘ wie den „Protokollen der Weisen von Zion“ an. Das „Weltherrschaftsprogramm des Judentums“ werde durch die eigentümliche Stellung der Juden zu den Nichtjuden bestimmt. Dieses wiederum fuße auf ihren heiligen Schriften, in denen die Feindschaft gegenüber allem Nichtjüdischen verlangt werde. „Die Richtlinien hierfür liefern die Gesetzbücher der Juden, der Talmud und der SchulchanAruch“.234 Auf die einschlägigen Talmudzitate Bezug nehmend, sprach Zapp vom ewigen Kampf der Juden gegen die Nichtjuden, dem sich das Deutsche Reich zu stellen habe. Aus diesem Grund seien nach der Ermordung Ernst vom Raths verschärfte Gegenmaßnahmen notwendig und auch durchgeführt worden. Eine „völlige Lösung“ des Problems werde jedoch erst dann gelungen sein, „wenn die Frage des ‚Weltjudentums‘ gelöst ist“. Erst dann könne an eine „restlose Bereinigung der Judenfrage“ gedacht werden. Die politische und diplomatische Führung Adolf Hitlers habe bereits die Grundlage für eine europäische Lösung der Judenfrage geschaffen. „Von hier aus wird der Hebel für die Lösung der Weltjudenfrage angesetzt werden müssen.“235 Ungeachtet des religiösen Gegensatzes zwischen dem ehemaligen Generalsekretär der Deutschen Glaubensbewegung Zapp und dem evangelischen Theologieprofessor Kittel ähnelt der von Zapp vertretene theoretische Ansatz für eine Lösung der „Judenfrage“ dem des Tübinger Neute232 Siehe dazu Konrad Kwiet, Erziehung zum Mord. Zwei Beispiele zur Kontinuität der ‚Endlösung der Judenfrage‘, in: Michael Grüttner u.a., Hg., Geschichte und Emanzipation: Festschrift für Reinhard Rürup, Frankfurt a.M. 1999, S. 444–446 und ders., Paul Zapp – Vordenker und Vollstrecker der Judenvernichtung, in: Mallmann und Paul, Hg., Karrieren der Gewalt, S. 254–256. 233 Das Exposé ist auszugsweise abgedruckt bei Jürgen Matthäus u.a., Hg., Ausbildungsziel Judenmord? ‚Weltanschauliche Erziehung‘ von SS, Polizei und Waffen-SS im Rahmen der ‚Endlösung‘, Frankfurt a.M. 2003, S. 188–190. 234 Ebd., S. 188, Kursivierung im Original. 235 Ebd., S. 190 (Kursivierung im Original) und Kwiet, Paul Zapp, S. 256.
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stamentlers in frappierender Weise. Einzelne Passagen des Zappschen Exposés könnten direkt aus Die Judenfrage oder späteren Arbeiten Kittels abgeschrieben sein. Von daher wundert es nicht, dass neben Zapp evangelische Christen wie Martin Sandberger und Eugen Steimle gleichermaßen in die Schulungsarbeit des SD eingebunden waren, ohne dass es zu ideologischen Konflikten gekommen wäre. Sandberger, der im Reichssicherheitshauptamt seit Frühjahr 1940 als Referatsleiter I B 3 für die Ausbildung des Nachwuchses der Sipo zuständig war, fungierte zeitweilig auch als Inspekteur der SD-Führerschulen, und der ehemalige Beauftragte Fezers für Stiftsangelegenheiten, Steimle, unterrichtete zum Teil gleichzeitig mit Zapp in der SD-Führerschule in Bernau.236 Wie erfolgreich die Ausbildung des SD-Nachwuchses war, sieht man an den beiden Anwärtern für den Leitenden Dienst Max Drexel (geb. 1914, Todesdatum unbekannt) und Emil Haussmann (1910–1947), die nicht lange nach ihrer internen „Weiterbildung“ im Einsatzkommando 12 der Einsatzgruppe D zu Teilkommandoführern avancierten. Drexel hatte am Evangelischen Lehrerseminar in Backnang und am Oberseminar in Esslingen eine Lehrerausbildung durchlaufen und dann an einer Schule in Eltingen bei Leonberg gearbeitet, bevor er hauptamtlicher Mitarbeiter im SD-Unterabschnitt Württemberg wurde.237 Während des Pogroms im November 1938 hatte er den Auftrag, Juden zu verhaften und in das Konzentrationslager Dachau zu überführen. Auf Sandbergers Fürsprache hin wurde Drexel 1939 in das Reichssicherheitshauptamt übernommen und als Anwärter für den Leitenden Dienst ausgewählt.238 Im Juni 1941 wurde er zur Grenzpolizeischule Pretzsch an der Elbe beordert, wo sich die für die Einsatzgruppen vorgesehenen Mannschaften und Offiziere sammelten und wo er auch seinen alten Freund Emil Haussmann wieder traf. Beide kannten sich von ihrer gemeinsamen Tätigkeit bei dem von Eugen Steimle angeführten SD-Unterabschnitt Württemberg. Der frühere Volksschullehrer Haussmann leitete dort seit 1937 das Referat Judentum und Freimaurerei. Drexel und Haussmann gehörten auch zu den Teilnehmern einer von Steimle am 26./27. November 1938 in Ulm durchgeführten Außenstellenleitertagung, die der Nachbearbeitung des Judenpogroms diente.239 Während des Polenfeldzuges war Haussmann im Einsatzkommando VI einer der wich236
Kwiet, Erziehung zum Mord, S. 447. Andrej Angrick, Besatzungspolitik und Massenmord. Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941–1943, Hamburg 2003, S. 427f. 238 Ebd. 239 StA Ludwigsburg, K 110, Büschel 49. Zur Vorbereitung der Tagung hatte Steimle am 17.11.1938 alle am Pogrom beteiligten Angehörigen seiner Dienststelle dazu verpflichtet, einen Bericht über ihre Eindrücke zu schreiben. Ebd. 237
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tigsten Mitarbeiter Albert Rapps gewesen.240 Nach dem Krieg beging er am Tag vor der Eröffnung des Einsatzgruppenprozesses Selbstmord.241 Der Judenmord wurde in der Ausbildung des SD-Nachwuchses vielleicht nicht direkt gelehrt, aber doch als eine Möglichkeit mitgedacht, falls in einer zugespitzten Situation alle anderen Lösungen versagen sollten. Als Zapp sein Schulungsexposé mit dem Titel „Das Judentum“ formulierte, hatte der Krieg gegen die Sowjetunion noch nicht begonnen und er selbst war noch nicht in den Holocaust involviert. Seine Ausführungen, die Ende Januar 1941 auf dem Schreibtisch Heinrich Himmlers landeten, müssen im Zusammenhang der mit Hochdruck betriebenen Vorbereitungen für das Unternehmen Barbarossa gesehen werden.242 Am 30. Januar 1941 erklärte Hitler anlässlich des achten Jahrestags der nationalsozialistischen Machtergreifung im Berliner Sportpalast, dass es mit dem Judentum aus sein werde, wenn es versuchen sollte, die Völker noch einmal in einen neuen Weltkrieg hineinzuziehen.243 Im Vorfeld des Ostfeldzuges wurde auf breiter Front die antisemitische Propaganda intensiviert. Zahlreiche SSEinheiten sahen sich Hetzfilme wie „Jud Süß“ und „Der ewige Jude“ an, „bevor mit dem Angriff auf die Sowjetunion die Schwelle zur ‚Endlösung der Judenfrage‘ überschritten wurde“.244 Im Mai 1941 wurde Zapp aus Bernau abberufen und nach Pretzsch beordert, wo die angehenden Führer der Einsatz- und Sonderkommandos noch vor Eintreffen der Mannschaften eine spezielle Ausbildung erhielten. Mit Martin Sandberger und anderen Einsatzkommandoführern gehörte Zapp auch zu den Teilnehmern jener Besprechung am 17. Juni 1941, bei der Heydrich in Berlin die Führungskader der Einsatzgruppen auf ihre Mission einstimmte. Am gleichen Tag fuhr Heydrich noch nach Pretzsch, wo er in einem Abschlussappell die Mannschaften über die Ziele des Einsatzauftrages informierte.245 Wie kon240
Mallmann u.a., Einsatzgruppen in Polen, S. 39. Ebd., S. 104. 242 Der Eingangsstempel von Himmlers Persönlichem Stab auf Zapps Exposé datiert auf den 29.1.1941. Matthäus u.a., Hg., Ausbildungsziel Judenmord?, S. 188. Zum politischen Kontext der Zappschen Ausführungen siehe Breitman, Der Architekt der ‚Endlösung‘, S. 204f. und Jürgen Matthäus, Ausbildungsziel Judenmord? Zum Stellenwert der ‚weltanschaulichen Erziehung‘ von SS und Polizei im Rahmen der ‚Endlösung‘, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 1999, S. 691. 243 Max Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen, Bd. 4, 1941–1945, Leonberg 1987, S. 1663. 244 Jürgen Matthäus, Die ‚Judenfrage‘ als Schulungsthema von SS und Polizei. ‚Inneres Erlebnis‘ und Handlungslegitimation, in: ders. u.a., Hg., Ausbildungsziel Judenmord, S. 66. Den Film „Jud Süß“ hatte Zapp bereits vorher schon in sein Unterrichtsprogramm aufgenommen. Kwiet, Erziehung zum Mord, S. 448. 245 Siehe Browning, Die Entfesselung der ‚Endlösung‘, S. 335 und S. 338 sowie Ralf Ogorreck, Die Einsatzgruppen und die ‚Genesis der Endlösung‘, Berlin 1996, S. 60 und S. 205f. 241
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kret Heydrich dabei die Ermordung von Juden und kommunistischen Funktionäre verlangte, ließ sich bislang nicht abschließend feststellen, weil etliche Teilnehmer nach dem Krieg unterschiedliche und zum Teil auch bewusst falsche Angaben machten, um sich über die Konstruktion eines Befehlsnotstandes selbst zu entlasten. Am 2. Juli 1941 äußerte sich Heydrich in einem Schreiben an die Höheren Polizei- und SS-Führer an der Ostfront wesentlich offener über die durchzuführenden Maßnahmen.246 Mit seinem aus knapp 100 Mann bestehenden Sonderkommando 11a der Einsatzgruppe D fuhr Zapp am 22. Juni 1941 über Wien, Pressburg und Hermannstadt nach Schässburg und rückte von dort aus in das östlich gelegene Barlad vor, wo er Anfang Juli eintraf. Bereits dort kam es zu ersten Ausschreitungen gegen Juden. Nachdem Zapp mit seinem Kommando die sowjetische Grenze überschritten hatte, führte er laufend Erschießungsaktionen durch, denen neben Juden auch Kommunisten, Partisanen und andere Personen, die für solche gehalten oder als solche ausgegeben wurden, zum Opfer fielen. Nach der Einnahme Kischinews am 17. Juli beteiligte sich Zapp, der zuvor an Ruhr erkrankt war, wieder aktiv an den Judenexekutionen. Die wahllosen Erschießungen der ebenfalls in Kischinew tätigen rumänischen Einheiten lehnte er hingegen als unprofessionell ab. Stattdessen vereinbarte er mit dem rumänischen Standortkommandanten Oberst Tuchosi die Errichtung eines Judenghettos, in das die noch lebenden 11.000 Juden eingewiesen wurden.247 Davor hatte das Sonderkommando 11a zusammen mit rumänischen Einheiten bereits etwa 2000 Juden, hauptsächlich Angehörige der freien Berufe (Ärzte, Juristen, Ingenieure) und Intellektuelle, ermordet.248 Im August 1941 zog Zapp mit seinem Kommando nach Nikolajew weiter und auch dort ordnete er die 246
„Zu exekutieren sind alle Funktionäre der Komintern (wie überhaupt die kommunistischen Berufspolitiker schlechthin), die höheren, mittleren und radikalen unteren Funktionäre der Partei, der Zentralkomitees, der Gau- und Gebietskomitees, Volkskommissare, Juden in Partei- und Staatsstellungen, sonstige radikale Elemente (Saboteure, Propagandeure, Heckenschützen, Attentäter, Hetzer usw.).“ Benötigte Fachkräfte seien jedoch zu verschonen. Bei der Ermutigung örtlicher „Selbstreinigungsversuche“ sei darauf zu achten, keine Spuren zu hinterlassen, die auf eine deutsche Beteiligung hindeuten könnten. Klein, Hg., Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion 1941/42, S. 323–328, hier S. 325 sowie Browning, Die Entfesselung der ‚Endlösung‘, S. 337f. 247 Zur Einrichtung des Ghettos siehe Angrick, Besatzungspolitik und Massenmord, S. 179f., allgemein zur Beteiligung rumänischer Einheiten an der Schoah Matatias Carp, Holocaust in Rumania. Facts and documents of the annihilation of Rumania’s Jews, 1940–1944, Budapest 1994. 248 Eberhard Jäckel u.a., Hg., Enzyklopädie des Holocaust, Bd. 2, München 1998, S. 769. Bei der Befreiung Kischinews lebten 1944 keine Juden mehr in der Stadt.
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Errichtung eines Ghettos an, um die Juden systematischer umbringen zu können. Bis September waren alle Insassen des Ghettos, etwa 3500 jüdische Männer, Frauen und Kinder, getötet worden. Die Morde in Nikolajew nahmen ein solches Ausmaß an, dass sich die ukrainischen Einwohner über die Verunreinigung ihrer Wasserquelle durch das Blut der getöteten Juden beschwerten. Sie seien nicht Willens, „Judenblut“ zu trinken.249 Emil Haussmann, der ebenfalls an dem Massaker in Nikolajew am 14. September 1941 mitwirkte, bezeichnete die umgebrachten Juden als „Ungeziefer“.250 Danach ermordete das Sonderkommando 11a in Cherson etwa 5000 Personen. Am 4. Oktober 1941 kam Heinrich Himmler nach Nikolajew, wo er mit Zapp und Otto Ohlendorf zusammentraf. Zapp zufolge sagte Himmler, dass der Krieg der Vernichtung des Bolschewismus und der Gewinnung von neuem Lebensraum diene. „Die Massenerschießungen von Juden und politischen Gegnern seien eine schwere Aufgabe, die aber zum Erreichen der gesetzten Ziele erfüllt werden müsse.“251 Den ‚Höhepunkt‘ von Zapps Karriere als Einsatzkommandoführer bildete die Auslöschung der jüdischen Gemeinde in Simferopol auf der Halbinsel Krim im Dezember 1941.252 Dabei wurden insgesamt etwa 12.500 Juden getötet. Die Exekutionsplätze befanden sich in der Regel außerhalb Simferopols, wohin die Juden mit Lastkraftwagen gebracht wurden. Sie mussten sich vor den von arbeitskräftigen Juden ausgehobenen Gruben aufstellen und wurden aus einer Entfernung von 2–3 Metern in den Hinterkopf geschossen. „Der Boden an der Exekutionsstätte war blutgetränkt, so daß die Nachfolgenden förmlich im Blute standen.“253 Kleine Kinder wurden ihren Müttern von SD-Angehörigen weggenommen und vor ihren Augen mit Genickschuss getötet und in die Gruben geworfen.254 Mitte Dezember 1941 wurden dabei in wenigen Tagen mindestens 5000 jüdische Männer, Frauen und Kinder erschossen. Im Anschluss daran führte Zapp weitere Exekutionen in Jalta durch. Als am 16. April 1942 die Krim als „judenfrei“ nach Berlin gemeldet wurde, waren bis dahin ungefähr 40.000 Juden getötet worden, ab dem Frühjahr 1942 auch unter Einsatz spezieller Gaswagen.255 249
Justiz und NS-Verbrechen, Bd. 33, 2005, S. 447. Mallmann u.a., Einsatzgruppen in Polen, S. 40. 251 Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, S. 225. Siehe dazu auch Andrej Angrick, Im Windschatten der 11. Armee. Die Einsatzgruppe D, in: Paul und Mallmann, Hg., Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg, S. 495. 252 Kwiet, Erziehung zum Mord, S. 447. 253 Urteil gegen Paul Zapp vor dem Landgericht München I vom 26.2.1970, in: Justiz und NS-Verbrehcne, S. 431–508. 254 Ebd., S. 68. 255 Jäckel u.a., Hg., Enzyklopädie des Holocaust, Bd. 2, S. 822. 250
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Das Vorhandensein von rassisch nicht eindeutig klassifizierbaren Bevölkerungsgruppen stellte für die Einsatzgruppe D ein schwieriges Problem dar. Besonders bei den Krimtschaken, einem jüdischen Volk, das schon seit zwei Jahrtausenden dort lebte, und bei den Karäern, einer im 8. Jahrhundert in Babylon entstandenen und im 13. und 14. Jahrhundert auf die Krim eingewanderten jüdischen Sekte, tauchte die Frage auf, ob man sie als Juden umbringen oder als Nichtjuden am Leben lassen sollte. Nachdem Ohlendorf im September 1941 beim Reichssicherheitshauptamt in Berlin die Auskunft eingeholt hatte, dass die Krimtschaken Juden und somit zu ermorden seien, wurden die meisten von ihnen unverzüglich umgebracht.256 Bei den Karäern fiel die Entscheidung weniger leicht. Sie hatten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zarenreich ihren Anspruch auf politische Gleichstellung durchsetzen können, wobei einige karäische Gelehrte eine nichtjüdische Abstammung ihres Volkes behaupteten. Zum andern kämpften viele Karäer nach dem Ersten Weltkrieg auf Seiten der Weißen Armee gegen die Bolschewiki, weshalb die Nationalsozialisten ein Interesse daran hatten, die Karäer als potentiellen Verbündeten und Brückenkopf zur tatarischen und türkischen Bevölkerung am Leben zu lassen.257 Schon bei Erlass der Durchführungsbestimmungen der Nürnberger Gesetze hatten die Vertreter der in Berlin ansässigen kleinen Karäergemeinde bei den deutschen Behörden unter Hinweis auf ihre nichtjüdische Abstammung interveniert. Am 5. Januar 1939 entschied die Reichsstelle für Sippenforschung, dass Karäer nicht generell als Juden anzusehen, sondern entsprechend ihres persönlichen Stammbaumes zu behandeln seien.258 Sowohl im besetzten Frankreich als auch in Litauen und in anderen Landesteilen der Sowjetunion stießen die Deutschen auf die Karäerproblematik. Im litauischen Trakai wurden die Karäer als Nichtjuden verschont, in Babij Jar hingegen wegen ihrer angenommenen jüdischen Rassenzugehörigkeit ermordet.259 Zapp stieß in Cherson auf Karäer, die er in rassischer Hinsicht nicht einordnen konnte. Er wandte sich deshalb an seinen Einsatzgruppenführer Ohlendorf, um Aufklärung darüber zu erhalten, ob er die Karäer umbringen oder am Leben lassen sollte.260 Ohlendorf wiederum reichte die Anfrage an das Reichssicherheitshauptamt weiter, wo sie in den Zuständigkeitsbereich von Dr. Heinz Ballensie-
256
Ebd., S. 823f. Ebd., S. 739f. und Warren Green, The fate of the Crimean Jewish communities: Ashkenazim, Krimchaks and Karaites, in: Jewish Social Studies, 1984, S. 169. 258 Jäckel u.a., Hg., Enzyklopädie des Holocaust, Bd. 2, S. 739. 259 Yitzhak Arad, The holocaust in the Soviet Union, Lincoln 2009, S. 203. 260 Ebd. 257
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fen, den Leiter der Judenabteilung VII B I b fiel.261 Nicht nur Ballensiefen stellte jetzt intensive Nachforschungen an. Auch andere NS-Instanzen nahmen sich des Themas an und bezogen Stellung zur Frage der rassischen Einordnung der Karäer. Georg Leibbrandt verlangte am 6. Oktober 1941 für das Ostministerium, dass die Entscheidung der Reichsstelle für Sippenforschung von Januar 1939 zu respektieren sei.262 Die definitorische Unsicherheit ließ den Deutschen keine Ruhe, so dass sie 1942 sogar jüdische Gelehrte wie den im Warschauer Ghetto befindlichen Majer Baɫaban angingen, um sich Klarheit über den Rassenstatus der Karäer zu verschaffen.263 In diesem Zusammenhang wurde auch der Tübinger Talmudexperte Karl Georg Kuhn vom Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete um ein Gutachten in der Karäerfrage gebeten, das er 1942 verfasste. Wie Kuhn dabei argumentierte, lässt sich schwer sagen, da das Gutachten bislang nicht aufgefunden werden konnte. Nach dem Krieg reklamierte er jedoch für sich, durch seine Einstufung der Karäer als Tataren diese vor dem Tod gerettet zu haben.264 Dass die Karäer durch Kuhn vor ihrer Vernichtung bewahrt worden seien, kann aber schon deswegen nicht stimmen, weil die Entscheidung über ihr Schicksal bereits 1941 gefallen war. Bezeichnend ist an Kuhns Nachkriegsvotum aber in jedem Fall, dass er damit indirekt zugab, Kenntnis des Holocaust gehabt zu haben. Ähnlich verhält es sich mit einem Gutachten, das Gerhard Kittel im Hinblick auf die rassische Einordnung der in Paris lebenden Iraner mosaischen Glaubens erstellte. Ausgangspunkt war eine Anfrage der Deutschen Botschaft in Paris beim Auswärtigen Amt in Berlin, wie die Sepharden im besetzten Frankreich behandelt werden sollten. Die Association Culturelle Sépharadite de Paris hatte am 13. Januar 1942 beantragt, diese „von allen Maßnahmen gegen die Juden auszunehmen“, da sie nicht zur „jüdischen
261 Angrick, Besatzungspolitik und Massenmord, S. 327. Ballensiefen kam vom Institut zur Erforschung der Judenfrage her und war Fachberater für den Film „Der ewige Jude“ gewesen. Außerdem gehörte er der Antijüdischen Auslandsaktion des Auswärtigen Amtes an. 262 Arad, The holocaust in the Soviet Union, S. 203f. 263 Jäckel u.a., Hg., Enzyklopädie des Holocaust, Bd. 2, S. 740, Emanuela Trevisan Semi, L’oscillation ethnique: Le cas des Caraïtes pendant la Seconde Guerre Mondiale, in: Revue de l’histoire des religions, 1989, S. 389 und Arad, The holocaust in the Soviet Union, S. 574. Baɫaban erklärte die Karäer zu Nichtjuden, um ihr Leben zu retten. 264 UAT 162/32, fol. 21 sowie Dirk Rupnow, Rasse und Geist. Antijüdische Wissenschaft, Definitionen und Diagnosen des ‚Jüdischen‘ im ‚Dritten Reich‘, in: Zeitgeschichte 34, 2007, S. 15. Zu Kuhn („le sémitisant de Tübingen“) auch Trevisan Semi, L’oscillation ethnique, S. 388.
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Rasse“ gehören würden.265 Zudem würden die in Thessaloniki lebenden Sepharden von den deutschen Besatzern als Arier mosaischen Glaubens angesehen. Franz Rademacher, der Leiter des Judenreferats im Auswärtigen Amt, fragte deshalb am 15. Oktober 1942 bei Walter Groß vom Rassenpolitischen Amt sowie bei Friedrich Wilhelm Euler und Wilhelm Grau von der Forschungsabteilung Judenfrage bzw. vom Institut zur Erforschung der Judenfrage nach, wie diese Iraner mosaischen Glaubens „blutmäßig“ einzustufen seien. Darüber hinaus wollte Rademacher wissen, ob die angefragten Experten etwas über die „blutmäßige Abstammung der mosaischen Georgier und Afghanen“ wüssten.266 Die Anfrage wurde an Kittel weitergeleitet, der daraufhin am 16. Februar 1943 eine gutachterliche Stellungnahme mit dem Titel „Über die persischen, afghanischen und kaukasischen Juden“ verfasste.267 Kittel wies darin die Behauptung einer nichtjüdischen Abstammung der Sepharden mosaischen Glaubens als völlig unhaltbar zurück. Andererseits optierte er dafür, die kaukasischen Juden nicht als solche zu behandeln.268 Am 2. Juni 1943 vermerkte der Judenreferent im Auswärtigen Amt, Eberhard von Thadden (1909–1964), dass aufgrund der eingeholten Gutachten die fraglichen Juden in die allgemeinen Judenmaßnahmen mit einbezogen worden seien.269 Das konnte nichts anderes bedeuten, als dass die im besetzten Frankreich lebenden Iraner mosaischen Glaubens in Übereinstimmung mit Kittels Memorandum deportiert worden waren. Die Frage der kaukasischen „Bergjuden“ wurde erst im Zuge der Sommeroffensive des Jahres 1942 (Fall Blau) virulent, als die Heeresgruppe A den nördlichen Teil des Kaukasus eroberte. In ihrem Gefolge stieß Walter Bierkamp mit der Einsatzgruppe D und den Einsatzkommandos 10a, 10b, 11 und 12 nach und begann, alle Juden zu ermorden, derer man habhaft 265
Schreiben vom 23.1.1942, zitiert nach Patricia von Papen, Schützenhilfe nationalsozialistischer Judenpolitik. Die ‚Judenforschung’ des ‚Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschland[s]‘ 1935–1945, in: Fritz Bauer Institut, Hg., ‚Beseitigung des jüdischen Einflusses...‘. Antisemitische Forschung, Eliten und Karrieren im Nationalsozialismus, Frankfurt 1999, S. 31 und dies., Anti-Jewish research of the Institut zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt am Main between 1939 and 1945, in: Jeffry M. Diefendorf, Hg., Lessons and legacies VI. New currents in holocaust research, Evanston 2004, S. 161. 266 Papen, Schützenhilfe nationalsozialistischer Judenpolitik, S. 32. 267 Ebd. und Rupnow, Rasse und Geist, S. 14. 268 Wegen seiner „milden“ Beurteilung der kaukasischen Juden wurde Kittel von Walter Groß kritisiert. Alle Juden, die sich zum Judentum bekennen würden, seien generell als solche zu behandeln, es sei denn, dass der urkundenmäßige Nachweis einer nichtjüdischen Abstammung erbracht werde. Ebd., S. 32 und S. 14. 269 Siehe Papen, Schützenhilfe nationalsozialistischer Judenpolitik, S. 32 und dies., AntiJewish research, S. 182, Fußnote 89.
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werden konnte. Zunächst gehörten auch die „Bergjuden“ zu den Opfern, doch scheint sich nach einiger Zeit die Ansicht durchgesetzt zu haben, diese nicht als Juden anzusehen und daher zu verschonen.270 Welche Bedeutung Kittels Gutachten hierbei hatte, bleibt noch genauer zu eruieren. Offenbar folgte es der Argumentationslinie Wilfried Eulers, der in seiner eigenen Stellungahme am 23. Oktober 1942 dafür plädiert hatte, die jüdische Abstammung der „kaukasischen und georgischen Angehörigen des mosaischen Bekenntnisses“ als nicht so gravierend anzusehen und diese deshalb nicht zwangsläufig den übrigen Juden gleichzustellen.271 Euler zufolge hatten die auf 60.–70.000 Personen zu veranschlagenden kaukasischen Juden keine näheren Beziehungen zu den „benachbarten persischen, russischen oder Krim-Juden unterhalten“. Ihr Judentum sei eigentlich nur an den „altbiblischen Männer- und Frauennamen bemerkbar“.272 Der anthropologische Befund zeige zwar alle Typen des „vorderasiatischsemitischen Rassegemisches“, jedoch nur „in einer männlich gedrungen, keineswegs sepzifisch ‚jüdischen‘ Ausprägung“. Außerdem würden die „für den sonstigen Ostjudentyp bezeichnenden slawischen Rasselemente“ fehlen. Euler hielt es deshalb für gerechtfertigt, die kaukasischen Juden nicht per se umzubringen.273 Auch die Rolle des Tübinger Anatomen und Paläontologen Robert Wetzel, der sich im Falle der Karäer dafür aussprach, sie als Artfremde zu behandeln, bei denen ein jüdischer Einschlag nicht ausgeschlossen werden könne, bedarf der weiteren Aufklärung.274 Weil einige hundert Karäer Dienst in der Waffen-SS taten, beschäftigte sich bei Kriegsende auch Gottlob Berger mit der Karäerfrage. Und auch hier scheint man zu dem Schluss gekommen zu sein, die Karäer als Bluts270
Siehe Kiril Feferman, Nazi Germany and the Mountain Jews: Was there a policy?, in: Holocaust and Genocide Studies 21–1, 2007, S. 96–114, hier S. 107. Eine falsche Schreibung Kittels („Gerchard Teil from the Tübingen University in Vienna“, ebd., S. 114, Fußnote 78) geht in dem ansonsten ausgezeichneten Aufsatz wohl auf eine falsche Übersetzung in das bzw. aus dem Hebräischen zurück. 271 Eulers zweiseitiges Gutachten vom 23.10.1942 trägt den Titel „Die Abstammung der kaukasischen und georgischen Angehörigen des mosaischen Bekenntnisses“ und ist auf dem Briefpapier des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands geschrieben. Das Exemplar, nach dem ich zitiere, befindet sich in einem Teilbestand des Kittelnachlasses im Archiv des Evangelischen Stifts Tübingen, N 5, 1/1. Kittels eigentlicher Nachlass konnte bislang nicht aufgefunden werden. 272 Ebd., S. 1. Unterstreichung im Original. 273 „Eine unterschiedliche Behandlung dieser Stammgruppe vom übrigen Judentum erscheint daher als gerechtfertig und u.U. geboten.“ Ebd., S. 2. Der Zusatz „u.U.“ ließ freilich einer flexiblen Interpretation Raum, die eine Tötung der Juden ermöglichte, sofern es die Umstände erforderlich machten. 274 Siehe die beiden von Trevisan Semi (L’osciallation ethnique, S. 387–389) zitierten Voten Wetzels vom 13.5.1943 und vom 20.7.1944.
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verwandte der Türken und Tataren anzusehen, die Angelegenheit aber nicht an die große Glocke zu hängen.275 Nachdem sich Hitler angesichts nachlassender Kräfte entschlossen hatte, alles auf die Eroberung der kaukasischen Ölfelder und des Industriezentrums Stalingrad zu setzen, kam es im Sommer 1942 zu einer größeren Umstrukturierung der deutschen Verbände. Zapp wurde in diesem Zusammenhang als Einsatzkommandoführer abgelöst und am 14. Juli 1942 zum Kommandeur der Sipo und des SD für den Generalbezirk Taurien (ein alter Name der Halbinsel Krim) im Reichskommissariat Ukraine mit Dienstsitz in Simferopol ernannt. Vermutlich wegen einer Verwundung, die er 1943 erlitten hatte, kam er dann zurück in die Heimat und übernahm am 13. April 1944 als Inspekteur der Sipo und des SD die Führung des SD-Abschnitts Dresden.276 Das Kriegsende erlebte Zapp in Tirol. Er geriet zunächst in amerikanische Kriegsgefangenschaft; doch weil er sich einen falschen Namen (Friedrich Brehm) zugelegt hatte, wurde er nicht erkannt und bald wieder aus dem Kriegsgefangenenlager Ochsenfurt entlassen. Nach einer Tätigkeit in der Landwirtschaft gelang es Zapp, bei der Bundesbahn Fuß zu fassen, wo er bis 1961 blieb. Bis zu seiner Verhaftung im November 1967 arbeitete er als Angestellter bei einer Privatfirma. Am 26. Februar 1970 wurde er schließlich zu lebenslangem Zuchthaus wegen „jeweils in Mittäterschaft begangener Verbrechen in insgesamt mindestens 13.449 Fällen“ verurteilt.277 Dabei gilt es aber zu bedenken, dass die Gesamtzahl der Ermordeten wesentlich höher lag, denn das Gericht hatte sich nur auf die jüdischen Opfer konzentriert und die „Tötung von Partisanen, sonstigen Widerstandskämpfern oder Personen, die gegen die von der deutschen Besatzungsmacht erlassenen Anordnungen verstoßen oder kriminelles Unrecht begangen hatten“, unberücksichtigt gelassen.278 Über Theodor Dannecker (1913–1945) als einen der engsten Mitarbeiter Adolf Eichmanns ist bereits viel geforscht und geschrieben worden. Besonders seine Mitwirkung bei der Deportation der Juden aus Frankreich wurde Gegenstand eingehender Untersuchungen. Auch seine Tübinger
275 Ebd., S. 398, Angrick, Besatzungspolitik und Massenmord, S. 330 und Jäckel u.a., Hg. Enzyklopädie des Holocaust, Bd. 2, S. 740. 276 Carsten Schreiber, Elite im Verborgenen. Ideologie und regionale Herrschaftspraxis des Sicherheitsdienstes der SS und seines Netzwerks am Beispiel Sachsens, München 2008, S. 60. 277 Urteil gegen Paul Zapp vor dem Landgericht München I vom 26.2.1970, in: Justiz und NS-Verbrechen, Bd. 33, 2005, S. 431. 278 Ebd., S. 441.
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Bezüge sind bereits ausführlich behandelt worden.279 Der Kaufmannssohn Dannecker erblickte am 27. März 1913 in Tübingen das Licht der Welt, wo seine Eltern in der Neckargasse (vormals Neckarstraße) unterhalb der Stiftskirche ein Herrenkonfektionsgeschäft besaßen. Dannecker, dessen Vater im November 1918 an den Spätfolgen des Ersten Weltkriegs gestorben war, hatte Probleme in der Schule und wechselte nach zwei Jahren vom Uhland-Gymnasium auf die Oberrealschule in Tübingen, die er 1928 mit der Mittleren Reife abschloss. Danach besuchte er bis 1930 die Höhere Handelsschule in Reutlingen, für die seine Mutter in nicht unerheblichem Umfang Schulgeld bezahlen musste. Die daran anschließende Lehre bei einer Stuttgarter Trikotwarenfabrik brach Dannecker nach einem halben Jahr ab, um das elterliche Geschäft in Tübingen zu führen. Nur wenige Meter entfernt befand sich das Bekleidungsgeschäft des jüdischen Kaufmanns Gustav Lion, das dieser im Oktober 1930 von der verwitweten jüdischen Geschäftsfrau Julia Stern übernommen hatte.280 Dannecker sah in dem von Lion geführten Spezialgeschäft für Herren- und Knabenkonfektionen eine bedrohliche Konkurrenz, die er für den Rückgang des eigenen Umsatzes verantwortlich machte. Er hatte sich außerdem in die Tochter Julia Sterns verliebt, die beide aber mit der Geschäftsaufgabe von Tübingen wegzogen. Von daher spielten auch persönliche Motive eine Rolle, dass Dannecker bereits zu Beginn der dreißiger Jahre Gustav Lion bedrohte, sein Schaufenster beschmierte und die Nachbarschaft zum Boykott aufrief.281 Von der Studentenschaft wurde Lions Laden geschnitten und beim Kinobesuch hatte Lion schon vereinzelt „Juden raus“–Rufe zu hören bekommen. Überdies wurden alle jüdischen Geschäfte 1930/31 durch einen Boykottaufruf bedroht, der im Umfeld der Universität Tübingen seinen Ausgang nahm.282 Umso mehr verstärkte der nationalsozialistische Aprilboykott des Jahres 1933 die bereits bestehenden Ressentiments. Auch durch die von Karl Georg Kuhn am 1. April auf dem Tübinger Marktplatz gehaltene Boykottansprache mussten sich Nationalsozialisten wie Dan279
Siehe zu Danneckers Vita besonders die Biographie Claudia Steurs, Theodor Dannecker. Ein Funktionär der Endlösung, Essen 1997 und die Artikelfolge von Hans-Joachim Lang im Schwäbischen Tagblatt vom 6.10.1990, 27.10.1990, 15.12.1990 und 16.2.1991 sowie dessen Beitrag „Ein Tübinger Schreibtischtäter im Reichssicherheitshauptamt“ für den von Benigna Schönhagen herausgegebenen Ausstellungskatalog Nationalsozialismus in Tübingen, S. 221–235. 280 Siehe Lioba Schlör, ‚Ich konnte das Gebaren der Nazis nicht stillschweigend ertragen‘. Die Vertreibung des Textilhändlers Gustav Lion, S. 195–199. Ein Foto, auf dem beide Geschäfte vor der Tübinger Stiftskirche zu sehen sind, ebd., S. 195. 281 Steur, Theodor Dannecker, S. 15 und S. 151f. 282 Lilli Zapf, Die Tübinger Juden. Eine Dokumentation, 3. Aufl., Tübingen 1981, S. 11 und Schlör, ‚Ich konnte das Gebaren der Nazis nicht stillschweigend ertragen‘, S. 196.
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necker in ihren Ansichten bestätigt sehen. Am gleichen Tag zogen zwei SA-Posten vor Lions Geschäft auf und hielten die Bevölkerung davon ab, bei ihm einzukaufen oder auch nur den Laden zu betreten. Das schräg gegenüber gelegene SA-Lokal wurde zu einer ständigen Quelle antijüdischer Übergriffe durch angetrunkene Nationalsozialisten. Nach dem Aprilboykott ging Lions Kundschaft dramatisch zurück und führte in kurzer Zeit zum wirtschaftlichen Ruin des Ladens. Obwohl sich Lion lange Zeit so gut als möglich zur Wehr setzte und selbst einer Schlägerei nicht aus dem Weg ging, gab er schließlich auf und floh nach Morddrohungen mit seiner Familie Anfang 1934 aus Deutschland.283 Es steht außer Frage, dass Kuhns Agitation vom Tübinger Rathaus herab einen nicht unwesentlichen Beitrag dazu leistete, seine berufliche Existenz zu zerstören. Die Juden aus der Geschäftswelt zu vertreiben, war ja gerade der Sinn des Boykotts gewesen. Dannecker hatte sich hingegen im Juni 1932 der SS und sechs Wochen später der NSDAP angeschlossen. In der SS sah er eine neue Elite entstehen, die dem groß gewachsenen und blonden Dannecker entgegenkam und die ihm die Anerkennung vermittelte, an der es in seinem Leben bislang gefehlt hatte. Im Gegensatz zur SA gab es in der SS weniger Parteibonzen und soziale Hierarchien. Man konnte es in der SS auch ohne Universitätsstudium zu etwas bringen. Am 2. Mai 1934 ging Dannecker als SSAnwärter zur Ausbildung in die Mühberg-Kaserne nach Ellwangen, wo der Leiter der Politischen Polizei Württembergs, Hermann Mattheiß, acht Wochen später als SA-Mitglied im Zuge der politischen Säuberungswelle erschossen wurde. Dannecker konnte daran ersehen, dass er mit der SS auf das richtige Pferd gesetzt hatte. Brutale physische Gewalt war auch im berüchtigten Columbia-Haus, dem Gestapogefängnis in Berlin-Tempelhof, an der Tagesordnung, in dem Dannecker seit Jahresende 1934 Dienst tat. Ab dem 1. April 1935 wurde das mittlerweile als Konzentrationslager geführte Gefängnis von der neu aufgestellten SS-Wachtruppe OranienburgColumbia, die dann den Namen SS-Wachverband Brandenburg erhielt, bewacht. In den etwa 150 Zellen wurden mehrere hundert politische Gefangene unter unmenschlichen Bedingungen inhaftiert.284 Dannecker gehörte von Dezember 1934 bis Mai 1935 zum Wachpersonal und war mit seiner SS-Einheit im Oranienburger Schloss stationiert. In dieser Zeit ereignete sich ein schwerwiegender Vorfall, der seine Karriere in der SS 283
Schlör, ‚Ich konnte das Gebaren der Nazis nicht stillschweigend ertragen‘, S. 197f. Siehe Kurt Schilde und Johannes Tuchel, Columbia-Haus. Berliner Konzentrationslager 1933–1936, Berlin 1990. Unter den Häftlingen befanden sich zweitweise Leo Baeck, Hermann Duncker, Erich Honnecker, Robert M. W. Kempner, Werner Seelenbinder und Ernst Thälmann. 284
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ernsthaft bedrohte. Dannecker hatte während eines Saufgelages seine Kontrollgänge unterlassen, diese aber gleichwohl in das Wachbuch eingetragen. Daraufhin wurde er am 17. Mai unter dem Vorwurf der Urkundenfälschung aus dem SS-Wachverband entlassen.285 Doch mit Hilfe seiner Tübinger Beziehungen gelang es Dannecker, im Juni 1935 beim SD-Oberabschnitt Südwest unterzukommen. Besonders Ernst Weinmann setzte sich für ihn ein und scheint als Stabsführer am Anfang auch sein unmittelbarer Vorgesetzter gewesen zu sein. Im März 1936 wurde Dannecker unter Eugen Steimle Judenreferent in der SD-Leitabschnittszentrale Stuttgart. In sein Aufgabengebiet fiel die Auswertung jüdischen Schrifttums, die Überwachung jüdischer Organisationen und die karteimäßige Erfassung aller Juden in Württemberg. Außerdem hatte er der Berliner Zentrale darüber Bericht zu erstatten.286 Dannecker fühlte sich bei dieser Arbeit sichtlich wohl. In den Judenreferaten des SD waren keine Intellektuellen und große Theorieentwürfe gefragt, sondern Leute mit Organisationsgeschick und einem Sinn für praktische Lösungen. Weil Dannecker bei den zentralen Schulungstagungen der Judenreferenten in Bernau einen positiven Eindruck hinterließ, wurde er im März 1937 als Referent für Assimilanten in das Judenreferat II/112 des SDHauptamts in Berlin übernommen.287 Dieses war der von Dieter Wisliceny geleiteten Abteilung II/11 „Weltanschauliche Gegner“ nachgeordnet, die wiederum Erich Ehrlinger als dem Leiter der Abteilung II/1 „Gegnerforschung“ unterstand. Ende 1936 übernahm der Amtschef II „Inland“, Franz Alfred Six, Ehrlingers Position, so dass dieser an die Stelle des mit anderen Aufgaben betrauten Wisliceny rückte. Wie erwähnt nahmen Eichmann und Wisliceny im Mai 1937 an der zweiten Arbeitstagung der Forschungsabteilung Judenfrage in München teil, wo sie unter anderem von Kittel und Kuhn über das verhängnisvolle Verhalten der Juden in Geschichte und Gegenwart wissenschaftlich aufgeklärt wurden. Seit Juni 1935 arbeitete Adolf Eichmann im Referat II/112 als Sachbearbeiter für „Judenangelegenheiten“ mit einem Schwerpunkt auf dem Zionismus. Als im März 1938 eine ganze Reihe der Mitarbeiter seiner Dienststelle nach Wien abkommandiert wurde, übernahm Dannecker vorübergehend die Leitung des Judenreferats.288 Dannecker, der immer stärker in die „Judenarbeit“ hi285
Steur, Theodor Dannecker, S. 18f. Ebd., S. 20. 287 Siehe zum Aufbau des SD-Hauptamtes besonders die Einleitung von Michael Wildt, in: ders., Die Judenpolitik des SD 1935 bis 1938, München 1995, S. 9–64, hier bes. S. 28. Das Programm der erwähnten Schulungstagung in Bernau vom 9.–14.3.1936, ebd., S. 80f. 288 Steur, Theodor Dannecker, S. 24. 286
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neinwuchs, hatte nun auch selbst begonnen, Vorträge auf den Schulungstagungen des SD zu halten. So erläuterte er in einem Referat über „Die Judengesetze seit 1933“, warum es für die einzelnen Judenreferenten der SD-Unter- und Oberabschnitte erforderlich sei, eine genaue Kenntnis der Rassengesetzgebung und der damit verbundenen Anordnungen zu haben: „Es genügt nicht mehr, im Verkehr mit behördlichen Stellen zu schreiben: Der und der Jude muß ins KZ gesteckt werden, weil er sich irgendwann staatsfeindlich geäußert und betätigt hat, sondern nach der Zitierung des festgestellten Tatbestandes hat es zu heißen: Der Jude X hat durch seine staatsfeindlichen Äußerungen oder seine staatsfeindliche Tätigkeit gegen die Anordnung oder das Gesetz Y verstoßen.“289
An diesem Zitat wird deutlich, wie wichtig es für den SD war, juristisch versierte Mitarbeiter in seinen Reihen zu haben. Als ob er aus Kittels Die Judenfrage zitieren würde, betonte Dannecker, dass Juden in Deutschland nur als geduldete Gäste leben könnten und einer strengen Fremdengesetzgebung zu unterstellen seien. Die Hauptstoßrichtung seiner Arbeit lag am Anfang auf der forcierten Eliminierung der Juden aus dem öffentlichen Leben in Deutschland, eine Forderung, die auch von Kittel vertreten und ausführlich begründet wurde. Mit der Schaffung des Reichssicherheitshauptamtes im September 1939 wurden Gestapo und SD zusammengelegt und die „Judenangelegenheiten“ ganz der geheimpolizeilichen Feindbekämpfung untergeordnet. Im Referat IV B 4 oblagen sie zusammen mit den „Räumungsangelegenheiten“ der Verantwortung Adolf Eichmanns. In der gleichen Referatsgruppe IV „Gegnererforschung und Bekämpfung“ hatte Dr. Erwin Weinmann als Gruppenleiter IV D mit vier Unterabteilungen die Zuständigkeit für die besetzten Gebiete. Der SS-Obersturmbannführer und Regierungsrat Dr. Rudolf Bilfinger war stellvertretender Leiter der Gruppe II A „Organisation und Recht“, und unter Dr. Martin Sandberger, dem stellvertretenden Gruppenleiter I B (Erziehung, Ausbildung und Schulung), war Paul Zapp als stellvertretender Leiter des Referats „Weltanschauliche Erziehung“ tätig. Sandberger selbst leitete gleichzeitig das Referat I B 3 „Lehrplangestaltung der Schulen“.290 Von Anfang an spielten Tübinger im Reichssicherheitshauptamt eine wichtige Rolle. 289 Der undatierte Vortrag Danneckers ist abgedruckt bei Wildt, Die Judenpolitik des SD, S. 128–132, das Zitat, S. 128f. Ein weiterer, ebenfalls undatierter und aus dem Sonderarchiv Moskau stammender Vortrag Danneckers hatte „Das innerdeutsche Judentum: Organisation, sachliche und personelle Veränderungen, geistiges Leben und die Methodik seiner Behandlung“ zum Thema (ebd., S. 142–150). 290 Der Geschäftsverteilungsplan des Reichssicherheitshauptamtes vom 1.3.1941 ist abgedruckt in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen
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Nach Kriegsbeginn verlor die Idee, das „Judenproblem“ über einen verstärkten Auswanderungsdruck zu lösen, an Bedeutung und wurde durch das Konzept der Deportation ersetzt. Vor allem bei den nach der Besetzung Polens in großer Zahl in den deutschen Herrschaftsbereich gefallenen „Ostjuden“ machte der Gedanke einer Auswanderung der Juden wenig Sinn. Als sich dann auch herausstellte, dass die Überlegungen für ein Reichs- oder Inselghetto in Nisko bzw. auf Madagaskar einer realistischen Grundlage entbehrten, trat die Idee der physischen Vernichtung der Juden dem Ansatz der Deportation zur Seite. Dannecker war an führender Stelle in alle Debatten und Planungsstufen eingebunden, mit denen der Sicherheitsdienst den sich ändernden äußeren Verhältnissen in der „Judenproblematik“ Rechnung trug. Seit September 1940 residierte er als Judenreferent des BdS in einem Gebäude der Familie Rothschild in der Pariser Avenue Foch, wo sich auch der Sitz der Sicherheitspolizei und des SD unter der Leitung von Helmut Knochen und seinem Stellvertreter Kurt Lischka befand. Analog zur Nomenklatur des Reichssicherheitshauptamtes in den besetzten Gebieten erhielt Danneckers rasch auf sechs Mitarbeiter anwachsendes Judenreferat die Bezeichnung „IV J“.291 In das übliche Spektrum seiner Aufgaben fiel unter anderem die Erstellung von Adresslisten, die für die Deportation der Juden aus Frankreich von großer Wichtigkeit waren.292 Auch die Kontaktaufnahme mit den französischen Antisemiten und die Lenkung ihrer Aktivitäten gehörte zu den Schwerpunkten seiner Arbeit. Auf Danneckers Betreiben hin wurde am 11. Mai 1941 in Paris mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Botschaft das Institut d’Études des Questions Juives gegründet, das eine ähnliche ‚Aufklärungsabsicht‘ verfolgte wie die entsprechenden Judeninstitute in Deutschland. Dannecker hatte eigens das Haus eines jüdischen Kunsthändlers für das neue Institut in der Rue La Boétie 21 beschlagnahmen lassen.293 Nach außen hin sollte das Institut d’Études des Questions Juives als eine rein französische Angelegenheit erscheinen und die deutsche Beteiligung daran möglichst nicht bekannt werden. Dannecker wollte besonders Militärgerichtshof Nürnberg, Bd. 38, Nürnberg 1949, S. 1–24 (Dokument 185-L), hier S. 4, S. 7, und S. 14f. 291 Steur, Theodor Dannecker, S. 45. 292 Siehe zur deutschen Judenpolitik in Frankreich besonders Michael R. Marrus und Robert O. Paxton, Vichy France and the Jews, New York 1981, Ahlrich Meyer, Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940–1944. Widerstandsbekämpfung und Judenverfolgung, Darmstadt 2000, Michel Laffitte, Juif dans la France allemande. Institutions, dirigeants et communautés au temps de la Shoah, Paris 2006 und das bereits genannte Buch von Klarsfeld Vichy – Auschwitz. 293 Papen-Bodek, Anti-Jewish research, S. 164.
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einen Einfluss des im März 1941 gegründeten Commissariat Générale des Questions Juives unter Xavier Vallat (1891–1971) verhindern. Mit Vallat hatte er manchen Streit, weil dieser seine Zielvorgaben hinsichtlich einer effizienten Judenpolitik nicht schnell und vorbehaltlos genügend umsetzte. Zum Institutsleiter wurde deshalb der ehemalige Kolonialoffizier Paul Sézille (1879–1944) ernannt, der wegen seiner Unterwürfigkeit mehr nach dem Geschmack Danneckers war. 1942 wurde Vallat zudem durch Louis Darquier de Pellepoix (1897–1980) ersetzt.294 Eine erste wichtige Aufgabe des Institut d’Études des Questions Juives bestand in der Durchführung einer antisemitischen Propagandaausstellung, mit der die Pariser Bevölkerung von der Gefährlichkeit des Judentums überzeugt werden sollte. Die am 5. September 1941 im Palais Berlitz eröffnete Ausstellung „Le Juif et la France“ lehnte sich formal und inhaltlich stark an das Münchener Vorbild „Der ewige Jude“ an.295 Zum Teil wurden auch Exponate aus Deutschland übernommen. Wie in München spielte die Bezugnahme auf den Talmud auch in Paris eine zentrale Rolle bei der Darstellung eines „ewigen“ Judenproblems. Es gab dort im Erdgeschoss einen eigenen Talmudsaal, in dem die „Extraits du Talmud“ gezeigt wurden.296 Als die Ausstellung am 15. Januar 1942 geschlossen wurde, hatten sie etwa 200.000 zahlende Besucher gesehen. Danach ging sie nach Bordeaux und Nancy, wo ihr Erfolg aber geringer war. Dennoch verstärkte sie den Antisemitismus in einem Teil der französischen Bevölkerung, die lernte die Deportationen der Juden aus Frankreich als notwendig und gerechtfertigt zu akzeptieren. Später wurde das Institut mehr in französische Hände gelegt und diente dem Commissariat Générale des Questions 294
Siehe hierzu besonders die beiden materialreichen Studien von Laurent Joly, Xavier Vallat. Du nationalisme chrétien à l’antisemitisme d’état (1891–1952), Paris 2001 und Darquier de Pellepoix et l’antisémitisme français, Paris 2002 sowie David Pryce-Jones, Paris unter deutscher Besatzung, in: Gerhard Hirschfeld und Patrick Marsh, Hg., Kollaboration in Frankreich, Frankfurt a.M., 1991, S. 23–42 und Grégoire Kauffmann, Paul Sézille, in: Pierre-André Taguieff u.a., Hg., L’antisémitisme de plume 1940–1944, Paris 1999, S. 442–446. 295 Siehe zu der Ausstellung in Paris Joseph Billig, L’Institut d’Études des Questions Juives officine française des autorités nazies en France, Paris 1974, S. 155–173, Dominique Rossignol, Les ultras de la collaboration Parisienne, in: La propagande sous Vichy 1940– 1944, Paris 1990, S. 96–108, Herbert Tübergen, Das Bild des Juden in der Propaganda des Vichiy-Régimes. Analyse der antisemitischen Ausstellung ‚Le Juif et la France‘, Frankfurt a.M. 1992 und Raymond Bach, L’identification des Juifs: L’héritage de l’exposition de 1941 ‚Le Juif et la France‘, in: Revue d’histoire de la Shoah 173, 2001, S. 170–191. 296 Ein Foto des Talmudsaals bei Tübergen, Das Bild des Juden, S. 206, ein Grundriss der auf zwei Etagen gezeigten Ausstellung bei Rossignol, Les ultras de la collaboration Parisienne, S. 103, beides im Ausstellungskatalog Le Juif et la France. Exposition au Palais Berlitz, Paris 1941, S. 15 und S. 31.
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Juives zu Propagandazwecken. Offiziell wurde es im Frühjahr 1943 unter der Leitung des Rassenexperten George Montadon (1879–1944), der Otmar Freiherr von Verschuers Leitfaden der Rassenhygiene ins Französische übersetzt hatte, als Institut Ethno-Racial wiedereröffnet. Einen großen Erfolg erzielten die französischen Antisemiten durch die Schaffung eines antisemitischen Lehrstuhls an der Pariser Sorbonne, der durch den Amtsantritt des ultrakollaborationistischen Kultusministers Abel Bonnard (1883–1968) möglich wurde.297 Die Parallele zur deutschen Entwicklung lässt sich dabei kaum übersehen, auch wenn unklar ist, inwieweit Bonnard bei seiner Entscheidung durch deutsche Stellen beeinflusst wurde. Möglicherweise war es kein Zufall, dass Karl Georg Kuhn zweieinhalb Monate vorher an der Universität Tübingen zum außerplanmäßigen Professor für die Geschichte des Judentums ernannt worden war, bevor Henri Labroue (1880–1964) am 15. Dezember 1942 seine Antrittsvorlesung als neuer Professor für „Histoire du judaïsme“ hielt. Labroue, der auch dem in Bordeaux gegründeten Institut d’Études Juives vorstand, hatte gute Kontakte nach Deutschland und hielt mehrere Vorträge im Institut zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt. Seine Lehrtätigkeit an der Sorbonne stieß unter den Franzosen aber auf breite Ablehnung. Bereits seine Antrittsrede wurde durch protestierende Studenten und Zwischenrufe wie „Bandit! Canaille! Salaud!“ und „Ne laissons pas introduire les méthodes nazies en France“ gestört.298 Eine solche Reaktion wäre in Deutschland undenkbar gewesen. Im Februar 1945 wurde Labroues Professur in einen Lehrstuhl für die Geschichte des Christentums umgewandelt. Auf Danneckers umfangreiche Tätigkeit in Frankreich als Judenreferent Eichmanns näher einzugehen, würde hier zu weit führen.299 Nach einem Streit mit Helmut Knochen, dem Dannecker öfters die Schuld an zu niedrigen Deportationszahlen zu geben suchte, musste er Paris im August 1942 verlassen. Zum Verhängnis wurde ihm dabei ein Nachtklubbesuch, der den letzten Anstoß für seine Abberufung gab.300 Obwohl sich Dannec297 Siehe dazu die drei Beiträge Claude Singers, Vichy, L’université et les Juifs. Les silences et la mémoire, Paris 1992, hier S. 201–205, ders., Léchec du cours antisémite d’Henri Labroue à la Sorbonne (1942–1944), in: Vingtième siècle. Revue d’histoire, Bd. 39, 1993, S. 3–9 und Henri Labroue, ou l’apprentissage de l’antisémitisme, in: Taguieff u.a., Hg., L’antisémitisme de plume, S. 233–246 . 298 Singer, L’échec du cours antisémite d’Henri Labroue, S. 7 und ders., Henri Labroue, S. 239 sowie Lutz Raphael, Die Pariser Universität unter deutscher Besatzung, in: Geschichte und Gesellschaft 23, 1997, S. 525. 299 Die Ausführungen in der Dannecker-Biographie Claudia Steurs bedürfen sicherlich noch der Ergänzung und Präzisierung von Seiten der Holocaustforschung. 300 Steur, Theodor Dannecker, S. 90f.
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ker nicht völlig zufrieden mit dem Erfolg seiner Arbeit zeigte, konnten während seiner Dienstzeit in Frankreich aus seiner Sicht doch immerhin etwa 40.000 Juden in die Vernichtungslager abgeschoben werden.301 Unter ihnen befand sich auch Sophie Ettlinger. Im Dezember 1942 wurde Dannecker darüber informiert, dass er im Januar 1943 als Judenberater in Bulgarien zum Einsatz kommen werde. Der bulgarische Ministerpräsident Bogdan Filov (1884–1945) hatte am 1. März 1941 den Beitritt Bulgariens zum Dreimächtepakt unterschreiben und am 12. Dezember 1941 den USA und Großbritannien den Krieg erklärt. Schon am 21. Januar 1942 verabschiedete das bulgarische Parlament ein antijüdisches Gesetz nach deutschem Muster. Nach längerer Bearbeitung durch das Auswärtige Amt erklärte sich Filov im November 1942 schließlich damit einverstanden, die bulgarischen Juden zu deportieren.302 Weil sich die Zustimmung nur auf die 12.000 Juden bezog, die in den neubulgarischen Gebieten Makedoniens und Thrakiens bzw. in dem von Bulgarien nicht besetzten Ostthrakien lebten, setzte Dannecker alle Hebel in Bewegung, um darüber hinaus auch die 51.000 altbulgarischen Juden in die Vernichtungslager abschieben zu können. Bis Ende März 1943 gelang es, etwas über 11.400 Juden per Schiff und Zug vor allem in das Konzentrationslager Treblinka zu verbringen. Bei den anderen verweigerten sich die Bulgaren. Für die Deportation von annähernd 12.000 Juden stellte Dannecker dem bulgarischen Staat die Summe von 69.727,47 Reichsmark in Rechnung, die auch umgehend überwiesen wurde.303 Aus seiner Sicht handelte es sich bei der Verschleppung und Ermordung von Juden um eine Dienstleistung, die in Höhe der entstandenen Kosten vergütet werden musste. Nach Beendigung seiner Mission in Bulgarien wurde Dannecker vom Reichssicherheitshauptamt damit beauftragt, die Deportation der etwa 37.000 italienischen Juden zu organisieren, die sich nach der italienischen Kapitulation und der Landesteilung in Nord- und Mittelitalien im Herrschaftsbereich der Deutschen befanden. Weil nicht genügend Polizeikräfte für die Ergreifung von Juden zur Verfügung standen, wurde Dannecker die Führung eines sieben Mann starken Einsatzkommandos übertragen, mit dem er begann, Juden zu jagen.304 Zuvor traf er sich mit dem Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD Harster, um die geplanten Aktionen ab-
301
Ebd. Ebd., S. 101f. und Jäckel u.a., Hg., Enzyklopädie des Holocaust, Bd. 2, S. 263f. 303 Steur, Theodor Dannecker, S. 106. 304 Man hat diese letzte Phase der Judenverfolgung in Italien deshalb auch als „Periode der Menschenjagden auf Juden bezeichnet“. Jäckel u.a., Hg., Enzyklopädie des Holocaust, Bd. 2, S. 650. 302
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zusprechen und zu koordinieren.305 Rom wurde Danneckers erster Einsatzort. Doch statt der erwarteten 6000 Juden erbrachte die von Dannecker und Herbert Kappler (1907–1978), dem zuständigen Kommandeur der Sipo und des SD in Rom, mit etwa 150 Polizisten durchgeführte Razzia „nur“ eine Beute von 1259 Juden, die am 18. Oktober nach Auschwitz gebracht wurden. Bereits am 23. Oktober 1943 wurden 839 von ihnen mit Gas ermordet. Das den Juden abgenommene Geld ließ Dannecker sorgfältig zählen und zu Harster nach Verona bringen.306 Im Anschluss an die Rom-Aktion verlegte Dannecker sein Einsatzgebiet nach Norditalien. Zuvor musste er allerdings noch einige Zeit in einem Lazarett in Rom bleiben, weil er sich eine Geschlechtskrankheit zugezogen hatte.307 Um die Effizienz seiner Arbeit zu erhöhen, richtete Dannecker bei der Dienststelle des BdS in Verona, das heißt bei dem ehemaligen Tübinger Polizeipräsidenten Harster, ein eigenes Judenreferat ein, das er selbst leitete und das in erster Linie aus den Mitgliedern seines aufgelösten Einsatzkommandos bestand. In Harsters Dienstelle arbeitete zu dieser Zeit auch der frühere Studentenfunktionär der Eberhard Karls Universität Martin Sandberger, der die sicherheitspolizeiliche Zusammenarbeit des BdS mit den Militärkommandaturen koordinierte. Bevor der Deportationsspezialist Dannecker im Januar 1944 seine Tätigkeit in Ungarn fortsetzte, stellte er sicher, dass sein Judenreferat die Arbeit in Italien in bewährter Weise fortsetzen konnte. Das Internierungslager Fossoli bei Carpi hatte er in ein gut funktionierendes Durchgangslager verwandelt, von dem aus die italienischen Juden nach Auschwitz deportiert wurden.308 Anfang März 1944 begab sich Dannecker im Auftrag Eichmanns in das Konzentrationslager Mauthausen und stellte eine Gruppe ausgewiesener Judenexperten des Reichssicherheitshauptamtes zu einem Spezialeinsatzkommando zusammen, das die „Endlösung der Judenfrage“ in Ungarn bewerkstelligen sollte. Dem nach seinem Leiter benannten „Sondereinsatzkommando Eichmann“ gehörten außer Dannecker und dem früheren Tübinger Studenten und Bundesbruder im Verein Deutscher Studenten Otto Hunsche bewährte Kräfte wie Franz Abromeit, Hermann Krumey, Franz Novak und Dieter Wisliceny an.309 Die etwa 800.000 in Ungarn lebenden 305
Steur, Theodor Dannecker, S. 116f. Ebd., S. 123. 307 Claudia Steur, Eichmanns Emissäre. Die ‚Judenberater‘ in Hitlers Europa, in: Paul und Mallmann, Hg., Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg, S. 427. 308 Steur, Theodor Dannecker, S. 125f. Der italienische Schriftsteller Primo Levi (1919– 1987) wurde im Februar 1944 aus Fossoli in das Konzentrationslager Auschwitz verschleppt. 309 Ebd., S. 129. 306
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Juden zu ermorden, stellte eine Aufgabe ungeheuren Ausmaßes dar, die der äußersten Anstrengung und einer intensiven Zusammenarbeit mit den ungarischen Behörden bedurfte. Als versierter Fachmann für Verwaltungs- und Rechtsfragen bestand Hunsches Aufgabe darin, im ungarischen Innenministerium die juristischen Voraussetzungen zu schaffen, auf deren Grundlage eine möglichst große Zahl von Juden deportiert werden konnte. Der Krieg neigte sich dem Ende entgegen, und es blieb nicht mehr viel Zeit, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Kurz nach dem deutschen Einmarsch in Ungarn im März 1944 bezog Eichmann mit seinem Kommando im Hotel Majestic in Budapest Quartier.310 In den darauffolgenden Wochen arbeitete er mit seinen Leuten mit Hochdruck daran, einen konkreten Deportationsplan aufzustellen und alle für seine Durchführung notwendigen Maßnahmen in die Wege zu leiten. Internierungslager entlang der Bahnstrecke nach Auschwitz sollten die mit Hilfe der vorbereiteten Listen verhafteten Juden aufnehmen und für den „Abschub“ durch eine entsprechend hohe Zahl an Güterwaggons bereit halten. Dank einer alle Kräfte mobilisierenden und auf das eine Ziel hin ausgerichteten Vorgehensweise konnten die Massendeportationen der ungarischen Juden am 15. Mai 1944 beginnen. Bis zum 9. Juli 1944 wurden in 147 hermetisch verschlossenen Güterzügen 437.402 Juden in einer drei bis vier Tage andauernden Höllenfahrt nach Auschwitz gebracht. Die meisten von ihnen wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft in den Gaskammern Birkenaus umgebracht. Obwohl der ungarische Reichsverweser Horty die Judendeportationen Anfang Juli 1944 verbot, setzten Eichmann und seine Mitarbeiter ihr Werk in Eigenregie und nunmehr ohne offizielle Unterstützung fort. Erst im allerletzten Augenblick verließen Dannecker und Eichmann in Wehrmachtsuniformen verkleidet kurz vor der Übernahme Budapests durch die sowjetischen Truppen Ungarn. Bis dahin war es ihnen gelungen, die Deportationszahlen auf über eine halbe Million hochzutreiben.311 Bei Kriegsende hielt sich Dannecker zunächst einige Monate versteckt. Als er seine Familie im Dezember 1945 in Bad Tölz ausfindig machte, suchte er sie dort auf. Er wurde aber erkannt und von der amerikanischen Militärregierung verhaftet. Am Tag darauf erhängte er sich am 10. Dezember 1945 mit einer Rucksackschnur an seinem Zellenfenster. Theodor Dannecker und Paul Zapp unterschieden sich von den anderen Tübinger Exekutoren der Endlösung, die wie Rudolf Bilfinger, Erich Ehrlinger, Alfred Rapp, Martin Sandberger, Walter Stahlecker, Eugen Steimle sowie Ernst und Erwin Weinmann ihr Studiuman an der Eberhard 310 311
Ebd., S. 132. Steur, Eichmanns Emissäre, S. 430f.
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Karls Universität abschlossen, fünf davon mit Promotion, durch die ihnen fehlende Hochschulausbildung. Obwohl sie sich im Umfeld der Tübinger Studentenaktivisten bewegten, führte ihr Weg zum Sicherheitsdienst nicht über eine Mitgliedschaft im NSDStB, sondern über die SS, die ihnen eine Aufstiegschance auch ohne Universitätsstudium bot. Die Bezugsperson von Dannecker und Zapp war Werner Best, die der meisten anderen Gustav Adolf Scheel, der ganz gezielt SD-Mitarbeiter im studentischen Milieu der Universität Tübingen rekrutierte. Trotz der Übernahme von Führungsaufgaben in der SS hatten Dannecker und Zapp keine Chance auf eine höhere Position, weder im nationalsozialistischen Staatsapparat, noch im Reichssicherheitshauptamt. Hierfür benötigte man nach wie vor eine adäquate Universitätsausbildung, mit der man sich einerseits das notwendige juristische oder verwaltungstechnische Fachwissen aneignete, andererseits aber auch entsprechende Beziehungen und einen für eine Führungskraft angemessenen Habitus erwarb. Noch wichtiger waren aber vielleicht die durch eine akademische Ausbildung vermittelten „soft skills“: eigenverantwortliches Handeln, Führungsstärke bei gleichzeitiger Teamfähigkeit, Kommunikations- und Motivationskompetenz, die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge rasch zu erkennen und auftretende Probleme energisch und zielgerichtet anzugehen. Wie dieses Kapitel klar zum Ausdruck bringt, wurde für die Durchführung des Holocaust ein akademisches Know-how benötigt. Ohne ein solches Wissen hätte sich der Übergang von der Stufe gwöhnlicher Pogrome zur planmäßigen Durchführung des Judenmords nicht bewerkstelligen lassen. Von daher erwies sich die Strategie der SD-Führung, gut ausgebildete und aufstiegsorientierte Mitarbeiter im universitären Umfeld zu suchen, als ein ausgesprochen moderner und erfolgreicher Ansatz. Das wichtigste Pfund, mit dem die SD-Führung an den Universitäten wuchern konnte, war aber die ideologische Übereinstimmung auf dem Gebiet des Antisemitismus. Die angehenden SD-Kader mit Hochschulstudium brauchten nicht eigens von der Notwendigkeit einer Verschärfung der nationalsozialistischen Judenpolitik überzeugt werden. Sie waren bereits weltanschaulich gefestigte Antisemiten, als sie dem SD und der SS beitraten. Eine bereits vorhandene, im verbindungsstudentischen Milieu vertiefte und im Nationalsozialistischen Studentenbund weiter radikalisierte Judenfeindschaft kennzeichnet die meisten der in diesem Kapitel behandelten Vollstrecker der Schoah. Diese Beobachtung deckt sich mit den Ergebnissen der Wildtschen Studie über das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Für die Entschiedenheit, mit der eine Generation des Unbedingten den politischen Antisemitismus des Dritten Reiches bis zur letzten Konsequenz verwirklichte, ist die Gruppe der Tübin-
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ger Exekutoren der Endlösung ein paradigmatisches Beispiel. Ihr Hass auf die Juden entwickelte sich analog der bekannten Stufenfolge über die Boykottaktionen am 1. April 1933, die Umsetzung der nationalsozialistischen Rassengesetze, das Judenpogrom im November 1938, die Annexionen Österreichs und des Sudetenlandes, über den Einfall in Polen, in die Niederlande, Frankreich, die Länder Süd- und Osteuropas und schließlich die Sowjetunion. An allen diesen Orten und Stationen gehörten ehemalige Studenten der Eberhard Karls Universität zur Avantgarde einer sich bewusst an die Spitze der Entwicklung stellenden antisemitischen Führungselite. Sie sorgten dafür, dass die antisemitische Praxis der Idee entsprach. „Das Geistige, von dem so viel die Rede war, fand seine Verwirklichung nur in der Praxis. Die Idee erfüllt sich in der Tat.“312 Wenig verwunderlich ist auch die soziale Herkunft des Tübinger Samples nationalsozialistischer Gewaltverbrecher aus der Mitte der Gesellschaft. Es handelte sich bei ihnen nicht um gescheiterte Existenzen, sondern um die Kinder eines etablierten Bürgertums, für die eine Universitätsausbildung zum normalen Sprungbrett eines weiteren sozialen Aufstiegs wurde. Der hier vorgestellte Personenkreis hätte es auch in einem anderen politischen System zu etwas gebracht. Seine Mitglieder zeigten sich in der Lage, die staatlichen Vorgaben in der Judenpolitik eigenverantwortlich aufzugreifen und produktiv weiterzuentwickeln. Als weltanschaulich gefestigte Überzeugungstäter waren sie sich wohl bewusst, was sie taten. Sie mordeten nicht, weil man es ihnen befohlen hatte, sondern weil sie es für richtig hielten und weil sie in ihrem Innern von der Notwendigkeit überzeugt waren, zum Wohle Deutschlands so viele Juden als nur irgend möglich umzubringen. In so gut wie jedem Land Europas finden wir Vollstrecker des Judenmords aus dem Umfeld der Stadt und Universität Tübingen. Ihr Gesamtanteil an der Schoah bewegt sich weit im sechsstelligen Bereich. Um diese horrende Quote genauer zu quantifizieren, wird es eine Aufgabe künftiger Forschung sein, das Beziehungsgeflecht der Tübinger Gruppe nationalsozialistischen Massenmörder noch deutlicher herauszuarbeiten und in die allgemeine politische und militärische Entwicklung einzuordnen.
312
Wildt, Generation des Unbedingten, S. 854.
9. Im Fluss der Geschichte Bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie der Holocaust zustande kam und welche Gründe dafür verantwortlich zu machen sind, dass in einem Zeitraum von weniger als fünf Jahren annähernd sechs Millionen Juden umgebracht werden konnten, sind eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen. Monokausale Schlüsse von einer allgemeinen judenfeindlichen Mentalität zum eliminatorischen Antisemitismus der 1940er Jahre unterschätzen die Dynamik der Kriegsentwicklung, die mit dem Überfall auf die Sowjetunion ihre letzte Stufe erreichte. Erst der Weltanschauungskrieg im Osten ermöglichte das Wirken der Einsatzgruppen und den millionenfachen Mord in den Vernichtungslagern. Auf der anderen Seite ist das Studium der äußeren Kriegsverhältnisse genauso wenig ausreichend, um zu erklären, wie der Plan entstehen konnte, alle Juden umzubringen, und welche inneren Triebkräfte seiner Realisierung zugrunde lagen. Hierfür ist es notwendig, die Ideologie des Antisemitismus und ihren Einfluss auf die Täter der Schoah genauer in den Blick zu nehmen. Dass die Religion als elementarer Bestandteil auch des modernen Antisemitismus nicht angemessen berücksichtigt wurde und dass deshalb eine fundierte Analyse der Beziehung zwischen religiösen und nichtreligiösen Faktoren der Judenfeindschaft unterblieb, ist die Ausgangshypothese der vorliegenden Studie. Abgesehen von einem defizitären Religionsmodell findet sich in der Antisemitismusforschung des Öfteren ein Rekurs auf religiöse Metaphern, der nicht der Erklärung dient, sondern, zum Teil sogar offen eingestanden, das Nichtverstehenkönnen eines sich der rationalen Urteilskraft entziehenden Phänomens bezeugt.1 Die Religion als Fluchtpunkt des Unerklärlichen ist aber gerade bei einer genozidale Formen annehmenden Judenfeindschaft unangebracht, weil ihr geschichtli-
1
Selbst der Ausdruck Holocaust ist nicht davor gefeit, religiös gedeutet und sogar ins Zentrum einer Holocausttheologie gestellt zu werden. Siehe zur ‚Erfindung‘ dieser religiösen Tradition in den 1960er Jahren Jon Petrie, The secular word HOLOCAUST: scholarly myths, history, and 20th century meanings, in: Journal of Genocide Research 2, 2000, S. 31–63.
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cher Ursprung auf ein religiöses Postulat zurückgeht, nämlich auf die Behauptung eines jüdischen Deizids am christlichen Erlöser. Zwar wurden bereits viele Untersuchungen durchgeführt, die sich mit der inneren Strukturlogik des Antisemitismus auseinandersetzen und die dabei auch auf christliche Denkmuster eingehen. Doch den allermeisten Arbeiten, die sich mit der religiösen Dimension der Judenfeindschaft befassen, liegt eine simplifizierende Vorstellung von Religion zugrunde. Sie bleiben fast immer auf der Ebene religiöser Argumente befangen und sind nicht in der Lage, diese theoretisch angemessen zu erörtern. Entgegen einer Geschichtsbetrachtung, die den modernen Antisemitismus dem religiösen Antijudaismus antithetisch gegenüberstellt, muss daran festgehalten werden, dass beide Formen der Judenfeindschaft nicht in einem antagonistischen Ausschließlichkeitsverhältnis zueinander stehen. Vielmehr charakterisiert sich auch der moderne Antisemitismus durch das Nebeneinander von religiösen und nichtreligiösen Faktoren und zeichnet sich durch eine Vielzahl von Übergängen und Mischformen aus. Indem die an und für sich banale religionswissenschaftliche Erkenntnis, dass sich Religionen immer in einer flexiblen Wechselbeziehung zu ihrem kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Kontext befinden, auf die Antisemitismusforschung angewendet wird, lässt sich die Dynamik einer zwar auf religiösen Voraussetzungen beruhenden, sich aber nicht mehr in herkömmlichen kirchlichen Bahnen bewegenden Judenfeindschaft besser verstehen. Bis weit in die säkulare Geschichtswissenschaft hinein überwiegt dagegen ein essentialistischer und zu statischer Religionsbegriff, der nicht in der Lage ist, die eng miteinander verwobenen Elemente religiöser und nichtreligiöser Judenfeindschaft adäquat zu differenzieren. Von einer solchen Warte aus scheint das eigentliche Wesen des Christentums und der ‚Materialismus‘ der Rasse prinzipiell nicht miteinander vereinbar zu sein. Doch schon lange vor dem Aufkommen moderner Rassentheorien bildete sich eine somatische Komponente der Judenfeindschaft heraus, die das behauptete jüdische Wesen und die von den Juden an ihre Kinder weitervererbten negativen Charaktereigenschaften betraf. Beispiele wie die Judennase, der foetor judaicus oder die berühmte limpieza de sangre im frühneuzeitlichen Spanien veranschaulichen, wie religiöse Ressentiments und das Bedürfnis der christlichen Mehrheitsgesellschaft, sich von den Juden und die Juden von sich abzugrenzen, konkrete Vorstellungen jüdischer Körpereigenschaften erzeugten. Der Wunsch nach einer Verdinglichung religiöser Vorurteile begleitete die Geschichte der christlichen Judenfeindschaft von Anfang an und ist keinesfalls das Spezifikum des modernen Rassenantisemitismus.
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Wenn man sich bewusst bleibt, dass die idealtypische Unterscheidung zwischen den beiden Konzepten Antisemitismus und Antijudaismus ein hypothetisches Konstrukt ist und nur in ganz wenigen Ausnahmefällen die Realität abbildet, macht es durchaus Sinn, an der Differenzierung zwischen religiösen und nichtreligiösen Formen der Judenfeindschaft festzuhalten. Die Kreuzigung Jesu und das biblische Gebot, den Juden die christliche Heilsbotschaft zu übermitteln, sind die beiden Hauptmerkmale, an denen sich das Typische des religiösen Antijudaismus festmachen lässt. Unter dogmatischen Gesichtspunkten rangiert die Vorstellung der Tötung des Messias durch die Juden an erster Stelle einer religiös geprägten Judenfeindschaft. Weil ohne den Tod Jesu auf Golgatha das Christentum nicht existieren würde, leuchtet unmittelbar ein, dass antijüdische Vorurteile direkt oder indirekt mit der christlichen Soteriologie in Verbindung stehen müssen. Generell kann der Bezug zur christlichen Heilsgeschichte als das entscheidende Merkmal angesehen werden, das den Antijudaismus vom Antisemitismus unterscheidet. Alle Variationen und Spielarten des religiösen Antijudaismus betreffen Teilaspekte der christlichen Heilsgeschichte, die auf die eine oder andere Weise als durch die Juden bedroht gedacht wird. Eine besonders perfide Form der religiösen Judenfeindschaft ist die christliche Missionsidee, die vorgibt, nur das Beste für die Juden zu wollen. Würde sich eine genügend große Zahl von Juden darauf einlassen, wäre damit unweigerlich das Ende des Judentums gekommen. Eine noch größere Gefahr birgt für das Judentum freilich die erfolglose Judenmission, weil die ‚halsstarrige‘ Weigerung der Juden, den auch für sie geltenden Wahrheitsanspruch Jesu anzuerkennen, einem Fundamentalangriff auf das Christentum gleichkommt. Solange das jüdische Volk an seiner eigenen Religion und Tradition festhält, bezeugt es die Rechtmäßigkeit des alten und die Unrechtmäßigkeit des neuen Bundes mit Gott. Wegen der genetischen Verwandtschaft beider Religionen ist es aus christlicher Sicht so gut wie unmöglich und bereits ein Zeichen fortgeschrittener Säkularisierung, den Juden eine vom Christentum unabhängige Existenz zuzugestehen. Auf der Basis einer traditionellen christlichen Soteriologie ist auch das Credo Kittels vom schlechthinigen Antijudaismus des Neuen Testaments zu verstehen. Seine Verknüpfung der christlichen Heils- mit der jüdischen Unheilsgeschichte ist der Versuch, das theologische Dilemma zweier sich gegenseitig ausschließender Wahrheitsansprüche zu Lasten der anderen Seite aufzulösen. Auch wenn andere theologische Modelle denkbar sind, bleibt der gewaltsame Tod des Messias das Grunddatum christlicher Existenz, das in jeder Feier des Abendmahls und der Eucharistie neu begangen wird. Wollen die Juden den Weg zum Heil finden, müs-
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sen sie durch ihre Konversion beweisen, dass die aporetische Struktur des christlich-jüdischen Verhältnisses durch den Glauben an die Wunderkraft des Blutes Jesu überwunden werden kann. Dass die Taufe offenbar ihre Kraft verloren hatte, dieses Wunder tatsächlich auch zu bewirken, war eine der schmerzlichsten Erfahrungen, die Kittel und viele andere Christen dazu brachte, sich dem nationalsozialistischen Antisemitismus zu öffnen und die „Judenfrage“ als ein politisches Problem neu zu durchdenken. Die Entwicklung des Emanzipationsgedankens hatte in der Weimarer Republik zu einer Situation geführt, die Juden unabhängig von ihrer religiösen Überzeugung zu gleichberechtigten Bürgern des deutschen Staates machte. Ob sich ein Jude taufen ließ oder nicht, war jetzt seine private Entscheidung, die, zumindest der Theorie nach, keine berufliche oder andere Benachteiligung mehr nach sich zog. Weil die verfassungsrechtliche Gleichstellung aller Glaubens- und Weltanschauungsbekenntnisse dem religiösen Antijudaismus gesetzliche Zügel anlegte, verloren traditionelle christliche Vorurteile deutlich an Einfluss. Menschen, die solche Ansichten vertraten, mussten damit rechnen, nicht ernst genommen zu werden oder sogar auf Ablehnung zu stoßen. Der von den politischen Verhältnissen bewirkte religiöse Wandel hatte nicht nur die Relevanz der Taufe aus dem öffentlichen in das private Leben abgedrängt. Auch das Religionskriterium war dysfunktional geworden, um einem Juden die ihm per Gesetz zustehenden Rechte zu verweigern. Nach Abschaffung der Staatskirche fehlten der christlichen Judenfeindschaft schlichtweg die politischen Machtmittel, um sich in einer Weise Geltung zu verschaffen, wie das zu Zeiten der Monarchie noch selbstverständlich gewesen war. Die Bedeutung der Rassenidee liegt darin begründet, dass sie eine Möglichkeit offerierte, alten, vielfach anachronistischen Vorurteilen über das Judentum den Anschein sachlich objektiver Notwendigkeit zu geben und ihnen dadurch neues Leben einzuhauchen. Mit Hilfe rassenkundlicher Erkenntnisse schien sich eine Handhabe zu bieten, jüdische Charakteristika auf einer neuen methodischen Grundlage bestimmen zu können. Dass sich alteingesessene religiöse Vorurteile auf der Ebene eines rassenwissenschaftlichen Erklärungsmodells abhandeln ließen, war umso leichter möglich, als antisemitische Ressentiments so sehr in Fleisch und Blut übergegangen waren, dass sie ohne großen intellektuellen Aufwand als dinglicher Ausdruck jüdischen Wesens verstanden werden konnten. Solchermaßen objektiviert, vermochte ein fest im kulturellen Gedächtnis verankerter Kanon antijüdischer Vorurteile auch solche Menschen zu beeinflussen, die der Kirche kritisch gegenüberstanden und die sich schon mehr oder weniger weit von ihrem traditionellen Lehrgehalt entfernt hat-
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ten. Wenn man schon nicht mehr an das Wunder der Wiederauferstehung Jesu glauben konnte, so doch wenigstens daran, dass die Juden den Sohn Gottes gekreuzigt hatten und ein jeder wirklichen Ethik und Moral feindliches Prinzip darstellten. Die neue Relevanz rassenkundlichen Wissens bedeutete nicht, dass uralte, lange internalisierte und weit verbreitete Ressentiments gegenstandslos geworden wären. Sie bedeutete vielmehr, dass sich auch religiöse Stereotypen veränderten Umweltbedingungen anpassen mussten, um überleben zu können. So wie die Religion muss auch das religiöse Vorurteil mit der Zeit gehen, um seine Wirksamkeit nicht zu verlieren. Sicherlich gehört die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Welterklärung zu den zentralen Charakteristika der europäischen Religionsgeschichte. Eine dezidiert un- oder sogar antiwissenschaftliche Religion ist in der europäischen Moderne nicht vorstellbar. Die Erkenntnis, dass nicht das Absterben der Religion, sondern der Versuch, Religion und Wissenschaft miteinander zu verbinden, in elementarer Weise zur Religionsgeschichte Europas gehört, gilt auch für das religiöse Vorurteil. In Zeiten nachlassender Kirchlichkeit kann es sogar als Modernisierungsfaktor wirken, weil es den der Kirche Fernstehenden eine neuerliche Rückbindung an das Religiöse ermöglicht. Die sogleich nach dem nationalsozialistischen Machtwechsel einsetzende wissenschaftliche Beschäftigung mit dem „Judenproblem“ kennzeichnete sich durch den strukturellen Zusammenhang von Rasse und Religion und nicht, wie vielfach angenommen wird, durch einen Gegensatz zwischen religiösen und rassebezogenen Vorurteilen. Inhaltlich an alte judenfeindliche Stereotypen anknüpfend, nahm sie ihren Ausgang von der Schwierigkeit des nationalsozialistischen Staates, bei der in die Wege geleiteten Rassengesetzgebung ein zuverlässiges Kriterium zu finden, um Juden von Nichtjuden trennen und rechtlich benachteiligen zu können. Sehr schnell stellte sich heraus, dass trotz aller rassenkundlichen Anstrengungen nichts anderes als die Religionszugehörigkeit zur Verfügung stand, um einen Angehörigen der jüdischen von einem der arischen oder deutschen Rasse zu unterscheiden. Nur die Einträge in den kirchlichen Taufverzeichnissen ermöglichte es dem Gesetzgeber, jemand zu einem Juden zu erklären und der staatlichen Repression zu unterwerfen. Auch das Dazwischenschalten einer Rassenzugehörigkeit der Großeltern kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich auch deren rassenmäßige Einstufung nur anhand ihres mosaischen Glaubensbekenntnisses vornehmen ließ. Entgegen aller hochtrabenden Phraseologie beruhte die Bestimmung einer jüdischen Rassenzugehörigkeit auf der schlichten Ersetzung des Wortes Religion durch das Wort Rasse. Der vom Nationalsozialismus behauptete und dann auch in die Historiographie des Kirchen-
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kampfes eingegangene Rassenmaterialismus des Dritten Reiches war dagegen vollkommen fiktiver Natur. Man mag sich noch so sehr darüber wundern, wie mit Hilfe eines derart einfachen Abrakadabra eine jüdische Rasse aus dem Hut gezaubert werden und von so vielen Menschen als eine wissenschaftlich bewiesene Tatsache geglaubt werden konnte. Nichts außer der Religion ermöglichte die Verwandlung eines Juden in einen Rassejuden und keine andere Urkunde als der Taufschein bedeutete das EntreeBillet in den arischen Rassenverband. Die Rasse konnte schon deswegen keine von der Religion unabhängige Existenz entfalten, weil sie ursächlich und existenziell von ihr abhing. Das vollständige Versagen der naturwissenschaftlichen Rassenkunde, körperlich-materiale Eigenschaften von Juden, sei es über das Blut, die Hautleisten oder einfache körperliche Merkmale, herauszuarbeiten und zur Grundlage einer stichhaltigen Rassenklassifikation zu machen, gab den geisteswissenschaftlichen Fächern die Gelegenheit, sich zu profilieren und ihren eigenen Beitrag zur Lösung des „Judenproblems“ zu leisten. Im Rahmen der nationalsozialistischen Rassenkunde entstand auf dieser Grundlage ein neues Forschungsfeld „Judenwissenschaft“, das sich einem der zentralen politischen Probleme des Dritten Reiches widmete. Zumindest an den Universitäten scheint man aber die Diskrepanz gespürt zu haben, die zwischen unwissenschaftlichen antijüdischen Vorurteilen und ihrer wissenschaftlichen Legitimierung bestand. Nicht zuletzt um dem Vorwurf der ideologischen Voreingenommenheit keine Angriffsfläche zu bieten, vermied man deshalb tunlichst, das Wort Antisemitismus zu gebrauchen. Stattdessen verwendete Begriffe wie „Judenfrage“ und „Judenforschung“ sollten zum Ausdruck bringen, dass es im Dritten Reich so etwas wie eine wissenschaftliche Beschäftigung nicht nur mit dem Judentum, sondern auch mit dem „Judenproblem“ geben konnte. Auch wenn man nach 1945 die Übereinstimmung mit der Propaganda des Nationalsozialismus zu bestreiten versuchte, so befand sich die Arbeit der NS-Judenforschung doch vollkommen im ideologischen Gleichklang mit der offiziellen Politik, die sie fachwissenschaftlich zu unterbauen suchte. So viele Aspekte das „Judenproblem“ besaß, so breit fächerte sich die „Judenforschung“ nach 1933 auf, um den verhängnisvollen Einfluss der Juden im Bankensektor, im Kino, in der Kunst, Literatur, Musik, Presse, Wirtschaft, Wissenschaft usw. zu untersuchen. Zum Ursprung der „Judenfrage“ zurückkehrend, wandten sich die beiden wahrscheinlich erfolgreichsten Judenforscher des Dritten Reiches, Gerhard Kittel und Karl Georg Kuhn, der jüdischen Religion zu. Dadurch, dass sie die normativen Schriften des Judentums in den Mittelpunkt ihrer wissenschaftlichen Arbeit stellten, war es ihnen im Eigenverständnis mög-
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lich, das „Judenproblem“ an seiner Wurzel anzupacken und von hier aus den Boden für seine Lösung zu bereiten. Kittels bereits im Juni 1933 erschienenes Buch Die Judenfrage wurde zur Gründungsurkunde einer neuen theoretischen Beschäftigung mit dem Judentum, die vorgab, wissenschaftlichen und völkischen Belangen gleichzeitig Rechnung zu tragen. Gerade die „Judenforschung“ hatte allen Anlass, eine übervölkische Betrachtungsweise als ihrem Gegenstand nicht angemessen zurückzuweisen. Kittels Disput mit Martin Buber zeigt sehr deutlich, dass die Kritik an der angeblich von Voreingenommenheit und mangelnder Wissenschaftlichkeit geprägten jüdischen Judentumskunde als erstes darauf abzielte, den Juden das Recht abzusprechen, sich mit ihrer Geschichte, Religion und Kultur im Rahmen einer deutschen Universität zu befassen. So wie die von Buber an der Universität Frankfurt repräsentierte jüdische Religionswissenschaft den Höhepunkt einer sich im deutschen Hochschulwesen institutionalisierenden Gleichberechtigung des deutschen Judentums bedeutete, so die antijüdische Religionswissenschaft Kittels deren Überwindung und die Rückkehr zum Status quo ante eines von Aufklärung, Emanzipation und dem Gedanken der politischen Gleichberechtigung noch nicht angekränkelten Verhältnisses zwischen Christen und Juden. Kittels ausdrückliches Ziel, das Judentum in seine ihm gemäßen Schranken zurückzuweisen, deckte sich in vollkommener Weise mit der Apartheidlösung der nationalsozialistischen Rassengesetze. Die nationalsozialistische „Judenforschung“ fand vermutlich an keiner anderen deutschen Universität so günstige Vorraussetzungen vor wie in Tübingen. Bereits ihre Gründung im Jahr 1477 wurde durch die Ausweisung aller Juden aus der Stadt begleitet. Und auch in der Folgezeit tat die Eberhard Karls Universität alles in ihrer Macht stehende, um jedweden jüdischen Einfluss von sich fernzuhalten. Vergeblich sucht man in den ersten viereinhalb Jahrhunderten ihrer Existenz nach Äußerungen und Verhaltensweisen, die eine den Juden freundliche Einstellung erkennen lassen würden. Die nicht mit einer teleologischen Entwicklung zu verwechselnde Tradition der Judengegnerschaft äußerte sich nicht nur auf der Ebene der persönlichen Abneigung einzelner ihrer Mitglieder, sondern bemächtigte sich auch ihrer inneren Universitätsstrukturen. Sowohl die Emanzipationsgesetze des 19. Jahrhunderts wie die neue verfassungsrechtliche Gleichbehandlung der Juden in der Weimarer Republik gingen so gut wie spurlos an ihr vorüber. Ganz im Gegenteil suchte man jetzt Strategien zu entwickeln, mit denen die praktische Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben sabotiert werden konnte, ohne dass es nach außen hin auffiel. Mit einer für eine staatstragende Einrichtung erstaunlichen Rechtsauffassung setzte sich die Universität dabei über geltende Gesetze
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hinweg und verhinderte es erfolgreich, dass auch in den letzten der 456 Jahre bis 1933 mehr als ein einziger jüdischer Professor berufen wurde.2 Für das die Universität über Jahrhunderte dominierende christliche Selbstbewusstsein bedeutete die Existenz auch nur eines jüdischen Hochschullehrers einen Anschlag auf ihre weltanschauliche Grundlage. Infolge der württembergischen Gebietserweiterungen hatte die Eberhard Karls Universität im 19. Jahrhundert zwar notgedrungen ein gewisses Kontingent an katholischen Professoren hinnehmen müssen. Aber Juden in den inneren Ring der Universitätsburg hineinzulassen, war selbst noch in der Weimarer Republik undenkbar. Sie rangiert deshalb nicht ohne Grund auf dem letzten Platz aller deutschen Universitäten, was die Zahl der Entlassungen des Jahres 1933 betrifft. Die antisemitische Grundeinstellung der Universität erhielt mit dem nationalsozialistischen Machtwechsel einen immensen Politisierungsschub. Sogleich mit der im Frühjahr 1933 im Hochschulwesen eingeleiteten Säuberungswelle begann sich auch Gerhard Kittel, NSDAP-Mitglied seit dem 1. Mai 1933, Gedanken darüber zu machen, wie eine grundsätzliche Lösung des „Judenproblems“ und sein eigener Beitrag dazu aussehen konnte. In Anknüpfung an die von seinem Amtsvorgänger Adolf Schlatter eingeführte Tradition judaistischer Studien hielt sich Kittel für verpflichtet, sein theologisches Expertenwissen auf dem Gebiet der „Judenforschung“ neu einzubringen. Mit sicherem Blick erkannte er die sich bietende Chance, durch die Verbindung eines alten religiösen Antijudaismus mit dem neuen Gedanken der Rasse, dem Anliegen der evangelischen Kirche in einer von Säkularisierungs- und Entkonfessionalisierungstendenzen bedrohten Situation Geltung zu verschaffen. Auf diese Konstellation nahm der württembergische Landesbischof Theophil Wurm Bezug, als er 1940 die Verdienste der württembergischen Kirche im Kampf gegen das Judentum herausstellte. Dabei erklärte Wurm die Evangelisch-theologische Fakultät der Universität Tübingen zur weltanschaulichen Speerspitze der kirchlichen Judengegnerschaft: „Unsere Württembergische Landeskirche hat sich dank ihrer Tradition von den Vätern her und dank der gewissenhaften, dem Evangelium dienenden und in die Sache eindringenden Arbeit ihrer theologischen Fakultät von jüdischem Einfluß auf religiöskirchlichem Gebiet frei gehalten und sich gegen gewisse, das gesamte deutsche Geistesleben bedrohende philosophisch-religiöse, jüdische Strömungen behauptet im Gehor2
Es handelt sich dabei um den außerordentlichen Professor für Theoretische Physik Alfred Landé. Seine Berufung konnte das Kultusministerium 1922 nur gegen erbitterten Widerstand durchsetzen. Landé verließ Tübingen bereits acht Jahre später wieder. Siehe dazu weiter oben, S. 33 und S. 116–118.
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sam gegen das die Kirche verpflichtende Wort Gottes. Das zeigte sich u.a. auch darin, daß unter rund 1300 württembergischen evangelischen Pfarrern sich im Jahr 1933 unseres Wissens keine nichtarischen Geistlichen befanden. Es war auch dem starken Einfluß der hochangesehenen Tübinger Fakultät zu danken, daß der Senat der Universität Tübingen bei den Berufungen den philosemitischen Tendenzen anderer Universitäten sich nicht anschloß. Getreu ihrer bisherigen Haltung wird die Württembergische Landeskirche auch fernerhin allen Judaismus auf religiösem und geistigem Gebiet bekämpfen.“3
Wurm war vom Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben um eine finanzielle Unterstützung gebeten worden, die er jedoch kategorisch ablehnte. In seiner vom ehemaligen Tübinger Studentenpfarrer Wilhelm Pressel vorformulierten Antwort bestritt er den Sinn und Nutzen einer solchen Einrichtung, die dank des Wirkens der theologischen Fakultät der Landesuniversität in Württemberg nicht benötigt werde.4 Man habe bereits in der Vergangenheit das Eindringen jedweden Judaismus verhindern können. Eine intakte Kirche mit einer solchen Fakultät, so Wurms Argumentation, benötigte kein spezielles „Entjudungsinstitut“. Für die politische Zuspitzung der theologischen Auseinandersetzung mit der „Judenfrage“ ist noch ein weiterer Gesichtspunkt wichtig. Seit dem Sommer 1933 befand sich in Tübingen das organisatorische Zentrum der Deutschen Glaubensbewegung, die laut und offensiv verkündete, dass Nationalsozialismus und Christentum ein Widerspruch in sich wären und dass die Zeit der christlichen Kirche in Deutschland abgelaufen sei. Über kurz oder lang werde die Deutsche Glaubensbewegung das Christentum ablösen. Auch wenn der Einfluss des organisierten Paganentums im allgemeinen weit überschätzt wird, setzte die Propaganda der Deutschgläubigen und der von ihnen gegen die Kirche erhobene Vorwurf, Ausläufer des Judentums zu sein, besonders solche Theologen einem Rechtfertigungsdruck aus, die von einer Synthese zwischen Christentum und Nationalsozialismus überzeugt waren. Dass diese darauf verfielen, die antijüdische Tradition der Kirche und ein für die Lösung der „Judenfrage“ unverzichtbares theologisches Expertenwissen herauszustellen, lag nahe. Mit 3
Schreiben des Evangelischen Oberkirchenrats an das Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben vom 15.1.1940, zitiert nach Eberhard Röhm, Der württembergische Protestantismus und die ‚Judenfrage‘ im Zweiten Weltkrieg, in: Lächele und Thierfelder, Hg., Das evangelische Württemberg zwischen Weltkrieg und Wiederaufbau, S. 36f. 4 Ebd. Der seit dem 12.5.1933 im Stuttgarter Oberkirchenrat tätige Pressel gehörte ab dem 4.5.1933 auch der NSDAP-Fraktion des Tübinger Gemeinderats an. Am 16.6.1933 pries er in einem Artikel für das Neue Tübinger Tagblatt die „ausgezeichnete Untersuchung“ Kittels über die „Judenfrage“ als „christlichen Antisemitismus“.
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der Betonung eines „christlichen Antisemitismus“ konnten sich nationalsozialistische Theologen wie Kittel gewissermaßen als die besseren, den verschrobenen Neuheiden weit überlegenen Nationalsozialisten erweisen. Dass die Universität Tübingen zu einem Zentrum der nationalsozialistischen Judenwissenschaft wurde, muss deshalb auch vor dem Hintergrund der in Tübingen starken deutschgläubigen Bewegung gesehen werden. Wegen der geänderten religionspolitischen Verhältnisse hatte eine sich in traditionell kirchlich-theologischen Bahnen bewegende Auseinandersetzung mit dem Judentum keine Chance mehr auf eine besondere staatliche Anerkennung oder Förderung. Die theologische Artikulation überkommener Vorurteile gegenüber dem Judentum musste sich deshalb weiten und die Form oder zumindest den Anschein einer konfessionsungebundenen Religionswissenschaft annehmen, um einen über den Bereich der Kirche hinausgehenden Einfluss entfalten zu können. Kittels Weigerung, aus der Evangelisch-theologischen Fakultät auszutreten, machte es unmöglich, ihn mit einem judenkundlichen Lehrstuhl zu betrauen, der ihm mehrfach angetragen wurde und für den er vom Renommee und den fachlichen Kenntnissen her die ideale Besetzung gewesen wäre. In diese Lücke vermochte indes sein Schüler Kuhn vorzustoßen, der wie er selbst das Programm einer nationalsozialistischen Judenwissenschaft vertrat. Kuhn hatte sich in der Philosophischen Fakultät habilitiert und war weitaus weniger stark in kirchliche Strukturen eingebunden als Kittel. Nach Erlangung der Venia legendi (1934) und der Dozentur neuer Ordnung (1939) wurde Kuhn am 28. September 1942 zum ersten außerplanmäßigen Professor des Dritten Reiches für die Erforschung des Judentums und der „Judenfrage“ ernannt. Wenn die deutsche Kapitulation weitergehende Bemühungen nicht gewaltsam abgebrochen hätte, wäre Kuhn mit Sicherheit der erste Lehrstuhlvertreter einer antisemitischen „Judenwissenschaft“ in Deutschland geworden. Ungefähr neun Jahre nach der Publikation seiner Schrift Die Judenfrage fasste Kittel den erreichten Stand der nationalsozialistischen „Judenforschung“ zusammen und erläuterte in einem unpubliziert gebliebenen Beitrag, wie er sich jetzt ihre Aufgaben vorstellte. Das sechzehnseitige Manuskript mit dem Titel „Stellung der Judaistik im Rahmen der Gesamtwissenschaft“ wurde von Viktor Christian, dem Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Wien, am 16. Oktober 1942 beim Reichserziehungsministerium in Berlin eingereicht, um seinem Antrag auf Einrichtung einer judenkundlichen Professur Nachdruck zu verleihen.5 Kittels Darle5
Christian an das Reichserziehungsministerium am 16.10.1942, Archiv der Universität Wien, Philosophische Fakultät 1129. Der undatierte Text Kittels, ebd., 734-1941/42.
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gung bezeugt seine außerordentliche Kenntnis auf dem Gebiet der Judaistik. Hier sprach jemand, der die Probleme des Fachs aus jahrzehntelanger eigener Erfahrung kannte. Sein eigentliches Thema betraf die innere Kohärenz einer wissenschaftlich theologischen Erforschung des Judentums, deren Autonomie und universitäre Verortung neu zu durchdenken war. Mit dem Lob auf die Leistungen der historisch-kritischen Theologie, die allein imstande gewesen sei, der jüdischen Tabuisierung einer kritischen Auseinandersetzung mit ihrer Religion und Geschichte entgegenzutreten, verband Kittel seine Kritik an der Unfähigkeit des Judentums, „zu einer methodisch-wissenschaftlichen Erforschung seiner selbst“ zu kommen.6 Den antisemitischen Überschuss über eine „‚neutrale‘, harmlose ‚nur‘-wissenschaftliche Judentumskunde“ bezeichnete er als das totaliter alter der nationalsozialistischen Judaistik.7 Jede vom Gedanken des Volkes und der Rasse abstrahierende Beschäftigung mit dem Judentum müsse zwangsläufig eine Verharmlosung des „Judenproblems“ nach sich ziehen. Kittel sah im Judentum eine Krankheit des Volkskörpers, deren Schwere es der Judaistik nicht erlaube, sich einer „romantisierenden Humanisierung und Idealisierung“ hinzugeben. Vernachlässige die Judaistik ihre Bestimmung und höre sie auf, „ihren Gegenstand als Ab-Art, als Un-Natur, als Krankheit und als Pervertierung zu sehen“, werde sie zum „Satansdienst“ und vergehe sich am völkischen Interesse, indem sie „das instinkthaft sichere Wissen um das, was gesund und das was krank ist“ betäube.8 Seine bereits früher entwickelte Rechtfertigungsstrategie wieder aufgreifend, teilte Kittel die jüdische Geschichte in zwei Perioden ein. Die erste nannte er eine Vor-Geschichte des Judentums, die er durch eine Disziplin bearbeitet sehen wollte, der man den Namen „Israelistik“ geben könne und die das „noch-nicht-jüdische Israel“ zum Gegenstand habe. Damit erhoffte sich Kittel, den Vorwurf eines jüdischen Charakters der christlichen Religion zurückweisen zu können. Bei der entscheidenden Frage, wann das charakteristisch Neue des eigentlichen Judentums begonnen habe, verwies er auf das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament, das sich genau mit diesem Problem und den mit dem Auftreten des Christentums einhergehenden sprachlichen und religiösen Veränderungen befasse. Zufälligerweise setzte in Kittels Modell die geistige Entartung und rassische Depravation des jüdischen Volkes gerade in dem Moment 6
Gerhard Kittel, Stellung der Judaistik im Rahmen der Gesamtwissenschaft, S. 2. Das sei auch der Grund dafür, warum es die Juden trotz „freiester Entfaltungsmöglichkeiten und reichster finanzieller Hintergründe“ nie zu einer modernen Ansprüchen genügenden Edition Rabbinischer Texte gebracht hätten. Ebd. 7 Ebd., S. 3. 8 Ebd., S. 14.
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ein, als es anfing, sich dem christlichen Superioritätsanspruch zu verweigern. Dieser zeitlich mit dem Leben Jesu zusammenfallende Beginn des zweiten Abschnitts jüdischer Geschichte bilde den eigentlichen Gegenstandsbereich der nationalsozialistischen Judaistik. Es ist hier nicht zu übersehen, wie Kittel versuchte, die alte christliche Substitutionstheologie mit einer neuen rassischen Begründung zu versehen. Der zweite tragende Gedanke in Kittels Ausführungen beinhaltete die Propagierung einer jüdischen Ghettoexistenz, die von ihm mit dem Talmud korreliert und als die dem jüdischen Wesen am besten entsprechende Lebensform ausgegeben wurde. Je ghettohafter das Judentum sei, desto mehr tendiere es „in all seiner Abstrusität“ dazu, eine eigenständige Größe zu werden und desto mehr gewinne die Forderung nach einer besonderen Judaistik ihr Recht.9 Deshalb sah der Tübinger Neutestamentler in der Rückkehr des Judentums zur „Sachgemäßheit“ seiner Ghettoexistenz die einzige Möglichkeit, dem modernen „Judenproblem“ beizukommen. Den Zionismus lehnte Kittel dagegen kategorisch ab, weil er die Ziele des Weltjudentums verfolge und seine Weltherrschaftspläne unterstütze. Es sei geradezu widersinnig, die Juden irgendwo auf der Welt ansiedeln zu wollen. Ganz abgesehen davon habe der Zionismus weder die Fähigkeit, noch jemals die Absicht gehabt, den „Anspruch des Parasiten in eine echte Volks- und Heimatgestalt umzugießen“. In Weiterführung seines früheren Segregationsansatzes verlangte Kittel die Ghettoisierung der Juden, weil sie dem Wesen des Judentums und den Interessen des deutschen Volkes am besten entsprechen würde – „nicht die Aufhebung, sondern die Fixierung des Ahasvermythus: das ist die Heimat und Heimstätte der Judenschaft, in der sie am ehesten sich selber hat und sich selber lebt“.10 Die vom christlichen Abendland so lange und so erfolgreich praktizierte Ghettolösung setzte Kittel mit seiner Talmudanalyse in Beziehung, denn was das Ghetto räumlich und soziologisch sei, sei der Talmud geistig.11 Wie besonders die Arbeiten von Karl Georg Kuhn gezeigt hätten, sei der Talmud das Spezifikum des jüdischen Wesens schlechthin, sein eigentlicher Ausdruck und nicht, wie fälschlich angenommen werde, eine Entartungserscheinung des Judentums. Und zusammenfassend: „Ist das Ghetto die klassische Gestalt einer für die Judenschaft adäquaten Lebensform, so ist der Talmud die klassische Gestalt einer dem Judentum adäquaten Geistigkeit und sein Inhalt die klassische Ausprägung jüdischer Welt- und Lebensanschauung.“12 9
Ebd., S. 11. Ebd., S. 11f. Man beachte das Rosenbergsche „u“ im Wort Mythos. 11 Ebd., S. 12. 12 Ebd., S. 13. 10
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Kittel gestand zwar durchaus zu, dass es sich bei einem Leben unter Ghettobedingungen um eine Pervertierung menschlicher Existenz handeln müsse. Der Grund dafür läge aber nicht im bösen Willen der christlichen Völker begründet, sondern ergebe sich aus dem Charakter des Talmudjudentums.13 So wie Kittel Ghetto und Talmud für „die maximalen Fälle einer dem Judentum möglichen Eigenständigkeit“ hielt, so bestimmte er auch den Gegenstandsbereich und die fachliche Kohäsion der nationalsozialistischen Judaistik über das talmudische Wesen des nachbiblischen Judentums.14 Kittels Denkschrift befand sich intellektuell auf der Stufe einer „Ghettolösung“ des „Judenproblems“, wie sie in den von Deutschland besetzten Ostgebieten, etwa in Warschau oder Litzmannstadt, Gestalt angenommen hatte. Während des Krieges schien sich tatsächlich die Möglichkeit zu eröffnen, die von ihm verlangte „Fixierung des Ahasvermythus“ in der Form eines Judenghettos realisieren zu können. Auf deutschem Reichsgebiet entbehrte diese Idee sowohl der inneren als auch der äußeren Voraussetzungen. Und selbst in Polen entsprach Kittels Lösungsansatz weniger einem mittelalterlichen Judenghetto als dem Gedanken eines modernen Konzentrationslagers. Musste ihm nicht klar gewesen sein, welch verheerende Konsequenzen die Verwirklichung seiner Überlegungen zur Folge gehabt hätte? Wie sollte es möglich sein, hunderttausende von Juden in städtischen Ghettos oder in eigens eingerichteten Lagern dauerhaft zu kasernieren? Dass dies allein schon technisch undurchführbar war, hatten Theodor Dannecker und Walter Stahlecker bei ihren gescheiterten Niskoplänen enttäuscht feststellen müssen.15 In einer erstaunlich direkten Parallelität zur antisemitischen Politik des Dritten Reiches hatten Kittels Vorschläge für eine Lösung der „Judenfrage“ eine immer radikalere Form angenommen. Bei gleichzeitiger Ablehnung einer zionistischen Exterritorialisierung des Problems und der zur Gewissheit gewordenen Enttäuschung darüber, wie wenig Juden de facto zum Christentum übertraten, kehrte Kittel 1942 wieder zu dem Dilemma seiner vier Lösungsansätze zurück, die er bereits 1933 in Die Judenfrage diskutiert hatte. Seine damals so salopp vorgetragene Mutmaßung, dass man die Juden eben totschlagen müsse, wenn sich alle anderen Möglichkeiten, der „Judenfrage“ Herr zu werden, erschöpft hätten, befand 13 „Selbstverständlich ist ein Ghettodasein vollendete Unnatur, aber nicht um der sadistischen Grausamkeit derer willen, die es dem Judentum bereiten, sondern weil ihre eigene Geschichte und ihr eigenes Dasein wesenhaft Pervertierung echten Völkerdaseins ist und deshalb allein in dieser seine sachgemäße Daseinsform findet.“ Ebd., S. 15. 14 Ebd. 15 Siehe dazu weiter oben, S. 332.
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sich zum Zeitpunkt seiner Judaistik-Denkschrift bereits im Stadium des Übergangs von der hypothetischen Rhetorik zur praktischen Verwirklichung. Ohne dass Kittel eine solche Forderung tatsächlich erhob, besaß sein geschichtstheologisches Modell gleichwohl eine innere Dynamik und den latenten Keim für eine antisemitische Zuspitzung, die auf den Gedanken hinauslief, dass man die Juden physisch loswerden müsse, um das „Judenproblem“ loszuwerden. Über die Rückkoppelung des modernen Rassenantisemitismus mit dem alten Schema antitalmudischer Projektionen wurde es möglich, die Notwendigkeit einer von den Juden selbst verschuldeten Abwehrreaktion bis zur letzten Konsequenz weiterzudenken. Man würde die Wirkungsweise ideologischer Prozesse missverstehen und die Einflussmöglichkeit von Intellektuellen überschätzen, wenn man annehmen würde, dass es eines direkten Aufrufs durch die Theoretiker des Antisemitismus bedurft hätte, um den Holocaust in Gang zu setzen. Andererseits agierten die Judenmörder alles andere als in einer ideologiefreien Zone. Ihr Tun wäre ohne Sinn gewesen, hätte es sich nicht auf die Ideologie des Antisemitismus beziehen können. Das im achten Kapitel dieser Untersuchung behandelte Sample Tübinger Gewaltverbrecher lässt erkennen, wie eng der Zusammenhang von antisemitischer Theorie und antisemitischer Praxis in Wirklichkeit war. Offensichtlich nahm der Weg nach Auschwitz doch nicht so viele verwickelte Wendungen und Umwege, wie oft angenommen wird. Der hohe Grad an Eigeninitiative, den die Vollstrecker der Schoah an den Tag legten, schmälert keineswegs den Einfluss der antisemitischen Theorie und Propaganda. Die Idee vermag durchaus zur Gewalt zu werden, wenn sie ein bestimmtes quantitatives und qualitatives Maß übersteigt. An dem Wunsch der Tübinger Exekutoren der Endlösung, so viele Juden als irgend möglich umzubringen, zeigt sich, dass ihr Erlösungsantisemitismus ohne weiteres an den alten theologischen Zusammenhang von christlichem Heil und jüdischem Unheil anschließen konnte, auch wenn sie selbst mittlerweile in einem eher distanzierten Verhältnis zur Kirche stehen mochten. Gerade für diesen Personenkreis war es von zentraler Bedeutung, eine wissenschaftliche Erklärung der „Judenfrage“ zu bekommen, die an alte und vertraute Judenbilder anknüpfen, gleichzeitig aber auch von einer engen theologischen Dogmatik abstrahieren konnte. An der Schnittstelle zwischen einem rassischen und religiösen Deutungsschema angesiedelt, fiel der Tübinger Variante der nationalsozialistischen Judenforschung die Aufgabe zu, nicht mehr zeitgemäßen oder sogar vom Aussterben bedrohten antisemitischen Ressentiments zu neuer Wirksamkeit zu verhelfen. Die im Medium der Rasse erfolgte wissenschaftliche Begründung für das „Judenproblem“ war nicht nur imstande,
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religiöse und nichtreligiöse Aspekte der Judenfeindschaft zu einer explosiven ideologischen Mischung zusammenzuballen. Sie bildete auch das Missing link zwischen ‚gewöhnlichen‘ Formen der Judenfeindschaft und dem genozidalen Antisemitismus der Schoah. Das Fehlen einer direkten Aufforderung, Gewalt gegen Juden anzuwenden, befreit die Vertreter der nationalsozialistischen Judenwissenschaft nicht von ihrer Verantwortung, die intellektuellen Voraussetzungen dafür geschaffen zu haben, dass den Judenmördern ihr Tun sinnvoll und plausibel erschien. Man kann nicht über Jahre hinweg das jüdische Volk zum schlechthin Bösen und negativen Prinzip der Weltgeschichte erklären und dann nichts damit zu tun haben zu wollen, dass seine Verteufelung zum handlungsleitenden Prinzip wurde. In der Tat nahm die NS-Judenforschung weithin den Charakter einer wissenschaftlichen Dämonologie an. Selbst wenn man das Kausalgefüge zwischen antisemitischer Theorie und Praxis etwas weiter fasst oder nur als mittelbar gegeben ansieht, kommt man nicht um die Feststellung umhin, dass die Vertreter beider Seiten am gleichen Projekt einer Befreiung der Welt vom jüdischen Unglück arbeiteten. Wie die vorliegende Untersuchung zu belegen sucht, ist der überragende Erfolg dieses Unternehmens nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die Verwissenschaftlichung der „Judenfrage“ einen qualitativ neuen Lösungsansatz auf der Ebene methodischer Sachlichkeit und objektiver Gewissheit ermöglichte. Kann es im Kontext dieser Studie einen deutlicheren Beweis für den geschlossenen Stromkreis von theoretischer und praktischer Energie geben, als die Ermordung Lazar Gulkowitschs durch das unter der Führung Martin Sandbergers stehende Sonderkommando 1a der Einsatzgruppe A?16 Joseph Wochenmark nahm sich im März 1943 in Stuttgart das Leben, weil er wusste, was die von Kittel propagierte „Ghettolösung“ für ihn bedeuten würde.17 Auch das Leben von Charles Horowitz und Sophie Ettlinger zeigt in bedrückender Weise eine mehr als nur mittelbare Beziehung zwischen dem Antisemitismus des Wortes und der Tat.18 Der Nexus zwischen einer Tübinger Lehrkanzel, von der das Ausscheiden der Juden aus dem Volkskörper verkündet wurde, und dem Anus mundi in den rückwärtigen Frontgebieten, wo dieses in den von den Juden selbst ausgehobenen Gruben vollzogen wurde, lässt sich schwerlich bestreiten, insbesondere dann nicht, wenn man sich den Werdegang der-
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Siehe zu Lazar Gulkowitsch weiter oben, S. 90–93 und S. 319. Siehe zu Joseph Wochenmark weiter oben, S. 116. 18 Siehe zu Charles Horowitz weiter oben, S. 143–147 und zu Sophie Ettlinger, S. 282– 286, S. 326, S. 349 und S. 384. 17
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jenigen vor Augen hält, die wenige Jahre nach ihrem Studium an der Universität Tübingen zum leitenden Personal der Schoah gehörten. Der Übergang von der Geschichte zur Nachgeschichte des Holocaust wurde von dem aus Sicht der Täter verständlichen Wunsch begleitet, nicht damit in Verbindung gebracht zu werden. Auch die früheren Repräsentanten der nationalsozialistischen Judenforschung taten ihr möglichstes, um Fragen nach der eigenen Verantwortung gar nicht erst aufkommen zu lassen. Sofern die in diesem Buch behandelten Personen den Krieg überlebten, gelang es ihnen erstaunlich schnell und erstaunlich gut, ihre Vergangenheit abzustreifen und ein neues Leben anzufangen. Im Gegensatz zum fast vollständigen Erliegen der jüdischen Geschichte in Europa begann sich auf ihrer Seite rasch eine ausgeprägte Mentalität des „life goes on“ durchzusetzen. Trotz der ungeheuerlichen Verbrechen, die von den Tübinger Beteiligten an der Schoah begangen wurden, starb nur einer von ihnen durch die Vollstreckung eines Todesurteils. Die anderen kehrten nach Verbüßung relativ kurzer Gefängnisstrafen im allgemeinen wieder rasch in ihr bürgerliches Leben zurück. Das neben Erich Ehrlinger und Eugen Steimle gravierendste Beispiel hierfür ist der am 30. März 2010 in einem Stuttgarter Seniorenstift verstorbene Martin Sandberger. Nach seiner Verurteilung zum Tod am 8. April 1948, der Begnadigung am 31. Januar 1951 und seiner Haftentlassung am 9. Mai 1958 war es ihm vergönnt, noch über 50 Jahre seines Lebens in Freiheit zu verbringen. Schreiender kann der Gegensatz zu den Opfern der Einsatzgruppe A und den Spätfolgen bei denjenigen, die ihr Wüten überlebten, kaum sein. Welche Vertreter aus Politik und Kirche aufgrund welcher Beweggründe ein Netzwerk knüpften, in das Sandberger und andere Kriegsverbrecher so weich fallen konnten, bedarf dringend der Erforschung. Sicher ist bereits beim jetzigen Kenntnisstand, dass es der kirchlich-bürgerliche Hintergrund Sandbergers war, der es möglich machte, die Frage von Schuld und Sühne so zügig mit christlicher Vergebung zu beantworten und in nachsichtiges Vergessen überzuführen. Auch von den Protagonisten der nationalsozialistischen Judenwissenschaft ist nicht bekannt, dass sie nach 1945 von allzu großen Gewissensbissen oder Schuldgefühlen geplagt gewesen wären. Ganz im Gegenteil hielt Kittel in seiner nach dem Krieg geschriebenen Rechtfertigung ausdrücklich an dem nach seiner Meinung unverbrüchlichen Zusammenhang von christlicher Heils- und jüdischer Unheilsgeschichte fest. Ungeachtet aller Verbrechen an den Juden rechnete er die Frontstellung gegenüber dem Judentum noch immer zum unaufgebbaren Bestandteil der christlichen Theologie. Nach wie vor bezeichnete der TWNT-Herausgeber den Antijudaismus des Neuen Testaments als den antijüdischsten, den es
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überhaupt geben könne und das Neue Testament das antijüdischste Buch der Weltgeschichte.19 Seine Verteidigungsstrategie suchte er entlang der Linie eines von ihm heroisch geführten Kampfes gegen den Vulgärantisemitismus im Stile Rosenbergs und Streichers zu entwickeln. Abgesehen von seiner eigenen Beziehung zu den beiden ließ er nun einfach den Zusatz weg, dass es ihm dabei um einen effektiveren, das heißt wissenschaftlich besser begründeten und den metaphysischen Ursprung der „Judenfrage“ angemessener berücksichtigenden Antisemitismus gegangen war. Die Verteidigungsschrift des Tübinger Neutestamentlers enthält nicht nur wertvolle Hinweise auf die äußere Entwicklung der nationalsozialistischen Judenforschung. Die von ihr zum Ausdruck gebrachte Motivlage macht sie darüber hinaus auch zu einem einzigartigen Dokument, an dem sich die inneren Triebkräfte studieren lassen, die zu einem neuen wissenschaftlichen Blick auf die „Judenfrage“ führten.20 Karl Georg Kuhn erhielt nach einer ersten Suspendierung im Juli 1945, der Amtsenthebung am 1. Februar 1946 und der Beendigung des Spruchkammerverfahrens am 18. Oktober 1948 den förmlichen Bescheid, von allen Vorwürfen „entlastet“ zu sein.21 Daraufhin konnte er bereits im nächsten Jahr an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Göttingen zum außerplanmäßigen Professor für Neues Testament und Judaistik ernannt und 1954 ordentlicher Professor und Direktor des neutestamentlichen Seminars der Universität Heidelberg bzw. 1957 auch Leiter der dortigen Qumran-Forschungsstelle werden. Die Krönung seiner Karriere erfolgte 1964, als er in die Heidelberger Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde.22 Mit einer zum Teil abenteuerlichen Begründung wurde Kuhn in seinem Spruchkammerverfahren von jedem Verdacht freigesprochen, irgendetwas mit dem Antisemitismus des Dritten Reiches zu tun gehabt zu haben. Die Kammer vertrat vielmehr die Position, dass die von Kuhn aufgeworfenen Fragen „eine rein fachwissenschaftliche Behandlung“ erfahren hätten und keinerlei antisemitische Neigung 19
Gerhard Kittel, Meine Verteidigung, UAT, 162/31, S. 6f. Natürlich enthält Kittels Verteidigung auch eine Reihe dreister Lügen wie die, dass er von den Vulgärantisemiten und Christentumsfeinden so sehr gehasst worden sei, dass es nur einer günstigen Gelegenheit bedurft hätte, um ihn „unschädlich zu machen“. Er habe sich ständig mit einem Fuß im „K.L.“ befunden und es für wahrscheinlich gehalten, dass er „eines Tages verschwunden sein könne“. Ebd., S. 43. 21 Urteil der Spruchkammer für den Lehrkörper der Universität Tübingen vom 18.10.1948, Staatsarchiv Sigmaringen, Wü 13, 2657. 22 Siehe hierzu Gerd Theißen, Neutestamentliche Wissenschaft vor und nach 1945: Karl Georg Kuhn und Günther Bornkamm, Heidelberg 2009. Kuhns (und auch Kittels) Antisemitismus auf Identitätsprobleme einer an und für sich philosemitischen Grundhaltung zurückzuführen (S. 107), ist abwegig. 20
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erkennen ließen.23 Selbst bei Kuhns Boykottrede am 1. April 1933 sah man sich außerstande, einen antisemitischen Zusammenhang oder gar eine propagandistische Wirkung zu erkennen.24 Auch der Rektor der Universität Göttingen Ludwig Raiser (1904–1980), der Kuhn nach Göttingen holen wollte, kam nach eingehender Lektüre seiner Publikationen zu dem Ergebnis, dass es sich dabei „durchweg um streng wissenschaftliche und überdies wissenschaftlich wertvolle Untersuchungen handelt, die mit der offiziellen antisemitischen Propaganda des Nationalsozialismus schlechterdings nichts zu tun haben“.25 Der Tübinger Mathematiker Kamke hatte sich darüber beschwert, einen derart belasteten Hochschullehrer wieder zum Lehramt zuzulassen. Der 1937 aus politischen Gründen in den Ruhestand versetzte Kamke musste sich daraufhin von dem Juristen Raiser sagen lassen, er solle das Unrecht der Vergangenheit nicht durch neues Unrecht sühnen wollen.26 Wegen Kuhns Beziehungen zum Volkacher Bund glaubte die Spruchkammer überdies, eine „aktive Opposition gegen das Naziregime aus christlicher Grundhaltung heraus“ erkennen zu können.27 Was man sich unter Kuhns angeblicher Opposition vorzustellen hatte, wurde allerdings nicht näher erläutert. Aus dem Umstand, dass Kuhn möglicherweise jemand vom Volkacher Bund kannte, einen „aktiven Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ abzuleiten, hatte wohl mehr mit Raiser als mit Kuhn zu tun.28 Schließlich stellte die Spruchkammer sogar 23
Spruchkammerurteil vom 18.10.1948, S. 7. Kuhn habe sich lediglich zu den sozialen Zielen der NSDAP bekannt, „freilich zu einem Zeitpunkt, in dem der spätere Verrat am sozialen Programm der Partei noch nicht erkennbar war.“ Ebd., S. 9. Hieran sieht man, dass die Spruchkammer Ansichten vertrat, die denen Kuhns nicht unähnlich waren. 25 So Raiser in seinem Antwortschreiben an Erich Kamke am 30.5.1949, UAT, Personalakte Kuhn, 126a/284, fol. 67. Das Schreiben Kamkes vom 15.4.1949 ist nicht überliefert. 26 Ebd. Raisers Eintreten für Kuhn besaß umso mehr Gewicht, weil er selbst ein erklärter NS-Gegner gewesen war. Von 1955–1973 lehrte Raiser an der Universität Tübingen, deren Rektorat er 1968/69 innehatte. Der zeitweilige Vorsitzende der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1951–1955) und des Wissenschaftsrates (1961–1965) gehörte von 1949–1973 auch der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland an. 27 Spruchkammerurteil vom 18.10.1948, S. 11. Kuhn hatte hier auch seine Karäergutachten ins Spiel gebracht, mit denen er „wesentlich zur Erhaltung dieses kleinen Volkes“ beigetragen habe. Ebd., S. 13. 28 Raiser gehörte selbst dem Volkacher Bund an. Im Juni 1934 hatte er ihn noch einen Freundeskreis genannt, „der ohne alle politische Absicht und Betätigung seine Aufgabe in der Gemeinschaftsbildung unter seinen Angehörigen sah und diesem Ziel durch gemeinsame Wanderfahrten, Diskussions- und Singabende diente.“ (…) „Um dem Verdacht einer Oppositionsstellung zu entgehen und den Angehörigen des Bundes die Eingliederung in den neuen Staat nicht zu erschweren, haben wir daraus die Folgerung gezogen, den Bund aufzulösen.“ So Raiser am 29.6.1934 an das Berliner Kultusministerium, zitiert nach Anna-Maria Gräfin von Lösch, Der nackte Geist. Die Juristische Fakul24
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fest, dass Kuhn infolge seiner „Widerstandshandlungen“ eine berufliche Zurücksetzung erfahren habe. Weil er in Berlin, Tübingen, Wien, Frankfurt und Straßburg für die Besetzung einer judenkundlichen Professur zwar vorgeschlagen, dann aber nicht berufen wurde, sei der Tatbestand einer Benachteiligung aus politischen Gründen und somit auch der „erforderliche Kausalzusammenhang“ zwischen der erlittenen Zurücksetzung und „der Betätigung aktiven Widerstands gegen die antisemitischen Ziele des Nationalsozialismus“ „ohne weiteres“ gegeben.29 Mit einer solchen Beurteilung fiel es Kuhn leicht, im etablierten Wissenschaftsbetrieb wieder Fuß zu fassen und den auch für die sechziger Jahre ungewöhnlichen Wechsel von einem führenden Judenforscher des Dritten Reiches zu einem führenden Vertreter der evangelischen Nachkriegsjudaistik zu bewerkstelligen. Sah sich Kuhn der Kritik ausgesetzt, verwies er einfach auf sein Spruchkammerurteil, so etwa in seiner Auseinandersetzung mit dem Journalisten Rolf Seeliger.30 Auf die Vorhaltungen Seeligers antwortete Kuhn, dass er sich schon von seiner Schrift Die Judenfrage als weltgeschichtliches Problem distanziert habe und dass er darüber hinaus keine Veranlassung sehe, irgendeine andere seiner Publikationen zu widerrufen.31 Auch seine Beiträge für die Forschungen zur Judenfrage erklärte er zu einer streng an den Quellen orientierten „historischen Darstellung des antiken Judentums“.32 Danach brach Kuhn den Briefwechsel mit Seeliger ab und war zu keinen weiteren Stellungnahmen mehr zu bewegen. Es bleibt der judaistischen Forschung vorbehalten, Kuhns Veröffentlichungen während und nach dem Dritten Reich genauer zu untersuchen und miteinander zu vergleichen. Falls Kuhn mit seiner Aussage Recht hätte, dass zwischen ihnen kein wissenschaftlicher Unterschied besteht, würde das einen dunklen Schatten auf die evangelische Judaistik nach 1945 werfen. Jacob Haberman, der sich intensiv mit dieser Frage beschäftigt hat, schreibt einerseits, dass Kuhns Leistung vielleicht nicht mit der Julius Wellhausens, George Foot Moores oder Paul Billerbecks vergleichbar sei, „but today he would be considered the crown jewel in any
tät der Berliner Universität im Umbruch von 1933, Tübingen 1999, S. 228. Auch wenn Raiser mit seinem Schreiben politische Zweifel an seiner Person ausräumen wollte, kann beim Volkacher Bund schwerlich von einer Widerstandsgruppe gesprochen werden. 29 Spruchkammerurteil vom 18.10.1948, S. 15. 30 Rolf Seeliger, Hg., Braune Universität. Deutsche Hochschullehrer gestern und heute, Teil 6, München 1968, S. 46–56, hier S. 54f. 31 Ebd., S. 55. 32 Ebd.
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Jewish studies department at any leading university“.33 Und andererseits: „Kuhn and his cohorts pured gasoline on the flames, while the crematoriums worked overtime, and pitched the masses into frenzy.“34 Dass Kuhn die Frage nach der Ideologisierung seiner judaistischen Arbeit tunlichst zu vermeiden suchte, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Aus psychologischen wie beruflichen Gründen lag es nahe, den politischen Kontext der nationalsozialistischen Judenforschung so weit als möglich auszuklammern und sich nun auf das rein ‚Fachwissenschaftliche‘ zu konzentrieren. Eine solche Flucht in die vermeintliche Sphäre des Unpolitischen findet sich in vielen geisteswissenschaftlichen Disziplinen und ging nicht nur in der Judaistik mit einer Konzentration auf philologische Fragestellungen einher. Angesichts der früheren Verstrickung in den politischen Antisemitismus des Dritten Reiches hatte die Entnazifzierung Kuhns aber eine andere Qualität und Dimension. War es tatsächlich möglich, den Zusammenhang zwischen dem Antisemitismus des Wortes und der Tat zu bestreiten und einfach zur Tagungsordnung überzugehen, ohne auch nur einen Gedanken an die eigene Verantwortung oder die jüdischen Opfer zu verschwenden? Aus welchem Grund war Kuhn im Mai 1940 in das Warschauer Ghetto gefahren und hatte zusammen mit dem Judenreferenten der Gestapo den Besitz der jüdischen Gemeinde in Augenschein genommen? Was hatte es mit der Schreibmaschine Sophie Ettlingers auf sich, die der Tübinger „Judenforschung“ zugeführt werden sollte, um mit ihr die Effizienz der Kuhnschen Arbeit zu erhöhen? Um seinem Ziel einer judenkundlichen Professur näher zu kommen, durfte sich Kuhn nach dem Krieg weder Kittels selbst durch den Holocaust nicht erschüttertes Postulat eines christlichen Antijudaismus zu eigen machen, noch durfte er allzu viel von seiner Vergangenheit preisgeben. Kuhn wählte den Weg, den viele belastete Hochschullehrer gingen: so wenig Aufklärung als möglich zulassen und abwarten, bis Gras über die Sache gewachsen war. Stattdessen vertiefte er sich in seine wissenschaftliche Arbeit, die nun zudem eine philosemitische Note erhielt. Eine ähnliche Strategie lässt sich bei Günter Schlichting, Kittels früherem Assistenten und Mitarbeiter am Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament beobachten. Der vorherige Leiter der evangelischen Seminarbibliothek war seit dem 1. Juli 1937 für die Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands mit dem Aufbau einer antisemitischen Fachbibliothek betraut, die er selbst als eine
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Haberman, Karl-Georg Kuhn, S. 14f. (Übersetzung Haberman). Ebd., S. 38.
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„scharf geschliffene Waffe“ im Kampf gegen das Judentum bezeichnete.35 Der Bestandsaufbau von Schlichtings judenkundlicher Spezialbibliothek erfolgte einerseits über mehr als zweifelhafte Ankäufe, andererseits aber auch auf dem Weg des Bücherraubs und über Sicherstellungen, an denen sich offenbar auch Kuhn in Polen beteiligte. 1941 besorgte sich Schlichting bei dem nach Amsterdam emigrierten Berliner Antiquar Louis Yehuda Lamm (1871–1943) einen Nachdruck der mittelalterlichen Schmähschrift Toledot Jeschu, die er zu antisemitischen Zwecken neu herausgeben wollte. Die von ihm während eines Fronturlaubs begonnene Arbeit ließ sich während des Krieges jedoch nicht abschließen. Erst vier Jahrzehnte später gelang ihm die Neuausgabe, nun aber in philosemitischer Absicht.36 In einem gewundenen Vorwort nahm Schlichting auf die Schuld Bezug, die viele Christen auf sich geladen hätten, „Schuld vor ihrem Herrn und Schuld vor Israel“.37 Weit davon entfernt, auch nur eine Silbe über seine Mitarbeit an der Forschungsabteilung Judenfrage zu verlieren, sprach Schlichting von einem Beitrag zur „geistigen Wiedergutmachung“, den er mit seinem Buch leisten wolle.38 Als junger Mensch sei er „aufgrund der Urteile christlicher und jüdischer Gelehrter“ von einer jüdischen Schmähschrift ausgegangen, was er bedaure. Heute sehe er darin eine Äußerung des jüdischen Überlebenskampfes.39 Zum Ausgangspunkt der Neuausgabe erklärte Schlichting das „Auftauchen“ einer gedruckten Toledot-Jeschu-Ausgabe, die der Verleger Louis Lamm „seinerzeit“ zum Kauf angeboten habe.40 Schlichting wählte hier Formulierungen, die ganz eindeutig der Absicht dienten, zu verschleiern, 35
Siehe dazu weiter oben, S. 247f. Günter Schlichting, Ein jüdisches Leben. Die verschollene Toledot-Jeschu-Fassung Tam u-mu’ad, Tübingen 1982 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, hg. von Martin Hengel und Otfried Hofius, Bd. 24). Seit den 1950er Jahren war Schlichting Mitarbeiter an der von Kittel begründeten und von Karl Heinrich Rengstorf fortgesetzten Reihe Rabbinische Texte. 37 Schlichting, Ein jüdisches Leben, Vorwort. 38 Ebd. 39 Ebd. Schalom Ben-Chorin lobte das Buch in einer ausführlichen Besprechung, wies aber darauf hin, dass es sich bei dem Tam u-mu’ad natürlich um eine antichristliche Polemik handelte. Eine Wendung von Heinrich Graetz aufgreifend („Die Christen vergossen unser Blut, wir vergossen nur Tinte.“), formulierte Ben-Chorin den Satz: „Die Toldoth-Literatur ist, so gesehen, die Tinte wider das Blut.“ Zeitschrift für Religionsund Geistesgeschichte 37, 1985, S. 66. Ob Ben-Chorin, zeitweilig Gastprofessor in Tübingen und erster Preisträger des Leopold-Lucas-Preises im Jahr 1975, etwas von Schlichtings früherer Tätigkeit gewusst hat, erscheint eher unwahrscheinlich. 40 „Ich konnte Herrn Louis Lamm 1932 in Berlin und später in Amsterdam besuchen und den heute im Institut für Antikes Judentum zu Tübingen aufbewahrten Druck persönlich von ihm erwerben.“ Schlichting, Ein jüdisches Leben, S. 6f. 36
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in welchem Kontext er den jüdischen Antiquar während der deutschen Besatzung in Amsterdam aufsuchte, um das Buch von ihm zu erwerben.41 Hätte es nicht eines deutlich anderen Hinweises von Schlichting auf die damaligen Zusammenhänge bedurft, um seiner, wenn auch nur vage ausgesprochenen Reue, Glaubwürdigkeit zu verleihen? Louis Lamm war im Dezember 1933 aus Berlin geflohen, wo er unweit der Synagoge ein bekanntes Judaica-Antiquariat betrieben hatte.42 Zehn Jahre nach seiner Flucht wurde der Berliner Antiquar, Buchhändler und Verleger nach Auschwitz deportiert und dort am 19. November 1943 ermordet. Lamm gehörte zu den 100.000 niederländischen Juden, die unter der maßgeblichen Beteiligung des früheren Tübinger Polizeipräsidenten Harster in das Durchgangslager Westerbork und von dort in die Vernichtungslager im Osten verbracht wurden.43 Im gleichen Jahr, in dem sich Harster 1963 auf öffentlichen Druck hin als Oberregierungsrat bei der Regierung in Oberbayern pensionieren ließ, wurde Schlichting in Bamberg zum evangelischen Dekan und 1966 zum Kirchenrat ernannt. In Regensburg, wo er von 1948 an Pfarrer gewesen war, hielt er nun Vorträge vor der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit über die Toleranz im Lichte des Evangeliums und über die jüdische Geschichte der Stadt. Die mangelnde Einsicht Schlichtings, dass Reue und Vergebung vor allem anderen der historischen Wahrheit bedürfen, ist dazu angetan, auch die Aufrichtigkeit seines mehr angedeuteten als ausgesprochenen Schuldbekenntnisses zu diskreditieren. Auf der Basis des Weglassens, der Verdrehung oder der Unterdrückung zweifellos unangenehmer Tatsachen muss jeder Versuch einer Annäherung an das Judentum nach 1945 unglaubwürdig sein oder sogar den Charakter einer Selbstsalvierung annehmen. Dass sich hochrangige Kirchenfunktionäre wie Theophil Wurm für die Freilassung von Kriegsverbrechern wie Martin Sandberger besonders dann einsetzten, wenn sie einem kirchlichen Umfeld angehörten, steht vermutlich auch mit dem Gefühl des eigenen Versagens und der eigenen Schuld im Zusammenhang. Ausgerechnet bei den Judenmördern an 41 Die genauen Umstände dieses „Erwerbs“, der nach Helmut Heiber (Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966, S. 441) ein Regressverfahren des Amsterdamer Antiquariats gegen Schlichting nach sich zog, liegen im Dunkeln. Es ist aber auffallend, dass es zwischen den Sammelschwerpunkten des Lammschen Antiquariats und denen der Schlichtingschen Bibliothek eine deutliche Übereinstimmung gibt. 42 Werner Schroeder, Die ‚Arisierung‘ jüdischer Antiquariate zwischen 1933 und 1942, in: Aus dem Antiquariat 7, 2009, S. 376. Auch Gershom Scholem gehörte zu den Kunden Lamms und zu den Nutzern seiner einschlägigen Antiquariatskataloge (ebd.). 43 Siehe zu Harsters Wirken in den Niederlanden weiter oben, S. 361–364.
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die christliche Nächstenliebe zu appellieren, hat in Anbetracht der Tatsache, dass sie den Juden zwischen 1933 und 1945 in so großem Ausmaß verweigert worden war, etwas zutiefst Unmoralisches. Auch bei dem von Kittels Amtsnachfolger Otto Michel (1903–1993) im Juni 1956 gegründeten Institutum Judaicum lässt sich erkennen, wie die Weigerung, über die eigene Vergangenheit nachzudenken, die Voraussetzung dafür bildete, sich erneut wissenschaftlich mit dem Judentum beschäftigen zu können. Michel schrieb zwar, dass er „gegenüber der allgemeinen Auflösung des Geschichtsdenkens und Geschichtsverstehens“ die Aufgabe des Instituts darin sehe, die „Wichtigkeit des Geschehnisses“ ernst zu nehmen.44 Doch was er mit dem Wort „Geschehnis“ konkret meinte, ließ er im Unklaren. Dass er dabei an den Holocaust dachte oder eine Kritik an seinem Vorgänger auf dem neutestamentlichen Lehrstuhl Schlatters intendierte, scheint ausgeschlossen zu sein.45 Ohne die Tübinger „Judenforschung“ vor 1945 zu thematisieren, entbehrt das Bemühen des Institutum Judaicum für eine Neubestimmung des christlich-jüdischen Verhältnisses der inneren Wahrhaftigkeit und erscheint auf Sand gebaut. Zumindest am Anfang hatte die Arbeit des Instituts eindeutig den Charakter eines Ablenkungsmanövers, um seine Vorgeschichte zu verdecken. Noch vor Kriegsende hatte man in der Evangelisch-theologischen Fakultät damit begonnen, kompromittierende Akten beiseite zu schaffen. Ausgerechnet ihr Dekan Artur Weiser, der im Oktober 1941 noch dem Karlsruher Polizeipräsidenten mitgeteilt hatte, dass er Sophie Ettlingers Schreibmaschine für die Fakultät in Besitz zu nehmen wünschte, wies den theologischen Fachschaftsleiter Friedrich Schmid im Januar 1945 an, den Aktenschrank der Fachschaft durchzusehen und „belastendes Material, insbesondere über Professoren der Fakultät, zu vernichten“.46 In aller Offenheit habe Weiser ihm gesagt, dass der Einmarsch der Alliierten bevorstehe und dass eine Abrechnung mit der NS-Vergan-
44 Otto Michel, Das Institutum Judaicum der Universität Tübingen, in: Attempto 22, 1967, S. 21. Von Michel stammen zwei hoch problematische Nachrufe auf Kittel im Deutschen Pfarrerblatt (1958, S. 415-417) und in der Neuen Deutschen Biographie (Bd. 11, 1977, S. 691f.). Siehe zur Institutsgründung auch Reinhold Mayer, Das Institutum Judaicum in Tübingen, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 12, 1960, S. 79f. 45 Michel habe versucht, die „einschlägige Arbeit“ Schlatters und Kittels „auf ganz eigenständige Weise in einer sehr veränderten geschichtlichen Lage weiterzuführen“. So Peter Schmidt, Juden und Christen, in: Helgo Lindner, Hg., ‚Ich bin ein Hebräer‘. Zum Gedenken an Otto Michel (1901–1993), Gießen 2003, S. 155f. 46 So Friedrich Schmid in seinen Erinnerungen ‚Eine Insel des Friedens‘: Die Jahre 1943– 1945, in: Hermle u.a., Hg., Im Dienst an Volk und Kirche, S. 122.
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genheit zu erwarten sei. Schmid stimmte mit Weiser überein und sah keine Veranlassung, dem Wunsch seines Dekans nach Vernichtung der Akten zu widersprechen: „Ich packte sie in meinen Koffer und verbrannte dann seinen Inhalt ohne Aufsehen in der Stiftsheizung. Nachträglich habe ich vermutet, dass ich nur ein kleiner Faktor innerhalb einer größeren Reinigungsaktion schon einige Zeit vor der sogenannten Entnazifizierung gewesen bin.“47
Als es im Zusammenhang der 450-Jahrfeier der Universität Tübingen in den siebziger Jahren zu ersten vorsichtigen Versuchen einer kritischen Beschäftigung mit dem Vermächtnis Gerhard Kittels durch Leonore Siegele-Wenschkewitz kam, wurden diese so gut es ging hintertrieben.48 Und auch in dem 1976 erschienen Standardwerk des Tübinger Kirchenhistorikers Klaus Scholder Die Kirchen und das Dritte Reich scheint der Name Kittels bewusst weggelassen worden zu sein, obwohl der Diskussion des kirchlichen Arierparagraphen breiter Raum gewährt wird.49 Heute lassen sich die Hintergründe des Übergangs von der alten „Judenforschung“ zur neuen Judaistik vermutlich nicht mehr vollständig eruieren. Hätte aber nicht jeder Versuch, das christlich-jüdische Verhältnis auf eine neue wissenschaftliche Grundlage zu stellen, als erstes der vorbehaltlosen Aufklärung bedurft? Ohne die spätere Leistung des Institutum Judaicum in irgendeiner Weise herabsetzen zu wollen, scheint der Verdacht nicht ganz aus der Luft gegriffen, dass zunächst einfach die alten Fragen wieder aufgenommen und ins Positive gewendet wurden. Die bloße Negation der Negation und eine die eigene Geschichte unterdrückende Beschäftigung mit dem Judentum reicht für einen wirklichen Neuanfang aber nicht aus. Gerade in Tübingen sollte das Umschlagen der früher dezidiert antijüdischen in eine philojüdische Einstellung weitaus mehr Anlass zur Sorge als zur Selbstzufriedenheit sein. Angesichts einer derart langen und nachhaltigen Tradition akademischer Judenfeindschaft, die den Entwicklungsgang der Eberhard Karls Universität begleitete, muss jede Form eines demonstrativen Philosemitismus zwangsläufig den Eindruck der peinlichen Anbiederung erwecken.
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Ebd. So ihr Ehemann Ulrich Siegele, in: Hermann Düringer und Karin Weintz, Hg., Leonore Siegele-Wenschkewitz, Persönlichkeit und Wirksamkeit, Frankfurt a.M. 2000, S. 253– 258. 49 Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918–1934, Frankfurt a.M. 1986 (Erstaufl. 1976). 48
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Wenn heute von einer grundsätzlich positiven Beziehung zwischen Christentum und Judentum ausgegangen wird, sollte man nicht vergessen, dass annähernd zwei Jahrtausende lang die gegenteilige Annahme Gültigkeit besaß. Es gibt wenig Entwicklungsfaktoren in der christlichen Religionsgeschichte, die über einen so langen Zeitraum ähnlich stabil geblieben sind, wie die Abgrenzung gegenüber dem Judentum. Dass nach der Erfahrung des Holocaust seit drei oder vier Jahrzehnten der Philojudaismus als eine dem Christentum inhärente Wesenseigenschaft betrachtet wird, bedeutet gleichzeitig aber auch, dass alle diejenigen der kirchlichen und theologischen Führer, die früher ein grundsätzlich negatives Bild über das Judentum hatten – und das heißt vermutlich die Mehrzahl – ihre Religion an diesem wichtigen Punkt entweder falsch verstanden oder falsch interpretiert haben. Die seit wenigen Jahren populäre Vorstellung eines christlich-jüdischen Abendlandes lässt ebenfalls erkennen, wie stark solche Vorstellungen dem Wandel unterliegen und wie wenig sie etwas mit der geschichtlichen Realität zu tun haben müssen. Den historischen Tatsachen würde es weitaus mehr entsprechen, die Geschichte des christlichen Abendlandes antijüdisch zu nennen. Wie die meisten religiösen Verwandtschaftsverhältnisse beruht auch das zwischen Christentum und Judentum in starkem Maße auf der Vorstellung von der mythischen Funktion des Blutes. Aus christlicher Sicht scheidet sich am Glauben an die Wunderkraft des Blutes Jesu nicht nur die Zugehörigkeit zur eigenen Religion, sondern auch das Leben vom Tod. Dass die Juden in besonderer Weise in der Pflicht stehen, das Heilsgeschehen auf Golgatha und den neuen Bund mit Gott durch ihren Glaubensübertritt zu bestätigen, bildete lange Zeit einen unaufgebbaren Bestandteil der christlichen Theologie. Mir kam es in dieser Studie darauf an, zu zeigen, dass die Konstruktion einer jüdischen Rasse nicht nur die Vorstellung des gleichen Blutes und der gleichen Herkunft zur Voraussetzung hatte, sondern dass sie ungeachtet ihres vermeintlichen Materialismus unmittelbar an den alten Gegensatz zwischen der jüdischen und christlichen Religion anschloss. So wenig ein Jude der über den Genuss des Blutes Jesu definierten ‚Blutgemeinschaft‘ des Christentums angehören konnte, so wenig konnte er Mitglied der arischen Rassengemeinschaft sein. Als magische Substanz der Rassentheorie zeigte sich das Blut imstande, einen Angehörigen der jüdischen von einem der arischen Rasse zu separieren. Wie sich einst Blut in Religion verwandelt hatte, so verwandelte sich jetzt Religion auf eine Weise wieder in Blut, die man als umgekehrte Transsubstantiation bezeichnen könnte. Lässt man alle pseudowissenschaftliche Phraseologie beiseite, reduziert sich das neue Verhältnis zwischen den beiden Rassen auf das alte zwischen den beiden Religionen. Die spezifische
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Aufgabe einer zugleich religions- und rassenkundlich ausgerichteten „Judenforschung“ bestand im Nachweis, dass die Juden nach der einen wie der anderen „Blutlehre“ die geborenen Feinde des deutschen Volkes waren. Indem sie den Glauben an die Kraft des Blutes erneuerte, stabilisierte sie das alte, brüchig gewordene Verhältnis von christlichem Heil und jüdischem Unheil. Über die Zugehörigkeit zum gleichen Blut politische Macht zu artikulieren, war vermutlich das zentrale Anliegen der nationalsozialistischen Rassenidee. Nicht nur, dass hinter den Feinden der eigenen Rasse angeblich die Juden standen und sie an ihrer freien Entfaltung hinderten. Als Angehöriger der arischen Rasse konnte auch jeder ungelernte Hilfsarbeiter das Gefühl haben, Teil einer Führungselite zu sein. Hierbei wird jedoch leicht übersehen, dass die Herrschaftslegitimation aufgrund von Blut und Abstammung keineswegs die Erfindung des Nationalsozialismus war. Schon lange vor dem Aufkommen der nationalsozialistischen Rassentheorie kennzeichnete die Vorstellung, aufgrund der Abstammung zum Herrschen geboren zu sein, den Adel der europäischen Königs- und Fürstenhäuser.50 Dem Nationalsozialismus gelang es mit Hilfe der Rassenidee, die Elitekonzeption des Blutadels zu popularisieren, sie gewissermaßen zu demokratisieren, und von den deutschen Fürstenhäusern auf das ganze Volk zu übertragen. Natürlich hob der neue Adel der Rasse das Modell der politischen Ungleichheit des Blutadels nicht auf, sondern schrieb es fort. Die Übertragung traditioneller Adelsvorstellungen auf die Neoaristokratie der Rasse ermöglichte es aber, innerhalb der deutschen Volksgemeinschaft die Fiktion der Gleichheit aufrechtzuerhalten und so die Herrschaft des Nationalsozialismus zu festigen. Selbst wenn man über eine subalterne Position nicht hinauskam, konnte man sich als Mitglied einer Herrenrasse anderen überlegen fühlen und darauf hoffen, von der Zugehörigkeit zu ihr auch materiell zu profitieren. Die Vorstellung vom Blut als dem Sitz des Lebens macht in einer noch grundsätzlicheren Weise den Kerngehalt jeder Blutlehre aus. Das fließende Blut ist ein Zeichen von Leben und stellt das Kontinuum der Geschichte dar. Erlischt die Kraft des Blutes und seine Zirkulation, erlischt auch das Leben. Auf diesem elementaren Sachverhalt beruht die besondere Bezie50
Siehe hierzu Alexandra Gerstner, Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus, Paderborn 2008 sowie die beiden Aufsätze von Georg Kugler, ‚Von der Auserwähltheit unseres Hauses Habsburg‘. Die Heiratspolitik der Habsburger und das Phänomen der Blutreinheit der europäischen Dynastien und Stanislaw Dumin, Das Blut des Zaren. Die Romanows und das russische Kaiserhaus in dem von James Bradburne herausgegebenen Sammelband Blut. Kunst, Macht, Pathologie, München 2001, S. 121–135 und S. 137–147.
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hung aller Religionen zum Blut und zu allem, was mit der menschlichen Fortpflanzung und Sexualität in Verbindung steht. Je stärker männerdominiert eine Religion ist, desto größere Schwierigkeiten hat sie, mit dem ‚unreinen‘ Menstruationsblut der Frau umzugehen. Religiöse Reinheitsvorstellungen beziehen sich häufig auf den bösen Charakter unreinen Bluts, das insbesondere dann ein Problem darstellt, wenn es strukturell zum eigenen Dasein dazugehört. Das Blut der äußeren Feinde unterliegt dagegen nicht der Tabuisierung und kann ohne weiteres vergossen werden, falls es eine kriegerische Situation erforderlich macht. In christlich dominierten Gesellschaften bezieht der Antisemitismus einen guten Teil seiner Antriebskraft aus der prekären Stellung des Judentums als dem inneren Feind schlechthin. Aus dem Spannungsverhältnis, dass die Juden aufgrund einer genetischen Verwandtschaftsbeziehung einerseits dazugehören, andererseits aber doch nicht dazugehören und wie bei zwei gleichgerichteten Magneten abgestoßen werden, entstand eine starke antisemitische Dynamik. Weil Emanzipation, Assimilation und politische Gleichberechtigung die Funktion der Taufe entwertet hatten, stellten die konvertierten Juden sogar eine noch größere Gefahr dar. Sie waren jetzt nicht mehr erkennbar und konnten ihre Wirksamkeit im Geheimen entfalten. Erst mit Hilfe der Rassenkunde schien es in der Moderne möglich zu sein, das sich hinter einer vielfältigen Maskerade verbergende alte jüdische Wesen aufdecken und effektiv bekämpfen zu können. Die für die Entwicklung des Antisemitismus charakteristische Vermischung disparater Einflussfaktoren macht es außerordentlich schwer, das dem politischen ebenso wie dem religiösen und sozialen Wandel unterliegende Beziehungsgefüge von religiösen und nichtreligiösen Formen der Judenfeindschaft adäquat zu analysieren. Weil in der Religionswissenschaft jeder Wechsel von der historischen zu einer religiösen Erklärungsebene grundsätzlich verboten ist, fällt es ihr leichter, beide Argumentationsstränge sachlich zu differenzieren. Aus diesem Grund vermag sie vielleicht einen Beitrag dazu leisten, bestimmte Defizite der Antisemitismusforschung zu verringern, die auf einem nicht genügend durchdachten Religionsbegriff beruhen. Ohne religionswissenschaftliche Objektivierung lässt sich kaum nachvollziehen, warum ungeachtet einer fast zweitausendjährigen Geschichte christlicher Judenfeindschaft heute die Meinung überwiegt, der Philojudaismus sei eine Wesenseigenschaft des Christentums. Manche führen den Gedanken der religiösen Verwandtschaft sogar noch weiter und erlauben es dem Islam, über die Konstruktion einer abrahamitischen Religion Teil der neuen christlich-jüdischen Wertegemein-
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schaft zu werden.51 Aber auch ein modifiziertes Konzept religiöser Genealogie kann nicht umhin, sich auf die mythische Kraft des Blutes zu beziehen und die Außengrenzen der Abstammungsgemeinschaft zu bestimmen. In Ermangelung historischer Voraussetzungen müssen dabei zwangsläufig ideologische Faktoren ins Spiel kommen. Mit dem alten Dilemma, den Bund des Menschen mit Gott und eine damit in Verbindung gebrachte Verwandtschaftsbeziehung sachlich begründen zu müssen, kehrt die Untersuchung zu ihrer Ausgangsfrage zurück. Dass sich über die Vorstellung vom heilenden Blut Jesu das christlich-jüdische Verhältnis trotz der Schoah in so kurzer Zeit so grundlegend verändern ließ, sollte nicht als bewusste Manipulation missverstanden werden. Der neue Philojudaismus der christlichen Theologie ist wie ihr alter Antijudaismus in einem tieferen Sinn Ausdruck vom Blut als dem Primat des Lebens. Mit der Einsicht, dass sich Religionen sekundär an die Grundtatsachen des menschlichen Daseins anschließen und dass sie umso erfolgreicher sind umso besser ihnen das gelingt, endet diese Arbeit mit einem durchaus konventionellen religionsgeschichtlichen Ergebnis. Extrem ist dagegen das Beispiel, an dem gezeigt wurde, wie mit Hilfe eines neuen wissenschaftlichen Ansatzes alte, ausgestorben geglaubte religiöse Vorurteile wiederauferstehen konnten.
51
Es ist leicht zu erkennen, dass die Erfindung einer abrahamitischen Religionstradition der historischen Grundlage entbehrt, mag sie auch noch so sehr dem Zeitgeist oder einem nachvollziehbaren religiösen Wunsch entsprechen.
Abkürzungsverzeichnis a.a.O. AöR apl. Prof. AStA Aufl. BArch Bd. BDC BdS SD ders. Diss. DNVP DVLP ebd. ERR fol. Hg., hg. HSSPF HStA HZ IdO IfZ i.A. i.V. KdS KfdK N.N. NS NSDAP
am angeführten Ort Archiv für öffentliches Recht außerplanmäßiger Professor Allgemeiner Studentenausschuß Auflage Bundesarchiv Band Berlin Document Center Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des derselbe Dissertation Deutschnationale Volkspartei Deutsche Vaterlandspartei ebenda Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg folio Herausgeber, herausgegeben Höherer SS- und Polizeiführer Hauptstaatsarchiv Historische Zeitschrift Institut für deutsche Ostarbeit Institut für Zeitgeschichte im Auftrag in Vertretung Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD Kampfbund für deutsche Kultur Non nominatus Nationalsozialismus Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
418 NSDDB NSDStB NSLB O.C. Orgesch PA RGG RSHA RZ SA SD Sipo SNTS StA SS s.v. T. TWNT u.a. UA UB UAT uk VDSt WS
Abkürzungsverzeichnis
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Personenregister Abrabanel, Isaak 78 Abraham a Sancta Clara 24 Abromeit, Franz 385 Adam, Karl 173 Adam, Uwe Dietrich 120f., 159, 204 Adenauer, Konrad 9 Adriani, Matthäus 63 Albrecht VI. 55 Alexander de Nevo 248 Alt, Albrecht 92 Alt, Johannes 229 Amshelm, Thomas 63 Andreä, Jakob 62f., 347 Ansteet von Weißenstein 62 Arajs, Viktor 334 Autenrieth, Johann Heinrich Ferdinand 67 Avriel, Franz 199 Baer, Fritz 178 Baeck, Leo 81, 87, 140, 182, 378 Baeumler, Alfred 255 Baɫaban, Majer 199, 373 Ballensiefen, Heinz 372f. Bamberger, Franz 247 Barth, Karl 174 Bauer, Wilhelm 214 Baumert, Helmuth 183f., 322, 358 Bavink, Bernhard 155 Bazille, Wilhelm 327 Bebermeyer, Gustav 58, 170, 328 Beck, Johann Tobias 131 Becker, Carl Heinrich 99 Beger, Bruno 280 Ben-Chorin, Schalom 409 Bene, Otto 363
Benjamin, Walter 102 Berger, Gottlob 317, 321–323, 346f., 354, 356, 374 Bernard, David 64 Berner, Margit 269 Berning, Wilhelm 31 Bertholet, Alfred 135 Bertram, Georg 149 Best, Werner 19, 111, 314f., 364–366, 387 Bethe, Albrecht 105, 120 Bethe, Anna 120 Bethe, Hans Albrecht 105, 120f., 123, 126f. Beutel, Lothar 323 Biale, David 40 Bialoblocki, Samuel 95f. Biastoch, Martin 114f. Bierkamp, Walter 350, 374 Bigelow, Pouitney 296 Bihlmeyer, Karl 58f. Bilfinger, Carl 237, 347 Bilfinger, Hermann 347 Bilfinger, Rudolf 347–352, 356, 380, 386 Billerbeck, Paul 407 Bittner, Ludwig 244, 250 Blobel, Paul 342 Bloch, Joseph Samuel 250 Blume, Walter 340 Bock, Ernst 172, 353 Bodelschwingh, Friedrich 134 Böhme, Hans-Joachim 333 Bogner, Hans 228 Bonnard, Abel 383 Bormann, Martin 16, 204
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Personenregister
Bornkamm, Heinrich 94 Borries, Kurt 328, 351 Botzenhardt, Erich 259 Bousset, Wilhelm 136 Bräutigam, Otto 355, 357 Brandl, Gustav 343 Brandt, Willy 146 Braune, N.N. 319 Bromiley, Geofrey 149 Brunner, Emil 148f. Brunner, Otto 214 Buber, Martin 90f., 100–110, 176–178, 395 Büdinger, Max 74f. Bürckel, Joseph 285 Buheitel, Theodor 253 Buhl, N.N. 117 Burgdörfer, Friedrich 259 Buttmann, Rudolf 229, 247 Casey, Maurice 150 Cassirer, Ernst 86 Christian, Viktor 210–216, 269, 398 Citron, Otto 7f. Clemen, Carl 136 Cohen, Hermann 86, 234 Czerniaków, Adam 198f. Daluege, Kurt 341 Dannecker, Theodor 243, 272, 285f., 332, 364, 376–387, 401 Dannenbauer, Heinrich 328 Darré, Richard Walther 354 Deeg, Peter 186 Dehlinger, Alfred 327 Deigendesch, Roland 52f. Deindl, Anton 253 Deines, Roland 93, 133, 136 Delitzsch, Franz 87 Denner, Josef 292 Derichsweiler, Albert 315 Deyhle, Walter 184 Dibelius, Martin 351 Dibelius, Otto 156f. Dietrich, Albert 170 Diewerge, Wolfgang 288f., 291f., 315 Ditterich, Bernhardus 248
Doelger, Franz 253 Dönitz, Karl 345 Dolezel, Stephan 276 Drexel, Max 368 Duncker, Hermann 378 Dunckern, Anton 342 Eberhard V. (I.) von Württemberg, Graf Eberhard im Bart 47–63 Ebner, Hermann 361 Ehrenberg, Victor 121f. Ehrlinger, Christian 321 Ehrlinger, Erich 172–174, 243, 320– 327, 334, 340, 343, 345f., 357, 366, 379, 386f., 404 Eichmann, Adolf 10, 243, 269, 272, 285, 331f., 349, 351f., 379, 385f. Einstein, Albert 86 Eisenhuth, Heinz 152 Eisenmenger, Johann Andreas 67, 252, 254, 298 Eisser, Georg 263, 328 Eißfeldt, Otto 140 Elbogen, Ismar 140, 142f. Elser, Georg 321 Elwert, Martin 170 Endres, Hans 60, 280 Engelhardt, Eugen 222 Engert, Karl 291f. Epp, Franz Ritter von 242f. Erlanger, Helmut 125f. Erzberger, Matthias 329 Escherich, Georg 329 Essner, Cornelia 10 Ettlinger, Sophie 282–286, 326, 349, 384, 403, 408, 411 Euler, Wilhelm 243, 245f. Fabri, Heinrich 52 Fauth, Emil 113f. Feder, Gottfried 147 Fehr, Hans 142 Feine, Hans Erich 59, 328 Feuchtwanger, Lion 211 Feuchtwanger, Ludwig 211f., 228 Fezer, Karl 159, 167, 170–172, 174, 184, 338
Personenregister Ficino, Marsilio 63 Fiebig, Paul 93f. Filov, Bogdan 384 Finkenberger, Martin 186 Fischer, Eugen 245, 257, 261f., 278– 280, 302, 356 Fladt, Kuno 32 Fleischhacker, Hans 280f. Fleischmann, Max 282 Focke, Friedrich 124, 187, 228 Foerster, Erich 98 Frank, Hans 332 Frank, Walter 185–188, 204, 208, 224f., 228f., 231, 235, 237, 244–246, 248f., 251–253, 259f., 274 Frankfurter, David 288 Franz-Willing, Georg 312 Freud, Sigmund 249 Frey, Hermann-Walter 206 Freytag, Georg Wilhelm 181 Frick, Wilhelm 267 Fricke, Otto 105 Friedrich I., Barbarossa 332 Friedrich I. von Württemberg 65f. Friedrich III. 55 Fritsch, Theodor 304 Fuchs, N.N. 328 Fuchs, Wilhelm 359f. Fuller, Reginald Horace 171 Fyner, Konrad 51 Gans, Richard 118–120 Ganzer, Karl Richard 253, 259 Geiger, Abraham 87 Geiger, N.N. 328 Genzmer, Felix 282 Gerber, Hans 328, 351 Gerdmar, Anders 133 Gerlach, Walther 118, 120 Gerometta, Alfons 112, 114 Geßler, Theodor 75 Gieseler, Wilhelm 59f., 197, 280f., 328 Glatzer, Norbert Nahum 104 Globke, Hans 9, 14 Globocnik, Odilo 258 Gness, Julius 319 Gobineau, Joseph Arthur 34
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Goebbels, Joseph 16, 255, 275–277, 280, 304 Göbell, Walter 155 Göring, Hermann 16 Goldschmidt, Lazarus 254 Gonzaga, Barbara 50 Gonzaga, Francesco 51 Gougenot des Messeaux, Henri Roger 39 Graetz, Heinrich 409 Grau, Wilhelm 59, 186, 188, 223–225, 228f., 237, 243, 251–253, 284, 374 Greive, Hermann 299f. Greßmann, Hugo 136 Grimm, Friedrich 288, 292 Groh, Wilhelm 153, 312 Groß, Walter 374 Grube, Walter 59f. Grüttner, Michael 172 Grundmann, Walter 143f., 149, 152, 179, 224 Grunsky, Hans Alfred 229, 257, 259 Grynszpan, Herschel 287–297, 302, 304, 349 Günther, Hans F. K. 306 Gulkowitsch, Lazar 90–93, 319, 403 Gumbel, Julius 257, 313f. Gunkel, Hermann 98, 140f. Gustloff, Wilhelm 265, 288 Guthmann, Heinrich 120 Guttmann, Julius 86, 140 Haas, Hans 90–93 Haberman, Jacob 151, 407 Haering, Hermann 58 Haering, Theodor 58 Hagemeyer, Hans 267f. Hagelmann, Helmut 14 Hagen, Herbert 243 Hahn, Wilhelm 157, 351 Haller, Johannes 111, 117, 128, 257 Hardenberg, Irmgard 181 Harder, Richard 253 Harnack, Adolf 131, 142, 268 Harster, Wilhelm 320, 361–364, 384f., 410 Hartmann, Richard 194, 255
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Personenregister
Hartshorne, Edward Yarnell 126 Haselmayr, Friedrich 236f. Hasse, Karl 233, 328 Hauer, Jakob Wilhelm 10, 102f., 105– 111, 116, 123, 233f., 347, 365f. Haussmann, Emil 368, 371 Heberer, Gerhard 328 Heckel, Johannes 229, 235–238, 347 Heckel, Martin 235 Hegler, August 128 Heidenhain, Adolf 124 Heigl, Paul 249, 272 Heiler, Friedrich 102f. Heim, Karl 177 Heine, Heinrich 71 Heinrichsdorf, Wolff 222 Heitmüller, Wilhelm 135 Hempel, Johannes 153, 255 Hengel, Martin 146 Hennig, Edwin 328 Hergarden, Julius 113 Hering Torres, Max Sebastián 28f. Hermann, Joachim 32f. Heydrich, Reinhard 109, 314, 317, 325, 333, 341, 346, 365, 369f. Heymann, Berthold 114 Hildebrandt, Richard 359 Hilferding, Rudolf 246 Himmler, Heinrich 109, 310f., 317, 321–323, 331, 334, 341, 365, 367, 371 Hindenburg, Paul 111f., 159 Hinderbach, Johannes 51 Hintze, Hedwig 230 Hippler, Fritz 276f. Hirsch, Caesar 281f. Hirt, August 272, 280 Hitler, Adolf 30f., 167f., 171, 229, 231, 242, 266, 272, 274, 277, 290, 296, 314, 323, 367, 369, 376 Hittmair, Rudolf 125 Hoberg, Clemens August 191 Hoffmann, Heinrich 195, 197 Hoffmann-Kutschke, Artur 186 Honnecker, Erich 378 Hornshøj-Møller, Stig 278 Horovitz, Josef 81 Horowitz, Charles 143–147, 403
Horowitz, Lea 143, 145 Horthy, Miklós 352 Hossenfelder, Joachim 157 Hunke, Heinrich 292 Hunsche, Otto 351–353, 359, 385f. Husserl, Edmund 10 Ibn Daud, Abraham 143 Isserles, Moses 247 Jakob ben Ascher 143, 192, 247 Jagow, Dietrich 329f. Jeremias, Joachim 195f. Jung, Martin H. 80 Kahan, Israel Isser 87–90, 93, 180, 319 Kahle, Paul E. 95 Kalix, Eleasar 143 Kaltenbrunner, Ernst 324, 346 Kamke, Erich 123, 406 Kampe, Norbert 114 Kappler, Herbert 385 Kant, Otto 124 Karl I. 68 Karl IV. 49 Karo, Josef 143, 192, 247 Kastner, Rudolf 352 Katz, Jacob 81f. Kayser, Heinrich 118f. Keller, Erich 184 Kempner, Robert M. W. 378 Kiefer, Jakob 343 Kilian, Augustinus 98f. Kinkelin, Wilhelm 353f. Kisch, Guido 28, 53f., 95 Kittel, Gerhard 89, 134–178, 182, 188, 191, 193, 195, 203, 210, 213, 223f., 228–233, 238–245, 251, 254–280, 287–312, 318f., 328, 332, 351, 355f., 367, 373f., 379f., 392, 394–402, 404f., 409, 411f. Kittel, Rudolf 87, 134, 240 Kluckhohn, Paul 7 Knochen, Helmut 286, 350, 381, 383 Koch, Franz 229, 254, 257 Koeppen, Werner 208 Kolbenheyer, Erwin Guido 233
Personenregister Koppe, Wilhelm 344 Kracauer, Siegfried 102 Kraeling, Carl Hermann 273 Kranz, Heinrich W. 209 Krause, Reinhold 167 Krauss, Samuel 212 Krieck, Ernst 105, 108 Kriegsheim, Arno 334 Kroh, Oswald 328 Krumey, Hermann 385 Kube, Wilhelm 157 Künne, Hans 289 Künneth, Walter 262 Kuhn, Karl-Georg 46, 144, 146f., 151, 159, 179–210, 214f., 217, 219, 225, 228f., 232, 234, 243f., 248, 251, 255– 266, 269f., 283f., 286, 298–303, 307, 323, 328, 373, 377–379, 383, 394, 398, 400, 405–409 Labroue, Henri 383 Landé, Alfred 33, 116–118, 120, 126, 396 Lamm, Louis 249, 409f. Lang, Stefan 48, 52, 61f. Lange, Rudolf 337 Langmuir, Gavin I. 39 Laqueur, Richard 111f., 121 Lasker, Eduard 247 Lassalle, Ferdinand 247 Lautz, Ernst 291 Leers, Johann 186 Lehmann, Ernst 128, 240, 328 Lehnich, Oswald 350 Leibbrandt, Georg 268, 354–357, 373 Leibowitz, Gutel 142f., 147, 268, 324 Leipoldt, Johannes 92–94, 134 Lenard, Philipp 229 Lenz, Fritz 351 Lenz, Hanfried 351 Levi, Primo 385 Leyh, Georg 182, 281, 328 Lewy, Julius 95 Lion, Gustav 377f. Lischka, Kurt 286, 381 Littmann, Enno 180, 182, 196, 204f. Löffler, Friedrich 304
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Löwe, Heinrich Georg 192 Lohse, Hinrich 335, 356f. Lommatzsch, Erhard 104 Lorenz, Ottokar 229 Lorenz, Sönke 53 Lucas, Leopold 80f., 87 Ludwig von Württemberg 64 Lueger, Karl 296–298 Luther, Martin 79, 133, 161, 186, 232, 235f., 239, 252, 274 Maimonides, Moses 247 Mann, Erika 246 Mann, Klaus 246 Marchet, Arthur 214, 216 Marmorstein, Arthur 147f. Martin, Konrad 39 Marx, Karl 181, 247 Marx, Ludwig 113f. Matthaei, Rupprecht 328 Mattheiß, Hermann 330f., 348, 378 Maximilian I. 50 Maucler, Eugen 71 May, Georg 70 Mayer, Marum Samuel 71f., 73 McCloy, John 341 Mechthild von der Pfalz 55 Meeks, Wayne A. 150 Meier, Kurt 152 Meinecke, Friedrich 230 Meiser, Hans 241, 310 Mende, Gerhard 199, 408 Mendelssohn Bartholdy, Albrecht 237, 347 Mendelssohn Bartholdy, Felix 237 Mergenthaler, Christian 58, 60, 108, 197, 204, 330 Merx, Adalbert 77f. Meyer, Eduard 142 Meyer, Herbert 229 Meyer, Rudolf 94 Michaelis, Adolph 70f. Michaelis, Salomo 69f., 72 Michel, Otto 145, 411 Miller, Max 58–60 Miller, Thomas 51, 55–57, 60f., 64, 67, 71
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Personenregister
Mohl, Robert 71f. Montadon, George 383 Moore, George Foot 407 Moser, Joseph 67 Mühlmann, Wilhelm Emil 40 Müller, Karl Alexander 227–230, 312 Müller, Ludwig 134, 157, 235 Murr, Wilhelm 168, 322, 330 Mutschmann, Martin 242f. Naukler, Johannes 50, 52 Naumann, Erich 343 Naumann, Werner 315 Neuer, Werner 133 Nicklas, Tobias 150 Nicolai, Walter 243 Nicolsen, Paul 64 Nikolaus von Lyra 248 Nobel, Nehemia Anton 99 Nöldeke, Theodor 181f. Novak, Franz 385 Odeberg, Hugo 292 Oesterreich, Traugott Konstantin 123 Ohlendorf, Otto 323, 345, 371f. Oldenburg, Wilhelm 230 Origenes 244 Osiander, Johann Adam 64 Osiander, Lukas 64 Otto, Rudolf 99, 102f. Otto, Walter F. 104 Paschen, Friedrich 117–119, 128 Patschovsky, Alexander 297 Paul, Otto 225 Paulus von Burgos 248 Pellepoix, Louis Darquier de 382 Pfeiffer, Leopold 74 Pico della Mirandola, Giovanni 63 Pius IX. 39 Pleßner, Elias 77–81 Plessner, Martin 81 Pleßner, Samuel 77 Pleyer, Kleo 257, 259 Pohl, Johannes 252–255, 284 Pressel, Wilhelm 159, 165–167, 177, 322, 328, 358, 397
Pulewka, Paul 124 Quisling, Vidkun 324 Rabin, Israel Abraham 95f., 179 Rade, Martin 97 Rademacher, Franz 359, 374 Raiser, Ludwig 406f. Rapp, Albert 343–351, 354, 368, 386 Rath, Ernst Eduard 288, 292f., 295 Rath, Moses 213 Rauter, Hanns Albin 362, 364 Raymundi, Wilhelmus 63 Reichel, Eberhard 345f. Reichle, Hans 353 Reich-Ranicki, Marcel 199 Reinerth, Hans 253, 328, 355 Rengstorf, Karl Heinrich 125, 143, 146–148, 150f., 177, 409 Reuchlin, Johannes 55, 63 Richter, Gregor 59 Riezler, Kurt 104 Ritter, N.N. 329 Rössler, Otto 223 Rohling, August 250, 254, 298 Rosen, Alan 149 Rosenberg, Alfred 16, 39, 108, 208f., 224–226, 229, 233, 253f., 267f., 298, 354, 405 Rosenwald, Lessing J. 51 Rosenzweig, Franz 86, 99–102, 121 Roth, Cecil 28 Roth, Rudolf 28, 78 Rothfels, Hans 258 Rottenburg, Otto 206 Rückert, Hans 59 Rühle, Oskar 141, 143 Ruprecht I. 54 Ruprecht II. 54 Ruprecht III. 54 Rust, Bernhard 110, 204 Salucia, Augustín 29 Sandberger, Martin 92, 173f., 313– 321, 327, 334–336, 341–343, 345, 364, 368f., 380, 385f., 403f., 410 Sarwey, Otto 75
Personenregister Schaab, Meinrad 59 Schaeder, Hans Heinrich 194, 255f. Schäfer, Emanuel 360 Schäfer, Volker 61 Scharf, Kurt 157, 351 Scheel, Gustav Adolf 174, 228, 231, 311–316, 321, 339, 346, 351, 387 Scheler, Max 10 Schellenberg, Walter 320 Schickert, Klaus 209, 217f., 225, 284 Schiller, Friedrich 70 Schirach, Baldur 157, 267 Schlatter, Adolf 131–133, 135f., 143, 149, 153, 159, 177, 179, 188, 328, 396, 411 Schlatter, Theodor 133, 179 Schlichting, Günter 143, 213, 232, 245–253, 262, 408–410 Schlunk, Martin 195 Schmellenmeier, Heinz 119 Schmid, Friedrich 411 Schmid-Burgk, Edgar 291f., 349 Schmidlin, Christoph Friedrich 66 Schmidt, Hans 153f. Schmidt-Ott, Friedrich 146 Schmiedel, Roland 125 Schneider, Hermann 328 Schneider-Kempff, Barbara 281 Schocken, Salman 104 Schönfeldt, N.N. 328 Schönhardt, Erich 124 Scholder, Klaus 412 Scholem, Gershom 85, 91, 178, 410 Scholz, N.N. 293 Schreiner, Helmuth 262 Schroer, Hermann 192 Schudt, Johann Jacob 24f., 32 Schultze, Walter 314 Schulz, Erwin 318 Schumacher, N.N. 325 Schumann, Gerhard 173, 313 Schwarz, Petrus (Nigri) 51, 248 Seelenbinder, Werner 378 Seibert, H. K. 211 Seraphim, Heinz Peter 225f. Seyß-Inquart, Arthur 258, 362, 364 Sézille, Paul 382
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Schorr, Moshe 248 Siebeck, Oskar 140, 237 Siegele, Ulrich 412 Siegele-Wenschkewitz, Leonore 140, 412 Sievers, Wolfram 211 Sigwart, Christoph 78 Silíceo, Juan Fernández 26–29 Simon von Trient 38f., 51 Sittig, Ernst 122, 233, 328 Six, Franz Alfred 243, 315, 323, 379 Sixtus IV. 63 Sixtus V. 39 Sommerfeld, Arnold 117, 120f. Sommerfeld, Josef 226 Stahl, Friedrich Julius 235f., 247 Stahlecker, Eugen 159, 326f. Stahlecker, Luise-Gabriele 341 Stahlecker, Walter 272f., 324, 327– 337, 341, 343, 348, 356, 366, 386, 401 Stamm, Hans 124 Stapel, Wilhelm 155, 229, 231 Stark, Johannes 118 Steffes, Johann Peter 99 Steimle, Eugen 172–174, 337–341, 343–345, 353, 368, 379, 386, 404 Stein, Edith 11, 363 Stephan, Horst 140 Stern, Julia 377 Stickl, Otto 32f., 197, 205, 286 Stockburger, Max 182 Stoecker, Adolf 132, 156f., 160, 229 Stoll, Heinrich 328 Stracke, Ernst 153, 159, 172, 328 Strasburger, Eduard 75 Strauß, Otto 110 Strauss, Raphael 228 Streicher, Julius 183, 186, 191, 242f., 275, 298, 405 Stroh, Hans 143 Stumpff, Otto 271 Stutz, Ulrich 237 Süß Oppenheimer, Joseph 64 Suhr, Friedrich 351, 356, 359 Taeger, Fritz 122 Täubler, Eugen 86, 101
480
Personenregister
Taubert, Eberhard 222, 276, 315 Thadden, Eberhard 374 Thälmann, Ernst 378 Thielicke, Helmut 315 Thielmann, K. H. 218 Thomas, Max 325 Tießler, Walter 292 Tilitzki, Christian 232 Torrejoncillo, Francisco de 27 Torczyner, Harry 142 Traub, N.N. 328 Treitschke, Heinrich 156 Tuchosi, N.N. 370 Turner, Harald 359f. Ulrich von Württemberg 49, 63 Usadel, Willy 328 Uxkull-Gyllenband, Woldemar 122 Vahlen, Theodor 227 Vallat, Xavier 382 Verschuer, Otmar 209, 229, 259–262, 279f., 383 Vogt, Joseph 121 Vohwinkel, Karl Hermann 124 Volz, Paul 171 Vos, Johannes Sijko 149 Wach, Adolf 28, 237 Wach, Joachim 28, 92, 237 Wagner, Adolf 299 Wagner, Günter 223 Wagner, Richard 259 Wagner, Robert 285 Wahl, Adalbert 59, 230, 232, 328 Wangenheim, Karl August 69f. Wassermann, Henry 89 Wastl, Josef 269–273 Weber, Carl August 196, 201–204, 211, 281, 283, 286 Weber, Ottmar 61 Wehrung, Georg 168 Weinberg, Jacob Jechiel 95f. Weinheber, Ludwig 125 Weinmann, Elisabeth 341 Weinmann, Ernst 341, 357–361, 379, 386
Weinmann, Erwin 340–343, 357f., 380, 386 Weinreich, Max 295 Weinreich, Otto 204f., 286 Weiser, Artur 152, 159, 283, 411f. Wendel, Adolf 225f. Wellhausen, Julius 407 Werner, Fritz 191, 298 Wetzel, Erhard 349f., 352, 356 Wetzel, Robert 195–197, 200f., 205, 375 Wiese, Benno 208 Wildt, Michael 311, 387 Wilhelm I. von Württemberg 65 Wilhelm II. 296 Winkler, Hans Alexander 123 Winkler, Hayastan 123 Wischnath, Johannes Michael 171 Wisliceny, Dieter 243, 379, 385 Wochenmark, Bella 116 Wochenmark, Joseph 116, 403 Woskin, Mojssej 94f. Wüst, Walter 211 Wüster, Walter 299 Wundt, Max 159, 171f., 196, 228f., 232–235, 243, 257, 259f., 262, 327 Wurm, Theophil 156f., 165–170, 310f., 327, 353, 396f., 410 Yerushalmi, Yosef Haim 29 Zapp, Paul 109f., 364–372, 376, 380, 386f. Ziegler, Wilhelm 186, 222, 229, 252, 257, 288, 302 Zipfel, Ernst 251 Zöpf, Wilhelm 362 Zunz, Leopold 87