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German Pages [312] Year 2019
Wissenschaftlicher Beirat: Klaus von Beyme, Heidelberg Horst Bredekamp, Berlin Norbert Campagna, Luxemburg Wolfgang Kersting, Kiel Herfried Münkler, Berlin Henning Ottmann, München Walter Pauly, Jena Volker Reinhardt, Fribourg Tine Stein, Göttingen Kazuhiro Takii, Kyoto Pedro Hermilio Villas Bôas Castelo Branco, Rio de Janeiro Loïc Wacquant, Berkeley Barbara Zehnpfennig, Passau
Staatsverständnisse herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 131
Andreas Heyer
Die Verfassung der Jakobiner von 1793 und ihr historischer Kontext
© Titelbild: „Allegorie des Thermidor“, Künstler: Louis Lafitte, (1770–1828).
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-5416-8 (Print) ISBN 978-3-8452-9584-8 (ePDF)
1. Auflage 2019 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Editorial
Das Staatsverständnis hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder grundlegend gewandelt. Wir sind Zeugen einer Entwicklung, an deren Ende die Auflösung der uns bekannten Form des territorial definierten Nationalstaates zu stehen scheint. Denn die Globalisierung führt nicht nur zu ökonomischen und technischen Verände‐ rungen, sondern sie hat vor allem auch Auswirkungen auf die Staatlichkeit. Ob die »Entgrenzung der Staatenwelt« jemals zu einem Weltstaat führen wird, ist allerdings zweifelhaft. Umso interessanter sind die Theorien der Staatsdenker, deren Modelle und Theorien, aber auch Utopien, uns Einblick in den Prozess der Entstehung und des Wandels von Staatsverständnissen geben, einen Wandel, der nicht mit der Glo‐ balisierung begonnen hat und nicht mit ihr enden wird. Auf die Staatsideen von Platon und Aristoteles, auf denen alle Überlegungen über den Staat basieren, wird unter dem Leitthema »Wiederaneignung der Klassiker« im‐ mer wieder zurück zu kommen sein. Der Schwerpunkt der in der Reihe Staatsver‐ ständnisse veröffentlichten Arbeiten liegt allerdings auf den neuzeitlichen Ideen vom Staat. Dieses Spektrum reicht von dem Altmeister Niccolò Machiavelli, der wie kein Anderer den engen Zusammenhang zwischen Staatstheorie und Staatspraxis verkörpert, über Thomas Hobbes, den Vater des Leviathan, bis hin zu Karl Marx, den sicher einflussreichsten Staatsdenker der Neuzeit, und schließlich zu den Wei‐ marer Staatstheoretikern Carl Schmitt, Hans Kelsen und Hermann Heller und weiter zu den zeitgenössischen Theoretikern. Nicht nur die Verfälschung der Marxschen Ideen zu einer marxistischen Ideolo‐ gie, die einen repressiven Staatsapparat rechtfertigen sollte, macht deutlich, dass Theorie und Praxis des Staates nicht auf Dauer von einander zu trennen sind. Auch die Verstrickungen Carl Schmitts in die nationalsozialistischen Machenschaften, die heute sein Bild als führender Staatsdenker seiner Epoche trüben, weisen in diese Richtung. Auf eine Analyse moderner Staatspraxis kann daher in diesem Zusam‐ menhang nicht verzichtet werden.
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Was ergibt sich daraus für ein zeitgemäßes Verständnis des Staates im Sinne einer modernen Staatswissenschaft? Die Reihe Staatsverständnisse richtet sich mit dieser Fragestellung nicht nur an (politische) Philosophen, sondern vor allem auch an Stu‐ dierende der Geistes- und Sozialwissenschaften. In den Beiträgen wird daher zum einen der Anschluss an den allgemeinen Diskurs hergestellt, zum anderen werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse in klarer und aussagekräftiger Sprache – mit dem Mut zur Pointierung – vorgetragen. So wird auch der / die Studierende unmit‐ telbar in die Problematik des Staatsdenkens eingeführt. Prof. Dr. Rüdiger Voigt
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Inhaltsverzeichnis
1. Die Geschwindigkeit der Revolution, Einleitung a) b) c) d) e) f) g) h) i)
Die staatsrechtliche Revolution Der historische Weg zur Verfassung von 1791 Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte Der parlamentarische Weg zur Verfassung von 1791 Die Verfassung von 1791 Der Sommer der Bourgeoisie. Die Gesetzgebende Versammlung Endlich Krieg. Die kleinen Freuden der Bourgeoisie Robespierre. Die Stimme des Friedens Der Herbst der Bourgeoisie. Der 10. August und seine Folgen
9 10 19 28 36 45 56 65 76 91
2. Der Konvent und das Ende der Gironde
101
3. Condorcets politische Philosophie, anlässlich der Imaginationen der entfesselten Utopie
119
4. Erste Verfassungsdebatten, bis zur neuen Erklärung der Menschenund Bürgerrechte
137
5. Condorcets Verfassungsentwurf
153
6. Robespierres politische Philosophie, anlässlich zweier KonventsReden von ihm zur Verfassung
177
7. Weitere Verfassungsdebatten und der endgültige Entwurf
205
8. Zwei linke Alternativen: Die Wut des Jacques Roux und die Genossenschaftsidee des François-Joseph L'Ange
237
9. Annahme, Wertung und Nachklänge der Verfassung
259
10. Kurzer historischer Nachtrag: Die Jakobiner und ihr Untergang
281
11. Babeufs letztes Aufgebot (Anhang)
287
Literaturverzeichnis
303
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1. Die Geschwindigkeit der Revolution, Einleitung
Eine ordentliche, man darf schon fast sagen eigentlich „normale“ – und damit gute und brauchbare – Geschichte der Französischen Revolution sollte nicht anhand der beschriebenen Seiten quantifiziert werden, sondern aus rein pragmatischen Erwä‐ gungen über ihr jeweiliges Gewicht. Unter zwei oder drei Bänden und mit weniger als drei Kilo ist die Darstellung dieses Ereignisses nicht zu haben. Eine brauchbare Revolutionsgeschichte ist nicht dazu da, um Insekten zu verscheuchen, sondern hat den positiven Nebeneffekt möglicher Verwendung bei der Kleintierjagd qua Wurfge‐ schoss. Ende der Ironie, bitterer Ernst: In Deutschland, im deutschsprachigen Raum, sind solche wirklich guten Werke (unabhängig von ihrer Seitenzahl) bedauerlicherweise nicht vorhanden, schon gar nicht solche, die in den letzten Jahrzehnten geschrieben worden wären. Dieses traurige Resultat zwingt, nach wie vor zu den Werken der französischen Historiker – und einiger weniger ihrer Erben, allenfalls Kinder, kaum Enkel – zu greifen, die schon Karl Marx und Friedrich Engels in höchsten Tönen lobten (obwohl sie teilweise sogar unter deren reaktionären politischen Anschauun‐ gen dann litten, wenn diese politische Ämter bekleideten). Der Nachteil entpuppt sich in diesem Sinne als Anfang einer großartigen Reise hin zu jenen Autoren und ihren Werken, in denen Wissenschaft und Poesie ineinander fließen, sich gegenseitig bedingen und tragen. Es erscheint angesichts dieser Feststellungen fast schon als eine kleine Unver‐ schämtheit, dass auch der Autor dieser Zeilen sich auf ein paar hundert Seiten be‐ schränkt. Allein – es fehlt der Platz. Die Aufgabe des vorliegenden Buches ist klar umrissen und präzise gestellt: Im Rahmen einer Verfassungsgeschichte der Revoluti‐ onsgeschichte ist darzustellen die Verfassungsdebatte, die 1793 die französische Ge‐ sellschaft manchmal überhaupt nicht interessierte, an anderen Tagen in Atem hielt und die letztlich endete mit der berühmten Verfassung von 1793. Jenes Werk der Ja‐ kobiner um Robespierre, das bis heute den größten und kühnsten demokratischen Entwurf der Neuzeit darstellt und dessen Rezeption so sehr verstellt ist von der – be‐ dauerlicherweise und in Deutschland immer zuerst betonten – Praxis der Herrschaft der Jakobiner. Die Verfassung von 1793 war nicht nur der Versuch, den damaligen Stand und die Errungenschaften der Revolution zu kodifizieren, in eine feste und grundlegende Form zu gießen, ein Fundament zu schaffen, auf dem weitergebaut werden könne. Sie war auch Reaktion auf ihre damalige Gegenwart, auf die Krisen und Katastro‐ phen, auf den von der Bourgeoisie (die Gironde) angezettelt inneren und äußeren
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Krieg samt den dazugehörigen kapitalistischen Geschenken an die Armen und Ent‐ rechteten: Hunger, Not, Elend, Verzweiflung. Nicht zuletzt war die Verfassung Er‐ gebnis zahlreicher Debatten und Diskussionen, vor allem aber auch vielgestaltiger Kompromiss. Es soll an dieser Stelle nicht die Geschichte der Verfassung in mystischen Andeu‐ tungen erzählt werden, um danach im Hauptteil des Buches erneut aufgedröselt und in der Zusammenfassung schließlich zusammengefasst zu werden. Auf Grund des beschränkten Platzes informiert ein historisch orientiertes Kapitel über den ge‐ schichtlichen Hintergrund, vor dem sich die Verfassungsdebatte abspielte. Anschlie‐ ßend wird dann der Weg zur Verfassung kartographiert, abgegangen und in seinen Verästelungen vor Ort überprüft. Und doch ist es unmöglich, einen „großen Sprung“ hinein in das Schicksalsjahr 1793 zu machen. Zu vieles von dem, was sich damals abspielte und manifestierte, was unterging oder als neue Idee auftauchte, hat gleich‐ wohl Kontinuität (zumindest Ursache), ist gewachsen in der Zeit.Wobei es irrelevant ist, ob die Genese einen Monat, ein Jahr oder ein Jahrhundert – gemeint ist das Jahr‐ hundert des Lichts, der Aufklärung, gipfelnd in den Ideen der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, begraben auf den Schlachtfeldern Napoleons und in den Fabri‐ ken des Manchester-Kapitalismus1 – umfasst. Verschiedene Anmerkungen und Er‐ klärungen sind also vorauszuschicken, wem Zeit oder Interesse dafür fehlen, dem bietet das Inhaltsverzeichnis die Chance, an anderer Stelle zu beginnen.
a) Die staatsrechtliche Revolution Am 8. August 1788 versprach der König für den 1. Mai des nächsten Jahres die Ein‐ berufung der Generalstände.2 Eine Entscheidung, die vor allem im Dritten Stand viel Begeisterung auslöste, gleichzeitig aber auch entscheidende Probleme aufwarf: Wie die Gesellschaft repräsentieren? Welche ihrer Teile überhaupt? Aus Sicht der Bour‐ geoisie ging es darum, dass der Dritte Stand genauso viele Abgeordnete haben sollte 1 Wilhelm Liebknecht schrieb: „Es war eine gewaltige Zeit. Eine mächtige soziale Revolution vollstreckte sich in England, während drüben in Frankreich die größte aller politischen Revolu‐ tionen sich vorbereitete, und ihre düsteren Schatten schon vor sich her warf. Die Dampfmaschi‐ ne, die Baumwollspinnmaschine und der Dampfwebstuhl bewirkten eine völlige Umwälzung der alten Produktionsweise. Die Kleinproduktion wurde zum Tod verurteilt, dem innerhalb der kleinbürgerlichen Schranken geregelten Handwerk der Boden unter den Füßen weggerissen und die Gesellschaft hinausgeworfen auf den Ozean der entfesselten freien Konkurrenz, in den Krieg Aller gegen Alle, wo statt der Keulen, Hellebarden und Morgensterne Maschinenschäfte mit zermalmender Kraft geschwungen werden, und wo, wer waffenlos oder ohne genügende Waffen in den Kampf geht, gerade so unvermeidlich zu Boden geschmettert wird, wie vor vierhundert Jahren die nackten Bauern von den gepanzerten Rittern: 'der Bauern Tod'. Noch heute rast dieser Krieg fort, aber es sind doch in den Kulturländern gewisse Bestimmungen zur Geltung gelangt, welche die Barbarei einigermaßen zügeln.“ (Liebknecht 1892, S. 15f.) 2 Abgedr. in: Markov 1982, II, S. 15–17.
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wie Adel und Klerus zusammen. In zahlreichen Broschüren, Flugschriften usw. wur‐ de dafür geworben, der bekannteste Autor ist heute sicherlich Emmanuel Joseph Sieyès mit seinem Qu'est-ce que le Tiers État? Dies bedeutete, konsequent zu Ende gedacht, dass die Abstimmungen nicht mehr nach Ständen, sondern vielmehr nach Köpfen stattfinden würden. Der Verdoppelung wurde schließlich von König und Hof zugestimmt, die zweite, ebenfalls gestellte Frage der Abstimmungsmodalitäten blieb zunächst außen vor. Aber selbst die Herstellung einer solchen 50–50-Gewichtung der Stände ent‐ sprach natürlich in keinster Weise den realen Verhältnissen, war kaum mehr als eine Art Minimalforderung, die zu Beginn der revolutionären Gärung den Herrschenden abgerungen werden konnte. Sieyès hat früh – in seinem gerade genannten Werk Was ist der Dritte Stand? die entsprechenden Zahlen genannt, hat der Frage ein eigenes Unterkapitel gewidmet.3 Ausgehend von folgender Überlegung: „Die politischen wie die bürgerlichen Rechte müssen an die Eigenschaft des Staatsbürgers geknüpft sein. Dieses gesetzmäßige Eigentum ist für alle das gleiche, ohne Rücksicht auf das tatsächliche Mehr oder Weniger an tatsächlichem Besitz, woraus das Sachvermögen oder die Nutznießung eines jeden Individuums bestehen kann. Jeder Bürger, der die festgesetzten Bedingungen erfüllt, um Wähler zu sein, hat das Recht, sich vertreten zu lassen, und seine Vertretung kann nicht ein Bruchstück der Vertretung eines ande‐ ren sein. Dieses Recht ist eins; alle üben es gleichermaßen aus, genau wie alle glei‐ chermaßen von dem Gesetz beschützt werden, bei dessen Ausarbeitung sie zusam‐ mengewirkt haben. Wie kann man einerseits die Auffassung vertreten, das Gesetz sei der Ausdruck des Gemeinwillens, das heißt, der Mehrheit, und zur selben Zeit be‐ haupten, dass zehn Einzelwillen tausend andere Willen aufwiegen können?“4 Die Gleichheit „aller“ (bei Sieyès, das sei schon hier erwähnt, sind nur die Steuer‐ zahler gemeint, mehrere Millionen Arme schloss das Demokratiemodell des Kir‐ chenmannes ohne jedes Zaudern aus) scheint so theoretisch begründet, die Zahlen würden keinen anderen Schluss zulassen, als dass das bisherige System zutiefst un‐ gerecht sei, allen Maßstäben der Vernunft widerspreche. „Ich kenne, wie alle Welt, die wahren Größenverhältnisse nicht; aber wie alle Welt werde ich mir erlauben, meine eigenen Berechnungen anzustellen.“5 Insgesamt, so Sieyès, gebe es 81.400 Angehörige des Klerus (von Pfarrern bis zu Mönchen und Nonnen) und 110.000 Ad‐ lige. (Abzuziehen seien auch in diesen Ständen die Frauen, Kinder usw., die ja keine Steuern zahlen würden, so dass der Adel beispielsweise nur 40.000 Personen umfas‐
3 In dem Kapitel „Was verlangt der Dritte Stand?“ den Paragraphen „II: Zweite Forderung des Dritten Standes. Dass seine Abgeordneten denen der beiden privilegierten Stände an Zahl gleich sind“. (Sieyès 1981, S. 139–144) 4 Sieyès 1981, S. 140. 5 Sieyès 1981, S. 140.
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se.) Dem stünde der Dritte Stand gegenüber mit einer Gesamtzahl von ca. 25 Millio‐ nen Personen.6 Es kann durchaus vermutet werden, dass es in den privilegierten Ständen han‐ delnde und die interne Meinung gestaltende Personen gab, die erkannten, dass es wichtig war, schnell einige kleinere Zugeständnisse zu machen, um die bereits vor‐ handenen und sich zusätzlich anbahnenden Krisen und Konflikte nicht weiter zuzu‐ spitzen. (Gleichzeitig, das ist zu ergänzen, waren es ja die dekadenten und fort‐ schrittsfreundlichen – zwei zu unterscheidende Gruppierungen – Vertreter von Adel und Klerus gewesen, die das Ancien Régime über Jahrzehnte unterminiert und des‐ sen Grundpfeiler zerstört hatten.) Zudem erschienen auch zahlreiche anonyme Flug‐ blätter, Schriften, Aufrufe, die mehr forderten als kleinere Reformen, die vielmehr auf große Umbrüche und Veränderungen zielten. Walter Markov hat in seine um‐ fangreichen Quellensammlung Revolution im Zeugenstand unter anderem eine An‐ onyme Flugschrift: Warnruf an die Pariser, datiert auf den Sommer 1788, mit aufge‐ nommen.7 Bereits zu diesem Zeitpunkt gab es Tendenzen, die großbürgerlichen und refor‐ mistischen Überlegungen von Sieyès zu radikalisieren, aus ihnen jene Konsequen‐ zen zu ziehen, vor denen die Bourgeoisie zurückschreckte. Dem Dritten Stand rief die Anonyme Flugschrift zu: „Ihr könnt in den Generalständen nur insofern rechtmä‐ ßig vertreten werden, als die Zahl eurer Abgeordneten im Verhältnis zur Bevölke‐ rungszahl steht. Es wäre widersinnig, wenn der Klerus, der Adel und der Richter‐ stand, die zusammen keine 600.000 Mann ausmachen, ebenso viele Abgeordnete wie 24 Millionen hätten (…). Was mich betrifft, so lege ich von vornherein Ein‐ spruch gegen jede Entscheidung ein, die nicht mit dem unumstößlichen Grundsatz übereinstimmt, dass sich die Zahl der Vertreter nach jener der Vertretenen richtet. 24 Millionen müssen also mehr Abgeordnete als 600.000 haben. Ich erhebe Einspruch, weil jede andere Regelung im höchsten Grade ungerecht und allein dadurch als zu‐ tiefst gesetzwidrig gekennzeichnet wäre.“ Verbunden war diese Forderung mit einem Vorschein der kommenden Ereignisse: „Ihr Völker, denkt an die Bürde, die ihr tragt! Betrachtet um euch herum die Paläste, die Schlösser, die aus eurem Schweiß und euren Tränen gebaut sind. Die Straßen, die ihr gebahnt habt, hallen noch wieder von euren Klagen. Vergleicht eure Lage mit der Lage dieser Prälaten, dieser Pfründeinhaber, dieser Großen und Senatoren! Was erntet ihr von ihnen für all die Wohltaten, mit denen ihr sie überhäuft, für all die Achtung, die ihr ihnen entge‐ genbringt? Verachtung! Sie nennen euch Lumpenpack! Lasst erkennen, dass Lum‐ penpack diejenigen sind, die auf eure Kosten leben und sich von eurer Arbeit mäs‐ ten.“8 6 Siehe: Sieyès 1981, S. 140–142. 7 Markov 1982, II, S. 19–24. 8 Markov 1982, II, S. 23.
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Die Loyalität zum König war in diesen gärungsreichen Monaten ungebrochen, trotz der sich verschärfenden sozialen Krise. Noch die Anonyme Flugschrift, aus der gerade zitiert wurde, eröffnete mit den Worten: „Leichtfertige Pariser! Ihr lauft in die Theater, in die Kaffeehäuser und zu allerlei Belustigungen, während die Monar‐ chie in Gefahr ist und eure Feinde darauf aus sind, eure Ketten noch schwerer zu machen und euch zu Sklaven herabzudrücken.“9 Forderungen, die den Verlauf der Revolution maßgeblich bestimmten, darunter zuvorderst die staatliche Festsetzung des Mehl- und Brotpreises (also die Sicherstellung der Lebensmittelversorgung der armen Volksmassen), wurden erstmals lautstark vorgetragen. Es ist nicht klar, ob der König und seine Berater die entstehende Situation verkannten oder ob sie, ganz be‐ wusst, auf die sozialen Probleme mit politischen Zugeständnissen reagierten. Festzu‐ halten bleibt, dass die Regierung für die Zusammensetzung der Generalstände eine durchaus liberale Wahlordnung ausgearbeitet hatte. Adel und Klerus kamen in den jeweiligen Bezirkshauptstädten zusammen und bildeten dort ihre Wahlversammlun‐ gen, wobei später von entscheidender Bedeutung war, dass sich schon zu dieser Zeit innerhalb des Klerus die Rentenoligarchie (Bischöfe und Äbte, hohe Vertreter, Orga‐ nisationsbürokratie usw.) und der niedere Klerus, repräsentiert durch unzählige Ge‐ meindepfarrer, gegenüberstanden – mit dem Ergebnis, dass der niedere Klerus sich personell durchsetzen konnte. Für den Dritten Stand besaßen alle ein Wahlrecht, die als Franzosen geboren waren oder die, wie man es heute nennen würde, französische Staatsbürgerschaft angenommen hatten (also naturalisiert waren), mindestens 25 Jahre zählten, einen festen Wohnsitz besaßen und in den Steuerlisten aufgeführt wurden. Über ein kompliziertes Verfahren, das Zünfte, Stadtviertel umfasste, auf den Land nach Familien gegliedert war, wurden über mehrere Ebenen schließlich die Wahlmänner bestimmt. Es ist angesichts dieser Feststellung verständlich, dass die Fraktion des Klerus bei 291 Mitgliedern in ihren Reihen fast 200 Pfarrer und liberale Priester hatte, die Re‐ formen gegenüber aufgeschlossen waren und die Probleme des Dritten Standes kannten. In der Fraktion des Adels dominierten unter den 270 Abgeordneten vor al‐ lem reaktionäre Aristokraten, die die Aufrechterhaltung des Privilegiensystems wünschten. Dies überrascht insofern etwas, da ja der Adel ein nicht unwesentlicher Faktor zuerst der Duldung und später dann der Verbreitung der Ideen, auch der radi‐ kaleren, der Aufklärung gewesen war. Der Dritte Stand umfasste 578 Mitglieder, allesamt Mitglieder der gehobenen Bourgeoisie, ein Drittel Rechtsanwälte (wobei ja beispielsweise auch Robespierre dieser Gruppe zugehörig ist), ca. 100 Abgeordnete waren Finanzkapitalisten und In‐ dustrielle, zudem beispielsweise knapp 50 überaus reiche Großgrundbesitzer. Dazu kamen vereinzelte Gelehrte und Schriftsteller. (Beispielsweise Volney, dessen be‐
9 Markov 1982, II, S. 19.
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rühmtes Werk 1791 erschien: Les Ruines ou Méditations sur les révolutions des em‐ pires.) Außerdem hatte der Dritte Stand mehrere Adlige und Priester (Sieyès) ge‐ wählt, die in ihren Ständen keine Berücksichtigung gefunden hatten. Das vielleicht wichtigste Ergebnis der Wahlen war, gerade wenn die kurz angesprochenen sozialen Probleme und Krisen berücksichtigt werden, dass in den Generalständen kein einzi‐ ger Bauer und kein Vertreter der städtischen armen Volksmassen saß. Die Abgeordneten der Generalstände fanden sich im Mai 1789 in der Hauptstadt (die spätere „Hauptstadt der Menschheit“)10 bzw. in Versailles ein, am 2. Mai wur‐ den sie dem König vorgestellt. Bereits bei dieser Zeremonie wurde klar, dass Lud‐ wig XVI. keinerlei Interesse daran hatte, irgend etwas an seinem bisherigen Regie‐ rungssystem zur Debatte zu stellen. Denn die Abgeordneten des Klerus und des Adels empfing er nacheinander in seinem Kabinett, den Dritten Stand ohne große Zeremonien in seinem Schlafgemach. Drei Tage später wurde die Versammlung offi‐ ziell eröffnet. Der König machte nun klar, was vorher bereits geahnt werden konnte – er wünsche keinerlei Veränderung.11 Ludwig XVI. sah ein „übertriebenes Verlan‐ gen nach Neuerungen“, welches sich „der Gemüter bemächtigt“ habe und drohe, „die Meinungen vollends zu verwirren“. „Die Gemüter sind erregt. Eine Versamm‐ lung von Vertretern der Nation wird jedoch ohne Zweifel nur solchen Ratschlägen Gehör schenken, die der Weisheit und der Klugheit entspringen. Sie werden selbst wahrgenommen haben, meine Herren, dass man bei verschiedenen Gelegenheiten in letzter Zeit davon abgewichen ist. Doch wird der Geist, der Ihre Beratungen beherr‐ schen wird, den wahren Gesinnungen einer edlen Nation entsprechen, deren Liebe zu ihren Königen stets ihren vornehmsten Charakterzug gebildet hat. (…) Möge, meine Herren, ein glückliches Einvernehmen in dieser Versammlung herrschen! Mö‐ ge diese Epoche für das Glück und die Wohlfahrt des Königreichs auf immer denk‐ würdig werden!“12 Nach der Ansprache des Königs wandte sich Minister Necker dann ausschließlich finanziellen Fragen und Problemen zu. Dies war ja der Auftrag der Einberufung der Versammlung der Stände – und der König erinnerte diese expli‐ zit daran. Sie solle ihm „die wirksamsten Maßnahmen zu einer dauerhaften Ordnung der Finanzen und zur Befestigung des Staatskredits vorschlagen. Mit diesem großen und heilsamen Werk, das die Wohlfahrt des Königreichs im Innern und sein Anse‐ hen im Ausland gewährleisten wird, werden Sie sich im wesentlichen befassen.“13 Der Dritte Stand erkannte die Gefahren dieser Situation und begann daher am Abend desselben Tages mit internen Gesprächen und Verhandlungen, am 6. Mai weigerten sich dann seine Vertreter, sich in einer eigenen Kammer zu konstituieren – die überlieferte Trennung der Stände war damit aufgehoben, zu diesem Zeitpunkt 10 11 12 13
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Vgl.: Garber 1990. Abdr. der Rede in: Markov 1982, II, S. 63–64. Markov 1982, II, S. 64. Markov 1982, II, S. 64.
zumindest angezweifelt. Der Adel lehnte währenddessen die Abstimmung nach Köpfen, die seit Einberufung der Stände schwelende Frage, bei nur ca. 50 Ja-Stim‐ men ab. Beim Klerus war die Zurückweisung denkbar gering, es gab keine 20 Stim‐ men Vorsprung. Am 10. Juni, über einen Monat später, war das Problem immer noch nicht geklärt, der Dritte Stand setzte daraufhin eine gemeinsame Wahlprüfung an. Die beiden oberen Stände waren uneins, es kam zu immer mehr Überläufern, vor allem Mitglieder des Klerus schlugen sich auf die Seite des Dritten Standes. Am 17. Juni 1789 konstituierte sich der Dritte Stand zusammen mit den Sympa‐ thisanten und Überläufern als Nationalversammlung.14 Man repräsentiere „wenig‐ stens sechsundneunzig Hundertstel der Nation“, damit unleugbar „den Gesamtwillen der Nation“ und habe den Auftrag erhalten, „an der Bildung des Nationalwillens mitzuwirken“. Zwischen dem Thron und der Versammlung dürfe es keinerlei Veto‐ rechte und Ablehnungsinstanzen geben. „Die Versammlung erklärt demnach, dass das gemeinsame Werk der nationalen Neuordnung unverzüglich von den anwesen‐ den Abgeordneten in Angriff genommen werden kann und muss und dass diese sich ihm ohne Unterbrechung und Behinderung widmen sollen.“ Der König und sein Hof waren durch die harte Haltung des Adels und die Erklä‐ rung vom 17. Juni nunmehr bereit, deutlicher gegen den Dritten Stand Partei zu er‐ greifen. Als dessen Abgeordnete am 20. Juni ihren Tagungsraum (Salle des Menus, Raum für Hofbelustigungen) betreten wollten, war dieser abgeschlossen. Sie zogen daraufhin weiter in den Saal des Jeu de Paume und dort kam es zum bekannten Ball‐ hausschwur, so der deutsche Name des neuen Tagungsortes. (Ballhaus übrigens nicht, weil dort Bälle abgehalten, sondern vielmehr mit dem Ball gespielt wurde.) Vorangestellt war dem Schwur die Erklärung: „Die Nationalversammlung be‐ schließt, in der Erwägung, dass gemäß ihrem Auftrag, die Verfassung des Königrei‐ ches festzulegen, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen und die wahren Grundsätze der Monarchie aufrechtzuerhalten, nichts sie hindern kann, ihre Beratun‐ gen fortzusetzen, wo auch immer man sie zu tagen zwingt, ferner, dass überall dort, wo ihre Mitglieder versammelt sind, die Nationalversammlung ist; dass alle ihre Mitglieder auf der Stelle einen feierlichen Eid leisten, sich niemals zu trennen und sich überall, wo die Umstände es notwendig machen, zu versammeln, so lange bis die Verfassung des Königreiches geschaffen und auf feste Grundlagen gestellt wor‐ den ist, und dass nach dem Schwören besagten Eides alle Abgeordneten, jeder für sich, durch ihre Unterschrift diese unumstößliche Entschließung bestätigen.“15 Der Dritte Stand – genauer gesagt: sein reicher bourgeoiser Teil, die oberen fünf Prozent – hatte sich selbst einen Verfassungsauftrag erteilt. Schon mit dem Ballhaus‐ schwur ging die Nationalversammlung so weit, die Ausfertigung einer Verfassung als ihren direkten und durch die Nation legitimierten Auftrag zu begreifen. In den 14 Abdr. bei: Grab 1989, S. 39f. 15 Grab 1989, S. 40f.
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nächsten Tagen und Wochen verabschiedete sie verschiedene Maßnahmen und Er‐ klärungen, die diese Entwicklung rechtlich fixieren und, zuvorderst, absichern soll‐ ten. So am 23. Juni den „Beschluss über die Immunität der Abgeordneten“, bis heu‐ te in den meisten demokratischen Staaten ein fester Bestandteil der staatlich-parla‐ mentarischen Ordnung. Dieser Tag nun hatte es in sich. Nach dem Schwur verschob die Krone die eigentlich auf den 22. Juni festgesetzte Thronsitzung – es sollten jene Tribünen aus dem Saal entfernt werden, auf denen das Publikum normalerweise Platz nahm. Nicht zuletzt als Reaktion auf diesen Entschluss vereinigte sich der Kle‐ rus mit dem Dritten Stand. Die Ereignisse hatten, abseits aller tatsächlichen Wünsche und Hoffnungen der Bevölkerung, eine innere Dynamik entfaltet, die sich kaum mehr stoppen ließ. Es „hing alles vom Ausgang der Thronsitzung ab“.16 König, Hof und Adel unterlagen. Ludwig XVI. erklärte die Beschlüsse des 17. und des 20. Juni für nicht gültig. Zu‐ dem drohte er, wenn die Versammlung sich weigern werde, diese aufzulösen und nach Hause zu schicken. Die einzelnen Stände sollten auseinandergehen und am nächsten Tag in die Räume zurückkehren, die ihnen am Anfang zugewiesen worden wären. „Mit offener Unbotmäßigkeit hatten Hof und Regierung kaum gerechnet. Der Tiers trotzte jedoch der Order und verblieb nach Ludwigs Weggang im großen Stän‐ desaal, um seine Beratungen gemeinsam mit jenen Geistlichen und Adligen, die mittlerweile zu ihm gestoßen waren, fortzusetzen. Ohne von der königlichen Wei‐ sungsbefugnis Notiz zu nehmen, bekräftigte er die beanstandeten Beschlüsse der Nationalversammlung und erklärte – mit 493 gegen 34 Stimmen – ihre Mitglieder für unverletzlich. Mirabeau hatte seinen großen Auftritt: Die versammelte Nation empfange keine Befehle. 'Nur vor der Gewalt der Bajonette werden wir vom Platze weichen!'“17 Der König überlegte kurz, den Saal mit Gewalt räumen zu lassen, entschied sich dann aber dagegen. Der Dritte Stand hatte die entscheidende Auseinandersetzung um die Klärung der Kräfteverhältnisse gewonnen. Der 24. Juni brachte den Einzug einer Mehrheit des Klerus in die Nationalversammlung, einen Tag später erschiene‐ nen 47 Abgeordnete des Adels. Ludwig XVI. sah sich vor vollbrachte Tatsachen ge‐ stellt und gab seinerseits am 27. Juni die Empfehlung an die beiden oberen Stände ab (die verbliebene Minderheit des Klerus und die Mehrheit des Adels), an der Na‐ tionalversammlung teilzunehmen. Im Hintergrund freilich arbeitete er zusammen mit seinen Beratern daran, letztlich doch mit den Mitteln der Drohung und Gewalt das bis zu diesem Zeitpunkt Erreichte zurückzunehmen. Albert Soboul schrieb: „Mit dem Befehl zur Vereinigung der drei Stände betrat das Königtum den Weg zu neuen Konzessionen. Die Generalstände sind verschwun‐ den; die Macht des Königs untersteht jetzt der Kontrolle der Vertreter der Nation. 16 Markov 1982, I, S. 73. 17 Markov 1982, I, S. 73.
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(…) Die staatsrechtliche Revolution ging ohne Rückgriff auf Gewalttätigkeit zu En‐ de. (…) Anfang Juli 1789 war die Revolution rechtlich abgeschlossen. Dank der Al‐ lianz zwischen den Abgeordneten des Tiers, den Vertretern des niederen Klerus und der liberalen Fraktion des Adels war staatsrechtlich der königliche Absolutismus durch die nationale Souveränität ersetzt worden. Das Volk war noch nicht in der po‐ litischen Arena erschienen. Sein Eingreifen ermöglichte der bürgerlichen Revoluti‐ on, sich gegenüber den Drohungen der anderen Seite endgültig durchzusetzen. Für das Königtum und den Adel erschien der Einsatz der Armee als einzig mögliche Lö‐ sung. Ludwig XVI. hatte bereits am Vortage seines Befehls an die privilegierten Stände, an der Nationalversammlung teilzunehmen, beschlossen, um Paris und Ver‐ sailles 20.000 Soldaten zusammenzuziehen. Es war die Absicht des Hofes, die Ver‐ sammlung aufzulösen.“18 Was war bis zu diesem Zeitpunkt erreicht? Alles und nichts. Das Volk hatte, wie Soboul gerade schrieb, die Bühne der Revolution noch gar nicht betreten. Dass die von ihm in die Generalstände entsandten Vertreter nicht seine, sondern ihre, groß‐ bürgerlich-kapitalistischen Interessen im Auge hatten und verfolgten, war noch nicht offenbar geworden bzw. spielte noch nicht die entscheidende Rolle, da die Forderun‐ gen von Volk und Bourgeoisie noch nicht vollständig auseinander klafften (und letztlich auch andere Fragen im Vordergrund standen). Die Vertreter des Dritten Standes hatten entschieden, den Staat neu zu ordnen und ihm eine Verfassung zu ge‐ ben, hatten damit, getrieben von einer inneren Dynamik der sich abzeichnenden und rechtzeitig ergriffenen Chancen, weit mehr erreicht, als ein paar Monate zuvor auch nur vorstellbar gewesen wäre. Dies ist das „alles“. Das „nichts“ erklärt sich ebenso leicht: Ohne die Macht und die Wut und den Widerstand der Bevölkerung würde es nicht gelingen, den neuen Status quo zu verteidigen. Genau darin lag von Anfang an das Dilemma der Bourgeoisie, das die Revolution in allen ihren Phasen prägte. Die Bourgeoisie brauchte das Volk, in bestimmten historischen Situationen den macht‐ vollen Druck der Straße und des Aufstandes. Gleichzeitig aber hatte sie Angst vor der Masse, den Armen, und zwar mehr als vor dem Ancien Régime. Von daher war sie immer bereit, mit Adel, Klerus und Hof gegen das Volk zum Schutz der eigenen ökonomischen, machtpolitischen usw. Interessen zu intrigieren. Die erste Phase der Revolution war zu Ende, die Konterrevolution warf ihre Schatten voraus, die eigentliche Revolution würde, müsste beginnen, um die bisheri‐ gen Errungenschaften zu sichern. Die Gärung in Paris, so liest man in den älteren Geschichten der Revolution, begann ein paar Tage vor dem Sturm auf die Bastille – und bis zu diesem Tag standen die Umbrüche und Ereignisse immer im Namen der Parole: Lang lebe der König. Die Idee, dass die Geschichte ihn strafen, die Men‐ schen ihn richten und beurteilen, verurteilen würden, lag außerhalb jeder Vorstel‐
18 Soboul 1983, S. 109f.
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lungskraft, sogar außerhalb des Erkenntnisrahmens der Phantasie. In Louis-Sébasti‐ en Merciers (der ab 1792 Mitglied des Konvents war) L'an deux mille quatre cent quarante. Rêve s'il en fût jamais utopischem Roman von 1771 war Frankreichs Adel gefallen, Versailles lag in Trümmern. Doch vor diesen Trümmern saß – wenn auch weinend – der König. Nicht einmal die emanzipatorisch nach „vorn“ greifende Zei‐ tutopie, auf der Suche nach der „besten aller möglichen Welten“,19 konnte sich ein Frankreich der Aufklärung ohne König vorstellen.20 In diesem Sinn schilderte Jules Michelet in seiner poetischen Sprache: „Nun sind sie im Ballhaus gegen den Willen des Königs versammelt. Aber was werden sie tun? Man darf nicht vergessen, dass die Versammlung zu dieser Zeit völlig royalistisch ist, kein Mitglied ausgenommen. Man darf nicht vergessen, dass sie 'Es lebe der Kö‐ nig!' rief, als sie sich am 17. den Titel Nationalversammlung gab.“ Doch was für ein König? „Dieser alte Schatten, dieser Aberglaube von ehedem, der im Saale der Ge‐ neralstaaten so mächtig gewesen war, verblasste im Ballhaus. Der elende Raum, ganz modern, kahl, ohne Möbel, hatte nicht einen Schlupfwinkel, in dem sich die Träume der Vergangenheit noch einnisten konnten.“21 Auch in der Rede, mit der Mirabeau am 23. Juni die Abgeordneten zusammen‐ hielt, sind alle diese Motive nachzulesen. Immer wieder ist vom weisen König die Rede, von der Güte des Monarchen, seinem Gerechtigkeitssinn usw. Gleichzeitig sprach Mirabeau als Vertreter jener durchaus elitären Aufklärung (die von den An‐ sprüchen beispielsweise Denis Diderots mehr als nur dem Grade nach zu unterschei‐ den ist), die das Volk als unterdrückt und ungebildet (wobei beide Aspekte sich ge‐ genseitig ergänzen, bedingen) ansieht. Ein Moloch, der sich nicht selbst befreien könne, sondern von „oben“ aufgeklärt werden müsse – was inkludierte, dass bis da‐ hin liebender und dankbarer Gehorsam gegenüber seinen Vertretern an erster Stelle zu stehen habe. Mit den Worten Mirabeaus: „Das Volk soll wissen, dass es keinen Grund zur Verzweiflung hat, dass sein Vertrauen in seine Repräsentanten nie ge‐ rechtfertigter war.“22 Würden seine Warnungen nicht bedacht, dann drohe die Revo‐ lution – Mirabeau extrapolierte seine Beobachtungen des Tages zur Ahnung des Ver‐ laufs der nächsten Jahre: „Der 23. Juni hat auf ein von vielen Missgeschicken be‐ drücktes Volk einen verhängnisvollen Eindruck gemacht. Sieht das ungelehrte Volk doch da einen Angriff auf seine persönlichen Rechte, wo nur ein Irrtum der Autorität vorlag. Es hat noch keine Gelegenheit gehabt, sich von der Unerschütterlichkeit sei‐ ner Repräsentanten zu überzeugen. Wer wüsste im übrigen nicht, wie rasch sich Un‐ ruhe zu verbreiten vermag; wie schnell eine geringfügige Wahrheit, welche durch 19 Siehe: Heyer 2006, S. 255–272. 20 Siehe hierzu immer noch: Trousson 1975; Trousson hat sich auch zu Mercier und zur Zeituto‐ pie mehrfach geäußert; die entsprechenden Aufsätze in der wichtigen Edition von Voßkamp 1985. 21 Michelet o. J., I, S. 97f. 22 Mirabeau 1989, II, S. 415.
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Angst entstellt und durch das Echo einer großen von Leidenschaften überquellenden Stadt vergiftet wurde, eine Gärung verursachen kann, die in der jetzigen Krise noch eine Verschärfung des Unglücks wäre? Bald wird die Unruhe von Versailles auf Pa‐ ris übergreifen, und die Erregung der Hauptstadt wird sich den benachbarten Provin‐ zen mitteilen. Jede neue Erschütterung greift weiter und weiter und verursacht schließlich eine allgemeine Erregung. Dies ist ein schwaches, aber echtes Bild der Entstehung von Revolutionen. Ich habe es nicht nötig, zu beweisen, wie gefährlich die letzten Ereignisse, von allen möglichen Gerüchten begleitet, der Phantasie dieses unglücklichen Volkes werden können.“23
b) Der historische Weg zur Verfassung von 1791 Die Ereignisse in Versailles wurden in ganz Frankreich, vor allem aber in Paris auf‐ merksam verfolgt. Durch Zeitungen, Flugblätter, Reden, politische Klubs und Verei‐ nigungen erhielt das Volk seine Informationen, immer bereichert um Vermutungen, Übertreibungen und Ähnliches. Aufmerksam wurde registriert, dass sich vor allem der Adel allen großen Neuerungen widersetzte, die alte Ordnung und seine Privilegi‐ en verteidigte, also die Unterdrückung der Massen fortsetzen wollte. Regelmäßig ka‐ men Gerüchte auf, dass es ein großes aristokratisches Komplott gebe. (Wie über‐ haupt die Gerüchte, Ängste, Paniknachrichten – ob spontan entstanden, bewusst ge‐ streut oder auf einem Funken Wahrheit beruhend – den Verlauf der Revolution in den nächsten Monaten und Jahren immer wieder beschleunigten und zu neuen Erup‐ tionen führten.) Hinzu kam eine ökonomische Krise, die Ernte von 1788 war außer‐ gewöhnlich schlecht ausgefallen, der Brotpreis stieg ständig, auch sonst verteuerte sich das Leben. Im Juli eskalierte die Situation, am 14. des Monats kam es zum heu‐ te noch bekannten Sturm auf die Bastille. Die zahlreichen Krisen und Kämpfe, Aufstände und Verdächtigungen, Anschuldi‐ gungen und blutigen Konflikte, die die nächsten Monate und Jahre prägten, können und müssen an dieser Stelle nicht berücksichtigt werden, da das Hauptaugenmerk der Verfassungsgeschichte gilt. Eine kurze Aufzählung kann die wichtigsten Ereig‐ nisse zumindest festhalten: • • • •
14. Juli 1789, Sturm auf die Bastille Die Unruhen in den Städten und auf dem Land, Juli 1789 Septemberkrise, Belagerung der Bäckereien usw. Oktoberkrise, 6. Oktober 1789, Ludwig XVI. wird zur Übersiedlung nach Paris gezwungen
23 Mirabeau 1989, II, S. 412f.
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19. Dezember 1789, Assignaten 14. Juli 1790, Föderationsfest, Erinnerung an den Sturm auf die Bastille 1790 zahlreiche wirtschaftliche Reformen, immer wieder soziale Spannun‐ gen 20. Juni 1791, Flucht der königlichen Familie 16. Juli 1791, Spaltung der Jakobiner 17. Juli 1791, Blutbad auf dem Marsfeld 22. August 1791, Sklavenrevolution in Französisch-Haiti 27. August 1791, konterrevolutionäre Deklaration von Pillnitz 29. August 1791, Beginn der Wahlen zur Gesetzgebenden Versammlung September 1791, Verfassung
Es ist an dieser Stelle zumindest mit einigen knappen Worten auf die sozial-struktu‐ relle Zusammensetzung der Versammlung einzugehen, da ja bereits mehrmals die These durchklang, dass die Politik der herrschenden Revolutionäre eine ganz be‐ stimmte Klassengrundlage hatte und somit spezifischen Interessen diente (sowie die‐ se ebenfalls formulierte und thematisierte). Ursprünglich zerfiel die Versammlung, wenn man es ganz einfach formulieren will, in zwei Gruppen: Die Aristokraten (zu‐ sammen mit der gehobenen Geistlichkeit), die das Ancien Régime, die Privilegien, also die alte Struktur verteidigten bzw. so viel wie möglich von dieser in die neue Zeit hinüberretten wollten, auf der anderen Seite die „Patrioten“, die sich zum Neu‐ aufbau bekannten. Sukzessive aber bildeten sich neue Gruppierungen heraus, die eine teils lose, teils feste Struktur hatten, durch gemeinsame, aber auch wechselnde Interessen zusammengehalten wurden und daher nicht mit Parteien im modernen Sinne verwechselt werden dürfen. Bei diesen Zusammenschlüssen ging es um Mehr‐ heiten im Parlament, aber auch um die Darstellung der eigenen Position nach außen, um Einflussnahme auf die Bevölkerung durch Publikationen und Zeitschriften (im damaligen Sinne), um Rückversicherung in der Bevölkerung durch Diskussions‐ klubs und Salons.24 Die Aristokraten (auch „die Schwarzen“) saßen in der Versammlung rechts. Sie verfügten über hohe finanzielle Mittel und führten einen erbitterten Kampf für die Verteidigung der Privilegien – ein Engagement, das deshalb nicht unterschätzt wer‐ den darf, da sie in ihren Reihen herausragende Redner hatten und mehrere eigene Zeitungen herausgaben (Cazalès, Abbé Maury, Abbé de Montesquiou). Die „Männer der Monarchie“, „die Engländer“,25 angeführt von Mounier (dieser verließ nach den Oktobertagen die Nationalversammlung und legte sein Mandat nie‐ der), Malouet, dem Herzog Clermont-Tonnerre, kämpften für das absolute Veto, wa‐ 24 Zum Folgenden siehe: Soboul 1983, S. 137ff. 25 Siehe: Lefebvre 1989, S. 178f.
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ren Verteidiger der angeblichen Rechte und Vorrechte des Königs und bewegten sich im Laufe der Zeit immer weiter nach rechts – mit dem Ziel, die Fortschritte der Re‐ volution auszubremsen, zu verhindern, rückgängig zu machen.26 Die „Constitutionels“ umfassten viele der Patrioten, Vertreter der Bourgeoisie und des Klerus, darunter auch Erzbischöfe (wie Champion de Cicé, de Boisgelin). Sie waren die Interessenvertreter der Bourgeoisie und versuchten, unter der Idee der ge‐ mäßigten Monarchie, auch durch Kompromisse, eine Art Minimalkonsens herzustel‐ len. Ihr Ziel war die institutionelle Neugestaltung Frankreichs. Geführt wurden sie von La Fayette, der Abbé Sieyès spielte eine bedeutende Rolle, Anwälte und Juris‐ ten (Camus, Target, Thouret) waren verantwortlich für viele Gesetze. Links in der Versammlung saß das „Triumvirat“ (Barnave, Du Port, Alexandre de Lameth). Nach dem Ende des Jahres 1790 der Einfluss La Fayettes auf den König geringer wurde, übernahm das Triumvirat diese Rolle. Nach der Flucht des Königs und der deutlich werdenden Macht der Volksmassen setzte die Gruppe auf Versöh‐ nung und versuchte nun ihrerseits, den Fortgang der Revolution zu stoppen. Noch weiter links saßen die „Demokraten“ (Robespierre, Buzot, Pétion). Sie ver‐ teidigten gegen Aristokratie, Versöhnung und Bourgeoisie die Interessen des Volkes. Ihre wichtigste Forderung war das allgemeine Wahlrecht. 1791 wurden sie dann zu den einzigen Verteidigern des Friedens, argumentierten und stimmten gegen den Krieg. Zu diesem Zeitpunkt (das wird später zu zeigen sein) hatten sie sich das un‐ umschränkte Vertrauen des Volkes und der Armen bereits berechtigtermaßen erwor‐ ben. Die ursprüngliche patriotische Fraktion hatte frühzeitig begonnen, sich eine trag‐ fähige Organisationsstruktur aufzubauen. Dabei ging es natürlich auch darum, au‐ ßerhalb der Ständeversammlung, außerhalb der Nationalversammlung sich auszutau‐ schen über Ziele und Interessen, über Chancen und Potenziale. Seit Mitte 1789 fan‐ den regelmäßige Treffen statt (Klub der bretonischen Abgeordneten). Im Oktober zog dann die „Gesellschaft der Verfassungsfreunde“ in die rue Saint-Honoré, im dor‐ tigen Jakobinerkloster tagte man: Damals noch vorwiegend Abgeordnete sowie wohlhabende Bürger. Es wurden Kontakte zu anderen Versammlungen und Klubs aufgebaut und so ein strukturelles Netz zwischen den verschiedenen französischen Städten geschaffen. Jean Massin, der Biograph Robespierres, schrieb: „Unter seinen Kollegen befanden sich andere, mit denen Robespierre sofort übereinstimmt und de‐ nen er sich ohne Zögern anschließt. Es sind die Abgeordneten des Dritten Standes der Bretagne und die, die mit ihnen im Bretonischen Klub, der Keimzelle des sich im November bildenden Jakobinerklubs, vereinigt sind. Jetzt verkehren dort nur die zur Zeit fortgeschritten Abgeordneten. Noch ist man weit entfernt von den Hundert‐ tausenden von Parteigängern der Jakobiner in Paris und in der Provinz. Aber schon
26 Siehe: Redslob 1912.
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ist Robespierre ebenso und noch mehr bemüht, auf die öffentliche Meinung im gan‐ zen Lande einzuwirken als die Nationalversammlung zu beeindrucken. Er sucht Be‐ ziehungen zu Journalisten anzuknüpfen, in erster Linie zu Camille Desmoulins, sei‐ nem einstigen Mitschüler, mit dem er wieder in Verbindung tritt, und auch zu ande‐ ren, wie Barère, der gleichfalls Abgeordneter und nebenbei Redakteur des Point du Jour ist und der für ein Jahr sein Kollege im Wohlfahrtsausschuss sein wird.“27 1790/1791 verstärkte sich der Einfluss Robespierres bei den Jakobiner (nach der Flucht des Königs und den Ereignissen auf dem Marsfeld). Die Jakobiner wurden demokratischer und volksnäher. Daraufhin spaltete sich der Klub der Feuillants von ihnen ab. Unter der Führung La Fayettes beschloss die Bourgeoisie, ihre Interessen ohne das Volk wahrzunehmen – eine Idee, die man zunächst einmal ganz einfach si‐ cherstellte durch eine Erhöhung des Mitgliedsbeitrages. Zu ergänzen ist noch, dass sich die Jakobiner ab diesem Zeitpunkt eigenständig entwickeln konnten, durch den Fortgang La Fayettes Raum zur Selbstbestimmung erhielten. Denn La Fayette hatte hinter sich und den Seinen eine breite bürgerliche Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Die Organe der Jakobiner (Camille Desmoulins, Carras, Brissot, Prudhomme) konn‐ ten sich nun besser und deutlicher positionieren, waren von Rücksichten und Kom‐ promissen ein Stück weit befreit. Neben diesen Organisationen und Zusammenschlüssen gab es zahlreiche weitere Vereine, in denen sich die Bürger zusammenschlossen und austauschten. Sicherlich ist dies ein ganzes Stück weit ein Erbe der Salon-Kultur des französischen 18. Jahr‐ hunderts, die permanente Diskussion (sich selbst als Mittelpunkt ansehender Grup‐ pierungen) war identisch mit der Öffentlichkeit.28 Was auch bedeutet, dass in dem Moment, als die Armen und von der Verfassung von 1791 sowie verschiedenen vor‐ ausgehenden Gesetzen Entrechteten, die Passivbürger, sich ebenfalls verbündeten und solidarisierten, eine andere Öffentlichkeit entstand, sich konstituierte, die Ge‐ sellschaft ein „neues Gesicht“ bekam. Sie waren eben nicht, wie Aristokratie und Bourgeoisie immer meinten, vernachlässigbar – ganz im Gegenteil. Der vielleicht bekannteste Zirkel dieser Art war der Klub der Cordeliers, auch bekannt als Société des amis des Droits de l'homme, Gesellschaft der Freunde der Menschenrechte. Er wurde im April 1790 begründet – offen, demokratisch, direktdemokratisch. In ihm wirkten Danton und Marat. Der erste fiel seiner eigenen Gier zum Opfer, der zweite der Konterrevolution. Eine Sache einte all die gerade Genannten: Die Revolutionäre waren Getriebene. Immer wollten sie agieren, doch zumeist reagierten sie, mussten permanent neue He‐ rausforderungen meistern. Nicht selten solche, die sie selber – bewusst oder unbe‐ 27 Massin 1974, S. 31. 28 Siehe hierzu die beiden Bücher von Robert Darnton 1983 und, mit Seitenblicken, 1998; zuletzt breit rezipiert, aber mit einigen Fehlern: Blom 2011; zur deutschen Situation interessant: Dül‐ men 1986; daneben gibt es eine breite Quellen- und Memoirenliteratur.
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wusst, auch als Nebenprodukt anderer Handlungen usw. – geschaffen hatten. Die Vertreter in der Nationalversammlung (selbstverständlich von Ausnahmen abgese‐ hen, u. a. der spätere „harte Kern“ der Jakobiner) repräsentierten schlicht „das Volk“ nicht. Vielmehr Sonderinteressen kleinerer Gruppen. In der Nationalversammlung wurde von Anfang an intensiv darüber diskutiert, wie mit dem Druck des Volkes umzugehen sei. Klar war, allerdings erst nach verschiedenen internen Selbstverstän‐ digungsprozessen und öffentlichen Schlagabtäuschen, dass sich die Bourgeoisie nicht gegen das Volk stellen könne, gar bewaffnet, da auf diese Weise der König an Macht gewinnen würde. Es gelang der Bourgeoisie, den liberalen Adel dazu zu brin‐ gen, auf der Sitzung am 4. August nach langen Diskussionen auf verschiedene Son‐ derinteressen und Privilegien zu verzichten. Darunter freilich so manche, auf die sich leicht verzichten ließ, beispielsweise das Recht, Taubenschläge zu haben. Ent‐ scheidend war außerdem, dass der Klerus auf den Zehnten verzichtete und damit vielleicht am weitgehendsten von allen Gruppierungen in dieser Phase der Revoluti‐ on mit der Tradition und den tradierten Rechten brach. (Darauf ist gleich zurückzu‐ kommen.) Am 11. August 1789 goss die Nationalversammlung die bisherigen Beschlüsse in Gesetzesform,29 denen freilich vor allem ein normativer – auch appellierender – Charakter zukam. Denn der letzte Artikel (Art. 19) stellte fest, dass erst „nach Er‐ richtung der Verfassung die nötigen Gesetze für die Entwicklung der in vorliegen‐ dem Beschluss verankerten Prinzipien erlassen“ werden. Aber der fundamentale his‐ torische Akt soll hier nicht kleiner gemacht werden als er damals tatsächlich war. Das Ancien Régime bestand nicht mehr, wie Albert Soboul30 festhielt, der Ruf: „Es lebe der König“ war allerdings nach wie vor die Maxime des Tages. Jules Michelet umschrieb: „Der Erzbischof von Paris fordert die Versammlung auf, an diesem gro‐ ßen Tag Gottes zu gedenken und ein Tedeum zu singen! 'Und der König, meine Her‐ ren', sagte Lally, 'soll der König, der uns nach einer so langen Unterbrechung von zwei Jahrhunderten einberufen hat, keinen Dank bekommen? – Proklamieren wir ihn zum Wiederhersteller der französischen Freiheit!' Die Nacht war vorgerückt, es war zwei Uhr. Diese Nacht nahm den ungeheuren, tausendjährigen, quälenden Traum des Mittelalters mit hinweg. Bald begann die Morgendämmerung – der Frei‐ heit. Seit dieser wunderbaren Nacht gab es keine Stände mehr, nur Franzosen, keine Provinzen mehr, nur ein Frankreich! Vive la France!“31 Der Beschluss begann mit dem revolutionären Satz: „Die Nationalversammlung vernichtet das Feudalwesen völlig.“ (Art. 1) Viele der überlieferten Privilegien wur‐ den abgeschafft: Die Feudal- und Grundzinsrechte, die grundherrliche Rechtspre‐ chung, der Zehnte, die Ämterkäuflichkeit, die Subsidien, der Adel wurde zur Arbeit 29 Beschluss der Nationalversammlung vom 11. August 1789, abgedr. bei: Grab 1989, S. 42–47. 30 Soboul 1983, S. 123. 31 Michelet o. J., I, S. 197.
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zugelassen usw. Zum Abschluss wurde schließlich deklariert, dass nach der Verfas‐ sung jene Gesetze erlassen werden würden, die diese Beschlüsse in die Tat umsetzen sollten. Die erste Verfassung der Revolution wurde am 3. September 1791 promul‐ giert, am 14. dieses Monats leistete Ludwig XVI. den Eid auf die neue Verfassung. In den fast zwei Jahren bis zu diesem Zeitpunkt, wurden verschiedene Gesetze und Dekrete beschlossen und erlassen, die hier nicht besprochen werden können. Darun‐ ter (teilweise bereits genannt) unter anderem: • • • • • • • • • • • • • • • • •
23. Juni 1789, Beschluss über die Immunität der Abgeordneten 11. August 1789, Abschaffung der Feudalität 26. August 1789, Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 2. November 1789, Nationalisierung der Kirchengüter 3. November 1789, Suspendierung der Parlements32, Abschaffung am 6. September 1790 7. November 1789, Trennung von Amt und Funktion, kein Mitglied der Ver‐ sammlung darf ein Ministeramt wahrnehmen 14. Dezember 1789, Munizipialgesetz33 22. Dezember 1789, Departementseinteilung 19. Juni 1790, Abschaffung des Adels 12. Juli 1790, Zivilverfassung des Klerus 16. August 1790, Abschaffung der Feudalgerichte, Friedensrichter 27. November 1790, Priestereid 14. Juni 1791, Gesetz Le Chapelier 22. und 23. August 1791, Pressegesetz 29. August 1791, Beginn der Wahlen zur Gesetzgebenden Versammlung September 1791, Verfassung 25. September 1791, Strafgesetzbuch
Theorie und Praxis stimmen freilich nicht allzu oft über ein. All die aufgezählten Verlautbarungen beschritten konsequent den Weg eines bürgerlich-liberalen Monar‐ chismus, der ja, wie bereits anklang, nicht nur die ersten Jahre der Revolution präg‐ 32 Die Parlements sind nicht mit modernen Parlamenten zu verwechseln. Das französische Wort parlement stammt von „parler“, sprechen – es bezeichnete ursprünglich die Rede, Diskussion. Im 18. Jahrhundert hatten die Parlements verschiedene Rechte und Pflichten – von der Unter‐ zeichnung und Ratifizierung der Gesetze bis hin zum Ämterverkauf oder die Rechtssprechung und Berufung. Es handelte sich um Versammlungen, deren Sitze käuflich waren. Dennoch führte die Weigerungshaltung der Parlements gegenüber den Beschlüssen des Königs dazu, die Krise der achtziger Jahre zu verschärfen. Nichtsdestotrotz konnten sich die Wortführer der Par‐ lements nach 1789 der Konterrevolution anschließen, da sie ihre Privilegien bedroht sahen. 33 Die wichtige Munizipialgesetzgebung kann hier nicht betrachtet werden, ausführlich darge‐ stellt in ihren Debatten und tatsächlichen Form ist sie bei: Hintze 1989, S. 207–234.
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te, sondern ganz zentral auch die Verfassung von 1791. Erst diese großbürgerliche Richtung des politischen Denkens und Handelns, im eigenen Interesse immer bereit zur Kooperation und zu Kompromissen mit den alten Mächten, machte den Weg frei, ja, machte das Erstarken der Jakobiner überhaupt möglich und nötig. In der Theorie war das Feudalsystem beseitigt, in der Praxis bestand es in vielen kleinen und großen Versatzstücken weiter fort. Der Bauer in der ländlichen Provinz und der Tagelöhner in irgendeiner, jetzt kapitalistischen Stadt, waren nach wie vor vor allem eins: Produkt und Opfer nunmehr doppelter – sowohl der restlichen feudalistischen und der neuen, ungehemmten kapitalistischen – Ausbeutung. Albert Soboul analysierte die Lage etwas anders, sicherlich ein Stück weit klarer blickender als beispielsweise Günter Barudio34: „Inmitten aller Schwierigkeiten, die das Jahr 1790 kennzeichneten, setzte die Verfassungsgebende Versammlung den Neuaufbau Frankreichs unbeirrbar fort. Als Männer der Aufklärung wollten die Ver‐ fassungsgeber die Gesellschaft und die Institutionen auf rationale Grundlage stellen, nachdem sie den Prinzipien, von denen sie ausgingen, allgemeine Gültigkeit verlie‐ hen hatten. Aber als Repräsentanten der Bourgeoisie, die den Anschlägen der Kon‐ terrevolution und zugleich dem Druck der Volkskräfte ausgesetzt war, scheuten sie sich nicht, ihr Werk selbst unter Missachtung der feierlich verkündeten Prinzipien ihrem Klasseninteresse entsprechend zurecht zu biegen. Gegenüber den sich wan‐ delnden Gegebenheiten wussten sie geschickt zu manövrieren und – auf der Hut vor Abstraktionen – sich den Umständen anzupassen. Dieser Widerspruch erklärt zwei‐ fellos sowohl die Hinfälligkeit des politischen Werks der Konstituante, das bereits 1792 ruiniert war, als auch den Widerhall der verkündeten Prinzipien, deren Echo noch nicht verstummt ist.“35 Um ein Beispiel zu nennen: So formulierte beispielsweise das Gesetz Le Chape‐ lier am 14. Juni 179136 unter dem Druck der und aus Furcht vor den Forderungen der Arbeiter das Verbot, dass sich Bürger, die denselben Beruf ausübten, versam‐ meln und über gemeinsame Interessen beraten dürfen. Es war mit anderen Worten ein Streikverbot, die Vereinigungs-, Versammlungs-, Meinungs- und Vereinsfreiheit konnte kaum deutlicher konterkariert werden. Jede Versammlung werde „von den Organen der öffentlichen Gewalt zerstreut“, ihr „Urheber, Anstifter und Rädelsfüh‐ 34 Günter Barudio: „Statt Geburtsrechte und Erbansprüche walten zu lassen, sollte nun jeder Franzose ohne Ansehen der Herkunft die Möglichkeit haben, durch Tugend, eigene Verdienste und Tüchtigkeit öffentliche Ämter und Dienststellen zu besetzen – ob in der Verwaltung oder beim Heer. Gegen etwa 250.000 Adlige, die seit Generationen die Gunst der Geburt nutzen und die die Erträge ihrer Erbgüter genießen konnten, wurden jetzt 25 Millionen Gemeine ins Spiel gebracht, die als 'citoyens' oder Staatsbürger eine individuelle Qualität besaßen. Unter diesen Bedingungen konnte der König von Amts wegen nur noch eine Schutzmacht aller Grundrechte sein. Wurden sie von ihm selbst oder seinen Ministern und Beamten verletzt, dann besaß das Individuum ein besonderes Widerstandsrecht: Denn 'alles ist gegenseitig', wie der Abbé de Sieyès schon im Januar 1789 gelehrt hat.“ (Barudio 1989, S. 85.) 35 Soboul 1983, S. 148. 36 Abgedr. in: Markov 1989, S. 64–66.
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rer (…) mit der ganzen Strenge des Gesetzes bestraft“. (Art. 8) Die Freiheit, die die Bourgeoisie hier verteidigte, war eine kapitalistische: Das Recht auf Arbeit (und da‐ mit das Recht auf Ausbeutung und unbeschränkte Akkumulation). Und so erklärte Art. 6 des Gesetzes, dass sich niemand organisieren oder darüber beschweren dürfe, wenn etwa jemand bereit sein, von außerhalb stammend, für weniger Geld dieselbe Arbeit zu machen. Dies ergänzend: „Jeder, der gegen Arbeiter, die die von den Ver‐ fassungsgesetzen garantierte Freiheit der Arbeit des Gewerbes in Anspruch nehmen, mit Drohung oder Gewalt vorgeht, wird strafrechtlich verfolgt und als öffentliche Ruhestörer nach der Strenge der Gesetze bestraft.“ (Art. 7) Der Kapitalismus begann sukzessive die „Karten auf den Tisch“ zu legen, er zeigte, wie er zu regieren gedach‐ te. Die direkte Kritik am Gesetz Le Chapelier hielt sich in den ersten Wochen seiner Geltung in Grenzen. Aber die Stimmen, die sich erhoben, hatten Gewicht. Marat äu‐ ßerte sich am 18. Juni 1791 in der Nr. 493 seines Ami du Peuple. Er sah dabei durch‐ aus eine Tradition, da die Maßnahmen gegen das Volk mit anderen Dekreten ihren Beginn genommen hätten. Es gehe der Bourgeoisie darum, die Menschen zu verein‐ zeln und zu isolieren, um auf diese Weise jene Individuen zu schaffen, die der Kapi‐ talismus benötige. „Um den zahlreichen Volksversammlungen vorzubeugen, die sie so stark fürchteten, haben sie schließlich der zahllosen Klasse der Tagelöhner und Arbeiter das Recht, sich zu versammeln, um in aller Form über ihre Interessen zu beraten, unter dem Vorwand entzogen, diese Versammlungen könnten die abge‐ schafften Zünfte wieder erstehen lassen. Sie wollen nur die Bürger vereinzeln und sie hindern, sich gemeinsam mit den öffentlichen Angelegenheiten zu befassen. Auf diese Weise wurde mit Hilfe einiger grober Spitzfindigkeiten und unter Missbrauch einiger Worte die Nation von ihren niederträchtigen Vertretern ihrer Rechte be‐ raubt.“37 Abgesehen von der Kriegsfrage hat in der Revolution die Bourgeoisie selten deut‐ licher gemacht, dass sie eben eine Bourgeoisie war. Ihre Freiheit inkludiert die Frei‐ heit zu verhungern (wenn man die sich bietenden Chancen selbstverschuldeterweise nicht nutzt beispielsweise). Begründet wurde das ganze absurderweise damit, dass man ja die Korporationen des Adels abgeschafft habe, diese „Grundlage der franzö‐ sischen Verfassung“ nunmehr einfach nur auf alle anwende. Das Streikverbot war aus ihrer Perspektive notwendig, der Hunger war einer der Motoren der Revolution, die protestierenden Frauen von Paris eine echte Macht. Von Anfang an hatten De‐ monstrationen und Streiks die Revolution begleitet, bereits im Umfeld der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte spielten sie eine wichtige Rolle, am 18. August streikten die Schneider und Perückenmacher, danach die Schuhmacher, am 23. die
37 Marat 1987, S. 108.
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Apothekergehilfen, am 29. die Dienstboten, am 27. September die Metzger. Und in der Luft lag immer die Drohung der Bäckergesellen, ebenfalls zu demonstrieren.38 Das Gegenbeispiel gibt es natürlich auch: Das Pressegesetz vom 22. und 23. Au‐ gust 1791.39 Es erklärt: „Niemand darf wegen des Druckes oder der öffentlichen Verbreitung von Schriften, gleichgültig welchen Inhalts, belangt oder verfolgt wer‐ den, außer wenn er vorsätzlich zum Ungehorsam gegen das Gesetz, zur Missachtung der konstituierten Gewalten und zum Widerstand gegen ihre Maßnahmen oder zu einer vom Gesetz als Verbrechen oder Vergehen erklärten Handlung aufruft.“ (Art. 1) Es ist eindeutig, welches der beiden Gesetze welchen Adressaten hatte, wer jeweils privilegiert und geschützt, wer unterdrückt und in Zaum gehalten werden sollte. Die Rolle des Königs (samt Familie und Beraterstab) muss hier nicht besprochen werden, sie wird als hinreichend bekannt vorausgesetzt. Außerdem erscheint es als müßig, das permanente Intrigieren des Königs hier Revue passieren zu lassen. Seine Flucht scheiterte und er hatte damit, auch in der Bevölkerung, viel „Kredit ver‐ spielt“. „Mit der Flucht nach Varennes hatte Ludwig XVI. die Sache des Königtums selbst aufgegeben; von nun an geht die Revolution unaufhaltsam über ihn hinweg.“ (Hintze, 1989: 205) Am 13. September 1791 teilte Ludwig XVI. der Verfassungsgebenden Versamm‐ lung mit, dass er die Verfassung am nächsten Tag bestätigen werde. Er nutzte seine Nachricht an die Versammlung dazu, sein Verhalten seit dem Beginn der Revolution zu reflektieren und zu erklären. Ausgehend von der These, dass er die Neuordnung Frankreichs in ihren Anfängen immer unterstützt habe, sei er von dem Werk der Ver‐ sammlung erst abgerückt, nachdem diese auf die Wirren und Verwirrungen nicht oder mit falschen Beschlüssen und Gesetzen reagiert habe. Weiter führte er aus: „Möge sich jeder an die Zeit erinnern, als ich Paris verließ: Obwohl die Verfassung nahezu fertig gestellt war, schien die Gesetzlichkeit von Tag zu Tag mehr zu schwin‐ den. Die öffentliche Meinung zerfiel in eine Vielzahl von Ansichten, statt sich zu einem einheitlichen Ganzen zu fügen. Die überspanntesten Ratschläge allein schie‐ nen Beifall zu finden. Die Zügellosigkeit der Presse hatte ihren Höhepunkt erreicht, und keine Autorität wurde mehr geachtet. In den Gesetzen vermochte ich nicht mehr den Ausdruck des Gemeinwillens wahrzunehmen; ich sah sie überall unwirksam, und sie wurden nicht ausgeführt. Hätten Sie mir damals die Verfassung vorgelegt, ich muss es sagen, wäre ich der Ansicht gewesen, dass die Wahrung der Volksinter‐ essen (die einzige und eherne Richtschnur meines Handelns) nicht erlaubt hätte, ihr zuzustimmen. Ich wünschte nur eins, verfolgte nur einen Plan: ich wollte mich von
38 Siehe: Lefebvre 1989, S. 186. 39 Abgedr. bei: Grab 1989, S. 76f.
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allen Parteiungen fernhalten und in Erfahrung bringen, was denn nun der wahrhafti‐ ge Wunsch der Nation sei.“40 Die in diesem Kapitel kurz umrissene historische Epoche fand ihren Höhepunkt in der Verfassung von 1791. Am 3. September 1791 wurde diese öffentlich bekannt gemacht und war damit gültig. Ein paar Tage zuvor, am 29. August, hatten die Wah‐ len zur Gesetzgebenden Versammlung begonnen, die die Geschäfte der Verfassungs‐ gebenden Versammlung fortsetzen sollte. Am 14. September leistete Ludwig XVI. den – von ihm von Anfang an nicht Ernst gemeinten – Eid auf die Verfassung. Der Neuaufbau des französischen Staates war damit vermeintlich abgeschlossen – allein, es war kein stabiles, den Stürmen und Krisen trotzendes Gebilde, das die Abgeord‐ neten geschaffen hat. Ganz im Gegenteil. Nur einige Monate später, am 2. Januar des Jahres 1792, hielt Robespierre (musste er halten) seine große Rede gegen den Krieg (der weitere Wortmeldungen von ihm und seinen wenigen Freunden voraus‐ gingen und folgten). Wie so oft in der Geschichte waren es die Vertreter der Armen, in der Revolution die Sansculotten (die Kommune) und die Jakobiner, die gegen die Interessen, die immer wieder akuten Kriegspläne der Bourgeoisie, den inneren und äußeren Frieden irgendwie zu verteidigen trachteten.
c) Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte Herausgehoben und hier betrachtet zu werden verdient, wir gehen also historisch einen Schritt zurück, in die Anfangsmonate der Revolution, die Erklärung der Men‐ schen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789. Nicht zuletzt, da sie der später fol‐ genden Verfassung von 1791 vorangestellt war. Die Konkretisierung – zumeist in Form der Abschwächung der positiv-revolutionären Potenzen durch die Bourgeoisie – der Ideen und Thesen der Erklärung durch die Verfassung ist unbedingt zu berück‐ sichtigen, wenn man versucht, beide, jede für sich und in ihrem Zusammenspiel, zu verstehen. Georges Lefebvre schrieb in seiner faszinierenden kleinen Studie 1789. Das Jahr der Revolution, entstanden 1939 in den Wirren und Katastrophen der Jahre des europäischen Faschismus, über den Tag nach der Annahme der Erklärung (da die Debatten um sie noch längst nicht beendet waren): „Graf von Montmorency be‐ antragte, dem Volk das Recht zur Verfassungsänderung zuzuerkennen, doch diese Frage wurde am 27. wie mehrere andere, ähnliche, mit der Begründung vertagt, dass die 'Erklärung' mit ihren 17 Artikeln nach der Verabschiedung der Verfassung über‐ arbeitet und ergänzt würde. Das ist niemals geschehen. Als 1791 die Debatte wieder aufgenommen wurde, hielt Thouret dem entgegen, die 'Erklärung', inzwischen im ganzen Volk bekannt, habe in dessen Augen einen 'religiösen und geheiligten Cha‐
40 Zit. bei: Markov 1982, I, S. 183.
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rakter' angenommen, sei zum 'Symbol des politischen Glaubens' geworden, so dass man sich hüten müsse, sie zu ändern. Die als notwendig empfundenen Ergänzungen wurden in eine Zusammenfassung der 'Erklärung' eingearbeitet, die man der Verfas‐ sung als Präambel und Aufzählung der von ihr garantierten 'grundlegenden Bestim‐ mungen' voranstellte. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, das Symbol der Revolution des Jahres 1789, ist so geblieben, wie sie von der Nationalversamm‐ lung am 26. August vorläufig angenommen worden war.“41 Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte war in diesem Sinne Zusammen‐ fassung des bisher erreichten, Festschreibung eines bereits idealisierten (da nicht real vorhandenen und ohne Änderungen auch nicht herstellbaren) „Standes“ der Revolu‐ tion. Die um sie geführten Debatten zeigen vor allem den Konsens der Aufklärung, vertreten durch Bourgeoisie und „fortschrittlichen“ Adel sowie Klerus. Es war keine Erklärung des Volkes, es war eine Erklärung des „Jahrhunderts des Lichts“, der Prin‐ zipien der Aufklärung (und zwar jener Phase der Aufklärung, bevor diese radikal, atheistisch, materialistisch wurde). Sie ergab sich quasi zwangsläufig – als Kodifi‐ zierung der Errungenschaften des Jahres 1789. Noch einmal kann Georges Lefebvre zu Wort kommen: „Der Despotismus war zerschlagen, die Privilegien abgeschafft, nichts stand einer sofortigen Abfassung der 'Erklärung' mehr im Wege. Schon am 12. August machte sich die Versammlung an die Arbeit. Viele Entwürfe lagen ihr vor, und ihr eigenes Präsidium hatte weitere vorbereitet. Man wählte einen neuen, dritten Ausschuss in dieser Sache, bestehend aus fünf Mitgliedern, der einen Text als Diskussionsgrund‐ lage ausarbeiten sollte. Am 17. stellte Mirabeau ihn vor. Die Gegner des Vorhabens hatten allerdings noch nicht kapituliert: Mehrere Redner bezweifelten die Zweckmä‐ ßigkeit einer solchen Erklärung, und Mirabeau selbst schlug noch einmal die Verta‐ gung auf die Zeit nach der Vollendung der Verfassung vor. Doch die Mehrheit blieb bei ihrer Meinung und wollte von keinem Aufschub hören: Der Entwurf des Fünfer‐ ausschusses durch das Doppelspiel des Berichterstatters offensichtlich diskreditiert, wurde abgelehnt zu Gunsten des Vorschlags des 6. Büros des Präsidiums. In uner‐ müdlichen Diskussionen vom 20. bis zum 26. August wurde er erheblich verändert, nicht in der Sache, in der man sich so gut wie einig war, aber im Wortlaut. Der end‐ gültige Text, von 24 auf 17 Artikel geschrumpft, ist knapper und besser, zwingender formuliert.“42 Die Debatten und Diskussionen dieser Augusttage müssen im Folgenden nicht berücksichtigt werden, hier genügt die Kenntnisnahme des endgültigen Ergebnisses. In ihrer ersten, ursprünglichen Version – sie wurde wie die Verfassungen selber im‐ mer wieder geändert und diesen jeweils vorangestellt (diese Varianten setzten sich aber nie durch, erlangten kaum Öffentlichkeit, Beachtung) – besteht die Erklärung 41 Lefebvre 1989, S. 163. 42 Lefebvre 1989, S. 162.
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aus 17 Artikel, deren Wert – besser: Werthaltigkeit – sich daran zeigt, sich erst nach‐ weisen lässt, wenn man untersucht, wie sie tatsächlich mit Inhalten gefüllt wurde. Ob sie auf dem Papier blieb oder von der Gesellschaft akzeptiert und getragen und vorgelebt wurde. Anders formuliert: Die Erklärung sollte und konnte nur bzw. zu‐ mindest vor allem normativ wirken. Sie formulierte ihrem Anspruch nach allge‐ meingültige Prinzipien, deren konkrete Anwendung und Ausgestaltung zunächst einmal keinen die Realität tangierenden Charakter hatte. Es war Robespierre, der ge‐ nau dies klar gesehen hat. Vor dem Jakobinerklub erklärte er am 2. Januar 1792 (im Kontext seines Engagements gegen den äußeren Krieg der Bourgeoisie): „Die Erklä‐ rung der Rechte ist keinesfalls das Licht der Sonne, das allen Menschen gleicherma‐ ßen leuchtet; sie ist nicht der Blitz, der alle Throne gleichzeitig trifft. Es ist leichter, sie auf ein Blatt Papier zu schreiben oder in Erz zu gravieren, als ihre heiligen Let‐ tern, die durch die Unwissenheit, die Leidenschaften und den Despotismus ausge‐ löscht wurden, wieder in die Herzen der Menschen einzugraben. Was sage ich? Wird sie nicht jeden Tag missverstanden, mit Füßen getreten und sogar von uns selbst ver‐ kannt, die wir sie veröffentlicht haben?“43 Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 war getragen von den Ideen und Idealen der Aufklärung, die allerdings nicht in ihrer plebejischen, von „unten „aufklärenden“ (Georg Lukács) Variante kodifiziert wurden, sondern mit dem bereits erwähnten durchaus elitären Zug einer Aufklärung von „oben“. Basie‐ rend allerdings auf einem Fundament aus Fragen, das, wenn auch unterschiedlich in‐ terpretiert, die Revolution in allen ihren Phasen trug: Wer gehört zum Volk, zur Nati‐ on, wer erhält den Status eines vollumfänglichen Citoyen? Dann erscheinen die Dif‐ ferenzen: Nur die Reichen, so Sieyès und die Seinen; alle, so Robespierre, Marat und die Jakobiner; nur die Armen, so Jacques Roux und die „Rasenden“ (siehe die vielfältigen Publikationen von Walter Markov, später ausführlicher); nur die Ent‐ christianisierten, so Jacques-René Hébert als Sprecher der nach ihm benannten Hé‐ bertisten44. Die Erklärung war aber ein ganzes Stück weit noch frei von den Problemen, die sich in den Monaten nach ihrer Verkündung bei dem Unterfangen ihrer sukzessiven Füllung ergaben. Eben deshalb konnte sie formulieren, was die ihr folgende Realität nicht verwirklichte. Sie war der Versuch, den Bruch mit „dem Alten“ in Konsequenz (die entscheidende Frage ist: in welcher?!) fortzuführen, den Neuaufbau Frankreichs einzuleiten, die Prinzipien zu formulieren, an denen er sich orientieren könne, solle. „Indessen möchten die Deputierten nach dem Vorbild der amerikanischen 'Insurgen‐ ten' eine Erklärung der Rechte aufstellen. Aber sie gehen viel weiter als jene. Ihre Erklärung soll zugleich das Credo des neuen Frankreich und der Katechismus 'der Menschen aller Zeiten und aller Länder' sein. Die Revolution, die als französische 43 Robespierre 1989, S. 157. 44 Vgl. die Schilderungen bei Buonarroti; die gute Quellenedition: Hébert 2003.
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begonnen hat, wird universal. Sie will für die ganze Welt die grundlegenden Rechte kodifizieren. Eine treffliche Gelegenheit, um hochtrabende Reden zu halten.“45 Octave Aubry sah nicht die Poesie der Ideale, in Umbruchzeiten durchaus ein Heilmittel ebenso wie ein Narkotikum, sondern – aus seiner im 20. Jahrhundert überaus deplaciert wirkenden monarchistisch-reaktionären Perspektive – das, was er für die Realität hielt: „Als eine von den Prinzipien der Enzyklopädisten inspirierte Heilsbotschaft der Bourgeoisie ist die Erklärung der Menschenrechte weit mehr ein philosophisches Wunschbild als eine wirkliche Grundlage der Gesetzgebung, weit mehr eine Reihe von Maximen als die Präambel zu einer politischen Reorganisati‐ on.“46 Damit ist jener Widerspruch angedeutet, der der Erklärung – unabhängig von den später folgenden Wirrnissen und Verwerfungen – von Anfang an inhärent war: „Die utilitaristisch eingestellten Verfassungsgeber schufen unter Formulierungen von universaler Tragweite ein den Umständen verhaftetes Werk; sie legitimierten die vergangenen Revolten gegen die königliche Autorität, waren aber entschlossen, sich gleichzeitig gegen jede Erhebung des Volkes zu schützen, die gegen die von ihnen aufgestellte Ordnung gerichtet wäre.“47 Die Erklärung war aber auch, dies darf nicht vergessen werden, ein Versuch, die zerrissene Gesellschaft zu einen. Jules Michelet sprach davon, dass man sich „mit beinahe religiöser Weihe an die feierliche Prüfung“ der Rechte der Menschen und der Bürger machte. „Es handelte sich nicht um eine 'Petition der Rechte', wie in Eng‐ land (…). Es handelte sich nicht, wie in Amerika, um ein Suchen nach Prinzipien, von einem Staat zum anderen (…). Es handelte sich darum, von oben herab, Kraft einer überragenden Autorität, die höher war als Kaiser und Papst, das Glaubensbe‐ kenntnis der neuen Zeit aufzustellen. Kraft welcher Autorität? Der Vernunft, die seit einem Jahrhundert von Philosophen, von tiefen Denkern erstritten, von allen Geis‐ tern angenommen war, ihren Einzug in die Sitten hielt und schließlich von den Den‐ kern der konstituierenden Versammlung auf eine Formel gebracht wurde. (…) Das war die Philosophie des Jahrhunderts, sein Gesetzgeber, sein Moses, der vom Gebir‐ ge herabstieg, Lichtstrahlen um die Stirn und die Tafeln in den Händen.“48 In der Tat, auch das kann man der Erklärung nicht absprechen: Sie war Zusam‐ menfassung eines Großteils der positiven, humanistischen, vorwärtsweisenden Kräf‐ te und Ideen des 18. Jahrhunderts. Jedoch nicht, das ist entscheidend, Verwirk‐ lichung der radikal-aufklärerischen atheistisch-materialistischen Positionen – von
45 46 47 48
Aubry 1948, I, S. 129f. Aubry 1948, I, S. 131. Soboul 1983, S. 151. Michelet o. J., I, S. 185f.
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Meslier und La Mettrie49 bis hin zu Diderot und Holbach.50 Doch lassen wir noch einmal Aubry zu Wort kommen – mit der Feststellung, was die Erklärung der Men‐ schen- und Bürgerrechte alles nicht war und ist: „Die Erklärung der Menschenrechte enthält beträchtliche Lücken. Sie spricht nicht von Versammlungs- und Vereinsrech‐ ten, legt die religiöse Freiheit nicht wirklich fest, ebenso wenig die Pressefreiheit, auch wird die Verantwortlichkeit der Staatsbeamten nicht richtig klargestellt. Indem sie die Korporationen aufhebt, beseitigt sie radikal eine im großen Ganzen wertvolle Organisation, die bloß einer Modernisierung bedurfte und die man genötigt ist, bald wieder herzustellen. So wird die in Wolken schwebende, für ihre Zeit zu demokrati‐ sche Erklärung sich durch ihre absoluten Forderungen mit der kommenden Verfas‐ sung im Widerspruch befinden und sie mit Unfruchtbarkeit schlagen.“51 Zu ergänzen ist natürlich, dass sich die Erklärung „um die ungeheure Masse der Besitzlosen“ überhaupt nicht kümmert, jedwede soziale Komponente vermissen lässt, dass sie al‐ so charakteristischerweise „die klare Handschrift der Bourgeoisie“ trägt.52 Auch Georges Lefebvre hat aufgezählt, was die Erklärung alles nicht war. Da sei‐ ne Ausführungen für dieses Kapitel wichtig sind, gilt es, auch seine Argumentation wiederzugeben. Er ging davon aus, dass die Bedeutung der Erklärung zuvorderst „eine negative war: Die 'Erklärung' sollte die Praktiken des Ancien Régime verurtei‐ len und ihre Wiedereinführung verhindern“.53 Sie denke also zuerst an die Vergan‐ genheit, nicht an die Zukunft.54 Nicht zuzustimmen ist Lefebvre, wenn dieser gleich zu Beginn festsetzt, dass die Erklärung keine Ausführungen zur Wirtschaftsfreiheit mache55 – diese ist sehr wohl überaus stark, ja: dominierend, präsent: Als Eigen‐ tumsrecht ohne Sozialverpflichtung, durch die Freigabe der unumschränkten Akku‐ mulation, durch die Öffnung des bürgerlich-kapitalistischen Horizonts als einziges realistisches Vernunftreich.56 49 Siehe die exzellenten deutschen Editionen von Bernd A. Laska, mit beeindruckenden Einlei‐ tungen usw. 50 Zu diesem Thema gibt es eine breitgefächerte Literatur, erwähnenswert hier sind die material‐ reiche Studie von: Overmann 1991; Lefebvre 1983; Baruzzi 1973, auch dessen Sammelband von 1968; Mensching 1971; Vartanian 1950, der viel und reichhaltig, überzeugend zur Thema‐ tik publiziert hat; seit über einem Jahrhundert ein Klassiker: Lange 1912; die Aufsätze von: Starke 1974, S. 190–236; Naumann 1955, S. 85–127; Heyer 2004, S. 181–276; einen Überblick gibt: Heyer 2005, I, S. 215–230. 51 Aubry 1948, I, S. 132f. 52 Soboul 1983, S. 151f. 53 Lefebvre 1989, S. 166. 54 Siehe: Lefebvre 1989, S. 168. 55 „Nicht weniger bezeichnend sind die Lücken in der 'Erklärung'. Wenn man einen Grundsatz darin zu finden erwartet, so ganz gewiss den der Wirtschaftsfreiheit, an der dem Bürgertum über alles gelegen war. Man sucht vergeblich. Einerseits war das Ancien Régime schon nicht mehr dagegen gewesen, denn schließlich hatte bereits Turgot die Zünfte aufgelöst, und Brienne hatte den Getreidehandel völlig frei gegeben, andererseits war der Dritte Stand hinsichtlich der Zünfte durchaus uneinig.“ (Lefebvre 1989, S. 168.) 56 Diese Überlegung findet sich übrigens bei Lefebvre selbst, so wenn dieser, sich selbst wider‐ sprechend, schreibt: „Die Verfassungsgeber waren um diese Zeit (August 1789, AH) auch noch
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Weitaus treffender sind aber seine weiteren Ausführungen: „Die 'Erklärung' spricht auch nicht von der Vereinigungsfreiheit. Nicht dass die Verfassungsgebende Versammlung alle Vereinigungen einfach verbieten wollte; die Klubs werden ja bald einen besonders festen Bestandteil der revolutionären Organisation ausmachen. Doch da die Geistlichkeit aufgehört hatte, eine 'Körperschaft' zu bilden, und man durch die Abschaffung des Ämterkaufs gerade bewies, dass man auch die 'Körper‐ schaften' der Rechtsberufe beseitigen wollte, war es nicht angezeigt, das Recht auf Bildung von Vereinigungen ausdrücklich zu verkünden. Versammlungsfreiheit und Petitionsrecht, von denen die Revolutionäre zu dieser Zeit so intensiven Gebrauch machten, werden ebenfalls nicht erwähnt, und es fehlt der Hinweis auf ein Unter‐ richts- und Sozialfürsorgesystem, wie es Sieyès vorgesehen hatte. Wiederum lag dies daran, dass all diese Grundsätze mit der zukünftigen Gesellschaft zu tun hatten, nicht mit der Zerschlagung der alten. Sie konnten warten, und erst in Titel II der Ver‐ fassung von 1791 werden sie berücksichtigt, weil zu dieser Zeit das Sinnen und Trachten der Verfassungsgeber auf die Zukunft gerichtet ist, während sie im August 1789 noch ganz im Banne der Vergangenheit standen.“57 So richtig und wichtig diese verschiedenen Einschätzungen sind – die Erklärung war dennoch ein großer Schritt. In einer hitzigen Zeit griffen ihre Verfasser nach den Idealen ihrer Jugend, griffen sie ein in die Geschichte, setzten dem Fortschritt ein Denkmal, befreiten, wenn auch erst einmal auf dem Papier, den Menschen. In der Erklärung58 begriff sich die Nationalversammlung erneut als „Vertreter des französi‐ schen Volkes“, die aufgestellten Rechte werden als „natürlich, unveräußerlich und heilig“ bezeichnet, gleichwohl aber „einfach und unbestreitbar“, gerichtet auf die „Erhaltung der Verfassung und das Allgemeinwohl“. (Präambel) Der erste Artikel dekretiert: „Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten. Soziale Unterschiede dürfen nur im gemeinen Nutzen begründet sein.“ Dies war deutlich, es war der Geist der Aufklärung. Georges Lefebvre wertete den ersten Satz der Erklärung wie folgt: „Diese denkwürdige Feststellung, mit der Artikel 1 beginnt, fasst das Werk der Revolution in der Zeit vom 14. Juli bis zum 4. August zusammen. Die ganze übrige 'Erklärung' ist gleichsam eine Erläuterung, ein Kommentar dazu.“59 Weiter heißt es dann bei Lefebvre, den sozialen Dimensio‐ ganz unbesorgt. Nicht dass sie, wie manche meinten, als fleißige Leser von Rousseau glaubten, der Mensch sei von Natur aus gut; sie waren viel realistischer, als man glauben möchte. Nein, sie vertraten eine siegreiche, energiegeladene Klasse, die nun auch die Welt verändern würde: Das Bürgertum zweifelte nicht an sich selbst und auch nicht daran, dass die Ordnung, die es im Einklang mit den Naturgesetzen und dem göttlichen Willen (?, AH) geschaffen hatte, bestimmt sei, auf alle Zukunft Wohlfahrt und Fortschritt des Menschengeschlechts zu sichern. Ängstli‐ chen Warnungen begegnete man mit Unglauben.“ (Lefebvre 1989, S. 169f.) 57 Lefebvre 1989, S. 168. 58 Abgedr. bei: Grab 1989, S. 47–50, im Folgenden alle Zitate unter Angabe der Artikel nach die‐ ser Ausgabe. 59 Lefebvre 1989, S. 163.
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nen der Erklärung auf der Spur, die er aber, da er im Schatten des Faschismus schrieb und gegen diesen schrieb, nicht sehen konnte, wollte (nur so war der bürger‐ lich-positive Horizont des ersten Revolutionsjahres in seiner Gegenwart rettbar und verteidigbar):60 „Die 'Erklärung' beginnt zwar mit der Feststellung, dass die Men‐ schen gleich an Rechten sind, doch es fällt auf, dass bei der Aufzählung der unab‐ dingbaren Rechte die Gleichheit nicht genannt wird. Sieyès hatte sie in seinem Ent‐ wurf in zwei Artikeln sorgfältig beschrieben: Es gibt keine Freiheit, so lange es Pri‐ vilegien gibt, doch die Gleichheit ist eine Gleichheit der 'Rechte', nicht der 'Mittel'. Die Versammlung war damit ganz einverstanden, und es ist erstaunlich, dass sie die‐ se Definitionen nicht übernommen hat, zumal die zweite, die unentbehrlich ist, wenn man alle Zweifel ausräumen will. Nicht ein Artikel ist eigens der Gleichheit gewid‐ met.“61 Der zweite Artikel legt fest: „Das Ziel jeder politischen Vereinigung ist die Erhal‐ tung der natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte. Diese Rechte sind Frei‐ heit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung.“ Diese Aufzäh‐ lung nun zeigt tatsächlich den bürgerlichen Charakter der Erklärung. Das Eigen‐ tumsrecht fungiert nach der Freiheit und vor der Sicherheit sowie dem Widerstands‐ recht als schützenswerter Kernbestand der Erklärung. Es wird nicht eingeschränkt und im letzten Artikel 17 noch einmal spezifiziert: „Da das Eigentum ein unverletz‐ 60 Auch der Historiker ist Teil seiner Geschichte. Und es ist gut, dass er es ist. Lefebvre schrieb sein 1789-Buch in den späten dreißiger Jahren, darauf wurde bereits verwiesen. Er stellte die Ideale der Revolution, die „praktisch gewordene“ Aufklärung gegen die Brutalitäten und Grau‐ samkeiten seiner Zeit. Eine zu bejahende Konfrontation. Daher beendete Lefebvre sein Werk mit einem „Appell an die französische Jugend von 1939“ mit dem Ruf „Es lebe die Nation!“ (Lefebvre 1989, S. 205.) Zuvor hatte er geschrieben: „Es ist durchaus richtig, dass die 'Erklä‐ rung' ein Risiko mit sich bringt, ebenso wie auf ihre Art Absolutismus und Diktatur übrigens, und die Bürger müssen sich auf ihre Verantwortung verweisen lassen. Sie haben das Recht, sich selbst zu regieren, und wenn die einen ihre Macht zu Lasten der anderen missbrauchen, vor allem, wenn sie sich aus Eigennutz weigern, das Heil der Gemeinschaft zu sichern, so wird sie untergehen, und mit ihr die Freiheit und vielleicht sogar alle ihre Mitglieder. Hier liegt der tiefere Sinn der 'Erklärung' als Wegweiser für die Absicht. Sie setzt bei den Bürgern eine laute‐ re Absicht voraus, eine kritische Einstellung, Patriotismus im eigentlichen Wortsinne, Achtung vor dem Recht der anderen, durchdachte Hingabe an die nationale Gemeinschaft – die Tugend, wie Montesquieu und Rousseau das genannt haben, auch Robespierre, der 1792 schreibt: 'Die Seele der Republik ist die Tugend, die Vaterlandsliebe, die hochherzige Hingabe, die alle Inter‐ essen im Allgemeininteresse aufgehen lässt.' Die 'Erklärung' appelliert mit der Verkündung der Menschenrechte also zugleich an die aus freien Stücken geübte Disziplin, an die Bereitschaft zum Opfer, wenn es notwendig ist, und an die sittliche Kultur, den Geist. Die Freiheit ist durchaus nicht Einladung zum Sichgehenlassen und zu verantwortungsloser Machtausübung, sie ist nicht Zusage eines grenzenlosen Wohlergehens ohne Mühe und Arbeit als Gegenleis‐ tung. Nein, sie setzt Fleiß, ständige Anstrengung, strenge Selbstzucht, Opferbereitschaft, staatsbürgerliche und private Tugend geradezu voraus.“ (Lefebvre 1989, S. 204f.) Der liberaldemokratische Gedanke konnte sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts im Rückgriff auf die Er‐ klärung entfalten. Was die Revolution und auch die modernen demokratischen Staaten von den Versprechungen, Hoffnungen, Idealen der Erklärung einlösten – nun, diese Frage wird nicht gestellt. 1939 nachvollziehbar, heute nicht mehr. 61 Lefebvre 1989, S. 164f.
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liches und heiliges Recht ist, kann es niemandem genommen werden, wenn es nicht die gesetzlich festgelegte, öffentliche Notwendigkeit augenscheinlich erfordert und unter der Bedingung einer gerechten und vorherigen Entschädigung.“ Dieser Artikel 17 wurde in letzter Minute, in den Diskussionen des 26. August, auf Antrag von du Port nachträglich angefügt.62 Es wurde bereits gut sichtbar, dass die großen Historiker der Revolution (Ma‐ thiez, Michelet, unter den neueren Soboul, in Deutschland sicherlich Markov) das Fehlen eines sozialen Maßstabs in der Erklärung mehr als nur vermissen. Und so kann mit Recht geschlussfolgert werden, dass eben diese Festsetzung des Eigentums die sozialen Unruhen bis zur Verfassung von 1791 ebenso bestimmte wie den Protest gegen sie und den erneut aufflammenden Protest nach dem Untergang der Jakobiner. „Brot und die Verfassung von 1793!“ – dieser Ruf mobilisierte nach der Verfassung von 1795 ein letztes Mal die Armen und Entrechteten gegen die Bourgeoisie.63 Und bis zur Herrschaft der Jakobiner forderten die Bevölkerungsmassen immer wieder eine Festsetzung des Brotpreises, Gesetze gegen den Wucher. Die Ideale der Aufklä‐ rung, so sehr sie die Erklärung tragen, einen hungrigen Magen füllen sie nicht. Schon gar nicht, wenn ihr Hauptzweck im idealistischen Verschönern von Papier be‐ steht, statt Realität zu prägen, Geschichte „zu machen“. Ist das Eigentum ein Menschenrecht? Also die alleinige und ausschließliche Nut‐ zung eines Gegenstandes, einer Maschine, gar eines Stückes Land64 usw., mit dem Recht, geschützt von staatlicher Gewalt, alle anderen davon auszuschließen? Der dritte Artikel erklärt: „Der Ursprung ihrer Souveränität ruht letztlich in der Nation. Keine Körperschaften, kein Individuum können eine Gewalt ausüben, die nicht aus‐
62 Siehe: Lefebvre 1989, S. 163. 63 Siehe hierzu den Babeuf-Aufsatz im Anhang, außerdem: Bunarroti 1909. 64 Diese Frage zeigt, wie wenig Personen wie Sieyès, Condorcet u. a. mit dem real-humanisti‐ schen Erbe Rousseaus zu tun hatten. Denn dieser hatte ja wortgewaltig formuliert: „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerli‐ chen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: 'Hütet euch, auf diesen Be‐ trüger zu hören; ihr seid alle verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und die Erde niemandem.' Aber mit großer Wahrscheinlichkeit waren die Dinge damals bereits an dem Punkt angelangt, an dem sie nicht mehr bleiben konnten, wie sie waren, denn da diese Vorstellung des Eigentums von vielen vorausliegenden Vorstellungen abhängt, die nur nach und nach haben entstehen können, bildete sie sich nicht auf einmal im menschlichen Geist. Man musste viele Fortschritte machen, viele Fertigkeiten und Einsichten erwerben und sie von Generation zu Generation weitergeben und vergrößern, ehe man bei diesem letzten Stadium des Naturzustandes angelangte.“ (Rousseau 1993, S. 173.) Eine Rezeption Rousseaus aus bour‐ geoisem Blickwinkel ist damit – ohne Verfälschungen – unmöglich. Die bürgerliche Welt kann Rousseau nur, wie es beispielsweise Robespierre tat, in ihre Tradition einbauen, wenn sie des‐ sen Kontrastierung von Bourgeois und Citoyen übernimmt und sich zu Letzterem vollumfäng‐ lich bekennt. Interessante Einblicke bieten, Fragen stellen (die Antworten sind bei beiden zu diskutieren): Spaemann 1992, S. 15–33; Bahner 1971, S. 27–44.
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drücklich von ihr ausgeht.“ Das Eigentum – ist es nicht eine dieser Gewalten? Die der Nation ihre Souveränität nehmen? Wenn der vierte Artikel formuliert: „Die Frei‐ heit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet.“ – dann ist dies der Geist des Kontraktualismus, in seiner christlichen ebenso wie in seiner sä‐ kularen Spielart. Die Freiheit der ökonomischen Akkumulation – schadet sie nicht anderen? Zu keinem Zeitpunkt wurden diese hier angedeuteten Widersprüche, die ökono‐ mischen und sozialen Probleme tatsächlich grundlegend gelöst, die soziale Frage be‐ gleitete die Revolution in jeder ihrer Phasen. (Am Ende der historischen Entwick‐ lung, nach dem Durchgang mehrerer Revolutionen stand der Manchester-Kapitalis‐ mus, ein Prozess, der von Fourier über Cabet hin zur Pariser Commune reicht.) Der Marxismus erklärt dazu, dass die Zeit für grundlegend emanzipatorische Lösungen noch nicht „reif“ gewesen sei. Der Kapitalismus bescheinigt gebetsmühlenartig, dass der Markt es regeln werde. So wirklich richtig und treffsicher sah und sieht keine von beiden ideologischen Richtungen- den Grad der Windschiefe zu vergleichen wä‐ re allerdings müßig und ist allenfalls das Geschäft von Apologeten (bei denen sich das Ergebnis dann von selbst ergibt). Die Revolutionäre der ersten Generation mach‐ ten sich an ein Verfassungswerk, das zu ihrem Nutzen einen homogenen Körper (fast schon einen idealen Körper im Sinne von Platons Ideen) „umfassen“ sollte – aber er war ganz und gar nicht homogen.
d) Der parlamentarische Weg zur Verfassung von 1791 „Was bedeutet es, eine Verfassung 'festzulegen'? Trotz der Entschlossenheit, die die im Ballhaus Versammelten an den Tag legten, war der Schwur nicht gänzlich frei von Ambivalenzen. Ohne Zweifel kündigte er das Ende der Willkürherrschaft und die Ablösung der Unordnung und der Ungewissheit, die aus der tyrannischen Aus‐ führung eines unberechenbaren Herrscherwillens resultierten, durch eine stabile und überschaubare gesetzliche Ordnung an. Da aber eine Verfassung per Definition et‐ was Fixes und Stabiles ist, ist der Ausdruck 'die Verfassung festlegen' ein Pleonas‐ mus. Wenn es im Königreich eine Verfassung gibt, ist sie per Definition festgelegt; ist sie nicht festgelegt, folgt notwendig daraus, dass sie keine Verfassung ist. Vom 'Festlegen' der Verfassung zu sprechen, bedeutete also, der entscheidenden Frage auszuweichen: Wollte man damit sagen, es gab bereits eine Verfassung, die es zu be‐ wahren und zu verteidigen galt, oder gab es im Gegenteil keine Verfassung, und man musste eine solche erst schaffen?“65
65 Baker 1988, II, S. 896f.
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Diese Überlegung von Keith Michael Baker ist in, trotz ihrer Spitzfindigkeit ebenso lapidar wie zutreffend. Korrigiert zu werden verdient sie freilich an einem wichtigen Punkt. Denn sehr zeitig wurde den Revolutionären klar, dass sie, um die Macht des Absolutismus für immer zu brechen, dessen Institutionen und Gesetze zerstören und durch ihre eigenen, neuen ersetzen mussten. Georges Lefebvre hat, wie gesehen, daher die These vertreten, dass die Erklärung der Menschen- und Bür‐ gerrechte eben diesen Buch erbringen sollte. Auf Dauer gestellt werden, auch dies war den Revolutionären (vor allen inhaltlichen Fragen) bewusst, könne er aber nur mit Hilfe einer Verfassung. Wir haben bereits gesehen, dass verschiedene der Geset‐ ze, Dekrete und Beschlüsse zu ihrer Konkretisierung, also der inhaltlichen Füllung, die über den normativen Charakter hinausreicht, auf die zu erarbeitende Verfassung verwiesen. (Und auf diese Weise auch verschiedene Probleme, die nicht gelöst wer‐ den konnten, einfach vertagten.) Nicht hinterfragbar war, wenn man so formulieren will, handelte es sich um einen Minimalkonsens, dass auch die neue Verfassung die Monarchie respektieren, ja, als Regierungsform festsetzen und voraussetzten werde (in den Debatten zeigten sich aber viele Nuancen und Differenzen). Der Begriff der Republik gehörte damals nur theoretisch zum Vokabular (und nur selten in den di‐ rekt politischen Diskursen), Realität prägten die entsprechenden Konzeptionen noch nicht. Hedwig Hintze betonte trotz aller Revolution und revolutionärer Aktivität den Aspekt des Wachsens und der Genese: „Als dann aber die durch Geistlichkeit und Adel verstärkte Nationalversammlung ernstlich an die Ausarbeitung der Verfassung heranging, da konnte dieses Werk, trotz alles enthusiastischen Doktrinismus, der sei‐ ne Geburtsstunde durchwehte, nicht aus dem Nichts geschaffen werden, ohne alle Berücksichtigung des historisch Gewordenen und Gegebenen.“66 Baker geht demge‐ genüber davon aus, dass der 4. August 1789, als die Nationalversammlung be‐ schloss, der zukünftigen Verfassung eine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte voranzustellen, die Entscheidung in der von ihm aufgeworfenen Frage herbeiführte67 – denn mit, nach der Erklärung sei es nicht mehr möglich gewesen, an Traditionen anzuknüpfen, also eine wie auch immer geartete und wo auch immer zu findende äl‐ tere Verfassung oder deren Versatzstücke einfach zu reformieren. Es seien drei Arti‐ kel der Erklärung, die die neue Verfassung unumgänglich machen würden: Der dritte Artikel mit seiner Erklärung, dass „jede Souveränität letztlich in der Nation“ ruht. Daran schließe sich im Prinzip der 16. Artikel an: „Eine Gesellschaft, in der die Ver‐ bürgung der Rechte nicht gesichert und die Gewaltenteilung nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung.“ Damit war im Prinzip der Verfassungsauftrag noch einmal bestä‐ tigt. Und schließlich der sechste Artikel: „Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemei‐ nen Willens. Alle Bürger haben das Recht, persönlich oder durch ihre Vertretung an 66 Hintze 1989, S. 172. 67 Baker 1988, II, S. 896f.
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seiner Formung mitzuwirken. Es soll für alle gleich sein, mag es beschützen, mag es bestrafen. Da alle Bürger in seinen Augen gleich sind, sind sie gleicherweise zu al‐ len Würden, Stellungen und Beamtungen nach ihrer Fähigkeit zugelassen ohne einen anderen Unterschied als den ihrer Tugenden und ihrer Talente.“68 Auch wenn die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der Verfassung von 1791 vorangestellt war, wenn die Erklärung dem Anspruch nach erst die normativen Prinzipien formulierte, die dann zur Ausgestaltung der Verfassung vorbehalten blei‐ ben würden, so ist doch ein deutlicher Bruch zwischen beiden Manifestation, Kon‐ kretionen des Neuaufbaus zu erkennen: „Als man die gesellschaftliche Wirklichkeit Frankreichs umgestalten musste, gaben sich die Juristen und Logiker der Konstitu‐ ante nicht viel mit allgemeinen Prinzipien und universaler Vernunft ab. Als Realis‐ ten, die die einen schonen mussten, um die anderen zurückzuhalten, kümmerten sie sich wenig um die Widersprüche, die ihr Werk kennzeichneten. Sie waren überzeugt, dass sie mit der Wahrnehmung ihrer Klasseninteressen die Revolution schützten.“69 Dieser Bruch zwischen Ideal (Erklärung) und Realität (Tagesgeschäft, Verfassungs‐ gebung) zeigt sich an vielen Stellen. Um ein Beispiel herauszugreifen: Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte hatte noch allgemeine Bürgerrechte verkündet. Beispielsweise das Recht aller Staatsbürger, sich an der Gesetzgebung und am Wohl des Staates zu beteiligen. (Wie überhaupt so unhistorische, metaphysische Begriffe wie „alle“, „jeder“, „die Men‐ schen“ usw. in jenen Jahren reichlich überstrapaziert worden sind.) Am 22. Dezem‐ ber 1789 wurde jedoch ein Gesetz erlassen, das qua Definition die politischen Rech‐ te nicht derart großzügig verteilte. Die Staatsbürger wurden nunmehr in drei Klassen eingeteilt: a) Die Passivbürger waren vom Wahlrecht ausgeschlossen, da sie kein Ei‐ gentum besaßen. Sieyès hatte dies kontraktualistisch begründet – ohne Eigentum kein Interesse am Staat. (So argumentierte ja noch Bismarck gegen die deutsche So‐ zialdemokratie.) Knapp 3 bis 4 Millionen Bürger besaßen dadurch, nach dem Strich einer Feder, kein Stimmrecht mehr. Es ist müßig, an Sieyès' Ideale aus Qu'est-ce que le Tiers État? zu erinnern. Der Kapitalismus hatte seinen Preis akzeptiert, gezahlt, und er gehörte nun dazu. b) Um Aktivbürger zu sein, musste man eine direkte Steuer im Wert von mindestens drei Arbeitstagen zahlen. Diese Personen vereinigten sich in Urwählerversammlungen, bestimmten die Gemeindebeamten und die Wahlmän‐ ner. c) Um als Wahlmann zu fungieren, musste man eine Steuer von mindestens zehn Arbeitstagen entrichten, 50.000 gab es, also je einer auf 100 Aktivbürger. In den Hauptstädten der Departements kam diese Gruppe zusammen, um die Richter, die Abgeordneten und die Mitglieder der Verwaltung zu ernennen. Abgeordneter der Gesetzgebenden Versammlung konnte man nur werden, wenn man Grundbesitz be‐ saß und eine Steuer von mindestens 100 Arbeitstagen zahlte. Der Geldadel hatte den 68 Grab 1989, S. 48–50. 69 Soboul 1983, S. 152f.
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Geburtsadel abgelöst. Die Kritik an diesem Beschluss, vor allem von links, war um‐ fassend und deutlich, allein, die Bourgeoisie war zufrieden mit ihrem Werk. Marat, Robespierre, der Abbé Grégoire, Camille Desmoulins und andere forderten vergeb‐ lich wahre Gleichheit. Ihr Argument war dabei äußerst einfach und äußerst treffend: Jean-Jacques Rousseau, dessen politischer Philosophie die Revolution in allen ihren Phasen und Varianten mehr oder weniger stark huldigte – dieser Jean-Jacques wäre nicht wählbar gewesen, hätte nicht für das Volk sprechen dürfen. (Dagegen sein Feind Voltaire natürlich schon, nachdem dieser mit Diebstahl, Betrug, der Verleum‐ dung von Juden, Intrigen, durch Schmeichelei an den Höfen u. dgl. mehr, ein er‐ kleckliches Sümmchen Geld ergaunert hatte und so vollumfänglicher Bourgeois ge‐ worden war.) Über zwei Jahre zog sich die Diskussion um die neue, die erste, die dann doch so kurzlebige Verfassung hin. Der Verfassungsausschuss war am 14. Juli eingesetzt worden, am Tag des Sturms auf die Bastille.70 Aber es kann schnell zu Debatten und Streitigkeiten, zu sehr dachte der Ausschuss royalistisch – an der Frage über ein Zweikammernsystem und das absolute Veto des Königs schieden sich die Geister. Denn gerade das Zweikammernsystem – orientiert am englischen Modell mit einem aristokratischen Oberhaus – konnte nicht verbergen und verschleiern, dass es mit mindestens einem Fuß mitten im Ancien Régime stand: „Am 31. August 1789 wies Lally-Toland darauf hin, wie der 'noble et fécond enthousiasme', der in einem großen Augenblick alle Franzosen zu verschmelzen schien und die alten Generalstände in eine einzige Kammer verwandelte, doch nicht allein zum Bau des Verfassungswer‐ kes ausreichen könne; es gehe nicht an, die Menschen fortgesetzt als numerische Einzelwesen nach ihren natürlichen Fähigkeiten und Rechten zu betrachten; man müsse auch ihre Neigungen und Leidenschaften mit in Betracht ziehen und vor al‐ lem 'die Erfahrung befragen und der Theorie misstrauen, die in Sachen der Regie‐ rung und Verwaltung so trügerisch ist'.“71 Zwei Kammern, d. h. explizit eine Kam‐ mer, die obere, gefüllt mit Privilegierten welcher Art auch immer, das bedeutet auch die Anerkennung von Privilegien, Vorrechten, Unterschieden. Condorcet hätte lie‐ bend gern die Idee des Zweikammernsystems dann 1793 umgesetzt, aber er verzich‐ tete in seinem Verfassungsentwurf (dazu später ausführlich) auf diesen Baustein, da ihm klar war, dass er nicht mehrheitsfähig war. In den letzten August- und ersten Septembertagen 1789 debattierte die Versamm‐ lung über die Einleitungsartikel der Verfassung, die der Ausschuss vorgelegt hatte. „Die Versammlung nahm die Prinzipien der Souveränität der Nation und des Allge‐ meinwillens an, ihre Interpretation war jedoch bei weitem nicht geklärt; sie hatte Verfassung definiert als ein Instrument, mit dem die Gewaltenteilung durchgeführt werden sollte, ohne allerdings diese zu bestimmen. Außerdem hatte sie noch nicht 70 Hintze 1989, S. 180, zum Folgenden S. 178ff. 71 Hintze 1989, S. 178.
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deutlich gesagt, ob sie die französische Verfassung 'festlegte', in dem sie eine bereits existente Monarchie einzuschränken suchte, oder ob sie eine neue Verfassung auf der Grundlage fundamentaler Prinzipien schaffen wollte. In der Diskussion des ers‐ ten Verfassungsartikels – 'die französische Regierung ist eine monarchische Regie‐ rung' – waren die Abgeordneten geteilter Meinung nicht nur über die Form der mon‐ archischen Regierung in Frankreich, sondern auch über die Natur ihrer eigenen Rol‐ le bei der Definition einer solchen Regierungsform.“72 Neben dem Zweikammernsystem wurde auch die Auseinandersetzung um das Veto sehr heftig geführt, die schließlich auch die Verortung der Verfassung zwischen Tradition und Neuerungswillen entschied. „Unter dem Druck der Vertreter einer na‐ tionalen Souveränität Rousseauscher Provenienz konnten die Wortführer des Verfas‐ sungsausschusses ihre gemäßigte Positionen nicht beibehalten. Die Vorstellung, dass Frankreich eine traditionelle Form der Regierung besäße, in der zumindest die Grundzüge einer Verfassung vorhanden seien – deren Prinzipien durch schriftliche Fixierung nun vervollständigt und festgehalten werden könnten – , wurde schließlich zu Gunsten eines Konzepts verworfen, dem zu Folge die Verfassung neu zu schaffen sei durch einen Akt des nationalen, souveränen Willens in Übereinstimmung mit den abstrakten Prinzipien des politischen Rechts. Der Verlauf der Debatte erwies die ideologische Dynamik, die der Motor der kommenden revolutionären Ereignisse werden sollte – das unlösbare Problem, das die Errichtung und Beibehaltung einer Regierungsform aufwarf, die in direkter, unmittelbarer und ständiger Verbindung mit dem Allgemeinwillen stand.“73 Georges Lefebvre hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass die Debatte um das Veto eine Vorgeschichte hatte. Ludwig XVI. weigerte sich, die Dekrete aus dem August 1789 zu bestätigen, er reagierte auch nicht auf die Erklärung der Menschenund Bürgerrechte. „Die Versammlung war in Verlegenheit. Bis jetzt hatte sie ja kei‐ nen Zweifel daran gelassen, dass ihre Dekrete vom König gebilligt werden mussten. Doch wenn ihm das Recht zustand, das Dekret vom 5./11. August und die Erklärung und später das ganze Verfassungswerk der Versammlung abzulehnen, so bedeutete das die Wiedergeburt zumindest von Teilen der alten Ordnung, denn um die Zustim‐ mung des Königs zu erlangen, hätte man einen Kompromiss mit der Aristokratie schließen müssen, und genau davon wollte die patriotische Partei absolut nichts wis‐ sen. Über einen Monat lang wollte die Versammlung nicht wahrhaben, dass sie machtlos war, dass die Revolution einen entscheidenden Schritt weiter gehen muss‐ te.“74 Der erste Lösungsansatz für dieses Problem war ebenso banal wie sinnlos: Man solle die Frage einfach gar nicht erörtern und ausblenden, es werde sich schon alles 72 Baker 1996, S. 905. 73 Baker 1996, S. 905. 74 Lefebvre 1989, S. 175.
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irgendwie regeln (Mounier). Der Vorschlag des Verfassungsausschusses lief darauf hinaus, dass das in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte formulierte Sou‐ veränitätsprinzip der Nation ausgehebelt werden sollte zu Gunsten des Monarchen. Die Überlegung war, dass es einer starken Exekutive (der Monarch) und einer star‐ ken Legislative bedürfe. Garant dieses Gleichgewichts müsse aber der Monarch sein, dem deshalb ein Vetorecht gegenüber allen Vorschlägen und Gesetzen des Par‐ laments zukomme. Diese Konzeption wurde als „absolutes Veto“ bezeichnet. Doch die Idee einer revolutionären Bewegung ließ sich nicht mit diesen Überlegungen vereinbaren.75 Es bildete sich in der Versammlung sowie deren Umfeld eine Gruppe heraus (siehe die bisherigen Angaben zur Zusammensetzung der Verfassungsgebenden Ver‐ sammlung), die bereit war, zu Gunsten des Königs, des Hofes, des Adels und der Privilegien nicht nur Kompromisse zu schließen, sondern sogar verschiedene Errun‐ genschaften der Revolution rückgängig zu machen. Der Verfassungsauftrag der Re‐ volution drohte zu scheitern, bereits in seinem Beginn: „Die Erklärung (…) war so allgemein gefasst, dass man die Gewalten in einer Weise ausgestalten konnte, der König und Adel zuzustimmen vermochten. Für den Adel wurde ja ohnehin die Schaffung von zwei Kammern oder Häusern wie in England erwogen. Die Mitglie‐ der der einen Kammer könnten vom König ernannt werden, und ihr Sitz wäre erb‐ lich, so dass sie eine Hochburg des Adels wäre; selbst wenn dieses Oberhaus ge‐ wählt würde, könnte man das Wahlrecht einem so engen Kreise gewähren, dass die Gemäßigten dort eine sichere Mehrheit hätten. Dem König würde man das absolute Veto anbieten, also das Recht, die Beschlüsse der gesetzgebenden Gewalt für nichtig zu erklären. Nach Klärung dieser Fragen müsste man nur noch das Wahlgesetz für die vom Volk zu wählende Kammer verabschieden. Die Verfassungsgebende Ver‐ sammlung könnte sich dann auflösen und den zukünftigen Kammern die Durchfüh‐ rung der eigentlichen Reformen überlassen: König und Oberhaus hätten mit dem Ve‐ to die Möglichkeit, in allen Einzelheiten mitzubestimmen. Die Anhänger der zwei Kammern und des absoluten Vetos bezeichnete man bald als die Anglomanen und als Monarchiens, 'Männer der Monarchie'; oft wurden sie auch einfach die Englän‐ der genannt.“76 Es war vor allem Sieyès, der gegen ein königliches Veto kämpfte – die Mehrheit der Abgeordneten folgte ihm. Am 7. September 1789 hielt er seine wichtige Vetore‐ de,77 die für die Abgeordneten ein tragfähiges Programm formulierte.78 „In Sieyès' Vorstellung implizierte die Einheitlichkeit des Allgemeinwillens nicht nur, dass er allein im Rahmen einer einheitlichen Nationalversammlung zum Ausdruck kommen 75 76 77 78
Siehe: Baker 1996, S. 908f. Lefebvre 1989, S. 178f. Abgedr. in: Sieyès 1981, S. 259–276. Ausführlich bei: Hintze 1989, S. 182ff.
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kann, sondern auch, dass dieser Wille keine Existenz hatte außerhalb der Versamm‐ lung. (…) Da in der modernen Gesellschaft die überwiegende Mehrheit der Men‐ schen nichts anderes sein kann als 'Arbeitsmaschinen', die in ihre tägliche Aufgabe eingespannt sind, liege es in ihrem Interesse, die gesetzgeberische Arbeit denjenigen anzuvertrauen, die über mehr Freizeit, Bildung und Urteilskraft verfügten, 'die viel besser dazu geeignet sind als sie selbst, das allgemeine Interesse zu kennen und in dieser Hinsicht ihren eigenen Willen zu interpretieren'.“79 Deutlich wird, wie in der Revolution die verschiedenen Bereiche des politischen, ideologischen und gesellschaftlichen Seins miteinander verknüpft waren. Denn die‐ ses Argument Sieyès' ist natürlich gleichzeitig auch Begründung des Zensuswahl‐ rechts, impliziert eine elitäre Theorie der Ungleichheit, wendet sich gegen direkt de‐ mokratische Ideen, ist schlichtweg undemokratisch im Sinne von volksfeindlich. Sieyès' konsequente, freilich alles andere als wirklich freiheitliche und demokrati‐ sche Überzeugung tritt in diesem Zusammenhang unverkennbar hervor. Er war der Mann der Großbourgeoisie und nicht zuletzt ein Geistlicher (was Lefebvre klarer ge‐ sehen hat als Baker): „Sieyès hängt zu sehr an seinen Theorien, als dass er das Veto hätte billigen können, das ja gegen die Gewaltenteilung verstieß, und er wollte nichts von einer eigenen Kammer für die Aristokratie hören. Die Abschaffung des Zehnten und der Herrenrechte dagegen hat er bekämpft, und bald würde er sich ge‐ gen die Verstaatlichung der Kirchengüter aussprechen: Er war nicht mehr der Ideen‐ lieferant für den Dritten Stand.“80 Die Versammlung folgte den Vorschlägen von Sieyès, geeint in der großen Mehr‐ heit durch ähnliche Vorstellungen und Ziele, eine Minderheit inkludierend durch die gemeinsamen Gegner – das Zweikammernsystem und das absolute Veto. So wurden die Empfehlungen des Verfassungsausschusses verworfen. Das Gleichgewicht der Kräfte zwischen Exekutive und Legislative zu sichern traute man auch der Legislati‐ ve sowie einem funktionierenden Institutionengefüge samt Beamtenapparat zu. In der Verfassung wurde, dies kann als Vorgriff hier schon gesagt werden, ein aufschie‐ bendes Veto festgeschrieben. Aber diese Zustimmung bröckelte peu à peu: „In dem Maße, wie die Versammlung die Argumente von Sieyès zu Gunsten einer auf Ar‐ beitsteilung beruhenden Theorie der Repräsentation verwarf und das aufschiebende Veto akzeptierte, verwarf sie in der Tat einen gesellschaftlichen Diskurs, der auf der Anerkennung einer ungleichen Verteilung von Vernunft, Funktionen und Interessen gründete zu Gunsten eines politischen Diskurses, der auf der Theorie eines einheitli‐ chen Allgemeinwillens basierte.“81 Das Zweikammernsystem erhielt in der Abstimmung vom 10. September nur 89 Stimmen. Die Gruppe der Monarchisten, der Engländer, war mit ihrer Illusion ge‐ 79 Baker 1996, S. 913. 80 Lefebvre 1989, S. 179. 81 Baker 1996, S. 918.
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scheitert, eine parlamentarische Mehrheit zu besitzen. Eine Illusion, der sie sich hin‐ gegeben hatte, da sie bisher bei Ämterwahlen immer ihre Kandidaten hatte durchset‐ zen können. Einen Tag später wurde, am 11. September, die Veto-Frage mit einem Kompromiss entschieden, der König erhielt ein aufschiebendes Veto. Und so wurde, auch wenn das Wort damit fast überstrapaziert wird, eine neue Illusion in dem Mo‐ ment in Gesetzesform gegossen, als sie auch schon wieder scheiterte. Denn der Kö‐ nig dachte natürlich auch weiterhin nicht daran, die August-Dekrete zu sanktionie‐ ren, ganz im Gegenteil. Er blieb seiner Verweigerungshaltung treu. Sein Interesse galt sich selbst und der Rückkehr zum Ancien Régime.82 Am 12. September, also wieder einen Tag später, löste sich der erste Verfassungs‐ ausschuss auf. Drei Tage später wurde er neu gebildet und besetzt. Es ist nicht mög‐ lich, den verschlungenen Pfaden, den (neben der Diskussion des Vetos) teilweise hochinteressanten Debatten hier ausführlich oder gar auch nur an der Oberfläche zu folgen. Zwei Punkte müssen jedoch noch kurz herausgegriffen werden. Mit der neuen Verwaltungsstruktur schuf die Verfassungsgebende Versammlung quasi einen Gegenpol zur staatlichen und nationalen Einheitsidee. Sie war bemüht, „das vom Ancien Régime übernommene Verwaltungschaos durch eine zusammen‐ hängende und vernünftige Organisation zu ersetzen, die auf untereinander gleichen, hierarchisch geordneten Bezirken aufbaute, wobei jeder Bezirk einheitlich alle Ver‐ waltungsaufgaben übernehmen sollte. Der Grundsatz der Volkssouveränität – einge‐ schränkt durch das Zensuswahlsystem – wurde überall angewandt: Die Verwaltungs‐ beamten wurden gewählt. Damit erreichte man eine weitgehende Dezentralisierung, die den Wünschen des Landes entsprach: Aber mehr oder weniger wirkte sich die lokale Selbstverwaltung einzig und allein zum Vorteil der Bourgeoisie aus.“83 Seit Ende 1789 arbeitete die Versammlung an der Erstellung und Umsetzung entspre‐ chender Ideen. Die unübersichtliche und zergliederte Einteilungsstruktur des alten Frankreich wurde ersetzt zu Gunsten einer Konzeption, die 83 Departements um‐ fasste (Erlass vom 15. Januar 1790), wobei bei den entsprechenden Wahlen wieder mehrere Repräsentationsebenen und der Zensus eine gewichtige Rolle spielten. Die gewachsenen historischen Strukturen wurden dabei durchaus berücksichtigt, eine rein schematische Einteilung also nicht vorgenommen. In aufsteigender Folge war die Verwaltung wie folgt festgelegt: Gemeinden, Landkreise, Distrikte, Departe‐ ments. Ein (zu diesem Zeitpunkt) tragfähiger Kompromiss zwischen den Erforder‐ nissen zentraler Lenkung und Machtausübung und lokalen, föderativen Elementen schien geschaffen. (Auch dies immer mit Blick auf die Interessen der Bourgeoisie einerseits und das negative Beispiel des untergegangenen Ancien Régime mit seiner Versailler Machtfülle andererseits.) Nur einige Jahre später entfesselte die Gironde
82 Siehe Lefebvre 1989, S. 180f. 83 Soboul 1983, S. 166.
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dann über ihre Machtstellung in einzelnen Departements den blutigen Bürgerkrieg, den die Jakobiner nur mit viel Mühe beenden konnten. (Dazu später ausführlich.) Bereits am 14. Dezember 1789 wurden die städtischen Verwaltungen moderni‐ siert. Die Aktivbürger wählten den Gemeinderat. Die Gemeinde besaß verschiedene Kompetenzen – vom Steuerrecht bis hin zur Polizeigerichtsbarkeit. Albert Soboul umschrieb das entstandene System wie folgt: „Der Zentralisolation der Monarchie folgte somit die Dezentralisierung mit dem Zensuswahlsystem. Die Zentralregierung hatte keinerlei Einfluss auf die in den Händen der Bourgeoisie befindlichen lokalen Obrigkeiten; zwar hatte der König das Recht, sie ihrer Ämter zu entheben, doch konnte die Versammlung sie wieder einsetzen. Weder der König noch die Versamm‐ lung hatten eine Handhabe, die Bürger zur Zahlung der Steuern oder zur Befolgung der Gesetze zu zwingen. Als sich die politische Krise verschärfte, zog die Dezentra‐ lisation der Verwaltung ernste Gefahren für die Einheit der Nation nach sich. Überall hatten gewählte Organe die Macht in den Händen: Falls sie den Gegnern der neuen Ordnung zufiel, war die Revolution in Gefahr. Zur Verteidigung der Revolution war es zwei Jahre später erforderlich, zur Zentralisation zurückzukehren.“84 Der zweite Punkt hängt damit eng zusammen: Er betrifft die Frage nach der Staatseinheit und dem Grad der Zentralisation. Denn es lag der Gedanke ja durchaus nahe, den Absolutismus auch durch eine vollständige Verteilung der Gewalten zu überwinden, für die Zukunft unmöglich zu machen, d. h. föderalistische Strukturen einzuführen, Gemeinden und lokale Autoritäten auch legislativ zusätzlich zu stärken, der Zentralgewalt noch mehr Kompetenz zu entziehen: „Freilich krankt die ganze Verwaltungsorganisation der Konstituante schwer an einem doppelten inneren Wi‐ derspruch. Geboren aus einem doktrinären und fanatischen Einheitswillen, hätte sie ihrem Wesen nach nur mit den Mitteln der administrativen Zentralisation verwirk‐ licht werden können; aber dieser logischen Auswirkung der von Sieyès konzipierten Ideen traten andere Doktrinen hemmend entgegen: Die Dogmen der Volkssouveräni‐ tät und der Gewaltenteilung und dazu die abergläubische Furcht vor den Gespens‐ tern der Vergangenheit.“85 Die Bourgeoisie wollte, das wurde bereits mehrfach deutlich, den Absolutismus und das Königtum überwinden, gleichzeitig aber in entscheidenden Aspekten beer‐ ben. In diesem Sinne entschied sie auch die Frage der Zentralisation. Schnelle Wege, geballte und gebündelte Macht, gleiche Regeln und Gesetze, die Abschaffung von Binnenzöllen und Handelsschranken waren in ihrem ureigensten Interesse und wur‐ den durchgesetzt. Im Verlauf der Revolution kam es dann so weit, dass genau diese Prinzipien mittels Krieg und Eroberung auch exportiert wurden, die Eroberungsde‐ krete vom 19. November 1792 und 15. Dezember 1792, die noch besprochen wer‐
84 Soboul 1983, S. 168. 85 Hintze 1989, S. 204.
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den, legten diese Politik fest.86 Abrücken musste die Bourgeoisie von ihren Vorstell‐ ungen und Wünschen immer dort, wo die Macht des Volkes sich – potentiell oder tatsächlich – regte oder der König mit Totalverweigerung drohte.
e) Die Verfassung von 1791 Am 3. September 1791 wurde die Verfassung promulgiert, d. h. bekanntgegeben. Am 14. desselben Monats leistete Ludwig XVI. den (wie bereits gesagt: von ihm stets hintertriebenen) Eid auf die Verfassung. Die Arbeit der Verfassungsgebenden Versammlung, die sich aus sich selbst heraus konstituiert und mit einem Verfas‐ sungsauftrag versehen hatte, war beendet. Am 17. Juni 1789 hatten sich die General‐ stände in die Nationalversammlung umgewandelt, mit dem Ballhausschwur vom 20. Juni sich selbst zum Neubegründer der französischen Nation und des französi‐ schen Staates erklärt – mit dem Ziel der Schaffung der nun vorliegenden Verfassung. Walter Markov und Albert Soboul beschrieben dies in ihrer Revolutionsgeschichte: „Das Werk der Konstituante umfasste alle Lebensbereiche; Frankreich wurde neu geordnet, die Grundlage einer neuen Gesellschaft gelegt. Als Anhänger des Ver‐ nunftglaubens errichteten die Abgeordneten ein logisches Gerüst, klar und uniform; als Sachwalter der Bourgeoisie haben sie den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit indessen einen Neigungswinkel zu den Interessen ihrer Klasse gegeben. Damit rie‐ fen sie sowohl bei den werktätigen Massen und Demokraten wie auch bei den Aris‐ tokraten und allen ehemals Privilegierten, deren Vormachtstellung sie zerstörten, Unzufriedenheit hervor. Ehe noch die Konstituante auseinanderging, bedrohten sie bereits mannigfaltige Schwierigkeiten. Gezwungen, eine unversöhnliche Aristokra‐ tie zu bekämpfen, jedoch auch das ungeduldige Volk abweisend, fand sie auf dem schmalen Grat einer elitären Großbourgeoisie zu keiner Ruhelage.“87 Entstanden war die Verfassung,88 auch das wurde bereits deutlich, in vielen De‐ batten und Diskussionen, getrieben durch innere und äußere Ereignisse, teilweise re‐ agierend, so manchem Problem ausweichend. Bis hinein in die merkwürdig anmu‐ tende Gliederung kann sie ihren Charakter als Stückwerk nicht verleugnen. Vorange‐ stellt war ihr die Erklärung der Menschen und Bürgerrechte vom 26. August 1789, die dort aufgestellten – eher normativen denn Fakten schaffenden – Prinzipien woll‐ te sie konkretisieren. In der Präambel wird noch einmal erklärt, dass „unwiderruflich die Einrichtungen“ abgeschafft sind, „welche die Freiheit und die Gleichheit der Rechte verletzen“. Detailliert wird, den Verlauf der Revolution zusammenfassend, 86 Abgedr. in: Grab 1989, S. 168–172. 87 Markov/Soboul 1989, S. 166. 88 Verwendet wird die Ausgabe: Grab 1989, S. 78–123, alle Zitate dieses Kapitels, wenn nicht an‐ ders gekennzeichnet, dort.
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aufgezählt, was es alles nicht mehr gibt.89 Im Anschluss verbürgt die Verfassung „als natürliche und bürgerliche Rechte“: • • • • • • •
Alle Staatsbürger sind zu allen Stellungen und Beamtungen zugelassen. Die Abgaben werden auf „alle Bürger gleichmäßig unter Berücksichtigung ihrer Vermögensverhältnisse verteilt“. Für alle gelten die gleichen Strafen bei Verbrechen. Jeder Mensch kann gehen und bleiben, wohin und wo er will. Abschaffung der Zensur, jeder kann reden, schreiben, drucken, was er will. Die Bürger dürfen sich friedlich und ohne Waffen versammeln. Sie dürfen Bittschriften an die Behörden richten.
Die Schranke dieser Rechte und Freiheiten (sowie auch aller anderen Bestimmun‐ gen), das erklärt die Verfassung mehrmals, sind nur die Ausführungen der Verfas‐ sung sowie die Gesetze und Beschlüsse der Verfassungsgebenden Versammlung von 1789, 1790 und 1791. Die Versammlung entlastete sich also im Nachhinein selbst, versuchte damit gleichzeitig, ihr Werk auf Dauer zu stellen. Die zweite Schranke der verbürgten Freiheiten und Rechte ist das bereits erwähnte und im Laufe der Ge‐ schichte mehrfach variierte kontraktualistische Argument, dass man nur tun dürfe, was anderen oder der öffentlichen Sicherheit nicht schadet. In der Tat bestätigte die Verfassung die Gesetze aus den Jahren, die die Versamm‐ lung zu ihrer Erarbeitung brauchte. Das Königreich wurde als einheitlich und unteil‐ bar erklärt. (Titel II, Art. 1) Die Souveränität als „einheitlich, unteilbar, unveräußer‐ lich und unverjährbar. Sie gehört der Nation. Kein Teil des Volkes und keine einzel‐ ne Person kann sich ihrer Ausübung aneignen.“ (Titel III, Art. 1) Die Einschränkung folgt jedoch sofort (und zwar ohne Begründung). Denn die Nation könne die Souve‐ ränität „nur durch Übertragung“ ausüben. (Titel III, Art. 2) Das war natürlich eine mehr als nur deutliche Positionierung der Verfassungsgebenden Versammlung gegen ihre eigenen Ursprünge, es war eine Barriere gegen das Volk, gegen jedwede direkte Demokratie, gegen öffentliche Debatten und Diskussionen. 89 „Es gibt keinen Adel mehr, keinen Hochadel, keine erblichen Unterschiede, keine Standesun‐ terschiede, keine Lehnsherrschaft, keine Patrimonialgerichtsbarkeiten, keine Titel, Benennun‐ gen und Vorrechte, die davon herrührten, keinen Ritterorden, keine Körperschaften oder Aus‐ zeichnungen, die Adelsproben erforderten oder die auf Unterschieden der Geburt beruhten, und keine andere Überlegenheit als die der öffentlichen Beamten in Ausübung ihres Dienstes. Kein öffentliches Amt kann mehr gekauft oder ererbt werden. Für keinen Teil der Nation, für kein Individuum gibt es mehr irgend ein Privileg oder eine Ausnahme vom gemeinsamen Recht al‐ ler Franzosen. Es gibt keine Zünfte mehr, keine Körperschaften von Berufen, Künsten oder Handwerken. Das Gesetz anerkennt keine geistlichen Gelübde noch irgendwelche andere Ver‐ bindlichkeiten, die den natürlichen Rechten oder der Verfassung entgegenstehen.“ (Das ist, wie an anderer Stelle bereits angedeutet, eben jenes Programm, das die Girondisten dann im Zuge ihrer Eroberungskriege zu exportieren trachteten.)
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Diesem Auftakt korrespondiert der Schluss der Verfassung. Ein Widerstandsrecht wird weder dem einzelnen Individuum noch Gruppen oder Fraktionen zugespro‐ chen, obwohl die Verfassung sonst durchaus kontraktualistisch argumentiert. Es ist die Angst vor dem Volk, die die Bourgeoisie dazu führte, einerseits die Möglichkeit der Verfassungsänderung anzuerkennen und festzulegen, dies aber andererseits nur mit den Mitteln der Verfassung selbst zuzulassen, d. h. auf dem ausschließlichen Wege der Revision. (Titel VII) Zusätzlich wurde noch der zu beschreitende Weg einer solchen Revision außerordentlich schwierig gestaltet. „Drei aufeinanderfolgen‐ de gesetzgebende Versammlungen“ müssen „den einstimmigen Wunsch auf Ände‐ rung eines Verfassungsartikels geäußert haben“. (Titel VII, Art. 2) Die vierte gesetz‐ gebende Körperschaft muss dann zur erneuten Beratung eine Revisionsversammlung bilden, die alle Abgeordneten sowie weitere 249 Mitglieder (Wahlverteilung nach Bevölkerungsdichte) umfassen soll. Dann erst kann die Änderung von dieser neuen größeren Versammlung beschlossen werden. Ohne Widerstandsrecht, darüber braucht man sich keinen Illusionen hingeben, ist die Revolution zu Ende. Genau das war von der Bourgeoisie beabsichtigt, doch die Revolution fegte die Verfassung hin‐ weg. Die Verfassung von 1791 ist zudem durchaus Konsequenz der bürgerlichen, der nicht radikalisierten Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die ja immer eine Angele‐ genheit der oberen Zehntausend und als solche nicht kritisierbar war, schon gar nicht durch das Volk, den ja erst noch von „oben“ aufzuklärenden Pöbel. Im Prinzip ist dies ein Verfahren, das eine absolute Homogenität der Interessen vorsah, also angesichts der Heterogenität der französischen Gesellschaft jedwede Verfassungsänderung de facto unmöglich machte (nicht zuletzt dadurch, dass sie sie zeitlich extrem in die Länge zog). Ein legales Widerstandsrecht war damit nicht ge‐ geben – ein durchaus moderner politischer Winkelzug. (Erinnert sei an das peinliche Geschacher um die ja nie zu Stande gekommene Verfassung des vereinten deutschen Volkes nach 1989.) Ludwig XVI. begrüßte, als er am 13. September 1791 der Ver‐ fassungsgebenden Versammlung mitteilte, dass er ihr Werk annehmen werde, diesen Punkt explizit: „Sie haben gesetzmäßige Formen für die Revision derjenigen (Geset‐ ze) festgelegt, die Sie in die Verfassung aufgenommen haben.“90 Der König hatte er‐ kannt, dass dieses Vorhaben sich als geeignetes Instrumentarium erweisen könnte, um die Legislative lahm zu legen. Und ihm war ebenfalls klar, dass das Volk, sollte sich die Verfassung durchsetzen, für lange Zeit als politischer Faktor außen vor war. Anders formuliert: Der hauptsächliche Ansprechpartner des Königs für die Durch‐ setzung seiner Interessen war nun nicht mehr der Adel, sondern die Großbourgeoi‐ sie. Und diese freute sich auf ihre neue Rolle, hatte ihre Ziele erreicht und damit den Klassenauftrag umgesetzt.
90 Markov 1982, I, S. 184.
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Es ist nicht nötig, die Verfassung hier Artikel für Artikel durchzugehen und wie‐ derzugeben. Zwei zentrale und wichtige Punkte sind herauszustellen und in der Fol‐ ge zu durchleuchten: Das Eigentum und die Gewaltenteilung. a) Schon in der Präambel, also an vorderster Stelle „verbürgt“ die Verfassung „die Unverletzlichkeit des Eigentums“. (Präambel) Die Geschichte der Revolution ist auch die permanente Frage: „Freies Spiel der Wirtschaftskräfte oder Wirtschaftskon‐ trolle? Freiheit des Profits oder Recht auf Existenz?“91 Die Verfassung von 1791 gab eine erste Antwort und scheiterte genau an dieser. „Mit der Abschaffung der Feuda‐ lität setzte sich eine neue Auffassung von Eigentum durch. Es wurde unter die un‐ verjährbaren natürlichen Rechte des Menschen aufgenommen: Eigentum in der bür‐ gerlichen Bedeutung des Wortes. Frei, persönlich, total, seinen Gebrauch oder Miss‐ brauch erlaubend wie nach römischem Recht, hat das Eigentum keine andere Grenze als jener eines anderen Eigentums, in weit geringerem Maße allenfalls noch die Staatsinteressen. Eine Konzeption, die nicht nur dem Begriff des feudalen Oberei‐ gentums diametral entgegenstand, sondern ebenso der gemeinwirtschaftlichen Vor‐ stellung eines Kollektiveigentums am Gemeindeland und eines Privateigentums, das Verbindlichkeiten gegenüber der Dorfgemeinschaft belasten.“92 Zur sozialen Frage bezog die Verfassung zwar ebenfalls bereits in der Präambel Stellung, jedoch nur an einer einzigen Stelle und nicht mit Verweis auf die bereits erfolgte Schaffung von Fakten, sondern – nach zwei Jahren Revolution und im An‐ gesicht der schlimmen Zustände und Hungerkrisen – ausschließlich als Zukunftsauf‐ gabe: „Es soll eine allgemeine Einrichtung öffentlicher Hilfsleistungen geschaffen und gebildet werden, um verlassene Kinder zu erziehen, armen Kranken zu helfen und verarmten Gesunden, die sich keine Arbeit verschaffen können, diese zu besor‐ gen.“ (Präambel) Die Forderung nach Brot, der Hunger, die Armut, die Arbeitslosig‐ keit – all das spielte keine Rolle. Zudem unterschied sich das noch zu errichtende System kaum von der Armenfürsorge des Ancien Régime. An dieser Stelle wurde die alte Politik einfach fortgesetzt, der Arme war nicht mehr von der Gnade des Kö‐ nigs, sondern von der Gnade des Marktes abhängig. Hilfe wurde, wenn überhaupt, dann als Anleitung zur Selbsthilfe aufgefasst. Von daher kann es als typisch bour‐ geoises Interesse gelten, dass das Schulsystem ebenfalls kurz angesprochen wurde: „Es soll ein öffentliches Schulwesen eingerichtet und gebildet werden, das für alle Bürger gemeinsam und in den Bereichen des Unterrichts, die für alle Menschen not‐ wendig sind, kostenlos ist.“ (Präambel) Aber auch zu diesem Punkt hatte die Verfas‐ sung das letzte Wort noch längst nicht gesprochen, die demokratischen und revolu‐ tionären Erziehungskonzepte der späteren Revolution legen davon Zeugnis ab.93
91 Markov/Soboul 1989, S. 149. 92 Markov/Soboul 1989, S. 149f. 93 Siehe die Edition von: Alt 1949, der Herausgeber hat auch eine gute Einleitung verfasst.
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Ganz im Kontext der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte sowie als direk‐ te Konsequenz des bisherigen Revolutionsverlaufs blieb das Eigentum „die“ zentrale Instanz der Gesellschaft. Es wurde erneut festgeschrieben als ein Bürgerrecht und ein Menschenrecht, es wurde in keinerlei Weise eingeschränkt, war keinen Verant‐ wortungen unterworfen, oblag keinerlei Sozialpflichtigkeit. Als Bürgerrecht sollte es den politischen Aufbau zentral prägen – ganz einfach formuliert: Ohne Geld keine Stimme. b) Die Verfassung von 1791 setzte die Gewaltenteilung fest – immer unter der Maßgabe des Zensuswahlrechts. Dekretiert wurde im Titel III. Von den öffentlichen Gewalten (nach der bereits erwähnten Festschreibung der ausschließlichen Reprä‐ sentation): „Art. 3. Die gesetzgebende Gewalt ist einer Nationalversammlung über‐ tragen, die aus Abgeordneten besteht, die durch das Volk frei und auf Zeit gewählt werden, um sie mit Billigung des Königs auf die Art auszuüben, die nachstehend be‐ stimmt wird. Art. 4. Die Regierung ist monarchisch. Die ausführende Gewalt ist dem König übertragen, um unter seiner Autorität durch die Minister und andere verant‐ wortliche Beamte auf die Art ausgeübt zu werden, die nachstehend bestimmt wird. Art. 5. Die richterliche Gewalt ist den durch das Volk auf Zeit gewählten Richtern übertragen.“ (Titel III, Art. 3–5) Die großbürgerlichen Abgeordneten (mit ihren Verbündeten aus Klerus und Adel) hatten viel Zeit und Mühe darauf verwendet, die Gewaltenteilung bis in alle Einzel‐ heiten festzuschreiben. Galt es doch, den König in ein enges staatspolitisches, natio‐ nales und juristisches Korsett einzuschließen, ihn gleichzeitig aber als Bündnispart‐ ner gegen das Volk nicht der vollständigen Bedeutungslosigkeit anheimzugeben. Man spürt noch heute sehr deutlich die Angst der Abgeordneten vor Intrigen des Königs, vor seinem potentiellen Einfluss. Jedoch, wir sagten es bereits, ein Frank‐ reich ohne Monarchie und König wollten und, wichtiger noch, konnten sich die Ver‐ treter der Verfassungsgebenden Versammlung nicht vorstellen (in der ja eben auch die Stände des Adels und des Klerus aufgegangen waren, die mit den Abgeordneten des Dritten Standes die gehobene Bourgeoisie repräsentierte). Und das ging so weit, dass verschiedene Artikel des Verfassungswerks beispielsweise festsetzen, dass der König oder seine Beamten keinerlei Recht hätten, „Kenntnis von Fragen zu nehmen, die sich auf die Richtigkeit der Einberufungen, die Abhaltung der Versammlungen, die Form der Wahlen oder die politischen Rechte der Bürger beziehen“. (Titel III, Kap. 1, Absch. IV, Art. 6) Ja, die Verfassung ging noch weiter. Vielleicht erinnerten sich die Abgeordneten des ehemaligen Dritten Standes daran, wie sie von Ludwig XVI. seinerzeit in ernied‐ rigender Weise im Schlafzimmer empfangen worden waren. Nun schützten sie sich und ihre Versammlung. Ein ganzer Abschnitt regelt die „Beziehungen der gesetzge‐ benden Körperschaft zum König“. (Titel III, Kap. 3, Absch. IV) Und er gipfelt in der Beschreibung des Vorganges, wie die Abgeordneten mit dem König umzugehen ha‐
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ben: „Sooft der König sich an den Sitzungsort der gesetzgebenden Körperschaft be‐ gibt, wird er durch eine Abordnung empfangen und zurückgeleitet. Er darf in das In‐ nere des Saales nur durch den Kronprinzen und die Minister begleitet werden.“ Der König ist also kaum mehr als ein Gast, freilich insofern ein besonderer, als man ihn mit Argwohn betrachtet. Als freier Bürger bewegt er sich nicht in den Räumen des Parlaments. Die Nationalversammlung (modern: Parlament) ist die Legislative: Sie ist immer‐ während und besteht aus einer Kammer (Titel III, Kap. 1, Art. 1), alle zwei Jahre fin‐ den Neuwahlen statt (Titel III, Kap. 1, Art. 2), der König kann die Versammlung nicht auflösen (Titel III, Kap. 1, Art. 5). „Die legislative Gewalt liegt bei einer einzi‐ gen Kammer, gewählt (…) nach dem Zensuswahlrecht (…). Sie (…) besitzt die Ini‐ tiative der Gesetzeseinbringung, überwacht die Amtsführung der Minister, die von einem Hohen Nationalgericht verfolgt werden können für Vergehen 'gegen die natio‐ nale Sicherheit und die Verfassung'. Sie kontrolliert die Außenpolitik durch ihren Ausschuss für Diplomatie und beschließt das Militärkontingent. In Finanzangele‐ genheiten ist sie souverän: Der König kann weder über Mittel verfügen noch selbst den Haushalt vorschlagen. Indem sie sich ohne Einberufung durch den König am ersten Montag im Mai aus eigenem Rechte versammelt, ihren Tagungsort und die Dauer ihrer Sitzungen bestimmt, ist die Nationalversammlung unabhängig vom Kö‐ nig, der sie nicht auflösen darf. Wenn sie sich in Ausrufung des nationalen Notstands direkt ans Volk wendet, kann sie sich sogar über sein Veto hinwegsetzen.“ (Markov/ Soboul, 1989: 147f.) Die Zahl der Abgeordneten wurde auf 745 festgesetzt, „nach Maßgabe der 83 De‐ partements“, ohne die Kolonien. (Titel III, Kap. 1, Absch. I, Art. 1) Der Schlüssel zur Generierung dieser Abgeordneten berücksichtigte die Unterschiede zwischen Stadt und Land, die unterschiedliche Wirtschaftskraft. Jedes Departement wählte drei Abgeordnete (Paris nur einen). Weitere 249 Abgeordnete wurden entsprechend der Bevölkerung auf die einzelnen Departements verteilt, die gleiche Zahl wurde mit der direkten Besteuerung korreliert. (Titel III, Kap. 1, Absch. I, Art. 3–5) An diese Bestimmungen schloss sich die Schilderung des hierarchischen Aufbaus von den Ur‐ versammlungen bis hin zu den Abgeordneten an. Der Zensus wurde nun auch in Verfassungsform festgesetzt. Die arme Bevölkerung sollte durch die Verfassung auf immer ihrer politischen Rechte beraubt werden. Man musste aktiver Bürger sein, al‐ so zur Bourgeoisie gehören, um politisch eine Rolle spielen zu können. Die Verfas‐ sung teilte der Legislative, der gesetzgebenden Körperschaft folgende Aufgaben zu: (Titel III, Kap. 3, Absch. I) • • • 50
Vorschlag und Beschluss der Gesetze Festsetzung der öffentlichen Ausgaben Festsetzung der Steuern
• • • • • • • • • • • • • • •
Verteilung der Steuern Hoheit über die öffentlichen Ämter Münzrecht Gebietshoheit mit Blick auf ausländische Armeen Festlegung der Heeresgröße (auf Vorschlag des Königs) Hoheit über die Verwaltung Hoheit über die Veräußerung der Nationalgüter Überprüfung der Verantwortlichkeit der Minister und der höheren Beamten Verleihung von Ehrenzeichen und Auszeichnungen, Gesetze darüber Recht (ausschließlich) der „öffentlichen Ehrungen zum Gedächtnis großer Männer“ Beschluss über Krieg und Frieden (auf „förmlichen und notwendigen Vor‐ schlag des Königs“) Ratifikation von Friedens-, Bündnis- und Handelsverträgen, die erst dadurch in Kraft treten Wahl des Sitzungsortes Polizeirecht am Sitzungsort Disziplinarrecht gegen ihre eigenen Mitglieder
Die exekutive Gewalt wurde dem König zugeordnet, sein Titel sollte lauten „König der Franzosen“. (Titel III, Kap. 2, Absch. I, Art. 2) Diese Festsetzung stammte aus den Anfangsmonaten der Revolution und wurde durch die Verfassung nur aktuali‐ siert. Karl Griewank schrieb über die Frühphase: „Der König wurde an das Verfas‐ sungsgesetz des Staates gebunden und finanziell auf ein ihm zu bewilligendes Ge‐ halt, eine 'Zivilliste', gesetzt. Sein alter Titel 'König von Frankreich und Navarra' wurde geändert in 'König der Franzosen': Frankreich war nicht mehr eine historische Vereinigung von Ländern, sondern die Gemeinschaft aller Franzosen, und der König war nicht ihr Urheber, sondern ihr Funktionär.“94 Im Sinne der bereits ausgeführten Paradigmen war der König letztlich ein Beam‐ ter, der sein Amt sowie die Besoldung von 25 Millionen vererben durfte. Ausführ‐ lich beschäftigt sich die Verfassung mit dem Erbrecht, mit minderjährigen Thronfol‐ gern und der dadurch nötigen Regentschaft. Sogar die Frage einer „offenkundigen Geistesgestörtheit des Königs“ wurde thematisiert. (Titel III, Kap. 2, Absch. II, Art. 18) Ohne Königswürde ist der Monarch ein einfacher Bürger: „Nach der aus‐ drücklichen oder gesetzlichen Abdankung gehört der König zur Klasse der Bürger und kann für Handlungen nach seiner Abdankung wie sie angeklagt und verurteilt werden.“ (Titel III, Kap. 2, Absch. I, Art. 8) Wenn der König das Königreich ver‐ lässt, den Eid auf die Verfassung nicht leistet oder sich an die Spitze einer Armee 94 Griewank 1984, S. 45.
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stellt, dann „wird angenommen, dass er abgedankt hat“. (Titel III, Kap. 2, Absch. I, Art. 4–7) Um seine exekutiven Gewalten auszuüben, erhält der König das Recht der Ernennung der Minister. „Die zentrale Verwaltung besteht aus sechs Ministerien: In‐ neres, Justiz, Krieg, Marine, Auswärtige Angelegenheiten, Finanzen; die alten Räte verschwinden. Die Minister können durch die Nationalversammlung in Anklagezu‐ stand versetzt werden; sie legen, ehe sie aus dem Amt scheiden, Rechenschaft ab und bedürfen der Entlastung. Im Widerspruch zur Theorie der Gewaltenteilung be‐ hält der König durch sein Vetorecht einen Teil der gesetzgebenden Gewalt; aller‐ dings bezieht es sich nicht auf Verfassungs- und Finanzgesetze.“95 Die Debatte um die Diskussion des Vetos wurde bereits kurz geschildert, die Ver‐ fassung legte schließlich ein aufschiebendes Veto des Königs fest. Dieser könne den Beschlüssen der gesetzgebenden Körperschaft seine Zustimmung verweigern. (Titel III, Kap. 3, Absch. III, Art. 1) In den nächsten beiden Legislaturperioden müsste die Versammlung dann ihren ursprünglichen Beschluss jeweils bestätigen, bei der drit‐ ten Vorlage an den König gilt das Gesetz als ratifiziert, egal ob dieser zustimmt oder nicht. Das aufschiebende Veto bekam also doch einiges Gewicht, ca. fünf Jahre konnte es ein Gesetz blockieren, unter der Voraussetzung, dass insgesamt drei Parla‐ mente eine absolute Mehrheit für dieses Gesetz zu Stande bringen würden. Im Prin‐ zip schrieb die Verfassung damit ihren Glauben an einen „guten, republikanischen König“ fest – mehr als nur ein Irrtum. Der um so mehr überrascht, als die Verfas‐ sung ausdrücklich und mehrfach geltend machte, dass der König und seine Minister als exekutive Gewalt die bestehenden Gesetze nur anwenden und über diese Anwen‐ dung wachen dürfen. „Die vollziehende Gewalt kann kein Gesetz, nicht einmal pro‐ visorisch, erlassen, sondern nur Proklamationen in Übereinstimmung mit den Geset‐ zen, um deren Ausführung zu befehlen oder an sie zu erinnern.“ (Titel III, Kap. 4, Absch. I, Art. 6) Hier waren die Obacht und die Vorsorge also weitaus ausgeprägter. Walter Markov und Albert Soboul fassten die Rolle des Königs wie folgt zusammen: „Der König ist ohne Verantwortung und kann nicht verantwortlich gemacht werden. Er ernennt die obersten Beamten, die Gesandten und Generäle; er leitet die Diploma‐ tie. Jedoch kann er weder Krieg erklären noch Verträge schließen ohne vorherige Zustimmung der Nationalversammlung.“96 Die Judikative wird in einem eigenen Kapitel abgehandelt, wobei bereits der erste Artikel die Gewaltenteilung noch einmal spezifiziert, indem ausdrücklich erklärt wird, dass weder die gesetzgebende Körperschaft noch der König die richterliche Gewalt ausüben können. (Titel III, Kap. 5, Art. 1) Die Richter werden gewählt, die Rechtsprechung ist kostenlos, die Gerichte haben nur die Ausübung der gesetzge‐ benden Gewalt und Verstöße gegen die Gesetze zu behandeln, darüber hinausgehen‐ de Kompetenzen haben sie nicht. Auch von dieser Seite wird die Gewaltenteilung 95 Markov/Soboul 1989, S. 147. 96 Markov/Soboul 1989, S. 147.
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abgesichert. Es werden Friedensrichter eingeführt, die Bestellung von Geschwore‐ nen wird abgehandelt. Das Justizsystem wird auf die Grundlage gestellt, dass nie‐ mand für den gleichen Tatbestand zweimal ergriffen oder angeklagt werden darf. Niemand darf ohne Grund verhaftet werden, er muss dann binnen 24 Stunden ver‐ hört werden und darf maximal drei Tage in einem Untersuchungsgefängnis bleiben. Dies waren deutliche Positionierungen gegen die Praxis des untergegangenen Anci‐ en Régime. Dass die Verfassungsgebende Versammlung von der Aufklärung herkam, zeigt sich auch darin, dass ein eigener Artikel noch einmal erklärt, dass es eine freie Pres‐ se geben soll. Eingeschränkt freilich durch den Straftatbestand des Aufrufs zum „Ungehorsam gegen das Gesetz, zur Verächtlichmachung der verfassungsmäßigen Gewalten, zum Widerstand gegen ihre Verfügungen“. (Titel III, Kap. 5, Art. 17) Mit Isnards Brandrede gegen Paris97 wird die Gironde in Anwendung dieser Bestimmun‐ gen im Sommer 1793 ihren Untergang besiegeln. Diese Regelungen zur Judikative prägen teilweise bis heute das europäische Jus‐ tizsystem. Neben den bisher genannten Bestimmungen der Verfassung gab es weite‐ re Momente, die, gemessen an den europäischen Verhältnissen zum Ende des 18. Jahrhunderts und gemessen an der eigenen französischen Vergangenheit, einen über‐ aus modernen und fortschrittlichen Charakter hatten. Außer der Begründung des bürgerlichen Eigentums, der Nation, ihrer Souveränität, der Gewaltenteilung und der Säkularisierung sind beispielsweise zu nennen: • • • • • • •
„Das Gesetz betrachtet die Ehe nur als bürgerlichen Vertrag.“ (Titel II, Art. 7) Unversehrtheit der Abgeordneten Teilweise Trennung von Ämtern Ministeriale Verantwortlichkeit Gemeinwohlverpflichtung der Abgeordneten Unverletzlichkeit der Abgeordneten Schaffung einer Öffentlichkeit, öffentliche Beratungen, Druck von Protokol‐ len usw.
Ja, die Verfassung von 1791 ist ein Werk der Großbourgeoisie, die Geschichtsschrei‐ bung der Revolution hat dies immer wieder zu Recht betont – von den großen Histo‐ rikern der Restaurationsepoche, bei denen Karl Marx und Friedrich Engels in die Lehre gingen, bis hin zu den wissenschaftlichen linken Historiographen des 20. Jahrhunderts. Nichtsdestotrotz, vielleicht auch deshalb, enthielt sie die angesproche‐ nen modernen und modernisierenden Elemente – auf der Basis des Zensus. Ludwig 97 Abgedr. bei: Markov 1982, II, S. 418, später ausführlich hierzu.
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XVI. war (so schien es, so täuschte er vor) bereit, das Verfassungswerk zu akzeptie‐ ren.98 Am 13. September 1791 – die Zustimmung des Königs zur Verfassung ist auf den 14. September datiert, da er in seinem Schreiben vom 13. ankündigte, am nächs‐ ten Tag in der Nationalversammlung seine Zustimmung zu geben – gab er an, dass er schon immer das Wohl des Landes im Blick gehabt und deshalb die Generalstän‐ de einberufen habe.99 Gegenüber der Versammlung erklärte er: „Als Sie nach Ab‐ schaffung der alten Einrichtungen begonnen haben, erste Proben Ihres Werkes an de‐ ren Stelle zu setzen, habe ich mit meiner Zustimmung nicht gewartet, bis ich die ganze Verfassung zu Gesicht bekam. Ich habe die Einführung ihrer Einzelteile schon unterstützt, ehe ich die Verfassung als Ganzes beurteilen konnte. Und wenn die Wir‐ ren, die fast alle Stadien der Revolution begleiteten, mein Herz nur zu oft betrübt haben, dann hoffte ich darauf, dass das Gesetz in den Händen der neuen Gewalten wieder an Kraft gewinnt und ihm, je näher der Abschluss Ihres Werkes rückt, jeder Tag jene Achtung wiederverschafft, ohne die das Volk weder Freiheit noch Glück er‐ langen kann.“100 In der Folge, so erklärte Ludwig weiter sei es bedauerlicherweise zu verschiede‐ nen Verwirrungen und Krisen gekommen, so dass er seine Zustimmung zum Verlauf der Revolution zurücknehmen musste. Es sei ihm nicht möglich gewesen, die Geset‐ ze und Beschlüsse als „Ausdruck des Gemeinwesens wahrzunehmen“. Doch diese vorübergehende Unstimmigkeit sei vorbei: „Sie haben den Willen bezeigt, die Ord‐ nung wiederherzustellen; Sie haben Ihre Aufmerksamkeit auf die Disziplinlosigkeit im Heer gerichtet; Sie haben die Notwendigkeit erkannt, die Missbräuche der Presse zu unterdrücken.“101 Die Zustimmung zur Verfassung falle ihm um so leichter, als „mir der Wille des Volkes nicht mehr länger zweifelhaft (ist). Er äußerte sich mir zweimal: Als das Volk Ihrem Werk zustimmte und als es seine Freude bekundete, die Monarchie bewahrt zu sehen.“102 Nicht zu unterschätzen ist, dass der König durchaus Möglichkeiten sah, sich mit der Verfassung kurzfristig zu arrangieren, um im Verborgenen, mit den Mitteln der Intrige, des Verrats, des Bürgerkriegs, verschiedene Weichen für die sukzessive Rückkehr zu seinen alten Vorrechten und Privilegien zu stellen – mit dem letztendli‐ chen Ziel der Überwindung des neu geschaffenen Zustandes. Wenn man zwischen den Zeilen liest, dann erkennt man bereits das Programm, das ihm für die nächsten 98 Abgedr. in: Markov 1982, II, S. 182–185. 99 „Seit Beginn meiner Herrschaft hegte ich den Wunsch, Missbräuche abzustellen, und ich nahm gern die öffentliche Meinung zur Richtschnur für jede Regierungstätigkeit. (…) Ich ha‐ be deshalb den Plan gefasst, für das Glück des Volkes zu sorgen, indem ich es mit dauerhaften Grundlagen versah, und außerdem die mir gegebene Gewalt selbst an unveränderliche Verhal‐ tensmaßregeln zu binden; ich habe die Nation um mich versammelt, um ihn auszuführen.“ Diesen Vorsatz habe er nie aufgegeben, so Ludwig weiter. (Markov 1982, II, S. 182.) 100 Markov 1982, II, S. 182f. 101 Markov 1982, II, S. 183. 102 Markov 1982, II, S. 184.
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Wochen und Monate vorschwebte. „Die Befestigung der Freiheit, die Dauerhaftig‐ keit der Verfassung und das Glück jedes einzelnen Franzosen machen es uns jedoch zur gebieterischen Pflicht, meine Herren, alle unsere Anstrengungen auf vordringli‐ che gemeinsame Interessen zu richten, die in der Beachtung der Gesetze, der Wie‐ derherstellung der Ordnung und der Wiedervereinigung aller Bürger bestehen. Nach‐ dem die Verfassung jetzt endgültig beschlossen ist, dürfen Franzosen, die unter den‐ selben Gesetzen leben, keine anderen Feinde kennen als solche, die diesen Gesetzen entgegen handeln. Zwietracht und Anarchie – das sind unsere gemeinsamen Feinde, die ich mit all meiner Macht bekämpft werde. Sie und Ihre Nachfolger müssen mich hierin aus ganzer Kraft unterstützt. (…) Mögen diejenigen, die Furcht vor Verfol‐ gung und Unruhen aus ihrem Vaterland vertrieben haben, gewiss sein, dass sie bei ihrer Rückkehr Ruhe und Sicherheit finden werden.“103 Gemeint waren mit diesen Ausführungen natürlich die Zurückdrängung des Vol‐ kes, die Unterdrückung jedweder Äußerung oder Demonstration des armen Teils des Dritten Standes – darin wusste sich Ludwig mit der Bourgeoisie einig. „Zwietracht und Anarchie“, die französische Nation sollte erneut in ein festgefügtes und unabän‐ derliche System gepresst werden. Und zurückkehren sollten die Emigranten, also der Hochadel, der reiche Klerus, die Reaktionäre und Konterrevolutionäre. Es wurde schon ein, zwei Mal mit Blick auf ein ganz bestimmtes historisches Er‐ eignis auf diesen Seiten ausgesprochen, dass die Revolution damit zu ihrem Ende gekommen sei. Peter Fischer schrieb – in enger Anlehnung an Albert Soboul: „Am 30. September 1791 ging die Konstituante mit Hochrufen auf den König und die Nation auseinander. Es schien so, als hätten Monarchie und Zensus-Bourgeoisie zu‐ einander gefunden.“104 Indes, die Revolution ruhte nicht, neue und alte Krisen und Konflikte führten sie weiter. Von der Verkündung der Verfassung könnte man Ähnli‐ ches behaupten. Auch sie wäre geeignet gewesen, einen Schlussstein zu bilden, je‐ nen, der das Fundament komplettiert, auf dem der Hausbau beginnen soll. Doch, um im Bilde zu bleiben, das Fundament war marode, es hatte Fehler, die Kompromisse waren mehr Schein als Sein. Und die soziale Frage, auf die schon mehrfach verwie‐ sen wurde, war nicht gelöst, ja, hatte sich weiter verschlechtert. Ruhe war Frank‐ reich noch längst nicht vergönnt. Walter Markov formulierte die Schlusssätze des Kapitels Die Konstituante am Werk des ersten Bandes seiner Edition Revolution im Zeugenstand wie folgt: „Dass die Geburtsurkunde der bürgerlich-konstitutionellen Monarchie keine zwei Jahre vorhalten würde, ahnten von den vielen, die sie in Festtagslaune als 'Krone der Auf‐ klärung' begrüßten, die wenigsten. Clauer fand an ihr nichts auszusetzen: 'Die Fran‐ ken haben sich eine neue Konstitution gegeben; ihr altes gotisches Staatsgebäude (…) haben sie niedergerissen, um sich eine sichere, offene und helle, dem Ge‐ 103 Markov 1982, II, S. 184f. 104 Fischer 1974, S. 31.
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schmack, den Sitten und der Kultur seiner Bewohner angemessene Wohnung zu er‐ bauen.' Nachdenklicher, obgleich nicht minder positiv, äußerte sich Wilhelm von Humboldt: 'Ob diese Staatsverfassung Fortgang haben wird? Der Analogie der Ge‐ schichte nach: nein! Aber sie wird die Ideen aufs Neue aufklären, aufs Neue jede tä‐ tige Tugend anfachen und so ihren Segen weiter über Frankreichs Grenzen verbrei‐ ten.' (Ideen über Staatsverfassung, durch die französische Konstitution veranlasst) Die bürgerlichen Notabeln der Konstituante ihrerseits wähnten einmal mehr die Re‐ volution über den Berg und lösten sich am 30. September selbstzufrieden auf, um der Gesetzgebenden Versammlung Platz zu machen.“105 Das vielleicht deutlichste Urteil über die Verfassung von 1791 sprach am 2. Janu‐ ar 1792 Robespierre in einer Rede vor den Jakobinern – es war die Zeit, als die Gi‐ ronde, König und Hof und die Aristokratie gemeinsam und überaus einig nach dem Krieg riefen. Marat, Robespierre und einige wenige ihre Anhänger argumentierten gegen den Krieg, kämpften, so paradox diese Wortwahl ist, für den Frieden. Diese Entwicklungsphase der Französischen Revolution wird gleich zu schildern und zu analysieren sein. Hier ist ein Punkt aus Robespierres Rede bedeutsam, der dessen Urteil über die Verfassung zeigt, Aussage über den Stand der Revolution ist und gleichzeitig seine Position deutlich macht: Bevor man mittels Krieg die Revolution nach Außen exportiere, müsse man sie im Inneren erst einmal konsequent voll‐ enden:106 „Gleicht denn die Verfassung, von der man sagt, sie sei die Tochter der Er‐ klärung der Menschenrechte, wirklich noch ihrer Mutter? Was sage ich? Gleicht die‐ se Jungfrau, die einst in himmlischer Schönheit erstrahlte, überhaupt noch sich selbst? Ist sie nicht geschunden und beschmutzt aus den unreinen Händen dieser Ko‐ alition hervorgegangen, die Frankreich heute in Unruhe versetzt und tyrannisiert, und der zur Durchführung ihrer Pläne nur die Annahme jener verräterischen Maß‐ nahmen fehlt, die ich in diesem Augenblick bekämpfe? Wie können Sie also glau‐ ben, dass sie in eben dem Augenblick, in dem unsere inneren Feinde auf den Krieg hinarbeiten, die Wunder vollbringt, die Sie noch nicht einmal unter uns selbst hat vollbringen können?“107
f) Der Sommer der Bourgeoisie. Die Gesetzgebende Versammlung Am 30. September 1791 fand die letzte Zusammenkunft der Nationalversammlung statt, der 1. Oktober war der erste Sitzungstag der neuen Gesetzgebenden Versamm‐ 105 Markov 1982, I, S. 177. 106 Robespierre 1989, S. 157f. 107 Weiter heißt es: „Ich will bei weitem nicht behaupten, dass unsere Revolution nicht später ihren Einfluss in der Welt haben wird, sogar weit früher, als es die augenblicklichen Anzei‐ chen anzukündigen scheinen. Gott bewahre, dass ich auf eine so schöne Hoffnung verzichten wollte!“ (Robespierre 1989, S. 158.)
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lung. Wenn man – im Vorgriff auf erst zu Evidierendes – etwas überspitzt formuliert will, so hat die Gesetzgebende Versammlung alles falsch gemacht, was falsch zu machen war. Es gelang ihr nie zu agieren, immer musste sie reagieren: Auf den Druck von unten, auf die selbstgeschaffene Problematik des Krieges, auf die Intrigen von Aristokratie, Klerus und Hof, auf die von ihr zusätzlich verschärften Spannun‐ gen und Spaltungen der französischen Gesellschaft inklusive der sich permanent zu‐ spitzenden sozialen Problematik. „Das verfassungsmäßig beschränkte Königtum, dem sich die Konstituante im September 1791 unter ausgiebiger Berufung auf Mon‐ tesquieu verschrieben hatte, hielt kein ganzes Jahr stand. Die Bourgeoisie, deren re‐ lative Geschlossenheit bisher ihre Kraft ausgemacht hatte, verspürte den Rest der Krise von Varennes und Pillnitz vertiefte die Spaltung ihrer Reihen; in der National‐ versammlung wie im Lande selbst bot sie ihren Gegnern nicht mehr einheitlich die Stirn. Eingeklemmt zwischen die vom Hof angeführte – schon emigrierte oder noch ausharrende – aristokratische Reaktion und den nachdrängenden Volksmassen, dra‐ matisierte ihr zur Macht gelangter und damit saturierter Flügel unbedenklich die Häufung der von den Fürsten Europas ausgehenden äußeren Schwierigkeiten, um über diesen Umweg die inneren zu bannen. In Komplizität mit Ludwig XVI. stürzte er Frankreich in einen Krieg, der indessen die Berechnungen seiner sämtlichen Ur‐ heber glatt über den Haufen warf: Er hob die revolutionäre Bewegung, statt sie auf‐ zufangen, abzulenken und einzuebnen, auf eine höhere Stufe.“108 Gewählt war die Gesetzgebende Versammlung nach dem geschilderten harten Zensuswahlrecht in Kombination mit dem mehrstufigen indirekten Wahlsystem.109 Das hatte zur Folge, dass sie der sozialen Zusammensetzung nach homogener war als die Konstituante, „in der ein Teil der ehemaligen Vertreter der beiden privilegier‐ ten Stände bis zum Ende ausgeharrt hatte. Bürgerliche Eigentümer und Advokaten dominierten bei weitem; Angehörige der Volksklassen wies sie ebenso wenig auf wie ihre Vorgängerin.“110 Im Juni 1791 waren die Wahlmänner von den Urwähler‐ versammlungen bestimmt worden, zwischen dem 29. August und dem 5. September erfolgte die Ernennung der Abgeordneten. Robespierre hatte im Mai noch dafür ge‐ sorgt, dass die Mitglieder der Ersten Versammlung pausieren mussten, sich also nicht zur Wiederwahl stellen konnten (Erlass vom 16. Mai 1791).111 Die 745 Abgeordneten der Gesetzgebenden Versammlung waren also „neu“ in der Hauptstadt, es waren die Söhne der reichen Bourgeoisie, die teilweise über poli‐ tische Erfahrung in den Departements und Provinzen verfügten und vor allem wirt‐ schaftliche Interessen verfolgten. Walter Markov führte aus: „Die Wahlen zur Legis‐
108 109 110 111
Markov/Soboul 1989, S. 204. Siehe bspw. Aubry 1948, S. 381ff.; Michelet o. J., II, S. 239ff. Markov/Soboul 1989, S. 204. Siehe die Ausführungen bei: Girtanner 1795, 6.
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lative waren ruhig bis lustlos verlaufen und die Beschränkungen des Wahlgesetzes hatten für einen gemäßigten Ausgang gesorgt.“112 Das Urteil der großen französischen Historiker über die Gesetzgebende Ver‐ sammlung war hart. Jules Michelet, um dieses Beispiel hier zu geben, schrieb: „Nie war eine Versammlung jünger gewesen, als die Gesetzgebende. Ein großer Teil der Abgeordneten war noch nicht 26 Jahre. Wer die Auflösung der Konstituierenden mit angesehen hatte, bei der Alter, Position, Tracht jeder Art harmonisch vertreten wa‐ ren, der wurde ergriffen, fast erschreckt beim Zusammentritt dieser neuen Versamm‐ lung. Sie erschien wie ein gleichmäßiges Bataillon von Männern fast eines Alters, einer Klasse, einer Sprache und einer Kleidung. Es war wie der Überfall einer ganz jungen Generation, in der es keine Greise gab, der Aufstieg der Jugend, die lärmend das reife Alter vertreibt, die Traditionen entthronen würde. Keine weißen Haare mehr; hier tagt ein neues Frankreich in schwarzen Haaren. Außer Condorcet, Brissot und wenigen anderen sind sie unbekannt. (…) Wir werden nicht versuchen, (sie) von vornherein als Persönlichkeiten zu charakterisieren. Ihre ungeduldige, unruhiger Art, die Schwierigkeit, mit der sie ihren Platz zu behaupten haben, bürgen uns dafür, dass sie sich bald durch ihre Handlungen zu erkennen geben.“113 Und Octave Aubry ergänzte, aus durchaus anderer ideologisch-politischer Sicht‐ weise herkommend, einige Jahrzehnte später: „Die 745 neuen Volksvertreter sind fast alle sehr jung, zu jung. Unter ihnen gibt es eine beträchtliche Anzahl von Advo‐ katen und Schriftstellern, Freunde der tönenden Phrase und der theatralischen Attitü‐ de. Auch viele Intriganten. Sie berauschen sich an Worten, besonders die Deputier‐ ten aus dem Süden, die von Anfang an in der Überzahl sind. Das Hirn mit Schüler‐ weisheit und oft missverstandenen Reminiszenzen an die Antike vollgestopft, hüllen sie sich in eine imaginäre Toga und posieren Heldentum, ohne dabei ihren Vorteil zu vergessen. (…) Diese Versammlung entlaufener Gymnasiasten ist sehr zügellos, sehr unwissend und ganz der Geste hingegeben. Eifersüchtig auf die Lorbeeren der Kon‐ stituante, gedenkt sie, obwohl sie tief unter ihrer Vorgängerin steht, diese weit zu übertreffen und in dem Buch der Geschichte mit einem unerhörten Blatt zu glänzen. In der Mehrzahl ist die Legislative noch monarchistisch, aber von einer Mittelmä‐ ßigkeit, die sie dazu verdammt, sich nicht nur dem Einfluss der überlegenen Linken, sondern auch dem der extremistischen Presse, der Klubs und des Pöbels zu unter‐ werfen.“114 In der Tat kann man die Tage der Gesetzgebenden Versammlung als eine Art In‐ terregnum ansehen, es ist nicht überraschend, dass sie außer Krieg und Krisen kein Erbe hinterließ und der dritten Versammlung Platz machte mit dem Auftrag, dass diese eine neue Verfassung zu erarbeiten habe – nun wieder die erste Generation der 112 Markov 1982, I, S. 187. 113 Michelet o. J., II, S. 257f. 114 Aubry 1948, S. 381f.
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Revolutionäre in ihren Reihen beherbergend, teilweise auf Grund der vergangenen Ereignisse in unterschiedliche Richtungen radikalisiert. Einige Momente der Gesetz‐ gebenden Versammlung sind hier aber dennoch zumindest kurz darzustellen. Begon‐ nen werden kann mit der Frage: Wie sah die Zusammensetzung der Versammlung genau aus?115 Die Rechte umfasste ca. 260 Abgeordnete (manche Quellen sprechen nur von 160 Abgeordneten), sie versammelten sich bei den Feuillantinern. Sie waren Gegner des alten Frankreich, des Ancien Régime, ebenso aber auch erklärte Gegner einer vom Volk getragenen Demokratie. Der politische und wirtschaftliche Handlungsrahmen, den die Verfassung von 1791 bot, entsprach ihren Vorstellungen. Intern waren sie in mehrere Gruppierungen gespalten (Barnave, Du Port, Lameth auf der einen, La Fayette auf der anderen Seite), sie übten einigen Einfluss aus, hielten Kontakte zum königlichen Hof und waren maßgeblich an der Besetzung der politischen Ämter (vor allem der Ministerposten und der entsprechenden Bürokratie) beteiligt. Ergänzt wer‐ den muss diese Charakterisierung dadurch, dass diese Rechte mit der alten nichts zu tun hatte: „Die adlige Rechte ist völlig verschwunden. Die Versammlung scheint ge‐ eint gegen die Aristokratie zu sein; vor allem ist sie gegen den Adel und die Priester, ihre Absicht ist ausdrücklich, deren Widerstand zu brechen.“116 Wenn in den Werken der Revolutionsgeschichte von einer großen Rechten ab 1791 geredet wird, dann ist durchaus der heutige bürgerliche Horizont damit umrissen, gemeint ist eine Rechte im Sinne der Ablehnung der Volksdemokratie, der Kritik an Innovation und Emanzi‐ pation aller, der Bewahrung des Status quo. Die Linke umfasste ca. 130 Abgeordnete, die in ihrer Mehrzahl Mitglieder des Ja‐ kobinerklubs waren. Ihre parlamentarischen Führer waren Brissot und Condorcet (die Girondisten waren damals noch bei den Jakobinern integriert). „Die Politik der Linken wurde von glänzenden Rednern geprägt, die vom Departement Gironde ge‐ wählt worden waren: Verginaud, Gensonné, Grangeneuve, Guadet (…); dies erklärt den Namen Girondisten, den Lamartine 50 Jahre später populär machte.“ Daneben standen die Brissotins: Schriftsteller, Rechtsanwälte, Professoren, die bereits kurz bezeichnete zweite revolutionäre Generation. „Wenn die Brissotins auch nach Her‐ kunft und philosophischer Bildung eigentlich zur politischen Demokratie tendierten, so wurden sie doch durch ihre Beziehungen und ihren Charakter dazu veranlasst, dem Reichtum Respekt und ihre Dienste entgegenzubringen.“117 Diese Linke darf, in ihrer „Allgemeinheit“, mit der späteren jakobinischen Linken nicht verwechselt werden, schon gar nicht mit den Sansculotten. Wo die Linke sich in diesen Tagen und Monaten im theoretischen Bereich radikalisierte, da ging es 115 Vgl. u. a. die Angaben bei Soboul 1983, S. 200ff.; Markov/Soboul 1989, S. 204ff.; Hintze 1989, S. 295ff. 116 Michelet o. J., II, S. 259. 117 Soboul 1983, S. 201f.
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nicht zuvorderst um soziale Fragen: „Auf der äußersten Linken machten sich einige Demokraten zu Fürsprechern des allgemeinen Wahlrechts, wie Robert Lindet, Couthon und Carnot. Basire, Chabot und Merlin de Thionville, drei in enger Freund‐ schaft verbundener Abgeordnete, bildeten das 'Trio der Cordeliers'. Auf die Ver‐ sammlung hatten sie keinen großen Einfluss, doch steht ihre Wirkung auf die Klubs und Volksgesellschaft außer Frage.“118 Die Cordeliers hatten eine eigene Organisati‐ onsstruktur, die Mitglieder ihres Klubs kamen aus den armen Schichten des Dritten Standes. Diese radikale, wie sie auch bezeichnet wird, „äußerste Linke“ hatte in dem Versammlungssaal auf den obersten Bänken Platz genommen – so bekam sie ihren Namen: Montagne, der Berg, gemeint im Sinne von Hinterbänklern.119 Die Abgeordneten kamen entsprechend der gerade geschilderten Verteilung auch im öffentlichen Raum zusammen, im Salon von Madame de Staël trafen sich die Be‐ fürworter La Fayettes, Madame Dodun versammelte den Reichtum und die Freunde Verginauds, Madame Roland120 beherbergte die Gironde.121 Um einen hohen Veran‐ kerungsgrad in der Gesellschaft, vor allem in Paris zu erreichen, versuchten alle „Fraktionen“ (Parteien wäre ein historisch schiefes Wort) der Gesetzgebenden Ver‐ sammlung, in Klubs und Zirkeln ihre Basis zu verbreitern und die Öffentlichkeit zu beeinflussen. (Eine aktive, teilweise aggressive Presse gehörte für alle Fraktionen dazu, wobei vor allem die Gironde gegnerische Zeitungen und Druckereien schlie‐ ßen oder Journalisten verhaften – im Fall Marats sogar ermorden! – ließ usw.) „Während im Feuillantinerklub nur die Konstitutionalisten verkehrten, also gemä‐ ßigte Bürgerliche, wurde der Jakobinerklub in Folge seines geringeren Beitrags de‐ mokratischer. Kleinbürger, Ladeninhaber und Handwerker nahmen eifrig an den Sit‐ zungen teil und wurden zu einer wichtigen Kraft; die bevorzugten Redner im Klub waren Robespierre und Brissot, deren Ansichten bald aufeinander prallten. Die Jako‐ biner dehnten durch die Gründung weiterer Klubs ihren Einfluss auf das ganze Land aus und vereinigten überall die Verteidiger der Revolution und die Käufer der Natio‐ nalgüter.“122
118 Soboul 1983, S. 202. 119 Es gibt noch andere Erklärungsansätze für die Entstehung dieses Namens, verwiesen wird beispielsweise auf die Symbolik der Freimaurer oder Rousseaus Briefe vom Berge. Ehe man sich allerdings darüber streitet, welche der Theorien die wahrscheinlichste ist, reicht hier der Verweis auf ein vielleicht salomonisches Urteil, dass bei der Namensgebung alle diese Mo‐ mente – mehr oder weniger stark – zusammengewirkt haben könnten. 120 Albert Mathiez hat über das Ehepaar Roland ein hartes Urteil gefällt, beschrieb beide immer wieder als Intriganten und als Volksverächter. Über die Endphase der Gesetzgebenden Ver‐ sammlung schrieb er – um das sukzessive Scheitern der Gironde (trotz vermeintlicher, die Gi‐ ronde blendender Erfolge) zu bezeichnen: „Es war ein großes Unglück, dass die girondisti‐ schen Führer diesem hochmütigen, furchtsamen und beschränkten alten Mann (gemeint ist Roland, AH) Gefolgschaft leisteten.“ (Mathiez 1950, I, S. 282.) 121 Hierzu: Michelet 1992. 122 Soboul 1983, S. 203.
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Die Flügel auf der rechten und linken Seite bestimmten die Politik, ihre Gegen‐ sätze ermöglichten die gesellschaftlich-politische Dynamik und wurden durch diese weiter verschärft. Zwischen diesen Polen saß in der Versammlung eine große Grup‐ pierung von politisch nicht in dieser „radikalen“ Weise festgelegten Abgeordneten, um die 340 bis 360 Mann stark (diese Zahl schwankt, je nachdem, wie viele Abge‐ ordnete man fest den politischen Rändern zuordnen zu können vermeint) bildete sie das so genannte Zentrum. Sie waren, als „'Unabhängige' oder 'Verfassungstreue', fast durchweg der Revolution in ihren streng bürgerlichen Grenzen ehrlich zugetan, je‐ doch ohne herausragende Persönlichkeiten und ohne feste Orientierung, daher ohne Initiative und bei verantwortungsvollen Entscheidungen aus Unsicherheit schwank‐ tend“.123 Am ehesten kann Pastoret als „Anführer“ des Zentrums gelten – auf seine Initiative, noch als Syndikus des Departements Seine, geht zurück, dass die Kirche Saint-Geneviève zum Panthéon wurde. Für die jeweilige Entscheidungsfindung war es wichtig, diese Menge zu gewin‐ nen. In einem langwierigen Prozess schlossen sich einzelne dieser Gemäßigten den Feuillants an (sicherlich zumeist auf Grund einer Verarbeitung der realhistorischen revolutionären Ereignisse). Für den Einzelnen war der Anschluss an einen der bei‐ den Pole eine Option, das Zentrum in seiner quantitativen Bestimmung rieb sich in diesem permanenten Prozess auf: „Das Zentrum der Legislative war der neuen Ord‐ nung aufrichtig ergeben. Es hatte fast die gleichen Ansichten und den gleichen Ge‐ fallen an der Mäßigung wie das Zentrum der Konstituante; aber es besaß nicht mehr dieselbe Macht, es stand nicht mehr an der Spitze einer besonnenen Klasse, mit de‐ ren Hilfe es alle über das Ziel hinausschießen Parteien mit Kraft und Weisheit zü‐ geln konnte. Die offenbar werdenden Gefahren, die erneut das Bedürfnis nach über‐ spannten Meinungen und Parteien von außerhalb wecken, hoben den Einfluss des Zentrums gänzlich auf.“124 Die Verfassungsgebende Versammlung, die Konstituante, war mit dem Ruf aus‐ einandergegangen: „Es lebe der König, es lebe die Nation!“ Ludwig XVI. hatte die Verfassung unterzeichnet – nur zum Schein, aber dies war vielen nicht bewusst, wur‐ de von den anderen bewusst verdrängt.125 Die Arbeit der Gesetzgebenden Versamm‐ lung begann – für einen kurzen Moment – in einem anderen Sinne. Die neu formier‐ te Linke, die, trotz des Personalaustauschs, mit ihren Vorgängern verbunden war, versuchte sofort, mit diesem Konsens zu brechen: „Ein Gelähmter mit hartem Schä‐ del und traurigem Gesicht unter gepuderter Perücke, Couthon, den man jeden Tag in einem Rollstuhl hereinfährt, lässt in der Eröffnungssitzung die Abschaffung des Kö‐ nigsthrons bekräftigen. Die Worte Sire und Majestät dürfen nicht mehr ausgespro‐
123 Markov/Soboul 1989, S. 206. 124 Mignet 1975, S. 165. 125 Vgl. Markov/Soboul 1989, S. 203.
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chen werden.“126 Es war das Zentrum um Pastoret, das schließlich, nach der Weige‐ rung des Königs, in der Versammlung zu erscheinen, dafür sorgte, dass das Dekret aufgehoben wurde. Bereits am ersten Sitzungstag hatten sowohl die Linke als auch das Zentrum klargemacht, wie sie zu regieren gedachten. Gleiches gilt aber auch für die neue Rechte, wie sich am 7. Oktober 1791 zeigte, als Ludwig XVI. den Versammlungssaal aufsuchte: „Der König tritt ein. Einmütiger Beifall erhebt sich. Die Versammlung ruft: 'Es lebe der König!' Die Royalisten auf den Tribünen schreien, um die Versammlung zu kränken: 'Es lebe Seine Majestät!' In einer ergreifenden, geschickten Rede, ein Werk Duport-Dutertres, zählte der König die neuen Gesetze auf, welche die Versammlung im Sinne der Verfassung Frank‐ reich zu geben gedachte. Er sah die Revolution als beendet an. Er selbst aber, als König der Priester, als freiwilliger oder unfreiwilliger Leiter der Emigration und al‐ ler Feinde Frankreichs, war gerade das Hindernis, gegen das die Revolution, sofern sie nicht untergehen wollte, ihren Kampf fortsetzen musste. Die noch ganz junge Versammlung machte sich das nicht recht klar; sie sah nichts von dem voraus, was sie selbst noch tun würde. Sie war völlig ergriffen, als der Präsident, Pastoret, mit Bezug auf einen Ausspruch des Königs, der sagte, er habe das Bedürfnis, sich ge‐ liebt zu sehen, äußerte: 'Und auch wir, Sire, haben das Bedürfnis, von Ihnen geliebt zu werden.'“127 Der Sitzungstag des 7. Oktober stellte den allzu zerbrechlichen Kon‐ sens vom Ende der Konstituante wieder her. Frankreich freilich hatte andere Probleme, als mit dem König um den prozentua‐ len Grad der gegenseitigen Liebe zu feilschen. Die europäische Reaktion setzte an und rüstete sich, um mit militärischen Mitteln die alte Ordnung in Frankreich wie‐ derherzustellen. Die Forcierung des Krieges durch die Gironde und die Gesetzge‐ bende Versammlung – diesen historischen Prozessen und den in ihnen stattfindenden und sie begleitenden Debatten sind die nächsten beiden Kapitel gewidmet. Im Fol‐ genden ist hier ein kurzer stichpunktartiger Abriss über die weiteren Tätigkeiten der Gesetzgebenden Versammlung zum Verständnis zumindest anzudeuten, zudem sind einige entscheidende Daten der Kriegshandlungen zu nennen. • • • • •
20. Oktober 1791, Brissot, der Führer der Girondisten, eröffnet die Propa‐ ganda für den Krieg November 1791, Novemberdekrete 14. November 1791, Pétion wird Bürgermeister von Paris 14. Januar 1792, Emigration von Talleyrand Frühjahr 1792, Teuerung, soziale Unruhen
126 Aubry 1948, S. 383. 127 Michelet o. J., II, S. 263.
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7. Februar 1792, Militärkonvention gegen Frankreich durch Österreich und Preußen 15. März 1792, Berufung der girondistischen Minister 20. April 1792, Kriegserklärung Frankreichs an Österreich 27. Mai 1792, Dekret gegen die eidverweigernden Priester 11. Juni 1792, Veto Ludwigs XVI. gegen das Priester-Dekret 12. Juni 1792, Entlassung der girondistischen Minister 20. Juni 1792, 3. Jahrestag des Ballhausschwures, Massendemonstrationen 11. Juli 1792, Dekret über das Vaterland in Gefahr 15. Juli 1792, La Fayette ergreift Partei für den König, Überlegungen zu einem Staatsstreich, die Cordeliers fordern einen Nationalkonvent, Robes‐ pierre beginnt mit einer Kampagne für den Sturz des Königs 25. Juli 1792, Manifest des Herzogs von Braunschweig 3. August 1792, Pétion verlangt die Absetzung des Königs 10. August 1792, Volkssturm 11. August 1792, Beschluss zur Wahl eines Nationalkonvents, Aufhebung der Unterscheidung von Aktiv-und Passivbürgern 13. August 1792, Internierung der Familie des Königs 2.-6. September 1792, Septembermassaker 3. Sepetmber 1792, Dekret zu den Massakern, Proklamation zur nationalen Einheit 20. September 1792, letzte Sitzung der Gesetzgebenden Versammlung, Ka‐ nonade von Valmy
Entscheidend für die Tätigkeit der Gesetzgebenden Versammlung waren die sich permanent weiter zuspitzenden sozialen Krisen, die zu zahlreichen Unruhen und Aufständen führten. Der Bourgeoisie fiel es schwer, auf die sozialen Herausforde‐ rungen zu reagieren. Ihre reiche Fraktion ging aus Angst vor weiteren Volkserhebun‐ gen zur Aristokratie über, die mittlere Bourgeoisie hatte seit der Flucht des Königs jegliches Vertrauen in diesen verloren und erkannt, dass die eigenen Interessen nur mit der Unterstützung des Volkes verteidigt werden konnten, gleichzeitig dann aber gegen dieses ebenfalls gesichert werden mussten. Weitere Probleme ergaben sich durch die permanente Agitation der eidverweigernden Priester, die sich offen zur Konterrevolution bekannten (Unruhen in der Vendée). Die Versammlung versuchte mit verschiedenen Dekreten vor allem dem religiösen Problem sowie der Frage der Emigration gerecht zu werden. Der König und sein Hof intrigieren während der gan‐ zen Monate immer wieder, so verhinderten sie beispielsweise die Wahl La Fayettes zum Bürgermeister von Paris, mit dem Ergebnis, dass der Jakobiner Pétion gewählt wurde. Der Plan war, die Differenzen und Krisen so zu zuspitzen, dass durch eine Bündelung verschiedener Maßnahmen – Staatsstreich, Intervention von außen, Zer‐ 63
brechen der revolutionären Einheit – die Rückkehr des alten Frankreich möglich werde. 128 Die Politik der Gesetzgebenden Versammlung kann nur nachvollzogen werden vor der sich ihr in Permanenz stellenden zentralen Frage: Krieg, ja oder nein? Mit diesem Problem war ihr ganzes Handeln und Sein verknüpft, dies wird im folgenden Kapitel zu zeigen sein. Der Krieg richtete sich aber nicht nur gegen äußere, sondern auch gegen innere Kräfte, die eng miteinander verwoben waren in Gestalt der gerade angesprochenen eidverweigernden Priester und Emigranten. Immer stärker schien der Einfluss dieser Parteien zu werden, konterrevolutionäre Unruhen im Inneren gin‐ gen auf ihr Konto, vor den Grenzen Frankreichs versammelten sich um die Emigran‐ ten die ausländischen Truppen. Die Versammlung musste reagieren: „Die Girondisten, die in diesem Punkt die Unterstützung der Fayettisten fanden, bewogen die Legislative, eine feste Sprache zu führen und vier Dekrete zum Schutz des Staates zu erlassen. Das erste vom 31. Oktober stellte dem Graf der Provence (der Bruder des Königs, AH) eine Zweimonatsfrist für die Rückkehr, widrigenfalls er seiner Thronrechte verlustig ging. Ein Dekret vom 9. November richtete dieselbe Aufforderung an alle Emigranten; sie wurden im Weigerungsfalle der Verschwörung verdächtigt und ihre Güter zum Nutzen der Nation beschlagnahmt. Am 29. Novem‐ ber wurde den Refraktären (réfractaires, prêtres réfaractaires – die eidverweigernden Priester, AH) ein neuer Bürgereid abverlangt und den örtlichen Verwaltungen die Möglichkeit gegeben, sie bei Erregung öffentlichen Ärgernisses aus ihrem Wohnort auszusiedeln. Am selben Tag ersuchte ein viertes Dekret den König, von den Kur‐ fürsten von Trier und Mainz 'sowie anderen Reichsfürsten, die flüchtige Franzosen aufgenommen haben', zu verlangen, die von ihnen geduldete militärische Konzentra‐ tion der Emigranten und ihre Aushebungen in Grenznähe zu unterbinden.“129 Es gelang der Gesetzgebenden Versammlung (und vor allem den Girondisten) durch diese politischen Entscheidungen Ende des Jahres 1791 weite Teile der Nation hinter sich zu bringen. Selbstbewusstsein und Nationalgefühl wurden gesteigert. Die Girondisten, gemeinsam mit dem Zentrum und vielen Vertretern der Linken, Initia‐ tor der Dekrete, gedachten auf diesem Wege, den König, seine Familie und den Hof zu zwingen, sich offen und öffentlich eindeutig zu entscheiden: Für oder gegen einen revolutionären Kurs. Doch der adlige Hof wäre kein solcher, wenn nicht die Intrige sein bevorzugtes Stilmittel der Politik darstellen würde. Marie Antoinette schrieb am 25. November, dass man auf die „Politik des schlimmsten Übels“ setze, eben deshalb ja beispielsweise die heimliche Freude des Königs zur Wahl des Jako‐ biners Pétion zum Pariser Bürgermeister (statt ihres Getreuen La Fayette). „Die No‐ vemberdekrete und die kriegerischen Fanfarenstöße Brissots und der Seinen erleich‐ terten daher den Hofklüngel. Der rom- und adelshörige Ludwig legte sein Veto zwar 128 Hierzu: Soboul 1983, S. 203–206. 129 Markov/Soboul 1989, S. 211f.
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gegen die Dekrete über die Refraktäre (die eidverweigernden Priester, AH) und die Emigranten ein, unterschrieb hingegen widerspruchslos die beiden anderen, mit de‐ nen die Versammlung ungewollt sein Geschäft betrieb: Ein Ultimatum mochte die zaudernden Fürsten in den Krieg ziehen. Ludwig und Marie Antoinette, die mit einer Doppelzüngigkeit sondergleichen die feindlichen Lager gegeneinander aufstachel‐ ten, taten, was in ihren Kräften stand, um ihn unvermeidlich zu machen.“130
g) Endlich Krieg. Die kleinen Freuden der Bourgeoisie Es war ein schwieriger, über unzählige Vermittlungen sich abspielender und auch nur in dieser Komplexität zu verstehender Prozess. Wie immer in der Geschichte wollte die Bourgeoisie den Krieg – Hybris, Gewinnstreben, das Gefühl, zu kurz ge‐ kommen oder größer sein zu können, alles rief nach den Waffen. Gleichzeitig woll‐ ten Adel und Hof den Krieg – und damit ihr altes Leben wieder. Der Klerus wollte den Krieg (auch über den Umweg der Konterrevolution im inneren Frankreich) – es ging um pure Macht und die damit verbundenen Chancen zur Unterdrückung und Bereicherung. Zudem war das Volk in Gärung: Die Gerüchte brodelten, die Errun‐ genschaften der Revolution, die tatsächlichen, die eingebildeten und diejenigen, de‐ nen die Hoffnung auf die Zukunft galt, schienen in Gefahr. Das eine stützte das an‐ dere, und so ist Jules Michelet zuzustimmen, der ebenso banal wie wahr feststellte: „Die neue, unter dem Eindruck der öffentlichen Gefahr zusammengetretene Ver‐ sammlung müsste eigentlich nicht die 'gesetzgebende' heißen, sondern die 'Kriegs‐ versammlung'.“ (Michelet, o. J., II: 239) Es ist im Rahmen dieser Arbeit nicht notwendig (und auch nicht möglich), den verschiedenen verwickelten Stationen des Krieges, der mit zwei Unterbrechungen (1802/1803 und 1814/1815) 23 Jahre dauern sollte und Europa von Grund auf verän‐ derte, hier in seinen einzelnen Facetten, gar Schlachten und vermeintlichen „Siegen“ oder „Niederlagen“ nachzuspüren. Entscheidend ist an dieser Stelle eines: Der Kö‐ nig und sein Hof, der Adel, der Klerus und die Bourgeoisie – so uneinig sie sich auch sonst waren, in welch erbitterter Gegnerschaft sie sich gegenüberstanden – wollten den Krieg. Sie wollten damit (jeweils individuell motiviert) ihre Macht zu‐ rückerhalten oder ausbauen. Doch sie alle wurden vom Krieg verschlungen: König, Hof und Klerus wurden von der Revolution hinweggefegt, die Girondisten fielen den Jakobinern – die den Willen des ausgebeuteten und leidenden, in der Kriegsfra‐ ge zuerst verblendeten, irregeführten Volkes artikulierten – zum Opfer, deren Führer, Robespierre, sich für den Frieden ausgesprochen hatte.
130 Markov/Soboul 1989, S. 212f.
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Seit dem Ausbruch der Revolution hatte es immer wieder Erklärungen und Mah‐ nungen der ausländischen Mächte gegeben, allerdings hielten sich die europäischen Monarchien mit direkt-militärischen Plänen gegen Frankreich zurück. Es waren vor allem die Emigranten, die im Ausland alles taten, um Frankreich zur Not auch mit Gewalt in die Vergangenheit zurück zu führen. So ist zu erklären, dass der König je‐ ne Beschlüsse der Gesetzgebenden Versammlung sofort exekutierte und nicht mit seinem Veto versah, die sich gegen die ausländischen Mächte richteten – mit dem Ziel, die Konflikte dermaßen zuzuspitzen, dass der Krieg und damit die Rückkehr seiner unumschränkten Herrschaft unvermeidlich würden. „Vom Hof wurde der Krieg gewünscht, weil er in der Intervention des Auslandes sein allerletztes Heilmit‐ tel erblickte und deshalb seiner Politik des doppelten Bodens treu blieb. Am 14. De‐ zember 1791 ließ der König den Kurfürsten von Trier über den amtlichen Kanal wis‐ sen, dass er ihn als Frankreichs Feind betrachten müsse, wenn er die Ansammlungen von bewaffneten Emigranten auf seinem Hoheitsgebiet nicht bis zum 15. Januar 1792 zerstreue. Am gleichen Tag jedoch benachrichtigte er seinen kaiserlichen Schwager durch geheime Kurierpost, dass ihm an der Ablehnung seines eigenen Ul‐ timatums läge. 'Anstelle eines Bürgerkriegs wird das ein politischer Krieg sein', schrieb er seinem Agenten Breteuil, 'und die Angelegenheit wird sehr viel besser stehen. Sein physischer und moralischer Zustand macht es Frankreich unmöglich, auch nur einen halben Feldzug durchzuhalten.'“131 Walter Markov und Albert Soboul brechen in ihrer Revolutionsgeschichte die Wiedergabe des Briefes des Königs an einer Stelle ab, die für diesen durchaus schmeichelhaft ist. Denn weiter formulierte Ludwig XVI. – offenbarend, dass ihm für die Rückgewinnung seiner Macht kein Menschenleben zu kostbar, keine Intrige zu intrigant war: „Aber es ist erforderlich, dass der Anschein erweckt wird, als ließe ich mich darauf ehrlich ein, wie ich es in früheren Zeiten getan habe. Mein Verhalten muss so sein, dass die Nation in ihrem Unglück keinen anderen Ausweg sieht, als sich in meine Arme zu werfen.“132 Die Girondisten waren aus unterschiedlichen Motiven für den Krieg. Sicherlich muss man ihm zu Gute halten, dass einige ernsthaft an die „revolutionär-positive“ Wirkung eines Krieges glaubten, aus, bei Berücksichtigung des Zeitgeistes, zumin‐ dest nachvollziehbaren Gründen. (Gerade dann, wenn es um, aller martialischer Rhetorik zum Trotz, den Export der revolutionären Ideale – an dieser Stelle scheint gelegentlich auch das positive Erbe der Aufklärung durch – geht.) Denn die Samm‐ lungen der Emigranten an der Grenze stellten tatsächlich eine Gefahr dar, die sich auch im Inneren deutlich zeigte. Die Symptome waren konterrevolutionäre Revolten und Aufstände, das Verhalten des Adels und, vor allem, das Verhalten des Klerus. Die Ideen der Revolution, so wie sie die Verfassung von 1791 formulierte, sollten 131 Markov/Soboul 1989, S. 213. 132 Massin 1974, S. 110.
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gerettet und auf Dauer gestellt werden – mit den typisch bourgeoisen Mitteln der ag‐ gressiven Expansion. Die Reden der Girondisten zeigen genau diese Mischung aus nationalem Pathos und der Verbindung von Innen- und Außenpolitik mit Blick auf das Problem der Emigranten – eine Politik, die über den Kreis der Gironde hinaus konsensfähig war. Karl Griewank, der bekannte Jenaer Historiker, schilderte die Einstellung der Giron‐ disten zur Kriegsfrage wie folgt: „Hochsinnig und etwas leichtsinnig, glaubten diese Männer an die befreiende Kraft der revolutionären Ideen und waren überzeugt, dass alle Völker in Kürze den Franzosen im Kampf gegen die Tyrannen der Welt zuju‐ beln würden. Sie wollten durch den zuvorkommenden Angriff auf die hinter den Emigranten stehenden Fürsten die nationale Leidenschaft für die Revolution entfa‐ chen, durch revolutionäre Propaganda die benachbarten Völker gegen ihre Herrscher in Bewegung setzen, die Sache der Freiheit nach außen und gleichzeitig im Innern weitertreiben. Sie hofften das Königtum durch den Krieg gegen den Kaiser, den Herrn der altertümlichen deutschen Reichsordnung, in den Dienst der demokrati‐ schen Sache zwingen und ein Gemeinwesen herbeiführen zu können, das, im Auf‐ bau demokratisch-republikanisch, vielleicht formell noch mit einem Monarchen aus‐ gestattet, von ihren rednerischen und politischen Talenten geleitet würde.“133 Es bietet sich an, die Argumentation der Girondisten anhand von zwei Beispielen nachzuvollziehen. Der Abgeordnete Isnard sprach am 29. November 1791 für den Krieg.134 Ludwig XVI. war ja noch davon ausgegangen, dass Frankreich viel zu schwach sei, um einen Krieg zu gewinnen (wie gesehen verband er damit die Hoff‐ nung auf Rückkehr zum Ancien Régime). Isnard seinerseits erklärte: „Glaubt nicht, unsere augenblickliche Lage verwehre es uns, jene entscheidenden Schläge zu füh‐ ren! Ein Volk im Zustand der Revolution ist unbesiegbar. Die Fahne der Freiheit ist die Fahne des Sieges. (…) Die Sprache der Waffen ist die einzige, die uns bleibt ge‐ gen Abtrünnige, die nicht zurückkehren wollen, wohin die Pflicht sie ruft. (Gemeint sind die Emigranten, AH.) In der Tat, jeder Gedanke an Kapitulation wäre ein Ver‐ brechen, wäre Vaterlandsbeleidigung. Wahrlich, welch ruchlose Kapitulation wäre dies! Unsere Gegner sind die Feinde der Verfassung.“ Die Verfassung von 1791 war für Isnard in Gefahr – bedroht von den Emigranten, vom König, von der eigenen Regierung (d. h. den Ministerien sowie der entspre‐ chenden Bürokratie), von Europa, den Prinzipien und Realitäten der existierenden Monarchien: „Erheben wir uns in dieser Situation zur ganzen Höhe unserer Sen‐ dung! Sprechen wir zu den Ministern, zum König, zu Europa mit der Festigkeit, die uns ansteht! Sagen wir unseren Ministern, dass bis jetzt die Nation mit dem Verhal‐ ten keines von ihnen sonderlich zufrieden ist; dass sie von nun an nur zu wählen ha‐ ben zwischen der öffentlichen Dankbarkeit und der Rache der Gesetze und dass wir 133 Griewank 1984, S. 58. 134 Abgedr. in: Grab 1989, S. 124–126.
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unter dem Wort Verantwortlichkeit eine solche verstehen, die mit dem Kopfe haftet. Sagen wir dem König, dass es in seinem eigenen Interesse ist, die Verfassung zu ver‐ teidigen, dass seine Krone an diesem geheiligten Palladium hängt; dass er nur durch das Volk und für das Volk regiert, dass die Nation sein Souverän und er ein Untertan des Gesetzes ist. Sagen wir Europa, dass das französische Volk, wenn es einmal das Schwert zieht, die Scheide wegwerfen und nur mit dem Siegeslorbeer bekränzt sie wieder aufheben wird und dass, wenn es trotz seiner Kraft und seines Mutes bei der Verteidigung der Freiheit unterläge, seine Feinde nur über Tote regieren würden. Sa‐ gen wir Europa, dass, wenn die Kabinette die Könige in einen Krieg gegen die Völ‐ ker verwickeln, wir die Völker in einen Krieg gegen die Könige verwickeln wer‐ den.“ Das war der Geist jener Monate – wie gesehen mehr als nur konsensfähig. Grie‐ wank formulierte dies wie folgt: „Die Girondisten stützten sich auf die gegen Aristo‐ kraten und Ungleichheiten entflammte Stimmung der Klubs, wollten sie auf große Ziele lenken und sich auf ihren Wogen hochtragen lassen. Sie verwiesen siegesge‐ wiss auf die Millionenmasse von Nationalgarden, die Frankreich den Feinden werde entgegenstellen können, auf die Möglichkeit von Freiwilligenwerbungen, wie sie seit dem königlichen Fluchtversuch schon neu begonnen hatten. Sie unterschätzen die politischen und militärischen Schwierigkeiten, außen wie innen. Aber die Stim‐ mung der demokratischen Aktionsgruppen in Paris und im ganzen Lande stand da‐ mals durchaus hinter ihnen. Krieg gegen die Tyrannen schien gleichbedeutend zu sein mit dem Kampf für Freiheit und Gleichheit.“135 Das zweite Beispiel zeigt, wie der Führer der Girondisten, Brissot, dachte. Er war „der Mann des Krieges. Dieser Jacques Pierre Brissot, 1754 als Sohn eines Gastwirt‐ ehepaars in der Beauce, der Kornkammer Frankreichs im Südwesten von Paris, zur Welt gekommen, war ein weitgereister und sehr belehrender Mann. Gleich zu Be‐ ginn der Revolution schafft er sich mit seiner Zeitung, LePatriote français, eine ge‐ wisse Berühmtheit. Als Pariser Abgeordneter in der Gesetzgebenden Versammlung zieht er die glänzenden Redner der Gironde auf seine Seite.“136 Am 20. Oktober 1791 redete er Über die Emigranten.137 Er unterschied drei Gruppen von Emigran‐ ten: a) Die beiden Brüder des Königs, b) die flüchtigen Beamten und c) schließlich die einfachen Bürger. „Den beiden ersten Gruppen gebühren Hass und Strafe, Mit‐ leid und Nachsicht der dritten.“ (139f.) Die Ansammlungen der Emigranten aus Adel und Klerus (die Gruppe b) sah Brissot, hier durchaus der öffentlichen Meinung folgend, als größte Gefahr für Frankreich an. Diese seien verkommene, unmorali‐ sche Subjekte, die nur darauf hinarbeiten würden, ihre Macht und ihre Privilegien
135 Griewank 1984, S. 58. 136 Furet/Richet 1997, S. 191. 137 Abgedr. in: Fischer 1974, S. 239–243, alle Zitate im Folgenden nach dieser Ausgabe.
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wieder zurück zu bekommen.138 Um die Revolution zu retten, zu bewahren, sei es notwendig, sie zu besiegen: „Wollt Ihr dieser Revolte Einhalt gebieten? Das werdet Ihr nicht mit säuberlichen, minutiös ausgearbeiteten Gesetzen gegen die Ausgewan‐ derten erreichen, sondern nur, indem Ihr streng gegen ihre Anführer verfahrt; Ihr müsst jenseits des Rheines strafen, nicht in Frankreich.“ (141f.) Gesetze, so Brissot programmatisch, hätten nur dann einen Wert, wenn man sie mit allen möglichen und nötigen Mitteln vollziehe. Mit Blick auf die Außenpolitik bedeute dies, dass der Umgang der europäischen Staaten mit den Emigranten deren jeweiliges Urteil für oder wider die Revolution inkludiere: „In der Tat, es gibt zwei Parteien (bei den fremden Mächten). Entweder sie bezeigen Hochachtung vor unse‐ rer neuen Verfassung oder sie erklären sich gegen sie. Im ersten Fall werden jene, die gegenwärtig die Emigranten begünstigen, gezwungen sein, diese zu vertreiben. Für den zweiten Fall gibt es eine Alternative: Entweder greifen sie die Verfassung offen mit Waffengewalt an, oder sie streben eine Vermittlung durch bewaffnete Aus‐ einandersetzung an. Für alle Fälle müsst Ihr Euch auf die Entfaltung all Eurer Kräfte vorbereiten. Im Falle der Weigerung oder der bewaffneten Vermittlung dürft Ihr nicht schwanken, dann müsst Ihr selber die Mächte angreifen, die Euch zu drohen wagen. (…) Die Rache eines freien Volkes ist langsam, aber sie trifft mit sicherem Erfolg.“ (143) Brissots Rede in der Gesetzgebenden Versammlung wurde immer wieder von Beifall unterbrochen, im Nachtrag wurde ihr Druck und damit die weitere Verbrei‐ tung beschlossen. Am 16. Dezember 1791 sprach sich Brissot dann offen für den Krieg aus:139 „Überlegungen und Tatsachen haben mich zu der Überzeugung ge‐ bracht, dass für ein Volk, das nach tausend Jahren Sklaverei die Freiheit erobert hat, der Krieg ein Bedürfnis ist. Der Krieg ist notwendig, um die Freiheit zu befestigen; er ist notwendig, um sie von den Lastern des Despotismus zu reinigen; er ist not‐ wendig, um Männer zu entfernen, welche sie vergiften könnten. Lobt den Himmel für die Mühe, die er sich gemacht hat und dafür, dass er Euch die Zeit gegeben hat, Eure Verfassung aufzurichten. Ihr habt Rebellen zu strafen und Ihr habt auch die Stärke dazu; also entschließt Euch auch, es zu tun.“140 (144) Das ist nicht die Spra‐ che der Vernunft, der Aufklärung, es ist die Sprache der Bourgeoisie, die sich von 138 Brissot: „Drei Jahre der Erfolglosigkeit, ein irrendes und unglückliches Leben, vereitelte In‐ trigen, misslungene Verschwörungen, all diese schlimmen Erfahrungen haben die Ausgewan‐ derten nicht gebessert. Ihr Herz ist von Geburt an verdorben: Sie glauben, von ihrer Geburt her die Souveräne des Volkes zu sein und sie arbeiten jetzt darauf hin, das Volk wieder unter das Joch zu bringen.“ (141) 139 Abgedr. in: Fischer 1974, S. 244–245, alle Zitate im Folgenden nach dieser Ausgabe. 140 „In zwei Jahren hat Frankreich seine friedlichen Mittel erschöpft, um die Rebellen in seinen Schoß zurückzuführen; alle Versuche, alle Aufforderungen waren fruchtlos; sie beharren auf ihrer Rebellion, die fremden Fürsten beharren darauf, sie in derselben zu unterstützen: Kann man noch schwanken, ob man sie angreifen soll? Unsere Ehre, unser öffentlicher Kredit, die Notwendigkeit, unsere Revolution moralisch zu machen und zu konsolidieren – all das macht es uns zum Gesetz.“ (144)
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allen humanistischen Traditionen losgesagt hat. Der Bruch mit der Aufklärung, den schon die Verfassung von 1791 deutlich dokumentiert, wird hier erneut sichtbar. (Man fühlt sich mehr als nur leicht an jene Sätze von Marx erinnert, in denen dieser erklärt, was die Bourgeoisie für welchen Prozentsatz an potentiellen Gewinnen zu tun bereit ist.) Und Brissot fuhr, nicht weniger martialisch und kurzsichtig, fort: „Wir müssen uns rächen oder uns damit abfinden, für alle Nationen ein Schandmal zu sein; wir müssen uns rächen, indem wir diese Räuberbande vernichten oder uns damit abfin‐ den, dass die Parteiungen, die Verschwörungen, die Verwüstungen ewig werden und die Frechheit unserer Aristokraten noch größer wird, als sie es jemals war. Die Aris‐ tokraten glauben an die Armee von Koblenz; von daher rührt die Halsstarrigkeit die‐ ser Fanatiker. Wollt Ihr mit einem Schlag die Aristokratie, die Widerspenstigen (die eidverweigern Priester, AH) und die Unzufriedenen vernichten: Dann zerstört Koblenz; das Oberhaupt der Nation wird gezwungen sein, nach der Verfassung zu regieren, wird zu der Einsicht kommen müssen, dass sein Heil nur in der Anhäng‐ lichkeit an die Verfassung liegt, wird gezwungen sein, seine Handlungen nach der Verfassung zu richten.“ (145) Albert Mathiez hat nachdrücklich darauf hingewiesen, dass Brissots Rede vom 16. Dezember vor allem dem Versuch diente, „die Warnungen Robespierres zu er‐ schüttern und ihm zu beweisen, dass der Krieg notwendig sei“.141 „Scharfsichtig durch seinen Argwohn, begriff Robespierre sofort, dass die kriegerische Haltung am Hofe unaufrichtig war. Denn dadurch, dass der König sein Veto gegen die Dekrete über die Priester und Emigranten einlegte und damit gleichsam die Fortsetzung der Unruhen förderte, entzog er der Revolution die Mittel, diesen Krieg zum Sieg zu führen. Am 10. Dezember klagte er in einer im Namen der Jakobiner an die ange‐ schlossenen Gesellschaften gerichteten, von ihm verfassten Adresse die Machen‐ schaften der Lameths und des Hofes öffentlich an, dass sie den anarchischen Zu‐ stand verlängerten, um den Despotismus wiederherzustellen. Er fragte sich sofort, ob Brissot und seine Freunde, die zu dem vom Hof so erwünschten Kriege drängten, nicht an einer sinnreich vorbedachten Überbietung teilnahmen, um die Revolution in eine gefährliche Richtung zu treiben. Am 2. Dezember sprach er bei den Jakobiner: 'Wem wollt ihr die Führung dieses Krieges anvertrauen? Den Agenten der vollzie‐ henden Gewalt? Dann würdet ihr die Sicherheit des Königreichs Leuten überlassen, die euch verderben wollen.'“142 Auf Robespierres Position wird im nächsten Kapitel eingegangen. Festzuhalten ist hier, dass es Robespierre durch sein Engagement gelang, den Krieg zumindest für einige Monate hinauszuzögern. „Drei Monate lang lieferten Robespierre und Brissot auf der Tribüne des Klubs und in den Zeitungen einander einen verbissenen Kampf, 141 Mathiez 1950, I, S. 210. 142 Mathiez 1950, I, S. 209.
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der die revolutionäre Partei für immer spaltete. Um Robespierre sammelten sich alle künftigen Männer des Bergs: Billaud-Varenne, Camille Desmoulins, Marat, Panis, Santerre, Anthoine. Danton blieb nach seiner Gewohnheit zweideutig. Erst war er Robespierre gefolgt; als er aber sah, dass die Mehrheit des Klubs und der ange‐ schlossenen Vereine dem Kriege zuneigte, reihte er sich schließlich in die Gruppe Brissots ein.“143 So fand die vermeindliche Terroristen- und Mördergruppe der Jako‐ biner schlussendlich zusammen – aus echter Sorge um den Frieden. Man liest das leider viel zu selten. Es ist, auch diesen Hinweis verdanken wir Mathiez, in den Dif‐ ferenzen zwischen Robespierre und Brissot nicht die persönliche Note maßgebend, vielmehr entfalteten sich zwischen beiden jene Widersprüche, die zwischen Jakobi‐ nern und Girondisten so lange wirksam waren, bis erst die eine und danach die ande‐ re Gruppe fiel. „Der Gegensatz zwischen Robespierre und Brissot war grundsätzlicher Natur. Ro‐ bespierre glaubte nicht an die Möglichkeit irgendeiner Verständigung zwischen dem eidbrüchigen König und der Revolution. Er erwartete das Heil von einer inneren Krise, die die verräterische Monarchie zum Sturz bringen sollte, und er wollte diese Krise vermittelst der Verfassung selber, als einer legalen Waffe, herbeiführen. Er empfahl der Nationalversammlung, das königliche Veto zu beseitigen, mit der Be‐ gründung, dass es nur auf die ordentlichen Gesetze anwendbar sei und nicht auf ge‐ setzliche Maßnahmen, die sich aus dem Zwang der Umstände ergaben. Die Beseiti‐ gung des Vetos wäre das Signal für die Krise gewesen, die er erhoffte. Brissot dage‐ gen wollte sich nicht in einen Kampf auf Leben und Tod mit dem Hof einlassen. Er wollte ihn nur durch eine Taktik der Einschüchterung zu seinen Anschauungen be‐ kehren. Er war nur äußerlich ein Revolutionär, er fürchtete, wie die anderen Giron‐ disten, die Herrschaft der Straße, den Angriff auf das Eigentum. Er wünschte keine soziale Krise. Robespierre auf der Gegenseite erklärte zwar öffentlich immer wieder seinen tiefen Respekt vor der Verfassung, während er auf der Suche nach Mitteln war, sie umzugestalten und den König zu besiegen.“144 Im Dezember 1791 war es den Anhängern La Fayettes und den Girondisten ge‐ lungen, die Ernennung Narbonnes zum Kriegsminister durchzusetzen, zwischen März und Mai 1792 stellte die Gironde schließlich die komplette Regierung aus ihren Reihen. „Der Kriegsausbruch ließ nun nicht mehr lange auf sich warten. Die Eskalation setzte sich auf beiden Seiten fort. Am 16. Februar hatte Friedrich Wil‐ helm II. in Potsdam mit dem designierten Oberbefehlshaber, dem Herzog von Braunschweig, den Offensivplan für eine Sommerkampagne abgestimmt; am 25. schlossen Preußen und Österreich ein Verteidigungsbündnis. Als Kaiser Leopold un‐ versehens am 1. März starb, entschloss sich sein jedem Zugeständnis abgeneigter Nachfolger, Franz II., auf jene Räte zu hören, die mit dem Hin und Her Schluss ma‐ 143 Mathiez 1950, I, S. 211. 144 Mathiez 1950, I, S. 211.
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chen wollten. Ein Ultimatum, das von Paris aus am 25. März an ihn gerichtet wurde, beantwortete er überhaupt nicht. Daraufhin begab sich am 20. April Ludwig XVI. in die Nationalversammlung und schlug vor, dem 'König von Ungarn und Böhmen' den Krieg zu erklären, d. h. an Österreich allein und nicht an das Heilige Römische Reich. Nur zwölf Abgeordnete, zumeist Lamethisten, stimmten dagegen.“145 Die Kriegserklärung vom 20. April 1792146 beschwor, ganz im Sinne der Giron‐ disten um Brissot, die Idee, dass man den Krieg führe „zur Verteidigung der Freiheit und Unabhängigkeit“. Man sei dazu gezwungen, es sei die „Verteidigung eines frei‐ en Volkes gegen den ungerechten Angriff eines Königs“. Das Pathos des freien Franzosen hatte die Vernunft besiegt. Doch die Bourgeoisie, die Bankiers, Kaufleute und Händler, führt ihre Kriege nicht selbst, sie lässt sie führen. „Der Krieg sollte die in ihn gesetzten Erwartungen seiner Initiatoren nicht erfüllen – weder die des Hofes noch die der Gironde. Sicher aber trug er zur Bildung des Nationalbewusstseins bei und verlieh den Girondisten so viel Ruhm und Ansehen, dass selbst die nachfolgen‐ den Katastrophen diese kaum zu trüben vermochten. Wenn die Girondisten schließ‐ lich doch verschwanden, dann nicht, weil sie den Krieg, der die Bildung zur Nation vollendete, gewollt hatten, sondern weil sie ihn nicht zu führen verstanden.“147 François Furet und Denis Richet schrieben: „Brissot und seine Freunde, die man später die 'Girondisten' nennen wird, tragen aber durchaus nicht allein die Verant‐ wortung für den Krieg. Die Herausforderung an Europa war eine kollektive Heraus‐ forderung. Gewiss, die Gironde hatte dem Konflikt in dem Idealismus der Erobe‐ rung eine besondere Färbung gegeben, und es wird niemand bestreiten, dass sie da‐ mit in der Geschichte der französischen Sinnesart einen besonderen Platz ein‐ nimmt.“148 An einem Punkt freilich sind Furet und Richet zu ergänzen, berichtigen. Denn die Schuld an dem Krieg trifft die Girondisten insofern, als für sie die Option eines Friedens oder Abwartens nie zur Debatte stand, als sie die Ängste, Nöte und Vorurteile der Bevölkerung nährten und schürten und für ihre Zwecke ausnutzten, als die Gewinne aus dem Krieg (wie zuvor schon die aus der Revolution) in den Ta‐ schen der von ihr repräsentierten sozialen Schicht verschwanden, als sie den Krieg als Mittel zu Machterhalt und Machtausbau begriffen. Und wahrlich nicht zuletzt sprechen die gerade präsentierten Stimmen der Girondisten eine klare und eindeuti‐ ge Sprache der uneingeschränkten Kriegsbejahung. Daran kann man nicht vorbeige‐ hen (man kann es maximal unterschlagen). Es kam, wie es kommen musste: Die erste Hälfte des Jahres 1792 war für die Re‐ volutionäre eine einzige Katastrophe. Außenpolitisch folgte eine militärische Nie‐ derlage der nächsten, von einem „Sieg der Freiheit“, ganz abgesehen davon, dass ein 145 146 147 148
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Markov/Soboul 1989, S. 219. Abgedr. bei: Grab 1989, S. 134f. Soboul 1983, S. 211. Furet/Richet 1997, S. 192.
solcher in einem Expansionskrieg nie errungen werden kann, war man weiter ent‐ fernt als je zuvor. Innenpolitisch nahm die Gärung ständig zu, dem Krieg korrespon‐ dierte eine schwere Wirtschaftskrise. Denn auch wenn die Ernteerträge sich 1791 wieder stabilisiert hatten, so führte die permanente Entwertung der Assignaten zu wirtschaftlichen Problemen, die Sklavenaufstände in den Kolonien sorgten für Preis‐ erhöhungen bei den Kolonialwaren, viele Bauern horteten ihre Erzeugnisse oder gin‐ gen zur Tauschwirtschaft über. Immer wieder kam es zu Plünderungen, Demonstra‐ tionen, die Menschen verlangten nach der Festsetzung von Höchstpreisen – Forde‐ rungen, die die Revolution begleiteten. Und neben, über all diesen Dingen stand die permanente Angst vor dem Sieg der Konterrevolution. „Zum ersten Mal manifestiert sich eine eigenständige Volksbewegung, die nicht nur wirtschaftliche Forderungen anmeldet, sondern auch eine echte politische Demokratie verlangt. Eine proletari‐ sche Bewegung? Nein. Es sind etliche Arbeiter dabei, aber auch viele Gesellen, Handwerker und kleine Ladenbesitzer. Und es geht ihnen nicht um Lohnerhöhung, sondern um feste Höchstpreise, um die Bekämpfung der Kornaufkäufer und Hams‐ terer, um das Misstrauen gegenüber den Besitzbürgern, die man des Einverständnis‐ ses mit dem Feinde beschuldigt. 'Sansculotten' nennt man diese Männer, nicht weil sie die damals noch seltenen langen Hosen tragen, sondern weil sie die Kniehosen und Seidenstrümpfe verachten, wie sie die reichen Leute, adlige und bürgerliche, tragen.“149 Auch die Revolutionäre selbst waren uneins, der König intrigierte mit seinem Ve‐ to, Minister wurden entlassen und berufen, es erhoben sich Stimmen nach der Auflö‐ sung der Jakobiner und anderer politischer Klubs. Jetzt zeigte sich, dass die Giron‐ disten unfähig waren, die inneren und äußeren Probleme zu beheben, der Historiker kann beginnen, die Tage ihres Untergangs zu zählen. Die Situation spitzte sich derar‐ tig zu, dass die Gesetzgebende Versammlung handeln musste. „Anfang Juli mar‐ schierte die preußische Armee des Herzogs von Braunschweig auf, gefolgt von der Emigrantenarmee unter dem Oberbefehl von Condé. Der Kampf sollte auf nationa‐ lem Boden ausgetragen werden. Vor dieser unmittelbar drohenden Gefahr vergaßen die Jakobiner ihren inneren Streit und dachten nur noch an die Rettung des Vaterlan‐ des und der Revolution. Robespierre und Brissot riefen am 28. Juni von der Tribüne des Klubs zur Einheit auf. Die Versammlung ermächtigte am 2. Juli unter Umge‐ hung des Vetos die Nationalgardisten, am Föderationsfest vom 14. Juli teilzuneh‐ men. Am 3. erhob Verginaud eine flammende Anklage gegen den Verrat des Königs und seiner Minister. 'Der Angriff auf die Freiheit wird im Namen des Königs ge‐ führt.' Am 10. griff Brissot dasselbe Thema wieder auf und umriss klar das politi‐ sche Problem: 'Die Kriegserklärung der Tyrannen richtet sich gegen die Revolution, gegen die Erklärung der Menschenrechte und gegen die nationale Souveränität.'“150 149 Furet/Richet 1997, S. 193f. 150 Soboul 1983, S. 217.
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Der Gesetzgebenden Versammlung blieb nur ein Ausweg: Sie proklamierte am 1. Juli 1792: „Bürger, das Vaterland ist in Gefahr!“ Die Konsequenzen des De‐ krets151 waren weitreichend: Die nationale Einheit wurde erneut beschworen, zur Rettung der Republik wurden alle Behörden in Alarmbereitschaft gesetzt, sie sollten von nun an rund um die Uhr tagen. Die Nationalgardisten wurden zu den Waffen ge‐ rufen, es erging die Aufforderung, sich freiwillig zum Militärdienst zu melden. Al‐ lein in Paris kamen dem in wenigen Tagen knapp 15.000 Personen nach. Diesmal jedoch gelang es den Girondisten nicht, aus dem nationalen Appell Bestätigung zu ziehen. Ihre intrigante Politik wurde deutlich, nicht zuletzt, nachdem sich am 26. Ju‐ li Brissot gegen die Absetzung des Königs und gegen das allgemeine Wahlrecht aus‐ gesprochen hatte. Es wird noch zu zeigen sein, dass Robespierre seinen Kampf ge‐ gen den Krieg mit der Frage verknüpft hatte, ob die wirklichen Feinde tatsächlich im Äußeren zu suchen seien, das Volk gab ihm nun recht. Zusätzlich angeheizt wurde die alle Teile der Bevölkerung erfassende Gärung durch das „Manifest des Herzogs von Braunschweig“,152 dessen Inhalt sich ein paar Tage nach dem 25. Juli 1792 ra‐ sant verbreitete (am 1. August wurde das „Manifest“ der Gesetzgebenden Versamm‐ lung zugestellt) und im Prinzip die Intentionen ihres Verfassers völlig konterkarierte: Die Massen des Volkes rückten zusammen und rüsteten sich zur Verteidigung von Freiheit und Nation. Am Deutlichsten zeigt dies, mit dem Datum des 3. August 1792, die Petition von Pétion an die Gesetzgebende Versammlung im Namen einer Abordnung von 47 Pari‐ ser Sektionen.153 Um „Frankreichs Leiden zu heilen“, müssten diese an ihrer Wurzel gepackt werden – die einen Namen habe: Ludwig XVI.154 (148) Seit dem ersten Tag der Revolution habe dieser alles getan, den Umbruch bzw. Neubeginn zu verhindern. Und das, obwohl ihm das Volk eine Wohltat nach der anderen erwiesen habe. „Die Macht, die man Ludwig übertrug, damit er die Freiheit erhalte, bewaffnete sich, um sie zu zerstören.“ (150) Der König ernenne und beschütze unfähige Minister (nur öf‐ 151 152 153 154
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Abgedr. bei: Grab 1989, S. 139–143. Abgedr. bei: Grab 1989, S. 143–148. Abgedr. bei: Grab 1989, S. 148–152, alle Zitate im Folgenden nach dieser Ausgabe. „Das Volk ist zweifellos im Recht, wenn es sich gegen ihn empört; aber die Sprache des Zor‐ nes ziemt starken Männern nicht. Da Ludwig XVI. uns zwingt, ihn vor euch und ganz Frank‐ reich anzuklagen, so werden wir ihn denn anklagen, ohne Bitterkeit, aber auch ohne schwäch‐ liche Schonung. (…) Wir wollen euch nicht noch einmal Ludwigs XVI. ganzes Verhalten seit den ersten Tagen der Revolution schildern, seine blutdürstigen Pläne gegen Paris, seine Vor‐ liebe für den Adel und die Priester, seine Abneigung gegen das einfache Volk, nicht noch ein‐ mal schildern, wie die Verfassungsgebende Nationalversammlung durch Hofschranzen belei‐ digt, von Bewaffneten umstellt wurde, wie sie mitten in des Königs eigener Stadt umherirrte und schließlich nur in einem Ballspielhaus Asyl fand. Wir wollen euch nicht an die so oft ver‐ letzten Eide erinnern, an die immer neuen Protesterklärungen, die ebenso regelmäßig durch die Tat widerlegt wurden, bis zu dem Augenblick, da seine hinterhältige Flucht auch den von dumpfem Sklavengeist geblendetsten Bürgern die Augen öffnete. Wir lassen alles beiseite, worüber das Volk den Mantel der Vergebung verbreitet hat. Aber Vergeben ist nicht Verges‐ sen.“ (148f.)
fentlicher Druck führe zu deren Demission), geeignete Politiker sabotiere er in ihrer Arbeit, geschützt durch seine Immunität mache er die ihm anvertraute Exekutivge‐ walt „Tag zu Tag mehr zur Farce“. Über seine Rolle könne kein Zweifel bestehen: „Der Träger der Exekutivgewalt ist das erste Glied in der Kette der Gegenrevolution. (…) Weit entfernt, sich durch irgend einen offiziellen Schritt dem äußeren und inne‐ ren Feind zu widersetzen, ist sein Verhalten ein förmlicher Akt permanenter Miss‐ achtung der Verfassung. Solange wir einen solchen König haben, kann die Freiheit sich nicht festigen – und wir wollen frei bleiben. Dank einem Rest von Nachsicht hätten wir gewünscht, wir brauchten von euch nur die vorläufige Suspendierung Ludwigs XVI. zu fordern, solange das Vaterland sich in Gefahr befindet; aber die Verfassung lässt dies nicht zu. Ludwig XVI. beruft sich unablässig auf die Verfas‐ sung; wir berufen uns unsererseits auf sie und fordern seine Absetzung.“ (151f.) Mit dieser Erklärung trat das Volk (über spontane Demonstrationen usw. entschei‐ dend hinausgehend) als eigenständige politische Macht in Erscheinung und, was ein Novum war: Es wendete sich gegen Parlament, Regierung und Hof gleichermaßen, ließ sich in der Folge nicht mehr einfangen, besänftigen, seine Macht und Wut kana‐ lisieren, umbiegen, abbrechen. (Wir kommen darauf zurück.) In letzter Konsequenz entstand eine Dynamik, die die Gesetzgebende Versammlung nicht mehr zu kontrol‐ lieren oder zu zügeln vermochte. Albert Soboul brachte diese Entwicklungen wie folgt auf den Punkt: „Der Bruch zwischen dem Volk und der Gironde wurde gerade zu der Zeit endgültig, als die girondistische Politik auf ihren folgerichtigen Ab‐ schluss zusteuerte. Die Girondisten wichen vor dem Aufstand zurück; sie befürchte‐ ten, von den revolutionären Massen, zu deren Mobilisierung sie immerhin beigetra‐ gen hatten, überrannt zu werden; sie hatten Angst, wenn schon nicht das Eigentum, so doch zumindest die Vorherrschaft der Reichen zu gefährden. Da sie aber mit Lud‐ wig XVI. verhandelten, nachdem sie ihn angeklagt hatten, und zurückschreckten, nachdem sie endlich zum Handeln entschlossen schienen, erklärten die Girondisten sich selbst für schuldig und verurteilten zugleich das Regime von 1791, das die Nati‐ on mit seinen Zensusschranken knebelte.“155 Nach Monaten der Kriegsvorbereitungen und weiteren Monaten der Niederlagen und Rückschläge begehrte das Volk auf – der 10. August (ein historisches Datum) wird als Nächstes kurz zu besprechen sein. Zuvor aber ist es unumgänglich, einen kurzen Seitenblick auf Robespierre zu werfen, auf die Stimme des Friedens und der Vernunft in den sich selbst permanent überschlagenden Zeiten. Nur zwölf Abgeordnete (von 749) hatten gegen die Kriegserklärung gestimmt. (Das ist eine Situation, die man durchaus mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges vergleichen kann. Die Bourgeoisie folgt immer den gleichen Prinzipien.) Neben den Abgeordneten gab es eine kleine Handvoll von Personen, die gegen den Krieg und
155 Soboul 1983, S. 218.
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für den Frieden sich engagierten: Uns werden sie heute in phrasologischer Regelmä‐ ßigkeit als die vermeintlichen Ungeheuer und schlimmsten Verbrecher der Revoluti‐ on präsentiert: Pétion, Marat, natürlich Robespierre. Ist es möglich, gar legitim, hier die Frage zu stellen, ob Robespierre auch deshalb in der bürgerlichen Welt, ihrer Ideologie und Geschichtsschreibung, zumal und noch schlimmer in Deutschland, immer als das schreckliche, blutgetränkte Scheusal der Französischen Revolution hingestellt wird, weil er die Bourgeoisie bei ihrem einträglichsten Geschäft – dem Krieg – störte? Die Frage stellen heißt – sie beantworten.
h) Robespierre. Die Stimme des Friedens Durch seine unermüdliche demokratische Kritik am Verfassungswerk der Bourgeoi‐ sie hatte sich Robespierre als Anwalt der einfachen Menschen des Volkes bereits einen Namen gemacht. Sein späterer Weggefährte Antoine Saint-Just schrieb am 11. August 1790 an den ihm damals noch unbekannten Abgeordneten, „der das wan‐ kende Vaterland gegen den Strom des Despotismus und der Intrige aufrecht hält“: „Ich kenne Sie nicht, aber Sie sind ein großer Mann. Sie sind keineswegs nur der Abgeordnete einer Provinz, Sie sind der Deputierte der Menschheit und der Repu‐ blik.“156 Robespierres politische Philosophie wird an anderer Stelle analysiert, so dass das Augenmerk hier auf seinen mühseligen, einsamen, unerbittlichen Einsatz für den Frieden und gegen die Kriegsabsichten der Bourgeoisie gelegt werden kann. Robespierre war früh „der Unbestechliche“ – ein Titel, den in der Französischen Revolution in der Tat nicht viele beanspruchen konnten (sagen wir es frei heraus: ne‐ ben Robespierre noch Marat, Georg Forster und einige wenige andere). Als am 30. September 1791 die Verfassungsgebende Versammlung auseinanderging, schil‐ derte Camille Desmoulins die sich abspielenden Szenen wie folgt: „Unter einmüti‐ gem Beifallklatschen, unter den Freudenrufen einer aufs höchste begeisterten Volks‐ menge (…), werden Robespierre und Pétion mit dem Eichenlaub der Bürgerkrone bekränzt. Nehmt entgegen, sagt man zu ihnen, nehmt entgegen den Preis eurer Bür‐ gertugend und eurer Unbestechlichkeit. (…) Wahre Tugend ist bescheiden, sie ent‐ zieht sich gern den Ehren, die sie verdient. Auch Robespierre und Pétion wollen sich dem so berechtigten Tribute entziehen, der ihnen gezollt wird, doch junge Frauen nötigen sie zum Bleiben. (…) Eine von ihnen, die einer jener Aufwallungen der See‐ le folgt, die den Frauen in viel auserlesenerer Weise zu Gebote stehen als uns, bietet ihnen ihre kleine liebreizende Tochter dar. 'So erlaubt wenigstens', sagt sie, 'dass mein Kind euch umarmt.' Tränen treten in die Augen der beiden Väter des Vaterlan‐ des. Sie nehmen das Mädchen in ihre Arme, und die Bravorufe, das Beifallklatschen
156 Landauer 1961, S. 441.
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und die Rufe 'Es leben die wackeren Gesetzgeber, die Deputierten ohne Makel!' schwellen von neuem an. Um dem Volk zu entfliehen, das, angelockt durch die Mu‐ sik, aus allen Richtungen herbeiströmt, beeilen sich die beiden Helden des Festes, eine Droschke zu besteigen. Le Chapelier, Barnave und die Brüder Lameth besitzen prächtige Staatskutschen, aber wehe dem, der nicht der einfachen Droschke von Ro‐ bespierre und Pétion den Vorzug geben würde. (…) Man lässt sie also unter dem Klang der Fanfaren, unter Beifall und Zurufen ziehen. Eine wahrhaft gerechtfertigte Belohnung für drei Jahre mühevoller Arbeit, Sorge, Kühnheit, Unbestechlichkeit und Verfolgung.“157 Anschließend machte Robespierre sich auf den Weg in seine Heimatstadt Arras, er wollte dort seine Angelegenheiten regeln, vor allem aber auch seinen Wählern Rechenschaft geben über das, was er in Paris für sie getan hatte. Seine Reise ist fast schon eine Art Sinnbild der Revolution: Die vornehme Gesellschaft – also die Reste des alten Adels sowie die neue reiche bürgerliche Schicht – waren zu ihm kalt, man merkte ihnen die Angst an. Zu ihren Gesellschaften und Empfängen wurde er nicht eingeladen. Doch überall dort, wo ihn das einfache Volk erkannte, wurde er trium‐ phal gefeiert, es kam zu spontanen Versammlungen, er musste reden, Jubel und Ap‐ plaus begleiteten ihn, es entstanden sogar kleine Feste usw. Er war tatsächlich der Mann, auf dem die Hoffnungen der nach wie vor Armen und nach wie vor Unter‐ drückten ruhten. Am 23. November verließ Robespierre seine Heimat für immer und diesmal endgültig, fünf Tage später war er in Paris. Sein Freund Pétion war dort, wie berichtet, Bürgermeister geworden und speiste mit ihm zu Abend. Robespierre hatte ja dafür gesorgt, dass die Mitglieder der Verfassungsgebenden Versammlung sich für die Gesetzgebende nicht mehr zur Wahl stellen durften. Er brauchte, um weiterhin öffentlich wirken zu können, eine neue Bühne, und er fand sie – den Jakobinerklub: „Die Stätte der entschiedenen Revolutionäre, jener, die wie er auf Rousseau schworen und in einer Politik der halben Wege den Todfeind jedes Fortschritts auf dem Weg zur Freiheit sahen. (…) Robespierre wurde alsbald der Sprecher des Jakobinerklubs. Jeden Abend redete er dort; er hatte ja Zeit. Damit leg‐ te er den Grund seiner späteren Macht.“158 Jean Massin, der Biograph Robespierres, hat darauf hingewiesen, dass dieser zu‐ erst, in einer frühen, den Impulsen der Zeit folgenden Stellungnahme den Krieg ebenfalls befürwortete (Mitte bis Ende November 1791). Im Sommer 1790 hatte er noch gegen einen Krieg mit England geredet, nun schien er sich den Zeichen und 157 Zit bei: Massin 1974, S. 100f. 158 Schmid 1989, S. 20f. Schmid spricht dann davon, dass Robespierre seine Macht genutzt habe, um die öffentliche Meinung „im ganzen Land“ zu „manipulieren“. (S. 21) Damit bestätigt er freilich nur die These, dass es für die Bourgeoisie, auch die heutige, auch die sozialdemokra‐ tische, problemlos möglich ist, selbst im Faschismus zu überleben, sie aber immer dann Ge‐ fahr wittert, wenn einer aus ihrer Mitte plötzlich das Volk in seinen Wünschen und Hoffnun‐ gen tatsächlich Ernst nimmt.
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Forderungen der Zeit zu unterwerfen. Doch es dauerte nur ein paar Tage, bis er den ganzen Problemkreis richtig durchschaute – und er wurde der wahrscheinlich ent‐ schiedenste Gegner des Krieges.159 Robespierre selbst formulierte dies am 18. De‐ zember 1791 wie folgt: „Krieg! rufen der Hof und das Ministerium und ihre unzähli‐ gen Anhänger. Krieg! wiederholt eine große Zahl guter Bürger, getrieben von einem edelmütigen Gefühl und eher bereit, sich von der Begeisterung der patriotischen Be‐ wegung mitreißen zu lassen, als über die Belange der Revolution und die Intrigen der Höfe nachzudenken. Wer wird es wagen, diesen gewaltigen Rufen zu widerspre‐ chen?“160 Es wurde bereits erwähnt, dass Albert Mathiez mit aller Berechtigung darauf hin‐ gewiesen hat, dass die Position Robespierres zuerst begriffen werden kann – ja: muss – in ihrer Konfrontation mit derjenigen Brissots im Speziellen und der Giron‐ disten im Allgemeinen. „Seit der Niedermetzelung der Republikaner auf dem Mars‐ felde hatte Robespierre gegen Brissot und Condorcet Misstrauen gefasst, deren poli‐ tisches Schwanken und Verbundenheit mit den La Fayette-Anhängern seine Klar‐ sicht beunruhigten. Die Girondisten Verginaud, Guadet, Isnard, mit ihren wortglei‐ chen Übertreibungen, mit ihren hohlen Deklamationen, schienen ihm gefährliche Rhetoren. Er kannte ihren aristokratischen Geschmack, ihre engen Beziehungen zu der Handelswelt und blieb auf der Hut. Seitdem er gegen die Unterscheidung zwi‐ schen aktiven und passiven Bürgern aufgetreten war, gegen den Zensus der Wahl‐ männer und den Zensus der Wählbarkeit, gegen die Einschränkung des Vereins-, Versammlungs- und Petitionsrechts, gegen das dem Bürgertum vorbehaltene Vor‐ recht, Waffen zu tragen, seitdem er sich energisch gegen die Wiedereinsetzung des eidbrüchigen Königs in seine königlichen Rechte ausgesprochen und den Zusam‐ mentritt eines Konvents gefordert hatte, um Frankreich eine neue Verfassung zu ge‐ ben, seitdem er fast als einziger von den Mitgliedern der Konstituante bei den Jako‐ biner geblieben war und im tapferen Widerstand gegen die Unterdrückungsmetho‐ den der Gemäßigten ihre Auflösung verhindert hatte, war er der unbestrittene Führer der demokratischen Partei. Seine strenge Redlichkeit, sein Fernbleiben von allem, was auch nur nach Intrige schmeckte, waren allgemein bekannt, daher sein ungeheu‐ rer Einfluss auf das Volk und das Kleinbürgertum.“161 Albert Soboul ergänzte die Einschätzung von Mathiez um eine Feststellung, die in jeder guten und wissenschaftlich brauchbaren Revolutionsgeschichte ihren Platz hat, in so manch konservativem Deutungsversuch freilich übergangen zu werden pflegt: „In Robespierre fand die Kriegspolitik ihren hellsichtigsten und hartnäckigs‐ ten Gegner. Nachdem er anfangs von Danton und einigen demokratischen Zeitungen unterstützt worden war, widerstand Robespierre schließlich fast allein dem unauf‐ 159 Siehe: Massin 1974, S. 107f. 160 Robespierre 1989, S. 100. 161 Mathiez 1950, I, S. 209.
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haltsamen Strom, der mit den Brissotins die Gesamtheit der Revolutionäre in den Krieg hineinriss.“162 Doch völlig allein war Robespierre, nachdem er sich zu seiner Position der Ver‐ teidigung des Friedens durchgerungen hatte, nicht. Karl Griewank sprach von einer „kleinen Gruppe klar blickender Demokraten“.163 Zwei seiner Verbündeten waren Robespierre vorangegangen, hatten schon in den ersten Dezembertagen des Jahres 1791 den drohenden Krieg als Verbrechen gegeißelt. „Marat war ihm wie immer voraus und hatte bereits in seinem Ami du Peuple vom 1. Dezember Alarm geschla‐ gen. 'Ich bedaure sehr', schrieb er, 'keine Zeit gehabt zu haben, mich früher mit die‐ sem Gegenstand beschäftigen zu können, um den Hinterhalt zu entdecken. Ich be‐ fürchte sehr, dass die Patrioten hineingeraten sind, und zittere bei dem Gedanken, dass sich die Nationalversammlung, getrieben von den Gauklern, die sich an den Hof verkauft haben, dazu hergibt, die Nation in den Abgrund zu führen.' (…) Zwei Tage später hielt der scharfsichtige Billaud-Varenne im Jakobinerklub eine lange Re‐ de, in der er zwei Hauptpunkte behandelte, die bei Robespierre wiederkehren. Er be‐ tonte einerseits, dass es der Katastrophe entgegenzugehen bedeute, wenn man dem äußeren Feind entgegentritt, ohne vorher den inneren Feind niedergeworfen zu ha‐ ben; andererseits wies er darauf hin, dass die Festungen, die Artillerie und die Trup‐ pen in einem solchen Zustand der Verwahrlosung seien, dass ohne vorherige Reor‐ ganisation der völlige Zusammenbruch unvermeidlich sei.“164 Die Stimmen und Argumente seiner Freunde überzeugten Robespierre endgültig. „Ohne seine Fehleinschätzung vom 28. November noch einmal zu wiederholen, warf er sich mit aller Kraft in den Kampf um den Frieden und ließ es selbst darauf ankommen, seine Popularität zu verlieren. Es gelang ihm, den Krieg um einige Wo‐ chen hinauszuzögern, bis die ökonomischen Interessen der Bourgeoisie und die sich widersprechenden Bestrebungen einander betrügender Intriganten schließlich der Feindschaft Europas entgegenkamen und vorzeitig einen Zusammenstoß verursach‐ ten, der den weiteren Verlauf der Revolution bestimmte. Seine Sinnesänderung zeig‐ te sich erstmals am 9. Dezember in der Erwiderung auf eine Schmähschrift von Car‐ ra (Carra änderte am 10. Dezember seine Meinung und wurde ebenfalls ein Gegner des Krieges, AH) , einem Anhänger Brissots. Am 11. Dezember beantragte er in einer kurzen Rede in der Legislative eine ausführliche Erörterung der Frage. 'Die Minister predigen, man müsse angreifen, und diese Ansicht wird von vielen guten Patrioten übernommen. Niemals ist jedoch ein Gesetz gut, das von beiden Parteien einstimmig angenommen wird.' Am 12. Dezember führt er seine Rede vom Vortage weiter aus: 'Der Krieg ist die größte Geißel, die die Freiheit in der Situation, in der
162 Soboul 1983, S. 209. 163 Griewank 1984, S. 59. 164 Massin 1974, S. 110f.
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wir uns befinden, bedrohen könnte. (…) Die einzige Wahl, die wir treffen können, ist, abzuwarten.'“165 Am 18. Dezember 1791 und am 2. Januar 1792 sprach Robespierre erneut im Ja‐ kobinerklub, diese beiden Reden können im Folgenden genutzt werden, um seine Position zu verdeutlichen.166 Albert Mathiez hat vor allem Robespierres Rede vom 2. Januar benutzt, um dessen „scharfe und geistvolle Kritik“ an Brissot zusammen‐ zufassen. Robespierre „stellte fest, dass der Krieg den Emigranten, dem Hof und den Anhängern La Fayettes gefiel. Mit Anspielung auf den Satz Brissots, man müsse das Misstrauen verbannen, führte er einen Hieb, der saß: 'Sie wären der rechte Mann, die Freiheit ohne Argwohn gegen irgend jemand zu verteidigen, ohne Missfallen bei ihren Feinden zu erregen, ohne sich im Gegensatz zu fühlen, weder zum Hof, noch zu den Ministern, noch zu den Gemäßigten. Wie sind doch die Wege des Patriotis‐ mus für Sie leicht und heiter geworden!' Brissot hatte gesagt, der Sitz des Übels sei Koblenz. 'Ist es nicht vielleicht doch Paris?', fragte Robespierre. 'Besteht denn wirk‐ lich keine Beziehung zwischen Koblenz und einem anderen Ort, der gar nicht fern von hier ist?' Bevor man den kleinen Haufen Aristokraten draußen schlägt, wünschte Robespierre, dass man erst mit denen im Innern fertig würde, und bevor man die Re‐ volution bei den anderen Völkern propagiert, sollte man sie erst in Frankreich befes‐ tigen. Er spottete über die Illusionen einer solchen Propaganda und wollte nicht glauben, dass die fremden Völker reif wären, auf den französischen Anruf hin sich gegen die Tyrannen zu erheben. (…) Er fürchtete, dass der Krieg übel ausgehen wer‐ de. Er wies darauf hin, dass die Armee ohne Offiziere oder nur von aristokratischen Offizieren befehligt sei, dass die Regimenter unvollständig, die Nationalgarden ohne Waffen und ohne Ausrüstung, die festen Plätze ohne Munition seien. Er sah voraus, dass selbst im Falle eines siegreichen Krieges die Freiheit in Gefahr geriete, unter den Schlägen ehrgeiziger Generale unterzugehen. Er kündigte Cäsar an.“167 Nehmen wir uns die Zeit, schauen wir etwas genauer. Wie bereits angesprochen, war für Robespierre das zentrale Problem die notwen‐ dige Differenzierung zwischen den inneren und den äußeren Feinden – erst wenn man Frankreich geeint und befriedet habe, könne man, darauf hat auch Mathiez ge‐ rade hingewiesen, die Außenpolitik in Angriff nehmen.168 „Warum sind wir augen‐ blicklich gezwungen, uns mit dem auswärtigen Krieg zu beschäftigen? Weil wir 165 Massin 1974, S. 111. 166 Die hier relevanten Reden und Artikel Robespierres sind abgedr. in der Ausg. 1989, dort Rede über die von der Nationalversammlung gegenüber dem Kriegsvorschlag der Exekutive einzu‐ nehmende Haltung vom 18. Dezember, S. 100–139, Rede über den Krieg vom 2. Januar 1792, S. 139–178, Rede über den Krieg vom 25. Januar 1792, S. 179–205, sowie weitere Texte und Dokumente. Alle Zitate Robespierres dieses Kapitels, wenn nicht anders gekenn‐ zeichnet, aus dieser Publikation. 167 Mathiez 1950, I, S. 210. 168 „Bekämpfen wir zunächst unsere inneren Feinde und marschieren wir erst dann gegen die äu‐ ßeren, wenn es dann noch welche gibt.“ (101)
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kurz vor einem Kriegsausbruch im Innern des Landes stehen und weil man hofft, uns in einem schlechten Verteidigungszustand zu überraschen. Woraus ist dieser doppelte Nachteil entstanden? Aus der ungenügenden Wachsamkeit des Ministeri‐ ums und aus dem Vertrauen und der Schwäche der gesetzgebenden Körperschaft.“ (133) Der eigentliche Feind, so wiederholte Robespierre während seiner ganzen Agi‐ tation gegen den Krieg monatelang, sei nicht (zumindest nicht zuerst) jenseits der Grenze zu suchen, sondern im Innern: „Nach Koblenz, sagen Sie, nach Koblenz! Als ob die Vertreter des Volkes all ihre Pflichten gegen das Volk dadurch erfüllen könn‐ ten, dass sie ihm den Krieg bescheren. Sitzt die Gefahr in Koblenz? Nein, Koblenz ist kein zweites Karthago, der Sitz des Übels ist nicht Koblenz, sondern er ist mitten unter uns, er ist in Ihren Reihen.“ (135) Im Prinzip sei die Sache ganz einfach: Die Nation wolle „die Freiheit und den Frieden“ (102) und man müsse nur schauen, wer eigentlich für den Krieg plädiere, diesen bejahe, gar fordere, wer von ihm profitieren werde: „Was ist das für ein Krieg, dem wir uns gegenübersehen? (…) Es ist der Krieg der Feinde der Französi‐ schen Revolution gegen die Französische Revolution. Sind die meisten und die ge‐ fährlichsten Feinde in Koblenz? Nein, Sie sind mitten unter uns. Können wir be‐ gründeter Weise fürchten, diese Feinde am Hof und im Ministerium zu finden?“ (102) Da der Krieg es dem Hof, dem König (und dem Ministerium) ermöglichen würden, die Führung über die Streitkräfte und damit über das Schicksal des Staates zu übernehmen, wäre die Antwort auf diese Frage klar. Kriege, das zeige die Ge‐ schichte, waren immer Schritte zur Despotie und Tyrannei, also freiheitsfeindlich.169 „Ein Krieg, der von einer arglistigen Regierung geschickt angestiftet und geführt wurde, ist allen freien Völkern zum Nachteil ausgeschlagen.“ (105) Noch einmal – gefragt mit Robespierre: Wer will den Krieg? Die klare Antwort: Der König und sein Hof (sowie deren Helfer, Exekutoren): „Der Hof hat den Krieg immer gewollt, und er will ihn auch noch. Aber er wollte den günstigsten Augen‐ blick abwarten und vorbereiten.“ (121) Und an anderer Stelle: „Wenn der Hof und das Ministerium ein Interesse am Krieg haben, dann werden Sie erleben, dass nichts versäumt worden ist, ihn uns auch wirklich zu bringen.“ (106) Robespierre sah auch, dass viele Vertreter der Gesetzgebenden Versammlung, also des Großbürgertums, bereit waren, mit dem Adel gemeinsame Sache zu machen. Es graue ihm, „wenn ich 169 „Krieg zu führen ist immer der erste Wunsch einer mächtigen Regierung, die noch mächtiger werden will. Ich will Ihnen nicht klarmachen, dass es dem Ministerium gerade während des Krieges möglich ist, das Volk zu erschöpfen und die Finanzen zu vergeuden, und dass es dann seine Ausbeutungen und Fehler mit einem undurchdringlichen Schleier bedecken kann; ich werde vielmehr über etwas zu Ihnen sprechen, dass unsere persönlichen Interessen noch weit unmittelbarer berührt. Es geschieht in dem Kriege, dass die Exekutive die furchterregendste Energie entfaltet und eine Art Diktatur ausübt, die unsere im Entstehen begriffene Freiheit wahrhaft erschreckend muss; es geschieht in dem Kriege, dass das Volk die wichtigen Bera‐ tungen über seine bürgerlichen und politischen Rechte vergisst, um sich nur mit äußeren Er‐ eignissen zu beschäftigen (…).“ (103)
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höre, wie alle diese Deklamationen über die allgemeine Freiheit von Männern daher‐ geplappert werden, die im Sündenpfuhl der Höfe modern und die Freiheit in ihrem eigenen Lande unaufhörlich verleumden und verfolgen“. (106) Der Krieg, so Robespierre verzweifelt, aber doch hoffend, erscheine als unver‐ meidlich. Fast schon als eine Art Naturmacht, die man nicht beherrschen könne, sondern der man sich unterwerfen müsse. Doch was haben die Exekutive, die Minis‐ ter, die Kirche, der König getan, den Krieg zu verhindern? Robespierres Antwort war eindeutig – nichts. Ja, alle ihre Taten und Handlungen in diesem Zusammen‐ hang würden zeigen, dass sie Tag für Tag darauf hingearbeitet hätten, endlich Krieg zu führen. Die Exekutive habe zwei Jahre lang die Emigranten und die Rebellen be‐ günstigt, auf ihre Verfolgung verzichtet. Sie habe zugelassen, dass Waffen und Fi‐ nanzen in den Reihen der Emigration zusammengezogen wurden. Man habe „bedeu‐ tungslose Briefe geschrieben“, „zweideutige Deklamationen“ erlassen – allein an jedweden praktischen Handlungen gegen die Emigranten und die eidverweigernden Priester habe es gefehlt. Es war das genaue Abwägen zwischen inneren Problemen und äußeren Heraus‐ forderungen, das den Fortgang von Robespierres Argumentation bestimmte – inklu‐ sive, wie gerade gesehen, der Benennung der Schuldigen: „Bevor man den Krieg vorschlägt, muss man nicht nur alles tun, was in seinen Kräften steht, um ihn zu ver‐ hindern, sondern man muss auch seine Macht einsetzen, den inneren Frieden zu er‐ halten. In allen Teilen des Landes jedoch brechen Unruhen aus; und der Hof und das Ministerium stiften sie an.“ (110) Es drohe, sollte Frankreich sich tatsächlich in den Krieg begeben, die schlimmste aller denkbaren Kombinationen: Ein auswärtiger Krieg, dazu ein Bürgerkrieg sowie, des weiteren auch noch ein Religionskrieg. (siehe: 111) „Die eidverweigernden Priester sind die Helfer und Verbündeten der de‐ sertierten Rebellen. Die Straffreiheit, die sie genießen, die Ermunterung, die sie empfangen, und die Böswilligkeit, mit der man die konstitutionellen Priester fallen ließ oder verfolgte, begannen die Fackel der Zwietracht und des Fanatismus zu ent‐ zünden: Ein zum allgemeinen Wohl erlassenes Gesetz sollte all denen Einhalt gebie‐ ten, die im Namen des Himmels die öffentliche Ordnung stören.“ (110f.) Oder, dras‐ tisch und pointiert formuliert: „Kennen Sie ein Volk, das seine Freiheit erworben hat, während es gleichzeitig einen äußeren, einen inneren und einen religiösen Krieg führte, und das alles unter der Führung des Despotismus, der ihm diese Kriege auf‐ erlegt hat, dessen Macht es aber gerade vermindern will?“ (126) Die Nation – pathetisch gesprochen: geboren in der Revolution – sei tief gespal‐ ten in drei Fraktionen: Die Aristokraten, die Patrioten und die ministerielle Partei. Allein und für sich genommen sei die Aristokratie nicht stark genug gewesen, erneut ein ihr genehmes System aufzurichten, die Revolution hatte die Freiheit bereits so durchgesetzt, dass diese sich behaupten konnte. Daher verbanden sich die Aristokra‐ ten mit den eidverweigernden Priestern und den Ministeriellen mit dem Ziel – „das
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Werk der Französischen Revolution völlig umzustoßen“. (124) Der Krieg sei exakt das Mittel, dies zu bewerkstelligen, mit dem von Robespierre gesehenen Effekt, dass auch die Patrioten auf diese Weise zu Feinden der Revolution gemacht würden (ob freiwillig oder missbraucht, sehenden Auges oder getäuscht ist dabei zweitrangig). „Was sind nun ihre Mittel, um an dieses Ziel (den Sturz der Revolution, AH) zu ge‐ langen? Die Macht der Priester und des Aberglaubens; die nicht minder große Macht der bei Hofe angehäuften Schätze; der Mangel an Bürgertugenden bei einer großen Anzahl von Verwaltungskörperschaften; die Korruption vieler öffentlicher Beamter; die fortschreitende Götzendienerei und Spaltung; das Anwachsen der gemäßigten Richtungen, der Zaghaftigkeit und nicht zuletzt der ministeriellen Einflüsse in der Nationalversammlung; die Intrigen aller ihre heimlichen Absichten unter dem Schleier der Verfassung verbergenden Führer jener riesigen Partei, die in ihr System alle schwachen Menschen einbezieht (…), und schließlich alle vom Schicksal be‐ günstigten Egoisten, die zwar die Verfassung lieben, soweit dieselbe sie mit denen gleichstellt, die über ihnen gestanden haben, die aber jene anderen nicht als ihres‐ gleichen anerkennen wollen, die sie als unter sich stehend betrachten.“ (124f.) Den Gegenpol zu allen diesen Strömungen, den Lügen und dem Verrat, bilde das Volk (in seiner Gesamtheit, nicht als Ansammlung von Einzelwillen), das von Robespierre zum Repräsentanten des Willens der Nation gemacht wurde.170 Hier liegt die Wurzel der politischen Philosophie des Rousseauisten Robespierre, wie an anderer Stelle ausführlicher zu zeigen ist. Der Unterschied zu Sieyès und an‐ deren, die diese Vokabel ebenfalls häufig gebrauchten, liegt darin, was jeweils unter „dem Volk“ verstanden wurde und ob man es als mündig oder als erst (von „oben“!) aufzuklärend betrachtete. Gleichzeitig dergestalt benannt sind die Grenzsteine zwi‐ schen Bourgeoisie und tatsächlicher Freiheit. Das Volk sei der Motor der Revolution – dies hatte Robespierre erkannt (auch wenn er selber eben genau deshalb später stürzen sollte). Man könne das Volk täuschen, habe dies ja letztlich sogar in der Rea‐ lität mehrfach, regelmäßig getan, eben indem man ihm den Krieg und damit den Un‐ tergang Frankreichs schmackhaft machte. Aber es werde der Moment kommen, wo das Volk den Verrat erkenne – die Frage sei nur, ob rechtzeitig genug (und in diesem Fall tatsächlich frei handelnd). „Im Falle eines vermuteten Verrats bleibt der Nation wie Sie sehr richtig erkannt haben, nur eine einzige Rettung, nämlich die heilsame 170 „Das Volk war in allen freien Ländern da, als es trotz seiner Rechte und seiner Allmacht von geschickten Männern für einen Augenblick eingeschläfert und dann für Jahrhunderte in Ket‐ ten gelegt wurde. Das Volk war da, als im letzten Juli mitten in dieser Stadt sein Blut floss, ohne dass es gerächt worden wäre; und auf wessen Befehl? Das Volk ist da; aber Sie, die Re‐ präsentanten, sind Sie nicht auch da? Und was tun Sie da, wenn Sie, anstatt die Pläne der Un‐ terdrücker des Volkes aufzudecken und zu vereiteln, nichts anderes wissen, als das Volk dem furchtbaren Recht der Volkserhebung zu überlassen und dem Ergebnis des Zusammenbruchs Frankreichs? (…) Man muss das Volk also überreden, die Augen nicht zu schließen, sondern sie offen zu halten; man darf nicht blind alles unterschreiben, was seine Feinde vorschlagen (…).“ (127)
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und sofortige Explosion der Empörung des französischen Volkes (…).“ (129) Nur eine Invasion ausländischer Mächte könne diese Erhebung auslösen. Die Regierung und der Hof würden dies sehr gut wissen und deshalb auf den Krieg setzen – auf den auswärtigen Krieg, jenseits der Grenzen.171 (Und eben mit unterschiedlichen Moti‐ ven, die führenden Parlamentarier zur Ablenkung von den inneren Problemen, Kö‐ nigshof und Klerus, um die Revolution zu stürzen.) Die Gegenvorschläge, die Robespierre machte, waren teilweise antizipierende Vorgriffe auf den künftigen Verlauf der Revolution. Dem Nein zum Krieg sollten korrespondieren die Herstellung einer inneren Homogenität und die Aufwertung des Volkes als politischer sowie tatsächlicher Macht. Die Revolution in Frankreich sei nicht zu Ende, sondern habe vielmehr ein erst vorläufiges Stadium erreicht – es gelte sie zu festigen, dann auszubauen und fortzuführen, und das alles in ständiger Wach‐ samkeit vor den Feinden im Inneren und Äußeren. „Man muss zunächst vielmehr überall und unverzüglich Waffen anfertigen lassen; man muss die Nationalgarde be‐ waffnen; man muss das Volk bewaffnen, und wenn es mit Piken ist; man muss stren‐ gere und von der bisherigen Handhabung abweichende Maßnahmen ergreifen, die es den Ministern nicht länger ermöglichen, ungestraft zu vernachlässigen, was die Si‐ cherheit des Staates erfordert; man muss die Würde des Volkes achten und seine be‐ reits äußerst gefährdeten Rechte verteidigen.“ (136) Korruption und Bürokratie müssten beseitigt werden, „schludrige Minister“ bestraft, Fehler sanktioniert, man habe „auf dem Beschluss zu beharren, die aufrührerischen Priester zu unterdrücken“. (136) Anders formuliert: Man müsse zuerst im Inneren aufräumen, was nichts ande‐ res heißt als – die Revolution fortführen. „Im Übrigen stehen wir vor einer entschei‐ denden Krise unserer Revolution; große Ereignisse werden rasch aufeinander folgen. Wehe denen, die unter diesen Umständen ihre Parteiinteressen, ihre Leidenschaften und ihre Vorurteile nicht dem Wohl der Allgemeinheit unterordnen!“ (138) An anderer Stelle erklärte er: „Aber wir müssen aus dem Zustand herauskommen, in dem wir uns befinden. Ja, es gibt zwei Türen, durch die man dieses Krankenzim‐ mer verlassen kann: Die natürliche und heilsame Krise und den Tod. Kann eine heil‐ same Krise sein, was die Brutstätte unseres Übels stärkt, was die Macht unserer Feinde erhöht und ihre Absichten unterstützt? (…) Es ist bewiesen, dass Ihre inneren 171 „Wann können freie Menschen, oder solche, die es werden wollen, alle ihre Kräfte, die ein solches Vorhaben verleiht, am besten entwickeln? Wenn sie zu Hause vor den Augen ihrer Mitbürger, ihrer Frauen und Kinder um ihre Heimstätten kämpfen. Dann können, sozusagen in jedem Augenblick, alle Bestandteile des Staates zur gegenseitigen, wechselseitigen Unter‐ stützung zusammenkommen, und durch die Kraft der Einheit und des Mutes können sie eine erste Niederlage vergelten und alle Vorteile der Disziplin und der Erfahrung der Feinde aus‐ gleichen. Dann kann von allen Anführern, die unter den Augen ihrer Mitbürger gezwungen sind zu handeln, keiner weder erfolgreich noch ungestraft Verrat üben. Alle diese Vorteile gibt man auf, wenn man den Krieg den Blicken des Vaterlandes entzieht, ihn in ein fremdes Land verlegt und damit den verderblichsten und dunkelsten Machenschaften ein freies Feld eröff‐ net; dann nämlich kämpft nicht mehr die ganze Nation für ihre eigene Sache, sondern es kämpft eine Armee und ein General, der über das Schicksal des Staates entscheidet.“ (130f.)
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und äußeren Feinde eine Partei bilden und Sie der Spielball beider sind. Wodurch kann man die Freiheit sichern, wenn die inneren Feinde weiterhin auf den Ruin der Nation sinnen? Die einzige Möglichkeit, die uns bleibt, besteht darin, dass die Nati‐ on der ständigen Angriffe der Tyrannei müde wird, ihre tückischen Absichten er‐ kennt, endlich erwacht und – von der Energie ihrer Repräsentanten unterstützt – schließlich ihre Rechte wieder wahrnimmt und ihre Leiden beendet; es ist, mit einem Wort, das öffentliche Bewusstsein. Wenn dieses heilige Feuer und diese heim‐ liche Kraft in den Seelen der Franzosen vorhanden sind, dann ist der Krieg unnötig; ist dies nicht der Fall, so wird der Krieg eine Geißel sein.“ (196f.) Am 20. April 1792 war der Krieg erklärt worden – und nun war es wichtig für die Bourgeoisie und den Hof, die letzten Kriegsgegner zu verfolgen und mundtot zu ma‐ chen. Marat versteckte sich in jenen Wochen in verschiedenen Unterschlüpfen, Ro‐ bespierre blieb auf seinem Posten. Brissot, der Führer der Girondisten, übernahm persönlich die Aufgabe, ihn zu verleumden – unter anderem mit dem Argument, dass Robespierre ein Agent Österreichs sei, und nur gegen den Krieg argumentiere, um Frankreich zu schaden und den Monarchien, die unterliegen würden, zu nutzen. Robespierre wehrte sich am 27. April schriftlich gegen diese Anschuldigungen:172 „Ich kenne nur eine einzige Verhaltensregel, nämlich die, die auf der Erklärung der Menschenrechte und auf den Grundsätzen unserer Verfassung beruht. Überall wo ich ein System sehe, das diese Verhaltensregeln ständig verletzt, überall, wo ich Ehrgeiz, Intrige, List und Machiavellismus bemerke, erkenne ich eine Partei; jede Partei hat aber naturgemäß das Bestreben, das allgemeine Interesse dem Einzelinteresse unter‐ zuordnen. (…) Ich glaube, dass unser öffentliches Wohl und die Souveränität des Volkes nur aus den Ruinen aller Parteien hervorgehen kann, und in dem Labyrinth der Intrigen, des Verrats und der Verschwörungen suche ich nach dem Weg, der zu diesem Ziel führt; das ist meine Politik, und das ist der einzige Leitfaden, der die Schritte der Freunde der Vernunft und der Freiheit lenken kann. Wie groß die Anzahl und die Nuancen der verschiedenen Parteien auch sein mögen, ich sehe nur, dass alle sich gegen die Gleichheit und gegen die Verfassung verschworen haben; erst nach‐ dem sie die Gleichheit und die Verfassung abgeschafft haben, werden sie sich um die öffentliche Macht und um die Substanz des Volkes streiten.“ (206) Zwei Überlegungen treffen hier aufeinander: Die Revolution ist noch nicht been‐ det, sie muss also fortgesetzt werden, und um dies zu ermöglichen, sind zunächst die bisherigen Errungenschaften, so halbherzig und fehlerhaft sie auch sein mögen, zu sichern. Im Mai 1792 erklärte Robespierre in der Darlegung meiner Grundsätze:173 „Ich will die Verfassung verteidigen, und zwar so wie sie ist. Man hat mich gefragt, warum ich mich zum Verteidiger eines Werkes mache, dessen Mängel ich oft ange‐ zeigt habe. Ich gebe zur Antwort, dass ich mich als Mitglied der Verfassungsgeben‐ 172 Abgedr. in: Robespierre 1989, S. 205–208. 173 Abgedr. in: Robespierre 1989, S. 209–220.
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den Versammlung mit aller Kraft gegen alle Gesetze gewandt habe, die von der öf‐ fentlichen Meinung verworfen werden; seitdem jedoch die Verfassung in Kraft ge‐ treten ist und allgemeine Zustimmung erfuhr, habe ich mich immer darauf be‐ schränkt, eine getreue Ausführung dieser Verfassung zu verlangen.“ (209) Er ging dabei von der Feststellung aus: „Alle politischen Verfassungen sind für das Volk geschaffen; alle Verfassungen, in denen das Volk nicht zählt, sind nur An‐ schläge gegen die Menschlichkeit!“ Die Verfassung von 1791 sei zumindest ein Schritt in die richtige Richtung: „Ich bin republikanisch, ja, ich will die Grundsätze der Gleichheit und die Wahrung der heiligen Rechte verteidigen, die dem Volk von der Verfassung dem gefährlichen System jener Intriganten gegenüber gewährt wer‐ den, die das Volk nur als ein Instrument ihres Ehrgeizes betrachten.“ (212) Diese, seine Grundsätze machte Robespierre dann zur Richtschnur des Handelns des Vol‐ kes: „Franzosen, Vertreter des Volkes, scharrt Euch also um die gegenwärtige Ver‐ fassung, verteidigt sie gegen die Exekutive, verteidigt sie gegen die Aufrührer und unterstützt nicht die Absichten derer, die nur vorgeben, sie sei unausführbar, weil sie sie nicht ausführen wollen.“174 (218) Im Mai 1792, dies ist abschließend zu erwähnen, stellte Robespierre auch Be‐ trachtungen über die Möglichkeit, den Krieg auf eine nützliche Weise zu führen an.175 Nachdem dieser gegen seine Warnungen nun doch ausgebrochen sei, müsse es darum gehen, ihn zum Nutzen des französischen Volkes zu führen: „Wir wollen einen Krieg des Volkes gegen die Tyrannei führen, und nicht einen Krieg des Hofes, der Patrizier, der Intriganten und der Wucherer gegen das Volk. Der Krieg, den wir begonnen haben, hat mit einem Rückschlag angefangen; er muss mit einem Sieg der Freiheit enden, oder damit, dass die Franzosen bis zum letzten Mann vom Erdboden verschwinden.“ (221) Zudem erinnerte Robespierre daran, dass die schnellen und mühelosen Erfolge, die Hof und Regierung und Girondisten versprochen hatten, sich als Chimäre entpuppten: „Wie schnell sind wir von jener Höhe herabgefallen, auf die uns die Redner gehoben hatten, als sie uns, um unsere Begeisterung zu entflam‐ men, schon ausmalten, wie durch unsere Hände alle Throne erschüttert und alle Völ‐ ker befreit würden! (…) Und heute ist es ein Verbrechen, einen Verrat zu vermuten!“ (230) Der Krieg, da real existent, müsse zur nationalen Angelegenheit und damit ein Teil der Revolution werden, so Robespierre programmatisch. Dies bedeutete für ihn, dass die adligen Generäle und Heerführer abzusetzen und durch bürgerliche Solda‐ ten zu ersetzen seien. Fehlverhalten der Führungsebene müsse hart sanktioniert wer‐ den – denn die Vertreter der Gesetzgebenden Versammlung, die den Krieg fordern‐ 174 Und weiter: „Bei der Verteidigung der Verfassung werden wir nicht vergessen, dass die Zei‐ ten der Revolution nicht mit den Zeiten der Ruhe verglichen werden können, und dass die Politik unserer Feinde schon darin bestand, diese Zeiten durcheinander zu bringen, um auf le‐ galem Wege das Volk und die Freiheit zu morden.“ (219) 175 Abgedr. in: Robespierre 1989, S. 221–233.
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den Girondisten, würden diesen ja kaum selber führen.176 Und auch sein ursprüngli‐ ches Argument fand erneut Verwendung: „Um den Krieg gegen unsere äußeren Feinde wirksam zu führen, ist eine allgemeine Maßnahme absolut unerlässlich: Man muss gegen die inneren Feinde Krieg führen, nämlich gegen die Ungerechtigkeiten, die Aristokratie, den Verrat und die Tyrannei.“ (231) Robespierres Engagement gegen den Krieg war zwar zuvorderst tagesaktuell und hatte vor allem Bezug zur Gegenwart. Gleichwohl kann nicht bestritten werden, dass seine Anmerkungen Teil größerer, auch geschichtsphilosophischer Überlegungen sind. Sein eigenes Handeln begriff er als Agieren in einer Gesellschaft, die die freie Meinungsäußerung aller zulasse – mithin eine bürgerliche Gesellschaft. Eben dies ist ja der Ankergrund seiner Verteidigung der ursprünglich von ihm kritisierten Verfas‐ sung von 1791.177 Das französische Volk habe seine Freiheit errungen, diese stehe angesichts des Krieges vor schweren Herausforderungen und Gefährdungen, man dürfe aber auch nicht vergessen, dass der Umbruch erst zwei, drei Jahre alt sei, also kaum eine „zeitliche“ Chance hatte, das Leben, das Bewusstsein, die Einstellung je‐ des Einzelnen dauerhaft zu determinieren. „Es liegt in der Natur der Sache, dass der Sieg der Vernunft nur langsame Fortschritte macht. Auch die schlechteste Regierung findet in den Vorurteilen, in den Gewohnheiten und in der Erziehung der Völker noch immer eine mächtige Stütze. Der Despotismus selbst kann den Geist der Men‐ schen so weit verderben, dass er sich von ihnen anbeten lässt und dabei die Freiheit bei der ersten Berührung als verdächtig und erschreckend erscheinen lassen kann. Die ausgefallenste Idee, die im Kopf eines Politikers entstehen kann, ist die Vorstel‐ lung, es würde für ein Volk genügen, mit Waffengewalt bei einem anderen Volke 176 Im Jakobinerklub hielt Robespierre am 2. Januar 1792 den Girondisten eben dies in bitterer Ironie vor: „Sie übernehmen ja selbst die Eroberung Deutschlands; zuerst führen Sie unsere siegreiche Armee zu allen benachbarten Völkern; Sie richten überall Gemeindehäuser, Direk‐ torate und Nationalversammlungen ein, und Sie selbst verkünden, dass dieser Gedanke erha‐ ben sei, als ob sich das Schicksal von Königreichen durch Redewendungen bestimmen ließe. Unsere Generäle, von Ihnen geführt, sind nur noch Missionare der Verfassung; unser Feldla‐ ger ist eine einzige Schule des öffentlichen Rechts; die Satelliten der fremden Monarchen, weit davon entfernt, diesem Plan überhaupt Widerstand entgegenzusetzen, eilen uns entge‐ gen, nicht um uns zurück zu treiben, sondern um uns zu lauschen.“ (155) 177 „Ich erkläre meinerseits ausdrücklich, dass ich weit davon entfernt bin, mein persönliches In‐ teresse mit dem der Verfassungsgebenden Versammlung gleichzusetzen, sondern dass ich sie vielmehr als eine Macht ansehe, die nicht mehr besteht und über die das strenge Urteil der Nachwelt befinden soll. Ich erkläre, dass niemand den Repräsentanten des Volkes ganz allge‐ mein mehr Achtung entgegenbringt als ich, dass niemand größere Ehrfurcht und Verbunden‐ heit für die patriotischen Abgeordneten empfindet, die Mitglieder dieser Gesellschaft sind. Ich bin sogar überzeugt, dass die meisten Fehler, die unsere augenblickliche Legislative bege‐ hen könnte, auf die Fehler der ersten Versammlung zurückzuführen sind. (…) Ich glaube fer‐ nerhin, eine Pflicht gegenüber der Brüderlichkeit sowie gegenüber dem Bürgersinn zu erfül‐ len, wenn ich meine Meinung über alle Fragen, die das Vaterland und seine Vertreter interes‐ sieren, frei zum Ausdruck bringen; ich denke sogar, dass diese den Freundschaftsbeweis jener Überlegungen nicht zurückweisen sollten, die mir die reine Sorge um das Gemeinwohl dik‐ tiert und in die einiges Vertrauen zu setzen mir meine Erfahrung aus drei Jahren Revolution vielleicht das Recht gibt.“ (154f.)
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einzudringen, um es zur Annahme seiner Gesetze und seiner Verfassung zu bewe‐ gen. Niemand mag bewaffnete Missionare; und der erste Rat, den die Natur und die Vorsicht einem eingeben, besteht darin, die Eindringlinge wie Feinde zurückzuschla‐ gen.“ (155f.) Deutlich wird Robespierres grundlegender Gedanke in den folgenden Sätzen, die seine politische Philosophie – jene Gedanken, die über die aktuelle Bedeutung des Krieges hinausreichen – gut zusammenfassen: „Bevor sich die Wirkung unserer Re‐ volution bei fremden Völkern bemerkbar macht, muss der Erfolg der Revolution erst gefestigt sein. Anderen die Freiheit geben zu wollen, bevor wir sie selbst erworben haben, das hieße, unsere eigene Knechtschaft gleichzeitig mit der der ganzen Welt zu verankern; es hieße auch, sich von den Dingen eine übertriebene und irrige Vor‐ stellung zu machen, wenn man annimmt, dass, sobald sich ein Volk eine Verfassung gibt, alle anderen im gleichen Augenblick auf dieses Signal reagieren werden. Hätte das Beispiel von Amerika, das Sie angeführt haben, ausgereicht, unsere Ketten zu sprengen, wenn nicht die Zeit und das Zusammenfallen glücklichster Umstände die‐ se Revolution unweigerlich herbeigeführt hätten? (… Auslassung bereits zitiert, AH) Wird die Gleichheit der Rechte schon irgendwo anders sichtbar als in den Grundsät‐ zen unserer Verfassungsurkunde? Erheben nicht der Despotismus und die Aristokra‐ tie, die unter neuen Formen wieder aufleben, noch immer ihr abscheuliches Haupt? Wird nicht noch immer die Schwachheit, die Tugend und die Unschuld im Namen der Gesetze und sogar im Namen der Freiheit unterdrückt?“ (156) Es ist in der Forschungsliteratur oftmals die Rede von dem Rousseauisten Robes‐ pierre – ein Urteil, das in wiederkehrender Regelmäßigkeit negativ konnotiert ist. Doch gerade im hier relevanten Zusammenhang sehen wir Robespierre in jener Rousseau-Tradition, die das Gewachsene und Historische der jeweiligen geschichtli‐ chen Situation betont und darauf sorgsam, gerade nicht mit vorgefertigten Schablo‐ nen reagiert. Der Weg reicht von den Verfassungsentwürfen Rousseaus für Korsika und Polen bis zum politisch-theoretischen Engagement Robespierres nicht in einem verqueren totalitaristischen Sinn, sondern als emanzipatorische Selbstbefreiung des Menschen, jedes einzelnen Individuums und damit letztlich aller. Diese Überlegun‐ gen werden später expliziert. Die Äußerungen Robespierres können durchaus als eine Stellungnahme zum er‐ reichten (und nicht genügenden) Stand der Revolution gelesen werden. Mit Blick auf die Völker, die die Gesetzgebende Versammlung durch den Krieg zu befreien und zu beglücken gedachte, thematisierte Robespierre auch den „natürlichen“ Ver‐ lauf von Revolutionen: „In den konstitutionellen Staaten, nämlich in fast allen Staa‐ ten Europas, gibt es drei Gewalten: Den Monarchen, die Aristokraten und das Volk – oder vielmehr: Das Volk ist bedeutungslos. Wenn in diesen Ländern eine Revolution stattfindet, so kann sie nur stufenweise vor sich gehen; sie beginnt bei den Adligen, bei der Geistlichkeit und bei den Besitzenden, und das Volk unterstützt sie, wenn
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sein Interesse sich mit dem Interesse dieser Gruppen verbindet in der Absicht, der herrschenden Gewalt, d. h. der Gewalt des Monarchen zu widerstehen.“178 (158) Das entwickelte Verlaufsschema, das in der Tat die Französische Revolution gut zusammenfasst, sei im Prinzip insofern universell, als auch die Revolutionen in an‐ deren europäischen Staaten, wenn überhaupt, dann nach diesen Prämissen von Stat‐ ten gehen würden. Es genügt, an die Entwicklung in den verschiedenen deutschen Klein- und Kleinststaaten zu denken, an das Verhalten der entsprechenden Intellek‐ tuellenschicht. Ursprünglich teilweise von der Revolution begeistert sank die Zu‐ stimmung wegen Kleinigkeiten auf den Nullpunkt und schlug schließlich in konkre‐ ten Revolutions-Hass um. Das deutsche Bürgertum floh, angeleitet von seiner intel‐ lektuellen Führungsschicht (bis hin zu beziehungsweise besser: angefangen bei Goe‐ the und Schiller), in die Arme von Reaktion, Adel und Klerus, als es mit der Be‐ fürchtung konfrontiert wurde, dass das Volk die Macht übernehmen könnte. Engstir‐ nigkeit und Angst machten die Befreiung des Menschen zunichte. In Deutschland, wie einer unserer großen Dichter nach Jahren der Verblendung, nachdem er zum Hu‐ manismus gefunden hatte, treffend bemerkte: Von Luther bis Hitler. Weiter heißt es bei Robespierre: „So sind es auch bei ihnen die Parlamente (ge‐ meint sind die Parlements, AH), die Adligen, die Geistlichkeit und die Besitzenden gewesen, die den Anstoß zur Revolution gegeben haben; dann erst ist das Volk in Erscheinung getreten. Sie haben es bereut, oder sie wollten zumindest die Revoluti‐ on aufhalten, als sie feststellten, dass auch das Volk seine Souveränität wieder erlan‐ gen könnte; aber sie selbst hatten begonnen; und ohne ihren Widerstand und ohne ihre falschen Rechnungen wäre die Nation noch immer unter dem Joch des Despo‐ tismus.“ (159) Die Kriegspolitik der Girondisten hatte Robespierre also auch dazu gebracht, über die soziale Dimension der Revolution nachzudenken. Der Dritte Stand, von dem noch Sieyès geredet und für den er die gleichen Rechte wie Robes‐ pierre eingefordert hatte (allerdings nur auf dem Papier und nur für eine bestimmte soziale Schicht), war so nicht mehr existent – er zerfiel vielmehr, dieser Begriff ist angebracht, in Klassen: Ausbeuter und Ausgebeutete. Robespierre hatte ein neues Zeitalter gesehen. Am 25. Januar 1792 wurde Robespierre noch direkter: „Eine große Nation muss bei allen ihren Unternehmungen zu allererst die Grundsätze der Vernunft und Weis‐ heit berücksichtigen und reiflich die Unannehmlichkeiten gegen die Vorteile der ver‐ schiedenen Richtungen, die sie einschlagen kann, abwägen. Ihre Kräfte sind nutzlos, 178 „Anhand dieser geschichtlichen und moralischen Wahrheit können Sie beurteilen, bis zu wel‐ chem Punkt Sie auf die Nationen Europas im Allgemeinen rechnen dürfen; denn dort sind die Aristokraten weit davon entfernt, das Zeichen zum Aufstand zu geben, sie sind durch unser Beispiel sogar gewarnt und bleiben dem Volk und der Gleichheit gegenüber ebenso feindlich eingestellt, wie die unsrigen; sie haben sich wie diese mit der Regierung verbunden, um das Volk in Unwissenheit und in Ketten zu halten und um der Erklärung der Rechte zu entgehen.“ (159)
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wenn sie nicht richtig angewendet und gelenkt werden.“ (195) Das ist noch einmal, jetzt geschichtsphilosophisch verallgemeinert, das Prinzip, die Revolution zuerst im eigenen Land kontinuierlich und konsequent zu Ende zu führen – und zwar auf der Basis der Befreiung des Volkes, getragen durch das Volk: „Die Nation entwickelt ihre wirklichen Kräfte nur in den Augenblicken der Volkserhebung; hier aber kann von einem Aufstand gar keine Rede sein. Seit dem 14. Juli haben sich die Zeiten ge‐ ändert. Damals war das Volk tatsächlich souverän; heute ist es nur dem Namen nach frei. Damals zitterte der Despotismus; heute droht er. Damals floh die Aristokratie; heute spottet sie. Damals wurde das Gesetz vom Patriotismus diktiert; heute besorgt das die Intrige. Der Hof war ruiniert und streckte die Hände bittend den Volksvertre‐ tern entgegen; heute ist er Herr über das Staatsvermögen, und die ganze Macht der Nation liegt in seinen Händen. Es herrschten Einigkeit und Brüderlichkeit, und das Wort Bürgerkrieg löste Gelächter aus; heute zeigt uns der Bürgerkrieg sein abscheu‐ liches Gesicht, und der Verrat stellt seine Fallen rings um uns herum.“179 (195f.) Robespierre sprach für den Frieden und dabei gleichzeitig, das ist der humanisti‐ sche Grundzug seines Denkens, von dem Menschen, von der Würde des Menschen, von der Würde des Volkes. Das Frankreich der Revolution, nach der Revolution – es sollte ein schönes Land sein, eines, in dem die freie Entfaltung einer möglichst gro‐ ßen Zahl von Bürgern gewährleistet werden kann. Dies ist die eine Ebene seiner Ar‐ gumentation, die andere ist äußerst rationell und klar blickend: Er durchschaute als einer der wenigen die Pläne des Hofes, er sah, dass der Krieg nach außen die Revo‐ lution zerstören sollte. Mit den Ergebnissen, die der Umbruch bisher gezeitigt hatte, war er nicht zufrieden, aber er war gleichwohl bereit, diese ersten Ansätze, die es weiterzuführen gelte, mit aller Macht zu verteidigen. Inmitten der Bourgeoisie und als durchaus bürgerlicher Denker bezog er eine Position, die den Idealen der Aufklä‐ rung, praktisch geworden, entsprach. Es wird oft und gerne darüber gesprochen und diskutiert, inwieweit und wann und warum welcher Revolutionär wo und weshalb Rousseau rezipierte. (Für Robespierre wurde dies gerade kurz angesprochen.) Aus konservativer Sichtweise wird dann schnell die Linie Rousseau – Robespierre – Ter‐ ror konstruiert. Aber es ging Robespierre nicht darum, die vermeintliche Utopie Rousseaus einem Land und einem Volk aufzupfropfen. Er wollte die Freiheit der französischen Nation – so, wie sie die radikalen Aufklärer (Diderot, La Mettrie, Mo‐
179 Weiter: „Aber man muss wohl oder übel den Generälen der Exekutive gehorchen und sich von den Ministern führen lassen. Ich weiß es, und darum will ich diesen Krieg nicht, darum möchte ich lieber unsere ganze Energie und alle unsere Hilfsmittel gegen unsere inneren Feinde sammeln. Es ist leichter für Sie, zu beweisen, dass man dem Hof gehorchen muss, als zu erklären, wie ein Kriegssystem, das vom Hofe geleitet wird, uns zur Freiheit führen kann; und wie sollten Sie das auch können, wo Sie selbst zugeben, dass der glücklichste Umstand, der uns erwarten könnte, der Verrat und das darauf folgende Unheil sei, und dass wir nicht einmal auf diese Art des Glücks mit Bestimmtheit hoffen dürfen.“ (196)
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relly, Meslier, Mercier, teilweise Holbach und Helvétius) erdacht („entdeckt“?) und verstanden hatten. Zu dem Zeitpunkt, um den es gerade geht, ist das Vermächtnis Robespierres nicht die Guillotine, sondern die umfassende Entfaltung der Freiheit zwischen den Polen Notwendigkeit, Vernunft, Revolution. Wegen ihrer grundhumanen, menschlichen Positionen wirken Robespierre und seine wenigen Verbündeten wie ein Fremdkörper in der kriegslüsternen Grundstimmung der Bourgeoisie. Die überzeugte Royalistin und Girondistin Charlotte Corday übernahm einige Monate später die Aufgabe, Ma‐ rat dies klar zu machen. Sie ermordete ihn kaltblütig. So einfach kann die Politik der Bourgeoisie sein. Aber solche Taten und Opfer werden selten gezählt. In Europa überwog in jenen Tagen die Trauer und Bestürzung darüber, dass der französische Staat der Mörderin den Prozess machte.
i) Der Herbst der Bourgeoisie. Der 10. August und seine Folgen Der 10. August ist in der Geschichte der Revolution ein Datum, das Zensur ebenso markierte wie es mit Prinzipien und Paradigmen brach, die die zurückliegenden Jah‐ re bestimmt hatten. „Gegen die Monarchie, die mit dem Feind paktiert hatte, erhob sich nicht allein Paris, sondern das ganze Land. Der Aufstand vom 10. August war nicht das Werk nur des Volkes von Paris, sondern vielmehr des französischen Vol‐ kes, vertreten durch die Abgeordneten des Föderationsfestes; von der 'Revolution des 10. August 1792' hat man sagen können, dass sie die ganze Nation erfasste. Die patriotische Bewegung war in Gang gesetzt worden; nichts konnte sie mehr aufhal‐ ten.“180 Doch nicht nur gegen die Monarchie – hier verstanden als das ganze System von König, Hof, Adel, Emigranten und Klerus – richtete sich, wie bereits angedeutet, das Engagement der Volksmassen, sondern auch gegen die bürgerliche politische Füh‐ rung. Insofern charakterisierte Albert Mathiez die Revolution in der Revolution et‐ was präziser: „Doch der Aufstand vom 10. August, der einen ganz anderen Charak‐ ter als die früheren hatte, war nicht allein gegen den Thron gerichtet. Er war ein Auf‐ stand des Misstrauens und der Drohung gegen die Nationalversammlung selbst, die den rebellischen General La Fayette freigesprochen und die Petitionen, die die Ab‐ setzung des Königs forderten, in aller Form verworfen hatte. Dadurch war eine neue Lage geschaffen. Gegenüber der legalen Macht trat eine revolutionäre auf den Plan. Der Kampf zwischen den beiden füllt die sechs Wochen aus, die dem Zusammentritt des Konvents vorangehen.“181
180 Soboul 1983, S. 219. 181 Mathiez 1950, I, S. 237.
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Von der allgemeinen Gärung im Sommer des Jahres 1792 wurde bereits gespro‐ chen. Es waren einzelne Tropfen in das sprichwörtlich überlaufende Fass, die das Volk in Bewegung setzten (sie klangen bei der Schilderung der bourgeoisen Kriegs‐ propaganda bereits an). „Der Aufstand vom 10. August war national im vollen Wortsinn.“182 Bereits im Juli hatte die Pariser Sektion Mauconseil den Beschluss ge‐ fasst, Ludwig XVI. nicht mehr als König der Franzosen anzuerkennen. Brissot be‐ kannte daraufhin Farbe, wo die Gironde in den Auseinandersetzungen stehen würde: „Wenn es Menschen geben kann, die auf den Trümmern der Verfassung jetzt die Re‐ publik aufzurichten beabsichtigen, dann sollte das Schwert des Gesetzes sie ebenso treffen wie die aktiven Freunde des Zweikammersystem und die Gegenrevolutionäre von Koblenz.“183 Kurze Zeit später (am 4. August) zeigte Robespierre, der sich be‐ reits zuvor deutlich gegen die Girondisten positioniert hatte, eine neue Verschwö‐ rung der Aristokraten an, den Plan eines erneuten Fluchtversuch des Königs. Haupt‐ ursächlich zu verantworten von La Fayette. Trotz handfester Beweise sprach die Versammlung am 8. August La Fayette von den Vorwürfen frei. In der Nacht vom 9. zum 10. August entsandten die Sektionen Kommissare ins Stadthaus – mit dem Ziel der Bildung einer Gegenregierung. Das Volk stand auf. Wie schon 1789 bei der Eroberung der Bastille marschierten zehntausende Männer und Frauen und begannen, die Tuilerien, den Wohnort des Königs und seiner Fami‐ lie, zu belagern. Die dort stationierten königstreuen Schweizer-Garden eröffneten das Feuer und richteten unter den Zivilisten ein Blutbad an. Der Thron hatte sich für das Morden entschieden. Kurze Zeit später trafen die bewaffneten Verbände der Sektionen ein und begannen mit dem Gegenangriff. Auf Befehl des Königs, nach‐ dem dieser die Ausweglosigkeit seiner Situation erkannt hatte, wurde schließlich das Feuer eingestellt. „Die Demonstranten vom 10. August gehörten durchaus nicht zum Bodensatz des Volkes. Von den 376 Gefallenen und Verwundeten184 waren fast ein Viertel Föderierte, samt und sonders Bürger aus den Provinzen. Unter den Parisern bezahlten viele kleine Ladenbesitzer, Handwerker und Arbeiter ihren Mut mit dem Tode. Wieder einmal haben die Vorstädte sich hervorgetan und wieder einmal haben die Szenen des Aufruhrs eher das Fortbestehen der alten psychologischen Bedingt‐ heiten als ein Auseinanderfallen der sozialen Schichten bewiesen. Der 10. August vollendet, was mit der Flucht nach Varennes begonnen hat.“185 Die Gesetzgebende Versammlung verhielt sich während dieser Stunden überaus zaudernd. Anfangs betrachtete sie Ludwig XVI. nach wie vor als amtierenden Kö‐ 182 Markov/Soboul 1989, S. 230. 183 Zit. bei: Mathiez 1950, I, S. 226. 184 Furet und Richet setzen die Zahl der Opfer zu gering an. Es ist von über 500 Toten und Ver‐ wundeten auf Seiten des Volkes auszugehen, da die Schweizer-Garde und Adlige auf die Menschenmenge in den Höfen ununterbrochen schossen. Erst als die Sektionen schließlich mehrere Kanonen heranschafften, ergab sich der König. 185 Furet/Richet 1997, S. 202.
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nig. Nachdem die Auseinandersetzungen beendet waren, hatte sich Ludwig zur Ver‐ sammlung begeben und bat um Zuflucht. „Doch als der endgültige Sieg des Auf‐ stands bekannt wurde, verkündete die Nationalversammlung die Abhebung des Kö‐ nigs vom Amt und beschloss zur großen Wut Brissots die Einberufung des von Ro‐ bespierre geforderten Konvents. Der abgesetzte König wurde unter eine starke Be‐ wachung gestellt. Die Nationalversammlung wollte ihm das Luxembourg-Palais ein‐ räumen, doch der revolutionäre Gemeinderat verlangte, dass er nach dem Temple, in ein viel engeres und leichter zu bewachendes Gefängnis, abgeführt werde. Der Thron war umgestürzt und mit ihm zugleich fielen seine letzten Verteidiger, jene Minderheit des Adels, welche die Revolution entfesselt und sich eingebildet hatte, sie zu lenken und mäßigen zu können, und so lange sie regierte (…) in dieser Illusi‐ on verharrte.“186 La Fayette versuchte noch zu retten, was nicht mehr zu retten war. Es gelang ihm zwar, „den Stadtrat von Sedan zur Verhaftung der Republikaner zu bewegen“.187 Doch jene Armee, die er nach Paris in Marsch zu setzen gedachte, zer‐ fiel in sich selbst. Er floh daraufhin – am 19. August – nach Belgien. Albert Mathiez hat mit Blick auf die geschilderten Ereignisse den Satz geprägt: „Die Demokratie war im Anzug.“188 Ein zutreffendes Urteil, da es voraussetzt, dass die Herrschaft der Bourgeoisie in der Nationalversammlung und in der Gesetzgeben‐ den Versammlung, in letzterer besonders, nicht demokratisch legitimiert war, viel‐ mehr nur die eine Aristokratie (qua Blut) durch eine andere (das Geld und damit die Bereitschaft, seinen Mitmenschen zu übervorteilen und zu betrügen) ersetzt hatte. Das Volk in seiner Gesamtheit spielte nach wie vor keine Rolle im offiziellen Staats‐ apparat. Es musste seine Ansprüche und Wünsche immer mit Machtdemonstrationen auf der Straße geltend machen. „Die Kommissare der Pariser Sektionen, die in der Nacht vom 9. zum 10. August als revolutionäre Kommune im Stadthaus sich konsti‐ tuierten, hatten ihre Vollmachten Kraft unmittelbarer Wahl durch das Volk. Gegen‐ über der aus indirekten und Zensuswahlen hervorgegangenen Nationalversammlung, die dazu durch die Desavouierung und Bedrohung der Republikaner, durch die ge‐ heimen Verhandlungen ihrer Führer mit dem Hof diskreditiert war, stellte die Kom‐ mune eine neue Legalität dar. Gestärkt durch das Prestige ihres über die Verteidiger des Schlosses errungenen blutigen Sieges, im Bewusstsein des gewaltigen Dienstes, den sie der Revolution und Frankreich durch die Niederschlagung des königlichen Verrats geleistet hatte, war sie nicht gewillt, sich ihre Tätigkeit auf den engen Kreis ihrer Gemeindezuständigkeit beschränken zu lassen.“189 Die Gironde setzte unverdrossen ihre Politik fort, ohne Intrigen ist die Bourgeoi‐ sie keine richtige. Es fehlt ihr etwas. „Die tragische Lage hinderte die Girondisten 186 187 188 189
Mathiez 1950, I, S. 232. Richter 1989, S. 194. Mathiez 1950, I, S. 232. Mathiez 1950, I, S. 238f.
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jedoch nicht, sich der Kommune des 10. August entgegenzustellen. Während diese sich ganz und gar der nationalen Verteidigung widmete, mit äußerster Energie die Befestigungsarbeiten vor der Stadt vorwärts trieb, um ein Lager einzurichten, alle Bürger aufforderte, an den Gräben mit zu schanzen, wie sie es für die Föderations‐ feier auf dem Marsfelde getan; während sie 30.000 Piken herstellen ließ und am 27. August zu neuen Rekrutierungen schritt, die sich unter größter Begeisterung vollzogen; während sie die Verdächtigen entwaffnete, um die an die Front Abziehen‐ den mit Waffen zu versehen, dachte die Nationalversammlung nur daran, für ihre früheren Demütigungen Rache zu nehmen und ihre politischen Rivalen niederzu‐ schlagen, um sich desto bequemer der bevorstehenden Wahlen zum Konvent zu be‐ mächtigen! Darüber schwoll der Zorn an.“190 Walter Markov und Albert Soboul er‐ klärten ähnlich: „Der Umstand, dass das Volk der 'Sansculotten' als selbständiger Faktor in die politische Auseinandersetzung eingriff, weckte Sorgen und Bedenken bei einer einflussreichen Fraktion der Bourgeoisie und entfremdete sie der fort‐ schreitenden Wirklichkeit. Schon bildeten sich erste Widerstände gegen eine demo‐ kratische Republik, die sich in der 'Revolution vom 10. August' anzukündigen schien.“191 Die Wochen nach dem 10. August wurden, wie erwähnt, von dem entstandenen Gegensatz zwischen Kommune und Gesetzgebender Versammlung bestimmt, im Konvent schließlich trugen diese beiden Gewalten als Bergpartei und Gironde (zwi‐ schen, hinter denen beiden aber immer das Volk mit weiteren, anderen Forderungen stand, die auch von den Jakobinern nie gänzlich erfüllt wurden) ihre Konfrontatio‐ nen weiter aus. „Die Sieger des 10. August waren fest entschlossen, ihren Willen durchzusetzen. Die Gesetzgebende Versammlung musste die aufständische Kommu‐ ne anerkennen, die in den Wahlen auf 288 Mitglieder angewachsen war – sämtlich der kleinen und mittleren Bourgeoisie entstammend. Doch stemmte sich die Ver‐ sammlung, in der die Gironde als Partei der Großbourgeoisie und der Legalität das Übergewicht hatte, mit Nachdruck gegen die revolutionären Maßnahmen, für die die Kommune das Vorbild abgegeben hatte und deren Erbe die Bergpartei antrat.“192 Um die Massen zu beruhigen und die eigene Macht zu konsolidieren musste die Gironde immer wieder Zugeständnisse machen, freilich halbherzig, unentschlossen, oftmals an den falschen Stellen und die Konsequenzen nicht erkennend. Die Kom‐ mune verlangte vor allem – in Anbetracht der Konterrevolution, der Emigranten, die gegen Frankreich ja bereits Krieg führten, und der intriganten Politik des Hofes samt Teilen der Gesetzgebenden Versammlung – durchaus nachvollziehbar die „Säube‐ rung“ der Gesellschaft. Am 17. August gab die Versammlung der Einsetzung eines 190 Mathiez 1950, I, S. 251. 191 Markov/Soboul 1989, S. 231; eine beeindruckende Quellenauswahl bietet der Band: Markov/ Soboul 1957, auf den noch zurückgegriffen wird. 192 Soboul 1983, S. 227.
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Sonderstrafgerichtshofs nach, der die Verbrechen der Konterrevolution aburteilen sollte. 9 Tage später, am 26. August, wurde beschlossen, endlich gegen die eidver‐ weigernden Priester vorzugehen. Um die Deportation nach Guayana zu vermeiden, sollten diese innerhalb von zwei Wochen Frankreich verlassen. Am 30. August schließlich begannen die seit dem 28. August sanktionierten Hausdurchsuchungen, um des unerlaubten Waffenbesitzes Herr zu werden. In zwei Tagen wurden ca. 3000 Verdächtige festgenommen, die meisten von ihnen nach Anhörungen allerdings wie‐ der freigelassen. Es war trotz allem ein durchaus funktionierendes System entstan‐ den, das gewisse rechtliche Standards weitaus stärker wahrte und berücksichtigte als beispielsweise des Ancien Régime oder die girondistischen Institutionen der Revo‐ lutionszeit. Die Nachrichten des Krieges verliehen diesen Tagen eine eigene, durch nichts zu bremsende Dynamik. Am Morgen des 2. September wurde bekannt, dass der Feind Verdun belagerte. Der Ruf der Kommune erreichte die ganze Stadt: „Zu den Waffen, Bürger, zu den Waffen. Der Feind steht vor den Toren!“ Erneut erhob sich das einfa‐ che Volk, um Leib und Leben und Freiheit bangend, zur Verteidigung der Revoluti‐ on, die seine noch nicht war, sondern erst werden musste. „Einmal mehr gab die Kommune ein Beispiel patriotischer Begeisterung. In dieser von Kanonendonner und Sturmglocke überhitzten Atmosphäre breitete sich die quälende Furcht vor Ver‐ rat immer weiter aus. Die Freiwilligen bereiteten sich darauf vor, kolonnenweise ab‐ zumarschieren; das Gerücht kam auf, dass sich hinter ihrem Rücken die gefangen gesetzten Verdächtigen erheben würden, um in die Hände des Feindes zu arbei‐ ten.“193 Am Nachmittag des 2. September eskalierte dann die Situation. Eidverweigernde Priester wurden in das Gefängnis Abbaye gebracht und dort hingerichtet. Die Menge zog zu einem weiteren Gefängnis, wo sie ebenfalls wütete. Daraufhin übernahm die Kommune die Macht und Verantwortung und setzte Volksgerichte ein. In den nächs‐ ten Tagen wurden zahlreiche Todesurteile gegen die Priester gesprochen. Insgesamt wurden mehr als 1000 Gefangene getötet, die meisten waren nach damals geltendem Recht inhaftiert. Wie sind die Taten einzuordnen? Auf jeden Fall sollte man es sich nicht so einfach machen, wie die oftmals etwas naiv argumentierende konservative Geschichtsschreibung der Revolution. „Tatsächlich muss man die September-Ereig‐ nisse in ihrem Zusammenhang mit jener Zeit und den sonstigen Umständen würdi‐ gen. Die sich vertiefende Krise der Revolution hatte gleichzeitig die neuen Eigen‐ schaften der Nation verdeutlicht und gefestigt. Die Massaker im September und die erste Schreckenszeit weisen einen nationalen und einen sozialen Aspekt auf, die man nicht voneinander trennen kann. Die Invasion war ein wesentlicher Grund für die überreizte Stimmung. (…) Im gleichen Maße, wie Angst und Hass gegenüber dem
193 Soboul 1983, S. 230.
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Eindringling von außen wuchsen, verstärkten sich Angst und Hass gegenüber dem Feind von innen, den Aristokraten und ihren Helfern.“194 Auf den letzten Seiten war bereits mehrfach die Sprache von den Sansculotten, die im Zuge der Auseinandersetzungen des Jahres 1792 die politische Bühne betra‐ ten – später diskreditiert als „Blutsäufer, Mörder, Schlächter“ und anderes mehr.195 Als eigenständige und Ernst zu nehmende Macht sind sie ab dem Frühjahr 1793 an‐ zusehen. Da es sich hier aber zuvorderst um einen Namen handelt, der sozial-ökono‐ mische und gesellschaftliche (und kulturelle) Gegebenheiten zusammenfassen, ding‐ bar machen soll, ist natürlich klar, dass die Sansculotten nicht spontan im April 1793 auftauchten, ohne dass sie – d. h. der mit dieser Bezeichnung umfasste Personen‐ kreis, die entsprechende gesellschaftliche Schicht – ihre Interessen bereits zuvor arti‐ kuliert hätten. Von daher ist den Autoren und ihren Publikationen zuzustimmen, die bereits für die hier zur Debatte stehende Zeit der Gesetzgebenden Versammlung vom Auftauchen der Sansculotten sprechen. Denn auch da werden die Arbeiter (das re‐ voltierende Frühproletariat) schon lange Hosen getragen haben, also ohne die Culot‐ te (Kniebundhose) ihrer Arbeit nachgegangen sein. Es waren, das sei ergänzt, die gleichen Kräfte, die den König nach Paris brachten, die am 10. August gegen ihn re‐ voltierten – jene Masse, die immer Brot, Freiheit, Heimat und Achtung wollte. Oder, wie Babeuf es später ausdrücken sollte: Brot und die Verfassung von 1793. Es gibt ein noch heute manchmal sogar in Schulbüchern auftauchendes Doku‐ ment, das Beachtung verdient, datiert auf den April 1793 trägt es den Titel: Antwort auf die unverschämte Frage: Was ist denn eigentlich ein Sansculotte? (Réponse à l'impertinente question: Mais qu'est-ce qu'un Sans-Culotte?) Die Definition soll hier wiedergegeben werden: „Ein Sansculotte, Ihr Herren Schufte? Das ist einer, der immer zu Fuß geht, der keine Millionen besitzt, wie Ihr sie alle gern hättet, keine Schlösser, keine Lakaien zu seiner Bedienung, und der mit seiner Frau und seinen Kindern, wenn er welche hat, ganz schlicht im vierten oder fünften Stock wohnt. Er ist nützlich, denn er ver‐ steht ein Feld zu pflügen, zu schmieden, zu sägen, zu feilen, ein Dach zu decken, Schuhe zu machen und bis zum letzten Tropfen sein Blut für das Wohl der Republik zu vergießen. (…) Am Abend tritt er vor seine Sektion, nicht etwa mit einer hüb‐ schen Larve, gepudert und gestiefelt, in der Hoffnung, dass ihn alle Bürgerinnen auf den Tribünen beachten, sondern vielmehr, um mit all seiner Kraft die aufrichtigen Anträge zu unterstützen und jene zunichte zu machen, die von der erbärmlichen Cli‐ que der regierenden Politkaster stammen. Übrigens: Ein Sansculotte hat immer sei‐ nen Säbel blank, um allen Feinden der Revolution die Ohren abzuschneiden. Manchmal geht er mit seiner Pike ruhig seiner Wege; aber beim ersten Trommel‐
194 Soboul 1983, S. 231. 195 Siehe: Markov 1957, S. XXXI.
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schlag sieht man ihn nach der Vendée ziehen, zur Alpenarmee oder zur Nordar‐ mee.“196 Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass (dem eigenen Anspruch nach) die Sansculotten „das“ Volk und „die“ Nation repräsentierten, ja: bildeten. Außerhalb ihrer Schicht, ihrer Klasse – da sahen sie die Konterrevolution, die Aristokraten und Emigranten, die Verräter und Schmarotzer: Im Prinzip synonyme Begriffe für die Feinde des Volkes.197 Walter Markov wertete diese Selbstbeschreibung, wenn man den Text so charakterisieren will, wie folgt: „Der Sansculotte wird charakterisiert als nützliches Glied der Nation, weil er arbeitet, als Bauer oder als Handwerker. Er ist kein Tagedieb, kein Schwätzer, kein Geck. In Paris wohnt er auf den Dachböden der neuaufgeschossenen Mietskasernen. Er wird nicht als rabiater Kleinbürger, sondern als schlichter, jedoch selbstbewusster Plebejer beschrieben. Gegenüber den Feinden der Republik kennt er keine Toleranz. Er ist arm; er besitzt wenig mehr als die unei‐ gennützige Liebe zum Vaterland, dem er seine Freiheit und, wenn es nottut, sind Le‐ ben opfert. Der Satz von Holbach, dass nur der Besitzende wahrer Staatsbürger sein könne, da die Verteidigung seiner Interessen ihn an das Schicksal Frankreichs binde, wird in sein Gegenteil verkehrt: Nur der Sansculotte, dessen Arbeit die Nation kon‐ stituiert, ist 'Aktionär der Republik'. Der Verfasser verwirft also die Beweisführung von Sieyès und bestätigt die Worte von Jacques Roux, von Chaumette, von Hé‐ bert.“198 196 Markov/Soboul 1957, S. 3. 197 Was ein Aristokrat ist – auch diese Definition liegt uns aus der Perspektive der Sansculotten vor (Erklärung, was ein Gemäßigter, ein Feuillant, ein Aristokrat ist, Definition du modéré, du feuillant, de l'aristocrate): „Aristokrat ist derjenige, der sich aus Missachtung oder Gleich‐ gültigkeit nicht in die Liste der Nationalgarden eintragen ließ und den Bürgereid nicht geleis‐ tet hat. (…) Derjenige, der durch seine Haltung, seine Tätigkeit, seine Reden, seine Schriften und seine Verbindungen den Beweis geliefert hat, dass er dem alten Regime nachtrauert, und dass er die Revolution mit allen ihren Ereignissen verachtet. Derjenige, der durch sein Verhal‐ ten zur Vermutung Anlass gegeben hat, dass er den Emigranten Geld schicken oder sich der feindlichen Armee anschließen würde, wenn es ihm schließlich nicht am Vermögen fehlte, das eine, und an der Gelegenheit, das andere zu tun. Derjenige, der jemals am Triumph der Revolution gezweifelt hat. Derjenige, der in Folge schlechter Bewirtschaftung Ländereien un‐ bebaut lässt und sie weder in Halbpacht geben noch verpachten noch für einen gerechten Preis verkaufen will. Derjenige, der, obwohl er die Gelegenheit und das Vermögen dazu hatte, keine Nationalgüter gekauft hat. Und vor allem jener, der erklärt hat, er wage nicht, welche zu kaufen, und der geraten hat, diesen Akt des Bürgersinns nicht zu vollziehen. Derjenige, der, obwohl er das Vermögen und die Möglichkeit dazu hatte, den Arbeitern und Tagelöhnern nicht Arbeit zu einem den Lebensmittelkosten angemessenen Lohn verschafft hat. Derjenige, der nichts für die Freiwilligen gezeichnet hat, und vor allem jeder, der niemals etwas entspre‐ chend seinem Vermögen gegeben hat. Derjenige, der aus Hochmut die Priester nicht aufsucht, die die Verfassung beschworen haben, und besonders, wer geraten hat, es nicht zu tun. Derje‐ nige, der den armen Patrioten nicht ihr Los erleichtert hat, obwohl er offenkundig die Mög‐ lichkeit dazu hatte. Derjenige, der aus Böswilligkeit keine Kokarde von drei Zoll Umfang trägt; derjenige, der andere Kleidung als nationale gekauft hat, und besonders alle die, die sich Titel und Tracht eines Sansculotten nicht zur Ehre anrechnen.“ (Markov/Soboul 1957, S. 5.) 198 Markov 1957, S. XVI.
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Die Trennung zwischen Arm und Reich hat in diesem Sinne eine neue Definition erhalten – die politische. Karl Marx und Friedrich Engels sahen sich in ihren An‐ sichten bestätigt, als sie die großen Revolutionsgeschichten der französischen Histo‐ riker ihrer Zeit lasen, die bei der Beschreibung und Analyse der Ereignisse am Ende des 18. Jahrhunderts die Klassenstruktur und die Klassenkämpfe entdeckten. (Diese wurden so, was sicherlich ein Stück weit verkürzend ist, neben den Utopischen So‐ zialisten und den englischen Nationalökonomen zu Quellen des Marxismus.) Im Inneren jagte eine Krise die nächste, auf die vielen außenpolitischen Proble‐ me, die verschiedenen militärischen Niederlagen wurde bereits hingewiesen. Doch der 20. September stürzte alles um. Anfang September hatte Verdun noch kapitu‐ liert, die Konterrevolution und der preußische Vormarsch hatten die Situation extrem zugespitzt. Der von Dumouriez befehligte Teil des französischen Revolutionsheeres leistete in den Wäldern erbitterten Widerstand und verhinderte zumindest den weite‐ ren Vormarsch des Feindes. Doch am 19. September gelang es Kellermann, seine Truppenteile mit denen von Dumouriez zu vereinigen. Es kam am nächsten Tag zu einer Schlacht, die eigentlich keine war, sondern kaum mehr als ein Kanonenge‐ fecht. Doch „die Auswirkungen waren weittragend. (…) Am 20. September entfalte‐ te sich die preußische Armee nach einem heftigen Kanonenfeuer in südlicher Rich‐ tung und baute sich wie im Manöver vor den von Kellermann besetzten Höhen von Valmy auf. Der König von Preußen hatte mit einer überstürzten Flucht gerechnet; die Sansculotten hielten stand und verdoppelten ihr Feuer. Kellermann schwenkte seinen Hut an der Degenspitze und rief: Es lebe die Nation! Die Truppen gaben sein revolutionäres Losungswort von Bataillon zu Bataillon weiter; unter dem Feuer der geordneten Truppen, der berühmtesten Europas, wich nicht ein Mann zurück. Die preußische Infanterie stand still, Braunschweig (der Befehlshaber der konterrevolu‐ tionären Interventionsarmee) wagte nicht den Befehl zum Angriff. Die Kanonade dauerte noch einige Zeit an. Gegen sechs Uhr abends ging ein Platzregen nieder.“199 Es war ein moralischer Sieg, den das revolutionäre Frankreich errungen hatte, es war ein Sieg der Nation und damit des Volkes in seiner eigentlichen Bestimmung. Es war das Ideal der Revolution, der freie, sich seiner selbst bewusste Mensch, der der‐ gestalt triumphierte. Albert Mathiez interpretierte diesen Tag wie folgt: „Die verach‐ teten Sansculotten hatten sich im Feuer bewährt. Die Preußen und Österreicher mussten die Illusion aufgeben, sie in offener Schlacht mühelos zu schlagen. Diese in der Tradition aufgewachsenen Männer glaubten ganz naiv, dass außerhalb der mon‐ archischen Ordnung nur Anarchie und Ohnmacht herrschen könne. Zum ersten Mal trat ihnen die Revolution in ihrer organischen, konstruktiven Gestalt entgegen. Das bewirkte eine tiefe Erschütterung, der Goethe, der sich im preußischen Lager be‐ fand, mit den berühmten Worten Ausdruck verlieh: 'Von hier und heute geht eine
199 Soboul 1983, S. 235.
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neue Epoche der Weltgeschichte aus (…).'200 Dem großen Dichter und Denker hatte sich die Wahrheit plötzlich enthüllt. Die alte, auf dem Dogma und der Autorität be‐ ruhende Ordnung machte einer neuen, auf der Freiheit begründeten Ordnung Platz. Auf die in strenger Zucht gedrillten Berufsarmeen folgte eine neue Armee, die vom Gefühl der menschlichen Würde und der nationalen Unabhängigkeit beseelt war. Auf der einen Seite stand das göttliche Recht der Könige, auf der anderen die Rechte des Menschen und der Völker. Valmy bedeutete, dass in diesem leichtfertig entfes‐ selten Kampf die Menschenrechte nicht notwendig unterliegen mussten.“201 Der 20. September veränderte die französische Geschichte. Denn in Valmy hatte sich die durch die Revolution konstituierte Nation selbstbewusst und siegreich ge‐ zeigt. Am gleichen Tag fand in Paris die letzte Sitzung der Gesetzgebenden Ver‐ sammlung statt, einen Tag später trat der Konvent zusammen – es begann jene Phase der Revolution, die man häufig und sicherlich auch zu Recht als „die demokrati‐ sche“ bezeichnet hat. Und es gab in diesen Stunden auch kleine, auf den ersten Blick banale Ereignisse bzw. Konsequenzen, die noch heute unser Leben prägen. Am 26. August war die Gesetzgebende Versammlung wie gesehen endlich gegen die eidverweigernden Priester vorgegangen, „Weil danach viele Pfarreien verwaisten, mussten die Gemeindebehörden Geburts-, Eheschließungs und Sterberegister über‐ nehmen. So wurde der 20. September 1792 zum Weltgründungstag des Standesam‐ tes: Ein unbeabsichtigter erster Schritt zur Trennung von Staat und Kirche, dessen Auswirkungen den verfassungstreuen Klerus genauso trafen.“202
200 Es sei zumindest kurz angemerkt, dass Goethe, der als Begleiter des Herzogs Karl August von Sachsen-Weimar, also auf der Seite der gewaltbereiten reaktionären Monarchie, den Feld‐ zug mitgemacht hatte, sich diese seine Äußerung erst nach 30 Jahren selber in den Mund leg‐ te (in Kampagne in Frankreich). So populär die Worte Goethes auch heute sind, es kann an‐ gesichts der Tatsache, dass die Auseinandersetzung, bevor ihre Ergebnisse klar waren, ein völlig unbedeutendes Gefecht hätte sein sollen, kaum abgestritten werden, hier eher Eitelkeit, denn der prophetische Weitblick Goethes belegt wird. (Siehe exemplarisch: Borst 1974.) 201 Mathiez 1950, I, S. 313f. 202 Markov 1982, I, S. 239.
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2. Der Konvent und das Ende der Gironde
In der gerade geschilderten völlig überhitzten Atmosphäre, mit allen Ängsten vor Feinden, innen wie außen, fanden die Wahlen zum Konvent statt, der die Gesetzge‐ bende Versammlung ablösen sollte. Der Pariser Kommune ging es vor allem darum, jedwede Erstarkung oder gar Wiederkehr des Königtums zu verhindern, mit realen und symbolischen Maßnahmen. Zu den an zweiter Stelle genannten etwa gehört das am 13. August 1792 verkündete Dekret, die Akten der Kommune nunmehr vom Jahr I der Gleichheit an zu datieren. Tagesaktuell wichtig war der Beschluss, dass bei den kommenden Wahlen durch namentlichen Aufruf abgestimmt werden sollte, demnach immer durch die Öffentlichkeit kontrollierbar und einem gewissen Druck ausgesetzt, der heute mit dem irreführenden Namen des Sozialprestiges belegt wird. Am 17. August kam es zu der Veröffentlichung einer Liste mit jenen Bürgern, die nach dem 20. Juni Petitionen unterzeichnet hatten, die monarchisch geprägt waren. Robespierre wendete sich vor allem gegen das zweistufige Wahlsystem und konnte erreichen, dass die Urversammlungen die jeweilige Wahl der Wahlmänner bestätigen mussten. Demokratietheoretisch sehr wichtig und oft unterschlagen war die Forde‐ rung, dass das Volk sowohl das Recht bekommen sollte, die neue Verfassung und die zu schließenden Gesetze zu genehmigen (oder abzulehnen) und, dem korrespondie‐ rend, die Abgeordneten abzuberufen und zu ersetzen. Die Girondisten begriffen, dass ihnen die großen revolutionären Städte sukzessive entglitten und versuchten ihrerseits, vor allem die ländlichen Gebiete zu gewinnen. Neben verschiedenen Versprechungen kam es auch zu konkreten Handlungen. So beschloss die Nationalversammlung am 25. August die Abschaffung aller Feudal‐ rechte: Und zwar ohne jede Entschädigung – in jenen Fällen, wo die Eigentümer ihren ursprünglichen Rechtsanspruch nicht nachweisen konnten. Nach der Krone waren auch die Überreste des Feudalismus damit beseitigt, die Bauern zumindest, wenn man so formulieren will, körperlich befreit. Diese Politik begleitend verwen‐ dete die girondistische Presse einen Großteil ihrer Energie darauf, die Kommune und die Bergpartei zu verleumden, zu beschimpfen und anderes mehr (Mord inbe‐ griffen). Am 2. September 1792 traten die Urwählerversammlungen zusammen. (Manche dauerten nur einige Tage, andere zogen sich über mehrere Wochen hin.) Die Beteili‐ gung blieb, trotz der Zulassung der Passivbürger, gering, allerdings mit starken re‐ gionalen Schwankungen. Festzuhalten bleibt, dass die späteren Abgeordneten des Konvents von Minderheiten, von politisierten Minderheiten gewählt wurden, die ganz bestimmte Interessen vertraten und es sich, was nicht unerheblich ist, auch fi‐
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nanziell leisten konnten, mehrere Tage den Urwählerversammlungen beizuwohnen. Entscheidend war zudem, dass außerhalb von Paris die Kontroversen und Gegensät‐ ze zwischen der Nationalversammlung und den Girondisten auf der einen und der Kommune und der Bergpartei unter der Führung Robespierres (und Marats) auf der anderen Seite kaum eine Rolle spielten, die Wahlen in diesen Regionen nicht beein‐ flussten. Gewählt wurden nicht Parteien oder Gruppierungen, sondern, wie schon 1789, jene Männer, denen man zutraute, im Namen der Revolution zu wirken bzw. die eigenen Individualinteressen und die diesen korrespondierende jeweilige Klas‐ senpolitik zu vertreten, zu Geltung und Durchbruch zu bringen. Die bekannten Ab‐ geordneten der ersten Versammlung, das war entscheidendend, durften nun wieder kandidieren. Die Girdondisten gewannen die Wahlen zum Konvent. (Aber, um noch einmal darauf hinzuweisen, nicht im Sinne einer mit heutigen Parteien vergleichbaren Orga‐ nisation. Der Zusammenhalt wurde hergestellt durch analoge soziale Herkunft, wirt‐ schaftliche Interessen, Denkart – war also durchaus schwankend, beeinflussbar. Erst als die Gewählten in Paris ankamen, schrieben sie sich in Listen, Klubs u. a. ein, um auf diese Weise eine übergeordnete Position zu beziehen, die inhaltlich später erst einmal auszufüllen war. Bereits einzelne Entscheidungen erbrachten dergestalt den Übergang vom einen politischen Lager ins andere.) Immerhin fanden sich diesmal unter den 750 Abgeordneten zwei Arbeiter: Ein Waffenschmied und ein Wollkäm‐ mer, also zwei mehr als bei der letzten Wahl. Die Parlamentarier, so schrieb Karl Griewank, „gehörten durchweg der demokratisch-republikanischen Richtung an, die jetzt die Klubs beherrschte, und entstammten wieder meist dem gebildeten Bürger‐ tum“.1 Bei Albert Soboul ist zu lesen: „Der Nationalkonvent, dessen Aufgabe es war, Frankreich eine neue Verfassung zu geben, trat zum ersten Mal am Nachmittag des 20. September 1792 zusammen, zu dem Zeitpunkt also, in dem der Kampf von Val‐ my zu Ende ging. Nachdem er sich konstituiert und formell eingerichtet hatte, trat er am 21. in der Salle du Manège an die Stelle der Gesetzgebenden Versammlung. Er fand eine Situation voller Gefahren vor (…). Die Koalition war zurückgedrängt, aber nicht besiegt; die Konterrevolution war getroffen, aber nicht niedergeschlagen. Die liberale Bourgeoisie hatte sich seit dem 10. August in der Politik der nationalen Ver‐ teidigung und der Revolution vom Volk überholen lassen, hatte sich aber durch die Gironde in der neuen Versammlung das Übergewicht gesichert; es fragte sich, ob sie der Schwierigkeit ihrer Aufgabe gewachsen war.“2 Der Berg hatte die Stimmung in der Bevölkerung durchaus registriert. Die Pariser Kommune zog sich zurück, das offizielle und bourgeoise Gesetz erlangte wieder
1 Griewank 1984, S. 67. 2 Soboul 1983, S. 237.
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Geltung. Marat, der „Sachverwalter der Unglücklichen“3, vertrat die Niederlage nach außen und verband sie mit einem positiven Ausblick in die Zukunft: Er wolle seinen Argwohn ein Stück weit zurücknehmen, dem Konvent vertrauen. Zwischen Brissot und Danton kam es zu einem Treffen. Danton sprach ein gutes Stück weit für den Berg und auch für Robespierre, wenn er den Wunsch nach der Errichtung einer einheitlichen Republik aussprach, die mit den Grundsätzen und Zielen der Gironde durchaus vereinbar war, wenn man von den föderativen girondistischen Sehnsüchten absieht. Nach Valmy, nach den Wahlen, nach dem Rückzug der Kommune war es ruhig geworden in Paris – gespenstisch still, zu still? Der Berg hatte seine Karten auf den Tisch gelegt. „Es wäre also“, so formulierte Albert Mathiez, „den Girondisten nichts leichter gefallen, als in einer Atmosphäre des Vertrauens und der Eintracht zu regieren. Ihre früheren Gegner streckten ihnen die Hand entgegen und boten ihnen Sicherheiten an. Doch die Girondisten, trunken gemacht durch den Sieg der Armeen, der ihre auswärtige Politik rechtfertigte, und auf ihre Majorität pochend, die – nach Brissot – in der neuen Volksvertretung auf zwei Drittel der Stimmen angewachsen war, waren nicht damit zufrieden, im Minis‐ terrat zu herrschen, das Präsidialbüro des Konvents ausschließlich für sich in An‐ spruch zu nehmen und ihre Parteileute in die wichtigsten Ausschüsse zu setzen, son‐ dern ließen sich gleich von ihrem leidenschaftlichen Groll hinreißen und stürzten sich kopfüber in eine Politik der Repressalien.“4 Dabei wäre gerade die Versöhnung im Namen des gemeinsamen nationalen Inter‐ esses für die Gironde (und nicht nur für diese) so wichtig gewesen. Doch die Giron‐ disten, rache- und hasserfüllt, egoistisch ohnegleichen, waren dazu zu keinem Zeit‐ punkt der Revolution bereit. Auch nach der Wahl verkannten die Sprecher der Bour‐ geoisie wieder einmal die reale Lage. Ihr Wählerauftrag war die Rettung und Fort‐ führung (teilweise auch Konservierung) der Revolution, nicht persönliche Revanche, gar blutige Rache. Mathiez hielt berechtigterweise fest: „Doch die Wähler hatten nicht für eine Partei gestimmt. Sie hatten ihren Vertretern kein Mandat gegeben, für deren verletzten Stolz an der Kommune des 10. August Rache zu üben. Leider wa‐ ren die Girondisten unfähig, ihren angehäuften Groll zu opfern. Pétion fühlte sich durch die Niederlage bei den Pariser Wählern, die Robespierre ihm vorgezogen hat‐ ten, in seinem Stolz tödlich verletzt. Frau Roland, die ihren alten Mann beherrschte, litt darunter, dass Danton eine so überragende Stellung im Ministerrat einnahm. Brissot, Carra, Louvet, Guadet, Gensonné, Condorcet, alle Häupter der Partei hass‐ ten in Robespierre den Mann, der sich ihrer kriegerischen Politik entgegenstellte, den Mann, der ihre Hemmungen und Umtriebe vor und nach dem Aufstand öffent‐ lich anklagte, der ihnen die Absicht zumutete, mit dem Hof und mit dem Feinde zu
3 Hartig 1987, S. 36. 4 Mathiez 1950, I, S. 322.
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paktieren, und der die freche und die Macht sich anmaßende Kommune inspirierte. Sie mussten ihre Rache haben.“5 Die ersten Amtshandlungen des Konvents waren formaler, organisatorischer Art. Am 20. September wurde Pétion mit 235 von 253 Stimmen zum Präsidenten ge‐ wählt und erhielt damit seine Genugtuung dafür, dass die Pariser Robespierre statt ihm gewählt hatten. Seine Sekretäre waren bis auf eine Ausnahme alle Girondisten: Condorcet, Brissot, Rabaut de Saint-Etienne, Verginaud. Die Wahl Camus' sollte den Schulterschluss mit den verbliebenen und früheren Royalisten herstellen, mit denen sich die Gironde eher versöhnen konnte als mit der Kommune, den Jakobinern, der gemäßigten und der radikalen Linken. Denen galt ihre ganze Wut, zuvorderst Dan‐ ton (der wegen seiner Intrigen und zahllosen Bestechungen, mit seinem Wechsel zwischen den Fraktionen ein geeignetes Ziel war), daneben – sich zu immer intensi‐ verer Feindschaft auswachsend, Charlotte Corday als Werkzeug ihrer Sehnsüchte, royalistische inbegriffen, heraufziehend – Marat und Robespierre. Diese beiden we‐ gen ihren bezeichnenden Eigenschaften – der Liebe zum Volk, der Aufrichtigkeit, der Tugenden, der Unbestechlichkeit – vereint. Der Konvent war mit dem direkten Auftrag einberufen worden, eine neue Verfas‐ sung zu erstellen. Trotz der geringen Wahlbeteiligung war er wegen der Aufhebung des Zensus eine tatsächlich demokratisch legitimierte Instanz. Damit, das sollte nicht unterschlagen werden, war er auch ein Eingeständnis der zuvor gemachten Fehler, im Grunde genommen ein Offenbarungseid der Bourgeoisie mit Blick auf ihre bis‐ herige gesetzgeberische Politik. „Der Konvent war als neue verfassungsgebende Versammlung nach allgemeinem Wahlrecht gewählt worden, repräsentierte als einzi‐ ges Organ die Nation und verfügte ausschließlich über alle Macht. Der aufständische Gemeindebezirk der Pariser Kommune konnte sich gegenüber der nationalen Vertre‐ tung nur noch auflösen. Die Kommune begriff dies und mäßigte sich; sie ging so weit, sich von ihrem Überwachungsausschuss zu distanzieren. Es lag einzig und al‐ lein in der Hand der Gironde, die den Konvent beherrschte, dass der Parteienkampf beendet würde. (…) Der Waffenstillstand zwischen den Parteien war tatsächlich nur von kurzer Dauer. Doch fand er in der Einstimmigkeit anlässlich wichtiger Entschei‐ dungen seinen Ausdruck. In seiner ersten Sitzung missbilligte der Konvent einhellig sowohl die Diktatur als auch das Ackergesetz und beruhigte damit die Besitzenden und die Demokraten.“6 Der Waffenstillstand, der „Burgfrieden“, von dem Albert Mathiez (siehe auch die Revolutionsgeschichten von Michelet, Soboul, Markov, Mignet, Thiers) sprach, zwi‐ schen den Girondisten und den Jakobinern hielt zwar nur einige wenige Tage, aber die gefällten Beschlüsse veränderten erneut die französische Geschichte. Mehrere
5 Mathiez 1950, I, S. 278. 6 Soboul 1983, S. 238.
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Dekrete verarbeiteten die Erfahrungen der zurückliegenden Monate und begründeten das politische Frankreich neu. Sie sind im Folgenden kurz wiederzugeben.7 •
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Erklärung über die Annahme der Verfassung und über den Schutz von Perso‐ nen und Eigentum: „Der Nationalrat erklärt: 1. Es kann keine Verfassung au‐ ßer der vom Volk angenommenen geben. 2. Personen und Eigentum stehen unter dem Schutz der Nation.“ (21. September 1792) Dekret über die Abschaffung des Königtums: „Der Nationalkonvent dekre‐ tiert einstimmig, dass das Königtum in Frankreich abgeschafft wird.“ (21. September 1792) Dekret betreffend die Datierung der öffentlichen Urkunden: „Ein Mitglied beantragt, dass man die Urkunden künftig datiert 'Im ersten Jahr der Franzö‐ sischen Republik'.“ (Ein weiterer Antrag wurde abgelehnt, dieser angenom‐ men.) (22. September 1792) Erklärung über die Einheit und Unteilbarkeit der Französischen Republik: „Der Nationalkonvent erklärt, dass die Französische Republik eins und un‐ teilbar ist.“ (25. September 1792)
Karl Griewank hielt fest, dass die Abschaffung des Königtums erfolgte „unter stür‐ mischer Begeisterung und Rufen von Bänken und Tribünen: 'Es lebe die Freiheit und Gleichheit.' Am 22. September folgte der Beschluss, von nun an das Jahr I der Französischen Republik zu rechnen, wie es die Pariser Kommune schon vorher ge‐ tan hatte. Dieser mehr geschäftsmäßige Beschluss, in dem zum ersten Mal verbind‐ lich das Wort Republik vorkam, wurde drei Tage später ergänzt durch das Dekret: 'Die Französische Republik ist einheitlich und unteilbar.' Frankreich war damit zur demokratischen Republik nicht auf föderativer, sondern auf einheitsstaatlicher Basis erklärt, wie es der vorangegangenen tatsächlichen Entwicklung und der Logik des entschiedenen französischen Demokratismus entsprach. Der Nationalkonvent war und blieb Träger des allgemeinen Willens und setzte diesen Anspruch auch sogleich gegenüber der Pariser Gemeindevertretung durch: Diese wurde durch Neuwahlen umgebildet und konnte die neue Nationalversammlung zwar noch antreiben und be‐ drängen, aber nicht mehr beherrschen. Einheitlich und gesetzlich sollte der allgemei‐ ne Wille, die höchste Instanz der Demokratie, fortan gebildet werden. Aber der Kon‐ vent unterwarf sich selbst grundsätzlich dem Volksentscheid für die wichtigsten Fra‐ gen, vor allem für die Verfassung, die er als Träger der Volkssouveränität neu festzu‐ stellen hatte.“8
7 Alle abgedr. bei: Grab 1989, S. 167f. 8 Griewank 1984, S. 67.
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Bis Mitte 1793 schwelten die verschiedenen Konflikte und Krisen weiter, mal eruptiv ausbrechend, manchmal für einige Wochen in den Hintergrund tretend. Kein einziges der bereits existenten und der neu hinzutretenden Probleme konnte gelöst werden. Die französische Gesellschaft blieb gespalten und zerrissen, wobei sie die unterschiedlichsten Gräben durchfurchten und die Bürger und Familien auseinander‐ rissen. Und über allem stand die Gironde mit ihrem unbezähmbaren Wunsch nach Rache, der schließlich zu ihrem eigenen Untergang führte. Albert Mathiez formu‐ lierte in vielen Passagen seiner beeindruckenden Revolutionsgeschichte immer wie‐ der Gedanken wie den folgenden (jeweils festgemacht an einem konkreten histori‐ schen Ereignis): „Die ersten acht Monate des Konvents sind von dem Kampf zwi‐ schen den Urhebern des Aufstandes vom 10. August und denen, die ihn nicht ver‐ hindern konnten, ausgefüllt. Er nahm sehr bald die heftigsten Formen an. Die Giron‐ disten ergriffen gleich am 25. September die Offensive, in der Absicht, durch einen kühnen Handstreich die Führer der Bergpartei, Robespierre und Marat, die sie am meisten fürchteten, gegen die sie von tiefem Groll erfüllt waren, von der Volksver‐ tretung auszuschließen. Auf diese Weise sollte die Opposition aufs Haupt geschla‐ gen und ihre eigene Herrschaft über den gefügigen Konvent befestigt werden.“9 Zuerst versuchte die Gironde direkt gegen Robespierre vorzugehen. Als sie merk‐ te, dass diese Angriffe keinen Erfolg haben würden, wendete sie sich gegen Marat. Dieser nun nahm in einer Rede vor dem Konvent am 25. September alle Anklagen, die gegen Robespierre vorgetragen worden waren, auf sich. „Am Schluss zog er eine Pistole aus der Tasche, hielt sie an seine Stirn und sprach: 'Ich erkläre, sollte ein An‐ klagebeschluss gegen mich ergehen, so zerschmettere ich mir auf der Stelle das Ge‐ hirn. Das ist nun die Frucht dreier Jahre Gefängnis und erlittener Qualen für die Ret‐ tung des Vaterlandes! Das die Frucht meiner Nachtwachen, meiner Mühen, meiner Leiden, meines Elends, der Gefahren, denen ich mich ausgesetzt habe! Nun wohl, ich bleibe auf meinem Platz, um eurem Wüten zu trotzen!' Der Streich der Gironde war missglückt. Ohnmächtig, Robespierre zu treffen, hatte sie Marat zu noch größe‐ rem Ansehen dadurch verholfen, dass sie ihm Gelegenheit gab, sich vor dem Kon‐ vent und vor Frankreich in seinem wahren Wesen zu zeigen.“10 Am Ende des Tages stand die bereits erwähnte Erklärung, „dass die Französische Republik eins und un‐ teilbar ist“.11 Vorausgegangen war dieser Konventsrede Marats der Zeitungsartikel Neue Marschrichtung des Autors, der seit dem Vormittag im Journal de la République française gedruckt vorlag.12 Dort war zu lesen: „Mein einziger Ehrgeiz ist der, einen Beitrag zur Rettung des Volkes zu leisten. Wenn das Volk frei und glücklich ist, dann 9 10 11 12
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Mathiez 1950, I, S. 33. Mathiez 1950, I, S. 341. Grab 1989, S. 168. Abgedr. in: Marat 1987, S. 126–128; im Anschluss dann auch Abdruck der oben erwähnten Konventsrede, S. 128–134.
sind alle meine Wünsche erfüllt. Der Despotismus ist zerstört, das Königtum abge‐ schafft; aber ihre Handlanger sind nicht niedergeschlagen: Die Intriganten und die Ehrgeizlinge, die Verräter, die Drahtzieher sind noch dabei, gegen das Vaterland Ränke zu schmieden. Die Freiheit hat noch Scharen von Feinden. (…) Man muss sie in unseren Feldlagern, Sektionen, Munizipalitäten, Ausschüssen und Gerichten, ja, im Nationalkonvent entlarven und unterdrücken. (…) Heilige Vaterlandsliebe, dir habe ich meine durchwachten Nächte, meine Ruhe, meine Tage, alle meine Fähig‐ keiten gewidmet: Ich opfere dir heute meine Vorbehalte, meine Verstimmung, mei‐ nen Hass.“ (127f.) In den folgenden Monaten versuchten die Girondisten immer wieder, Robespierre und Marat zu schädigen, zu verleumden, aus der politischen Sphäre vollständig zu entfernen – in Richtung Zuchthaus. Doch alle ihre Bemühungen hatten nur zwei Ef‐ fekte: Der eine, positive, bestand darin, dass das Ansehen von Robespierre und Ma‐ rat immer weiter stieg. Der andere, negative, zeigte sich dadurch, dass die verschie‐ denen Gegner der Revolution (Kirche und Priester, Adel und alle weiteren Verbre‐ cher: die Schmarotzerschicht der „alten Zeit“, die doch erst einige Jahre zurücklag) sich ermutigt sahen, ihr finsteres Werk fortzusetzen.13 Den äußeren Krieg hatten die Girondisten Frankreich bereits gebracht. Nun gingen sie weiter ihren Weg. Mit dem Ergebnis einer Politik, an deren Ende der verheerende Bürgerkrieg, von ihnen ge‐ wünscht und bewusst herbeigeführt, stand. Ein Krieg, den die Jakobiner nur mit viel Mühe und einer konsequent anti-girondistischen Politik beenden konnten. Es ist nicht notwendig, hier die verschiedenen Höhe- und Tiefpunkte der ersten Konvents‐ monate darzustellen und zu analysieren. Ein kurzer stichpunktartiger Überblick mag genügen: • • • • • • •
10. Oktober 1792, Ausschluss Brissots aus dem Jakobinerklub, endgültige Trennung zwischen Jakobinern und Girondisten 23. Oktober 1792, Gründung des Mainzer Jakobinerklubs 13. November 1792, Beginn der Debatte über den Prozess gegen Ludwig XVI. 19. November 1792, Dekret über die Unterstützung anderer Völker 11. Dezember 1792, Beginn des Prozesses gegen Ludwig XVI. 15. Dezember 1792, Dekret über die Politik in den besetzten Ländern 21. Januar 1793, Hinrichtung Ludwigs XVI.
13 „Mit ihrer Repressalienpolitik gegen die Bergpartei mussten die Girondisten notwendig das Wiedererwachen der konservativen Mächte ermutigen. Sowohl auf politischem als auch auf so‐ zialem Gebiet glitten sie sehr rasch nach rechts ab. Vor allem bekämpften sie mit größtem Eifer die von der Revolution des 10. August geschaffenen Einrichtungen zur Überwachung und Un‐ terdrückung, geschaffen, um die royalistischen Komplizen oder Geheimagenten des Feindes zur Räson zu bringen.“ (Mathiez 1950, I, S. 348)
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1. Februar 1793, Kriegserklärung Frankreichs an England und die Nieder‐ lande 7. März 1793, Kriegserklärung Frankreichs an Spanien 10./11. März 1793, Ausbruch der Konterrevolution in der Vendée 18. März 1793, Niederlage der Franzosen unter Dumouriez in Belgien 19. März 1793, Dekret über den gegenrevolutionären Aufruhr 28. März 1793, Dekret über die Bestrafung der Emigranten 6. April 1793, Konstituierung des ersten Wohlfahrtsausschusses 4. Mai 1793, Dekret über das Kleine Maximum 18. Mai 1793, Einsetzung der Zwölferkommission zur Beseitigung der Pari‐ ser Kommune 22. Mai 1793, neuerliche Kampagne der Girondisten gegen die Jakobiner 31. Mai 1793, Aufstand der Pariser Sansculotten 2. Juni 1793, Sieg des Aufstandes, Verhaftung der führenden Girondisten, darunter die Mitglieder der Zwölferkommission
Einigen der gerade genannten Daten kommt epochale Bedeutung zu. Sie bestimmten den Verlauf der Revolution. Zu nennen sind: a) Die Hinrichtung des Königs, b) die Dekrete vom 19. November und 15. Dezember 1792 und c) die Konterrevolution in der Vendée. Diese drei Ereignisse sind, zum Verständnis gerade auch der politischen Dimensionen der Revolution (die immer auch – ja, in diesem Fall: zuvorderst – so‐ ziale sind), hier kurz anzusprechen. a) Es kann durchaus davon gesprochen werden, dass der Konvent durch die Hin‐ richtung Ludwigs XVI. zusammengeschweißt wurde, obwohl der Tat eine der wich‐ tigsten Debatten der Revolutionszeit vorausging.14 Verbunden waren mit der Positio‐ nierung gegenüber Ludwig dem Letzten entscheidende Konsequenzen. Wollte man eine konstitutionelle Monarchie, die dem König über reine Repräsentationsfunktio‐ nen hinaus Hoheiten und Zuständigkeitsgebiete einräumte – z. B. Vetorechte, Steu‐ ererhebungskompetenzen, Zugriff auf die Ministerialbürokratie. Oder versuchte man die Errichtung einer (tatsächlichen, unwiderruflichen, unanfechtbaren) Republik, die die Gleichheit aller Bürger tatsächlich verwirklichen könnte. Dann aber wäre der König ein Bürger wie jeder andere – und eben kein König mehr. Für die erste Position setzte sich die Gironde ein, die nicht emigrierten ehemali‐ gen privilegierten Stände und weitere Kreise. Die konsequentere Variante wurde von den Jakobinern vertreten. Es besteht kein Zweifel daran, dass sich Ludwig XVI. nie mit der Revolution angefreundet hat. So boykottierte er immer wieder alle emanzi‐ pativen (das Neue bauenden) Vorschläge und untergrub damit seine eigene Position. 14 Unter dem Titel Der König und sein Richter hat Uwe Schulz 2012 eine Doppelbiographie des Königs und Robespierres vorgelegt.
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Ebenso ist auch deutlich, dass, wenn er einsichtiger gewesen wäre, verschiedene Ra‐ dikalisierungsprozesse nicht so stattgefunden hätten, wie sie heute zu sehen sind. Die abwehrende Haltung des Königs gipfelte in dessen Fluchtversuch, der am 21. Juni 1791 an der französischen Grenze vereitelt wurde. Ein Jahr später begannen dann die Debatten über seine Verantwortlichkeit für zahlreiche konterrevolutionäre Bestrebungen, für den Verrat (durch die Flucht) an den Prinzipien der Revolution so‐ wie über seine Rolle in den Allianzen im Inneren und Äußeren gegen Frankreich. Die späteren „Königsmörder“ wussten, dass die Fortsetzung der Revolution ihre Existenzgrundlage war. Sieyès musste wegen seiner Zustimmung zur Hinrichtung über zwanzig Jahre später – am 23. Januar 1816 – Frankreich verlassen und nach Brüssel ins Exil gehen, erst 1830 konnte er nach Paris zurückkehren. Und das erste Direktorium von 1795 zog – allen reaktionären Absichten zum Trotz – seinen Zu‐ sammenhalt vor allem aus der Tatsache, dass alle fünf Mitglieder für die Hinrichtung votiert hatten. Vielen Beteiligten (die Ausnahmen wurden genannt) war klar, dass sie sich zwar gegenseitig attackieren und bekämpfen konnten, ihr eigentlicher und gemeinsamer Feind allerdings im Lager der Royalisten und Aristokraten zu sehen war. Hatte Ro‐ bespierre genau diesen quasi politischen Kitt des Konvents vor Augen, als er das To‐ desurteil für Ludwig XVI. forderte? Er sagte: „Aber Ludwig muss sterben, weil das Vaterland leben muss.“15 Zumindest schien die Gironde eben dieses Szenario und seine Konsequenzen zu ahnen, versuchten ihre Führer doch alles, den Prozess gegen Ludwig XVI. zu verhindern bzw. wenigsten hinauszuzögern. Am 14. Januar 1793 wurden im Konvent drei Fragen verlesen, deren Beantwor‐ tung eine schnelle Lösung des Konflikts herbeiführen sollte. 1. Ist der König der Verschwörung gegen die allgemeine Freiheit schuldig und beteiligt an Anschlägen auf die nationale Sicherheit? Mit fast einstimmiger Mehrheit bejahte der Konvent die Schuld Ludwigs XVI. 2. Soll zum Urteil ein Plebiszit durchgeführt werden? Während die Girondisten die Volksbefragung immer als letztes Mittel zur Aufhe‐ bung des Urteils präferiert hatten, lehnten die Jakobiner mit Verweis auf die ange‐ spannte innere und äußere Sicherheitslage die Einberufung der Urwählerversamm‐ lungen ab. Entsprechend umstritten fiel das Ergebnis aus: 278 Abgeordnete stimm‐ ten für das Plebiszit, 426 dagegen. 3. Welche Strafe soll verhängt werden? Über das Todesurteil wurde nicht geheim, sondern namentlich abgestimmt. Am 17. Januar stand die Entscheidung: 387 Abgeordnete waren für, 334 gegen die Hinrichtung, die vier Tage später auf der Basis dieser knappen Mehrheit vollstreckt wurde. Mit diesem Akt vollzog die Revolution einen radikalen und manifesten Bruch mit dem alten System – ein Schritt, dem sich die gemäßigten Vertreter immer verweigert hatten. Gleichzeitig sank innerhalb des Auslandes die Zustimmung des Bürgertums,
15 Robespierre 1989, S. 328.
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vor allem aber der universitären, kulturellen und ministerialen Eliten zu den Ereig‐ nissen in Frankreich ziemlich auf den Nullpunkt (von Ausnahmen abgesehen). Ro‐ bespierres hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass für ihn der König als Repräsentant des absolutistischen Systems ein Fremdkörper in der gerade ausgerufenen Republik war. Eine Aussöhnung zwischen den alten und den neuen Prinzipien sei nicht mög‐ lich: „In diesem Zeitalter des Fortschritts der menschlichen Vernunft und der Frei‐ heit glaube ich nicht an die unheilbare Neigung der Menschen zur Sklaverei. Man hängt dem Königtum nur so lange an, wie man gezwungen ist, sein Joch zu tragen. Man wirft sich vor dem Königtum nieder, wie man es beim Anblick eines Geschos‐ ses tut, das jeden Augenblick explodieren kann; aber sobald die Hoffnung in den Augen der Sklaven aufleuchtet, den Götzen umstoßen zu können, lieben sie das Kö‐ nigtum so, wie das französische Volk seine Könige liebte, deren Bilder es zerbro‐ chen hat.“16 Wo es Könige gibt, gibt es Untertanen und Sklaven. Die Revolution hebe dieses Verhältnis jedoch zu Gunsten allgemeiner Gleichheit und Freiheit auf: „Ludwig war der König, nun aber ist die Republik gegründet; die berühmte Frage, die euch be‐ schäftigt, ist allein durch diese Worte schon entschieden. Ludwig ist wegen seiner Verbrechen abgesetzt worden; er bezeichnete das französische Volk als Rebellen; er hat zur Bestrafung dieses Volkes seine Mittyrannen herbeigerufen; aber die Siege und das französische Volk haben entschieden, dass er allein der Rebell war: Ludwig kann also nicht gerichtet werden; er ist bereits verurteilt; oder aber die Republik kann nicht freigesprochen werden. Wenn man jetzt vorschlägt, einen Prozess gegen Ludwig XVI. zu beginnen, ganz gleich welcher Art er sein könnte, dann ist das ein Rückschritt zum königlichen und konstitutionellen Despotismus; es handelt sich um eine konterrevolutionäre Idee, denn sie läuft darauf hinaus, der Revolution selbst einen Prozess zu machen. Wenn Ludwig tatsächlich Gegenstand eines Prozesses sein kann, dann kann er auch freigesprochen werden; er kann unschuldig sein; was sage ich: er wird solange als unschuldig betrachtet, bis er abgeurteilt ist; aber wenn Lud‐ wig freigesprochen wird, wenn er für unschuldig gehalten werden kann, was wird dann aus der Revolution?“17 Robespierres Argumentation war durchaus schlüssig. Wenn man den König nicht per se auf politischer Ebene verurteile, sondern ihm einen Prozess mache, dann könnte dort auch seine Unschuld festgestellt werden, was jedoch bedeute, dass die Revolutionäre schuldig wären. Die Revolution verurteile sich auf diese Weise selbst. Der König müsse hingerichtet, der Bruch mit der bisherigen Geschichte unumkehr‐ bar vollzogen werden. Möglich wäre der Tod, da auch die alten Theorien von der Unversehrbarkeit des höchsten Repräsentanten durch die Republik als überholt an‐ zusehen seien. Die gerichtliche Auseinandersetzung mit Ludwig XVI., so Robes‐ 16 Robespierre 1989, S. 308. 17 Robespierre 1989, S. 312.
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pierre programmatisch, sei kein zivilrechtlicher oder strafrechtlicher, sondern in ers‐ ter Linie ein politischer Prozess. In diesem Sinne führte er aus: „Was Ludwig be‐ trifft, fordere ich den Nationalkonvent auf, ihn augenblicklich zum Verräter an der französischen Nation und als Verbrecher gegen die Menschheit zu erklären; ich for‐ dere, dass man in dieser Hinsicht an ihm ein Exempel statuiert, und zwar genau auf dem Platz, wo am 10. August die edlen Märtyrer der Freiheit gestorben sind, damit dieses denkwürdige Ereignis durch ein Mahnmal geweiht wird, das dazu ausersehen sein soll, in den Herzen der Völker das Gefühl für ihr Recht und den Abscheu vor den Tyrannen zu nähren, in der Seele der Tyrannen aber eine heilsame Furcht vor der Gerechtigkeit des Volkes zu wecken.“18 b) Durch die Siege der Revolutionsarmee nach Valmy (und damit nach einer lan‐ gen Serie von Niederlagen und Rückschlägen) stellte sich natürlich die Frage, wie mit den besetzten oder befreiten Ländern zu verfahren sei. Darüber hinaus ging es auch um das Problem, ob man die Revolution quasi exportieren solle, d. h. ob man anderen unterdrückten Völkern zu Hilfe eilen werde, gar müsse. Am 19. November 1792 erging das Dekret über die Unterstützung anderer Völker: „Der Nationalkon‐ vent erklärt im Namen der französischen Nation, dass er allen Völkern, die ihre Frei‐ heit wieder erlangen wollen, Unterstützung und Brüderschaft bewilligt und beauf‐ tragt die vollziehende Gewalt, den Generälen die notwendigen Befehle zu geben, um diesen Völkern Hilfe zu bringen und diejenigen Bürger zu schützen, die für die Sa‐ che der Freiheit misshandelt worden sind oder noch werden sollten.“19 Der nach wie vor von den Girondisten beherrschte Konvent „nahm mit Begeisterung“ (Mathiez) das Dekret an. Die Revolution war selbstbewusst und sie setzte, so merkwürdig das klingt, mit der Bereitschaft zum Krieg auf die „Solidarität aller Revolutionäre“.20 Am 15. Dezember 1792 wurde dieser Beschluss durch ein weiteres Dekret21 er‐ gänzt, konkretisiert, das letztlich besagte, dass „in den Ländern, die von den Armeen der Französischen Republik besetzt sind oder noch besetzt werden“, die verschiede‐ nen Schritte zur Abschaffung des Ancien Régime, gleichsam in Analogie zum Ver‐ lauf der eigenen französischen Revolution, wiederholt werden sollen. Die Generäle
18 Robespierre 1989, S. 329. 19 Abgedr. bei: Grab 1989, S. 168. 20 „Ein denkwürdiges Dekret; es proklamierte die Solidarität aller Revolutionäre in der ganzen Welt und bedrohte damit alle Throne und alle Mächte der Vergangenheit. Dadurch erwuchs die Gefahr der Entfesselung eines Weltkrieges, nicht eines Krieges von Macht zu Macht, sondern eines sozialen Krieges, genährt und geführt von einer bereits befreiten Nation, die sich als Be‐ schützerin und Vormund alle anderen noch nicht befreiten Völker etablierte. Die Revolution, die am Anfang Annexionen und Militarismus von sich gewiesen hatte, war im Begriffe, durch die Macht der Tatsachen in Helm und Harnisch vor der Welt zu erscheinen. Sie wird fortab ihr neues Evangelium, wie die alten Religionen das ihrige, mit der Gewalt des Schmerzes propa‐ gieren.“ (Mathiez 1950, I, S. 304.) 21 Abgedr. bei: Grab 1989, S. 169–172.
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hätten daher eine Proklamation an die jeweiligen Völker verlesen.22 Albert Mathiez hat ausgeführt, dass diese beiden Dekrete die auswärtige Politik der Gironde zusam‐ menfassen. Während das erste den anderen Völkern Schutz gewähre, ergänze das zweite sozusagen die Vorbedingung dafür – die befreiten Völker müssten die revolu‐ tionäre Demokratie/Diktatur Frankreichs akzeptieren. Entscheidend ist natürlich, dass hinter beiden Dekreten eine Macht hätte existieren müssen, die in der Lage ge‐ wesen wäre, sie mit aller Konsequenz durchzusetzen.23 Ein Gesetz ist so viel wert wie die Kraft, die es exekutieren soll und dies auch aus eigenem Antrieb will. Die Girondisten waren dazu nicht fähig. Die Frage ist nun, ob die Revolutionäre, gemeint sind die Girondisten, noch in der Realität agierten, oder ob sie, getrieben von den Ereignissen ebenso wie von der Euphorie der ersten Siege, sich schlichtweg – zumindest erst einmal theoretisch – übernahmen? Mathiez umriss dieses Problem wie folgt: „Man darf sich wohl die Frage stellen, ob der Weltkrieg, der als Keim in diesen beiden Dekreten lag, die ver‐ hängnisvolle Konsequenz im Gange der Ereignisse war? Sicher ist, dass die Gironde einen Augenblick versuchte, durch Unterhandlungen mit Preußen und Österreich den Frieden zu erlangen. Doch sie hätte die Verhandlungen mit den Königen nur dann erfolgreich führen können, wenn sie im Prozess gegen Ludwig XVI. eine klare und entschlossene Haltung gezeigt hätte. Hätte sie vom ersten Tage an sich auf das nationale Interesse berufen, um Verzeihung für den König zu erlangen, hätte sie ganz offen erklärt, dass dessen Prozess den Frieden verhindere, hätte sie mutig die Verantwortung für den Vorschlag auf sich genommen, gleich nach der Proklamie‐ rung der Republik die königliche Familie an die Grenze zu bringen, dann wäre sie wohl in der Lage gewesen, die eingeleiteten Verhandlungen zu einem guten Ende zu führen. Der Friede wäre auf der Basis des Status quo möglich gewesen. Österreich und Preußen wünschten nichts Besseres, als sich in Ehren aus dem bösen Handel herauszuziehen, um sich ihren Interessen in Polen zuzuwenden, das von Russland bedroht wurde. Die Gironde hatte aber nicht Mut genug, um den nötigen Preis für
22 Die Proklamation lautete: „Brüder und Freunde! Wir haben uns die Freiheit erkämpft, und wir werden sie behaupten: Unsere Einigkeit und unsere Stärke sind die Garantie dafür. (…) Wir sind gekommen, um eure Tyrannen zu verjagen: sie sind geflohen. Zeigt euch als freie Men‐ schen, und wir werden euch gegen ihre Rache, ihre Anschläge und ihre Rückkehr schützen. Von diesem Augenblick an proklamiert die Französische Republik die Absetzung aller eurer Zivil- und Militärbehörden und aller Gewalten, die euch regiert haben. Sie proklamiert in die‐ sem Lande die Abschaffung aller auf euch lastenden Abgaben, in welcher Form auch immer sie erhoben werden, der Feudalrechte, der Salzsteuer, der Brückenzölle, der Akzisen, der Einund Ausfuhrzölle, des Zehnten, der ausschließlichen Jagd- und Fischereirechte, der Frondiens‐ te des Adels und überhaupt jeder Art Abgaben und Knechtschaft, die ihr unter euren Unterdrü‐ ckern zu tragen hattet. Desgleichen schafft die Französische Republik in eurem Lande jeden Adels-, Priester- und sonstigen Stand ab sowie alle Vorrechte und alle der Gleichheit zuwider‐ laufenden Privilegien. (…) Konstituiert euch ohne Säumen in Gemeindeversammlungen. (…)“ (Abgedr. in: Grab 1989, S. 171f.) 23 Mathiez 1950, I, S. 396f.
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den Frieden zu bezahlen. Sie hätte nur die Straflosigkeit Ludwigs XVI. fordern und auf die von ihr so ermutigte revolutionäre Propaganda verzichten müssen. Sie wagte aber nicht, mit ihrer Vergangenheit zu brechen, und ließ sich schließlich von ihrer Siegestrunkenheit zu weit treiben.“24 c) Der brutale und blutige Aufstand in der Vendée, der am 10./11. März 1793 aus‐ brach und auch umliegende Departements in den Strudel der Gewalt hineinzog, ist heute rückblickend sicherlich das Synonym für die Konterrevolution. Er zeigte vor allem eines: Dass die Revolution dort ist, wo die aufrechten Revolutionäre sind. (Nicht zuletzt deshalb setzten die Jakobiner in ihrer Herrschaftsphase immer wieder auf direkt von ihnen entsandte Kommissare und Berichterstatter, die, mit verschiede‐ nen Vollmachten ausgestattet, vor Ort die Pariser Politik umsetzen sollten.) In der Vendée gelang es zurückgekehrten Emigranten, Adligen und verschiedenen eidver‐ weigernden Priestern die Bevölkerung gegen die Pariser Regierung aufzuhetzen und zum Aufstand zu animieren. Dafür nutzten sie ausländisches Geld ebenso wie die spürbaren ökonomischen Krisen, die militärischen Verwicklungen bzw. Rückschläge und die zahlreichen Kontroversen zwischen Girondisten und Jakobinern, die die Hauptstadt von den Problemen ablenkten und damit ein gutes Stück weit der Hand‐ lungsfähigkeit beraubten. Vor Lügen, Intrigen, Mord, Plünderungen und ähnlichem scheuten die konterrevolutionären Akteure natürlich auch nicht zurück. Die Girondisten reagierten wir immer – völlig falsch (und fast ausschließlich mit Worten, für Taten waren sie bereits zu abgeschlafft): „Auf die erste Nachricht von den Unruhen erließ der Konvent am 19. März ein furchtbares Dekret, das alle Rebel‐ len, die mit Waffen in der Hand ergriffen würden, mit dem Tode und mit der Be‐ schlagnahme ihrer Güter bedrohte. Der Beschluss wurde einstimmig angenommen. Lanjuinais bewirkte noch die Verschärfung des ursprünglichen Textes, den Marat da‐ gegen viel zu streng fand. Doch die Girondisten in ihrer Gesamtheit stellten sich später an, als nähmen sie den Aufstand nicht sehr ernst. Auch die Schwere der Nie‐ derlagen in Belgien suchten sie abzuschwächen. Um so heftiger stieß Brissot in sei‐ ner Zeitung wieder gegen die Anarchisten vor und stellte am 19. März die Erhebung der Vendée so dar, als wäre sie von Geheimagenten der Bergpartei, gleichsam als Agenten Pitts, angezettelt worden. Die Gironde schläferte die Wachsamkeit der Re‐ volutionäre ein, sie schien nicht mehr fähig, ihre Rankünen dem nationalen Interesse zu opfern.“25 Die einzelnen Stationen des Aufstandes, das Auf und Ab – all dies braucht hier nicht weiter zu interessieren, es ist in jeder größeren Revolutionsgeschichte nachzu‐ lesen. Weitaus wichtiger ist abschließend die Wertung des Ereignisses, die Konse‐ quenzen, die es zeitigte. „Die Erhebung der Vendée und die an sie sich anschließen‐ den royalistischen Aufstände waren von den ernstesten Folgen für die spätere Ent‐ 24 Mathiez 1950, I, S. 397. 25 Mathiez 1950, I, S. 426.
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wicklung der Revolution begleitet. Die erschreckten Republikaner verließen in gro‐ ßer Zahl die energischen Maßnahmen widerstrebende Partei der Gironde und gingen zur Bergpartei über, die immer mehr zur Partei des revolutionären Widerstand wur‐ de. Die Partei selbst entwickelte sich immer mehr nach links. Bis dahin hatte sie die von den 'Besessenen' geforderten Preisfestsetzungen abgelehnt. Marat selbst hatte gelegentlich der Pariser Lebensmittelkrawalle vom 25. Februar Jacques Roux ange‐ griffen. Jetzt erst geht der Bergpartei der Ernst der Wirtschaftskrise auf. Um den Kontakt mit den Massen nicht zu verlieren, treten sie, wenngleich etwas widerwillig, für die meisten Vorschläge der 'Besessenen' ein und setzen sie durch (…) Doch nicht nur auf wirtschaftlichem, sondern auch auf politischem Gebiet folgen jetzt die au‐ ßerordentlichen oder 'revolutionären' Maßnahmen einander. (…) Das Gegenspiel zur Vendée war die Schreckensherrschaft. Doch diese konnte nur durch die Bergpartei, die den Apparat, und zwar sich zum Vorteil, geschaffen hatte, in Gang gesetzt wer‐ den. So wurde die Vendée mit die Ursache für den Sturz der Gironde.“26 Inmitten all dieser Krisen und Konflikte verfolgten die Girondisten eisern ihr Hauptziel – die Vernichtung der Bergpartei und ihrer Führer. Es gelang ihnen nie, sich von der Idee zu lösen, dass Robespierre, Marat und die Jakobiner ihre Haupt‐ feinde wären. Eine Politik, die um so gefährlicher war, als die Girondisten durch die zahlreichen sichtbaren Misserfolge ihrer inneren und äußeren Politik geschwächt und in den Augen der Volksmassen moralisch disqualifiziert waren. Im Konvent freilich besaßen sie immer noch die Macht und nutzten diese wie ehedem – sie be‐ schuldigten die Jakobiner des Verrats. Am 5. April 1793 wurde der erste Wohlfahrts‐ ausschuss geschaffen und bedeutete insofern eine Zensur als er, vor allem aus Mit‐ gliedern des Zentrums sich zusammensetzend, die parlamentarische Macht der Gi‐ ronde durchaus schwächte. Parallel dazu gingen am 5. April die Jakobiner in die Of‐ fensive: Sie forderten den Konvent mit Petitionen und Briefen auf, jene Mitglieder aus ihren Reihen zu entfernen, die versucht hatten, Ludwig XVI. zu retten. Die Gi‐ rondisten ihrerseits deuteten diesen Vorstoß völlig falsch, denn sie sahen in ihm eine Chance, sich endgültig der Jakobiner zu entledigen. Es kam zur erneuten Anklage gegen Marat (wegen der Schriften vom 5. April), die allerdings – wie gehabt – scheiterte und mit dem erneuten Triumph des Angeklagten endete.27 Die finale Aus‐ einandersetzung zwischen Gironde und Berg war eröffnet. 26 Mathiez 1950, I, S. 428. 27 „Am 12. April verlas Guadet im Konvent das jakobinische Rundschreiben vom 5. April und forderte die Anklage gegen Marat, der es in seiner Eigenschaft als Präsident des Klubs unter‐ zeichnet hatte. Nach heftigen Debatten wurde tags darauf die Anklage gegen Marat bei na‐ mentlicher Abstimmung mit 226 Stimmen gegen 93 und 47 Enthaltungen beschlossen. Ein Tri‐ umph, der nicht den Tag überlebte! Die Richter und Geschworenen des Revolutionstribunals standen alle unter dem Einfluss des Bergs. Sowohl die Kommune als auch zahlreiche Pariser Sektionen demonstrierten zu Gunsten des 'Volksfreundes', ebenso viele Klubs in der Provinz, darunter die von Beaune und Auxerre. Eine ungeheure Volksmenge begleitete ihn vor das Tri‐ bunal. Um der Form zu genügen, verhört, wurde er am 24. April mit einer Begründung freige‐
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Kurze Zeit später erhob dann Robespierre seine einflussreiche Stimme. Er forder‐ te nun nicht mehr und nicht weniger (und wie eigentlich auch in den Monaten und Jahren zuvor) die Fortsetzung der Revolution als Revolution des Volkes. „Robes‐ pierre, der kein Ideologe, sondern ein auf die Wirklichkeit gerichteter und die ge‐ ringsten Äußerungen der öffentlichen Meinung aufmerksam verfolgender Geist war, hatte vom ersten Tage an begriffen, dass man die Gironde nur besiegen könne, wenn man die Sansculotten unmittelbar an dem Sieg zu interessieren wusste. Er hatte En‐ de April erst im Jakobinerklub und dann im Konvent eine Rechtserklärung zur Ver‐ lesung gebracht, die das Eigentum dem sozialen Interesse unterordnete und die von den Radikalen bevorzugte Politik der Beschlagnahme theoretisch folgerichtig legiti‐ mierte. Er hörte nicht auf, die Arbeitermassen gegen die 'vergoldeten Hosen', wie er sie nannte, die bemüht waren, sich der Sektionen zu bemächtigen, aufzuwiegeln. 'Ihr habt in euren Sektionen Aristokraten', sagte er im Jakobinerklub am 8. Mai, 'jagt sie hinaus! An euch ist es, die Freiheit zu retten, entfaltet alle eure Tatkraft und prokla‐ miert die Rechte der Freiheit. Ihr habt ein riesiges Volk von sehr anständigen, sehr kräftigen Sansculotten, die ihre Arbeit nicht verlassen können. Lasst sie von den Reichen bezahlen!'“28 Mit Robespierres Stimme verschaffte sich die soziale Dimension der Revolution endlich, anerkannt, „offiziell“ Gehör. Der Gironde war es nie gelungen, ja, noch nicht einmal in den Sinn gekommen, die Armen und Entrechteten in die Politik ein‐ zubeziehen, sie vor allem aber materiell auf einem gewissen Existenzminimum ge‐ gen die Verwerfungen der Zeit abzusichern. Durch dieses Versäumnis waren die ra‐ dikalen Forderungen von Gruppierungen, die sich um Personen wie Jacques Roux (zu diesem später ausführlicher) oder Jacques-René Hébert29 gebildet hatten, ent‐ standen und durchaus ein Stück weit wirkmächtig geworden. Robespierre nun füllte dieses Vakuum – Vakuum insofern, als eben die radikalen Forderungen nie eine Chance auf teilweise Befriedigung in der politischen Sphäre gehabt hatten. Am 8. Mai brachte Robespierre im Konvent den Antrag ein, „die Verdächtigen als Gei‐ seln festzunehmen und die Armen, die sie bewachten, zu entschädigen. Die von Ro‐ bespierre mit bemerkenswerter Klarheit vertretene soziale Politik war wohl eine Klassenpolitik. Unter der Konstituante und der nachfolgenden Gesetzgebenden Ver‐ sammlung hatten die Sansculotten ihrer Arme umsonst in den Dienst des revolutio‐ nären Bürgertums gegen das alte Regime gestellt. Die Zeit dieses ersten idealisti‐ schen Eifers war vorbei. Die Sansculotten hatten gesehen, wie die Besitzenden sich sprochen, die ihm nur zur Ehre gereicht. Die Volksmenge bekränzte ihn mit Blumen und brachte ihn auf ihren Schultern zu seinem Deputiertensitz, wobei sie vor dem Konvent defilier‐ te. Marat war noch populärer, noch mehr zu fürchten denn je. Die ohnmächtige Vergeltungspo‐ litik der Gironde bewirkte nur, dass die Erbitterung und der Rachedurst gegen sie noch gestei‐ gert wurden.“ (Mathiez 1950, I, S. 431.) 28 Mathiez 1950, I, S. 433. 29 Siehe die Edition von Peter Priskil: Hébert 2003.
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durch die Erwerbung der nationalisierten Güter oder durch den Verkauf ihrer Le‐ bensmittel und Waren zu unwahrscheinlichen Preisen bereicherten, und sie hatten von diesem Anschauungsunterricht profitiert. Sie wollten nicht mehr die Gefoppten sein. Sie sind der Meinung, dass die Revolution diejenigen ernähren müsse, die sie gemacht haben und sie aufrechterhalten. Robespierre ist darin nur das Echo der Volksstimme.“30 Die Girondisten versuchten mit allen Mitteln zu retten, was nicht mehr zu retten war. Aus dem Konvent heraus bildeten sie eine aus zwölf Mitgliedern ihrer eigenen Partei bestehende Untersuchungskommission (die so genannte Zwölferkommission), die gegen die Kommune vorgehen sollte. Außerhalb der Hauptstadt gingen sie zu‐ dem in verschiedenen Departements in die kriegerische Offensive. „Gegen Anfang Mai legte die Gironde ihren endgültigen Feldzugsplan fest. Die Pariser Behörden sollten kassiert, bewaffnete Kräfte aus den Departements herbeigerufen werden, um einen etwaigen Widerstand zu brechen, und im Falle eines Misserfolgs wollte man sich nach Bourges zurückziehen. Ein sinnloser Plan! Die Pariser Behörden absetzen, hieße riskieren, dass bei Neuwahlen die Radikalen ins Stadthaus hineinkämen, die sich bereits über die Nachsichtigkeit und Schwäche des Bergs beschwerten. (…) Sich auf einen Kampf mit der Kommune einlassen, war Wahnsinn, so lange diese die einzige organisierte Macht war, die die Nationalgarde und die revolutionären Komitees der Sektionen in ihrer Hand hatte.“31 Am 25. Mai schließlich hielt der Girondist Isnard, der in diesen Tagen den Vor‐ sitz im Konvent führte, seine Brandrede gegen Paris32, die das Ende der Gironde be‐ siegelte. Wenn der Protest in Paris, gegen den Konvent und damit gegen die Giron‐ de, weitergehe, dann drohe der Fall von Paris. Jeder, der gegen den Konvent Stim‐ mung mache, müsse mit der Todesstrafe rechnen. Die Bourgeoisie hatte ihre letzte Karte ausgespielt. „Der Gironde blieb kein Fehler mehr übrig, den sie noch hätte be‐ 30 Mathiez 1950, I, S. 433f. 31 Mathiez 1950, I, S. 438. 32 Abgedr. bei: Markov 1982: II, S. 418f. Nach einigen einleitenden Worten sagte Isnard: „Wenn jemals der Konvent erniedrigt würde, wenn er jemals durch einen dieser Aufstände, die seit dem 10. März immer aufs neue ausbrechen und vor denen die Stadtbeamten den Konvent nie‐ mals gewarnt haben (…). Wenn es durch diese immer wieder auflebenden Aufstände dazu kä‐ me, dass die Nationalvertretung Schaden erlitte, erkläre ich euch im Namen von ganz Frank‐ reich … (' Nein, nein!', ruft man auf dem linken Flügel. Die übrige Versammlung erhebt sich gleichzeitig, alle ihre Mitglieder rufen: 'Ja, sagen Sie es im Namen Frankreichs!') Ich erkläre euch im Namen von ganz Frankreich, dass Paris zerstört werden würde … (Heftige Unruhe, die vom linken Flügel ausgeht, übertönt die Stimme des Präsidenten. Alle Mitglieder der Ge‐ genseite: 'Jawohl, ganz Frankreich würde für einen solchen Anschlag exemplarische Vergel‐ tung üben!' Marat: 'Räumen Sie den Präsidentenstuhl, Sie spielen die Rolle eines Angstmeiers … Sie entehren die Versammlung … Sie beschirmen die Regierungspolitiker.' Isnard fährt fort:) Bald würde man an den Ufern der Seine nachforschen, ob es Paris je gegeben hat … (…) Das Schwert des Gesetzes, noch triefend vom Blut des Tyrannen, steht bereit, jedem den Kopf abzuschlagen, der es wagen sollte, sich über die Nationalvertretung zu erheben. (Beifall auf der Rechten.)“ (S. 418f.)
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gehen können.“33 Die Rede Isnards verschärfte die Erregung und Wut in der Haupt‐ stadt. Die Demonstrationen nahmen zu und Robespierre schließlich ließ am 26. Mai einen seiner politischen Grundsätze fallen – die Unverletzlichkeit der Nationalver‐ sammlung sowie ihrer Mitglieder. Diese seien so korrupt, dass der Aufstand notwen‐ dig sei. Im Konvent selbst forderte Marat einen weiteren Tag später die Aufhebung der Komission der Zwölf, diese wurde aufgelöst, von der Gironde am nächsten Tag jedoch wieder eingesetzt. Der 31. Mai 1793 brachte den Beginn des Aufstandes, die dritte Machtdemons‐ tration des Volkes. Die Pariser Kommune stellte dem Konvent durch eine Abord‐ nung folgendes Schreiben zu: „Gesetzgeber, soeben ist ein großes Komplott gegen die Freiheit und Gleichheit ruchbar geworden. Die Kommissare der 48 Sektionen haben die Fäden dieses Komplottes aufgedeckt, werden seine Urheber verhaften las‐ sen und dem Schwert des Gesetzes überantworten. Das Volk, das sich am 14. Juli erhoben hat, um die Revolution zu beginnen, und am 10. August, um den Tyrannen vom Thron zu stürzen, erhebt sich ein drittes Mal, um die freiheitsmörderischen An‐ schläge der Konterrevolutionäre zu unterbinden. Der Generalrat entsendet uns, euch die von uns getroffenen Maßnahmen bekanntzugeben. Deren erste bestand darin, das Eigentum unter die Verantwortung wahrer Republikaner zu stellen. Die Einwohner von Paris haben geschworen, eher alle umzukommen, als dass das Eigentum auch nur im geringsten angetastet würde. Zur Durchsetzung dieser Maßnahme wurde eine weitere beschlossen: Der Schutz des Eigentums wird von den Sansculotten über‐ nommen. Da die achtungswerte Klasse der Arbeiter die Einkünfte aus ihrer Arbeit aber nicht entbehren kann, hat der Generalrat angeordnet, dass sie so lange 40 Sous pro Tag empfangen, bis die Pläne der Konterrevolution vereitelt sind.“34 Nach dem 31. Mai schwelte der Aufstand vor sich hin, immer wieder heftige Eruptionen zeitigend. Der 2. Juni schließlich war ein Sonntag, so dass sich in den Tuilerien ca. 80.000 bewaffnete Männer mit Geschützen versammelten. Der Sit‐ zungssaal des Konvents wurde umstellt, die Mitglieder konnten weder herein noch heraus. Die Gironde war gefallen. Der 2. Juni, darauf ist hier hinzuweisen, war mehr als eine rein politische Revolution. Denn die Sansculotten hatten mit den Girondis‐ ten nicht eine Partei oder Gruppierung gestürzt (jedoch nur für eine kurze Zeit), son‐ dern eine ganze soziale Klasse – die Bourgeoisie. „So endete der bereits in der Le‐ gislative begonnene Kampf mit dem Triumph des Bergs. Die Girondisten wurden geschlagen, weil sie den Krieg entfesselt hatten und es nicht verstanden, Sieg und Frieden zu erreichen; weil sie als die ersten, die den König anklagten und die Repu‐ blik forderten, sich nicht entschließen konnten, das Königtum zu stürzen und die Re‐ publik zu proklamieren; sie unterlagen, weil sie in allen entscheidenden Momenten, am Vorabend des 10. August, am Vorabend des 21. Januar zu keinem Entschluss 33 Mathiez 1950, I, S. 440. 34 Markov 1982: II, S. 419.
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kommen konnten; weil sie durch ihre zweideutige Politik den Eindruck erweckten, als steckten dahinter eigennützige Absichten, Ministerehrgeiz, Hintergedanken einer Regentschaft, eines Dynastiewechsels; weil sie gegen die furchtbare und verheeren‐ de Wirtschaftskrise kein Mittel und keine Lösung wussten und in ihrer Beschränkt‐ heit und Erbitterung sich jeder Forderung der Sansculotten widersetzten, deren Kraft und Rechte sie verkannten; sie unterlagen, weil sie in blinder Beharrlichkeit sich ge‐ gen alle außerordentlichen Maßnahmen, welche die Lage erforderte, wehrten und ih‐ nen nicht nur ihr Votum versagten, sondern ihre Anwendung zu hindern suchten – mit einem Wort, weil sie das allgemeine Wohl außer Acht ließen und sich in einer einzig dem Vorteil des Bürgertums dienenden Klassenpolitik abschlossen.“35 War nun der Weg zur eigentlichen, zur tatsächlichen Revolution frei? Marat er‐ klärte am 4. Juni 1793 im Generalrat der Kommune: „Wenn ein Volk, zumal ein freies Volk, sein Heil und seine Interessen einer von ihm geschaffenen Staatsgewalt anvertraut hat, muss sich dieses Volk ohne Widerrede auf seine Bevollmächtigten berufen, ihre Beschlüsse achten, darf sie in ihren Beratungen nicht stören und muss sie bei der Ausübung ihrer Tätigkeit als unverletzlich ansehen. Wenn jedoch diese Volksvertreter das in sie gesetzte Vertrauen brechen; wenn das Volk unaufhörlich Grund zur Klage findet und gewahr wird, dass es sich in seiner Wahl getäuscht hat oder die von ihm Auserwählten korrumpiert worden sind; wenn – in einem Wort – die Nationalvertretung den Staat in Gefahr bringt, statt ihn zu schützen, dann, Bür‐ ger, muss sich das Volk selber retten: Es besitzt dann keine andere Hilfsquelle als seine eigene Tatkraft. Erhebe dich also, Souverän Volk! Erscheint im Konvent, ver‐ lest eure Adresse und weicht nicht von der Schranke, ehe ihr nicht eine endgültige Antwort erhalten habt, derzufolge ihr, der Souverän Volk, auf eine Weise handeln werdet, die der Verteidigung eurer Interessen entspricht.“36 Der geschichtliche Hintergrund der Verfassungsdebatten von 1793 ist damit aus‐ reichend beschrieben. Es begann die Herrschaft der Jakobiner und in deren ersten Wochen kam es zur Verfassungsgebung. Im Schlusskapitel wird dieser historische Bogen dann mit einigen knappen Anmerkungen vollendet, geschlossen. Das erste wichtige Dokument der Diskussionen stammte aber von Condorcet, der als Bericht‐ erstatter des frühzeitig (im Oktober 1792) ernannten Verfassungsausschusses (im Auftrag der Gironde) im Februar 1793 den ersten Entwurf präsentierte. Bevor diesen Ereignissen das Augenmerk gelten kann, sind zuvor seine politische Philosophie und sein politisches Denken zu rekonstruieren, um die entsprechenden Äußerungen von ihm konkret und ideengeschichtlich korrekt verankern zu können.
35 Mathiez 1950, I, S. 445. 36 Abgedr. in: Markov 1982: II, S. 422.
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3. Condorcets politische Philosophie, anlässlich der Imaginationen der entfesselten Utopie1
Neben dem Grafen von Mirabeau und Abbé Emmanuel-Joseph Sieyès war MarieJean-Antoine-Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet einer der prägenden Teilneh‐ mer der Französischen Revolution (auf Seiten der Revolutionäre), die bereits vor 1789 bekannt und einflussreich waren. Als Mitglied der Académie Française besaß seine Stimme ebenso Gewicht wie sein reformerisches Wirken im Rahmen des abso‐ lutistischen Staatsapparats einige Aufmerksamkeit erregt hatte. Mit seinen mathema‐ tischen und philosophischen Studien war er zudem als Wissenschaftler hervorgetre‐ ten. Doch was bewog ihn, sich der Revolution anzuschließen, ja, in mehreren Funk‐ tionen an deren Ausgestaltung mitzuwirken? Die Beantwortung dieser Frage ver‐ weist bereits auf das wichtigste Dokument aus der Feder Condorcets. Von 1793 bis zu seinem ein Jahr später erfolgten Tod arbeitete er mit aller Energie an seinem letz‐ ten Werk, dem Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des mensch‐ lichen Geistes, Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain. Es verbindet wie kaum ein anderes Buch des 18. und 19. Jahrhunderts die geschichts‐ philosophische Reflexion mit dem utopischen Denken und der revolutionären Praxis der Neuzeit und soll daher hier analysiert und auf seine Aussagen sowie Thesen hin überprüft werden. Kurze Zeit zuvor war Condorcet der verantwortliche Hauptautor des girondistischen Verfassungsentwurfs aus dem Februar 1793, der im nächsten Kapitel vorgestellt wird, nachdem mit den folgenden Ausführungen eine Einführung in sein Denken gegeben werden soll. Condorcet wurde am 17. September 1743 als Sohn eines Offiziers, der dem alten französischen Adel entstammte, geboren. (Zur Biographie, Philosophie, Wirkungs‐ geschichte usw. Condorcets siehe die Verweise des Literaturverzeichnisses.) Seine Erziehung und schulische Bildung erhielt er am von den Jesuiten geführten Collège de Navarre, wo er bereits im Alter von 16 Jahren mit mathematischen Studien auf sich aufmerksam machte. Im Zuge dieser Entwicklung ergaben sich für Condorcet Kontakte zu den literarischen und universitären Kreisen, mit d'Alembert, Helvétius und Turgot setzten sich einflussreiche Vertreter der Aufklärung für ihn ein. Bereits 1770 trugen ihm seine Arbeiten erste Anerkennung ein: Er wurde in die Académie des Sciences in Paris aufgenommen und 1785 zum Sekretär auf Lebenszeit ernannt.
1 Das Kapitel ist eine überarb., erg. und den Erfordernissen dieses Buches angepasste Version des Aufsatzes Die Utopie des ewigen Lebens. Condorcets Selbstbestimmung zwischen Aufklärung und Revolution, der im April 2008 in der Utopie kreativ (293–309) erschienen ist.
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In den siebziger Jahren verließ er dann das Gebiet der Mathematik und wandte sich neben philosophischen und literarischen Fragen auch seinen einflussreichen volkswirtschaftlichen Studien zu. Er war ein, wenn man so will, „typischer“ Vertre‐ ter der gemäßigten, großbürgerlichen Aufklärung, ein homme de lettre, der auf vie‐ len Gebieten tätig war. Gleichzeitig sind seine Schriften ein Abbild der Epoche, in der er stand und die er ebenso prägte wie diese ihn, ihrer Probleme, Hoffnungen und Wünsche – aber auch der inneren Zerrissenheit. Im Rahmen der kurzen Phase des Versuchs der Reformierung des Ancien Régimes in den siebziger Jahren arbeitete Condorcet mit dem als Finanzminister (1774–1776) agierenden Anne-RobertJacques Turgot zusammen und wurde zum Generalinspektor des Münzwesens er‐ nannt. Daneben standen die gemeinsam mit d'Alembert durchgeführten Berechnun‐ gen für ein Kanalnetz, das Frankreich und Paris durchziehen sollte. Und er war an dem Projekt zur Einführung einheitlicher Maße und Gewichte beteiligt.2 Die Zusam‐ menarbeit mit Turgot führte zur Annäherung Condorcets an die physiokratische Wirtschaftstheorie, deren Prinzipien er noch während der Revolution vertrat. Auch wenn die Reformversuche nicht erfolgreich waren, so ist doch festzustellen, dass Condorcet von seinem Engagement profitierte – 1782 wurde er in die Académie Française aufgenommen. Zu Beginn der Revolution arbeitete Condorcet eng mit Sieyès zusammen. Da er mit seiner Kandidatur für den Adel scheiterte, bezog sich sein hauptsächliches Wir‐ ken in der ersten Phase der Revolution auf die Pariser Stadtverwaltung und die re‐ daktionelle Betreuung der Chronique de Paris. Daneben gründete er gemeinsam mit Sieyès und anderen Vertretern der Aufklärung die Société de 17893, die die Prinzipi‐ en einer gemäßigten Revolution vertrat und sich von radikalen Gleichheitsforderun‐ gen ebenso abgrenzte wie sie die Errungenschaften des Umbruchs auf das gehobene Bürgertum beschränkt sehen wollte. 1791 wurde er Abgeordneter der Gesetzgeben‐ den Versammlung, 1792 Mitglied des Konvents. Condorcet arbeitete nun vor allem in der Unterrichtskommission, als deren Sprecher und Leiter er fungierte. In diesem Rahmen entstanden mehrere Schriften zur Umgestaltung des Unterrichtswesens. De‐ ren Ergebnisse und Thesen fasste Condorcet in einer Rede zusammen, die er am 20. und 21. Juni 1792 hielt.4 Zudem war er auch im Verfassungsausschuss aktiv, dem die Aufgabe oblag, eine neue Verfassung für die Republik zu erarbeiten. 2 Es dauerte noch einige Jahrzehnte, bis dieses Projekt verwirklicht wurde. Zwar legte man inner‐ halb der Revolution (am 26. März 1791) einheitliche Maße und Gewichte fest, doch bereits Na‐ poleon kehrte wegen zahlreicher Probleme und Umstellungsschwierigkeiten wieder zu den alten Bräuchen zurück. Erst um 1840 setzte sich dann das metrische System in Frankreich endgültig durch. 3 Die Société de 1789 wurde im Mai 1790 gegründet. Neben Sieyès und Condorcet gehörte ihr unter anderem auch La Fayette an, der einer der engsten Vertrauten des Königs war und bereits Erwähnung fand. Erklärtes politisches Ziel war die Durchsetzung einer konstitutionellen Monar‐ chie. 4 Vgl. Condorcet 1949.
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Am 17. Januar 1793 stimmte Condorcet gegen die Hinrichtung des Königs und ging gleichzeitig auf Distanz zu den Jakobinern. Einen Monat später präsentierte er dann seinen Verfassungsentwurf, von dem im nächsten Kapitel zu berichten ist. Dies alles zusammengenommen führte in letzter Konsequenz zu einem Haftbefehl gegen ihn – er konnte aber fliehen und tauchte in Frankreich unter. In den folgenden Mona‐ ten arbeitete er an dem bereits angesprochenen Entwurf einer historischen Darstel‐ lung der Fortschritte des menschlichen Geistes. Am 25. März 1794 verließ er sein sicheres Versteck und irrte in geistiger Verwirrung einen Tag später durch die Stein‐ brüche von Montrouge, wo er verhaftet wurde. Bereits am 28. März erlag er im Ge‐ fängnis den Folgen der Erschöpfung der letzten Monate und starb. Es kann als aufschlussreiches Merkmal der Biographie Condorcets gelten, dass er den Umgang mit der Macht nicht scheute. Denn er beteiligte sich ja nicht nur an den Reformbestrebungen der siebziger Jahre, sondern spielte danach in unterschiedli‐ chen Institutionen der Revolution eine wichtige Rolle. Freilich ist auch festzustellen, dass Condorcet, wenn er seinen Willen nicht durchsetzen konnte, sich oftmals zu‐ rückzog oder gar das politische Lager wechselte. Dem korrespondiert, dass ihm von Außen teils andere Meinungen zugeschrieben wurden als er eigentlich vertrat. Er galt lange Zeit als Jakobiner, obwohl er sich zu diesem Zeitpunkt bereits der Gironde angenähert hatte. Diese Fehleinschätzung überrascht um so mehr, als er von den Ja‐ kobinern explizit kritisiert wurde. So führte vor allem Robespierre mehrfach aus, dass Condorcet für ihn ein Mann das alten Adels sei, der versuche, die Privilegien seines Standes zu verteidigen und den weiteren Fortschritt der Revolution zu blo‐ ckieren. In einer Ansprache am 7. Mai 1794 sagte Robespierre in diesem Sinne: „Ihr klei‐ nen und eitlen Männer, errötet, wenn es euch möglich ist. Die Wunder, die diese Epoche der menschlichen Geschichte unsterblich machten, sind ohne euch und sogar gegen eure Bemühungen vollbracht worden; der gesunde Menschenverstand ohne Intrige, und der Geist ohne Bildung haben Frankreich auf diese erhabene Stufe ge‐ hoben, die eure Niedrigkeit erschreckt und eure Nichtigkeit überwältigt. Mancher Handwerker hat eine gründliche Kenntnis der Menschenrechte bewiesen, während die Bücherschreiber, die schon 1788 beinahe republikanisch waren, im Jahre 1793 starrsinnig die Sache der Könige verteidigten. Mancher Arbeiter verbreitete die Er‐ kenntnis der Philosophie auf dem Lande, während der Akademiker Condorcet, einst‐ mals ein großer Mathematiker in den Augen der Literaten und ein großer Literat in den Augen der Mathematiker, seither ängstlicher Verschwörer und von allen Partei‐ en verachtet, unaufhörlich daran arbeitete, die Aufklärung durch den tückischen Wust seiner bezahlten Fragmente zu verschleiern.“5
5 Robespierre 1989, S. 682f.
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Ein jeder Versuch, Condorcets Persönlichkeit nachzuvollziehen und zu begreifen, sieht sich (gegen Robespierres Vermutung) vor die Tatsache gestellt, dass dieser in zwei Denksystemen gleichsam zu Hause war. Erstens fühlte er sich wissenschaftlich und intellektuell immer der Aufklärung verpflichtet. Genau deren Prinzipien führten ihn aber zweitens in die bourgeoise Mitte der Revolution (was keineswegs notwen‐ dig, gar „üblich“ war), die für ihn vor allem ein dynamisches System darstellte, in‐ nerhalb dessen permanent für eine bessere und in ihren Fortschritten fast unbegrenz‐ te Vervollkommnung – auf der Basis des „freien Marktes“ – zu kämpfen sei. Die „Mitte der Revolution“ inkludiert die Idee einer „Revolution von oben“. Gemeint ist nicht die Mitte des Volkes, dort hätte er neben Marat und Robespierre gestanden. Dies verdeutlicht vor allem der Entwurf einer historischen Darstellung der Fort‐ schritte des menschlichen Geistes.6 Condorcet unterteilte in seinem Werk die Geschichte der Menschheit in zehn Epochen. Die ersten acht zeigen den gedachten, aus der Perspektive der gemäßigten Aufklärung interpretativ rekonstruierten Verlauf der Menschheitsentwicklung bis zum Zerfall des Mittelalters und der damit einsetzenden Herausbildung des bürger‐ lich-liberalen Kapitalismus (der ja in der Revolution gegen Volk, Krone und Klerus nach der Macht griff), dem ein religiöser und politischer Überbau entsprach. Es war genau jene Übergangs- und Krisenzeit, darauf hat Karl Kautsky in seiner Analyse der Utopia von Thomas Morus (1516 erschienen) hingewiesen, der das utopische Denken stimulierte, ja: provozierte.7 In diesem Licht gewinnt die Interpretation der Epoche der Aufklärung durch Con‐ dorcet ihr Profil. Für ihn war sie vor allem mit der Idee der Rückkehr des Individu‐ ums zu seinem Status als Bürger verbunden, d. h. sie beschreibe den Weg der Trans‐ formation vom Bourgeois zum Citoyen. Damit wird bereits deutlich, dass Condorcet die absolutistischen Staaten des 18. Jahrhunderts hart kritisierte. Dem steht die Al‐ ternative der Vervollkommnung und freien Entfaltung des einzelnen Individuums und des gesamten Menschengeschlechts antagonistisch gegenüber. Condorcet schrieb: „Der Mensch muss also in vollkommener Freiheit seine Fähigkeiten entfal‐ ten, über seine Reichtümer verfügen und seinen Bedürfnissen nachkommen können. Das allgemeine Interesse einer jeden Gesellschaft, weit entfernt, die Einschränkung des Gebrauchs der Freiheit zu befehlen, verbietet vielmehr, sie anzutasten; und auch auf diesem Gebiet der öffentlichen Ordnung ist die Sorge, einem jeden die Rechte zu
6 Alle nur mit Seitenzahlen belegten Zitate im Folgenden nach dieser Ausgabe: Condorcet 1976. 7 Kautskys Werk (Ausgabe: Kautsky 1949) ist eine der wichtigsten Schriften aus dem „linken“ Lager zur Utopieproblematik und noch heute eine lesenswerte Analyse des Zerfalls der mittelal‐ terlichen Welt sowie der damit einhergehenden Durchsetzung und theoretischen Begründung des Kapitalismus. (Siehe: Heyer 2015; Condorcets Stellung zur Utopie beleuchtet der Aufsatz Das utopische Denken der französischen Aufklärung auf dem Weg zur Revolution. (Heyer 2010, S. 63–110.) Siehe außerdem die entsprechenden Einträge in dem zweibändigen bio-bibliographi‐ schen Handbuch: Heyer 2008–2009, dort alle weiteren Verweise usw.)
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garantieren, die ihm von Natur zukommen, zugleich die einzig nützliche Politik, die einzige Pflicht der gesellschaftlichen Macht und das einzige Recht, das der allgemei‐ ne Wille legitimerweise den Individuen gegenüber ausbilden kann.“ (152) Doch nicht nur die Freiheit als Möglichkeit der vollständigen Selbstentfaltung kann als Grundlage des Denkens Condorcets interpretiert werden. Daneben stand für ihn immer auch die Idee der Gleichheit (nicht zu verwechseln mit dem sansculotti‐ schen Gleichheitsideal). Beide ergänzen sich gegenseitig und weisen dadurch in eine positiv besetzte Zukunft. Die Epoche der Aufklärung habe zahlreiche Ideen und Theorien vertreten, die zum Bestand eines jeden Menschen und aller Nationen gehö‐ ren sollten, da sie direkt die Sphären der Moral, der Sitten und der Kultur prägten – verstanden als Kitt der Gesellschaft und notwendige Bedingungen gesellschaftlichen Zusammenlebens. „Ein allgemeines Wissen von den natürlichen Rechten des Men‐ schen; selbst die Ansicht, dass diese Rechte weder abgeschafft werden können noch einer besonderen Vorschrift bedürfen; der nachdrücklich geltend gemachte Wunsch nach Freiheit des Denkens und Schreibens, Freiheit des Handels und der Industrie, nach Erleichterung der Lasten des Volkes, nach Ächtung des Strafgesetzes gegen an‐ dersgläubige Religionen sowie nach Abschaffung der Folter und barbarischer Hin‐ richtungsarten; der Wunsch nach einer milderen Strafgesetzgebung, einer Rechts‐ pflege, die den Unschuldigen volle Sicherheit gewährt, nach einem einfacheren, der Vernunft und der Natur gemäßeren bürgerlichen Gesetzbuch; die Gleichgültigkeit gegenüber den Religionen, die endlich dem Aberglauben und den politischen Erfin‐ dungen zugezählt werden; der Hass gegen Heuchelei und Fanatismus; die Verach‐ tung der Vorurteile; der Eifer für die Verbreitung der Aufklärung – all diese grund‐ sätzlichen Dinge gingen nach und nach aus den Werken der Philosophen in alle Ge‐ sellschaftsklassen ein, innerhalb derer der Unterricht über das Erlernen des Katechis‐ mus und des Schreibens hinausging; sie wurden zum allgemeinen Bekenntnis, zum Symbol all derer, die weder Machiavellisten noch Schwachköpfe waren.“ (161f.) Condorcets Interpretation der Aufklärung verweist bereits auf jene Faktoren, die ihn bewegt hatten, sich der Revolution aktiv und in vorderster Reihe anzuschließen. Sein Wirken seit 1789 ist mit Hilfe seiner These zu interpretieren, dass die Revoluti‐ on kein Selbstzweck werden dürfe. Vielmehr seien permanent neue Horizonte zu er‐ schließen, die Aufklärung und Bildung zu vervollkommnen und die Tendenzen der Herausbildung von neuen (und alten) Vorurteilen und Privilegien zu verhindern. Die zentralen Ziele der Revolution sind damit benannt: Erstens die Verwirklichung der tatsächlichen (staatsbürgerlichen) Gleichheit und zweitens die Durchsetzung der (ka‐ pitalistischen) Freiheit. Inwieweit diesen Worten Taten entsprachen, ist eine andere Frage. Auf der Seite der großen Mehrheit des Volkes, der Armen, stand Condorcet nie, ihre Interessen und Hoffnungen waren für sein praktisches Wirken und sein theoretisches Schaffen irrelevant.
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„Man wagte es also nicht länger, die Menschen in zwei verschiedene Rassen auf‐ zuteilen, von denen die eine zum Regieren, die andere zum Gehorchen bestimmt ist, die eine zu lügen, die andere getäuscht zu werden; und man sah sich genötigt anzu‐ erkennen, dass alle das gleiche Recht haben, Aufklärung über alle ihre Interessen zu erlangen, alles über die Wahrheit zu wissen, und dass keine der Gewalten, die sie selbst über sich setzen, das Recht haben kann, ihnen irgendeine Wahrheit vorzuent‐ halten. Diese Prinzipien, für die der edelmütige Sidney8 mit seinem Blut bezahlte, denen Locke das Ansehen seines Namens lieh, wurden später von Rousseau noch unzweideutiger, ausführlicher und machtvoller entwickelt, und Rousseau gebührt der Ruhm, sie unter die Zahl jener Wahrheiten aufgenommen zu haben, die nicht mehr vergessen oder angefochten werden dürfen.“ (151) Die Garanten der Umsetzung dieser Forderungen seien eine republikanische Ver‐ fassung und allgemeine Gesetze, die keine Ausnahmen kennen – Forderungen, die nach 1792 in der Revolution Standard aller demokratischer Gruppierungen waren (sie unterschieden sich erst bei der jeweiligen Umsetzung). Genau deshalb wendete sich Condorcets aber gegen die Hinrichtung von Ludwig XVI. Denn auch dieser un‐ terliege den für alle geltenden Gesetzen. Ihm dürfe also kein per se politischer Pro‐ zess gemacht werden, wie Robespierre und die Jakobiner einforderten, sondern aus‐ schließlich ein bürgerlicher. Mit dieser Argumentation umging Condorcet freilich die gewichtige These Robespierres, dass der König nicht zivilrechtlich verantwort‐ lich sei, da dann für ihn die Unschuldsvermutung gelte, was wiederum bedeute, dass die Revolutionäre schuldig sein könnten.9 Und Ludwig der Letzte wurde ja nicht als Bürger angeklagt, sondern eben als Monarch (Despot, Tyrann usw.) – und damit als außerhalb der bürgerlichen Welt stehend. Eine wichtige Gemeinsamkeit verband freilich beide Politiker – sie gingen davon aus, dass die Revolution in den realhisto‐ rischen Prozessen des 18. Jahrhunderts ihren Ursprung habe. Condorcet schrieb: „Verglich man die geistige Stimmung, die ich oben skizzierte, mit dem gleichzeitigen politischen Regierungssystem, so war leicht vorauszusehen, dass eine große Revolution unfehlbar eintreten musste; und es war unschwer zu er‐ kennen, dass sie nur auf zweierlei Art herbeigeführt werden konnte: entweder muss‐ te das Volk selbst die Grundsätze der Vernunft und der Natur, die ihm die Philoso‐ phie wertvoll gemacht hatte, einführen, oder die Regierungen mussten sich beeilen, dem Volk zuvorzukommen und ihr Vorgehen mit der öffentlichen Meinung in Ein‐
8 Condorcet spielt hier auf die vertragstheoretischen Schriften von Algernon Sidney, John Locke und Jean-Jacques Rousseau an. Wichtig ist, dass sich auch Rousseau selbst im Contrat social (teilweise noch stärker in anderen Schriften) in die damit angerissene Tradition des englischen Staatsdenkens um 1700 stellte. Es war Denis Diderot, der in seinen vertragstheoretischen Arti‐ keln der Encyclopédie in Frankreich den Weg für diese Betrachtungsweise frei gemacht hatte. (Siehe: Heyer 2004, S. 119–180; Weis 1965; ebenfalls immer noch lesenswert: Hubert 1923 und 1927.) 9 Vgl. exemplarisch: Robespierre, 1989, S. 320.
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klang zu bringen. Im einen Fall musste die Revolution umfassender sein und rascher, aber stürmischer vor sich gehen, im anderen Fall langsamer, unvollständiger, dafür aber ruhiger: im einen Fall waren Freiheit und Glück durch vorübergehende Übel zu erkaufen; im anderen vermied man diese Übel, vielleicht aber verzögerte man auf lange den Genuss eines Teils der Wohltaten, die diese Revolution freilich mit Sicher‐ heit bringen musste. Die Verderbtheit und Unwissenheit der Regierungen zogen den ersten Weg vor; und der rasche Triumph der Vernunft und der Freiheit hat das Men‐ schengeschlecht gerächt.“ (164f.) Doch nicht nur die Abgründe und Verfehlungen des Ancien Régime würden die Revolution motivieren. Hinzu trete, diese Entwicklungen in ein größeres Konzept einbindend, die geschichtsphilosophische Perspektive. In Übereinstimmung mit Thomas Paine10 und Denis Diderot sowie beispielsweise auch Guillaume Raynal11 betonte auch Condorcet die Signalwirkung der Amerikanischen Revolution für Eu‐ ropa. Nun könne mittels der Möglichkeiten der Philosophie und der Geschichte be‐ stimmt werden, warum es auf dem Kontinent zu Umbrüchen kommen musste.12 „Die amerikanische Revolution musste sich deshalb bald über Europa ausbreiten; und wenn es in Europa ein Volk gab, in welchem das Interesse der Sache der Ameri‐ kaner mehr als anderswo für die Verbreitung ihrer Schriften und Grundsätze sorgte, ein Volk, das gleichzeitig das aufgeklärteste und unfreieste war; ein Land, in wel‐ chem die Philosophen in höchstem Maße wahrhaft aufgeklärt waren und die Regie‐ rung durch eine um so beleidigendere und gründlichere Unwissenheit sich auszeich‐ nete; ein Volk, in welchem die Gesetze so tief unter dem Niveau des Geistes der Na‐ tion standen, dass diese kein Nationalstolz, kein Vorurteil mit seinen althergebrach‐ ten Institutionen verband – war dann dies Volk nicht durch die Natur der Dinge dazu bestimmt, der von den Freunden der Menschheit mit so viel Hoffnung und Ungeduld erwarteten Revolution den ersten Anstoß zu geben? Deshalb musste die Revolution in Frankreich beginnen.“ (166f.) Condorcet hat die Dynamik der Revolution in ihren Facetten betont und verteidigt (auch die Irrwege), sah er in ihr doch den direkten Motor des permanenten Fort‐ schritts. (Noch einmal: In der Theorie, praktisch handelte und wirkte er völlig an‐ ders!) Daneben stand seine Forderung, dass ihre Prinzipien immer wieder neu zu ko‐ difizieren seien, d. h. in verschriftlichter Form allen zur Einsicht und – wichtiger
10 Siehe dessen: Sendschreiben an den Abt Raynal, 1794, S. 1–120. 11 Verwiesen sei auf dessen Histoire philosophique & politique des deux Indes, an der Diderot mitarbeitete und in der er seine Thesen zur Revolution entwickelte; eine deutsche Auswahl hat Hans-Jürgen Lüsebrink 1988 vorgelegt. 12 Der Historiker Reinhart Koselleck hat diese Entwicklungen auf die Formel des Verhältnisses von Kritik und Krise gebracht, wobei freilich sein konservativer Versuch der Diskreditierung der Aufklärung die innovativen Momente der ansonsten wichtigen Studie überlagert. (Vgl.: Koselleck 1992.)
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noch – zur Diskussion sowie kritischen Überprüfung zur Verfügung stehen sollten. Diesen „Geist“ verströmt auch sein Verfassungsentwurf. Der weitaus interessanteste Aspekt des Werkes von Condorcet wurde freilich bis‐ her ausgespart. In der Zehnten Epoche: Von den künftigen Fortschritten des mensch‐ lichen Geistes (193–222) seines Entwurf unternahm er einen Ausblick in die Zu‐ kunft, der im 18. Jahrhundert seinesgleichen sucht. Dabei imaginierte er eine Gesell‐ schaft, die in allen Bedingungen ihres Seins besser, glücklicher und vollkommener sein soll als die der eigenen Gegenwart. Die Revolution erscheint nun nicht mehr als „Höhepunkt“ der geschichtlichen Entwicklung, sondern als entscheidendes Durch‐ gangsstadium zur Erringung bzw. Freisetzung derjenigen Potenzen, welche die Ele‐ mente des alternativen Szenarios gleichsam vorgeprägt enthalten. Die unglaublichen Möglichkeiten der Zukunft lassen sich ihm zu Folge aus den Trends der Gegenwart ableiten und werden fast zwangsläufig eintreten – das ist die Konsequenz einer radi‐ kal zu Ende gedachten Geschichtsphilosophie, die sich daher selbst utopisch auf‐ lädt.13 Die Entwicklung der Menschheit könne, so Condorcet programmatisch, ana‐ log zu den Naturwissenschaften, gleichsam mathematisch14 berechnet werden. Zur Anwendung dieser Methode bedürfe es nur des Einblicks in die Gesetze der Geschichte. Was wie eine Vorwegnahme des vom Marxismus (der in seiner originä‐ ren, politischen Gestalt nie ein tragbares und produktives Verhältnis zur, Verständnis der Aufklärung entwickelt)15 propagierten wissenschaftlichen Sozialismus klingt, ist freilich von diesem zu unterscheiden. Denn Condorcet setzte in vollem Umfang auf die zentrale Kategorie der Erfahrung, die in ihrer Anwendung und Weiterentwick‐ lung als Aufklärung den Menschen dazu anrege, seine eigene Vervollkommnung ebenso wie die aller Individuen und Völker, der Staaten und Gesellschaften und nicht zuletzt der dazu erforderlichen Hilfsmittel immer weiter voranzutreiben.16 „Muss nicht endlich das Menschengeschlecht besser werden, sei es in Folge neuer Entdeckungen in Wissenschaft und Technik, wodurch zugleich die Mittel des priva‐ ten Wohlstandes und der allgemeinen Wohlfahrt notwendigerweise anwachsen; sei es durch die Fortschritte in den Grundsätzen des Verhaltens und der praktischen Mo‐ ral; sei es endlich durch die wirkliche Vervollkommnung der intellektuellen, morali‐ schen und physischen Anlagen, die gleichfalls die Folge der Vervollkommnung ent‐ weder der Werkzeuge sein kann, welche die Kraft dieser Anlagen steigern und ihren
13 Zu diesem Themenbereich gibt es eine breit gefächerte und gute Forschungsliteratur, siehe: Rohbeck 1987; den Artikel Fortschritt in den Geschichtlichen Grundbegriffen von: Koselleck 1990; Reichardt 1973; den neueren Forschungsstand zusammenfassend: Heyer 2006, S. 200– 220. 14 Das 17. und das frühe 18. Jahrhundert sprachen von „more geometrico“, hierzu: Knight 1968; Paitre 1971. 15 Siehe: Heyer 2012. 16 Vgl. grundlegend: Kondylis 1986, S. 464f.
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Gebrauch lenken, oder die Folge der Vervollkommnung der natürlichen Organisati‐ on des Menschen selber?“ (194) Die Grundlage der Theorien Condorcets ist, dies zeigten die bisherigen Ausfüh‐ rungen, der seiner selbst bewusst gewordene und aktiv im Jetzt handelnde Mensch, dem für alle anfallenden Herausforderungen und Aufgaben die Möglichkeiten der säkularen Vernunft zur Verfügung stünden. Diese anthropologische Prämisse (in Deutschland ist sie in etwas anderer Form präsent bei Herder) evidiert die Gemein‐ samkeiten mit dem utopischen Diskurs der Neuzeit. Nicht zuletzt, da sie als Chiffre erscheint, der Schlüsselbegriffe wie Aufklärung und Vorurteile entsprechen bzw. ge‐ genüberstehen. Motiviert wird der Fortschritt bei Condorcet durch die Kritik jener Stützmächte des Ancien Régime, die schon die Aufklärer des 18. Jahrhunderts bekämpften: Adel und Kirche. Diese behinderten die Entwicklung der Menschheit, verdummten die Leute, schafften Sklaven und Unterdrückung. Der freie und aufgeklärte Mensch, verantwortlich für sich selbst, Träger seines eigenen Schicksals und damit Gestalter der Welt – er ist der Mensch, der die Zukunft verbürge. „Sie wird also kommen, die Zeit, da die Sonne hienieden nur noch auf freie Menschen scheint, Menschen, die nichts über sich anerkennen als ihre Vernunft; da es Tyrannen und Sklaven, Priester und ihre stumpfsinnigen oder heuchlerischen Werkzeuge nur noch in den Ge‐ schichtsbüchern und auf dem Theater geben wird; da man sich mit ihnen nur noch befassen wird, um ihre Opfer zu beklagen und die, die sie zum Narren machten; um im Gefühl des Schreckens über ihre Untaten sich in heilsamer Wachsamkeit zu er‐ halten und den Blick zu schärfen für die ersten Keime des Aberglaubens und der Ty‐ rannei, damit diese unter dem Gewicht der Vernunft erstickt werden können, sobald es ihnen gelingen sollte, wieder hervorzubrechen!“ (198f.) Der politischen Emanzipation korrespondiere die wirtschaftliche Freiheit, der Fortschritt auf beiden Gebieten bedinge sich gegenseitig. Gesteuert wird die These der Vorteile eines freien weltumspannenden Handels und gemeinsamen Arbeitens, Produzierens und Tauschens von Condorcet über eine Kritik am Ancien Régime. So wie die wirtschaftliche Sphäre während des Absolutismus Teil der Unterdrückung und Repression war, bedeute die Aufklärung der Menschen (und die damit verbun‐ dene Macht der Vernunft) die Freiheit des Handels. „Verfolgt einmal die Geschichte unserer Unternehmungen, unserer Niederlassungen in Afrika oder Asien! Und was werdet ihr sehen? Unsere Handelsmonopole, unsere Verrätereien, unsere grausame Missachtung der Menschen anderer Farbe oder anderen Glaubens, die Frechheit un‐ serer widerrechtlichen Anmaßungen, die maßlose Bekehrungssucht und die Intrigen unserer Priester! Ihr werdet sehen, wie all dies das Gefühl der Achtung und des Wohlwollens zerstört, welches uns die Überlegenheit unserer Aufklärung und die Vorteile unseres Handels zunächst eingebracht hatten. Allein es besteht kein Zwei‐ fel, dass der Augenblick nahe ist, da wir uns diesen Völkern nicht länger als Verbre‐
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cher und Tyrannen zeigen, sondern ihnen nützliche Helfer oder edelmütige Befreier sein werden.“ (195f.) Der freie Handel ist nach Condorcet das wirtschaftliche Kardinalmittel zur Betei‐ ligung aller Völker und Menschen am Prozess des Fortschritts. Entscheidend aber ist, dass diese ökonomischen Änderungen auf die Politik, ja, auf den Menschen selbst zurückschlagen würden. „Dann werden die Europäer sich auf einen freien Handel beschränken; sie werden zu aufgeklärt sein über die eigenen Rechte, um noch der Rechte anderer Völker zu spotten; sie werden deren Unabhängigkeit ach‐ ten, die sie bis jetzt mit soviel Verwegenheit verletzt haben. (…) Die Freiheit wird sie dort festhalten; der Ehrgeiz wird sie nicht mehr zurückrufen; und die Räuberko‐ lonien werden zu Kolonien von Bürgern, die in Afrika und Asien die Grundsätze und das Beispiel der Freiheit, die Aufklärung und die Vernunft Europas verbreiten werden. An die Stelle der Mönche, die diesen Völkern nichts als schmählichen Aberglauben brachten und sie zum Aufruhr veranlassten, indem sie mit neuer Herr‐ schaft drohten, wird man Menschen treten sehen, die es sich angelegen sein lassen, diese Nationen mit den Wahrheiten bekannt zu machen, die ihrem Glücke nützen; Menschen, die bestrebt sind, sie über ihre Interessen so gut wie über ihre Rechte auf‐ zuklären.“ (196f.) Damit wird ein entscheidendes Kriterium der Abhandlung Condorcets sichtbar. Analog beispielsweise zu Georg Forster (Ansichten vom Niederrhein) dachte er Zivi‐ lisation und Fortschritt von Europa aus. Für alle entdeckten und noch zu entdecken‐ den Völker sei dieser Umstand ein Glück, da sie so an der allgemeinen Aufwärtsbe‐ wegung und der europäischen Entwicklung partizipieren könnten. (Der gerade er‐ wähnte Herder vertrat die gegenteilige Sichtweise.) Sowohl Forster als auch Con‐ dorcet sicherten ihre Fortschrittskonzeptionen derart stark ab, dass die Anerkennung der Fremdartigkeit anderer Völker, ihrer eigenen Organisation oder anderen Kultur nicht möglich ist – oder nur als Handelsgut auf dem „freien Markt“. (Anders als Condorcet vertrat Forster sowohl vor als auch, während seiner Tage bei den Mainzer Jakobinern und in Paris, nach den Ansichten eine andere Position. Sein Denken hatte sich weiterentwickelt.) Die europäische Aufklärung, so Condorcet euphorisch, bilde die Speerspitze des Fortschritts, wer ihr nicht folge, laufe in die falsche Richtung. „In diesen unermesslichen Ländern wird es zahlreiche Völker geben, die anschei‐ nend nur darauf warten, von uns die Mittel zu erhalten, die sie zu ihrer Zivilisation benötigen, die hoffen, in den Europäern Brüder zu finden, um deren Freunde und Schüler zu werden; man wird dort auf Völker treffen, die von geweihten Despoten oder brutalen Eroberern unterdrückt werden und die seit vielen Jahrhunderten schon nach ihren Befreiern rufen: anderswo werden fast wilde Stämme sein, die ein raues Klima von den Wohltaten einer höheren Zivilisation fernhält, während eben dies Klima zugleich diejenigen abschreckt, die sie mit den Vorteilen der Zivilisation be‐ kannt machen möchten; oder man wird auf Erobererhorden treffen, deren einziges
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Gesetz ihre Stärke, deren einziges Handwerk der Raub ist. Die Fortschritte der bei‐ den letztgenannten Völkerklassen werden langsamer und zugleich stürmischer erfol‐ gen; vielleicht werden sie auch in dem Maß zu einer kleineren Zahl zusammen‐ schmelzen, indem sie von den zivilisierten Nationen zurückgedrängt werden, um un‐ merklich zu verschwinden oder in ihnen aufzugehen.“ (197) Die Gefahren und Bedrohungspotentiale einer entfesselten Wirtschaft haben we‐ der Condorcet noch der überwältigt-berauschte Forster der Ansichten gesehen. Es war Denis Diderot, der – in der Tradition von Las Casas und Montaigne – auf sie aufmerksam machte. In seiner anarchistischen Utopie Nachtrag zu Bougainvilles Reise, die er in den siebziger Jahren geschrieben hatte, schilderte er, wie die in jenen Jahren entdeckte Insel Tahiti und die dortigen Einwohner Opfer der europäischen Politik wurden. (Hierzu: Heyer, 2005: 67–93.) Selbst wenn Europa in Gestalt eines Seefahrers nur kurze Zeit Anker werfe und sich neu verproviantiere, so lasse es doch „Geschenke“ zurück, die denen während der Eroberung Amerikas durch die Kon‐ quistadoren nicht nachstünden: Religion, Neid, Ausdifferenzierungen, Geschlechts‐ krankheiten – um nur einige zu nennen. Das sind die Schattenseiten des Kapitalis‐ mus, des freien Handels, der nicht reflexiv hinterfragten eurozentristischen Perspek‐ tive.17 Condorcet zeigt sich hier, trotz der folgenden Einschränkungen und Zukunfts‐ perspektiven als geradezu „klassischer“ Vertreter der egoistisch-kapitalistischen Wirtschaftstheorie der Gironde. (Dazu später ausführlicher.) Der Motor des Fortschritts liegt nach Condorcet in den bestehenden Ungleichhei‐ ten zwischen den Individuen ebenso wie zwischen den Völkern und Nationen. Zwar seien die Differenzen teilweise natürlich und würden sich aus der Sache selbst erge‐ ben. Aber jene Ungleichheiten, die man überall erblicke, müssten ausschließlich als Produkte des gesellschaftlichen Seins interpretiert und könnten damit abgebaut und permanent zurückgedrängt werden. In diesem Sinne erscheint die Gleichheitsforde‐ rung Condorcets als wichtiges Erbe der französischen Aufklärung (nicht nur der ge‐ mäßigten, sondern sogar einer halb-radikalen), ziele sie doch direkt auf die Struktu‐ ren des Ancien Régime, aber auch auf die neuen Privilegien und Stände, die sich in der Französischen Revolution herausgebildet hatten. (Erneut muss an dieser Stelle auf die gewaltigen Differenzen von Theorie und Praxis bei Condorcet zumindest hingewiesen werden. Gerade dann, wenn man seinen Werdegang mit dem des er‐ wähnten Georg Forster vergleicht!) Und sie ist nur in der Tradition richtig zu inter‐ pretieren, in die sie sich selbst stellt: Condorcet tritt an diesem Punkt bewusst das Erbe Rousseaus (auf den er als intellektueller Voltaireianer nur selten zurückgriff) an. „Beim Durchgehen der Geschichte der Gesellschaften werden wir Gelegenheit haben, aufzuzeigen, dass oft eine große Kluft besteht zwischen den Rechten, die das Gesetz den Bürgern zuerkennt, und den Rechten, deren die Bürger sich tatsächlich
17 Siehe: Hinterhäuser 1957; zum Kontext mit vielen Verweisen: Bitterli 1991.
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erfreuen; zwischen jener Gleichheit, die durch politische Institutionen gestiftet wur‐ de, und derjenigen, die zwischen den Individuen wirklich besteht: es wird uns auf‐ fallen, dass dieser Unterschied eine der Hauptursachen war für die Beseitigung der Freiheit in den Republiken der Antike, für die Wirren, denen sie ausgesetzt waren, und Schwäche, die sie fremden Tyrannen auslieferte. Jener Unterschied hat haupt‐ sächlich drei Gründe: Die Ungleichheit des Reichtums; die Ungleichheit der Lage, in welcher derjenige lebt, dessen eigene gesicherte Unterhaltsmittel sich auf seine ei‐ gene Familie vererben, gegenüber der Lage dessen, bei dem diese Mittel von der Dauer seines Lebens oder vielmehr von dem Teil seines Lebens abhängen, in dem er arbeitsfähig ist; schließlich die Ungleichheit des Unterrichts.“ (199) Die größtmögliche Gleichheit ist – die Analyse seines Verfassungsentwurfs wird zeigen: durchaus überraschend und damit quasi entleert – das Ziel des Condorcet‐ schen Fortschrittsparadigmas, das sich so als „utopisch“ im wahrsten Wortsinn ent‐ puppt. Angesiedelt an einem „Nicht-Ort“. Dadurch wird auch deutlich, dass die bei ihm konstatierten natürlichen Differenzen kein aristotelisches Argument darstellen, sondern lediglich zur Absicherung der permanenten Weiterentwicklung dienen. Ja, es gebe Ungleichheiten – bei der Begabung, Kraft, Intelligenz usw. Aber diese recht‐ fertigten weder politische oder wirtschaftliche Ausgrenzungsprozesse noch seien sie statisch. Denn sie könnten zwar nicht völlig aufgehoben, jedoch durch zahlreiche Maßnahmen ausgeglichen werden. Und die künstlichen, erst durch die Strukturen von Staat und Gesellschaft erzeugten Ungleichheiten wären durch eben diese ver‐ meidbar. Das ist – aber eben leider nur auf dem Papier – eine vollständig antigiron‐ distische Position. Neben die Kategorie der Verantwortung tritt in einem nächsten Schritt dann der Begriff der Aufklärung als zwingend notwendige Vorstufe praktischer Vernunft und bürgerlicher Moral. „Unterscheiden sich dann die Bewohner eines Landes nicht mehr durch gröberen oder feineren Sprachgebrauch; lassen sie alle sich von der ei‐ genen Einsicht leiten; sind sie nicht länger auf eine mechanische Beherrschung tech‐ nischer Vorgänge und auf bloße Berufsroutine beschränkt; sind sie in den kleinsten Angelegenheiten, bei der geringsten Belehrung nicht mehr von geschickten Leuten abhängig, welche sie durch ihre Überlegenheit notwendig in der Hand haben, dann muss daraus eine wirkliche Gleichheit sich ergeben; denn der Unterschied im Wis‐ sen oder in den Talenten kann dann keine Schranke mehr setzen zwischen Men‐ schen, deren Empfindungen, deren Begriffe, deren Sprache sie einander verstehen lässt – was nicht ausschließt, dass die einen den Wunsch haben, von den anderen un‐ terrichtet zu werden, ohne zugleich notwendig von ihnen gegängelt zu sein; dass sie die Aufgeklärtesten mit der Aufgabe betrauen wollen, sie zu regieren, ohne dass dies notwendig mit blindem Vertrauen geschehen würde. Dann erst wird Überlegenheit zum Vorteil selbst für die, die sie nicht haben; sie wird für sie da sein, nicht gegen sie.“ (202f.)
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Doch nicht nur der Staat ist bei Condorcet als Träger des Fortschritts und Institu‐ tion zum Abbau der Ungleichheiten in der Pflicht. Denn diesem Wirken von „oben“ entspricht das freiwillige und autarke Engagement der Individuen, gleichsam von „unten“. „Wir werden deutlich machen, dass diese Einrichtungen, die im Namen der gesellschaftlichen Macht gegründet und zu einer ihrer größten Wohltaten werden können, auch das Ergebnis privater Zusammenschlüsse sein können, die ohne Ge‐ fahr erfolgen, sobald die Grundsätze, wonach diese Einrichtungen sich organisieren sollen, einmal volkstümlicher geworden sind und die Irrtümer, die eine große Zahl solcher Assoziationen bisher vernichtet haben, sie nicht mehr bedrohen werden.“ (201) Mit dieser These begründete Condorcet als einer der ersten jene Tradition, die dann von so unterschiedlichen Theoretikern wie Proudhon, Kropotkin oder Fourier weitergeschrieben wurde.18 Allerdings (natürlich) mit vielen Abstrichen. Was das Genossenschaftsdenken Ende des 18. Jahrhunderts wirklich auszudrücken vermoch‐ te, zeigt sich in dem Entwurf von François-Joseph L'Ange, der an anderer Stelle be‐ handelt wird. Condorcet antizipierte jedoch nicht nur die Überlegungen zur freiwilli‐ gen Assoziation der Menschen von „unten“. Er erkannte darüber hinaus auch den kausalen Zusammenhang zwischen Fortschritt, Bedürfnisbefriedigung und qualitati‐ ver sowie quantitativer Ausdehnung der Menschheit. Seine Ausführungen zu diesem Thema verweisen – als bürgerliche Stellungnahme und innerhalb eben dieser Gren‐ zen – in der Kern einer jeden sozialistischen Theorie oder Utopie. „Wenn wir uns nun den Techniken zuwenden, deren Theorie von eben diesen Wissenschaften ab‐ hängt, so werden wir sehen, dass ihr Fortschritt, welcher dem dieser Theorie folgen muss, keine anderen Grenzen haben kann als eben dieser; dass die technischen Ver‐ fahrensweisen derselben Vervollkommnung, denselben Vereinfachungen zugänglich sind wie die wissenschaftlichen Methoden; dass die Werkzeuge, die Maschinen und Werkstühle die Kraft und Geschicklichkeit des Menschen fortwährend vermehren und zugleich die Produkte besser und feiner machen, wobei überdies die Zeit und die Arbeitsleistung, die zu ihrer Herstellung aufgewendet werden müssen, abneh‐ men; dass dann die Hindernisse, die dem Fortschritt noch entgegenstehen, die Zufäl‐ le, die man vorherzusehen, denen man vorzubeugen lernt, und die Wirkungen ver‐ schwinden werden, die von ungesunden Arbeiten, Gewohnheiten und Klimaten aus‐ gehen.“ (207) Es liegt auf der Hand, dass Condorcet an dieser Stelle auf den technischen und industriellen, also den kapitalistischen und ungehemmt akkumulierenden Fortschritt abzielte, der, befreit von den bisherigen gesellschaftlichen und staatlichen Bedingun‐ gen, sein Potential voll ausschöpfe und zum Segen für die ebenfalls befreite Menschheit werde. Arbeitszeitreduzierung und Freizeitgewinn bei verbessertem hy‐ 18 Siehe: Heyer 2015; die verschiedenen Arbeiten von Lucian Hölscher, vor allem 1999; AffeldtSchmidt 1991.
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gienischen Umfeld fallen zusammen mit einer gesteigerten Produktion und erhöhter Bedürfnisbefriedigung – gleichberechtigt für alle. (Man denke, vergleichend, an die immense Utopieproduktion um 1900, von Bebel und Bellamy bis zu den Anti-Alko‐ holikern, Naturfreunden usw.) Wenn das politische System sich ändere, dann wirk‐ ten diese Wandlungen auf den Menschen, die Gesellschaft, die Sphäre der Kultur usw. zurück. Die ungehinderte Vervollkommnung der Individuen werde gesichert, komme nun zum vollen Durchbruch. Weiter schrieb er: „Eine immer kleinere Bo‐ denfläche wird dann eine Masse von Nahrungsmitteln erzeugen können, die von größerem Nutzen oder höherem Wert sind; man wird mehr genießen und doch zu‐ gleich weniger konsumieren; man wird weniger Ausgangsmaterial benötigen, um mehr zu produzieren, und das Produzierte wird im Gebrauch haltbarer sein. Man wird für jeden Boden die Produkte zu wählen wissen, die größeren Bedürfnissen entsprechen, und unter den Produkten, die dem gleichen Bedürfnis dienen, diejeni‐ gen, welche eine größere Masse befriedigen und dabei weniger Arbeit und tatsächli‐ chen Verzehr erfordern. So werden ohne irgendwelche Opfer die Mittel der Enthal‐ tung und der Sparsamkeit im Verbrauch zugleich mit den Fortschritten jener Verfah‐ rensweisen wachsen, die der Erzeugung, Zubereitung und Verarbeitung der verschie‐ denen Grundstoffe dienen. So wird nicht nur die gleiche Bodenfläche mehr Men‐ schen ernähren können; es wird auch jeder weniger mühsam und auf produktivere Weise beschäftigt sein und seine Bedürfnisse besser befriedigen können. Durch die‐ sen Fortschritt der Industrie und der Wohlfahrt jedoch, woraus ein günstigeres Ver‐ hältnis zwischen den Fähigkeiten des Menschen und seinen Bedürfnissen sich ergibt, wird jede Generation, sei es durch eben diesen Fortschritt, sei es durch die Erhaltung der Produkte früheren Fleißes, zu reicherem Genuss und danach, in Folge der physi‐ schen Konstitution des Menschengeschlechts, zu einer Vermehrung der Zahl der In‐ dividuen eingeladen.“ (207f.) Condorcet ortete die Wirkungen des Fortschritts auf allen Gebieten. Wenn die entwickelten Pläne umgesetzt und die ausgesprochenen Warnungen berücksichtigt würden, dann unterscheide sich die Zukunft radikal von der Vergangenheit und auch von der Gegenwart. Gerade im Licht der kurz analysierten Darstellung der Strategie zur Transformation der Revolution in andere Ländern, die sich deutlich von den mi‐ litärischen Interventionsplänen jener Jahre abhob (die, wie gesehen, vor allem Ro‐ bespierre immer wieder kritisierte), zeigt sich, dass Condorcet nun den Krieg stig‐ matisierte. Die Zukunft erbringe auch den friedlichen Umgang der Völker und Na‐ tionen untereinander. Krieg erscheine dann „als die unheilvollste Geißel, als das größte aller Verbrechen“ (213). Politisch gehandelt, es sei ergänzt, hat er ganz und gar nicht nach dieser so humanen Maxime Robespierres. Im Gegenteil – er gehörte Zeit der Revolution zur großen Fraktion der Kriegsbefürworter und war in dieser äu‐ ßerst aktiv.
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Der weltumspannende Handel und der gemeinsame Fortschrittsprozess als Annä‐ herung aller Nationen an die europäische Aufklärung könnten einen Zustand herbei‐ führen, der einen Ewigen Frieden ermögliche, der noch über die theoretischen Ent‐ würfe zu diesem Thema hinausgehe. „Die Völker werden wissen, dass sie nicht Er‐ oberer werden können, ohne ihre Freiheit zu verlieren; dass dauerhafte Bündnisse das einzige Mittel sind, ihre Unabhängigkeit zu erhalten; dass sie Sicherheit suchen müssen und nicht Macht. Allmählich werden die Benachteiligungen im Handelsver‐ kehr verschwinden; falsch verstandene Handelsinteressen werden die furchtbare Macht verlieren, die Erde durch vergossenes Blut zu schänden und die Nationen un‐ ter dem Vorwand zu Grunde zu richten, sie reicher zu machen. Da endlich die Völ‐ ker in den Prinzipien der Politik und der Moral einander näherkommen werden, da jedes von ihnen zu seinem eigenen Vorteil die Fremden ins Land rufen wird, um die Güter gleichmäßiger zu teilen, die es der Natur oder seinem Fleiß verdankt, so wer‐ den all jene Ursachen, die den Nationalhass erzeugen, schüren und verewigen, nach und nach verschwinden; sie werden der Kriegslust hinfort weder Nahrung noch Vor‐ wand liefern. Einrichtungen, noch besser durchdacht als jene Entwürfe zu einem ewigen Frieden, welche die Muße einiger Philosophen beschäftigt und ihre Seele ge‐ tröstet haben, werden das Fortschreiten der Brüderlichkeit unter den Nationen be‐ schleunigen, und Kriege zwischen den Völkern werden, wie Morde, zu den außerge‐ wöhnlichen Grausamkeiten gezählt werden, welche die Natur erniedrigen und empö‐ ren, welche dem Lande, dem Jahrhundert, dessen Annalen damit befleckt sind, für lange Zeit ein Schandmal aufdrücken.“ (214) In letzter Konsequenz bewirkten diese Annäherungen auch eine stetig zunehmen‐ de Interessengleichheit der Menschen untereinander, die wiederum auf die politische Sphäre zurückstrahle. Dies ist um so wichtiger, als beide Prozesse einander bedingen und, einmal angestoßen, immer weitere Gebiete absorbieren sowie sich permanent selbst reproduzieren und steigern. Condorcet schloss seinen Ausblick in die Zukunft mit dem Verweis, dass der Fortschritt der Menschheit unbegrenzt sei. Die Vervoll‐ kommnung könnte immer weiter gehen, ihre eigene Dynamik verbürge diese Ent‐ wicklung. Der Mensch, einmal seiner Möglichkeiten bewusst geworden, werde in immer stärkerem Maße Herr der Natur und Herr seiner selbst. „Alle diese Ursachen der Vervollkommnung des Menschengeschlechts, alle die Mittel und Wege, welche sie sichern, müssen ihrer Natur nach eine stetige Wirkung ausüben und an Umfang ständig zunehmen. Die Beweise hierfür haben wir dargelegt; in unserem Werke selbst, wo wir sie ausführlich entwickeln wollen, werden sie an Überzeugungskraft noch gewinnen; wir können also schon jetzt den Schluss ziehen, dass die Möglich‐ keit der Vervollkommnung des Menschen unbegrenzt ist; und dabei haben wir für den Menschen bis jetzt nur die natürlichen Fähigkeiten, die Organisation, welche er bereits hat, vorausgesetzt. Wie groß wäre also vielleicht erst die Gewissheit, das
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Ausmaß seiner Hoffnungen, wenn man annehmen könnte, dass die natürlichen Fä‐ higkeiten, diese Organisation selber möglicherweise sich verbessern?“ (218f.) Das Individuum ist Teil der allgemeinen Vervollkommnung. Ja, so Condorcet weiter, der Mensch werde sich verändern, neue Fähigkeiten entwickeln, eine neue innere Organisation finden, vernünftiger und aufgeklärter handeln. Kurz: er „vered‐ le“ sich. Auch die Idee des „neuen Menschen“ als Träger der zukünftigen Gesell‐ schaft ist bei Condorcet präsent. „Die Möglichkeiten organischer Vervollkommnung oder die organische Degeneration der Rassen bei Pflanzen und Tieren kann als eines der allgemeinen Gesetze der Natur betrachtet werden. Dies Gesetz ist auch für das Menschengeschlecht gültig, und gewiss wird niemand daran zweifeln, dass die Fort‐ schritte in dem Zweig der Medizin, welcher der Erhaltung der Gesundheit dient, dass die Verwendung gesünderer Nahrungsmittel und Wohnungen, dass eine Le‐ bensweise, welche die Kräfte durch Übung entwickelt, ohne sie durch Übermaß zu gefährden, dass endlich die Beseitigung der beiden wirksamsten Ursachen der Ver‐ wahrlosung, nämlich des Elends und des allzu großen Reichtums, die Dauern des gewöhnlichen Lebens der Menschen verlängern und sie einer beständigeren Gesund‐ heit und robusteren Konstitution versichern müssen.“ (219) Die Vervollkommnung ist nicht nur ein ewig gültiges und wirkendes Prinzip, sie ist auch nach vorn offen. Dies bedeutet, dass der Mensch die Grenzen seines eigenen Seins zu überwinden vermag. Er wird nach Condorcet nicht nur Herrscher über die Natur, sondern könne sich gleichzeitig die Fähigkeiten aneignen, aus dieser noch stärker als bisher herauszutreten. Der Mensch ändere sich also nicht nur als morali‐ sches Wesen, indem er sich den Prinzipien der Aufklärung annähere. Auch die phy‐ sische Konstitution unterliege einer Höherentwicklung. „Man spürt, dass die Fort‐ schritte der vorbeugenden Medizin, welche durch den Fortschritt der Vernunft, den Fortschritt in der Ordnung der Gesellschaft noch mehr sich auswirken, die übertrag‐ baren oder ansteckenden Krankheiten und jene allgemeinen Erkrankungen, welche ihren Ursprung im Klima, in der Nahrung oder in der Art der Arbeit haben, auf die Dauer zum Verschwinden bringen müssen. Es würde nicht schwer fallen zu bewei‐ sen, dass diese Erwartung auch für fast alle anderen Krankheiten zutrifft, Krankhei‐ ten, deren entfernte Ursachen man wahrscheinlich eines Tages wird erkennen kön‐ nen. Und würde es nach alledem widersinnig sein vorauszusetzen, dass die Vervoll‐ kommnung des Menschengeschlechts eines unbegrenzten Fortschritts fähig ist; dass eine Zeit kommen muss, da der Tod nunmehr die Wirkung außergewöhnlicher Um‐ stände oder des immer langsameren Abbaus der Lebenskräfte sein wird; vorauszu‐ setzen schließlich, dass die mittlere Dauer der Zeit von der Geburt bis hin zu diesem Abbau keiner bestimmbaren Grenze unterliegen wird?“ (219f.) Condorcet hat mit seinem Entwurf eine Konzeption vorgelegt, die innerhalb der Revolutionsgeschichte einzigartig ist. Im Rahmen seines Wirkens im Verfassungs‐ ausschuss setzte er in einem Maße auf direktdemokratische Partizipations- und Be‐
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teiligungsmechanismen, das bis heute nicht umgesetzt ist.19 Er schlug nicht mehr und nicht weniger vor als die umfassende Beteiligung aller Menschen als Bürger an der politischen Sphäre. Diese Idee findet sich dann auch in seinen weiteren Schriften wieder. (Sogar für das Frauenwahlrecht hatte er sich 1789/1790 stark gemacht, wie der Text Über die Zulassung der Frauen zum Bürgerrecht exemplarisch verdeut‐ licht.)20 Dem korrespondiert, dass er die Möglichkeiten der Utopie radikal erweiter‐ te, indem er sie mit den fortschrittlichen Elementen der Geschichtsphilosophie ver‐ band. Das Ergebnis ist ein Ansatz, der Elemente beider Gattungen zusammen‐ schweißte, indem er sie mit einem emanzipatorisch nach „vorn“ gerichteten Aus‐ blick in die Zukunft verband. Die Grenzüberschreitung, das Durchbrechen der Bedingungen des Status Quo, die normative Antizipation einer kommenden, besseren und glücklicheren Zeit bil‐ den in diesem Sinne das Kernstück der Überlegungen Condorcets. Darüber hinaus kann festgestellt werden, dass seine Ausführungen teilweise schulemachend für die Entwicklung des utopischen Diskurses im 19. Jahrhundert wurden. Dabei ist auf die utopischen Frühsozialisten ebenso zu verweisen wie auf die im utopischen Raum entstehenden Konzeptionen von Bildungs- und Fortschrittstheorien. Allerdings gin‐ gen in seiner Gegenwart kaum Autoren jemals wieder so weit wie Condorcet, der in der konsequenten Anwendung seiner Gedanken das „ewige Leben“ versprach.21 „Ohne Zweifel wird der Mensch nicht unsterblich werden; aber kann nicht der Ab‐ stand zwischen dem Augenblick, in dem er zu leben beginnt, und der Zeit sich unab‐ lässig vergrößern, da sich bei ihm von Natur aus, ohne dass er krank wäre oder einen Unfall erlitten hätte, die Schwierigkeit zu sein bemerkbar mache? Da wir hier von einem Fortschritt sprechen, der mit Hilfe numerischer Größen oder durch Kurven genau dargestellt werden kann, ist jetzt der Anlass gegeben, den Doppelsinn des Wortes unbegrenzt zu erörtern. In der Tat kann jene mittlere Lebensdauer, die sich in dem Maße, wie wir in die Zukunft eindringen, unablässig vergrößern muss, einem gesetzmäßigen Wachstum unterliegen, dergestalt, dass sie sich einem unbegrenzten Umfang beständig annähert, ohne ihn je erreichen zu können; oder dergestalt, dass sie in der Unermesslichkeit der Zeiten einen größeren Umfang annehmen kann als irgendeine bestimmte Größe, die ihr als Grenze gesetzt wäre. Im letzteren Falle ist
19 Vgl.: Hintze 1989. 20 Abgedr. in: Condorcet 2010, S. 108–112. 21 Im Russland der Revolutionszeit taucht diese Idee dann wieder auf. Es gab damals Utopisten, die im Strudel der Verheißungen der Revolution ebenfalls das ewige Leben wissenschaftlich ins Ziel nahmen, die auch eine Wiedererweckung der Kommunisten der Vergangenheit andach‐ ten, damit diese an der Revolution und ihren Errungenschaften partizipieren könnten. Alexander Bogdanow (Der rote Planet, Ingenieur Menni) beispielsweise starb ja an den Fol‐ gen seiner Versuche zur Bluttransfusion. Boris Groys und Michael Hagemeister haben 2005 einen lesenswerten Quellenband zu diesem Thema veröffentlicht. Siehe übergreifend: Heller/ Niqueux 2003; zuletzt die breit angelegte Dissertation von: Möbius 2015.
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der Zuwachs wirklich unbegrenzt im unbedingten Sinne, da es keinen Endpunkt gibt, vor dem er haltmachen müsste.“ (220)
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4. Erste Verfassungsdebatten, bis zur neuen Erklärung der Menschenund Bürgerrechte
Der Konvent (anders als in Condorcets Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain nicht aus „neuen utopischen Menschen“ bestehend, sondern aus ganz normalen Individuen mit Leidenschaften, Fehlern usw.) war mit dem Auftrag gewählt und berufen worden, Frankreich – nunmehr: der französischen Republik – eine neue Verfassung zu geben. Ja, im Prinzip, die erste, da direkt vom gesamten Wahlvolk legitimierte. War doch der Konvent tatsächlich demokratisch gewählt wor‐ den – ohne Zensus, ohne Standesschranken. Wie gesehen, hatten die Girondisten an‐ fangs die Mehrheit, inmitten der geschilderten Wirren und Verwirrungen, getrieben von den eigenen Rachegelüsten, schließlich aufgerieben zwischen dem Volk und dem Verrat an den eigenen Idealen. Zu Beginn jedoch war die Gironde bereit, dies entsprach ihrem bourgeoisen Klassenauftrag, den Plan einer neuen Verfassung zügig voranzutreiben. Schließlich hatte auch sie erkannt, dass mit der Verfassung von 1791 den neuen Umständen in der neuen Zeit nicht Rechnung getragen werden konnte. „Die Hauptaufgabe, zu deren Lösung der Konvent berufen war, war die Ausarbei‐ tung einer neuen republikanischen Verfassung. Die Verfassung von 1791, die monar‐ chisch war und das Land in zwei Klassen teilte, deren eine aller politischen Rechte beraubt war, konnte nicht aufrechterhalten werden. In der Tat existierte sie gar nicht mehr. Daher beschäftigte sich der Konvent sofort nach seinem Zusammentritt mit der neuen Verfassung.“1 Aulard umriss den Kontext folgendermaßen: „Wie wir sahen, erwartete Frank‐ reich vom Konvent eine Verfassungsreform. Das trifft so sehr zu, dass eins der ers‐ ten Dekrete dieser Versammlung die Erklärung vom 21. September 1792 war: 'Es gibt keine andere Verfassung als die vom Volk bestätigte.' Das hieß die Verfassung von 1791, die vom Volk nicht bestätigt war, grundsätzlich mit einem Schlage ver‐ werfen. Das hieß auch den Wunsch nach der Einführung des Volksentscheids sank‐ tionieren, der aus den Anfängen der demokratischen Partei in Frankreich stammte und sich erst vor kurzem in verschiedenen Wählerversammlungen kundgetan hatte. Aber der Konvent musste sofort den opportunistischen revolutionären Weg einschla‐ gen, auf den ihn die Umstände während seines ganzen Bestehens drängten. Das heißt, er musste, nachdem er Grundsätze für normale, friedliche Zeiten verkündet hatte, an deren Stelle Ausnahmemaßregeln, bisweilen von diktatorischem Charakter, setzen, wie die Kriegslage und die abnormen Verhältnisse, die er nicht ändern konn‐
1 Kropotkin 1982, II, S. 158f.
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te, es erheischten. Kurz nach der Erklärung, dass eine Verfassungsreform nur durch Volksentscheid ihre Geltung erlangen könne, schaffte er das Königtum ab, ohne das Volk zu befragen. Am nächsten Tag, dem 22. September, führte er ebenso ohne Volksbefragung die Republik ein, erklärte sie am 25. für einheitlich und unteilbar und lehnte am 16. Oktober einen Antrag Manuels ab, die Aufrichtung der Republik einem Volksentscheid anheimzugeben.“2 Am 11. Oktober 1792 (abweichende Angabe öfters 17. Oktober), also knapp drei Wochen nach dem Zusammentritt des Konvents, wurde der Verfassungsausschuss ernannt. Seine Zusammensetzung zeigte von Anfang an, dass die Girondisten nicht an einem Konsens interessiert waren, der die verschiedenen Gruppierungen und Stimmungen des gesamten Volkes einfangen und bündeln sollte, sondern ihnen aus‐ schließlich die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und Interessen vorschwebte. Sechs der neun Mitglieder gehörten zum direkten Umkreis der Familie Roland, ver‐ traten also girondistische Prinzipien: Brissot, Pétion, Vergniaud, Gensonné, Barère, Condorcet. (Nicht alle galten damals der Volksmeinung zu Folge als Girondisten.) Hinzu trat Thomas Paine, der amerikanische Revolutionär, zum Ehrenbürger Frank‐ reichs ernannt. Auch Sieyès kam aus der, wenn man so formulieren will, „Versen‐ kung“ (als Mitglied der ersten Verfassungsgebenden Versammlung hatte er der Ge‐ setzgebenden ja – wie manch anderer – nicht angehören dürfen). Ehemals eher eine mittlere, Zentrumsposition einnehmend, ein Gemäßigter, gehörte er nun wie Thomas Paine zum Zirkel der Rolands. Das neunte Mitglied war Danton, der wie „immer“ eine Sonderposition bezog (abwartend, reagierend). Philippe Buonarroti hat, als Teilnehmer der Verschwörung Babeufs, die Geschichte dieser Gruppierung geschrieben und damit vor dem Verges‐ sen bewahrt. In seinen Aufzeichnungen gab er aus seiner Sichtweise auch eine Schil‐ derung Dantons und der um ihn versammelten Personen, die hier zur Erklärung ein‐ geschoben werden kann:3 „Die Dantonisten haben nicht das Recht auf gleiche Nachsicht (wie die Hébertis‐ ten, deren Schilderung durch Buonarroti später wiedergegeben wird, AH), weil der Charakter, der in dieser Partei vorherrschte, eine Mischung von Eitelkeit, Intrige, Kühnheit, Falschheit, Käuflichkeit und Verderbtheit war. Ihre anerkannten Anführer sprachen öffentlich Grundsätze aus, die der Reinheit der Sitten, auf denen die fran‐ zösische Regierung jener Zeit die Republik begründen wollte, gänzlich widerspra‐ chen. Knechtische Nachahmer der Verkommenheit, mit der vor der Revolution der Hof und die privilegierten Klassen behaftet waren, bekämpften sie die ehemaligen Großen, um sich an ihre Stelle zu bringen, und erhoben sich gegen die Religion, nicht um die Menschen von dem Joch der Vorurteile und des Aberglaubens zu be‐ freien, nicht um der Tyrannei ihr furchtbarstes Hilfsmittel zu nehmen, sondern um 2 Aulard 1924, S. 218f. 3 Buonarroti 1909, S. 62f.
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sich des Gedankens von einem unbeugsamen Joch zu entledigen, um sich ruhiger dem Feuer ihrer niedrigen Leidenschaften hingeben zu können und um aus dem menschlichen Geist die trostreichen Ideen der Gerechtigkeit, der Rechtschaffenheit und der Tugend zu tilgen. Die Dantonisten betrachteten die Revolution als ein Glücksspiel, in dem der Sieg dem größten Ränkeschmied und Spitzbuben zufällt. Sie lächelten mitleidig über die Worte von Selbstlosigkeit, Tugend, Gleichheit und verlangten offen, dass den Revolutionären nach abgeschlossener Rechnung alle Vor‐ teile des Vermögens und der Macht zufallen sollten, die die Adligen der früheren Regierung genossen hatten. Viele von denen, die ihre Reihen verstärkten, haben sich auch nicht gefürchtet, die verschiedensten Farben zu entlehnen, allen Tyrannen zu schmeicheln und sich den verrufensten Umtrieben hinzugeben, um Vermögen zu er‐ langen und einen Schatten von Macht zu behalten.“4 Der am, so viel kann im Vorgriff bereits gesagt werden, 15./16. Februar 1793 vor‐ gelegte (d. h. verlesene) Entwurf des Verfassungsausschusses der Gironde stammte vor allem von Condorcet. „Der Girondist Condorcet, der berühmte Mathematiker und Philosoph, der sich schon 1774 mit Turgot zusammen mit politischen und sozia‐ len Reformen beschäftigt hatte und der nach Varennes einer der ersten gewesen war, die sich als Republikaner erklärten, war an der Abfassung des Verfassungsentwurfs, den diese Kommission dem Konvent überreichte, und der Erklärung der Menschenund Bürgerrechte, die diesen Entwurf begleitete, am meisten beteiligt.“5 Condorcets Denken wurde im vorausgehenden Kapitel bereits beleuchtet – und zwar genau in jener nur wenige Monate dauernden Epoche, die der Abfassung seines Verfassungs‐ entwurfes folgte (wobei er über sein letztes großes Buch ja bereits in den Monaten vor Abfassungsbeginn sicherlich nachgedacht haben wird). Der 11. Oktober, daran kann kein Zweifel bestehen, war ein Tag der Klassenpoli‐ tik. „Tags darauf bestieg Couthon, der bisher den Neutralen zwischen den Fraktio‐ nen spielte und aus seinem Misstrauen gegen die Kommune kein Hehl machte, die Tribüne im Jakobinerklub, um das Ergebnis dieser Abstimmung zu erörtern. Er sag‐ te: 'Es gibt im Konvent zwei Parteien. (…) Die eine besteht aus Männern von über‐ triebenen Grundsätzen, die mit ihren unzulänglichen Mitteln zur Anarchie neigen, und eine andere, von feinen, subtilen, intriganten und vor allem äußerst ehrgeizigen 4 Weiter heißt es dann (über die Dantonisten und, im Vergleich, die Hébertisten): „Gefährliche Anschläge wurden von den Führern dieser Partei angezettelt, und nicht ohne ernste Gründe klagte die revolutionäre Regierung sie an, im Einverständnis mit fremden Kabinetten zu han‐ deln, die gegen die französische Republik verbündet waren. Wie es auch mit den geheimen Be‐ richten der Anführer sei, es ist nicht weniger wahr, dass die beiden Parteien daran arbeiteten, alles umzuwerfen, und dass sie zu den tragischen Ereignissen des 9. Thermidor Beifall klatsch‐ ten und beitrugen. Indessen geschah das in ganz verschiedener Absicht. Die Dantonisten wollten die Gleichheit, die sie hassten, und die republikanische Strenge, die ihnen unangenehm war, los werden, während die Hébertisten törichterweise glaubten, dass die Gleichheit und die Republik dadurch beschlossen und befestigt werden würden. Der Irrtum von diesen dauerte nicht lange.“ (Buonarroti 1909, S. 62.) 5 Kropotkin 1982, II, S. 159.
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Männern gebildete; sie wollen wohl die Republik, sie wollen sie, weil die öffentliche Meinung sich in diesem Sinne erklärt hat. Aber sie wollen auch die Aristokratie, sie wollen ihren Einfluss dauerhaft machen, sie wollen die Stellungen, die Ämter, vor allem die Kassen der Republik zu ihrer Verfügung haben. (…) Werft einen Blick in die Ämter, überall sitzen ihre Anhänger. Beachtet, wie der Verfassungsausschuss zu‐ sammengesetzt ist. (…) Das war es, was mir die Augen öffnete. Auf diese Gruppe, welche die Freiheit nur für sich will, muss man sich mit aller Wucht stürzen!' Und der in einen Bergparteiler verwandelte Couthon, obgleich er sich seiner Schwäche für die Maßlosen noch erwehren musste, konnte nicht umhin zu erklären, dass, wer immer sich von den Jakobiner trennte, ein unzuverlässiger Patron sei, den das Vater‐ land verwünschen müsste.“6 Peter Kropotkin sah die Lage ganz ähnlich: „Es ist klar, dass die erste Frage, die sich im Konvent erhob, die war, welche der beiden Parteien, die sich gegenseitig die Macht streitig machten, den Nutzen von der neuen Verfassung haben sollte. Die Gi‐ rondisten wollten aus ihr eine Waffe machen, die es ihnen ermöglichte, dafür zu sor‐ gen, dass die Revolution mit dem 10. August zu Ende war. Und die Bergpartei, die das Werk der Revolution noch nicht für vollendet ansah, strengte all ihre Kräfte an, um die endgültige Debatte über die Verfassung, so lange es ihnen nicht gelungen war, die Macht der Girondisten und der Royalisten zu brechen, zu verhindern. Schon vor der Verurteilung Ludwig XVI. hatten die Girondisten darauf gedrängt, der Kon‐ vent solle ihre Verfassung annehmen; sie hofften, den König dadurch zu retten. Und als sie später im März und April 1793, kommunistische Bestrebungen, die sich ge‐ gen die Reichen wandten, im Volk hochkommen sahen, drängten sie den Konvent noch mehr, den Entwurf Condorcets anzunehmen. Sie hatten Eile, 'zur Ordnung zu‐ rückzukehren', um den Einfluss, den die Revolutionäre, in der Provinz durch Ver‐ mittlung der Gemeindeverwaltungen und der sansculottischen Sektionen und in Pa‐ ris durch die Kommune, ausübten, zu verringern.“7 Es ist an dieser Stelle zum besseren historischen Verständnis angebracht, noch einmal Philippe Buonarroti zu Wort kommen zu lassen, der als Zeitzeuge eine Schil‐ derung der Girondisten niedergeschrieben hat, die sich mit dem Urteil der großen französischen Historiker deckt bzw. diesen bereits zur Grundlage und zur Bestäti‐ gung eigener Überlegungen diente. Die Klassenpolitik dieser „Gruppierung“ (im weiteren Sinne) – und welch verheerende Konsequenzen sie für den Verlauf der Re‐ volution und so viele individuelle Menschenschicksale hatte – muss hier noch ein‐ mal deutlich gemacht werden. Buonarroti sah die Girondisten in einer Mittelstel‐ lung, als Klasse von Bürgerlichen stünden sie zwischen dem Volk und dem alten
6 Mathiez 1950, I, S. 333. 7 Kropotkin 1982, II, S. 159.
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Adel, den sie letztlich beerben wollten.8 „Diese Klasse setzte sich zum großen Teil zusammen aus Advokaten, aus Staatsanwälten, Ärzten, Bankiers, reichen Kaufleu‐ ten, wohlhabenden Bourgeois und Gelehrten, die aus der Wissenschaft einen Handel und ein Mittel zum Emporkommen machten. Habsüchtig, eitel unbeweglich, widme‐ te sie sich den ersten Bewegungen der Revolution und ließ die Menge daran teilha‐ ben, welche die Not und der Mangel an Bildung in ihre Abhängigkeit brachte. (…) Im Allgemeinen wollten die Girondisten nichts von dem hässlichen alten Regime. Aber sie wollten auch nicht, dass das neue so weit ginge, sie mit dem zu vermengen, was sie das Volk nannten, und sie jener Überlegenheit beraube, die ihnen so vorteil‐ haft war. Im Grunde kümmerten sie sich wenig darum, ob Frankreich monarchisch oder republikanisch regiert wurde, wenn nur sie und die ihrigen Besitzer und Spen‐ der der Gunstbezeugungen blieben, welche der Macht entspringen, und wenn die Volksherrschaft in Wahrheit nichts würde als ein glücklich erfundenes Wort, um die Unterwerfung und den Gehorsam des Volkes gegen die Gesetze, die sie erfanden und vollstreckten, besser zu sichern.“9 Um diese ihre Ziele durchzusetzen, hätte die Gironde so ziemlich alles getan: Mit Monarch und Adel paktiert, das Volk betrogen, schließlich hätte sie gar versucht, den König zu retten, den Thron wieder zu errichten und Frankreich mit Bürgerkrieg zu überziehen.10 „Es scheint mir ein großer Irrtum, zu glauben, dass die Girondisten wahre Freunde der Freiheit und aufrichtige Republikaner waren. Im Gegenteil, sonst wären sie kaum so erpicht darauf gewesen, jene Pariser Gemeindeverwaltung vom 8 „Aber die Liebe zum Luxus, der Durst nach Gold und der Wunsch, zu glänzen und herrschen, waren nicht der ausschließliche Anteil des Adels. Zwischen ihnen und der ungeheuren Klasse von arbeitsarmen Menschen gab es eine andere zahlreiche Klasse von Bürgerlichen, welche durch Reichtümer, durch Feinheit der Manieren, durch Feinheit des Geistes, durch Geschwätz, durch Verfall der Sitten und durch Religionsverachtung glänzten. Diese Klasse verachtete auch die Masse des Volkes, glaubte sich dazu geschaffen, es zu meistern, gab vor, der gesunde Teil der Nation zu sein, und fügte die Ränkesucht und die Eifersucht zu den Lastern der Adligen, die sie zu verdrängen strebte.“ (Buonarroti 1909, S. 45.) 9 Buonarroti 1909, S. 45f. 10 „Unglückliche Gironde! Nicht ohne Grund schreibt man dir die Absicht zu, den Thron wieder zu errichten. Waren nicht einige Royalisten unter diesen Girondisten, welche in Lyon gegen die Republik kämpften unter dem Befehl eines Offiziers des Königs und welche in ihren Reihen die Ausgewiesenen aufnahmen, die sie aus dem Gefängnis befreiten oder die Menge in diese aufklärerische Stadt eilten? (…) Der kritische Geist der Gironde erscheint am deutlichsten in dem von ihr hartnäckig festgehaltenen Vorschlag, das Urteil gegen Ludwig XVI. den Urver‐ sammlungen zur Bestätigung zu unterbreiten. (…) Konnte sie sich schmeicheln, in das Herz der Franzosen den Hass gegen das Königtum einzupflanzen, auf den die Republik sich stützen sollte, in dem sie zu Gunsten des gefangenen Königs ein so neues Privilegium schuf? Weshalb fürchtete sie nicht, Frankreich der Zögerung und der Zerstückelung auszusetzen, die das Grab der Freiheit hätten unterwühlen können? (…) Erhebt man Charaktere, indem man Winkelzüge macht? Bricht man die Ketten der Nationen, wenn man zittert? Wenn man um jeden Preis Re‐ publikaner in den Girondisten sehen will, muss man wenigstens gestehen, dass ihr Benehmen abgeschmackt war und dass, wenn sie eine Republik wünschten, diese so war, dass der Druck, mit dem sie auf dem Volke lastete, dieses bereits die frühere Knechtschaft hätte zurück wün‐ schen lassen.“ (Buonarroti 1909, S. 47f.)
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10. August so zu verleumden und zu verfolgen, der man hauptsächlich den Triumph dieses Tages verdankte.“11 Buonarroti hat mit diesen Worten die seiner tiefen Überzeugung nach richtige und zutreffende Schilderung der Girondisten gegeben. Er sah in ihnen Motive und Moti‐ vationen wirksam, die dem Glück des Volkes entgegenstehen würden und der Revo‐ lution und der Republik vom ersten bis zum letzten Tage schadeten. Da sich die Gi‐ rondisten nie eindeutig zum Volk und zur Republik und damit zur Tugend positio‐ nierten, wurden sie verantwortlich für die Konterrevolution: „Unglückliche Gironde! Spielzeug deiner Eitelkeit! Du konntest weder offen königlich noch zuverlässig re‐ publikanisch sein. Du machtest uns um so mehr Schaden, als du deine Fehler mit dem Anschein des Patriotismus und der Mäßigung bedecktest, und dass du jene Strenge dringend und notwendig machtest, welche erst die Republik rettete, dann aber so viel Hilfsmittel für jene lieferte, durch die sie nacheinander niedergerissen und zerstört wurde. Unglückliche Gironde! Indem du die Männer bekämpftest, die aufrichtig nach dem Glücke des Volkes trachteten, liefertest du sie wehrlos den Ver‐ dorbenen aus, von denen sie am 9. Thermidor geopfert wurden. Indem du nur auf die Ratschläge der Rache hörtest, führtest du jene Zeit des Blutbades der Republika‐ ner herbei, und dein aristokratischer Geist schuf die Verfassung des Jahres III, der wir die Tyrannei Bonapartes verdanken, die zum großen Teil dein Werk war. Mögen andere die Beredsamkeit der Girondisten rühmen, wir können sie in keiner Hinsicht loben, weil wir überzeugt sind, dass ihr Einfluss eine der wirksamsten Ursachen war für den Verfall der Revolution, den Sturz der Republik und den Verlust der Frei‐ heit.“12 Soweit Buonarroti. Nach dem Urteil der klar (und damit un-ideologisch) blicken‐ den großen Historiker und auch der revolutionären Zeitgenossen war der Verfas‐ 11 Weiter heißt es: „Hätten sie sonst daran gedacht, noch während der Dauer des Kampfes den öffentlichen Enthusiasmus herabzustimmen unter dem Vorwand, die Ordnung wiederherzustel‐ len, der so notwendig erhalten und angeschürt werden musste? Hätten sie sonst so viel gegen jene schrecklichen, aber unvermeidlichen Hinrichtungen des 2. und 3. September geeifert, die offenbar in der Absicht beschlossen, die Revolution zu befestigen, beklagenswerte Folgen wa‐ ren von den offenen und heimlichen Feindseligkeiten der Freiheitsfeinde und der ernsten und ungeheuren Gefahren, von denen das französische Volk damals bedroht war? Hätten sie sonst das Heiligtum der Gesetze in eine Arena von Gladiatoren verwandelt durch ihre heftigen und verleumderischen Anklagen, die sie gegen jene erhoben, die am meisten dazu beigetragen hat‐ ten, den Mut des Volkes zu heben? Hätten sie sonst die Reichen erschreckt, den Zwiespalt ge‐ sät und davon gesprochen, Frankreich zu verbünden in dem Augenblick, wo es die vollkom‐ menste Einigkeit brauchte, um das bewaffnete Bündnis der Könige zurückzuweisen? Hätten sie sonst, selbst nach ihrer Vertreibung aus dem Konvent, den Bürgerkrieg entzündet und ver‐ sucht, die Departements gegen jene Kommune von Paris zu bewaffnen, die hauptsächlich der fremde Feind hasste? Hätten sie endlich nicht wissen können, dass das einzige Mittel, die Re‐ volution zu stählen und die Freiheit, das Glück und den Frieden auf immer zu befestigen, darin bestand, dem Volke beizustehen, die geheimen Wünsche so vieler Millionen von Unterdrück‐ ten zu befriedigen und gleichmäßig die Wohltaten der Gesellschaft auf jedes ihrer Glieder zu verteilen?“ (Buonarroti 1909, S. 47.) 12 Buonarroti 1909, S. 49.
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sungsentwurf Condorcets also ein Werk und ein Instrument der Klassenpolitik der Großbourgeoisie. Er war der Versuch, die Politik der Gironde auf Dauer zu stellen – und das heißt: Die Vorteile und den Nutzen der Revolution nach wie vor der Klasse der Bourgeoisie zuzuschlagen, nunmehr freilich mit Zugeständnissen an die Armen und Entrechteten, die sich, das hatten die Volkserhebungen gezeigt, nicht mehr ein‐ fach so unterdrücken und aus dem politischen System ausschließen ließen. Und das Volk hatte schlichtweg Hunger – ein Bedürfnis, das anders als die girondistische Gier, nicht abgelenkt werden kann, sondern befriedigt werden muss, sich nicht „auf die lange Bank“ schieben lässt. Eine neue Verfassung war also auch notwendig, da König, Adel und Klerus der Gironde als Gegengewicht zum Volk nicht mehr zur Verfügung standen. Es kann nicht überraschen, dass die Girondisten schon in ihrer Zeit immer wieder – und zu Recht – mit dem Vorwurf konfrontiert waren, alle Vorteile der Revolution allein zu genießen und sich auf Kosten des Volkes zu bereichern. (Man erinnere die gerade wiedergegebenen Schilderungen.) Die auf theoretischer Ebene innovativen und modernen Elemente des Entwurfs von Condorcet sind also immer mit der Frage zu konfrontieren, inwieweit sie einen Beitrag dazu leisten sollten, konnten, die Herr‐ schaft der Bourgeoisie weiter zu sichern und auf Dauer festzuschreiben – explizite und implizite Dienste waren ähnlich bedeutsam und erwünscht. Theorie und Praxis waren nach wie vor zwei Schuhe, die auch im Dämmer oder Halbdunkel noch längst kein zusammengehöriges Paar bildeten. Aber nichtsdestotrotz war der Vorschlag Condorcets ein großer Wurf. Man schrieb die ersten Monate des Jahres 1793 als er eine Verfassung zur Diskussion stellte, die beanspruchen kann, in einzelnen Punkten weitaus emanzipatorischer und freier zu sein als unsere heutige bundesrepublikanische Verfassung (so eine solche qua exakter Definition überhaupt vorhanden ist). Was die Bourgeoisie, hätte sie die Chance gehabt, mit dem vorgeschlagenen Konstrukt zu arbeiten und sich zu arran‐ gieren (gar über einen längeren Zeitraum), daraus gemacht hätte, ob sie es überhaupt angenommen und buchstabengetreu umgesetzt hätte – dies sind Fragen, die im fata‐ len Reich des Konjunktivs ihrer Beantwortung harren müssen, bis sich jemand fin‐ det, der ein „hätte, wäre, wenn“ gegen die Wissenschaft eintauscht. (Also: Diese Leute gibt es natürlich schon, aber sie sollen hier mit Schweigen bedacht werden.) Wie bereits erwähnt wurde, der Verfassungsentwurf Condorcets als Gesamtwerk des eingesetzten Ausschusses am 15. und 16. Februar 1793 im Konvent verlesen. Da Condorcet selbst gesundheitlich geschwächt war, setzte Gensonné die Lesung fort. Marat schrieb in seinem Artikel Über die Verfassung darüber am 18. Februar im Journal de la République française: „In der Sitzung vom 15. ist auf der Tribüne der Berichterstatter des Verfassungsausschusses in Begleitung mehrerer Mitglieder die‐ ses Ausschusses erschienen. Der Präsident kündigt die Verlesung der Verfassung an; bei diesen Worten, die die erhabensten Gedanken wecken sollen, bekunden sich auf
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allen Seiten Zeichen des Interesses, worauf dann sofort tiefstes Schweigen folgt. Eine einleitende Rede hat als Präambel gedient, und obwohl sie ganz in der polemi‐ schen Art und im näselnden Tonfall Condorcets vorgetragen wurde, ist sie bis zum Ende mit der größten Aufmerksamkeit angehört worden. In dieser Rede prüft der Autor verschiedene verbreitete Meinungen zu bestimmten Punkten der Politik, be‐ sonders zur Gestalt, die der Nationalsenat erhalten sollte; er entscheidet sich für eine einzige Kammer. Dann erkennt er die Verdienste der öffentlichen Meinung an, die die Geltung der Gesetze im Volk verankert hat, und er entwickelt lang und breit die verschiedenen Vorsichtsmaßnahmen, die zu ergreifen sind, um die Primärversamm‐ lungen im Zaume zu halten, und zwar unter dem Vorwand, dass man da keine Un‐ ordnung aufkommen lassen dürfe und verhindern müsse, dass sie zum Aufstand schreiten. In ihrem wahren Lichte betrachtet, ist diese Abhandlung das Prisma, durch das der Ausschuss seine Arbeit, das heißt die Verfassung, gesehen wissen möchte. Die Verfassung ist von Gensonné vorgelesen worden, den man wegen sei‐ nes nasalen Tons die Gironde-Ente genannt hat; unter allen Vorlesern war er am we‐ nigsten geeignet, Eindruck zu machen.“13 Danton hatte als einziges Mitglied des Verfassungsausschusses den Text nicht un‐ terzeichnet. Nach der Verlesung löste sich der Ausschuss auf. In den Monaten seiner Arbeit hatte er nicht allzu viel Aufsehen erregt, gleichwohl aber schon zu Beginn (im Oktober 1792) dazu aufgerufen, Vorschläge an die Kommission zu senden, um auf diese Weise einen Überblick über die Ideen des „gesamten menschlichen Geis‐ tes“ zu erhalten.14 Insgesamt besteht das girondistische Verfassungswerk aus drei Teilen: In der Darlegung der Prinzipien und Gründe des Verfassungsentwurfs gab Condorcet quasi eine Erläuterung (Marat: „Prisma“) seines eigenen Verfassungsent‐ wurfs sowie der jeweiligen Gründe, die für die Formulierungen und Thesen aus‐ schlaggebend gewesen seien.15 Daneben finden sich einige einleitende Bemerkun‐ gen, die grundsätzlicher Natur sind. Diese werden im Folgenden kurz angesprochen, die weiteren Ausführungen werden teilweise bei der Darstellung der Verfassungstei‐ le ergänzend hinzugezogen. Den zweiten Teil bildet eine Neufassung der Menschen‐ rechtserklärung unter dem Titel Entwurf einer Erklärung der natürlichen, bürgerli‐ chen und politischen Rechte der Menschen.16 Der dritte Text schließlich ist der Ent‐ wurf einer französischen Verfassung selbst.17 13 Marat 1987, S. 136f. 14 Kley/Amstutz 2011, S. 12. 15 Abgedr. in deutscher Übers.: Condorcet 2010, S. 173–213, franz. als: Condorcet 2011, in: Kley/Amstutz 2011, S. 43–85. 16 Abgedr. in deutscher Übers. und franz. Orig.: Condorcet, 2011, in: Kley/Amstutz 2011, S. 93– 101. 17 Abgedr. in deutscher Übers. und franz. Orig.: Condorcet, 2011, in: Kley/Amstutz 2011, S. 103– 203. Zeitgenössische Übersetzungen gibt es mehrere, siehe diejenige bei: Girtanner 1802, 14, dort auch eine Darstellung und Interpretation der Umstände aus konservativ-royalistischer Per‐ spektive des deutsch-christlichen Bürgertums.
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Die Darlegung der Prinzipien und Gründe des Verfassungsentwurfs formulierte noch einmal den Auftrag der Kommission: „Einem Gebiet von 27.000 Quadratmei‐ len, das von 25 Millionen Menschen bewohnt wird eine Verfassung zu geben, die ausschließlich auf den Prinzipien der Vernunft und der Gerechtigkeit gegründet ist und den Bürgern den vollständigsten Genuss ihrer Rechte sichert; die Teile dieser Verfassung so miteinander zu verknüpfen, dass, trotz der Notwendigkeit, den Geset‐ zen Gehorsam zu leisten und den Willen des einzelnen Bürgers dem Gemeinwohl unterzuordnen, die Souveränität des Volkes, die Gleichheit zwischen den Bürgern und die Ausübung der natürlichen Freiheit in vollem Umfang gewahrt ist – das war die Aufgabe, die wir zu lösen hatten.“ Condorcet betonte in seinen Ausführungen die Errungenschaften der Revolution: Das Volk habe sich von „allen Vorurteilen ge‐ löst“ und vom „Joch seiner überkommenen Institutionen befreit“. Bei der Ausarbei‐ tung seiner Gesetze wolle und müsse es nur den allgemeinen „Prinzipien folgen, die durch die Vernunft geheiligt sind“.18 Es waren die Ideale der Aufklärung, die sich hier mit der Stimme Condorcets noch einmal zu Wort meldeten. Damit ist übrigens auch durchaus eine gewisse Differenz zwischen Condorcet und der Klassenpolitik der Girondisten bezeichnet. Die der Verfassung zugeschriebene Funktion freilich stellte die Aufklärung (in ihrer gemäßigten, großbürgerlichen Variante, die vom atheistischen Materialismus in der Prägung durch Meslier, La Mettrie, Diderot, Holbach, Helvétius usw. radikal zu unterscheiden ist) in den Dienst der Gironde: „Die neue Verfassung muss ebenso für ein Volk, in welchem sich gerade eine revolutionäre Bewegung vollendet, wie für ein Volk in Friedenszeiten geeignet sein. Indem sie die Unruhen besänftigt, ohne die Kraft des Gemeingeistes zu schwächen, muss sie jene revolutionäre Bewegung zur Ruhe kommen lassen, ohne sie durch Unterdrückung gefährlicher zu machen und ohne sie durch widersprüchliche oder unklare Maßnahmen zu verlängern, die diese vorübergehend nützliche Erregung in Zerstörung und Anarchie verwandeln wür‐ den.“19 Das sind fast schon jene Sätze Napoleons zu Ende und Fortsetzung der Re‐ volution, die die neue Monarchie krönten. Im Namen der Girondisten erklärte Con‐ dorcet die Revolution für beendet (eben das „zur Ruhe kommen lassen“). Eine sozia‐ le Revolution sei nicht mehr nötig und schon gar nicht wünschenswert und erst recht nicht notwendig. Das Klasseninteresse war dergestalt ausdrücklich und präzise for‐ muliert. Gleichzeitig machte Condorcet auch noch einmal deutlich, warum der Bruch mit dem Ancien Régime vollzogen werden musste. Jede Erblichkeit politischer Ämter sei eine Verletzung der natürlichen Gleichheit. Jede festgeschriebene Ausnahme von der Regel verletze die Rechte aller und damit ebenfalls die Gleichheit. Die Vereh‐ rung einzelner Personen sei unvernünftig. All dies passe „nicht mehr in ein aufge‐ 18 Condorcet 2010, S. 173. 19 Condorcet 2010, S. 173.
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klärtes Jahrhundert und zu einem Volk, dessen aufgeklärter Verstand es in die Frei‐ heit geführt hat“. Die Konsequenz sei klar: „Folglich musste das Königtum abge‐ schafft werden.“20 Es ist deutlich die Handschrift Condorcets zu erkennen, wenn der Entwurf einer Erklärung der natürlichen, bürgerlichen und politischen Rechte der Menschen weit‐ aus stärker die – theoretischen (!) – Ideale der Aufklärung festschreibt als die Erklä‐ rung von 1789. Sie umfasst nunmehr insgesamt 33 Artikel.21 Der erste erklärt: „Die natürlichen, bürgerlichen und politischen Rechte des Menschen sind die Freiheit, die Gleichheit, die Sicherheit, das Eigentum, die gesellschaftliche Garantie und der Wi‐ derstand gegen die Unterdrückung.“ (Art. 1) Es ist auffällig, dass Condorcet zwar kontraktualistisch zu argumentieren scheint, aber mit grundlegenden Paradigmen des Kontraktualismus bricht.22 Denn er vermengt gerade die natürlichen und die nach dem Vertrag entstandenen künstlichen (Thomas Hobbes, Ausgabe: 1992, sprach grundlegend und charakteristisch im Leviathan bereits in den einleitenden Sätzen von der „künstlichen Seele der Maschine“) Rechte des Menschen.23 So ist klar, dass Sicherheit und Eigentum eben keine natürlichen Rechte sind, sondern dass zu ihrer Herstellung Gesellschafts- und/oder Staatsvertrag (zusammen oder nacheinander) erst geschlossen werden müssen. Die vermeintlich natürlichen Rechte sind demnach für Condorcet nur insoweit interessant, als sie als bürgerliche Rechte neu kodifiziert zu werden verdienen – um sie anschließend gedanklich (und in intellektuell betrüge‐ rischer Absicht) in den Naturzustand zurück zu projizieren. Alle weiteren Artikel der neuen Erklärung sind Konkretisierung dieser Aussage des 1. Artikels. Dabei zumeist der Einteilung folgend, dass zuerst der Gegenstand definiert und dann näher auseinandergesetzt wird. Dieser Einteilung kann referie‐ rend und analysierend hier gefolgt werden. Die Freiheit bestehe darin, alles tun zu dürfen, was die Rechte anderer nicht ver‐ letze. (Art. 2) Ebenfalls ein typisch kontraktualistisches Bestandsstück – der christli‐ chen ebenso wie der neuzeitlichen – Vertragstheorie. Um die Freiheit sicherzustel‐ len, sei es notwendig, die Gesetze zu akzeptieren und sich ihnen zu unterwerfen. Dem amerikanischen Beispiel folgend,24 formulierte die neue Erklärung, dass alles, was nicht verboten ist, als erlaubt anzusehen sei. (Art. 3) Ein durchaus emanzipie‐ rend wirkender Akt, da das Individuum dieserart deutlich in die Pflicht genommen wird, durch sein Verhalten zur Sicherung des Ganzen beizutragen – oder auch nicht oder es interpretierend seinen Individualinteressen zu unterwerfen und dabei besten‐ falls nicht ertappt zu werden. Gesichert werden zudem einzelne Freiheiten: Gedan‐ 20 Condorcet 2010, S. 174. 21 Alle Zitate im Folgenden unter Angabe der Art. nach: Condorcet 2011, S. 93–101. 22 Siehe hierzu: Heyer 2005, II, S. 251–268; außerdem: Euchner 1979, S. 14–42; Macpherson 1990; Strauss 1989; Strugnell 1973; Derathé 1950. 23 Siehe: Stollberg-Rilinger 1986. 24 Siehe hierzu immer noch grundlegend: Redslob 1912.
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ken- und Meinungsfreiheit (Art. 4), Pressefreiheit (Art. 5) – in der neuen Erklärung ohne Einschränkung – und Religionsfreiheit (Art. 6). Diese Freiheit der Religions‐ ausübung war, daran kann kein Zweifel bestehen, gegen verschiedene kommunisti‐ sche Bestrebungen gerichtet, die sich häufig mit dem Gedanken der Entchristianisie‐ rung verbanden. (Vor allem die Hébertisten.)25 Die Jakobiner unter Robespierre schrieben später die analoge Aussage fest. Als Kultusfreiheit – versehen freilich mit dem Hinweis, dass diese Garantie nur ob der Erfahrungen der Vergangenheit not‐ wendig sei. (Dazu später ausführlich.) Die Gleichheit wird, das ist im Prinzip typisch girondistisch, gegenüber den ande‐ ren natürlichen und künstlichen Rechten, äußerst stiefmütterlich behandelt. „Nur“ drei Artikel beschäftigen sich mit ihr: „Art. 7: Die Gleichheit besteht darin, dass sich jeder der gleichen Rechte erfreuen kann. Art. 8: Das Gesetz muss für alle gleich sein, ob es nun belohnt, bestraft, schützt oder verbietet. Art. 9: Alle öffentlichen Po‐ sitionen, Einstellungen und Ämter sind sämtlichen Bürgern zugänglich. Die freien Völker kennen keine anderen Auswahlkriterien als die Begabungen und die Tugen‐ den.“ Weitere Ausführungen gibt es nicht, jedwede andere Dimension der Gleichheit wird verfassungsmäßig und damit grundlegend ausgeschlossen, ist im Entwurf der neuen Erklärung nicht präsent und derart zugleich unvernünftig, widernatürlich, stigmatisiert als nicht mit den Idealen der Aufklärung zu vereinbaren. (Erneut wollte die Gironde die Revolution vor der sozialen Revolution ausbremsen, die eigentliche Revolution des Volkes verhindern.) Festgesetzt wird, ob nun zynisch oder nüchtern, erneut die Gleichheit der angeblichen Chancen für alle. Dass diese Betrüger und Verlierer kennt, ein festes materielles, unsoziales, kulturelles, bildungspolitisches, kurz: ein privilegiertes und privilegierendes Fundament hat, wird ausgeblendet. Zen‐ tral war sicherlich, dass Condorcet aus Einsicht in die Notwendigkeit und auch aus Angst vor den Volksmassen den Zensus abschaffte (Art. 9). Aber auch hier fehlt die 25 Buonarroti, dessen Einschätzung der Dantonisten bereits wiedergegeben wurde, schilderte die‐ se „Gruppierung“ wie folgt: „Man rechnete im Allgemeinen in die Reihe der Hébertisten nur arbeitsame, ehrliche, offene und mutige, wenig gelehrte Leute, die den politischen Theorien fremd waren, die Freiheit aus edler Gesinnung liebten, sich für die Gleichheit begeisterten und ungeduldig waren, sie zu genießen. Gute Bürger in einer bestehenden volkstümlichen Repu‐ blik, schlechte Steuermänner in den Stürmen, die deren Errichtung vorangehen – so war es nicht schwer, sie gegen die Verlängerung der revolutionären Einrichtungen einzunehmen, in‐ dem man sie ihnen als einen strafbaren Angriff auf die Souveränität des Volkes darstellte. Man hatte auch nicht viel mehr Mühe, sie davon zu überzeugen, dass alle religiösen Ideen verbannt werden müssten, um auf ewig die Quelle des Aberglaubens und die Macht der Priester zu ver‐ stopfen. Indessen hatten solche Männer, die eher bereit waren, die Schwierigkeiten durch Handstreiche zu heben, als durch das verständige Abwägen von der Nützlichkeit und den Fol‐ gen einer politischen Krisis, das gleiche Ziel im Auge, nach dem die verständigen Freunde der Gleichheit strebten. Aber sie bildeten sich nicht wie diese eine sehr klare Idee über die Einrich‐ tungen, durch die man sie erlangen, noch über den Weg, auf dem man zu ihr kommen konnte. Man muss also nicht ihnen die unheilvolle Spaltung und das Unheil zuschieben, dass die Partei vollbrachte, der sie angehörten.“ (Buonarroti 1909, S. 61f.) Siehe die wichtige Edition der Schriften Héberts (2003) von Peter Priskil, der auch eine überaus lesbare Einleitung verfasst hat: 2003, S. 13–130.
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soziale Dimension. Das Hauptanliegen der Sansculotten gerade im Jahr 1793 war, dass die armen und arbeitenden Bürger für ihr Engagement in der politischen Sphäre materiell zu entschädigen, zu entlohnen seien. Den Enragés um Jacques Roux ging noch nicht einmal die spätere Jakobiner-Praxis mit den Maximum- und Spekulati‐ onsdekreten weit genug. Ja, sogar Kommunismus, zumindest Güter- und Boden‐ gleichheit war eine denkbare, vorstellbare Alternative.26 Auch wenn Condorcet die Gleichheit theoretisch umriss – es war jene girondistische Gleichheit, die man sich erst einmal leisten können muss. Die Sicherheit wird definiert als jener „Schutz, welchen die Gesellschaft jedem Bürger gewährt, um seine Person, seine Güter und seine Rechte zu bewahren“. (Art. 10) Gemeint ist vor allem die Rechtssicherheit mit Blick auf das Gesetz. Nur dieses bestimme Straftaten. (Art. 11) „Willkürliche Rechtsakte“, womit die Politik des Ancien Régime ebenso gemeint ist wie die Volkserhebungen der Revolutionszeit (vor allem das Engagement der Kommune), sind strafbar. (Art. 12) Die Bürger be‐ kommen das ausdrückliche Recht zugesprochen, der gesetzlich nicht sanktionierten Gewalt mit Gewalt begegnen zu dürfen. (Art. 13) (Das ist das Selbsterhaltungsprin‐ zip des neuzeitlichen Kontraktualismus in der Prägung seit Thomas Hobbes.) Weite‐ re Artikel schreiben noch heute gültige Rechtsprinzipien fest: Die Unschuldsvermu‐ tung samt Milde bis zur Erweisung der Schuld (Art. 14), das Gesetz muss vor dem Delikt vorgelegen haben (Art. 15), rückwirkende Gesetze sind strafbar (Art. 16), die Strafen müssen dem „Delikt angemessen und der Gesellschaft nützlich sein“ (Art. 17). Alle diese Regelungen (und auch die folgenden) waren, daran kann kein Zweifel aufkommen, Schutzmaßnahmen des Bürgertums gegen die Volksmassen, gegen mögliche Volkserhebungen, gegen Sansculotten und Pariser Kommune. „Das Recht auf Eigentum besteht darin, dass jeder Mensch nach Belieben über seine Güter, sein Vermögen, seine Einkünfte und seinen Fleiß verfügen kann.“ (Art. 18) Zudem herrscht völlige Wirtschafts- und Handelsfreiheit, keinerlei Form der Betätigung ist verboten. (Art. 19) Damit war die kapitalistische Grundlage der französischen Gesellschaft festgeschrieben. Es war einerseits die Fundierung der bürgerlichen Welt (sozusagen ihr kapitalistisch-egoistisches Grundgesetz), anderer‐ seits direkt gegen die Volksmassen gerichtet, wenn der 21. Artikel deklariert: „Ohne seine Einwilligung darf niemand auch nur des geringsten Teiles seines Eigentums beraubt werden, wenn es nicht die rechtlich festgestellte öffentliche Notwendigkeit offensichtlich erfordert, unter der Bedingung einer gerechten und vorgängigen Ent‐ schädigung.“ Verbunden mit der Begründung des völlig ungehemmten Kapitalismus war die endgültige Absage an den Feudalismus. Jeder Mensch, so erklärt der Artikel 20, dür‐ fe seine Arbeit und seine Zeit verkaufen, nicht aber sich selbst. (Dieser Gedanke war 26 Die Geschichte dieser Bestrebungen hat Peter Kropotkin in seinem Revolutionsbuch gegeben, siehe: Kropotkin 1982, II, vor allem, S. 173–196.
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in jenen Wochen Allgemeingut, er fand in die Jakobinerverfassung Eingang.) Die er‐ wähnten Artikel zeigen bereits deutlich, dass Condorcet, zuvorderst natürlich als ideologische Reaktion auf die tatsächlichen Aufstände und Krisen der Revolutions‐ zeit sowie die zahlreichen sozialen Forderungen, das Eigentum keinerlei Beschrän‐ kungen unterwerfen wollte. Es sind nur Worte, quasi eine Konzession, ein Narkoti‐ kum, keine Taten, wenn Artikel 24 festlegt: „Die Hilfe in Notlagen ist eine heilige Schuld der Gesellschaft. Es ist Sache des Gesetzes, ihren Umfang und ihre Anwen‐ dung zu bestimmen.“ Eine mögliche Sozialpflichtigkeit des Eigentums (girondis‐ tisch gedacht natürlich nur nach entsprechenden Entschädigungen) ist der einzige Punkt, den die neue Erklärung und die Verfassung nicht regeln, sondern an künftige Gesetzgeber verweisen. Damit ist klar, dass die Worte das Papier nicht wert sind, auf dem sie stehen. Vor diesem Hintergrund ist auch Artikel 23 zu lesen: „Die Grundbil‐ dung ist für alle ein Bedürfnis und die Gesellschaft schuldet sie gleichsam allen ihren Mitgliedern.“ Beim Eigentumsrecht, bei der ungehemmten Akkumulation wa‐ ren die Girondisten nicht bereit, irgendwelche Zugeständnisse zu machen. Der Kapi‐ talismus sollte ein richtiger sein. An diesem Punkt sind die Differenzen zur Verfas‐ sung von 1791 am geringsten, sie sind kaum existent. Das bedeutet letztlich auch, dass alle Debatten und Diskussionen, alle Hungerkatastrophen, Lebensmittelengpäs‐ se, die Not und das Elend der arbeitenden Bevölkerung und der armen Massen, wie sie sich in den Revolutionsjahren seit 1791 (bzw., genauer: seit den frühen achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts) gezeigt hatten, die Gironde und ihren Sprecher Con‐ dorcet völlig kalt ließen. Wären die Armen und Entrechteten keine Analphabeten ge‐ wesen, sie hätten Trost finden können nun nicht mehr in der Bibel, sondern in Cond‐ orcets Entwurf einer Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes – ir‐ gendwann und irgendwo werde es auch mal besser sein, durchaus. Sogar die Utopie sollte im Dienst des Kapitalismus stehen, Morellys im Code de la nature beispielhaft ausgesprochene Warnungen und Gerechtigkeitsvisionen für immer der Vergessenheit anheim gegeben werden. An diesen Einsichten, die sich so auch bei den großen französischen Historikern der Revolutionszeit finden lassen, gingen Andreas Kley und Richard Amstutz in ihrer Einleitung zu der von ihnen veranstalteten Ausgabe der neuen Erklärung und des Verfassungsentwurfs vollständig vorbei. Was seinen Grund sicherlich darin hat, dass sie kein einziges Werk der wissenschaftlich hochstehenden Forschungsliteratur gelesen zu haben scheinen, zumindest zitieren sie ein solches nicht. Sie sind damit völlig dem geschriebenen Wort ausgeliefert, sind nicht in der Lage, es mit Maßstä‐ ben der Geschichte oder der Realität zu messen. (Als Beispiel sei nur angeführt, dass sie getrennt nur durch eine Seite, zwei unterschiedliche Angaben zur Zahl der ver‐ hafteten Girondisten nach dem Sieg der Jakobiner machen. Beide sind falsch, ob‐ wohl sich die Autoren einmal dabei sogar selbst zitierten.) Heraus kam ein völlig un‐
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wissenschaftlicher Text auf niedrigem Niveau, gespickt mit zahlreichen Fehl- und Pauschalurteilen, die jedweder Grundlage entbehren. Zur Sozialpolitik schreiben sie, nachdem sie bereits die angeblichen sozialpoliti‐ schen Errungenschaften der Verfassung von 1791 hervorgehoben haben: „Es lag auf der Hand, dass in der mittleren Phase der Revolution, welche die Gleichheit mehr betonte, der Aspekt der sozialen Fürsorge stärker in den Vordergrund treten musste. Der Gironde-Entwurf normiert neben dem Recht auf unentgeltliche Grundausbil‐ dung (Art. 23) auch ein eigentliches Sozialrecht auf Hilfe in Notlagen, in dem die öffentliche Unterstützung als heilige Schuld der Gesellschaft bezeichnet wird (Art. 24). Entsprechend der damaligen Konzeption der Rechte (?) ist es am Gesetz‐ geber, dieses Recht auszuführen, wie Artikel 24 ausdrücklich bestimmt. Es handelt sich hier also um die Formulierung einer Staatsaufgabe. Gleichwohl ist es bemer‐ kenswert, dass die Staatsaufgabe in Form eines Rechts in der Menschenrechtserklä‐ rung festgehalten wird.“27 So weit, so falsch. Man lasse sich das Gesagte auf der Zunge zergehen: Eine Erklärung der Menschenrechte (!) formuliert eine – eigentlich „die“ – Staatsaufgabe, aber verschiebt die Ausführung, Konkretisierung auf später, während alles andere gut geregelt ist. Und das wäre auch noch positiv zu bewerten im Sinn des sozialen Fortschritts. Allerdings ohne jede Beachtung der damaligen hi‐ storischen Situation und ihrer Ideen und Möglichkeiten. Denn die Schlussfolgerun‐ gen, die die Autoren ziehen, sind noch nicht einmal diskussionswürdig: „Der Giron‐ de-Entwurf geht also schon einen Schritt in die Richtung des Sozialstaats.“ Schließ‐ lich, abseits jeglicher Geschichtskenntnis: „Die Politik der Jakobiner fährt nach 1793 auf dieser Linie weiter und beginnt mit einer eigentlichen Interventionspolitik zum Zweck des sozialen Ausgleichs.“28 Die Jakobiner als Erben und Fortsetzer der Girondisten? (Berufen könnten sich Kley/Amstutz zur Gewinnung wenigstens halbwegs diskutabler Argumente auf Au‐ lard, Aubry, Hintze, Mignet – allein: Die Lektüre der Forschungsliteratur war ihre Sache nicht.) Eine solche Feststellung erscheint noch nicht einmal durch die – in der Revolutionszeit so oft betonte – Meinungsfreiheit gedeckt. Mit den sozialen Forde‐ rungen in der Revolution sind die Sansculotten zu verbinden, die verschiedenen qua‐ si kommunistischen Gruppierungen um Jacques Roux, Jacques-René Hébert oder Babeuf. Die Girondisten dagegen waren verantwortlich für die Krisen und Notlagen der Revolutionszeit, für Hunger, Krieg und Bürgerkrieg. Eben deswegen mussten sie scheitern. Sie wollten, wie gesehen, die Revolution – als großbürgerliche – vor der sozialen Revolution beenden.29 Was der Aspekt der Gleichheit, zuvorderst der sozialen Gleichheit in der damali‐ gen Zeit tatsächlich meinte, umfasste, kann einem längeren Zitat aus Peter Kropot‐ 27 Kley/Amstutz, S. 2011 17. 28 Kley/Amstutz, S. 2011 17. 29 Vgl. exemplarisch: Michelet o. J., IV, S. 134–161.
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kins Die Große Französische Revolution, 1789–1793 entnommen werden: „Der be‐ herrschende Gedanke in der kommunistischen Bewegung von 1793 war, dass die Er‐ de als gemeinsames Erbe der ganzen Nation betrachtet werden muss, dass jeder Ein‐ wohner Recht auf den Boden hat und dass jedem die Existenz dergestalt verbürgt werden muss, dass niemand durch den drohenden Hunger gezwungen werden kann, seine Arbeit zu verkaufen. Die 'tatsächliche Gleichheit', von der man im 18. Jahr‐ hundert viel gesprochen hatte, drückte sich jetzt in der Forderung eines gleichen Rechtes aller auf den Boden aus; und die außerordentliche Bewegung im Grundbe‐ sitz, wie sie durch den Verkauf der Nationalgüter entstanden war, rief die Hoffnung wach, diese Idee in Wirklichkeit umsetzen zu können. (…) Unter diesen Umständen bewegte sich notwendigerweise das Denken der Kommunisten in der Richtung des‐ sen, was man 'das Ackergesetz' nannte, das heißt in der Richtung der Beschränkung des Grundeigentums auf ein gewisses Maximum Landes und der Anerkennung des Rechtes eines jeden auf den Grund und Boden. Das Aufkaufen der Ländereien, das damals beim Verkauf der Nationalgüter von den Spekulanten vorgenommen wurde, konnte diese Idee nur befestigen. Und während die einen forderten, jeder Bürger, der das Land bestellen wollte, müsste das Recht haben, seinen Anteil an den Nationalgü‐ tern zu erhalten oder wenigstens zu günstigen Zahlungsbedingungen ein Stück kau‐ fen zu können, forderten andere, die weiter sahen, das Land sollte zum Gemeindeei‐ gentum gemacht werden und niemand sollte ein anderes als ein zeitliches Recht auf den Besitz des Bodens bekommen dürfen, den er selbst bestellte und solange er ihn bestellte.“30 Doch zurück zum neuen Entwurf der Menschenrechte. Garantiert werde die nicht zu bestreitende Zweiklassengesellschaft, in der die Trennung in Arm und Reich für immer festgeschrieben sein soll, durch die „nationale Souveränität“. (Art. 25) „Die Souveränität ist eins, unteilbar, unverjährbar und unveräußerlich.“ (Art. 26) Sie beru‐ he auf dem ganzen Volk und jeder Bürger habe das Recht, an ihr (wie gesehen: auf eigene Kosten) mitzuwirken. (Art. 27) Keine Fraktion oder Partei der Gesellschaft, kein Einzelner könne sich eine Autorität anmaßen, die dieser Souveränität gegen‐ überstehe. (Art. 28) Ein echter Fortschritt gegenüber der Verfassung von 1791 und auch den internen politischen Debatten der Gironde ist in der Festlegung eines Widerstandsrechts zu eruieren, wenngleich dieses nur ein halbes ist und gleichzeitig legalistisch gebunden, geregelt, also reformistisch. (Art. 31) Aber auch dieses hatte gleichwohl einen real‐ historischen Hintergrund – es sollte schlicht und ergreifend die spontanen oder ge‐ planten Aktionen der Volksmassen unmöglich machen bzw. unter Strafe stellen. Es ging nicht darum, die Aufstände und Erhebungen des Volkes zu legitimieren, son‐ dern den Widerstand als Teil der bourgeoisen Welt in bestimmten festgesetzten For‐
30 Kropotkin 1989, II, S. 181f.
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men zu legalisieren. „Unterdrückung liegt vor, wenn ein Gesetz die natürlichen, bür‐ gerlichen und politischen Rechte, die es garantieren muss, verletzt; (…) wenn die Beamten das Gesetz bei seiner Anwendung auf konkrete Tatsachen verletzen; (…) wenn willkürliche Akte die Rechte der Bürger in gesetzwidriger Weise verletzen.“ (Art. 32) Außerdem sah der Entwurf einer Erklärung Condorcets, hier weit über die Verfassung von 1791 hinausgehend, das Recht zur Verfassungsrevision vor.31
31 „Ein Volk hat jederzeit das Recht, seine Verfassung zu revidieren, zu verbessern und zu ändern. Eine Generation hat nicht das Recht, die kommenden Generationen zu unterwerfen, und jede Vererbung von Ämtern ist unsinnig und tyrannisch.“ (Art. 33) Dazu später ausführlicher.
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5. Condorcets Verfassungsentwurf
Der Entwurf einer Erklärung der natürlichen, bürgerlichen und politischen Rechte der Menschen hatte mit seinen Definitionen und näheren Bestimmungen den, wenn man so formulieren will, moralisch-ideologischen, den normativen Rahmen abge‐ steckt und jenes Staatsgebilde in seinen Grundzügen und Funktionen festgelegt, das der Verfassungsentwurf nunmehr gleichsam konstruieren und konstituieren sollte. Wichtig ist vor allem der Hinweis, dass die bereits beschriebene durchaus chaotische Struktur der Verfassung von 1791 überwunden wurde zu Gunsten eines durchdach‐ ten, viele Einzelheiten berücksichtigenden Entwurfs, der sich tatsächlich auf Organi‐ sationsfragen der Demokratie beschränkte. Andreas Kley und Richard Amstutz schrieben in der Einleitung zu ihrer Übersetzung des Vorschlags Condorcets: „Beim girondistischen Verfassungsentwurf handelt es sich um ein höchst feinmechanisches Uhrwerk. Zusammen mit dem Bericht des Verfassungskomitees ergibt sich das Bild einer Verfassung, die sämtlicher zeitgenössischer Probleme der Demokratie mit ma‐ thematisch-genauen Lösungen Herr werden will. Der Wille, möglichst viele Gedan‐ ken des menschlichen Geistes zu berücksichtigen zeigt den Perfektionismus ihrer Urheber. Wären die so vorausgesetzten Bürger aufgeklärte und vor allem gebildete Mitglieder des Staates, hätte diese Verfassung wohl eine Grundlage zu einem funk‐ tionierenden Staat bieten können.“1 Es ist nicht notwendig, den Verfassungsentwurf hier in allen seinen Einzelheiten nachzuvollziehen. Es bietet sich daher an, nach einer stichpunktartigen Aufzählung grundlegender und moderner, innovativer Momente, einige zentrale Punkte und Ele‐ mente herauszugreifen.2 • • •
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„Die französische Republik ist eins und unteilbar.“ (Art. I-1) Vollständige Abschaffung des Zensus für die Wahrnehmung der Bürgerrech‐ te. (II) Alle französischen Männer über 21 haben Bürgerstatus.3 „Die französische Staatsbürgerschaft und ein Alter von mehr als fünfund‐ zwanzig Jahren sind die einzigen notwendigen Voraussetzungen für die Wählbarkeit an allen Orten der Republik.“ (Art. II-1) Öffentlichkeit aller Versammlungen.
1 Kley/Amstutz 2011, S. 13f. 2 Alle folgenden Angaben der jeweiligen Verfassungsartikel in diesem Kapitel nach der Ausgabe: Condorcet 2011, S. 103–203. 3 Genauer Wortlaut: „Jeder Mann über 21 Jahre, der sich ins Bürgerregister einer Urversammlung eingeschrieben hat und der seither, während mindestens eines Jahres ohne Unterbruch, auf fran‐ zösischem Gebiet ansässig war, ist Bürger der Republik.“ (Art. II-1)
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Unverletzlichkeit der Abgeordneten. „Die Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaft dürfen für das, was sie während der Ausübung ihres Amtes ge‐ sagt oder geschrieben haben, nie verfolgt, angeklagt oder verurteilt werden.“ (Art. VII-I-13) Mehrheitsprinzip. (Art. VII-III-2) Mindestens zweimalige parlamentarische Beratung aller Gesetze und Dekre‐ te.4 (Art. VII-III-5) „Es gibt ein einheitliches Zivil- und Strafgesetzbuch für die gesamte Repu‐ blik.“ (Art. X-I-1) Öffentliche Rechtsprechung durch Geschworene und Richter. (Art. X-I-2) Friedensrichter in Gemeinden. (Art. X-II-2) Private Arrangements und Eini‐ gungen zwischen Bürgern auch in Streitsachen dürfen nicht beeinträchtigt werden. (Art. X-II-1) Kein Begnadigungsrecht, denn dies wäre lediglich das „Recht, das Gesetz zu verletzen, in einer freien Regierung, bei der das Gesetz für alle gleich sein muss, darf es nicht existieren“. (Art. X-III-2) Bei Strafanklagen gilt die Unschuldsvermutung, ausführlich werden alle De‐ tails, von der Ausstellung des Haftbefehls bis zur Anklage, geregelt. (X-VI) „Das Haus jedes Bürgers ist eine unantastbare Stätte. Während der Nacht darf nur im Falle eines Brandes oder auf Verlangen aus dem Innern des Hau‐ ses in dieses eingedrungen werden; während des Tages darf, zusätzlich zu diesen zwei Fällen, Kraft eines Befehls des Polizeibeamten dort eingetreten werden.“ (Art. X-VI-14) Überprüfung gesprochener Urteile. (X-IV) Der Vorwurf des Landesverrats wird vor einer Nationaljury verhandelt. (Art. X-V-1) „Die Pressefreiheit ist unbegrenzt. Kein Mensch darf wegen Schriften, über welche Themen auch immer, die er drucken oder auf welche Art auch immer publizieren lässt, gesucht oder verfolgt werden, außer im Falle einer Ver‐ leumdungsklage gegen den Autor oder den Drucker des Schriftstücks durch Bürger, die davon betroffen sind.“ (Art. X-VI-16)
4 Es ist zumindest kurz wiederzugeben, wie der Verfassungsentwurf Gesetze definierte: „Die Merkmale, die die Gesetze kennzeichnen, sind ihre Allgemeinheit und unbestimmte Dauer; die Merkmale, die die Dekrete kennzeichnen, sind ihre örtliche und besondere Anwendung und die Notwendigkeit ihrer Erneuerung zu einem bestimmten Zeitpunkt.“ (Art. VII-II-4) „Als Gesetze sind zu verstehen: Alle Akte der Zivil-, Straf- und Polizeigesetzgebung; Die allgemeinen Vor‐ schriften über Staatsgüter und Staatsanstalten; Über die verschiedenen Abteilungen der allge‐ meinen Verwaltung und über die öffentlichen Einkünfte; Über die Beamten; Über Benennung, Gewicht, Prägung und Münzfuß der Münzen; Über die Art und die Verteilung der Steuern und über die für deren Eintreibung notwendigen Strafen.“ (Art.VII-II-5) Die Dekrete hatten demge‐ genüber vor allem tagesaktuelle Aufgaben, darunter freilich nicht unwichtige: So beispielsweise die jährliche Aufstellung der Streitkräfte, die Festsetzung der öffentlichen Abgaben, Kriegser‐ klärungen und Staatsverträge. (Art. VII-I-6)
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Anerkennung eines Urheberrechts: „Die Autoren behalten das Eigentum an den Werken, die sie haben drucken lassen; das Gesetz muss aber dies nach dem Abdruck nur für die Dauer ihres Lebens garantieren.“ (Art. X-VI-18) Wahlen für alle Ämter und Funktionen. Abschaffung der Wahlmännerver‐ sammlungen der Verfassung von 1791.5 Permanente Rotation in allen Mandaten, Ämtern und Funktionen, ständige Neuwahlen, so Dynamik des Politischen. Verbot von Ämterdoppelung. (Art. III-III-25) Festlegung des Steuerrechts. „Die öffentlichen Abgaben dürfen die Bedürf‐ nisse des Staates nie übersteigen.“ (Art. XII-1) Die Steuern werden auf die Bürger „mit Rücksicht auf ihre Zahlungskraft“ verteilt. (Art. XII-4) „Jedoch darf der Anteil am Ertrag aus Produktion und Arbeit, der für jeden Bürger für seinen Lebensunterhalt für notwendig erachtet wird, keiner Abgabe un‐ terworfen sein.“ (Art. XII-5) „Es darf keine Abgabe erhoben werden, die durch ihre Natur oder in ihrer Art der Selbstbestimmung über das Eigentum, dem Fortschritt der Produkti‐ on und des Handels sowie der freien Bewegung des Kapitals schadet oder die Verletzung der von der Verfassung anerkannten und deklarierten Rechte zur Folge hat.“ (Art. XII-6) „Die französische Republik greift nur zu den Waffen, um ihre Freiheit auf‐ rechtzuerhalten, ihr Gebiet beizubehalten und ihre Verbündeten zu verteidi‐ gen.“ (Art. XIII-1) Es heißt aber auch: „Die französische Republik hat, in ihren Beziehungen zu den fremden Nationen, die Institutionen, denen die Allgemeinheit der Völker (!) zugestimmt hat, zu respektieren.“ Art. XIII-4)
Den wahrscheinlich größten Unterschied zur Verfassung von 1791 markiert der in der voranstehenden Aufzählung zuvorderst genannte erste Artikel der Verfassung: „Die französische Republik ist eins und unteilbar.“ (Art. I-1) Die Republik erscheint bei Condorcet (und nicht nur bei diesem, denn in dieser Allgemeinheit war die Fest‐ stellung im Prinzip die, von fast allen – Ausnahmen waren natürlich die Royalisten, die Emigranten und der Adel und die eidverweigernden Priester – Seiten und Lagern geteilte, Parole des Tages) als notwendige Konsequenz der Abschaffung der Monar‐ chie – und die daraus zu ziehenden Folgen sind weitreichend: „Doch da inzwischen die Republik an die Stelle des widersprüchlichen und knechtischen Systems der be‐ grenzten Monarchie getreten ist, da alles uns wünschen lassen muss, dass eine einzi‐ ge Körperschaft als Prinzip aller gesellschaftlichen Tätigkeit die Einheit in vollem Ausmaß bewahrt, könnten die Wahlversammlungen heute ihren Einfluss nur noch 5 „Art und Form der Wahlen sind ein wesentlicher Bestandteil der Verfassungsgesetze.“ (Con‐ dorcet 2010 S. 201.)
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gegen die Versammlung der Repräsentanten der ganzen Nation ausüben. Sie würden allein zur Unterstützung der regionalen Verwaltungen und gegen diese Versammlung und gegen die nationalen Beamten dienen. Sie beizubehalten würde eine ständige Bedrohung der Unteilbarkeit der Republik bedeuten und jeder Partei, welche die Verwandlung Frankreichs in eine Liga konföderierten Republiken beabsichtigte, eine gefährliche Kraft verleihen, da jedes Departement in den Wahlversammlungen noch eine Art von besonderer Repräsentationsversammlung hätte, die man nur zu‐ sammen zu rufen und in Tätigkeit zu setzen braucht, um dort ein eigenständiges und unabhängiges Machtzentrum zu schaffen. Die Überzeugung, dass man auf die Wahl‐ versammlungen verzichten kann, genügte, um uns darin zu bestärken, den Bürgern das Recht der direkten Wahl wiederzugeben, das man ihnen genommen hat.“6 Diese Passage zeigt noch einmal die zwei wichtigen Charakteristika des Ent‐ wurfs: Zum einen, dass zwischen Theorie und Praxis und Wort und Tat ein großer Unterschied bestehen kann. Denn während Condorcet die Einheit und Unteilbarkeit der Republik erklärte, entwickelte – rein aus machtpolitischen Gründen und ökono‐ mischen Interessen – die Gironde erste Pläne, um Frankreich in jenen blutigen Bür‐ gerkrieg zu stürzen, der dann den Sommer des Jahres 1793 beherrschte und die Re‐ publik fast in den Untergang führte.7 Zum anderen aber ist Condorcet von eben die‐ ser Entwicklung durchaus zu separieren, womit gesagt ist, dass er und sein Verfas‐ sungsentwurf sich nicht vollständig sich in die girondistische Klassenpolitik einfü‐ gen lassen. Das Verfassungswerk und die dahinter stehenden Ideen definierte Condorcet in der Darlegung der Prinzipien und Gründe des Verfassungsentwurfs, aus der gerade bereits zitiert wurde, wie folgt: „Wir haben uns in dieser Hinsicht darauf beschränkt, die allgemeinen Grundsätze, von denen wir uns haben leiten lassen, sowie die Grün‐ de der wichtigsten Einrichtungen darzulegen. Eine Verfassung sollte, gemäß dem na‐ türlichen Verständnis des Wortes, alle Gesetze enthalten, welche die Einrichtung, die Gestalt, die Organisation, die Aufgaben, die Handlungsweise und die Grenzen der gesellschaftlichen Gewalten betreffen. Doch sobald man die Verfassungsgesetze in besonderer Weise unwiderruflich macht, sobald sie nicht mehr wie die anderen Ge‐ setze von einer in der Gesellschaft ständig bestehenden Gewalt geändert werden können, darf man unter die Verfassungsgesetze, die sich auf das gesellschaftliche System auswirken, nur noch solche aufnehmen, deren Unwiderruflichkeit das Funk‐ tionieren dieses Systems nicht behindert, so dass es nicht allzu oft erforderlich wird, eine außerordentliche Gewalt zur Reform der Verfassung einzuberufen. Zugleich dürfen Änderungen, die vom Willen einer einzigen gesetzgebenden Körperschaft ab‐ hängen, dieser nicht die Möglichkeit geben, die Macht an sich zu reißen oder den 6 Condorcet 2010, S. 202. 7 Die entsprechenden Wortmeldungen der „girondistischen“ Departements, unter der Führung des Departements Gironde, gibt ausführlich wieder: Girtanner 1802, 14.
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Geist der Verfassung zu verfälschen, indem sie vorgeblich rein formale Änderungen vornimmt. Denn bei einer Verfassung, die dem Volk legale Mittel gibt, ihre Reform zu erzwingen, würde dies ebenfalls dazu führen, dass der Nationalkonvent zu oft einberufen wird. Alles, was die gesetzgebende Körperschaft, die Grenzen der Ge‐ walten, die Wahlen und die zur Garantie der Bürgerrechte notwendigen Einrichtun‐ gen betrifft, muss daher so genau wie möglich ausgearbeitet und so festgelegt wer‐ den, dass die gesellschaftliche Tätigkeit keine Verzögerungen, Behinderungen oder Erschütterungen erfährt.“8 Nicht überlesen werden sollte, dass der Entwurf Condorcets die Todesstrafe für „bürgerliche Vergehen“ ächtete: „Die Todesstrafe für Privatverbrechen wird abge‐ schafft. Dieser Beweis des Respekts vor dem menschlichen Leben, diese Ehrbezei‐ gung gegenüber den Gefühlen der Menschlichkeit, die heilig zu halten so wichtig für eine freie Nation ist, schien uns dieselbe Art von Unwiderruflichkeit genießen zu müssen wie die Verfassungsgesetze.“9 Zu Condorcets Festlegung sind zwei Dinge anzumerken. Erstens ist durchaus zu fragen, ob seine Position innerhalb der Gironde konsensfähig gewesen wäre, die po‐ litische Herrschafts- und Regierungspraxis bis zu diesem Zeitpunkt spricht ebenso dagegen wie zahlreiche theoretische Äußerungen. Dass sich Condorcet bei der Be‐ handlung dieses Themas von der Klassenposition der Girondisten entfernte, kann zweitens sowohl seiner eigenen liberalen und humanistischen Grundeinstellung zu‐ geschrieben werden, ist gleichzeitig aber auch Verneigung vor dem Zeitgeist. Denn es war – wieder einmal – Robespierre gewesen, der in seiner berühmten Rede vom 30. Mai 1791 öffentlichkeitswirksam gegen die Todesstrafe argumentiert hatte.10 Für Robespierre war die Todesstrafe ungerecht, unmenschlich, mit der Vernunft und den Maßgaben der Natur nicht zu vereinbaren. Erneut argumentierte er wie Condorcet (zeitlich-chronologisch natürlich vor diesem) kontraktualistisch, um dann auf dieser Basis einen moralischen Appell zu entwickeln, der zu den Grundlagen je‐ der Zivilisation und Kultur, also Menschlichkeit gehören sollte. Robespierre formu‐ lierte: „Wenn außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ein erbitterter Feind mein Le‐ ben angreift, oder, wenn auch zwanzig Mal zurückgetrieben, doch, weil ich nur mei‐ ne individuellen Kräfte den seinigen entgegenstellen kann, wieder zurückkehrt, um das Feld zu verwüsten, das meine Hand bebaut hat, muss ich entweder sterben oder ihn töten; das Gesetz der natürlichen Selbstverteidigung rechtfertigt und billigt mein Verfahren. Welcher Grundsatz der Gerechtigkeit kann aber in der Gesellschaft, in welcher die Kraft Aller gegen einen Einzigen bewaffnet ist, diese ermächtigen, ihm den Tod zu geben? Wo ist die Notwendigkeit, die dies entschuldigt? (…) Ein 8 Condorcet 2010, S. 210. 9 Condorcet 2010, S. 197. 10 Verwendet wird die Ausgabe, die Wilhelm Blos im Anhang seiner Revolutionsgeschichte ab‐ gedruckt hat: Blos 1920, S. 622–624.
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Mensch, der ein Kind, das er entwaffnen und züchtigen kann, würgen lässt, scheint uns ein Ungeheuer! Ein Angeklagter, den die Gesellschaft verurteilt, ist für sie höchstens nur ein besiegter, ohnmächtiger Feind, er ist in Beziehung zu ihr schwä‐ cher, als ein Kind einem rüstigen Manne gegenüber. In den Augen der Wahrheit und Gerechtigkeit sind daher die Todesstrafen, welche sie mit so vieler Umständlichkeit verordnet, nichts als ein feiger Mord, ein feierlicher, nicht von einzelnen Personen, sondern von ganzen Nationen mit gesetzlichen Formen begangener Mord. Wundern Sie sich nicht, dass diese Gesetze so grausam, so übertrieben sind. Sie sind das Werk einiger Tyrannen; sie sind die Ketten, mit denen sie das Menschengeschlecht nieder‐ halten, die Waffen, mit denen sie es unterjochen, sie wurden mit Blut niedergeschrie‐ ben.“11 Die Gesetzgebung müsse das Notwendige tun, die Todesstrafe sei nicht notwen‐ dig.12 Hinzu trete, dass nicht jedes Verbrechen derart klar zugeschrieben werden könne, so dass es möglich sei, dass Unschuldige hingerichtet werden würden.13 Vor allem aber sei der Gesetzgeber verpflichtet, in jedem einzelnen Bürger die Tugenden zu entfalten und zu entwickeln, damit Kultur, Zivilisation und gute Sitten zu stärken – die Todesstrafe sei mit diesen Prinzipien nicht vereinbar. „Dem Menschen die Un‐ möglichkeit rauben, durch Reue und tugendhafte Handlungen sein Verbrechen zu büßen, ihm unbarmherzig jede Rückkehr zur Tugend, zur Achtung seiner selbst zu verschließen, ihn noch mit dem frischen Schmutzflecken seines Verbrechens in das Grab zu befördern, ist in meinen Augen der höchste Grad der Grausamkeit. Die erste Pflicht des Gesetzgebers ist, die guten Sitten, die Quelle der Freiheit und des bürger‐ lichen Glückes, zu bilden und zu erhalten; wenn er, um ein besonderes Ziel zu errei‐ chen, von diesem allgemeinen und wesentlichen Ziele abweicht, verfällt er in den gröbsten und schlimmsten Irrtum. Die Gesetze müssen den Völkern immer die reins‐ ten Muster der Gerechtigkeit und der Vernunft zeigen.“14 Soweit Robespierre, der wieder einmal, bei gleicher inhaltlicher Aussage, eigentlich deutlich humanistischer – so überstrapaziert das Wort ist: „moralischer“ – argumentierte als Condorcet. Schließlich, auch dies ist erwähnenswert, sah Condorcet die neue Verfassung in einer die Gesellschaft befriedenden Funktion. Sie stelle so etwas wie eine Art Mini‐ malkonsens her, der natürlich immer deutlicher zu einem Optimalkonsens werden müsse. Sie umfasse wie eine Klammer die verschiedenen Teile der Gesellschaft und binde diese an eine vernünftige und den Prinzipien der Aufklärung folgenden Ord‐ nung. Die Jakobiner sahen dies ganz ähnlich, waren allerdings weitaus stärker als die Gironde und auch als Condorcet, der, dieser Maxime verpflichtet, in diesem 11 Robespierre 1920, S. 622. 12 „Die Todesstrafe ist notwendig, sagen Sie? Wenn das aber der Fall ist, warum haben viele Völ‐ ker sie entbehren können? Warum sind gerade diese Völker die weisesten, glücklichsten und freiesten gewesen?“ (Robespierre 1920, S. 623.) 13 Siehe: Robespierre 1920, S. 623. 14 Robespierre 1920, S. 624.
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Punkt erneut (zumindest theoretisch) kein Sprecher seiner Klasse war. Daher gelang es ihnen nach dem Sturz der Girondisten, die Verfassung auf der Basis einen großen Kompromisses so schnell zu verabschieden und in ganz Frankreich enorme Zustim‐ mung zu finden. (Der Konsensgedanke tauchte später wieder auf – bzw. blieb ei‐ gentlich immer präsent, das ganze Jahr 1793 über – und trug ganz zentral die feierli‐ che Verkündung der Verfassung mit dem Fest vom 10. August, siehe die entspre‐ chenden Schilderungen.) Nicht zuletzt ging es Condorcet darum, die Verfassung tatsächlich auf die Staats‐ bürger und die von diesen gebildete Nation zu gründen: „Eine von den Bürgern aus‐ drücklich angenommene Verfassung, die reguläre Möglichkeiten zu ihrer Korrektur und Änderung enthält, ist das einzige Mittel, einer Gesellschaft eine feste und dauer‐ hafte Ordnung zu geben, deren Mitglieder über ihre Rechte aufgeklärt und ent‐ schlossen sind, sie zu verteidigen – Rechte, die sie gerade eben wieder gewonnen haben und von denen sie vor kurzem noch fürchten mussten, sie erneut zu verlieren. Die übertriebene Begeisterung ebenso wie das übertriebene Misstrauen, die Wut der Parteien und die Furcht vor Fraktionsbildung, die Kleinmut, für die jede heftige Be‐ wegung schon die Auflösung des Staates bedeutet, und die Unruhe, die schon die Tyrannei wittert, wenn sie nur Ruhe und Frieden um sich sieht, müssen angesichts dieser heilsamen Vorkehrungen gleichermaßen verschwinden.“15 Es war eine Posi‐ tion der Mitte, die Condorcet an dieser Stelle bezog – mit kaum übersehbaren Sei‐ tenhieben gegen die Girondisten und gegen die Jakobiner. Was beide Gruppierungen registrierten und nicht vergaßen. Im letzten Artikel des Entwurfs der Erklärung war, wie gesehen, das Recht zur Revision der Verfassung niedergeschrieben. Diese Festsetzung trägt eindeutig die Handschrift Condorcets und widerspricht durchaus den grundlegenden Ansichten und politischen Paradigmen der Girondisten. Denn Condorcet brach nicht nur über‐ aus deutlich mit den Bestimmungen der Verfassung von 1791, die eine Revision de facto unmöglich gemacht hatten. Darüber hinaus lieferte er mit seiner Theorie die
15 Weiter heißt es: „In jeder großen Gesellschaft, die eine Revolution erlebt, lassen sich die Men‐ schen in zwei Klassen unterteilen: Die einen widmen sich lebhaft den öffentlichen Angelegen‐ heiten, sie sind, aus Eigeninteresse oder aus Patriotismus, überall dort zu finden, wo die Mei‐ nungen aufeinander prallen, verteilen sich auf alle Fraktionen, schlagen sich zu den verschie‐ denen Parteien: Man hält sie für die ganze Nation, dabei sind sie oft nur ein kleiner Teil von ihr. Die anderen, die ihren Tätigkeiten nachgehen und sich aus Notwendigkeit oder dem Be‐ dürfnis nach Ruhe mit ihren persönlichen Angelegenheiten beschäftigen, lieben ihr Land, ohne es regieren zu wollen, und dienen dem Vaterland, ohne zu wollen, dass es von ihrer Meinung oder ihrer Partei beherrscht wird. Gezwungen, sich entweder einer Fraktion anzuschließen und den Meinungsführern zu vertrauen oder sich auf Untätigkeit und Schweigen zu beschränken, bedürfen sie einer Verfassung, die ihnen sicher zeigt, was ihr Interesse und ihre Pflicht ist, da‐ mit sie mühelos erkennen können, auf welches Ziel sie ihre Kräfte richten müssen. Wenn aber diese ungeheure Masse sich erst einmal auf dieses Ziel hin in Bewegung setzt, dann erscheint der aktive Teil der Bürger nicht länger als das ganze Volk. Von diesem Augenblick an sind die Individuen nicht mehr und es gibt nur noch die Nation.“ (Condorcet 2010, S. 211.)
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Verfassung als das Kernstück des bürgerlich-kapitalistischen Staates den ja wech‐ selnden Interessen und damit parlamentarischen Mehrheiten ebenso wie den länger anhaltenden, tieferen Stimmungslagen des Volkes aus. Das ist eine Anerkennung des pluralistischen Prinzips, die bis heute ihresgleichen sucht. Von daher ist kurz darzu‐ stellen, wie der Verfassungsentwurf mögliche und, nach Condorcet, auch notwendi‐ ge spätere Revisionen regelt. Den Ausführungen ist ein entsprechendes eigenes Unterkapitel gewidmet: IX. Ti‐ tel: Über die Nationalkonvente. Wann immer es darum gehe, „die Verfassung zu re‐ formieren, sei ein Nationalkonvent einzuberufen“. (Art. IX-1) Die Idee zu einer Ver‐ fassungsrevision kann aus drei Richtungen vorgetragen werden: Zum einen hat jeder Bürger „das Recht, die Einberufung eines Konvents für die Reform der Verfassung zu verlangen“. (Art. IX-5) Wenn daraufhin in den Urversammlungen eines Departe‐ ments sich eine Mehrheit für diesen Vorschlag findet, muss die gesetzgebende Kör‐ perschaft alle Urversammlungen befragen. Bei einer Mehrheit ist der Konvent einzu‐ berufen. (Art. IX-6) Die jeweilige gesetzgebende Körperschaft muss diese Einberu‐ fung vornehmen, „wenn die Mehrheit der Bürger der Republik sie für notwendig er‐ achtet hat“. (Art. IX-2) Zweitens kann auch die gesetzgebende Körperschaft eine Verfassungsrevision vorschlagen, daraufhin ist die Bevölkerung zu befragen, es gilt erneut der Mehrheitsbeschluss. (Art. IX-7) Und drittens schließlich und unausweich‐ lich: „Die gesetzgebende Körperschaft ist im 20. Jahr nach der Annahme der Verfas‐ sung verpflichtet, einen Konvent einberufen zu lassen, um die Verfassung zu über‐ prüfen und zu verbessern.“ (Art. IX-4) Der mit der Revision beauftragte Konvent setzt sich zusammen aus jeweils zwei Mitgliedern eines jeden Departements, gewählt in den Urversammlungen. (Art. IX-8) Er hat dann die Aufgabe, dem Volk einen Entwurf zur Abstimmung vorzule‐ gen. (Art. IX-9) Das bestehende politische Leben soll davon unberührt bleiben, bis der neue Entwurf angenommen ist, d. h. alle Institutionen, Mandate usw. bleiben ar‐ beitend in Kraft. (Art. IX-10) Sollte das Projekt abgelehnt werden, dann muss der Konvent jene Einzelfragen abstimmen lassen, von denen er glaubt, dass sie die An‐ nahme der Verfassung verhindert hätten. (Art. IX-11) Anschließend wird ein neuer Entwurf zur Abstimmung vorgelegt. (Art. IX-12) Sollte auch dieser scheitern, dann wird der Konvent aufgelöst und die jeweilige gesetzgebende Körperschaft muss nunmehr per Abstimmung zu erfahren suchen, ob Gründe vorliegen, einen neuen Konvent einzuberufen. (Art. IX-13) Geregelt wird zudem, dass die Mitglieder des Konvents für keine Äußerungen oder Tätigkeiten während ihrer Arbeit strafbar sind (Art. IX-14), dass die Sitzungen stets öffentlich sein müssen (Art. IX-15) und die Tätigkeit des Konvents maximal ein Jahr andauern darf. (Art. IX-16) Vorgesehen waren also der Weg von „unten“ und von „oben“ und der zeitlich-chronologische so‐ wieso notwendige. „Oben“, um in der banalen Sprache zu bleiben: Das Regierungs‐ system, sollte während der möglichen und tatsächlichen Revisionen immer hand‐
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lungsfähig bleiben. „Unten“: Die Bürger, die Basis, bekamen die Macht des „letzten Wortes“. Die Souveränität des Volkes war in dieser Frage garantiert und festge‐ schrieben. In der Darlegung der Prinzipien und Gründe des Verfassungsentwurfs führte Condorcet aus, dass sich diese Regelungen daraus ergeben würden, dass Frankreich nur als einheitliche und unteilbare Republik im Sinne der Revolution organisiert werden könne, müsse. Da es sich aber um eine quantitativ große Republik handle, sei nur eine repräsentative Verfassung vorschlagbar.16 Und diese müsse dem Volk sowohl zur Annahme vorgelegt werden als auch durch dieses revidierbar sein.17 Di‐ rekt gegen Sieyès und die elitäre Variante der Fortführung der gemäßigten Aufklä‐ rungsphilosophie gerichtet war die Begründung, mit der Condorcet diese Entschei‐ dung über Verfassungsfragen und mögliche Revisionen an das Volk delegierte: „Um eine kompetente Entscheidung zu treffen, ist es keineswegs notwendig, alles über einen Gegenstand gelesen oder gehört zu haben, was alle anderen, die ebenfalls an dieser Entscheidung teilhaben, vielleicht darüber denken. Ihre Ansichten verdienen nicht unbedingt den Vorzug vor anderen, die vielleicht mehr Aufklärung bringen. Es reicht aus, wenn einem alle Möglichkeiten, sich Wissen über den Gegenstand zu ver‐ schaffen, offen standen und man von ihnen frei Gebrauch machen konnte. Es ist Sa‐ che jedes Einzelnen, die ihm gemäße Art und Weise zu wählen, sich über einen Ge‐ genstand zu informieren und sich entsprechend seiner Kenntnisse und Verstandes‐ kraft einer Frage zu widmen.“18 Das einzige, was an dieser Stelle fehlt, ist die Con‐ dorcet auf Grund seiner Klassenposition nicht mögliche Einsicht, dass natürlich die Wahrnehmung der Chancen, zu Bildung, Aufklärung, Kultur Anschluss zu gewin‐ nen, ein klares materielles Fundament haben muss. Aber er kam hier dicht an die Er‐
16 Condorcet 2010, S. 174f. 17 „Denn eine Verfassung, in der die Delegierten ein Gesamtvotum aus den in ihren Mandaten festgelegten Einzelvoten bilden, wäre noch weniger praktikabel als eine, in der die Deputierten bloße Redakteure der Gesetzesvorschläge sind und nicht einmal vorläufigen Gehorsam fordern können, sondern verpflichtet sind, den Bürgern alle Gesetze zur unmittelbaren Zustimmung vorzulegen. Doch wenn wir für die von den Repräsentanten erlassenen Gesetze einen vorläufi‐ gen Gehorsam fordern, muss es dann nicht noch ein weiteres Mittel geben, um gegen deren Irrtümer oder Absichten vorzugehen, als nur ihren häufigen und raschen Austausch und die Grenzen, die ihrer Macht durch Verfassungsgesetze, die sie nicht ändern können, gesetzt sind? Werden die Rechte der Bürger ausreichend geachtet, wenn diese von den Delegierten des Vol‐ kes verabschiedeten Verfassungsgesetze für eine bestimmte Zeit vorläufigen Gehorsam for‐ dern, unabhängig von jeder Bestätigung durch die Nation? Genügt es, wenn sie in ihrer Ge‐ samtheit einer anderen, nur zu diesem Zweck gewählten Versammlung von Repräsentanten des Volkes zur Annahme vorgelegt werden? Oder muss vielmehr dem Volk für jedes einzelne Ge‐ setz eine Einspruchmöglichkeit eröffnet werden, die dessen erneute Prüfung nach sich zieht? Muss das Volk eine legale und ihm stets offen stehende Möglichkeit haben, die Reform einer Verfassung zu erwirken, von der es sich in seinen Rechten verletzt fühlt? Muss schließlich eine Verfassung dem Volk zur unmittelbaren Annahme vorgelegt werden?“ (Condorcet 2010, S. 175f.) 18 Condorcet 2010, S. 177.
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kenntnisschranke der bürgerlichen Welt und verließ emanzipatorisch weit nach vorn blickend den Konsens der großbürgerlich-kapitalistischen Gironde. Am Schluss seiner Darlegung der Prinzipien und Gründe des Verfassungsent‐ wurfs legte Condorcet noch einmal ausführlich dar, warum Verfassungsrevisionen als Teil der politischen Prozesse notwendig seien: „Es genügt jedoch nicht, auf den Prinzipien der Gleichheit das Gebäude einer Verfassung zu errichten und die Gewal‐ ten auf eine Art und Weise eingerichtet zu haben, welche die Freiheit und den Frie‐ den sichert. Es reicht nicht aus, den Unternehmungen des Ehrgeizes und des Partei‐ geistes durch häufige Neubesetzung der Ämter und durch direkte Wahlen, die durch das Wahlverfahren vor Intrigen geschützt werden, vorgebeugt zu haben. Es genügt nicht, dem Volk friedliche Mittel und Wege zur Beschwerde gegen Gesetze, die sei‐ nen Rechten oder seinen Ansichten widersprechen, eröffnet zu haben und ein Ver‐ fahren festgelegt zu haben, nachdem es sich eine neue Verfassung geben kann, wenn die bestehende seine Freiheit zu bedrohen scheint. Es ist darüber hinaus notwendig, dass die Nationalversammlung, die besser als die Bürger in der Lage ist, die Mängel der Verfassung zu erkennen und mögliche Missbräuche vorherzusehen, das Recht hat, den Bürgern die Fehler oder Gefahren dieser Verfassung darzulegen und sie da‐ rüber zu befragen, ob ein Nationalkonvent sich mit den Mitteln und Wegen befassen soll, die einen zu korrigieren und den anderen vorzubeugen.“19 Die wiedergegebenen Regelungen zeigen deutlich an, dass, anders als 1791, die Revision der Verfassung nicht mehr so gut wie unmöglich ist (de facto fiel sie ja ebenso umjubelt wie die Köpfe der Königsfamilie), sondern ganz im Gegenteil ein Teil der sich abspielenden politischen Prozesse werden sollte. Unabhängig davon, ob sich Mehrheiten für Verfassungsänderungen erzielen lassen, ist zumindest die per‐ manente Diskussion über die Grundlagen des Staatswesens so gegeben und abgesi‐ chert. Zudem zeigt die Darstellung einer möglichen Verfassungsrevision, dass der Entwurf Condorcets tatsächlich überaus exakt und die unterschiedlichsten Möglich‐ keiten bedenkend, alle Eventualitäten zu regeln versuchte. Ein Ansatz, der auch die 19 Weiter heißt es: „Es blieb uns schließlich noch, das Volk vor den Gefahren jener tiefen Gleich‐ gültigkeit zu warnen, die oft den Revolutionen folgt, vor jenen schleichenden und verborgenen Missbräuchen, die auf die Dauer die menschlichen Einrichtungen entstellen und schließlich vor den Mängeln, die sich in der besten Verfassung einschleichen, wenn die Menschen, für die sie gemacht ist, sich durch die Fortschritte der Aufklärung und der Zivilisation ändern, während sie sich gleich bleibt. Wir haben es daher für notwendig gehalten, in der Verfassung ein Verfah‐ ren festzuschreiben, durch das sie einer Reform unterzogen werden kann, unabhängig vom Verlangen des Volkes und zu einem festgesetzten Zeitpunkt. Ohne Zweifel würde eine solche Reform von einer inneren Erschütterung begleitet werden, wenn die Repräsentativversamm‐ lung plötzlich sowohl mit der Gewalt ausgestattet wäre, Gesetze zu geben, also auch mit der, einen Verfassungsentwurf vorzulegen (…). Man kann jedoch dieser Gefahr vorbeugen, wenn man alle Gewalten in ihrer alten Form bis zu dem Moment bestehen lässt, in dem eine neue Verfassung angenommen ist, und wenn man mit der Aufgabe, diese neue Verfassung auszuar‐ beiten und dem Volk vorzulegen, eine kleinere Versammlung betraut, die zwangsläufig ihre Sitzungen an einem anderen Ort als die Repräsentativversammlung abhalten muss, nur für die‐ se Aufgabe gewählt wurde und keine andere ausüben darf.“ (Condorcet 2010, S. 178f.)
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anderen Ausführungen des Verfassungsentwurfs prägte. Dies war ein deutliches Ja Condorcets zur politischen Debatte in Permanenz – und auch zu den Rechten des Volkes. Es muss natürlich an dieser Stelle die Frage gestellt werden, inwieweit die Volksmassen in einem ungehemmt akkumulierenden egoistischen kapitalistischen Klassenstaat zermürbt worden wären, da die Armen qua Definition keine eigene so‐ zialökonomische Basis haben. Hier kann diese Frage ausgeklammert werden, da sie einen Denkfehler Condorcets ebenso darstellt wie seiner Epoche und der gesamten Theorie des Kapitalismus. Ebenfalls wurde bereits erkennbar, dass die einzelnen Bürger und damit die Ur‐ versammlungen, als kleinste politisch-organisatorische Einheit, quasi als Fundament der politischen Struktur der gesamten französischen Republik, enorm gestärkt, ge‐ fordert und gefördert werden. Die Beschreibung ihrer Organisation im III. Titel: Über die Urversammlungen ist der ausführlichste Teil des Verfassungsentwurfs. Ins‐ gesamt umfasst er in fünf Abschnitten 56 Artikel. Wahlberechtigt und in den Urver‐ sammlungen (die mindestens 450 und maximal 900 Mitglieder haben dürfen, Art. III-I-1) organisiert sind alle Männer über 21 Jahre, die sich in das so genannte Bür‐ gerregister eingeschrieben haben und ohne Unterbrechung mindestens ein Jahr auf französischem Gebiet ansässig waren. (Art. II-1) „Jeder Bürger soll für alle Posten wählbar sein, die vom Volk durch Wahl bestimmt werden. Einzige Voraussetzung ist ein Alter von 25 Jahren. (…) Der junge Mensch, dessen individuelle und theoreti‐ sche Erziehung abgeschlossen ist, genießt die persönlichen Rechte, die sich aus der Natur ableiten. Dann beginnt für ihn eine Art von politischer Erziehung, und die Ausübung jener ersten politischen Rechte ist Teil dieser zweiten Erziehung.“20 Noch einmal wird klar: Der Zensus wurde von Condorcets abgelehnt und radikal abge‐ schafft. Ein Stück weit erneut eine Entfernung vom Kernbestand des Denkens der Gironde. Allerdings hatte diese, getrieben und gezwungen durch den Zeitgeist, die‐ sen Schritt, wenn auch äußerst widerwillig, ebenfalls vollzogen. (Anders als Con‐ dorcet, dies kann und sollte man ihm redlicherweise unterstellen, überlegte und ar‐ beitete die Gironde aber bereits daran, die emanzipative Stoßrichtung des allgemei‐ nen Wahlrechts zu brechen.) Condorcet sagte: „Soll man den Reichtum zur Bedin‐ gung der Wählbarkeit machen? Da wir weder so töricht noch so niederträchtig sein können, zu denken, dass die Reichen gegen die Laster der Korruption eher gefeit sind als die Armen, wäre die einzige Begründung für ein solches Gesetz, dass Men‐ schen zur Wahl stehen würden, bei denen man, auf Grund eines umfassenderen Un‐ terrichts in ihrer Jugend, eine größere Aufgeklärtheit voraussetzen kann. Man müss‐ te also ein ausreichend großes Vermögen verlangen. Folglich sind alle Bedingungen dieser Art entweder trügerisch oder führen zu einer echten Oligarchie.“21
20 Condorcet 2010, S. 200. 21 Condorcet 2010, S. 201.
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Die Einstellung Condorcets ist insofern nicht überraschend, da dieser seit Beginn der Revolution auch zu den Befürwortern des Frauenwahlrechts gehörte, sich mit seiner Position aber nie durchsetzen konnte. Aulard schrieb, mit anderer Interpretati‐ onstendenz, über die Debatte von Condorcets Entwurf: „Betreffs der Frage des Stimmrechts zaudert Lanjuinais nicht, die Frage des Frauenwahlrechts abzuschnei‐ den. 'Der Ausschuss', sagt er, 'scheint die Frauen von den politischen Rechten auszu‐ schließen. Mehrere Entwürfe sprechen sich gegen diese Ausschließung aus, über die sich schon unser Kollege Romme bei Ihnen beschwert hat und über die Sie von Guyomar eine fesselnde Abhandlung haben.' Wir besitzen Rommes Rede, auf die Lanjuinais anspielt, nicht, aber wir besitzen Guyomars Schrift Le partisan de l'égali‐ té politique entre les individus. Darin wird deutlich der Anspruch auf politische Rechte für die Frauen erhoben, ebenso wie in Williams' Observations sur la dernière constitution de France und – nach Lanjuinais' Angabe – in zwei handschriftlichen Entwürfen von De Grawers und Abbé Moriet, Pfarrer von Saint-Lô. Es gab also zu der Zeit, wo die französische Republik sich zum ersten Mal verfassungsmäßig zu or‐ ganisieren versuchte, eine öffentliche Strömung, die die Grundsätze der Gleichheit, wie sie in der Erklärung der Rechte zum Ausdruck kamen, auch auf die Frauen an‐ gewandt wissen wollte. Diese Strömung fand nicht die Unterstützung Condorcets, der doch 1790 der Apostel der Frauenbewegung gewesen war. Aber die Sechser‐ kommission stellte den Ansprüchen der Frauenrechtler kein völliges Nein entgegen. Durchaus nicht! Nur aus Opportunitätsgründen schloss sie die Frauen vom Staatswe‐ sen aus, und ausdrücklich auch nur vorläufig, für kurze Zeit. 'Die Mängel unserer Erziehung', sagte Lanjuinais, 'machten diese Ausschließung noch notwendig, wenig‐ stens für einige Jahre.'“22 Es ist im Sinne historischer Rechtschaffenheit obligatorisch, mit einem kurzen Seitenblick auf Condorcets Thesen zum Frauenwahlrecht und damit zur Frauen‐ emanzipation einzugehen, von diesem am 3. Juli 1790 unter dem Titel Über die Zu‐ lassung der Frauen zum Bürgerrecht explizit formuliert. (Der Aufsatz erschien im Journal de la Société de 1789)23 „Condorcet war einer der ersten“, so konnte der Herausgeber der deutschen Ausgabe seiner Kleinen politischen Schriften, Daniel Schulz, konstatieren, „der sich offen für das Bürgerrecht der Frauen eingesetzt hat. Er gehörte daher mit seinem Text neben Olympe de Gouges (Déclaration des droits de la Femme et de la Citoyenne, 1791) in Frankreich sowie Mary Wollstonecraft (A Vindication of the Rights of Woman, 1792) und Jeremy Bentham zu den Gründerfi‐ guren des modernen Feminismus. In diesem Text kommt am Ende des 18. Jahrhun‐ derts eine Position zum Ausdruck, die weder an Klarheit noch Konsequenz zu wün‐ 22 Aulard 1924, S. 225. 23 Verwendet wird die Ausgabe aus den Kleinen politischen Schriften Condorcets, erschienen 2010, S. 108–112. Alle Zitate im Folgenden, wenn nicht anders gekennzeichnet, nach dieser Ausgabe.
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schen übrig lässt. Wenn die mit der Revolution proklamierte Gleichheit der Rechte konsequent umgesetzt werden soll, dann gibt es keinen vernünftigen Grund, warum Frauen von diesen Rechten ausgeschlossen werden sollten.“24 Die bisherigen Philosophen und Gesetzgeber, dies konstatierte Condorcet zu Be‐ ginn seiner Ausführungen, hätten allesamt „stillschweigend die Hälfte der Mensch‐ heit des Rechts beraubt, an der Entstehung der Gesetze mitzuwirken“. Geschuldet sei dies ausschließlich der „Macht der Gewohnheit selbst über aufgeklärte Männer“ – also ein Vorurteil, das der Überprüfung durch die Prinzipien der Vernunft nicht Stand halte. Es war der bürgerliche Aufklärer Condorcet, der sich für die politische Emanzipation der Frauen einsetzte. „Nun folgen die Rechte der Menschen jedoch einzig daraus, dass sie empfindungsfähige Wesen sind, die moralische Ideen entwi‐ ckeln und über diese Ideen vernünftig urteilen können. Folglich haben die Frauen, insofern sie über eben diese Eigenschaften verfügen, notwendigerweise gleiche Rechte. Entweder hat kein Individuum der menschlichen Gattung wirkliche Rechte oder alle haben dieselben. Derjenige aber, der gegen das Recht eines anderen stimmt, welche Religion, welche Hautfarbe oder welches Geschlecht dieser andere auch haben mag, hat damit den seinen abgeschworen. Es dürfte schwierig sein, zu beweisen, dass Frauen unfähig sind, die Bürgerrechte auszuüben.“25 (108) Interessant ist sicherlich, dass Condorcet die Frauenemanzipation nicht aus‐ schließlich aus Gründen der Gleichberechtigung der Geschlechter erklärt, sondern jene „Vorzüge“, die sich die Frauen in den Jahrhunderten bzw. Jahrtausenden der Unterdrückung aneignen konnten, diesen als Positivum anrechnet. „Die Frauen sind den Männern in den sanften und häuslichen Tugenden überlegen. Sie wissen, genau wie die Männer, die Freiheit zu schätzen, obwohl sie nicht an allen ihren Vorzügen teilhaben können. Und in den Republiken hat man oft erlebt, dass sie sich für das Gemeinwesen geopfert haben: Immer dann, wenn der Zufall oder geschichtliche Un‐ 24 Schulz 2010, S. 23f. 25 Weiter heißt es: „Warum sollten Wesen, die Schwangerschaften und vorübergehenden Unpäss‐ lichkeiten ausgesetzt sind, nicht Rechte ausüben, die man niemals Leuten vorenthalten würde, die jeden Winter Gicht haben und sich leicht einen Schnupfen holen? Gesteht man den Män‐ nern eine geistige Überlegenheit zu, die ihre Ursache nicht in der unterschiedlichen Erziehung der Geschlechter hat (was keineswegs bewiesen ist, es aber sein müsste, um die Frauen, ohne Unrecht zu tun, eines natürlichen Rechts zu berauben), so kann diese Überlegenheit nur in zwei Punkten bestehen. Man sagt, dass keine Frau jemals eine wichtige Entdeckung in den Wissenschaften gemacht hat, jemals ihr Genie in den Künsten, in der Literatur usw. unter Be‐ weis gestellt hat. Aber zweifellos hat man nicht vor, nur Männern von Genie das Bürgerrecht zu verleihen. Und fügt hinzu, dass keine Frau denselben Umfang an Kenntnissen, dieselbe Ver‐ standeskraft hat wie gewisse Männer. Doch was folgt daraus, außer dass – abgesehen von einer wenig zahlreichen Klasse sehr aufgeklärte Männer – vollständige Gleichheit zwischen den Frauen und dem Rest der Menschheit besteht und dass, außer in jener kleinen Klasse, sich Un‐ ter- und Überlegenheit gleichmäßig auf die Geschlechter verteilen. Da es nun aber vollkom‐ men absurd wäre, das Bürgerrecht und die Fähigkeit, öffentliche Ämter auszuüben, auf jene überlegene Klasse zu beschränken, warum hat man die Frau davon ausgeschlossen, nicht aber jene Männer, die einer großen Zahl von Frauen unterlegen sind?“ (108f.)
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ruhen sie auf einen Schauplatz geführt haben, von dem sie bei allen Völkern durch den Hochmut und die Tyrannei der Männer ferngehalten wurden, haben sie die Tu‐ genden des Bürgers unter Beweis gestellt. Man sagt, dass die Frauen, obwohl sie über viel Geist und Scharfsinn verfügen und in der Fähigkeit des Räsonierens spitz‐ findigen Dialektikern in nichts nachstehen, doch niemals von dem geleitet wurden, was man Vernunft nennt. Diese Beobachtung ist falsch: In der Tat werden Frauen nicht von der Vernunft der Männer geleitet, aber von ihrer eigenen. Da auf Grund der Gesetze ihre Interessen nicht dieselben wie die unsrigen sind und demnach für sie nicht dieselben Dinge von Bedeutung sind wie für uns, lassen sie sich, ohne dass es ihnen an Vernunft mangelt, möglicherweise von anderen Prinzipien leiten und streben nach einem anderen Ziel. Für eine Frau ist es genau so vernünftig, auf die Anmut ihres Äußeren zu achten wie es für Demosthenes vernünftig war, seine Stim‐ me und seine Gesten zu pflegen.“ (109f.) Das sind Argumente, die sich im reflektierten Feminismus der heutigen Zeit wie‐ der finden, der von der platten, ungebildeten Variante mehr als zu unterscheiden ist.26 Es steht natürlich der Beweis aus, dass Frauen tatsächlich „sanfter“, „friedli‐ cher“, gar „erdverbundener“, „naturnäher“, da gebärend usw., sind bzw. so im politi‐ schen Raum handeln würden. Die Frau an der Macht war bis heute keine Erfolgsge‐ schichte, sondern vielmehr durch die jeweiligen Protagonisten immer der Versuch „männlicher“ zu sein als die Männer. Ein Gegenbeweis gegen die seit Condorcet vermuteten Prinzipien weiblichen Seins ist die bisherige Empirie nicht, unter den Tisch fallen sollte sie aber dennoch keinesfalls. Entscheidend ist, und dies hat Con‐ dorcet durchaus gesehen, dass Unterschiede zwischen den Geschlechtern (abgesehen von den biologischen) nicht irgendwelchen metaphysischen Prinzipien folgen, son‐ dern ausschließlich in der Erziehung und den gesellschaftlichen Regeln bedingt sind (erneut fehlt bei ihm „selbstverständlich“ die ökonomische Dimension). „Man hat gesagt, dass die Frauen, obwohl besser als die Männer, sanfter, gefühlvoller und we‐ niger den aus Egoismus und Hartherzigkeit entspringenden Lastern ergeben, kein echtes Gefühl für Gerechtigkeit hätten und eher ihrem Gefühl als ihrem Gewissen gehorchten. Diese Bemerkung kommt der Wahrheit näher, beweist jedoch nichts. Ursache dieses Unterschieds ist nicht die Natur, sondern die Erziehung und die ge‐ sellschaftliche Existenz. Weder die eine noch die andere haben den Frauen eine Idee von Gerechtigkeit vermittelt, sondern ihnen stattdessen beigebracht, was Anstand ist. Ferngehalten von Geschäften und allem, was gemäß strenger Gerechtigkeit und positiven Gesetzen entschieden wird, sind die Angelegenheiten, mit denen sie sich beschäftigen und in denen sie tätig werden, eben solche, in denen natürlicher An‐ stand und Gefühl den Ausschlag geben. Es ist daher ungerecht, den Frauen noch län‐ 26 Zur Problematik der Frauenutopie, der Emanzipation der Frau usw. siehe mit weiterführenden Hinweisen das Kapitel Die Analyse der modernen feministischen Utopiekonstrukte, in: Heyer 2008–2010, II, S. 115–150.
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ger den Genuss ihrer natürlichen Rechte zu verweigern, indem man sich auf Gründe beruft, die nur deshalb eine gewisse Realität haben, weil die Frauen diese natürli‐ chen Rechte nicht genießen.“ (110) Es konnte bereits gezeigt werden, welch immense und gewaltige Hoffnungen Condorcet mit der Revolution für die Zukunft der Menschheit verband. Schon ein paar Jahre vor der Abfassung seines Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain sah er die Kraft der Vernunft darin, dass sie die Zukunft gestalten und damit nach ihren Prinzipien gestalten werde. „Die Gleichheit der Rechte, die un‐ sere neue Verfassung zwischen den Menschen festschreibt, hat uns wortreiche Schmähungen und nicht enden wollenden Spott eingebracht. Doch bis heute konnte niemand auch nur ein Argument gegen sie vorbringen – und das sicherlich nicht aus Mangel an Talent oder Eifer. Ich wage zu glauben, dass es im Hinblick auf die Gleichheit der Rechte zwischen den Geschlechtern nicht anders sein wird.“ (112) Es ist auch an dieser Stelle, wie so oft bei Condorcet und den Seinen danach zu fragen, was das Papier wert ist, auf dem solche hehren Sätze stehen. Daniel Schulz schrieb: „Dennoch zeigt sich auch hier für die Bürgerrechte eine Ambivalenz in Condorcets Position, die aus seiner Nähe zu den physiokratischen Überlegungen der vorrevolutionären Zeit herrührt: Einerseits wird im Namen der rationalen Prinzipien eine radikale Ausweitung auf diejenigen Gruppen gefordert, die bislang von jegli‐ chen politischen Rechten ausgeschlossen waren. Andererseits jedoch steht dieser In‐ klusionsbemühung eine strenge Beschränkung der Bürgerrechte auf die Besitzenden von Grundeigentum gegenüber. Bereits in seinem Reformentwurf einer Verfassung des Alten Regimes hatte Condorcet seine Liberalisierungsvorschläge an diesen Be‐ sitzvorbehalt gebunden, der mit dem Verlauf der Revolution nur langsam von einer Konzeption abgelöst wird, die das Bürgerrecht ohne Ansehen der Vermögensverhält‐ nisse verleiht. Ähnlich wie andere Aufklärer seiner Zeit – Kant ist mit seinen Vorbe‐ halten gegenüber dem Bürgerrecht für Personen in abhängigen Beschäftigungsver‐ hältnissen ein bekanntes Beispiel – sieht Condorcet die materielle Basis des Eigen‐ tums als eine Möglichkeitsbedingung dafür, ein autonomes politisches Urteilsvermö‐ gen zu entwickeln. Der Universalitätsdruck, der mit den Prinzipien der Revolution freigesetzt wurde, führte jedoch dazu, dass auch Condorcet nach und nach seine Po‐ sition revidierte.“27 Jeder Kenner der Geschichte der „Gesellschaft von 1789“, in deren Journal ja Condorcets Text erschien, und der Klassenposition der Girondisten weiß natürlich, dass Condorcets Thesen sich nicht aus irgendwelchen „physiokratischen Überlegun‐ gen der vorrevolutionären Zeit“ speisen, sondern ganz bewusst in der Revolution Partei nehmen mit dem erklärten Ziel der Verhinderung der sozialen Revolution. Klassenpolitik bleibt Klassenpolitik, egal welches Gewand der Redner trägt. Von da‐
27 Schulz 2010, S. 24.
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her irrt Schulz weiter, wenn er glaubt, dass der Verfassungsentwurf von 1793 „das Zeugnis der demokratischen Öffnung für einen möglichst großen Teil der Gesell‐ schaft“ darstelle,28 da, wie gezeigt, der politischen Gleichstellung auch 1793 (schon gar nicht im Verfassungsentwurf, der in diesem Punkt überaus girondistisch war) keine ökonomische und/oder kulturelle beigegeben war und diese damit maximal eine Alibi-Funktion hatte. Zurück zum Verfassungsentwurf. Eine Art Schutzwall der Gironde gegen die Macht der Volksmassen ist sicherlich darin zu sehen, dass bereits der 6. Artikel des Entwurfs deklariert, dass die Ausdehnungen der Gemeindesektionen nicht mit denen der Urversammlungen identisch sein dürfen. (Art. I-6) Damit sollten, gerade mit Blick auf Paris, die festen jakobinischen bzw. sansculottischen Organisationsstruktu‐ ren durchbrochen werden. In diesen Kontext gehörte sicherlich auch die Festlegung, dass die Bürger „bei den Urversammlungen keine Waffen tragen“ dürfen. (Art. IIIIV-4) Die ausführlichen Regelungen für die Urversammlungen sind hier nicht von In‐ teresse. Es reichen einige Hinweise. „Art. III-II-1: „Die französischen Bürger müs‐ sen in den Urversammlungen zusammenkommen, um die von der Verfassung vorge‐ sehenen Wahlen durchzuführen.“ Dabei sollen auch Fragen von allgemeinem Inter‐ esse beraten werden.29 (Art. III-II-2) Alle Aktionen, Diskussionen, Abstimmungen und Wahlen in den Urversammlungen sind öffentlich. (Art. III-III-5) Bei ihrer inne‐ ren Organisation sind die einzelnen Urversammlungen grundsätzlich frei. (Art. IIIIV-1) Die härteste Strafe zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung ist, nach der Rüge und dem Redeverbot, der Ausschluss aus der Sitzung. (Art. III-IV-2) Es wurde bereits gesagt, dass die Urversammlungen als die zentrale Basiseinheit des politischen Systems der neuen französischen Republik fungieren sollen. „Der Entwurf realisiert auf Grund seiner demokratischen Grundvorstellung weitgehende Wahlrechte mit jeweils kurzen Amtsdauern. Der Wahlkörper wird also ständig zu‐ sammengerufen und muss immer wieder neue Funktionäre bestimmen.“30 Dergestalt kann von einer permanenten politischen Dynamik und einer dauerhaften Politisie‐ rung gesprochen werden – die von Condorcet bewusst intendiert und gewünscht wa‐ ren. Folgende politische Hauptämter sollten gewählt werden: 28 Schulz 2010, S. 25. 29 „Die französischen Bürger müssen in den Urversammlungen auch zusammenkommen, um die Fragen, die von allgemeinem Interesse für die Republik sind, zu beraten, wie: 1. Wenn es darum geht, den Entwurf einer neuen Verfassung oder irgend eine Änderung an der angenom‐ menen Verfassung zu akzeptieren oder abzulehnen; 2. Wenn die Einberufung eines National‐ konvent vorgeschlagen wird; 3. Wenn die gesetzgebende Körperschaft die Einholung der Mei‐ nung aller Bürger zu einer Frage, welche für die gesamte Republik von Interesse ist, be‐ schließt; 4. Schließlich, wenn es entweder darum geht, die gesetzgebende Körperschaft zu er‐ suchen, einen Gegenstand zu behandeln, oder die Volkszensur über die Akte der nationalen Vertretung auszuüben, gemäß dem Verfahren und den durch die Verfassung festgelegten Re‐ geln.“ (Art. III-II-2) 30 Kley/Amstutz 2011, S. 26, Aufzählung teilw. ebd., ähnlich auch bei Aulard und Hintze.
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Die Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaft.31 (Art.VII-I-2) „Die ge‐ setzgebende Körperschaft ist Eins; sie besteht aus einer einzigen Kammer und wird jedes Jahr erneuert.“ (Art.VII-I-1) „Die Wahl der Mitglieder des Vollzugsrates erfolgt direkt durch die Bürger der Republik in ihren Urversammlungen.“ (Art.V-II-1) Jedes Mitglied wird einzeln gewählt. „Der Vollzugsrat ist damit betraut, alle Gesetze und Dekrete zu vollziehen oder vollziehen zu lassen, welche die gesetzgebende Körper‐ schaft erlassen hat.“ (Art.V-II-4) „Der Vollzugsrat der Republik setzt sich aus sieben Ministern und einem Sekretär zusammen.“ (Art.V-I-1) Es gibt: (Art.V-II-2) • Einen Minister für Gesetzgebung; • Einen Kriegsminister; • Einen Minister für auswärtige Angelegenheiten; • Einen Minister für die Marine; • Einen Minister für die öffentlichen Abgaben; • Einen Minister für Landwirtschaft, Handel und Gewerbe; • Einen Minister für öffentliche Unterstützung, Arbeit und Einrichtungen sowie für die Kunst. „Es gibt drei Kommissare des Schatzamtes, die in der gleichen Art und Wei‐ se wie die Mitglieder des Vollzugsrates und zur gleichen Zeit, aber in einem separaten Wahlgang gewählt werden.“ (Art.VI-I-1) Die lokalen Behörden. „In jedem Departement gibt es einen Administrativ‐ rat; in jeder Gemeinde gibt es eine Gemeindeverwaltung und in jeder Ge‐ meindesektion gibt es eine Nebenstelle, die dem Magistrat untergeordnet ist.“ (Art. IV-I-1) Die genauen Regelungen für diese Wahlverfahren verwies der Entwurf an ein noch zu erarbeitendes Spezialgesetz. (Art. IV-I-8) Die Judikative wird ebenfalls umfassend geschildert und geregelt (X). Gleich zu Beginn wird ein „einheitliches Zivil- und Strafgesetzbuch für die gesamte Republik“ in Aussicht gestellt und so zur Grundlage der zukünfti‐ gen Gesellschaft gemacht. (Art.X-I-1) Die auf verschiedenen Ebenen tätigen Angehörigen bzw. Vertreter der Judikative werden gewählt.
Sowohl die Legislative als auch die Exekutive und die Judikative werden gewählt. Daneben schreibt der Verfassungsentwurf verschiedene Institutionen und Mechanis‐
31 Der Ablauf der Wahl, die gesamte Struktur und vieles andere werden im Folgenden durch den Entwurf ausführlich geregelt. Wichtig ist die Festsetzung der jeweiligen Versammlungen auf den ersten Sonntag im Mai, die Korrelation der Abgeordnetenzahl mit der Bevölkerungszahl, die Festschreibung einer zehnjährigen Überprüfung der Zahlenverhältnisse, die strikte zeitliche Festschreibung der Wahldauer, weiterer dadurch sich ergebender Ämter, Mandate, Aufgaben‐ bereiche usw.
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men fest, die immer wieder die jeweiligen Tätigkeitsgebiete sowie die in diesen wir‐ kenden Personen kontrollieren. Dadurch sollten sicherlich ein ganzes Stück weit Fehlentwicklungen, Korruption und ähnliches bereits im, wenn man so formulieren will, Alltag des politischen Geschehens aufgedeckt werden. Das war insofern ein Versuch die permanente revolutionäre Stimmung gerade in der Hauptstadt zu been‐ den, als es dort ja immer wieder gegenseitige Verdächtigungen, Verratsvorwürfe, Anzeigen, Gerüchte und was dergleichen mehr ist gab. Erst auf dieser Basis konnte der Verfassungsentwurf deklarieren: „Die Pressefreiheit ist unbegrenzt.“ (Art. XVI-16) Eine interessante Überlegung Condorcets, die letztlich durchaus auch einen antigirondistischen Zug hat, da ja gerade die Girondisten gegen ihre politischen Gegner und gegen das Volk immer wieder inner- und (wegen ihrer gewaltigen publizis‐ tischen Macht samt dem dazugehörigen Finanzkapitel nicht zu unterschätzende) au‐ ßerparlamentarische Kampagnen anstrengten. Die Jahre ihrer Herrschaft sind auch die Zeit zahlreicher Verleumdungen gegen ihre Gegner. Diese wurden diskreditiert, unbegründet verhaftet, enteignet, hingerichtet und anderes mehr. Die Wucht der An‐ griffe der Girondisten war immens und das Volk musste immer wieder aktiv werden, einschreiten (was ihm Condorcets Verfassungsentwurf zu Gunsten parlamentarischer Regelungen und mit harten Institutionen ja verbieten wollte), um seine Führer und Vertrauten im letzten Moment zu retten. Gegen Marat half, nach zahlreichen ge‐ scheiterten Versuchen, der Gironde – im Bund mit den Royalisten – schließlich nur der Mord. Das gegen die Gironde und deren Klasseninteressen gesprochene Wort war damals schon sehr gefährlich. Einen girondistischen Aspekt hat Condorcets Überlegung in diesem Kontext frei‐ lich auch. In der Darlegung der Prinzipien und Gründe des Verfassungsentwurfs schrieb er über den Zweck der Stärkung der Urversammlungen: „Einzelne und will‐ kürliche Beschwerden, freiwillige und private Zusammenkünfte, die nach eigenem Gutdünken einen öffentlichen Charakter annehmen, der ihnen nach dem Gesetz nicht zukommt, Munizipal- oder Sektionsversammlungen, die sich in Primärver‐ sammlungen verwandeln – all das wollten wir durch reguläre und legale Beschwer‐ deverfahren und durch im Namen des Gesetzes einberufene Versammlungen, die nach rechtmäßig eingerichteten Verfahren genau bestimmte Funktionen ausüben, er‐ setzen.“32 Zu ergänzen ist, Condorcet vergaß, dies zu erwähnen: Damit jede der ge‐ rade aufgezählten Aktionen, deren sich vor allem das arme Volk zur Wahrung seiner 32 Weiter heißt es: „Wenn private Beschwerden vernehmlich werden, wenn das Volk, von den un‐ vermeidlichen Unruhen erschüttert, welche die Geburt einer Verfassung und die nachrevolutio‐ nären Zeiten mit sich bringen, Massenversammlungen bildet oder in Versammlungen, die aus anderen Gründen zusammengerufen wurden, diese Unruhen zum Gegenstand macht, dann fin‐ den sich die Repräsentanten der Nation zwangsläufig zwischen zwei Klippen wieder: Eine Nachgiebigkeit, die man für Schwäche halten könnte, ermutigt die Intrige und die Fraktionsbil‐ dung, entwertet die Gesetze, verdirbt den Geist der Nation und bestärkt einen Widerstand, der
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elementarsten Interessen (z. B. bei der Stillung des Hungers) bedienen musste (als einzige Möglichkeit der Meinungsäußerung), unter Strafe gestellt werden kann. Die Urversammlungen wurden von Condorcet in seinem Erklärungs-Text überaus positiv besetzt. „Wenn die Bürger in Primärversammlungen zusammenkommen, sollte man darin statt einer Gefahr für die öffentliche Ruhe lieber ein Mittel sehen, den Frieden mit der Freiheit zu versöhnen.“ Wichtig sei aber, die Zusammenkunft der Bürger auf der untersten politischen, dennoch enorm wichtigen Ebene streng zu regulieren. Die Versammlungen „dürfen sich nur den Fragen widmen, zu deren Erör‐ terung das Gesetz ihre Einberufung vorschreibt“.33 Die verfassungsmäßige Erweite‐ rung der Bürgerrechte, die Stärkung der Urversammlungen hatte also in der Tat letztlich den Zweck, das „Recht der Straße“ zu unterminieren. Die entscheidende Frage ist, ob von Meinungs- und Diskussionsfreiheit gesprochen werden kann, wenn festgelegt ist, worüber man diskutieren und wozu man sich eine Meinung bilden und diese (im Rahmen der Regelungen der Verfassung!) äußern darf? Wenn private Zu‐ sammenschlüsse verboten sind? Wenn jede Spontanität gleich einem Verbrechen hart sanktioniert wird? Denn eben jene Probleme, die im außerparlamentarischen Raum sich wie auch immer zu artikulieren pflegen, haben ja durchaus die prägende Eigenschaft, genau in diesem Moment und in dieser konkreten historischen Situation und in den vorhandenen personellen Konstellationen usw. gerade nicht politisch lös‐ bar zu sein bzw. von den herrschenden Eliten verkannt zu werden. Condorcet scheint diesen Problemkomplex durchaus gesehen zu haben. Eben da‐ her setzte, wie gesehen, sein Entwurf ja die fast schon permanente Beteiligung aller Bürger am politischen System fest. Hedwig Hintze umschrieb wie folgt: „Als wich‐ tigste Neuerung will dieses Verfassungsprojekt die Volksinitiative und das Volksre‐ ferendum einführen unter der Bezeichnung 'censure du peuple sur les actes de la rep‐ résentation nationale'. Es war eine alte Lieblingsidee Condorcets. Das 'Volksbegeh‐ ren' steht im Vordergrund. Jeder Bürger, der den Erlass eines neuen Gesetzes oder die Abänderung eines schon bestehenden wünscht oder die Aufmerksamkeit der Volksvertreter auf Akte der Gesetzgebung und der allgemeinen Verwaltung lenken sich zu Aufständen entwickeln kann. Solche Aufstände können zu einer Bedrohung für die Freiheit werden, schaden jedoch immer dem Frieden und bringen beinahe zwangsläufig Leid über die Menschen. Hält dieser Zustand der Unruhe im Volk an, dann stellen neue Volksbewe‐ gungen der für das öffentliche Wohl so notwendigen Ruhe unaufhörlich neue Hindernisse ent‐ gegen. Im anderen Fall aber, wenn das Volk von selbst seiner Unruhe überdrüssig wird, lernen die bestehenden Autoritäten bald, seine schüchternen und furchtsamen Beschwerden abzu‐ schmettern. Seine still auf einem Schreibtisch hinterlegten Eingaben dienen dann nur als Be‐ weis seiner Gleichgültigkeit und ermutigen dazu, diese Gleichgültigkeit zu missbrauchen. Sol‐ che irregulären Beschwerden haben den zusätzlichen Nachteil, bei den Bürgern gefährlichen Irrtümern über die Beschaffenheit ihrer Rechte, über die Natur der Souveränität des Volkes und über die Natur der verschiedenen vom Gesetz gestifteten Gewalten Vorschub zu leisten. Schließlich würde aus all dem eine echte Ungleichheit zwischen den unterschiedlichen Teilen der Republik entstehen.“ (Condorcet 2010, S. 180.) 33 Condorcet 2010, S. 179.
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will, kann, wenn er 50 Unterschriften für seinen Antrag zusammenbringt, zunächst die zuständige Urversammlung in Bewegung setzen, und dann geht, je nach der er‐ zielten Majorität, der Antrag weiter an die Urversammlungen der Kommune und des Departements; von hier aus kommt er vor das Corps législatif, dem die letzte Ent‐ scheidung vorbehalten bleibt. Unter bestimmten Bedingungen aber muss das Corps législatif sämtliche Urversammlungen der Republik einberufen und gegebenenfalls sich selbst auflösen. Artikel 28 stellt gewisse Einschränkungen auf, damit diese schwerfällige Maschine nicht allzu leichtfertig in Bewegung gesetzt werden kann. Dekrete, Akte der Lokalverwaltung, Polizeiverordnungen und dergleichen unterste‐ hen ausdrücklich nicht der Zensur durch das Volk.“34 Es gibt im Prinzip nur eine Möglichkeit, diese durchaus deutliche Stärkung der politischen Rechte des Volkes – durch die direkt-demokratischen Instrumente ebenso wie durch die Aufwertung der Urversammlungen – innerhalb der politischen Prozes‐ se in letzter Konsequenz dann doch zu zügeln bzw. einzuengen. Die im 18. Jahrhun‐ dert (und auch heute noch – zumindest als normatives Zielbild) wichtige Idee der gleichberechtigten Ausbalancierung der Gewalten (Exekutive, Legislative, Judikati‐ ve) muss fallen gelassen werden zu Gunsten der Stärkung der Legislative. „Was die Gewaltenteilung betrifft, entschied sich das Komitee gegen das System der Gewal‐ tenhemmung mit gleich starken Gewalten. Einerseits sah es in jenem System die Ge‐ fahr, dass sich die Gewalten vereinen, statt einander zu kontrollieren; andererseits befürchtete es die Bildung von Faktionen, welche je eine der Gewalten unterstützen würden. Wiederum war das Kriterium der Einheit der Republik ausschlaggebend, um eine der Gewalten – die Legislative – zu betonen, und als Kontrollinstanz dafür das Legalitätsprinzip bzw. die Kontrolle durch das Volk zu instituieren.“35 Condorcet umriss seine Überlegungen in der Darlegung der Prinzipien und Gründe des Verfassungsentwurfs ausführlich. Er wandte sich explizit gegen eine Ausbalancierung der Gewalten: „Hat die Geschichte nicht überall bewiesen, dass diese überkomplizierten Maschinen sich entweder durch ihre eigene Tätigkeit selbst zerstören oder dass neben dem gesetzlichen System ein zweites entsteht, das auf In‐ trige, Korruption und Gleichgültigkeit gegründet ist; dass es dann gewissermaßen zwei Verfassungen gibt, die eine legal und öffentlich, jedoch nur in den Gesetzbü‐ chern vorhanden, die andere geheim aber wirksam, Ergebnis einer stillschweigenden Übereinkunft zwischen den herrschenden Mächten. (…) Jene Verfassungen, die auf dem Gleichgewicht der Gewalten gegründet sind, setzen entweder voraus oder füh‐ ren dazu, dass zwei Parteien existieren. Keine Partei mehr zu kennen ist jedoch eines der höchsten Bedürfnisse der französischen Nation. Folglich muss die Gewalt, Ge‐ setze zu geben, und die Gewalt, jene allgemeinen Verwaltungsmaßnahmen festzule‐ gen, die nur den Händen der Repräsentanten des Volkes anvertraut werden dürfen, 34 Hintze 1989, S. 421. 35 Kley/Amstutz 2011, S. 20.
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einer Nationalversammlung übergeben werden. Die übrigen Gewalten müssen sich damit begnügen, die Gesetze und Beschlüsse auszuführen, die von dieser National‐ versammlung verabschiedet werden.“36 Es gilt allerdings durchaus auf der Hut zu sein. In den hiesigen politikwissen‐ schaftlichen (und anderen wissenschaftlichen) Diskursen wird der Einfluss von Montesquieus' (Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède de Montesquieu) Geist der Gesetze (De l'esprit des lois), erschienen 1748, indiziert 1751, gewaltig überschätzt. Die französische Aufklärung zerfällt, fast generationengleich, in mehre‐ re Epochen, die einander ablösten bzw. „überboten“.37 Montesquieu gehört (das evi‐ dieren seine Persischen Briefe, Lettres persanes von 1721) thematisch-inhaltlich zur Frühaufklärung. Als er 1755 starb, war von der neuen Aufklärergeneration nur Denis Diderot bei seiner Beerdigung anwesend, und der wollte nur schauen, wer so alles da sein oder fehlen werde.38 Wenn Montesquieu in der zweiten Hälfte des 18. Jahr‐ hunderts überhaupt rezipiert wurde mit seinen Überlegungen zur Gewaltenteilung (die man eigentlich eher aus den englischen Debatten der Frühaufklärung bezog), dann in gemäßigten Aufklärerdiskursen, die mit der Realität und der Weiterentwick‐ lung der Aufklärung nichts zu tun hatten. Von daher ist es wissenschaftlich nicht le‐ gitim, von einer Rezeption Montesquieus in „der“ Revolution zu sprechen, eine sol‐ che gab es, wenn überhaupt, bei den Aristokraten und den diesen nahestehenden Gi‐ rondisten. Und schon gar nicht kann ein Entwicklungsstrang von „A“ nach „B“ kon‐ struiert werden, die komplette zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts durchziehend. Ein analoger Fall ist beispielsweise in Rousseaus Contrat social zu sehen. Auch der wurde kaum direkt rezipiert, die Zeitgenossen Jean-Jacques' zogen ihr Wissen über ihn aus seinen anderen Werken. In den deutschen Diskussionen über ihn spielt das keine Rolle, selbst Sammelbände, die der Erklärung nur des Contrat social gewid‐ met sind, vollbringen es, von solchen Fakten völlig zu abstrahieren.39 Der jeweiligen legislativen Zentralversammlung müsse im System der Gewalten eine herausgehobene Stellung zugesprochen werden: „Indem wir so eine Versamm‐ lung der Repräsentanten des Volkes zum alleinigen Prinzip des gesellschaftlichen Handelns gemacht haben, gegenüber der die anderen Autoritäten nur Ausführende der von ihr verabschiedeten Gesetze und Agenten der von ihr bestimmten Verwal‐ tungsmaßnahmen sind, glauben wir, das sicherste Mittel gewählt zu haben, um die Einheit zu bewahren und die Freiheit mit dem Frieden zu versöhnen.“40 Im Prinzip ging es Condorcet, und dabei sah er überaus klar, darum, die Einheit Frankreichs da‐ 36 Condorcet 2010, S. 183. 37 Siehe: Hulliung 1991; Heyer 2005, I. 38 Vgl. die allerdings fehlerhafte Biographie von: Lepape 1994; außerdem: Crocker 1966; zu Montesquieu: Shakleton 1961. 39 Siehe, zuletzt erschienen: Lau 2018. 40 Außerdem heißt es: „Wir machen übrigens darauf aufmerksam, dass es hier keineswegs darum geht, die Mehrheit der Minderheit zu unterwerfen, sondern darum, dem Willen der Mehrheit
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durch zu sichern, dass die in der Hauptstadt beschlossenen Gesetze überall Geltung haben müssten. Eine mehr als deutliche Reaktion auf die zahlreichen Sonderwege und Sonderentwicklungen in den entfernten Departements, gegen die konterrevolu‐ tionären Umtriebe und ein richtiger Schritt zur Verwirklichung der politisch-rechtli‐ chen Gleichheit und der Festschreibung sowie Umsetzung der einheitlichen Repu‐ blik. Dies war pures anti-girondistisches Denken, da ja die Gironde nur wenige Mo‐ nate nach dem Entwurf den Bürgerkrieg in Frankreich völlig entfesselte (worauf be‐ reits verwiesen wurde). Die Macht der Legislative ist zugleich eine Zurücksetzung der Exekutive. Natür‐ lich, so Condorcet, dürften die „Institutionen eines freien Volkes kein Bild knechti‐ scher Abhängigkeit bieten“.41 Aber die Gesetzgebung habe Priorität, die Ausführung sei sekundär. Die Exekutive wird auch insofern deutlich geschwächt, als der Verfas‐ sungsentwurf festschreibt: „Die Errichtung des Schatzamtes ist unabhängig vom Vollzugsrat.“ (Art. V-I-18) Die drei Kommissare des Schatzamtes werden ebenfalls gewählt mit dem Ziel – der Exekutive einen eigenständigen und nicht kontrollierba‐ ren Zugriff auf die Finanzen nicht zuzugestehen. (Art. VI-I-1) Begründet wird dies wie folgt: „Wir haben die Verwaltung des Staatsschatzes vollkommen unabhängig vom Exekutivrat gemacht. Eine lange und unheilvolle Erfahrung hat bewiesen, dass das Gold, das den Nationen für die Verteidigung ihrer Freiheit abverlangt wurde, all‐ zu oft verwendet wurde, um sie zu knechten; dass die Leichtigkeit, mit der der Staatsschatz missbraucht werden konnte, dort Ursache der schlimmsten und beharr‐ lichsten Korruption war und dass schließlich weder Strafgesetze noch Rechen‐
der Nation zu gehorchen, die eine Ausnahme von einem allgemeinen Gesetz, das sie selbst be‐ schlossen hat, unter den Vorbehalt der Zweidrittelmehrheit stellt. Hat diese Mehrheit nicht das Recht, die Bedingungen der vorläufigen Unterwerfung festzulegen, zu der nur ihr Wille die Gesamtheit der Bürger hat verpflichten können? (…) Wir wissen wohl, dass die Einsetzung einer einzigen Gewalt, deren Autorität nur von geschriebenen Gesetzen begrenzt wird und kei‐ ne andere echte Schranke als den Widerstand des Volkes hat, bei aufgeklärten Freunde der Freiheit gewisse Befürchtungen geweckt hat. Doch ihre Befürchtungen rührten allein daher, dass sie nur einen spontanen und von der Augenblicksmeinung gelenkten Widerstand vor Au‐ gen hatten. In unserem Entwurf vollzieht sich dieser Widerstand jedoch in Formen, die vom Gesetz selbst vorgeschrieben werden. Im Übrigen stößt man in allen Systemen, sowohl in de‐ nen, die auf einem Gleichgewicht der Gewalten, wie in denen, die auf der Handlungseinheit beruhen, immer wieder auf jene sowohl in politischer wie moralischer Hinsicht schwierige Fra‐ ge des Widerstandsrecht gegen ein offensichtlich ungerechtes, jedoch auf regulärem Wege von einer gesetzgebenden Gewalt erlassenes Gesetz. Denn wenn man auch einerseits einen unbe‐ grenzten Gehorsam als tief greifende Verleugnung der natürlichen Rechte betrachten muss, lässt sich andererseits fragen, wer sich zum Richter darüber machen will, ob ein Gesetz tat‐ sächlich ungerecht ist. In unserem Entwurf ist der Richter, dessen Tätigkeit vom Gesetz selbst geregelt wird, die unmittelbare Mehrheit des Volkes, die oberste politische Macht, über die man nicht hinausgehen kann, ohne den gesamten Gesellschaftspakt in Frage zu stellen, ohne den Menschen in den Naturzustand zurück zu versetzen, in dem keine andere Autorität herrscht als die der unveränderlichen aber zu oft verkannten Gesetze der Vernunft und der uni‐ versellen Gerechtigkeit.“ (Condorcet 2010, S. 188f.) 41 Condorcet 2010, S. 190.
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schaftspflichten jemals die Gier oder den Ehrgeiz der Regierenden zu unterdrücken oder zu zügeln vermocht haben.“42 Für die Judikative wird geltend gemacht, dass sie von den anderen Gewalten und auch anderen Institutionen völlig unabhängig sein müsse, damit sie ihr Werk ver‐ richten könne. Daneben sei freilich auch sicherzustellen, dass sie selber oder die sie ausübenden Personen sich kein Fehlverhalten erlauben würden, könnten. Es ging al‐ so darum, durchaus im Sinn bürgerlichen Denkens, die Judikative einer intensiven Kontrolle durch das Volk zu unterwerfen, sie gleichzeitig jedoch dem Einflussbe‐ reich von Legislative und Exekutive zu entziehen und sie dennoch klassenpolitisch zu einem tauglichen Instrument der Bourgeoisie zu machen.43 Mit diesen Ausführungen sind die zentralen Aspekte des Verfassungsentwurfs von Condorcet sowie die von diesem beigefügten Erklärungen für den hier zu Gebo‐ te stehenden Zweck ausreichend analysiert. Der Entwurf Condorcets wurde nicht an‐ genommen, da nur einige Monate nach seiner Verlesung im Konvent die Gironde, für deren Klassenpolitik sein Verfassungsentwurfs trotz verschiedener Abweichun‐ gen repräsentativ und charakteristisch ist, ihre Herrschaft verlor. Die historischen Entwicklungen wurden eingangs kurz umrissen. Die innovativen, emanzipatorischen und modernen Elemente und Aspekte der neuen Erklärung und des Verfassungsentwurfs von Condorcet wurden auf den zu‐ rückliegenden Seiten betont – und das zu Recht. Es darf aber nicht vergessen wer‐ den, dies ist entscheidend, dass all die positiven und modernen Festsetzungen Cond‐ orcets einen ganz bestimmten historischen Hintergrund hatten: Es ging schlichtweg immer und überall darum, die Herrschaft der Bourgeoisie festzuschreiben. Mit ande‐ ren Worten: Jedwede Regung der armen Bevölkerungsteile, die Hoffnungen und Wünsche der unteren zwei Drittel – besser: vier Fünftel – der Gesellschaft, vorgetra‐ gen mit der Methode und den Mitteln des Aufstandes und der Demonstration, für immer unmöglich zu machen bzw. unter Strafe zu stellen. Die Monarchie war besei‐ tigt. Nun sollte der andere Gegner der Girondisten ebenfalls fallen, d. h. seiner wirk‐ samsten Artikulations- und Handlungsmöglichkeiten beraubt werden: Das Volk. Nicht zuletzt, da das Königtum als potentieller Verbündeter gegen die armen Massen ja weggefallen war. Man muss gar nicht an Goethes scheußlichen Bürgergeneral oder an dessen menschlich schäbiges Verhalten bspw. gegenüber Herder (der in Weimar der Revo‐
42 Condorcet 2010, S. 191f. 43 „Die vollständige Unabhängigkeit der Justizämter ist die undurchdringlichste Schutzwehr der Freiheit, da sie das Leben und den Besitz der Bürger gegen die Angriffe aller Mächte sichert, die vielleicht mit der Tyrannei liebäugeln. Zugleich muss man die Freiheit jedoch gegen die Gefahren schützen, denen sie durch die Inhaber der Justizämter selbst ausgesetzt sein könnte, in Fällen, wo Vertreter anderer Gewalten wegen ihrer Amtsführung vor Gericht gestellt wer‐ den, sei es von einem Bürger, sei es von einem öffentlichen Ankläger.“ (Condorcet 2010, S. 196.)
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lution die Treue hielt und deshalb zahlreichen Schikanen ausgesetzt war, dem auf Empfehlung Goethes das Gehalt entzogen wurde und der, im Dichterhain der deut‐ schen Kultur, dem größten Elend preisgegeben war) denken, um ein Bewusstsein da‐ für zu entwickeln, dass sich die theoretischen Positionen der Gironde im deutsch‐ sprachigen Raum noch intensiver entfalteten als in Frankreich selbst – wo eben auch auf dieser Ebene das hemmende Gegengewicht der Jakobiner wirksam war. In Deutschland (in allen seinen Teilen, von Weimar über Preußen bis Bückeburg) kann sehr gut studiert werden, was es bedeutet, wenn das Bürgertum aus Angst vor dem Volk unter die schützenden Fittiche von Adel und Klerus flieht (Lukács) – ein Pro‐ zess, der in den beiden Weltkriegen seinen bisherigen Höhepunkt fand. Zumindest dies war in Frankreich in der deutschen Intensität nach 1793 unmöglich: Ein Ver‐ dienst, das, allen Widrigkeiten und Einwänden zum Trotz, auch Condorcet (diesem auf jeden Fall mehr als beispielsweise Sieyès) anzurechnen ist.
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6. Robespierres politische Philosophie, anlässlich zweier KonventsReden von ihm zur Verfassung
Die Verfassungsdebatten zwischen dem Entwurf Condorcets und der schließlich dem Volk zur Abstimmung übergebenen Verfassung der Jakobiner werden im fol‐ genden Kapitel angesprochen und analysiert. Es ist ein Zeitraum einiger weniger Monate, vom Februar bis zum Sommer des Jahres 1793, die dennoch für die Franzö‐ sische Revolution überaus ereignisreich waren. Bevor diese Fragen jedoch themati‐ siert werden können, ist (wie bereits im Falle Condorcets) hier die politische Philo‐ sophie Robespierres, des Führers der Jakobiner, zu thematisieren. In den Debatten um die Verfassung bzw. den Verfassungsentwurf der Girondisten meldete er sich, der „Unbestechliche“, wie ihn das Volk zu Recht ehrfurchtsvoll nannte, mehrmals im Konvent zu Wort. Zwei seiner Reden sind, über die tagesaktu‐ ellen und verfassungspolitischen Streitigkeiten hinaus, bedeutsam und werden daher hier zur Rekonstruktion seiner politischen Philosophie genutzt: 1) Am 24. April 1793 redete Robespierre vor dem Konvent Über das Eigentum.1 In seinem Beitrag trug er auch eine eigene Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vor.2 2) Am 10. Mai 1793 ergriff er im Konvent erneut das Wort und sprach Über die repräsen‐ tative Regierung.3 Beides sind eminent bedeutsame Äußerungen von ihm, die den Kern seines Denkens enthalten. Seine weitere Entwicklung, die spätere Konkretisie‐ rung seiner politischen Philosophie, wird an dieser Stelle ausgeblendet. Jean Massin, Robespierres wichtigster Biograph,4 schrieb über den Kontext der ersten Rede: „Am 21. April begibt sich Robespierre in den Jakobinerklub, um seine eigene Erklärung der Menschenrechte zu verlesen. Drei Tage später schlägt er sie mit bestimmten, ebenso wichtigen Kommentaren dem Konvent zur Annahme vor. 1 Abgedr. in: Robespierre 1989, S. 394–407. 2 In der Sitzung des 24. April ergriff zudem Saint-Just das Wort mit einer Rede über die Verfas‐ sung, welche dem französischen Volk zu geben ist. (Saint-Just 1851) Im Anschluss verlas er dann einen eigenen Verfassungsentwurf. Diese Überlegungen werden im nächsten Kapitel vor‐ gestellt. 3 Abgedr. in: Robespierre 1989, S. 408–434. 4 Zu Robespierre gibt es bei weitem nicht so viel gute Forschungsliteratur wie zu anderen Perso‐ nen der Revolutionszeit. (Nur so lassen sich offensichtlich die Verleumdungen und die Vorurtei‐ le über ihn auch heute noch aufrecht erhalten.) Natürlich ist er aber in jeder Revolutionsge‐ schichte präsent. Das Standardwerk ist die eng an den Quellen arbeitende Studie von Jean Mas‐ sin (1974). Die Arbeiten von A. S. Manfred sind mit Bedacht zu genießen. Es gibt eine interes‐ sante und materialreiche ältere Arbeit von Heinrich Elsner (1838). Die deutsche Literatur der letzten Jahrzehnte ist, soweit mir bekannt, unbrauchbar. Dadurch nimmt sich sogar die 1935 erstmals erschienene fehlerhafte und tendenziöse Biographie Friedrich Sieburgs (Ausgabe: 1987) wie ein Lichtblick aus. Interesse können einzig die (allerdings auch mit ideologiekriti‐ schem Bedacht zu lesenden) Arbeiten aus den Jahren der DDR beanspruchen.
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Als der künftige Ausschuss der Bergpartei diesen Text zwei Monate später mehr als frei abwandelte, trat er für ihn nicht mehr ein. Vielleicht erhält er dadurch für uns nur um so größere Bedeutung, denn er enthält die grundsätzliche Auffassung Robes‐ pierres nach vier Jahren politischer Kämpfe unabhängig von allem taktischen Ver‐ schweigen und alle notwendigen Rücksichten, die ihm die Ereignisse auferlegen mussten. Sein Entwurf enthält auch die Punkte, über die Robespierre eine bemer‐ kenswert radikalere Auffassung hatte als die übrigen Mitglieder der Bergpartei.“5 Die Ausführungen Robespierres wurden selbstverständlich auch anders gewertet. So sprach beispielsweise Aulard davon, dass sich Robespierre als Sozialist „gebär‐ det“ habe, also die Bevölkerung bewusst täuschte, um seine Macht und seinen Ein‐ fluss zu erhöhen.6 Diese These wird an anderer Stelle ausführlicher beleuchtet. Hier reicht der Hinweis, dass sich keinerlei Beleg für sie erbringen lässt und sie rein ideo‐ logisch motiviert ist. Im Mittelpunkt der Äußerungen Robespierres vom 21./24. April 1793 stand die Definition des Rechtes auf Eigentum, wie es der Verfassungsentwurf Condorcets festgelegt bzw. definiert hatte.7 Er habe, so der Beginn, um das Wort gebeten, um zum Entwurf der Girondisten einige wichtige Zusatzartikel vorzuschlagen. Die gi‐ rondistischen „Theorien über das Eigentum“ seien zu „vervollständigen, dieses Wort möge niemanden beunruhigen“. (396) Wobei es ihm gerade nicht um Vervollständi‐ gung, sondern um völlige Abänderung der entsprechenden Passagen ging. Denn Ro‐ bespierre fuhr fort. „Niedrige und gemeine Seelen, die nur an Gold hängen!8 Ich will eure Schätze nicht antasten, wie zweifelhaft auch deren Herkunft sein mag. Ihr sollt wissen, dass dieses Agrargesetz, von dem ihr so viel gesprochen habt, nur ein Hirn‐ gespinst ist, das einige Schurken erfunden haben, um dumme und leichtgläubige Menschen zu erschrecken; es wäre sicherlich keine Revolution notwendig, um der Welt zu zeigen, dass extreme Missverhältnisse der Besitztümer die Quelle für viele Missstände und viele Verbrechen sind, aber wir sind nicht weniger überzeugt, dass eine Gleichheit des Besitzes ein Traumgespinst ist. Ich persönlich glaube, dass eine solche Gütergleichheit weit weniger für das Glück des Einzelnen notwendig ist als für das Heil der Allgemeinheit. Es geht eher darum, die Armut zu einem ehrbaren Stand zu machen, als den Reichtum zu ächten.“ (396f.) Volker Reinhardt zog, nach einigen zutreffenden Einschätzungen, aus diesem Programm die Konklusion: „So viel Ehre dem Volk als Souverän dadurch auch zugesprochen wird, durch die parla‐ 5 Massin 1974, S. 230. 6 Aulard 1924, S. 228. 7 Alle Zitate im Folgenden, wenn nicht anders gekennzeichnet, unter Angabe der Seitenzahl nach der Ausgabe: Robespierre 1989, S. 394–401/407. 8 Gustav Landauer hatte in seiner Übertragung der Revolutionsgeschichte seines Freundes Peter Kropotkin diese Passage Robespierres übrigens etwas poetischer übersetzt. Es heißt bei ihm: „'Dreckseelen, die ihr nur das Geld liebt', sagte Robespierre an diesem Tage, wobei er sich of‐ fenbar an die Adresse der Girondisten und des 'Sumpfes' wandte (…).“ (Kropotkin 1982, II, S. 162.)
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mentarische Verfassung und durch die staatliche Unterstützungspolitik bleibt es letztlich Objekt seiner wohlmeinenden Vormünder.“ Das trifft nun freilich auf jeden Sozialstaat zu, auch auf unseren heutigen, und es ist allemal besser als zu verhun‐ gern oder den Launen der Kirche ausgeliefert zu sein. Doch es geht noch weiter: In seiner negativen Konnotation band Reinhardt seine „Überlegungen“, dann auch noch, „ungeachtet aller Rousseau-Zitate“, nicht an die Ideen des Genfer Philoso‐ phen, sondern die christliche Caritas-Idee in neuzeitlicher Verkleidung zurück. Da‐ mit stellte er sich freilich außerhalb jeder Diskussion.9 Robespierres Ausführungen sind, diese Anmerkung ist mit Blick auf die histo‐ rische Rechtschaffenheit notwendig, nicht nur gegen die Girondisten als Sprecher des Handelskapitals und Großbürgertums, also als Vertreter der Klasse der Bour‐ geoisie, gerichtet. Sie sollten diese und ihre Klientel auch in einem wichtigen Punkt beruhigen: Für die Jakobiner erklärte Robespierre, dass auch seine Partei die kom‐ munistischen und/oder extremistischen Bestrebungen verschiedener radikaler Grup‐ pen, in diesen Monaten gebündelt unter dem Schlagwort eines Ackergesetzes (oder Agrargesetzes), nicht teile oder unterstütze. (Ausführlich erörtert und interpretiert wird dieses Thema in den Revolutionsgeschichten von Thiers, Mathiez und Kropot‐ kin.) Es war das keine hinhaltende, taktierende oder gar intrigierende Anmerkung, sondern eine Ernst gemeinte Positionierung. In letzter Konsequenz war es ein Be‐ kenntnis Robespierres zur bürgerlichen Gesellschaft, die er freilich ganz anders aus‐ gestaltet und gefüllt sehen wollte als die Girondisten. In den überaus erhitzten Tagen des April und Mai 1793 war dies eine Robespierre hoch anzurechnende Aussage, er hätte sie einfach weglassen können. Doch er ging, um der eigenen politischen Philo‐ sophie willen, das Risiko ein, die extremen Gruppierungen gegen sich aufzubringen und damit auf deren Hilfe im Kampf gegen die Gironde zu verzichten. Massin sprach davon, dass diese Themen Robespierre „am Herzen liegen: Die Gleichheit der Güter ist eine bloße Chimäre, die Tugend in der Hütte ist mehr wert als das Las‐ ter im Palast“.10 Wenn man sich, setzte Robespierre seine Rede fort, daran mache, das Eigentum, gar ein Recht auf Eigentum zu definieren, so dürfe man nicht vergessen, dass „es kein Recht gibt, das die Vorurteile und Laster der Menschen in dichtere Schleier zu hüllen versucht hätte“. Um zu begreifen, welcher Missbrauch mit einem vermeintli‐ chen Recht auf Eigentum getrieben worden sei, genüge es an Sklavenhändler oder an die französischen Könige zu denken: „Fragt einen dieser Händler mit Menschen‐ fleisch (Sklavenhändler, AH), was Eigentum ist; er wird euch einen langen Sarg zei‐ gen, den er ein Schiff nennt und in den er lebendige Menschen eingepfercht und festgekettet hat, und er wird euch sagen: 'Diese Menschen sind mein Eigentum, ich habe sie für so und so viel pro Kopf gekauft.' Fragt jenen Edelmann, der Ländereien 9 Reinhardt 2018, S. 31. 10 Massin 1974, S. 231.
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und Untertanen besitzt oder für den, wenn er sie nicht mehr besitzt, die Welt aus den Fugen geraten ist, er wird etwa die gleichen Ideen über das Eigentum vor euch ent‐ wickeln. Fragt die stolzen Glieder aus der Dynastie der Kapetinger; sie werden euch sagen, das heiligste aller Heiligtümer sei unstreitig ihr seit altersher ererbtes und ge‐ übtes Recht, die 25 Millionen Menschen, die das Territorium Frankreichs bewohnen, nach ihrem Belieben zu unterdrücken, zu knechten und in legaler und monarchischer Weise auszunutzen.“ (397f.) Diese Passage ist auch deswegen bedeutend, weil Robespierre mit seinen Worten „den Marquis de Condorcet und die von der girondistischen Bourgeoisie beauftrag‐ ten Deputierten“ direkt ansprach. (Massin, 1974: 231) Denn es waren ja die Giron‐ disten gewesen, die wirklich alles getan hatten, um zuerst die Monarchie und später dann wenigstens den König zu retten, die mit der Aristokratie intrigierten und auch gegen Gewinne aus dem Sklavenhandel nichts einzuwenden hatten. Es waren erst die Jakobiner, hieran erinnert erneut die historische Gerechtigkeit, die im Falle Ro‐ bespierres leider viel zu oft angerufen und eingefordert werden muss, die am 4. Fe‐ bruar 1794 die Sklaverei in den französischen Kolonien abschafften und die Revolu‐ tion auch in diese Richtung und auf diese Menschenschicht ausdehnten.11 Der Adel und die Kapitalisten hatten die Sklaverei immer als „Erbteil“ der Antike angesehen und in ihren Methoden verfeinert. Die Kirchen und der Klerus „interpretierten“ schon frühzeitig Gottes angebliches Wort so lange, bis sie sich an den ertragreichen Geschäften beteiligen konnten. Las Casas schleuderte ihnen die Wut und Verbitte‐ rung der Menschlichkeit umsonst entgegen. Die Gironde spekulierte gern mit den „Barbaren“, die das 18. Jahrhundert noch als „edle Wilde“ gekannt hatte. Erst der Pariser Proletarier und seine Frau sahen und befreiten den Menschen. Die Verteufe‐ lung der Jakobiner schweigt vor diesen Fakten, kennt sie, bestenfalls, nicht. In diesem Kontext zeigt sich dann der große Unterschied zwischen den Auffas‐ sungen Robespierres und Condorcets. Der Führer der Jakobiner sprach nicht von der Freiheit des Marktes, sondern von der dafür notwendigen Moral: „In den Augen all dieser Leute hat das Eigentum gar keine moralische Grundlage. Warum scheint eure Erklärung der Rechte den gleichen Irrtum zu enthalten? Als ihr die Freiheit definiert habt, das erste Gut und das heiligste Recht der Menschen, das er von der Natur emp‐ fangen hat, da habt ihr ganz richtig gesagt, dass die Freiheit ihre Grenzen in den Rechten des Nächsten hat; warum habt ihr diesen Grundsatz nicht auch auf das Ei‐ gentum angewandt, das doch ebenfalls eine soziale Einrichtung ist? Als ob die ewi‐ 11 Dekret des Nationalkonvents über die Abschaffung der Negersklaverei in den Kolonien vom 4. Februar 1794: „Der Nationalkonvent erklärt die Sklaverei der Neger in allen Kolonien für abgeschafft. Demzufolge dekretiert er, dass alle Menschen ohne Unterschied der Hautfarbe, die in den Kolonien ihren Wohnsitz haben, französische Bürger sind und sämtliche durch die Ver‐ fassung garantierten Rechte genießen. Der Nationalkonvent beauftragt den Wohlfahrtsaus‐ schuss, ihm unverzüglich einen Bericht über die notwendigen Maßnahmen vorzulegen, um die Durchführung des vorliegenden Dekrets sicherzustellen.“ (Abgrdr. bei: Grab 1989, S. 298.)
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gen Gesetze der Natur weniger unverletzbar wären als die Konventionen der Men‐ schen. Ihr habt eine Vielzahl von Artikeln verfasst, um eine möglichst große Freiheit in der Ausübung des Eigentumsrechtes zu gewährleisten, und ihr habt nicht ein ein‐ ziges Wort gesagt, um den legitimen Charakter des Eigentums zu bestimmen, so dass eure Erklärung nicht für die Menschen im Allgemeinen, sondern für die Rei‐ chen, die Spekulanten, die Wucherer und die Tyrannen gegeben zu sein scheint.“ (398) Die Gironde hat nie auf diese Einwände geantwortet – das war ihr unmöglich. Im Folgenden schlug Robespierre vor, diese Mängel des girondistischen Entwurfs durch „Wahrheiten“ zu ersetzen, die er in vier Artikeln zusammenfasste: • • • •
„Art. 1: Das Eigentum ist das Recht eines jeden Bürgers, über den Teil der Güter frei zu verfügen, der ihm durch das Gesetz garantiert wird. Art. 2: Das Eigentumsrecht ist wie jedes andere Recht durch die Verpflich‐ tung eingeschränkt, die Rechte des Nächsten zu respektieren. Art. 3: Das Eigentum darf weder die Sicherheit, die Freiheit, die Existenz noch das Eigentum unserer Mitmenschen beeinträchtigen. Art. 4: Jeder Besitz und jeder Handel, der diesen Grundsatz verletzt, ist un‐ lauter und unmoralisch.“ (399)
Doch wie kann diese Moralität des Eigentums in der Praxis hergestellt werden? Ro‐ bespierre nannte zuvorderst einen Punkt: Die Festsetzung von Steuern auf progressi‐ ver Basis. Den Bürgern sei die Verpflichtung aufzuerlegen, „zu den Ausgaben des Staates progressiv, entsprechend der Größe ihres Vermögens beizutragen“. (400) Das wäre insofern eine verpflichtende Gerechtigkeit, da die Größe des Vermögens jenen Vorteilen entspreche, die dem Einzelnen von der Gesellschaft – und auch von der bisherigen Revolution – gewährt würden. Folgender Artikel solle in das Verfas‐ sungswerk aufgenommen werden: „Die Bürger, deren Einkommen die für ihren Le‐ bensunterhalt notwendige Summe nicht übersteigt, sollen von der Verpflichtung ent‐ bunden werden, zu den öffentlichen Ausgaben beizutragen; die anderen sollen pro‐ gressiv je nach der Größe ihres Vermögens die Lasten tragen.“ Das ist nun freilich ein Aspekt, der sich so – zumindest größtenteils, wenngleich mit anderer Intention und unter anderer Motivation – auch bei Condorcet finden lässt, der ja ein festzuset‐ zendes Existenzminimum von der Besteuerung ausgenommen hatte. Im Prinzip ist es durchaus eine Konkretisierung der Überlegungen Condorcets, eben die Progressi‐ vität der Besteuerung oberhalb des Existenzminimums. (Und natürlich ist mehr als sicher, dass sich die Gironde auf der einen und die Jakobiner sowie die Sansculotten auf der anderen Seite ganz sicher darüber gestritten hätten, was zur Existenz eines Menschen notwendig ist. Die Sklavenhändler, von denen Robespierre gesprochen hatte, sie waren Girondisten. Deren Antwort war damit definitiv gegeben. Und die
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Sansculotten verlangten für die Bewachung der Konterrevolutionäre und ihre sonsti‐ gen revolutionären Aufgaben einen Tagessatz von 40 Sous pro Patriot.) Zum Schluss seines Beitrags kam Robespierre noch einmal auf ein für ihn sehr wichtiges Anliegen zu sprechen. Es wurde bereits gezeigt, in welch starkem Maße er sich gegen die Kriegspolitik der Girondisten gewandt und für den Frieden eingesetzt hatte. (Die Feindschaft der Gironde war ihm damit für immer gesichert.) Nun dehnte er die damals für Frankreich entwickelten Prinzipien auf die, allgemein gesprochen, ganze Menschheit aus.12 Es ging ihm darum, die Idee der Revolution zu festigen und zu verbreiten – nicht zuletzt, um auf diese Weise die Umbrüche und Fortschritte im eigenen Land zu sichern. Er versuchte, einen Konsens zu formulieren, der das revo‐ lutionäre Frankreich an seine große, emanzipierende Tat erinnern sollte – die Auslö‐ schung der Monarchie, inklusive der Hinrichtung des Monarchen. Der Krieg, nun einmal begonnen, müsse in die richtige Richtung gelenkt werden – zum Wohl der Nation und der Revolution, der Armen. Erneut schlug er vier zu ergänzende Artikel vor: • • •
•
„Art. 1: Die Menschen aller Länder sind Brüder; die verschiedenen Völker müssen sich wie die Bürger eines Staates untereinander nach Kräften helfen. Art. 2: Wer eine Nation unterdrückt, erklärt sich zum Feind aller Nationen. Art. 3: Wer gegen ein Volk Krieg führt, um den Fortschritt der Freiheit auf‐ zuhalten und die Menschenrechte auszulöschen, soll von allen Völkern ver‐ folgt werden, und zwar nicht als gewöhnlicher Feind, sondern als rebellie‐ render Mörder und Brigant. Art. 4: Die Könige, die Aristokraten und die Tyrannen, welcher Nation auch immer sie angehören, sind Sklaven, die gegen den Souverän der Erde, d. h. gegen das Menschengeschlecht, und gegen den Gesetzgeber des Univer‐ sums, d. h. gegen die Natur, revoltieren.“ (401)
Im Anschluss stellte Robespierre dann seine eigene Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vor.13 Die Unterschiede zu Condorcets Entwurf auf formal-methodi‐ scher Ebene sind – was bei Berücksichtigung der intellektuellen Genese beider 12 „Das Komitee hat fernerhin völlig vergessen, an die Pflichten der Brüderlichkeit zu erinnern, die alle Menschen und alle Nationen vereinigen, und an ihr Recht auf gegenseitige Unterstüt‐ zung. Das Komitee scheint die Grundlagen des ewigen Bundes der Völker gegen die Tyrannen nicht gekannt zu haben. Man könnte meinen, eure Erklärung sei für eine kleine Herde mensch‐ licher Kreaturen gegeben worden, die in einem Winkel der Welt eingepfercht ist, nicht aber für eine riesige Familie, der die Natur die ganze Erde zu ihrem Besitz und zu ihrer Wohnstatt ge‐ geben hat. Ich schlage vor, dieses große Versäumnis durch einige folgende Artikel nachzuho‐ len. Diese Artikel können euch nur die Achtung aller Völker einbringen; allerdings können sie auch den Nachteil haben, dass sie euch unwiderruflich mit allen Königen entzweien. Ich muss aber gestehen, dass mich dieser Nachteil nicht sonderlich schreckt.“ (400)
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Theoretiker durchaus überrascht – augenfällig: Robespierre unterschied weitaus deutlicher und treffsicherer zwischen natürlichen, gesellschaftlichen und staatsbür‐ gerlichen Rechten. Was in letzter Konsequenz bedeutet, dass er auch viel dezidierter kontraktualistisch dachte und argumentierte bzw. die Vertragstheorie den implizit mitgedachten Hintergrund seiner Ausführungen bildete. Das zeigt sich gleich zu Be‐ ginn, wenn er die „natürlichen Rechte des Menschen“ (401) zum Bewertungsmaß‐ stab der gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen macht, da deren Missach‐ tung „die einzige Ursache des Verbrechens und des Elends in der Welt“ sei. (401f.) In diesem Sinne komme es darauf an, diese, das Gute repräsentierenden, natürlichen Rechte so weit wie möglich in den Gesellschaftszustand und dann in die Organisati‐ on der Republik zu überführen. Gedacht ist also an den klassischen kontraktualistischen Dreisprung bzw. doppel‐ ten Vertragsabschluss: Naturzustand, Gesellschaftsvertrag, Herrschaftsvertrag. Die Trennung von Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag war deshalb für Robespierre wichtig, da auf diese Weise die organisierte und revolutionäre Gesellschaft ihre Re‐ gierung mitsamt dem kompletten Herrschafts- und Unterdrückungsapparat austau‐ schen kann, gegen diese revoltieren darf. Ohne Herrschaftsvertrag fallen die Indivi‐ duen nicht in den Naturzustand – wo der Bürgerkrieg herrsche in Form eines „Kampfes jeder gegen jeden“ (Hobbes), zumindest nach dem Verlust der „ersten Un‐ schuld“ (Rousseau) – zurück, sondern bleiben als vertraglich geregelter Gesell‐ schaftsverband aktiv und organisiert. (Hier folgte Robespierre der Argumentation von Diderot und Raynal, wobei nicht klar ist, ob er deren Schriften kannte. Aber Diderots kontraktualistische Theorie aus den Artikeln der Encyclopédie war allge‐ mein bekannt.) Eine kontraktualistisch verfahrende Begründung der verschiedenen Volkserhebungen im Verlauf der Revolution. Der Mensch ist nicht des Menschen Wolf, dies machte Rousseau – nicht nur im Contrat social und im Discours sur l'ori‐ gine et les fondements de l'inégalité – gegen Thomas Hobbes geltend. Wo Rousseau mit dieser Aussage den ersten Naturzustand meinte, sprach Robespierre von den tu‐ gendhaften Armen. Es überrascht daher nicht, dass der 1. Artikel dekretiert: „Ziel jeder politischen Vereinigung sind die Aufrechterhaltung der natürlichen und unabänderlichen Rechte der Menschen und die Entwicklung aller seiner Fähigkeit.“ Als solche Menschen‐ rechte legte der 2. Artikel die Erhaltung der Existenz und der Freiheit fest. Rechte, die unabhängig von den physischen und moralischen Unterschieden allen Menschen zustehen würden. (Art. 3) Die Gleichheit der Rechte sei von der Natur begründet und die Gesellschaft dürfe dieses natürliche Recht in keiner Weise beeinträchtigen, sondern sie beziehe ihre ganze Legitimation aus ihrem Auftrag, jedweden Miss‐ 13 Alle Zitate im Folgenden, wenn nicht anders gekennzeichnet, unter Angabe der Seitenzahl bzw. Artikelnummer nach der Ausgabe: Robespierre 1989, S. 401–407. Abdruck beispielswei‐ se auch in: Buonarroti 1909, S. 53–54.
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brauch aller Gewalten, die diesem Recht gefährlich werden könnten, zu verhindern. (Art. 3) Es klingt fast wie ein Vorgriff auf den sich 50 Jahre später entwickelnden Marxismus und die dort formulierte Entfremdungsproblematik, wenn Robespierre die Freiheit wie folgt definiert: „Die Freiheit ist die dem Menschen zustehende Macht, seine Fähigkeiten nach seinem Willen auszuüben. Sie hat die Gerechtigkeit als Regel, die Rechte des Nächsten als Grenze, die Natur als Grundsatz und das Ge‐ setz als Schutz.“ (Art. 4) Als Schranke gegen jedweden Despotismus will der Artikel zudem das Versammlungsrecht und die Meinungsfreiheit dauerhaft festschreiben.14 Mit seiner Erklärung bekannte sich Robespierre zur bürgerlichen Gesellschaft, die in seiner Version sich freilich von der der Girondisten, die nicht weniger wollten als den ungehemmten Kapitalismus, deutlich unterschied. So wird beispielsweise das Gesetz nicht, es sei erlaubt, so zu formulieren, individualisiert, d. h. es ist nicht auf den Schutz der festzusetzenden Rechte eines Einzelnen bzw. Aller (als versammelte Einzelne) bezogen, sondern auf die Gesellschaft. Der Maßstab der Gesetze bestehe im Glück der Gesellschaft.15 Das ist im Prinzip das Gegenteil von dem, was die Gi‐ rondisten wollten. François-Joseph L'Ange, dessen Konzeption an anderer Stelle er‐ örtert wird, ging selbst dies nicht weit genug, so dass er zu echt genossenschaftlichsozialistischen Ideen vorstieß. Er individualisierte seinerseits die Gemeinschaftsidee der Jakobiner, ohne aber zum egoistisch-kapitalistischen Individualismus der Giron‐ disten zu gelangen. Die Gesellschaft ist das Primäre, das Individuum das Sekundäre. Diese Prämisse prägte auch Robespierres Eigentumsbegriff in entscheidender Weise. „Das Eigentum ist das Recht eines jeden Bürgers, über den Teil der Güter frei zu verfügen, der ihm durch das Gesetz garantiert wird.“ (Art. 7) Schon in dieser Bestimmung klingt an, dass es eine ungehemmte und durch nichts abgefederte Akkumulation mit Robes‐ pierre nicht geben würde. So stellt der 8. Artikel das Eigentum unter die Verpflich‐ tung, „die Rechte des Nächsten“ zu respektieren. Und der 9. Artikel ergänzt, dass das Eigentum des einen „weder die Sicherheit, die Freiheit, die Existenz noch das Eigentum unserer Mitmenschen beeinträchtigen“ darf. Die Gesellschaft garantiere jedem Individuum seinen Besitz und verlange dafür nicht zuletzt eine, man kann es so nennen, moralische Verpflichtung und/als Selbstverpflichtung – den Respekt vor den anderen und vor der Gesellschaft.
14 „Das Recht, sich in friedlicher Weise zu versammeln, und das Recht, seine Meinung zu äußern, sei es auf dem Wege des Drucks oder auf jede andere Art, sind so eng mit der Freiheit des Menschen verbunden, dass die Notwendigkeit, diese Rechte ausdrücklich zu betonen, auf die Gegenwärtigkeit des Despotismus oder auf eine lebhafte Erinnerung an ihn schließen lässt.“ (Art. 4) 15 „5: Das Gesetz kann nur verbieten, was der Gesellschaft schadet; es kann nur anordnen, was der Gesellschaft nützlich ist. 6: Jedes Gesetz, das die unabänderlichen Rechte des Menschen verletzt, ist im wesentlichen ungerecht und tyrannisch; es ist kein wirkliches Gesetz.“ (Art. 5 und 6)
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Aus diesen Überlegungen resultiert zwangsläufig, dass das Eigentum eine sozial‐ pflichtige Seite erhielt. Diese zeigt sich nicht nur in den gegenseitigen Verpflichtun‐ gen der Bürger, die Interessen der jeweils anderen anzuerkennen, sondern setzt auch die Gesellschaft in eine schützende und bewahrende Rolle ein: „Die Gesellschaft ist verpflichtet, für den Lebensunterhalt aller ihrer Mitglieder zu sorgen, entweder in‐ dem sie ihnen Arbeit verschafft, oder indem sie denjenigen, die nicht mehr in der Lage sind zu arbeiten, die Existenzmittel zusichert.“ (Art. 11) Da die Reichen offen‐ sichtlich besonders von den Vorteilen der Gesellschaft (und damit von allen ihren Mitbürgern und demnach auch von den Vorteilen und Errungenschaften der bisheri‐ gen Revolution und also von der Macht des Volkes und der Opferbereitschaft der Sansculotten) profitieren, sind sie, Robespierre zu Folge, verpflichtet, die Kosten dieser Fürsorge zu tragen. „Die der Armut notwendige Hilfe ist eine Schuld des Rei‐ chen gegenüber dem Armen; das Gesetz hat die Art und Weise zu bestimmen, in der diese Schuld abgetragen werden soll.“ (Art. 12) Ein weiteres Element der Sozialverpflichtung und direktes Erbe der Aufklärung ist die von Robespierre (und auch von Condorcet) dekretierte Bildung für alle als Motor von Fortschritt und Zivilisation:16 „Die Gesellschaft muss mit ihrer ganzen Kraft den Fortschritt der allgemeinen Vernunft fördern und allen Bürgern die Ver‐ mittlung von Wissen ermöglichen.“ (Art. 13) Der Unterschied zwischen Robespierre und Condorcet ist in diesem speziellen Punkt darin zu erkennen, dass der Führer der Jakobiner, anders als der Sprecher der Girondisten, sah, dass die Aneignung von Bil‐ dung ein ökonomisches Fundament haben muss – in der Gesellschaft und für jedes einzelne Individuum. Anders formuliert: Robespierre wusste, dass man mit knurren‐ dem, hungrigem Magen schlechter bzw. gar nicht lernt. Bei Condorcet war die Bil‐ dung eine Möglichkeit, reich zu werden und diesen Reichtum dann nicht teilen zu müssen, sie war die Chimäre angeblicher Chancengleichheit und damit der Verweis des Hungers in die Schuld des Einzelnen (der sich ja bilden könne). Bei Robespierre fungierte die Bildung als ein wesentliches Element einer sich selbst aufklärenden und immer vernünftiger werdenden Gemeinschaft von Staatsbürgern. Sie war Grundlage der Tugend und der Republik. Ein Keim in jedem armen und rechtschaf‐ fenden Menschen, der „großgezüchtet“ und von seinen Schranken und künstlichen
16 Am 30. Mai 1793 war ein Dekret über das Schulwesen beschlossen worden, für die Gironde kam diese Hinwendung zu sozialpolitischen Themen im weiteren Sinne zu spät. Nicht zuletzt trägt es deutlich Züge des Denkens der Jakobiner. „Art. 1. An jedem Orte, der 400–1500 Köpfe zählt, soll eine Primärschule bestehen. Die selbe kann allen weniger bevölkerten Wohnungen im Umfange von 1000 Toisen (Klastern) dienen. Art. 2. In jeder dieser Schulen soll ein Lehrer sein, dazu angestellt, die Zöglinge in den den Bürgern nötigen Elementarkenntnissen zu unter‐ richten, um ihre Rechte auszuüben, ihre Pflichten zu erfüllen und ihren häuslichen Angelegen‐ heiten vorzustehen. Die Lehrer sind beauftragt, jede Woche einmal den Bürgern jeden Alters und Geschlechts Vorlesungen zu halten und Unterricht zu erteilen.“ (Abgedr. bei: Kolb 1834, S. 269.)
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(im Sinne Rousseaus: kulturell entstandenen) Determinanten, vor allem den ökono‐ mischen, befreit werden müsse zu Gunsten aller. Eine weitere Facette der Sozialpflichtigkeit des Eigentums zeigt sich darin, dass Robespierre die Entlohnung der öffentlichen Funktionäre vorschlug und zudem den Bürgern Zahlungen in Aussicht stellte, damit diese trotz ihrer täglichen Arbeit an den Staatsgeschäften teilnehmen können.17 Dies war eine der zentralen Forderungen der Sansculotten und Robespierre war mit seiner Erklärung bereit, diese zu erfüllen. Das war mehr als nur ein Schritt über die gesamte Theorie und Praxis der Gironde hinaus. Bereits während des Aufstandes im Mai/Juni 1793 sollten Robespierre, die Kommune und die Sansculotten nach dieser Prämisse handeln. Mit diesen Anmerkungen sind wichtige Elemente von Robespierres politischer Philosophie, die seine Erklärung der Menschen und Bürgerrechte fundamental tra‐ gen, angesprochen. Einige weitere Punkte der Erklärung sind kurz stichpunktartig aufzuzählen. • • • • • •
Das Gesetz ist der freie Ausdruck des Volkswillens. (Art. 14) Es ist für alle gleich. (Art. 17) Das Volk ist der Souverän, die Regierung daher sein Werk, die Beamten sei‐ ne Beauftragten. (Art. 15) Auch außerhalb der Wahlen kann das Volk, „wenn es ihm beliebt“, die Re‐ gierung ändern oder die Beauftragten abberufen. Alle Bürger dürfen wählen und sind wählbar. Alle haben die gleichen Rech‐ te. (Art. 19 und 20) Petitionsrecht. (Art. 23) Internationale Solidarität. „Die Menschen aller Länder sind Brüder, und die verschiedenen Völker müssen sich wie die Bürger eines Staates untereinan‐ der nach Kräften helfen.“18 (Art. 26)
Ein Unterschied zwischen den Vorschlägen von Condorcet und Robespierre ist hier abschließend noch zu erwähnen – er betrifft die vielleicht heikelste Frage der Aus‐ 17 „Damit diese Rechte (Wahrnehmung der demokratischen Staatsaufgaben, AH) nicht illusorisch sind und die Gleichheit keine Wahnvorstellung bleibt, muss die Gesellschaft die öffentlichen Funktionäre besolden und alles tun, damit die Bürger, die von ihrer Arbeit leben, den öffentli‐ chen Versammlungen, zu denen das Gesetz sie aufruft, beiwohnen können, ohne dass sie ihre Existenz oder die ihrer Familien beeinträchtigen.“ (Art. 20) 18 Weiter heißt es: „Wer eine Nation unterdrückt, erklärt sich zum Feinde aller Nationen. Wer ge‐ gen ein Volk Krieg führt, um einem Fortschritt der Freiheit aufzuhalten und die Menschenrech‐ te auszulöschen, soll von allen Völkern verfolgt werden, und zwar nicht als gewöhnlicher Feind, sondern als rebellischer Mörder und Brigant. Die Könige, die Aristokraten und die Ty‐ rannen, welcher Nation auch immer sie angehören, sind Sklaven, die gegen den Souverän der Erde, d. h. das Menschengeschlecht, und gegen den Gesetzgeber des Universums, d. h. die Na‐ tur, revoltieren.“ (Art. 26) Das ist die Position der Ergänzungsartikel.
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söhnung von politischer Organisation und individueller Freiheit: Das Widerstands‐ recht. Es konnte gezeigt werden, dass Condorcet in seinem Verfassungsentwurf alles unternahm, um das Widerstandsrecht zu legalisieren und damit den armen Volks‐ massen als letztes (vielleicht sogar einziges) Druckmittel ja gleichzeitig zu entrei‐ ßen. Zumindest jedwede spontane Stellungnahme des Volkes war damit unmöglich gemacht bzw. unter Strafe, Strafandrohung gestellt. Robespierre ging den entgegen‐ gesetzten Weg, er bekannte sich zu den Sansculotten, zu den Massen des Volkes, de‐ ren Sprecher er war. Der 22. Artikel hält fest: „Aber jeder Akt gegen die Freiheit, gegen die Sicherheit oder gegen das Eigentum eines Menschen, ganz gleich, von wem er verübt wird, selbst im Namen des Gesetzes, soweit er nicht vom Gesetz fest‐ gelegt ist und sich nicht in den vorgeschriebenen Formen hält, ist willkürlich und nichtig; die Achtung vor dem Gesetz selbst verbietet es, sich einem solchen Akt zu unterwerfen; wenn er versucht werden sollte, ihn gewaltsam auszuführen, ist es er‐ laubt, ihm Gewalt entgegenzusetzen.“ Das Widerstandsrecht wird in diesen Formu‐ lierungen genau genommen eigentlich schon zu einer Pflicht – des Menschen und des Bürgers. Von daher überrascht es nicht, dass der 25. Artikel noch präziser wird: „In jedem freien Staat muss das Gesetz vor allem die öffentliche und individuelle Freiheit gegen den Missbrauch der Autorität durch ihre Inhaber verteidigen. Jede Einrichtung, die nicht davon ausgeht, dass das Volk gut und der Magistrat schlecht ist, ist fehlerhaft.“ In Condorcets Entwurf stand der Gehorsam gegenüber dem Gesetz und den ge‐ wählten Autoritäten im Vordergrund, eben deshalb hatte dieser ja das Widerstands‐ recht legalisiert und institutionalisiert. Im Prinzip war dies auch die Position Robes‐ pierres, der sich gerade in den Maitagen 1793 lange schwer damit tat, den Aufstand der Volksmassen direkt gegen den Konvent zu lenken. Er war eben kein Anarchist, wie seine Gegner, die Girondisten so oft und gerne behaupteten, sondern sehr wohl ein Politiker des Rechtsstaates. Aber in dem Moment, wo er dezidiert kontraktualis‐ tisch argumentierte, den Naturmenschen zuerst in den Gesellschaftsstand, dann in die politische Ordnung überführte, wird bei ihm das Widerstandsrecht zu einer Äu‐ ßerung der Natur inmitten der politischen Sphäre. Eine Idee, deren Ursprünge bei Rousseau und – vor allem, noch stärker – bei Diderot kaum übersehen werden kön‐ nen.19 „Der Widerstand gegen die Unterdrückung ergibt sich aus den anderen Men‐ schen- und Bürgerrechten. Es handelt sich um eine Unterdrückung der Gesellschaft, wenn ein einziges ihrer Mitglieder unterdrückt wird. Es handelt sich um Unterdrü‐ ckung eines jeden Mitglieds, wenn die Gesellschaft unterdrückt wird. Wenn die Re‐ gierung das Volk unterdrückt, ist der Aufstand des gesamten Volkes und eines jeden Teiles des Volkes die heiligste Pflicht. Wenn einem Bürger die Garantie der Gesell‐ 19 Exemplarisch sei verwiesen auf die verschiedenen, kontraktualistisch argumentierenden Arti‐ kel Diderots in der Encyclopédie. Siehe hierzu ausführlich: Heyer 2004, S. 119–180. Außer‐ dem: Crocker 1986; Weis 1965; Hubert 1923 und 1927.
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schaft nicht gewährt wird, gilt für ihn das Naturrecht der Selbstverteidigung. In dem einen wie in dem anderen Fall besteht die äußerste Verfeinerung der Tyrannei darin, den Widerstand gegen die Unterdrückung gesetzlichen Formen zu unterwerfen.“ (Art. 24) Der letzte Satz ist natürlich unterschwellig und doch offensichtlich – Spitze gegen Condorcet. Vor allem aber waren Robespierres Ausführungen die vollumfäng‐ liche Bejahung der bisherigen Revolution als Geschichte von Volkserhebungen. Die Girondisten konnten an dem gefährlichen Potenzial, das in dieser Rede und der Erklärung, vorgetragen von dem Mann, den sie für einen ihrer größten Feinde hielten und den sie deshalb mit aller Wut bekämpften, schlummerte, nicht vorbeige‐ hen. „In jener Art von Volksfront, die stillschweigend zwischen den sansculottischen Enragés und den fortgeschrittenen Bourgeois der Bergpartei geschlossen wurde, einer Volksfront, deren Manifest Robespierres Entwurf der Erklärung der Men‐ schenrechte hätte sein können und deren unmittelbares Ziel der Beschluss über das erste Preismaximum war, erkennt die Gironde Ende April 1793 für ihre Bestrebun‐ gen die ernsteste Gefahr, die ihr je begegnet ist. Es hat den Anschein, als würden einige ihrer Führer von Verwirrung und Hysterie befallen. Pétion, derselbe Pétion, der 14 Monate zuvor gegenüber Buzot von der notwendigen Allianz zwischen Ar‐ men und Reichen sprach, veröffentlicht einen Brief an die Pariser, der nichts ande‐ res als ein offener Aufruf zum Bürgerkrieg ist. 'Euer Eigentum ist bedroht, und ihr schließt die Augen vor dieser Gefahr. Es wird zwischen denen, die besitzen und de‐ nen, die nichts besitzen, zum Krieg gehetzt, und ihr tut nichts, um ihn zu verhindern. Einige Intriganten, eine Hand voll Verschwörer schreibt euch das Gesetz vor, verlei‐ tet euch zu Gewalttätigkeiten und unüberlegten Maßnahmen, und ihr habt nicht den Mut, Widerstand zu leisten, ihr wagt es nicht, euch in euren Sektionen einzufinden, um gegen sie anzukämpfen. Ihr seht zu, wie alle reichen und friedlichen Bürger Pa‐ ris verlassen, ihr seht zu, wie Paris vernichtet wird, und ihr bleibt ruhig. Pariser, wacht endlich auf aus eurer Lethargie und scheucht diese giftigen Insekten in ihre Schlupfwinkel zurück.'“20 Philippe Buonarroti, dessen Erinnerungen an die Verschwörung für die Gleich‐ heit, die von Babeuf und dessen Freunden als letzter Protest gegen die Rückführung der revolutionären Errungenschaften initiiert worden war, bereits an anderer Stelle zur Erläuterung des damaligen Zeitgeistes genutzt worden, kann auch zum weiteren Verständnis der Erklärung Robespierres hier zu Wort kommen. Er schrieb: „Vor dem Sturz der Girondisten glaubte Robespierre, dass der von ihnen beherrschte Konvent nicht im Stande wäre, gute Gesetze zu zeitigen. Er glaubte überdies, dass die erste Sorge der Volksvertreter jener kritischen Zeit sein müsste, die zahlreichen Feinde zu vernichten, welche innen und außen die Existenz der Republik bedrohten. Aber als er sah, dass die Girondisten dazu neigten, ihren aristokratischen Prinzipien die Wei‐
20 Massin 1974, S. 234f.
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he der Gesetzgebung zu verschaffen, stellte er ihren Plänen seine 'Erklärung der Menschenrechte' gegenüber, in der seine volkstümlichen Absichten offen dargelegt sind. Wenn man die politischen Lehren, die in dieser Schrift niedergelegt sind, zu‐ sammenhält mit den Reden, die Robespierre in der letzten Zeit seines Lebens hielt, mit der Reinheit seiner Sitten, seiner Aufopferung, seinem Mute, seiner Bescheiden‐ heit und seiner seltenen Selbstlosigkeit, ist man gezwungen, einer so hohen Weisheit eine glänzende Huldigung zu erweisen, und man kann nur die Verderbtheit oder die unbegreifliche Blindheit von denen, die seinen Meuchelmord anzettelten und aus‐ führten, verabscheuen.“21 Buonarroti war die Erklärung so wichtig und stellte für diesen ein derart zentrales Schriftstücke der sozialen Revolution dar, dass er sie in seinen Erinnerungen voll‐ ständig abdruckte.22 Für ihn stand außer Frage, dass in Robespierres Erklärung das eigentliche Denken und die politische Philosophie der Jakobiner zu sehen sei. „Die‐ ses bemerkenswerte Schriftstück wirft das hellste Licht auf das wahre Ziel, das diese Männer sich vorsteckten, die so wütend verfolgt wurden seit dem Tode dieses be‐ rühmten Gesetzgebers. Man wird darin die Erklärung des Eigentumsrechtes bewun‐ dern, welches nicht mehr zu den Hauptrechten gezählt wird, um dem Platz zu ma‐ chen, das für die Erhaltung der Existenz sorgt. Ferner die Grenzen, die eben diesem Eigentumsrecht gesetzt sind; die Einrichtung der Progressivsteuer, die Beteiligung aller an der Gesetzgebung, die Ausrottung des Elends, den Unterricht, der allen Bür‐ gern zugesichert wird, und das Recht, dem Drucke Widerstand zu leisten, das zu dem Zweck eingerichtet wurde, dass es ein unüberwindliches Hindernis für die Will‐ kür der öffentlichen Beamten und der Tyrannei der Gesetze selbst bildete.“23 Dergestalt waren die damaligen Debatten. Es konnte bereits gezeigt werden, dass die Girondisten, unfähig zum Kompromiss, in ihrer Überheblichkeit in diesen Tagen ihr eigenes Ende herbeiführten. Am 10. Mai – drei Wochen standen noch aus bis zur Revolution in der Revolution – sprach Robespierre erneut vor dem Konvent: Über die repräsentative Regierung. Sein Beitrag ist heute viel mehr als nur eine Stellung‐ nahme zu den damaligen tagesaktuellen Fragen bzw. zur Verfassungsdebatte. Er ent‐ hält die Grundlagen seiner politischen Philosophie und ist daher im Folgenden zu betrachten. Jean Massin hat die Rede Robespierres historisch verankert. Am 8. Mai hatte die‐ ser im Konvent auf die sich in Paris entwickelnde konterrevolutionäre Verschwö‐ rung hingewiesen. Am Abend wiederholte er im Jakobinerklub seine Mahnungen und Anklagen: „Es gibt in Frankreich nur noch zwei Parteien: Das Volk und seine Feinde. Wer nicht für das Volk ist, ist gegen das Volk.“24 Anschließend stellte er ein 21 22 23 24
Buonarroti 1909, S. 51f. Buonarroti 1909, S. 53f. Buonarroti 1909, S. 52. Zit. bei: Massin 1974, S. 237.
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ausführliches Programm vor, um der Situation Herr zu werden: „Verhaftung der Ver‐ dächtigen – schon am 6. Mai hatte er Pache, den Bürgermeister von Paris, der einige Verhaftungen vornehmen ließ, gegen Vergniaud verteidigt – ; Reinigung der Sektio‐ nen; Entschädigung der Sansculotten für die Zeit, die sie ihrer Arbeit fern bleiben, wenn sie an den Sektionsversammlungen teilnehmen, mit Geldern, die von den Rei‐ chen erhoben werden; Aufstellung einer Revolutionsarmee für den Einsatz im Lan‐ de; Erhöhung der Waffenproduktion; Errichtung von Schmieden für diesen Zweck auf allen öffentlichen Plätzen.“25 Die nächsten Tagen zeigen Robespierre dann weiter in voller Aktion: „Dreimal innerhalb von vier Tagen, am 10. Mai, an dem er eine große Rede hält, um den anti‐ demokratischen Charakter der Verfassung Condorcets nachzuweisen, am 12. und 13. Mai greift Robespierre an, wobei er der Kommune und den Sektionen jedes Mal rät, sich streng an die Gesetzlichkeit zu halten. Von den Deputierten des 'Berges' unterstützt, werden die Sansculotten wieder Herr der Lage in Paris. Als Antwort da‐ rauf veranlassen die Girondisten ein Dekret über die Bildung einer Zwölferkommis‐ sion, die sich ausschließlich aus Girondisten zusammensetzt und die beauftragt wird, die Handlungen der Kommune zu untersuchen. Am folgenden Tag, am 19. Mai, tre‐ ten die Revolutionskomitees der Sektionen zusammen.“26 Diese geschichtlichen Er‐ eignisse und die verhängnisvolle Rolle der Zwölferkommission wurden bereits ana‐ lysiert. Robespierre wurde in diesen Tagen krank, erst am 26. Mai war er, „noch vom Fieber geschwächt“, wieder als Redner auf der Tribüne. „Kaum im Stande zu spre‐ chen, gibt er seinerseits eine Kriegserklärung ab: 'Ich lasse diese verbrecherischen Männer ihre verabscheuungswürdige Laufbahn vollenden. Mögen sie auf diese Tri‐ bünen kommen und die Brandfackel des Bürgerkrieges schwingen; mögen sie mit den Feinden des Vaterlandes korrespondieren; mögen sie ihre Laufbahn beenden, die Nation wird sie richten.' Das ist das Aufgeben jeder rein parlamentarischen Aktion. Abends ruft er im Jakobinerklub zu den Waffen: 'Wenn das Volk unterdrückt ist, wenn ihm nichts bleibt als seine eigene Kraft, verdiente der den Namen eines Feig‐ lings, der ihm nicht raten würde, sich zu erheben. (…) Der Augenblick dazu ist ge‐ kommen. (…) Ich rufe das Volk auf, sich gegen die korrupten Abgeordneten zu er‐ heben. (…) Ich selbst erkläre, dass ich mich im Aufstand befinde, im Aufstand ge‐ gen den Präsidenten und alle Mitglieder (der Gironde), die im Konvent tagen. (…) Wenn man eine sträfliche Verachtung gegen die Sansculotten an den Tag legt, erklä‐ re ich, dass ich mich im Aufstand gegen die korrupten Deputierten befinde. (…) Wenn der Verrat die Feinde Frankreichs ins Land ruft, dann erkläre ich, dass ich selbst die Verräter strafen werde, und ich gelobe, jeden Verschwörer als meinen Feind zu betrachten und ihn als solchen zu behandeln.' Die Notwendigkeit hat nur 25 Massin 1974, S. 237. 26 Massin 1974, S. 237.
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eine Sprache, und so hat jetzt auch Robespierre den Wortschatz Marats übernom‐ men. Er weiß, dass er seinen Kopf aufs Spiel setzt, aber er kennt auch das Gewicht seiner Worte, die bald in Paris verbreitet sind.“27 Diese Wortmeldungen Robespierres aus dem Mai 1793, zusammen mit der nun zu analysierenden großen Rede Über die repräsentative Regierung zeigen noch ein‐ mal deutlich, dass er in jenen Tagen tatsächlich sagte was er dachte und nicht etwa in einem groß angelegten Täuschungsmanöver28 die Sansculotten zu seinen Mario‐ netten machte.29 Der revolutionäre Mai zeigt den wahren Robespierre, bietet gleich‐ sam die Quintessenz seines Denkens der Wahrnehmung, Analyse und Interpretation dar. Robespierre begann seine Rede mit einer gehörigen Portion Pathos: „Der Mensch ist für das Glück und für die Freiheit geboren, und dennoch ist er überall ein Sklave und ein Unglücklicher! Die Gesellschaft hat die Erhaltung seiner Rechte und die Vervollkommnung seines Wesens zum Ziel; und dennoch entwürdigt und unter‐ drückt ihn die Gesellschaft allerorten! Es ist die Zeit gekommen, ihn an seine wirkli‐ che Bestimmung zu erinnern; die Entwicklung der menschlichen Vernunft hat diese große Revolution vorbereitet, und die Aufgabe sie zu beschleunigen, ist ganz beson‐ ders euch auferlegt worden.“ (408) Diese Sätze klingen für jeden, der sich mit der Philosophie der französischen Aufklärung etwas beschäftigt hat, mehr als nur vertraut. Denn die politische Philoso‐ phie Robespierres steht – wie bereits mehrfach anklang – überaus deutlich und sicht‐ bar im Zeichen Rousseaus.30 Damit ist nicht nur die auffällige Parallele zu den be‐ kannten ersten Sätzen des Contrat social gemeint: „Der Mensch wird frei geboren, und überall liegt er in Ketten. Mancher hält sich für den Herrn über seine Mitmen‐ schen und ist mehr Sklave als sie. Wie hat sich diese Umwandlung zugetragen? Ich weiß es nicht.“31 Denn bereits der zweite Satz Robespierres gemahnt an den kultur‐ 27 Massin 1974, S. 238f. 28 Aulards Position wurde bereits erwähnt: 1924, S. 227ff. 29 Alle Zitate im Folgenden, wenn nicht anders gekennzeichnet, unter Angabe der Seitenzahl nach der Ausgabe: Robespierre 1989, S. 408–434. 30 Es wurde schon die merkwürdige und merkwürdig schlechte, überaus schiefe (von Ausnah‐ men, um so wichtigeren abgesehen) Darstellung und Interpretation der Revolutionsgeschichte in Deutschland (bzw., weiter gefasst, im deutschsprachigen Raum) angesprochen, weitere Ver‐ weise werden folgen. Dem korrespondiert die zumeist völlige Verteufelung Robespierres, die so weit geht, dass man auch dessen – fast immer schlecht und falsch – „erklärten“ Rousseauis‐ mus gegen ihn ausspielt. Aus der Fülle der möglichen Beispiele sei hier nur eines herausgegrif‐ fen: Der Aufsatz Robespierre und Rousseau. Umrisse einer Vereinnahmung von Volker Rein‐ hardt (2018, S. 17–36), der ohne Kenntnis der Materie sich zu jenen pauschalen Vorurteilen be‐ kennt, die im Umlauf sind. Wer sich über Robespierres Rousseau-Lektüren informieren möch‐ te, sieht sich nach wie vor gezwungen, beide Autoren zu lesen. Abkürzen lässt sich der Weg nur durch die Werke der großen französischen Historiker (außerhalb der französischen Ge‐ schichtsschreibung gibt es natürlich die bereits angesprochenen Ausnahmen, aber sie lassen sich an einer Hand abzählen, zuvorderst: Markov, Grab, Kropotkin), die ihrerseits in den deut‐ schen „Facharbeiten“ kaum eine Rolle spielen. (Reinhardt bspw. nennt nicht eine davon!) 31 Rousseau 1978, S. 39.
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kritischen (manche sprechen auch – nicht mit den schlechtesten, aber auch nicht mit den besten Gründen – vom kulturpessimistischen) Rousseau, dessen Wirkung sich vom 2. Discours über die Nouvelle Héloïse bis hin zu den autobiographischen Schriften des Alters entfaltete.32 Es war, dies ist positiv zu vermerken, der „ganze Rousseau“, den Robespierre rezipierte. Denn Rousseaus Werk kann (muss?!) in der Tat als „Einheit“ aufgefasst werden.33 Gerade durch die, wegen der Widersprüche – die ihn „gleichermaßen zu einem Theoretiker der modernen Subjektivität wie zu einem scharfen Zivilisations- und Entfremdungskritiker, einem isolierten Melancho‐ liker wie einer Schlüsselfigur der Aufklärung, einem revolutionären Staatsrechtler wie einem konservativen Politiker werden ließen“.34 Robespierre suchte und fand den Zugang zu den Idealen des 18. Jahrhunderts – Vernunft, Vervollkommnung, Freiheit, Glück, Revolution, Rousseaus Allgemein‐ wohl und der Allgemeinwille usw. – über Rousseaus Schriften. Daher vermitteln sei‐ ne Ausführungen nicht den elitären Eindruck Condorcets – der seinerseits, es sei er‐ gänzt, längst nicht so snobistisch, elitär war wie Sieyès und andere. (Es ist, so gese‐ hen, sicherlich nicht überraschend, sondern vielmehr tief charakteristisch, dass Con‐ dorcet 1789 an seiner groß angelegten Lebensgeschichte Voltaires (Vie de Voltaire)35 – und eben nicht Rousseaus – saß und damit zur bürgerlichen Aufklärung, zur ge‐ bremsten, maximal halben Aufklärung von „oben“ arbeitete. In jener Zeit mehr als nur ein Bekenntnis.) Wenn man so will, dann sprach Robespierre nicht von Rousseau, sondern von Jean-Jacques. Eine im späten 18. Jahrhundert in Frankreich nicht unwesentliche Unterscheidung. Rousseau selbst hatte ihr die Spur gezogen: Mit seinem großen Dialog Rousseau juge de Jean-Jacques. Anders als Condorcet hat Robespierre keine eigene explizite und ausführliche Ge‐ schichtsphilosophie aufgestellt oder gar niedergeschrieben. Doch wo er in diesen Bahnen denkt, derartige Überlegungen also implizit, unausgesprochen voraussetzt, befindet er sich erneut im freundschaftlichen Einklang neben Rousseau: „Bislang bestand die Kunst zu regieren nur in der Kunst zu plündern und die Mehrheit zu Gunsten der Minderheit zu knechten; die Gesetzgebung war nur ein Mittel, diese Machenschaften in ein System zu bringen. Die Könige und die Aristokraten haben ihr Geschäft sehr gut verstanden: Es liegt nun an euch, das eure zu tun, das heißt, die
32 Siehe vor allem die noch immer relevanten Monographien von Jean Starobinski 1988 und 1993. 33 Hierzu: Heyer 2006; als erster Forscher wendete sich Gustave Lanson dem Thema zu: 1912 und 1924, S. 781ff.; außerdem mit interessanten Aspekten: Spaemann 1992, vor allem S. 17f. 34 Hidalgo 2018, S. 266. 35 Vie de Voltaire, 1789; deutsch: Leben Voltaires, 1791, diese Ausgabe mit einem umfangreichen Anhang, darunter: Autobiographische Nachrichten Voltaires, S. 283–402, Beylagen und Zusät‐ ze, S. 405–540.
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Menschen durch Gesetze glücklich und frei zu machen.“36 (408) In diesem Sinne er‐ gebe sich für die neue Verfassung und die durch diese gleichsam zu umrahmende zu‐ künftige Praxis folgende Aufgabe: „Der Regierung die notwendige Kraft zu verlei‐ hen, damit die Bürger immer die Bürgerrechte achten, und es so einzurichten, dass selbst die Regierung sie nicht verletzen kann, das ist nach meiner Meinung das dop‐ pelte Problem, das der Gesetzgeber zu lösen versuchen muss.“ (408f.) (Man verglei‐ che erneut Rousseau!) Bei Rousseau findet sich gleichsam eine Dreiteilung der Anthropologie: Dem gu‐ ten und edlen „homme naturel“ (vor dem Beginn des Depravierungsprozesses, wie ihn der 2. Discours schildert) steht der „bourgeois“ gegenüber. Und die Frage der Philosophie Rousseaus ist in letzter Konsequenz – im Contrat social ebenso wie in den Verfassungsentwürfen für Polen und Korsika oder im Émile (in den autobiogra‐ phischen Schriften stellte Rousseau diese Frage sich selbst bzw. durchleuchtete sein Leben nach Antworten und Handlungsmustern) – , wie der „bourgeois“ zum „citoy‐ en“ werden kann, um auf diese Weise wichtige Wesensbestimmungen des „homme naturel“ auf neuer und gleichsam höherer Ebene wieder herzustellen.37 Eine „umfas‐ sende Regeneration des Menschengeschlechtes“, die Volker Reinhardt38 als Denkfi‐ gur Robespierre unterschiebt, obwohl sie nach Rousseau unmöglich sei – sie muss gar nicht anvisiert werden. Es reicht die normative Vorgabe als Annäherungsziel (er‐ neut: Émile, die Praxis für/von Korsika und Polen, Confessions). Bei Robespierre klingt dies wie folgt: „Niemals kommen die Übel der Gesellschaft vom Volke, im‐ mer kommen sie von der Regierung. Wie könnte es anders sein? Das Interesse des Volkes ist das Allgemeinwohl; das Interesse des Menschen in hoher Stellung ist ein privates Interesse. Um gut zu sein, braucht das Volk nur sich selbst allen ihm frem‐ den Elementen vorzuziehen; um gut zu sein muss der Magistrat sich selbst dem Vol‐ ker opfern.“39 (410) 36 Weiter heißt es, einige Sätze später: „Im Lauf der Geschichte seht ihr überall Magistrate, die die Bürger unterdrücken, und Regierungen, die die Souveränität an sich gerissen haben. Die Tyrannen sprechen von Empörungen; wenn das Volk sich zu beklagen wagt, so beklagt es sich über die Tyrannei, was nur dann geschieht, wenn eine übermäßige Unterdrückung ihm seine Energie und seine Unabhängigkeit wiedergibt. Gott gebe, dass es seine Energie und seine Un‐ abhängigkeit immer bewahren könnte! Aber die Herrschaft des Volkes ist kurz befristet, die der Tyrannen dagegen dauert Jahrhunderte. Seit der Revolution vom 14. Juli 1789 habe ich oft von Anarchie reden hören, besonders auch seit der Revolution vom 10. August 1792; aber ich versichere, dass nicht die Anarchie, sondern Despotismus und Aristokratie die Krankheit des politischen Körpers ist. Ich finde, was man auch sagen und von dieser so sehr verleumdeten Epoche auch halten mag, dass wir mit Gesetzen und mit einer Regierung begonnen haben, trotz der Unruhen, die nichts anderes sind, als die letzten Zuckungen des sterbenden König‐ tums und der Kampf einer treulosen Regierung gegen die Gleichheit.“ (409f.) 37 Vgl. hierzu die Ausführungen in: Heyer 2006, wo diese Überlegungen präzisiert werden. 38 Reinhardt 2018, S. 34. 39 Weiter heißt es: „Wenn ich absurde und barbarische Vorurteile einer Antwort würdigen wollte, würde ich bemerken, dass Macht und Überfluss den Stolz und die Laster hervorbringen; dass Arbeit, Mittelmäßigkeit und Armut die Wächter der Tugend sind; dass die Wünsche der Schwachen nur die Gerechtigkeit und die Vervollkommnung nützlicher Gesetze zum Ziel ha‐
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Gut und Böse, die Rollen sind klar verteilt. „Ehrgeiz, Macht und Treulosigkeit“ (411) korrumpieren die Herrschenden. Die Geschichtsphilosophie Rousseaus setzt sich in ihr ureigenstes Recht ein. In Sätzen etwa wie: „Der Despotismus hat die Ver‐ derbtheit der Sitten hervorgebracht, und die Korruption der Sitten hat den Despotis‐ mus unterstützt.“ (411) Für die Verfassungsgebung, d. h. für die dauerhafte Organi‐ sation der Gesellschaft (der Gesellschaftsvertrag hier im kontraktualistischen Sinn auf den Naturzustand folgend und dem abgetrennten Staatsvertrag vorausgehend) hätten diese Überlegungen folgende Konsequenz: „Die Regierung ist eingesetzt worden, um dem allgemeinen Willen Achtung zu verschaffen; aber die Menschen, die die Regierung führen, haben einen individuellen Willen, und jeder Wille ist be‐ strebt, das Übergewicht zu erlangen. Wenn sie zu diesem Zweck die öffentliche Macht gebrauchen, mit der sie ausgestattet sind, dann ist die Regierung nur eine Geißel der Freiheit. Wir müssen daraus schließen, dass das erste Ziel einer jeden Verfassung darin bestehen muss, die öffentliche und die individuelle Freiheit gegen die Regierung selbst zu verteidigen.“ (411) Diese Überlegung hätten die Gesetzgeber vergessen. Und es wird nur allzu klar, dass Robespierre nicht nur von der Dynastie der Ludwige sprach, sondern auch von den Girondisten, wenn er als wesentliches Merkmal der bisherigen Regierungen her‐ ausstrich: „Sie haben unendliche Vorkehrungen gegen die Revolte des Volkes getrof‐ fen und mit ihrer ganzen Macht die Revolte seiner Vertreter ermutigt.“ (411) Tref‐ fender kann der tiefe Sturz der Girondisten kaum beschrieben werden. Vor allem aber waren die gerade wiedergegebenen Anmerkungen eines: Die nachträgliche (bzw. der Geschichte gut drei Wochen emanzipativ-vorgreifende) Legitimation aller Revolutionen des Volkes, des 10. August ebenso wie des 31. Mai/2. Juni. Sie waren die Anerkennung der Sansculotten und ihrer Aktivitäten, der Pariser Sektionen und der Kommune (inklusive ihrer teilweisen Parallel-Staatlichkeit samt Exekutivgewalt und spontaner Legislative), der Machtdemonstrationen des armen Volkes, das end‐ lich an den Vorteilen der Revolution partizipieren sollte, da es sie gemacht hatte. Aufgabe der Regierung sei es, die Menschen zu bilden, ein echtes Volk zu schaffen. Denn im Despotismus habe man „Könige, Priester, Adlige, Bürger und Pöbel, aber kein Volk und keine Menschen“. (412) Bei dieser Herausforderung, daran ist nach Robespierre kein Zweifel möglich, hätten die Gesetzgeber in Vergangenheit und Ge‐ genwart, unter ihnen auch die Girondisten, versagt. Die bisherigen Gesetzgeber „haben hochtrabend die Souveränität des Volkes pro‐ klamiert und haben es dann in Ketten gelegt; sie haben zwar anerkannt, dass die Ma‐ gistrate die Beauftragten des Volkes sind, aber sie haben diese Magistrate als die Be‐ ben und dass er nur die Leidenschaft der Tugendhaftigkeit schätzt; dass die Leidenschaften des mächtigen Mannes dahin streben, sich über die gerechten Gesetze zu erheben oder tyrannische Gesetze zu schaffen; ich würde schließlich behaupten, dass das Elend der Bürger nichts ande‐ res ist als das Verbrechen der Regierungen.“ (410)
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herrscher des Volkes und als ihre Idole behandelt. Sie stimmen alle darin überein, das Volk als unvernünftig und aufrührerisch zu betrachten und die öffentlichen Be‐ amten vornehmlich als weise und tugendhaft anzusehen. Wir brauchen nicht einmal bei fremden Völkern nach Beispielen zu suchen, wir finden mitten in unserer Revo‐ lution und im Verhalten der Gesetzgeber, die uns vorausgegangen sind, sehr treffen‐ de Beispiele. Seht euch an, mit welcher Niederträchtigkeit sie das Königtum verehrt haben! Mit welcher Unverschämtheit sie blindes Vertrauen für die korrumpierten öf‐ fentlichen Beamten predigten! Mit welcher Unverfrorenheit sie das Volk knechteten und mit welcher Grausamkeit sie es mordeten!“ (412f.) Die Girondisten wurden von Robespierre in eine Linie mit den französischen Monarchen gestellt. Denn es sei ih‐ nen nie um die Ideale der Revolution, sondern immer nur um persönliche Bereiche‐ rung und Machtakkumulation gegangen. Die Aristokratie des Geldes habe die des Blutes ersetzt. Die „großzügigen Opfer der Armen“ in der Revolution würden den „Geiz der Reichen“ beschämen (413) – und eben deshalb müsse die Revolution end‐ lich eine Revolution nicht nur der Armen, sondern für die Armen werden. Vom Volk – für das Volk. Die Grundlegung seiner politischen Philosophie begann Robespierre mit einer ge‐ waltigen Anklage gegen den Kapitalismus, gegen das Besitzbürgertum, gegen die Girondisten. Die Passage ist hier wiederzugeben – als in seinem ganzen Realismus so überaus poetisches Bild der Gedanken Robespierres: „Verachten und verachtet werden; kriechen, um zu herrschen; bald Sklave und bald Tyrann sein; bald vor einem Herrn auf den Knien liegen und bald das Volk mit Füßen treten; das war unser Schicksal, das war unser Ehrgeiz, sobald wir wohlgeborene oder gesellschaftlich hochgestellte Männer waren, Ehrenmänner, Männer des Gesetzes und der Finanzen, Gerichtsherren oder Ritter. Muss man sich da wundern, wenn so viele einfältige Kaufleute und egoistische Bürger für die Handwerker noch immer eine so unver‐ schämte Verachtung bewahrt haben, wie sie die Adligen ihrerseits den Bürgern und den Kaufleuten zeigten. O dieser edle Stolz! O diese schöne Erziehung! Ihretwegen sind die großen Schicksalsströme der Welt aufgehalten worden! Ihretwegen ist der Schoß des Vaterlandes von Verrätern zerrissen worden! Ihretwegen haben die grau‐ samen Anhänger der europäischen Despoten unsere Ernten verwüstet, unsere Städte angezündet und unsere Frauen und Kinder gemordet!“ (413) Und weiter: „Das Blut von 300.000 Franzosen ist geflossen; das Blut von 300.000 weiteren wird vielleicht noch fließen, bevor der einfache Arbeiter neben dem reichen Getreidekaufmann im Senat sitzen darf; bevor der Handwerker in der Nationalversammlung neben dem großen Händler oder dem anmaßenden Advokaten abstimmen darf und bevor der intelligente und tugendhafte Arme in Gegenwart des einfältigen und korrumpierten Reichen die Haltung eines Menschen bewahren darf. Unvernünftig, wer nach Herren ruft, um nicht seinesgleichen zu haben; glaubt ihr et‐ wa, dass die Tyrannen sich nach den Berechnungen eurer traurigen Eitelkeit und eu‐
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rer schnöden Habsucht richten werden? Glaubt ihr, das Volk, das die Freiheit erwor‐ ben und sein Blut für das Vaterland vergossen hat, während ihr im Überfluss schlie‐ fet oder in der Dunkelheit konspiriertet, ließe sich von euch in Ketten legen, aushun‐ gern und erwürgen? Nein.“ (414f.) Es stecken auch Verzweiflung und Trauer in die‐ sen Sätzen. Sie sind der Appell eines Menschen an andere, für andere Menschen. Getragen von einem tiefen Humanismus, der dem egoistischen Kapitalismus der Gi‐ rondisten kaum fremder sein kann. In der bürgerlich-konservativen Forschungsliteratur, die bereits mehrfach genutzt wurde und uns weiterhin wertvolle Hinweise geben wird (vor allem Aulard), ist oft betont worden, dass die Jakobinerverfassung von 1793 nicht allzu eigenständig sei, sondern vor allem aus dem Verfassungsentwurf von Condorcet hervorgegangen wä‐ re. Es muss jetzt und hier gar nicht entschieden werden, ob dies tatsächlich so war. Denn es ist nur allzu offensichtlich, dass Robespierre für die Jakobiner und die Sans‐ culotten und in ihrem Namen mit diesen Worten den tiefen Graben zur Gironde be‐ tonte. Woher die einzelne Idee auch immer kommen mag, verstanden wurde sie von den Revolutionären als Bruch mit der bisherigen girondistischen Herrschaftspraxis ebenso wie der entsprechenden Gedankenwelt, kurz: mit der Klassenpolitik. Und das ist es, worauf es entscheidend ankommt. Anschließend wiederholte Robespierre die „ewig gültige Grundlage der Wahr‐ heit! Stellt zuerst den unbestreitbaren Grundsatz auf: Dass das Volk gut ist und dass seine Abgeordneten für die Korruption anfällig sind; dass man in der Tugend und in der Souveränität des Volkes einen Schutz gegen die Laster und den Despotismus der Regierung suchen muss.“ (415) Die Regierung könne nur dann korrumpiert werden, wenn es ihr gelinge, sich von dem Souverän unabhängig zu machen. Von daher wäre das Volk als Ganzes als politischer Faktor im politischen System unbedingt von emi‐ nenter Bedeutung. Auf dieser Basis wendete sich Robespierre dann in der aktuellen Verfassungsdebatte gegen ein Gleichgewicht der Kräfte und gegen ein Tribunat. Das Gleichgewicht der Kräfte, dem, wie gesehen, auch Condorcet kritisch gegenüber stand, bezeichnete Robespierre als „Illusion“. (416) Und er versuchte, es – grundle‐ gender, bereits in den Strukturen verankert – zu verhindern.40 Was ihm den Vorwurf 40 „Aber wenn man nur ein wenig darüber nachdenkt, wird man leicht bemerken, dass dieses Gleichgewicht nur ein Hirngespinst oder eine Geißel sein kann, und dass es eine völlige Nich‐ tigkeit der Regierung voraussetzt, wenn es nicht notwendigerweise auf eine Liga von Kräften heraus läuft, die gegen das Volk rivalisieren; denn man wird leicht einsehen, dass die drei Kräf‐ te sich viel lieber einigen werden, als den Souverän anzurufen, um ihn in eigener Sache urtei‐ len zu lassen. Zeuge dafür ist England, wo das Gold und die Macht des Monarchen die Waag‐ schale ständig auf ein und dieselbe Seite niederdrückt; wo selbst die Oppositionspartei von Zeit zu Zeit die Reform der nationalen Repräsentation nur zu fordern scheint, um sie im Ein‐ vernehmen mit der Mehrheit, gegen die sie anscheinend kämpft, fallen zu lassen (…). Aber was kümmern uns die Kombinationen, die die Autorität der Tyrannen ausbalancieren? Es geht darum, die Tyrannei auszulöschen; nicht im Streit ihrer Herren sollen die Völker das Vorrecht zu gewinnen suchen, für einige Zeit frei leben zu dürfen; sie sollten die Garantie für ihre Rech‐ te in ihre eigene Macht legen.“ (417)
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einbrachte, undemokratischer als Condorcet zu sein.41 Gegen ein Tribunat wendete er sich mit ähnlichen Argumenten. Die Geschichte zeige alle Fehler und es sei wich‐ tiger, dass das Volk herrsche: „Ich kann nur einen einzigen Volkstribunen anerken‐ nen, nämlich das Volk selbst; ich übertrage die Tribunatsmacht jeder einzelnen Sek‐ tion der französischen Republik; und es ist leicht, diese Macht so zu organisieren, dass sie von den Stürmen der absoluten Demokratie ebenso weit entfernt ist wie von der trügerischen Ruhe des repräsentativen Despotismus.“ (418) Die tagesaktuelle Dimension dieser Aussagen ist darin zu sehen, dass Robespierre so noch einmal den Anarchismus-Vorwurf zurückgewiesen hatte, der den Jakobinern und der Kommune immer wieder von den Girondisten (von eben jenen Girondisten, die den Bürgerkrieg anzettelten) in verleumderischer Absicht entgegengeschleudert wurde. Weiter machte Robespierre geltend, dass durch die Verfassung Maßnahmen zu treffen seien, um die Korruptionsfähigkeit der Macht, die jeden zumindest poten‐ ziell bedrohe, der ein öffentliches Amt annehme, zu verringern und zu verhindern. Robespierre stellte folgende konkrete Vorschläge zur Diskussion: •
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Je größer die Autorität und Macht eines Amtes sei, desto kürzer müsse die Dauer der Ausübung ausfallen. Überhaupt soll die Dauer jedes Mandats kurz gehalten werden. Niemand dürfe mehrere Ämter gleichzeitig ausüben. Die Machtausübung müsse möglichst geteilt werden, beispielsweise sei die Zahl der öffentlichen Beamten zu erhöhen, um auf diese Weise die Zusam‐ menballung der Macht in einer kleinen Personengruppe zu vermeiden. Legislative und Exekutive müssten sorgsam getrennt werden. Die Exekutive sei zusätzlich aufzusplitten, und zwar so, dass die Aufgaben getrennt und unterschiedlichen Personen anvertraut würden. (418f.) An anderer Stelle ergänzte Robespierre dann, dass die „moralische Verant‐ wortlichkeit“ (dazu später mehr) es erfordere, „dass die Beamten der Regie‐ rung in bestimmten und möglichst kurzen Zeitabständen genau und ausführ‐ lich Rechenschaft über ihre Tätigkeit ablegen; diese Berichte sollen durch den Druck veröffentlicht und den Bürgern zur Zensur vorgelegt werden“. (426)
Diese Vorschläge liegen exakt auf der Linie, die bereits Robespierres Engagement in der ersten Verfassungsgebenden Versammlung fixierte. Denn als diese auseinander‐ ging, war er es, der dafür sorgte und den entsprechenden Antrag ins Parlament ein‐ brachte, dass alle Abgeordneten für die Wahl zur folgenden Gesetzgebenden Ver‐
41 Bspw.: Aulard 1924, S. 240ff.
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sammlung nicht zugelassen werden, sondern eine Wahlperiode pausieren sollten. Der Vorschlag wurde von der Versammlung mit großer Mehrheit angenommen.42 Der formal-strukturellen Trennung von Exekutive und Legislative sowie der Aus‐ differenzierung der Exekutive maß Robespierre große Bedeutung bei. Es sei ein Fehler aller bisherigen Organisation, dass man die verschiedenen Ministerien nicht als Spezialministerien geführt habe. So habe gerade in der Revolution das Ministeri‐ um des Innern dazu geneigt, seine Macht zu missbrauchen.43 Trotz all dieser Vor‐ sichtsmaßnahmen werde man „niemals verhindern können, dass die Beauftragten der Exekutivgewalt sehr einflussreiche Magistrate sind“. (420) Von daher komme es darauf an, ihre Aufgaben strikt und eng festzulegen sowie weitere Maßregeln zu ihrer vorsorglichen Bändigung bzw. permanenten und nachträglichen Kontrolle zu erlassen. Dazu zählte Robespierre: Den Vertretern der Exekutive sei jede Autorität und jeder Einfluss zu nehmen, der nicht direkt mit dem jeweiligen Amt zusammen‐ hänge; während ihrer Amtsausübung dürften die Vertreter der Exekutive nicht an Volksversammlungen teilnehmen und abstimmen; der Staatsschatz müsse ihrer Ver‐ fügung entzogen werden. Vor allem aber komme es darauf an, der Zentral-Exekutive nur Aufgaben zuzuweisen, die nicht von den Departements, den Gemeinden oder dem Volk selber bewältigt werden könnten, d. h. im Prinzip, dass die Zentral- (oder National-)Exekutive nur für jene Fragen zuständig sei, die direkt mit der Zentralisa‐ tion zusammenhängen. (420) Analoges gilt für alle anderen politischen Ebenen. Mit den Worten Robespierres: Es müsse jener Grundsatz zur Anwendung kommen, der auf seinen Vorschlag hin in der Erklärung der Rechte festgelegt wurde: „Das Gesetz kann nur das verbieten, was der Gesellschaft schadet; es kann nur das anordnen, was der Gesellschaft nützlich ist.“ (421) Es sind in diesen Aussagen Versatzstücke direkt-demokratischen Denkens zu er‐ kennen, die in Robespierres Philosophie deshalb einen eigenen und bestimmten Platz haben, da dieser seit den ersten Tagen der Revolution als Sprecher und Ver‐ trauter des armen Volkes galt. (Entsprechende Zitate wurden bereits gebracht.) Es war sicherlich das Beispiel der Sansculotten, der Pariser Kommune, der verschiede‐ nen Sektionen, die, nicht zuletzt auch unter der Führung Robespierres, in den Kri‐ senzeiten der Revolution immer wieder Verantwortung übernommen und diese ge‐ rettet und weiter nach vorn getrieben hatten. Robespierre hatte so mehrfach gesehen und erfahren, dass er dem politisch aktiven Teil des Volkes vertrauen konnte (und dass dieser ihm vertraute, Änderungen zutraute). Daraus schließlich resultierte sein Vorschlag: „Vermeidet das alte Streben der Regierungen, zu sehr regieren zu wollen; 42 Siehe die Darstellung bei: Girtanner 1795, 6, S. 2–4. 43 „Vor allem ist das Ministerium des Innern in der Form, wie man es bislang provisorisch beibe‐ halten hat, ein politisches Ungeheuer, das die entstehende Republik verschlungen hätte, wenn die Kraft des öffentlichen Bewusstseins, ermuntert durch die Bewegung der Revolution, sie bislang nicht sowohl gegen die Mängel der Institution als auch gegen die Laster der Einzel‐ menschen verteidigt hatte.“ (419f.)
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überlasst den Einzelnen und den Familien das Recht, alles zu tun, was den anderen nicht schadet; lasst den Gemeinden die Macht, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln, soweit sie nicht hauptsächlich die allgemeine Verwaltung der Republik angehen. Mit einem Wort, gebt der individuellen Freiheit alles, was nicht in natürli‐ cher Weise zu der öffentlichen Autorität gehört, und damit werdet ihr dem Ehrgeiz und der Willkür möglichst wenig Anhaltspunkte gelassen haben. Respektiert vor al‐ lem die Freiheit des Souveräns in den Primärversammlungen.“ (421) Auch den ta‐ gesaktuellen Herausforderungen wurden diese Ausführungen Robespierres gerecht, sie beruhigten die Departements inmitten der Wochen des letzten und großen Kamp‐ fes zwischen Girondisten und Jakobinern. Aber eben, das ist entscheidend, nicht als Opportunismus, wie uns die konservative Geschichtsschreibung gebetsmühlenartig versichert, sondern weil das Denken in Kompromissen und in diesem ganz speziel‐ len Fall auch der Inhalt des Kompromisses als ebenso fester wie unverzichtbarer Teil des politischen Denkens Robespierres begriffen werden müssen. Wichtig sei es, die „öffentlichen Beamten“ durch die Verfassung für ihr Handeln verantwortlich zu machen. „Die Verfassung muss vor allem dazu verwendet werden, die öffentlichen Beamten einer großen Verantwortlichkeit zu unterwerfen, indem sie in ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis gestellt werden, nicht zu Einzelmen‐ schen, sondern zum Souverän selbst. Wer von den Menschen unabhängig ist, wird sich auch bald von seinem Pflichten lösen: Die Straflosigkeit ist die Mutter und die Hüterin des Verbrechens, und das Volk wird immer versklavt werden, sobald es nicht mehr gefürchtet wird.“ (422) Dadurch sollte verhindert werden, dass sich die Amts- und Mandatsträger vom Volk unabhängig machen. Robespierre unterschied zwei Arten von Verantwortlichkeit: a) Die moralische und b) die physische. Die moralische Verantwortlichkeit im Sinne Robespierres ist identisch mit einer Anerkennung der Öffentlichkeit und ihrer Organe, d. h. der Presse usw., als – im heutigen Sprachgebrauch – vierte Gewalt. Wenn die Rousseausche Herkunft des Denkens Robespierres berücksichtigt wird, dann ist klar, dass in seinem System nicht von der „vierten“, sondern der „ersten“ Gewalt zu sprechen ist. Seine diesbe‐ züglichen Ausführungen in der Rede hatte er bereits kurz zuvor vorbereitet. Mit Blick auf die Repräsentation des Volkes in Versammlungen oder öffentlichen Äm‐ tern gemahnte Robespierre, dass das Volk eine letztinstanzliche Kontrollfunktion ha‐ be und ausüben müsse. „Verliert niemals aus den Augen, dass es der öffentlichen Meinung zusteht, die regierenden Männer zu überwachen, und dass es nicht diesen regierenden Männern zukommt, die öffentliche Meinung zu beherrschen und zu be‐ einflussen.“ (420f.) Wenn man so will, dann war diese öffentliche Meinung in der Geschichte der Re‐ volution immer der Gegner der Girondisten gewesen, trotz der Mehrheiten und Wahlerfolge, die diese größtenteils bis in die ersten Monate der Gesetzgebenden Versammlung hinein verzeichnen konnten. Die öffentliche Meinung, auch als Ge‐
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rücht, als panische Reaktion, hatte die Volksmassen zu ihren verschiedenen, den Stand und die Errungenschaften der Revolution mehrfach rettenden und fortführen‐ den Aktionen mobilisiert. Das Volk war in diesem Sinne der große Kontrolleur des Politischen. Eine Beobachtung der Gegenwart, die Robespierre zum Maßstab der Zukunft machte: „Die ganze Nation hat das Recht, das Verhalten ihrer Beauftragten zu kennen. Wenn es möglich wäre, müsste die Versammlung der Abgeordneten des Volkes in Gegenwart des gesamten Volkes ihre Beratungen abhalten. Ein großes und majestätisches Gebäude, das 12.000 Zuschauer fasst, sollte der Sitzungsraum der le‐ gislativen Körperschaft sein. Unter den Augen einer so großen Zahl von Zeugen würden weder Korruption noch Intrige noch Verrat sich zu zeigen wagen: Nur der allgemeine Wille würde zu Rate gezogen, und nur die Stimme der Vernunft und des allgemeinen Interesses würde gehört.“ (423) Es ist das im Jahrhundert der Aufklärung so oft beschworene Ideal der antiken Republik, das hier – als öffentliche Bürgerdemokratie aller – so weitgehend wie möglich (und tatsächlich realistisch praktikabel) erneuert wird. Täglich sollen 12.000 Bürger den Versammlungen der Legislative beiwohnen. Kein Theaterstück wird aufgeführt, es gilt, das permanente Ringen um das allgemeine Wohl zu beob‐ achten. Im Verlauf der Revolution, so Robespierre weiter, habe man „in einigen Ta‐ gen einen herrlichen Opernsaal bauen lassen, aber zur Schande der menschlichen Vernunft sind vier Jahre vergangen, bevor man ein neues Haus für die nationale Re‐ präsentation erstellt hatte! Was sage ich? Ist dieses Haus, in das sie nun eingezogen ist, für die Öffentlichkeit etwa günstiger und für die Nation würdiger? Nein.“44 (424f.) Es war – gerade zu Zeiten der Herrschaft der Gironde – keine Selbstver‐ ständlichkeit, auch nur einigen wenigen Bürgern das Recht zuzusprechen, den Ver‐ sammlungen und Tagungen beizuwohnen. Robespierre bezeichnete das Verhalten der Girondisten in dieser Hinsicht als Vollbringung eines „Wunders“: „Man hat end‐ lich das so lange gesuchte Geheimnis gefunden, die Öffentlichkeit auszuschließen, indem man sie zulässt; es so einzurichten, dass man sie bei den Sitzungen anwesend sein lässt, aber dass sie nichts hören kann außer in jenem kleinen Abschnitt, der für die 'ehrenwerten Leute' und für die Journalisten reserviert bleibt, so dass die Öffent‐ lichkeit also zugleich anwesend und abwesend ist.“ (425) 44 Zuvor hatte er gesagt: „Oberflächliche Menschen werden niemals erraten, welchen Einfluss der Ort, an dem die legislative Körperschaft getagt hat, auf die Revolution genommen hat, und böswillige Menschen werden diesen Einfluss auch nicht zugeben; aber die aufgeklärten Freun‐ de des öffentlichen Wohls haben nicht ohne Empörung gesehen, wie die erste Legislatur, nach‐ dem sie die Blicke der Öffentlichkeit auf sich gelenkt hatte, um dem Hof zu widerstehen, sich ihr dann wieder desto mehr entzog, je mehr sie ihre Macht vergrößerte, weil sie sich mit dem Hof gegen das Volk verbinden wollte; sie haben nicht ohne Empörung gesehen, wie die erste Legislatur sich sozusagen im Erzbischofspalais versteckte, als sie das Standrecht einführte, um sich dann in die Manege (die Tuilerien, AH) einzuschließen und sich mit Bajonetten zu umge‐ ben, um die Niedermetzelung der besten Bürger auf dem Marsfeld zu befehlen, den verräteri‐ schen Ludwig zu retten und die Grundfesten der Freiheit zu untergraben! Ihre Nachfolger ha‐ ben sich wohl gehütet, diese Manege zu verlassen.“ (424)
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Die Gesetzgebung sei von der Nation gewählt, und eben deshalb müsse die Ver‐ fassung der Nation das Recht des Zuhörens mit allen Mitteln gewährleisten.45 Dieser moralischen Überwachung (und damit auch der appellativen Teilnahme und Kon‐ trolle) stellte Robespierre die „physische Verantwortlichkeit“ zur Seite. Sie sei „die sicherste Hüterin der Freiheit: Sie besteht in der Bestrafung der öffentlichen Beam‐ ten, sofern sie eines Amtsvergehens schuldig geworden sind.“ (426) Man dürfe den Beamten die Verantwortung nicht erlassen, da sie Beauftragte des Volkes seien und diesem Rechenschaft schulden würden. Private und amtliche Verbrechen könnten und dürften im Sinne der Gerechtigkeit nicht unterschieden werden.46 Wer das Ge‐ setz mache oder verwalte sei nicht berechtigt, daraus das Recht abzuleiten, über dem oder außerhalb des Gesetzes zu stehen. „In jedem freien Staat müssen die politischen Verbrechen der Beamten ebenso streng und ebenso mühelos bestraft werden können wie die privaten Verbrechen der Bürger; und die Macht, üblen Machenschaften der Regierung zu wehren, muss an den Souverän zurückgegeben werden. Ich weiß, dass das Volk nicht immer ein aufmerksamer Richter sein kann; ich will das auch gar nicht; aber ich will noch weniger, dass seine Abgeordneten zu Despoten werden, die über dem Gesetz stehen.“ (427) Robespierre schlug zwei Maßnahmen vor, die in der Verfassung verankert werden sollten. Alle Beamten, die durch Wahl ihre Ämter erlangten, müssten auch von de‐ nen, die sie gewählt hätten, abberufen werden können. Und zweitens müsse die Le‐ gislative das Recht bekommen, die Exekutive zu überwachen bzw. diese müsse der „legislativen Körperschaft über ihre Handlungen Rechenschaft ablegen“. (428) Die Legislative dürfe jedoch keine Strafen aussprechen, sondern müsse die von ihr er‐ kannten Vergehen und Verbrechen vor ein zu errichtendes Volkstribunal bringen. Die Mitglieder der Legislative können ebenfalls vor diesem Tribunal angeklagt werden, allerdings „nicht wegen der Meinungen, die sie in der Versammlung geäußert ha‐ ben“, sondern nur wegen „erwiesener Fälle von Korruption oder Verrat“. (428) Die „Unverletzlichkeit der Abgeordneten“ bleibt also durchaus in unserem modernen
45 „Ich glaube meinerseits, dass die Verfassung sich nicht darauf beschränken darf anzuordnen, dass die Sitzungen der legislativen Körperschaft und der verfassungsgebenden Autorität öf‐ fentlich stattfinden, sondern dass sie es auch nicht verschmähen darf, sich damit zu beschäfti‐ gen, wie sie einer möglichst großen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können; dass sie den Beauftragten verbieten muss, in irgendeiner Weise auf die Zusammensetzung der Zu‐ hörerschaft Einfluss zu nehmen und willkürlich die Plätze zu verringern, die das Volk aufneh‐ men sollen. Sie hat zu beachten, dass die Legislatur inmitten einer riesigen Zuhörerschaft resi‐ diert und unter den Augen der größtmöglichen Anzahl von Bürgern berät.“ (425) 46 „Ein Volk, dessen Beauftragte niemandem eine Rechenschaft über ihre Handlungsweise schul‐ den, hat keine Verfassung; ein Volk, dessen Beauftragte nur den anderen unverletzbaren Beauf‐ tragten Rechenschaft ablegen, hat keine Verfassung, denn diese sind damit in die Lage versetzt, das Volk ungestraft zu verraten und durch die anderen verraten zu lassen. Wenn das der Sinn ist, den man mit der repräsentativen Regierung verbindet, dann muss ich eingestehen, dass ich alle Verwünschungen übernehme, die Jean-Jacques Rousseau gegen eine solche Regierung ausgesprochen hat.“ (426)
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Sinn erhalten, da ja auch heute deren Straftaten, wenn auch unter Schwierigkeiten, verfolgt werden können. Das eigentlich dynamische politische Element ist in der Abberufbarkeit, also im imperativen Mandat zu sehen. Ein Instrument, dem eine ge‐ wisse Sinnhaftigkeit nicht abgestritten werden kann. Ergänzt werden diese Maßnahmen durch eine Rechenschaftspflicht gegenüber dem gesamten Volk. Die Mitglieder der Legislative und der Exekutive sowie die Mi‐ nister werden nach ihrer Amtsperiode „dem feierlichen Urteil ihrer Wähler überge‐ ben“. (428) Das Volk soll dann äußern, ob die Beamten und Amtsinhaber noch sein Vertrauen besitzen oder nicht. Ist das Letztere der Fall, dann sind die entsprechenden Personen für alle politischen Mandate nicht mehr wählbar. Dies ist die einzige Stra‐ fe, die das Volk verhängen kann, es ist erneut eine durchaus moralische Kontrolle. Alle anderen Verbrechen – im Sinne von justiziablen Straftaten – werden durch die Tribunale festgestellt und dort gerichtet. Unabhängig davon, wie – unter den Bedin‐ gungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts – ein solches Vorgehen genau organisiert werden könnte, ist dies ein hochinteressanter Vorschlag. Zusammen mit der Idee der gigantischen Zuschauertribüne von 12.000 Besuchern gelang es Robespierre, im Rahmen eines repräsentativen Systems der Nation trotzdem das Gefühl (dem die Realität korrespondieren sollte) der Souveränität zu lassen. Ein weiteres Element der politischen Philosophie Robespierres ist darin zu sehen, dass er die sozial-ökonomischen Grundlagen der Demokratie anerkannte und beton‐ te. In dem Entwurf Condorcets ebenso wie in der girondistischen Praxis werde alles getan, um das Volk daran zu hindern, seine Souveränität auszuüben. „Zur gleichen Zeit legt man dem Souverän dagegen durch tyrannische Anordnungen Ketten an; überall flößt man dem Volk Abscheu gegen Versammlungen ein: Man hält die Sans‐ culotten durch endlose Formalitäten von solchen Versammlungen fern. Was sage ich? Man vertreibt sie durch den Hunger; denn man denkt nicht einmal daran, sie für die Zeit zu entschädigen, die sie dem Erwerb des Lebensunterhaltes für ihre Famili‐ en rauben, um sie den öffentlichen Angelegenheiten zu widmen.“ (429f.) In der Tat hatte der Entwurf von Condorcet, hier zielte Robespierres Kritik überaus treffsicher, endlose und völlig überregulierte, starre Systeme aufgestellt, Formalien, die zu be‐ rücksichtigen seien, bis sich endlich mehrere Bürger in ihren Urversammlungen (und nur dort) treffen und – nach Condorcet längst nicht über alle Themen, sondern ausschließlich über die von „oben“ festgesetzten – diskutieren können. Die Berücksichtigung seiner Überlegung, so Robespierre weiter, sei zentral für die Erhaltung der Freiheit, die die Verfassung zu garantieren habe. Wenn die Demo‐ kratie nicht materiell fundiert werde, dann drohen „Scharlatanismus, Intrige und Despotismus. Richtet es also so ein, dass das Volk an den öffentlichen Versammlun‐ gen teilnehmen kann, denn das Volk allein ist die Stütze der Freiheit und der Gerech‐ tigkeit: die Aristokraten und die Intriganten sind ihre Geißel. Was nützt es schon, dass das Gesetz der Rechtsgleichheit heuchlerisch huldigt, wenn das mächtigste aller
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Gesetze, die Not, den gesündesten und größten Teil des Volkes zwingt, darauf zu verzichten! Das Vaterland hat den Mann, der von seiner Arbeit lebt, zu entschädigen, wenn er den öffentlichen Versammlungen beiwohnt; aus demselben Grunde sollte es alle öffentlichen Beamten in angemessener Weise besolden; die Regeln der Wahlen und die Form der Beratungen sollten so einfach und so kurz wie möglich sein; die Versammlungstage sollten auf eine Zeit festgelegt werden, die für den arbeitenden Teil der Nation am bequemsten ist. Man sollte laut und vernehmlich beraten; die Öf‐ fentlichkeit ist die Stütze der Tugend, die Hüterin der Wahrheit, der Schrecken des Verbrechens und die Geißel der Intrige.“ (430f.) Auch in diesen Anmerkungen schimmert das Ideal der antiken Demokratie durch, so weit es umsetzbar war, bei‐ spielsweise in der Form von Sitzungsgeldern für die Teilnahme an politischen Ver‐ sammlungen. Es war direkt gegen Condorcets Vorschläge gerichtet, wenn Robespierre forderte, dass das Volk in seinen Versammlungen „vollkommen frei“ sein müsse.47 Als per‐ manente Stütze und Garantie der Revolution, habe es seinen Patriotismus und sein Verantwortungsbewusstsein gezeigt. Im Kontext dieser Anmerkungen entwickelte Robespierre dann seine abschließende Überlegung. Es wurde gezeigt, dass er von einem tiefen, an Rousseau geschulten Misstrauen gegenüber den bestehenden Regie‐ rungen ausgegangen war und diesen das Volk als eigentliche Macht, als Nation, als Träger der Souveränität, der Tugend und Vernunft gegenüber gestellt hatte. Beide Pole, Volk und delegierte Autorität, müssten durch die neue Verfassung in Einklang gebracht werden, mit den Worten Robespierres: „Wenn das Gesetz das öffentliche Interesse zur Grundlage hat, dann hat es auch das Volk selbst zu seiner Stütze, und seine Macht ist die Macht aller Bürger, deren Werk und Eigentum es ist. Der allge‐ meine Wille und die öffentliche Macht haben einen gemeinsamen Ursprung. Die öf‐ fentliche Macht ist für den politischen Körper, was für den menschlichen Körper die Arme sind, die spontan ausführen, was der Wille befiehlt, und die jeden Gegenstand zurück stoßen, der das Herz oder den Kopf bedrohen könnte. Wenn die öffentliche Macht den allgemeinen Willen unterstützt, dann ist der Staat frei und friedfertig; wenn sie dem allgemeinen Willen entgegensteht, dann ist der Staat geknechtet und von Unruhe erfüllt.“ 433)
47 „Überlasst die Heimlichkeiten und die geheimen Wahlen den Verbrechern und den Sklaven; die freien Männer wollen das Volk zum Zeugen ihrer Gedanken haben. Eine solche Methode fördert die Bürger und entwickelt ihre republikanischen Tugenden. Sie ist einem Volke ange‐ messen, das seine Freiheit erworben hat und das für ihre Verteidigung kämpft. Wenn dieses System dem Volk nicht mehr angemessen ist, gibt es auch keine Republik mehr. Im Übrigen wiederhole ich, dass das Volk in seinen Versammlungen vollkommen frei sein muss; die Ver‐ fassung kann nur allgemeine Regeln aufstellen, die notwendig sind, um die Intrige zu bannen und die Freiheit selbst zu bewahren; jedes andere Hindernis ist ein Anschlag auf die Souverä‐ nität des Volkes. Vor allem keine konstituierte Autorität darf sich jemals in die Ordnung oder in die Beratungen des Volkes einmischen.“ (431)
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Oder, ganz banal formuliert – mit dem abschließenden Satz aus Robespierres Re‐ de: „Gesetzgeber, schafft gerechte Gesetze; Magistrate, lasst diese Gesetze genaues‐ tens ausführen; darin besteht eure ganze Politik, und ihr werdet der Welt ein bislang unbekanntes Schauspiel bieten, das Schauspiel eines großen freien und tugendhaften Volkes.“ (434) Im Dezember 1793, die Verfassung war mittlerweile verabschiedet und ausgesetzt (dazu später ausführlich), führte Robespierre dann vor dem Konvent aus: „Die Revolution ist der Krieg der Freiheit gegen ihre Feinde; die Verfassung ist die Herrschaft der siegreichen und friedlichen Freiheit.“48 Robespierre war nicht der eine und große Diktator der Revolution, er war ein Ab‐ geordneter des Konvents, er war ein Jakobiner, wenngleich vielleicht der – nächst Marat – wichtigste und einflussreichste. Und so waren auch seine Überlegungen zur Verfassung nicht automatisch „Gesetz“ und Befehl für eine Heerschar blinder Apo‐ logeten und höriger Marionetten, sondern ein Redebeitrag unter anderen. Es spricht für die gerade innerhalb der jakobinischen Organisationen und Institutionen herr‐ schende Demokratie, dass Robespierres Ideen nicht eins zu eins umgesetzt, sondern diskutiert, teils verworfen, teils verbessert wurden. So findet sich nicht alles von dem, was Robespierre entwickelt und angedacht, vorgeschlagen hatte und was des‐ sen politische Philosophie prägte, in der Verfassung von 1793 wieder, deren Genese im nächsten Kapitel nachzugehen ist.
48 Robespierre 1989, S. 564.
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7. Weitere Verfassungsdebatten und der endgültige Entwurf
Am 15. und 16. Februar 1793 hatte, wie ausführlich gezeigt, Condorcet im Namen der Gironde seinen Verfassungsentwurf im Konvent vorgestellt. Da er gesundheit‐ lich angeschlagen war, vertrat ihn nach der Einleitung Gensonne, „den man wegen seines nasalen Tons die Gironde-Ente genannt hat“.1 Danach löste sich der Verfas‐ sungsausschuss auf, da seine Arbeit getan war. Die folgenden Monate waren von den tiefgreifenden und tagesaktuellen Kämpfen zwischen den Girondisten und der Bergpartei sowie den innen- und außenpolitischen Herausforderungen bestimmt, ja, man kann sagen: determiniert. Die Debatte um den Verfassungsentwurf trat in den Hintergrund, fand aber dennoch statt. Der 31. Mai brachte dann das Ende der Giron‐ de, und die Herrschaft der Jakobiner begann. Davon handelte das historische Kapitel am Eingang diese Bandes. Es gilt nun, noch einmal in den Frühling und Sommer des Jahres 1793 zurückzukehren, um den Weg zur Verfassung der Jakobiner (von 1793) zu rekonstruieren. Peter Kropotkin beurteilte den Entwurf Condorcets wie folgt: „Es ist richtig, dass der Verfassungsentwurf der Girondisten in gewisser Hinsicht sehr demokratisch schien, insofern als er den Urversammlungen der Wähler außer der Wahl ihrer Ver‐ treter die Wahl der Behörden des Staatsschutzes, der Gerichte und des Obersten Ge‐ richtshofs und ebenso der Minister anvertraute und das Referendum oder die direkte Gesetzgebung einführte. Aber die Ernennung der Minister durch die Wahlkörper‐ schaften (angenommen, sie wäre in der Praxis möglich gewesen) hätte nur zwei riva‐ lisierende Gewalten geschaffen, die Kammer und das Ministerium, die beide aus dem allgemeinen Wahlrecht hervorgegangen wären, und das Referendum war so verwickelten Bestimmungen unterworfen, dass es tatsächlich illusorisch geworden wäre. Schließlich stellte dieser Verfassungsentwurf und die Erklärung der Rechte, die ihm vorausging, bestimmter als die Verfassung von 1791 die Bürgerrechte fest – die Freiheit der religiösen Anschauungen und des Kultus und die Freiheit der Presse wie jedes anderen Mittels, seine Gedanken zu veröffentlichen. Hinsichtlich der kom‐ munistischen Wünsche, die im Volk hochkamen, beschränkte sich die Erklärung der Rechte auf die Feststellung: 'Die öffentlichen Unterstützungseinrichtungen sind eine heilige Pflicht der Gesellschaft', und auf die fernere Erklärung, dass die Gesellschaft allen ihren Mitgliedern in gleicher Weise den Unterricht schuldig ist. Man versteht die Zweifel, die dieser Entwurf hervorbringen musste, als er am 15. Februar 1793 dem Konvent vorgelegt wurde.“2 1 Marat 1987, S. 137. 2 Kropotkin 1982, II, S. 161f.
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Die Jakobiner standen dem girondistischen Verfassungsausschuss von Anfang an kritisch gegenüber. Nachdem der Ausschuss am 11. Oktober 1792 zusammengesetzt war, regte sich in den Jakobinerklubs sofort der Widerstand. Am 14. Oktober setzte Danton – der ja dem offiziellen Ausschuss der Gironde angehörte, die Vorlage aber dann später nicht unterzeichnete – den Beschluss durch, dass ein Gegengewicht zum eigentlichen Verfassungsausschuss notwendig sei, die Jakobiner begründeten außer‐ halb des Konvents einen „Hilfsausschuss für die Verfassung“. Doch die erste Empörung legte sich schnell, die tagesaktuellen Herausforderun‐ gen überlagerten die Verfassungsproblematik. „Und die Jakobiner beeilten sich nicht, ihren Hilfsausschuss für die Verfassung in Tätigkeit zu setzen. Dieser Aus‐ schuss wurde zunächst genau wie der Konventsausschuss mit vorläufigen Ermittlun‐ gen und mit der Herbeiführung eines Meinungsaustausches mit den angegliederten Vereinen beauftragt. Er sollte aus zwölf Mitgliedern bestehen. Am 19. Oktober wur‐ den nur sechs ernannt: Collot d'Herbois, Billaud-Varenne, Robespierre, Danton, Chabot und Couthon. Später, wir wissen nicht, wann, fand eine Neuwahl statt, bei der vier Mitglieder durch andere ersetzt wurden, und der Ausschuss bestand nun aus acht Mitgliedern: Jeanbon Saint-André, Robert, Thuriot, Bentabole, Robespierre, Billaud-Varenne, Anthoine und Saint-Just. Erst am 18. Februar 1793, als der Kon‐ ventsausschuss seinen Bericht abgeliefert hatte, ergänzten die Jakobiner den ihren durch Zuwahl oder Wiederwahl von Dubois-Crancé, Collot d'Herbois, Cloots und Couthon. Irgend eine Spur seines Wirkens hat dieser Ausschuss der Bergpartei nicht hinterlassen. Wie man sieht, erschien den Jakobinern die Schaffung einer Verfassung in diesem Augenblick phantastisch. Jedenfalls aber strebten sie danach, dass eine et‐ wa zu schaffende Verfassung nicht girondistisch ausfällt und den Girondisten keine Macht gibt.“3 Ob man soweit gehen sollte, den Jakobinern jedwedes Interesse an einer Verfas‐ sung abzustreiten, wie es Aulard getan hat, kann dahingestellt bleiben, da sich ein solches Diktum nicht durch Fakten belegen lässt. Dagegen spricht, dass nach der Verlesung des Entwurfs am 15. und 16. Februar 1793 bei den Jakobinern sofort der Widerspruch formuliert wurde. Nach einer deutlichen Kritik durch Couthon und Thuriot beschloss der Jakobinerclub am 17. Februar, dass sein Hilfsausschuss einen anderen Verfassungsentwurf erarbeiten sollte. Gegen Aulards Überlegung können und müssen auch die gerade analysierten Reden Robespierres (denen entsprechende Wortmeldungen Marats, Saint-Justs und anderer Jakobiner beizustellen sind) geltend gemacht werden, denen ja ein gewisses Interesse an politischen, verfassungspoliti‐ schen, verfassungsrechtlichen und tagesaktuellen Fragen nicht abgesprochen werden kann.
3 Aulard 1924, S. 220.
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Aber auch im Konvent selbst zeigte sich nach Condorcets Auftritt mehr als nur Diskussionsbedarf. Schon am 16. Februar wurde dort festgestellt, dass der Verfas‐ sungsausschuss zu schnell gearbeitet und seinen Entwurf vorgelegt hätte, ohne das Dekret vom 19. Oktober 1792 hinreichend zu berücksichtigen, welches ja alle Inter‐ essierten aufgefordert hatte, eigene Vorschläge einzusetzen. Der Konvent erließ am selben Tag das Dekret, dass alle Abgeordneten ihnen bekannte oder vorliegende Ver‐ fassungsentwürfe auf Staatskosten drucken lassen könnten. Diese seien dann zu be‐ rücksichtigen. Der Entwurf Condorcets war damit erst einmal auf Eis gelegt. (Was sicherlich auch ein Indikator dafür ist, dass die Girondisten ihre eigenen politischen und klassenmäßigen Positionen in dem Text nicht zu hundert Prozent wieder fanden, also ihrerseits durchaus internen Diskussionsbedarf hatten.) Zumindest Marats bereits am 18. Februar unter dem Titel Über die neue Verfas‐ sung geleistete Kritik am Verfassungsentwurf kann hier kurz rekapituliert werden.4 Die Erklärung der Menschenrechte bezeichnete dieser als „ungenießbar“, die Aus‐ führungen zur Legislative als „Kinderei“.5 Und für den Executivrat machte er gel‐ tend, dass die entsprechenden Abschnitte ausschließlich den Zweck hätten, die Gi‐ ronde und Roland in Amt und Würden und Geld zu bringen.6 Mit seinen ersten, nur losen Anmerkungen gab Marat der künftigen jakobinischen Kritik wichtige und zu‐ treffende Stichworte vor. Nicht zuletzt mit der Feststellung: „Eine bemerkenswerte Sache in dem neuen Plan ist, dass das Petitionsrecht abgeschafft wird und dass kei‐ nerlei Rede mehr ist von Volksgesellschaften; denn alles, was diese freiwillig getan haben, das sollen sie jetzt zwangsweise in den Primärversammlungen leisten.“ (138) Die Kritik an dem Verfassungsentwurf der Girondisten verband Marat mit einem Blick in die Zukunft, die eine Verfassung der Jakobiner bringen werde, in der die Wünsche des Volkes dann zur Erfüllung kommen würden. Die letzten Sätze seines Artikels lauteten: „Die neue Verfassung verdient nicht, näher untersucht zu werden (…). Ich möchte nur bemerken, dass die ungeheuerlichen Fehler, die sie entstellen, zu der Frage geführt haben, ob die Mitglieder der verbrecherischen Faktion, die sie 4 Alle Angaben im Folgenden nach der Ausgabe: Marat 1987, S. 136–138. 5 Es heißt: „An der Spitze der Verfassung steht die Erklärung der natürlichen, bürgerlichen und politischen Rechte; das ist ein ungenießbares Stück Arbeit, ohne Grundlage und ohne Gliede‐ rung, in dem alle Beziehungen miteinander vermischt sind und in dem aus jeder Zeile die krasse Unwissenheit eines Advokaten durchscheint. Der Teil über die Bildung der Gesetzgebenden Körperschaft bringt nur einen Wust kleiner Artikel reglementierender Art für die Wahl ihrer Mitglieder, ihre Art des Abstimmens und die Geschäftsordnung. Das ist ein Meisterstück an Kinderei.“ (137) 6 „Die Bildung des Executivrates hängt von der Ernennung durch die Primärversammlungen ab; seine überlegene Macht gegenüber allen übrigen eingesetzten Gewalten und seine in mancherlei Hinsicht bestehende Unabhängigkeit von der Gesetzgebenden Körperschaft machen aus ihm eine furchtbare Körperschaft, die die Namen allein von der ehemaligen Executivgewalt unter‐ scheiden; denn der Präsident des Rates ist ein Monarch unter dem Namen eines Bürger-Minis‐ ters. Man hat spaßhafterweise gesagt, dieser Teil der Verfassung sei ein Gewand, das für Roland geschneidert worden sei, und jetzt bietet dieser Teil einen recht traurigen Anblick, seitdem die Herrschaft dieses intriganten Heuchlers beendet ist.“ (137)
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abgefasst hat, den Plan verfolgt haben, die Nation zu entmutigen, und zwar dadurch, dass sie ihr diesen plumpen Entwurf vorlegen statt der wertvollen Arbeit, die ihre Erwartungen krönen sollte. Aber es ist einfacher, wenn man sagt, dass diese Spitzbu‐ ben für sich selbst gearbeitet haben. Ihre Dummheit besteht darin, dass sie sich nicht vorstellen konnten, dass ihre Aktionen nicht auf ihren richtigen Wert zurückgeführt würden. Sie konnten der Sache des Gemeinwohls keinen besseren Dienst erweisen als mit diesem ungeheuerlichen Entwurf; sie hätten sie durch ein mittelmäßiges Werk, das vielleicht durchgegangen wäre, zu Grunde gerichtet. Ihr Entwurf aber hat Entrüstung hervorgerufen, und damit man sie an ihren Werken erkennen kann, haben die Patrioten den Druck dieses Meisterwerks und seine Versendung in die ganze Re‐ publik verlangt. Im Übrigen wird die Verfassung das Werk der Montagne sein, und ungeachtet dieses kindischen und perfiden Versuchs wird die Erwartung des Volkes nicht enttäuscht werden.“ (138) Es waren die innenpolitischen Krisen und die außenpolitischen Misserfolge, die dazu führten, dass Anfang April die Verfassungsdebatten wieder aufgenommen wur‐ de: „Ohne Zweifel in dem Gedanken, dass eine verfassungsmäßig organisierte Repu‐ blik bündnisfähiger wäre und sogar leichter Frieden schließen könnte, aber auch in dem Gedanken, dass eine Verfassung dem inneren Hader ein Ende machen könnte. Aber der Konvent ging mit bewusster Langsamkeit zu Werke. Der Verfassungsaus‐ schuss hatte sich gemäß dem Dekret, durch das er eingesetzt war, an dem Tage auf‐ gelöst, wo er seinen Entwurf vorgelegt hatte. Am 4. April ernannte der Konvent eine Art von neuem Verfassungsausschuss unter der Bezeichnung 'Prüfungsausschuss' oder 'Sechserkommission', der aus Jan de Bry, Mercier, Valazé, Barère, Lanjuinais und Romme bestand und der den Auftrag erhielt, ihm eine Beurteilung der verschie‐ denen Verfassungsentwürfe vorzulegen, die auf Grund seiner Dekrete vom 19. Okto‐ ber 1792 und 16. Februar 1793 ausgearbeitet waren.“7 Die Sechserkommission erstattete am 17. April ihren ersten Bericht,8 nachdem zwei Tage zuvor im Konvent festgelegt worden war, dass man ab diesem Tag jeden Montag, Mittwoch und Freitag den Fragen der zu beschließenden Verfassung wid‐ men wolle. (Den Antrag hatten Lanjuinais und Buzot gestellt)9 Romme und vor al‐ lem Lanjuinais waren die Berichterstatter. Aulard hat die These vertreten, dass es während dieser parlamentarischen Diskussionen kaum Differenzen zwischen den Girondisten und der Bergpartei gegeben habe. So etwas wie ein grundlegender Prin‐ zipienstreit könne am ehesten noch bei der Definition des Eigentumsbegriffs ausge‐ macht werden.10 Damit meinte er vor allem die bereits ausführlich durchleuchtete Rede über das Eigentum, die Robespierre am 24. April 1793 im Konvent gehalten 7 8 9 10
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Aulard 1924, S. 224. Die Debatte findet sich bei: Aulard 1924, S. 224–226, Hintze 1989, S. 425f. Siehe: Massin 1974, S. 229. Siehe: Aulard 1924, S. 226ff.
hatte.11 Zu diesem Punkt sei freilich anzumerken, so Aulard weiter, dass Robespierre sich hier nur „als Sozialist gebärdete, um demokratischer zu scheinen als die Giron‐ disten“ – seine Eigentumsdefinition sei reine Taktik gewesen.12 Gegen diese sub‐ stanzlosen Behauptungen wurde mit Blick auf Robespierre in dem vorangegangenen Kapitel alles Notwendige gesagt. An jenem 24. April redete aber auch Saint-Just und stellte anschließend eigene Überlegungen zur Verfassung vor.13 Und bei dessen Beitrag gilt es kurz zu verwei‐ len, um mit den Thesen Aulards auch aus dieser, einer anderen Perspektive faktenge‐ sättigt abzurechnen. Nicht zuletzt, da sogar Hedwig Hintze, die ansonsten völlig ab‐ hängig von Aulard ist, Saint-Justs Wortmeldung „ eine der wichtigsten Reden zur Kritik des girondistischen Verfassungsprojekts“ nannte.14 Seine Ausführungen eröff‐ nete Saint-Just mit einem Angriff auf die Girondisten. Diese hätten das „Urteil der Menschen“ gefürchtet, „als sie einen König sterben ließen“. (41) Doch sei es damals nur um den eigenen Stolz gegangen, so stehe nun mit der Verfassungsgebung quasi ein „Manifest“ an, ein Vermächtnis auf Erden. Wenn die Verfassung verabschiedet sei, werde es Frieden geben.15 Die Notwendigkeit der Verfassung war damit auch von Saint-Just anerkannt und erscheint von daher als Konsens der Konventsmitglie‐ der sowie der diese tragenden öffentlichen Institutionen und Klubs. Es muss an dieser Stelle nicht darauf eingegangen werden, dass auch Saint-Just auf der Basis einer eigenen Auffassung Rousseaus argumentierte. Hier kann der Hin‐ weis genügen, dass er „eine milde Verfassung“ forderte, da „jedes Volk Anlage zur Tugend und zum Sieg“ habe und die bisherigen Regierungen immer nur korrumpiert gewesen seien.16 (42) Wichtiger ist, dass auch er – wie Condorcet, wie Robespierre, freilich nicht so dezidiert und tiefgründig wie diese beiden – kontraktualistisch dach‐ te. „Der Ursprung der Sklaverei der Völker liegt in der komplizierten Macht der Re‐ gierungen; sie wendeten gegen die Völker dieselbe Macht an, deren sie sich gegen 11 Robespierre 1989, S. 394–407. 12 Aulard 1924, S. 228. 13 Saint-Just 1852, Rede, S. 41–50, Konstitutionsentwurf, S. 50–70, alle Zitate im Folgenden un‐ ter Angabe der Seitenzahl nach dieser Ausgabe. 14 Hintze 1989, S. 432. 15 „Europa wird von Ihnen Frieden begehren an dem Tag, an welchem Sie dem französischen Volk eine Verfassung gegeben haben; an diesem Tag werden alle Zwistigkeiten aufhören; die Faktionen werden verschwinden und sich unter das Joch der Freiheit beugen; die Bürger wer‐ den zu ihren Werkstätten, zu ihren Arbeiten zurückkehren und der Friede, der in der Republik herrscht, wird die Könige erzittern machen.“ (41) 16 „Die Schuld unserer Sittenverderbnis in der Monarchie lag an allen unseren Königen; den Völ‐ kern ist die Unsittlichkeit nicht natürlich. Aber wenn eine Revolution plötzlich ein Volk um‐ wandelt, und man versucht, es zu reformieren, indem man es nimmt, wie es ist, so muss man gegen seine Schwächen nachgiebig sein und es mit Umsicht dem Geiste der Institution unter‐ werfen: Man muss nicht dahin wirken, dass das Volk für die Gesetze passt, sondern vielmehr dafür, dass die Gesetze für das Volk passen. Unsere Konstitution muss dem französischen Vol‐ ke entsprechen. Die schlechten Gesetze haben es lange Zeit der Regierung eines Einzigen un‐ terworfen; die Kunst muss helfen, dass eine in eine andere Hemisphäre versetzte Pflanze reife Früchte in einem neuen Klima erzeugt.“ (45)
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ihre Feinde bedienten. Die Veränderungen, welche im menschlichen Geist vor sich gegangen sind, haben andere Ideen erzeugt. Man nahm an, dass der Mensch von Na‐ tur wild und mordbegierig sei, um das Recht zu seiner Knechtung zu erwerben. So ist das Prinzip der Sklaverei und des Unglücks des Menschen sogar in seinem Her‐ zen für heilig erklärt worden; er hat sich dem Glauben der Tyrannen zu Folge für wild gehalten, und aus Sanftmut ließ er es geschehen, dass man ihn für wild hielt und zähmte. Die Menschen sind nur nach dem Urteil der Unterdrücker wild gewe‐ sen, unter einander waren sie nicht wild; finden uns jedoch nicht heutzutage auch diejenigen, welche gegen die Freiheit Krieg führen, wild, weil unser Mut ihre Herr‐ schaft hat abschütteln wollen?“ (43f.) Diese Worte sind deutlich gegen Hobbes ge‐ richtet und die mit dessen Schriften fälschlicherweise oft verbundene Herrschafts‐ praxis des 17. und 18. Jahrhunderts, sind zugleich Erbteil Rousseaus. Die Konse‐ quenz, die Saint-Just daraus zog, ist ebenso banal wie in der weiteren Ausgestaltung nicht praktikabel: „Wenn Sie dem Menschen die Freiheit wiedergeben wollen, so machen Sie nur für ihn Gesetze. Erdrücken Sie ihn nicht unter der Last der Regie‐ rungsgewalt.“ (44) Der von Saint-Just im Sinne Rousseaus entworfene Antagonismus zwischen dem natürlichen Volk, dem rechtschaffenen Mann auf der einen und der korrupten Regie‐ rung, der Monarchie (und natürlich auch den Girondisten) auf der anderen Seite ist in seiner Rede und auch in seinem Konstitutionsentwurf permanent präsent. Ein Bei‐ spiel kann hier genügen, um dies zu illustrieren: „Die Sitten sind eine Folge des We‐ sens der Regierung. Unter der Monarchie sind die Prinzipien der Sitten nur dazu, um den Verstand auf Kosten des Herzens verschmitzter zu machen. Damals musste ein rechtschaffener Mann auf die Natur mit Verachtung blicken; das Gesetz machte ein Verbrechen aus den reinsten Absichten; Gefühl und Freundschaft waren Lächerlich‐ keit; wer weise sein wollte, musste ein Ungeheuer sein; die Klugheit des reifen Al‐ ters bestand in dem Misstrauen gegen Seinesgleichen; in der Verzweiflung des Gu‐ ten, in der Überzeugung, dass Alles schlecht ging und auffallen musste; man lebte nur um zu täuschen und getäuscht zu werden, und hielt diese schreckliche Unord‐ nung, welche nur von dem Fürsten und dem Wesen der Regierung sich beschrieb, für begründet in der menschlichen Natur. Die französische Monarchie ist zu Grunde gegangen, weil die reiche Klasse der anderen gegen die Arbeit Widerwillen einflöß‐ te. Je mehr Arbeit und Tätigkeit in einem Staat herrscht, desto befestigter ist auch dieser Staat.“ (46) Im Sinne dieser Ausführungen kam er dann zu seiner Kritik am Verfassungsent‐ wurf Condorcets. Denn dieser wende sich gerade nicht an die Natur des Menschen, baue damit nicht auf dem einzig vernünftigen Fundament, sondern entstamme letzt‐ lich der theoretischen Tradition der Verwerfungen der letzten Jahrhunderte: „Die Verfassung, welche man Ihnen vorgelegt hat (…), enthält mehr theoretische Doktri‐ nen als Gesetze, mehr Bewegung als Demokratie, mehr die Herrschaft von Autoritä‐
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ten als innerer Harmonie. Sie ist das heilige Bild der Freiheit, aber nicht die Freiheit selbst.“ (47) Was genau Saint-Just damit meinte, führte er im Anschluss aus: „Ihre Ideen bestehen kurz darin: Eine Föderativrepräsentation, welche Gesetze gibt, eine Repräsentationsrat, welcher sie ausführt. Eine allgemeine Vertretung, gebildet aus der besonderen Vertretung eines jeden Departements, ist keine Vertretung mehr, son‐ dern ein Kongress. Minister, welche die Gesetze ausführen, können nicht zu einem Rat werden. Ein solcher Rat ist unnatürlich. Die Minister führen im Besonderen das aus, was sie gemeinsam beraten und können sich gegenseitig stets leicht zufrieden stellen. Dieser Rat ist der Minister seines eigenen Willens, seine Aufsicht über sich selbst ist illusorisch.“ (47) Saint-Just kritisierte vor allem, dass die Exekutive direkt vom Volk zu wählen sei. Dadurch bestehe die Möglichkeit, dass sie sich verselbständigen und letztlich das Volk unterwerfen bzw. unterdrücken werde:17 „Dieser Rat wird von dem Souverän ernannt; seine Mitglieder sind die einzigen und wahren Vertreter des Volkes. Alle Mittel zur Bestechung sind in ihren Händen; alle Armeen unter ihrem Befehl; die öf‐ fentliche Meinung wird vermöge des gesetzmäßigen Missbrauchs, den sie mit den Gesetzen treiben, leicht wegen ihrer Attentate beschwichtigt. Der öffentliche Geist ist nebst allen Zwangs- und Verführungsmitteln in ihren Händen. Bedenken Sie au‐ ßerdem, dass der Natur des Wahlverfahrens zu Folge dieses Königtum von Minis‐ tern nur an berühmte Männer kommt; und wenn Sie fühlen, von welchem Gewicht ihre Autorität ist, in Verbindung mit ihrem repräsentativen Charakter, mit ihrer Macht, ihrem persönlichen Einfluss, mit ihrer unmittelbaren Gewalt, und mit dem allgemeinen Willen, welcher sie konstituiert und den sie fortwährend dem besonde‐ ren Widerstand jedes Einzelnen entgegensetzen können, wenn Sie sich den legislati‐ ven Körper von dieser gesamten Machtfülle entblößt vorstellen, worin wird alsdann die Bürgschaft der Freiheit bestehen? Sie haben es erfahren, was für Veränderungen binnen sechs Monaten in einem Land erfolgen können. Und wer vermag Ihnen dafür zu stehen, was binnen noch sechs Monaten aus der öffentlichen Freiheit werden
17 „Ein Rat und Minister sind heterogene, besondere Dinge; wenn man beides miteinander ver‐ mischt, so muss sich das Volk Götter zu seinen Ministern wählen. Der Rat macht die Minister unverletzlich und die Minister geben dem Volk keine Garantie gegen den Rat. Die Beweglich‐ keit dieses doppelten Charakters macht daraus eine zweischneidige Waffe; der Eine bedroht die Vertretung, der Andere die Bürger; jeder Minister findet in dem Rat Stimmen, welche stets be‐ reit sind, die Ungerechtigkeit gegenseitig zu sanktionieren. Die Autorität, welche ausführt, er‐ langt allmählich bei der freiesten Regierung, welche man sich denken kann, die Oberhand; wenn nun aber diese Autorität zugleich eine beratende und ausführende ist, so wird sie sehr bald zu einer völlig unabhängigen Macht. Die Tyrannen teilen das Volk, um zu herrschen; tei‐ len Sie die Regierungsgewalt, wenn Sie wollen, dass die Freiheit herrscht. Das Königtum ist nicht die Regierung eines Einzigen. Es lebt in jeder Gewalt, welche gleichzeitig eine beratende und regierende ist. Die Verfassung, welche man Ihnen vorlegt, mag zwei Jahre bestehen und die Nationalvertretung wird nicht mehr den Glanz haben, welchen Sie heute bei ihr erblicken. Sie wird ihre Sitzungen suspendieren, wenn sie nicht mehr Stoff zur Legislation haben wird; dann sehe ich nur noch jenen (Repräsentativ-)Rat ohne Ordnung und ohne Zügel.“ (47f.)
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wird, wenn sie dem Zufall, gleich einem Kinde mit einer Wiege den Wellen, preisge‐ geben ist?“ (48) Hedwig Hintze stellte vor dem Hintergrund dieser Ausführungen fest: „Saint-Just greift in dieser Rede vor allem das gegenseitige Verhältnis von Nationalrepräsentati‐ on und Exekutive an und zugleich die Art, nach der das Corps législatif und der voll‐ ziehende Ministerrat (Conseil exécutif) gewählt werden sollen. Nach Condorcets Entwurf wurden, wie oben erwähnt, die Minister 'von allen Bürgern der Republik in ihren Urversammlungen' nach einem sehr komplizierten Verfahren gewählt, wäh‐ rend für das Corps législatif – nach einem nicht minder komplizierten Verfahren – jedes Departement einen Abgeordneten auf je 50.000 Seelen zu stellen hatte. Dies erscheint Saint-Just gefährlich für die Einheit der Republik; denn ein solches System führe zu einer 'föderativen Repräsentation, welche die Gesetze macht', und zu einem 'repräsentativen Conseil, das sie ausführt'. 'Eine allgemeine Repräsentation, die von den besonderen Repräsentationen jedes der Departements gebildet wird, ist keine Repräsentation mehr, sondern ein Kongress.' Dabei vergisst Saint-Just aber, dass Condorcet alles getan hatte, um auch jeden Anschein einer Departementsrepräsenta‐ tion zu vermeiden, die – nach seinen Worten – 'der Einheit und Unteilbarkeit der Re‐ publik so sehr entgegensteht'. Da nach dem girondistischen Projekt die Departe‐ mentsversammlungen also gar keinen Repräsentationscharakter haben, verliert die‐ ser Vorwurf Saint-Justs wesentlich an Gewicht. Im Übrigen nimmt Saint-Just Anstoß daran, dass die Minister überhaupt ein 'Conseil' bilden sollen.“18 Die Anmerkungen von Hedwig Hintze treffen ziemlich präzise. Denn die Kritik Saint-Justs an Con‐ dorcet, die angeblichen Fehler usw. waren von diesem durchaus bedacht worden. Das ist ein wichtiger Unterschied zwischen Saint-Just (mit seinem jugendlichen Un‐ gestüm) auf der einen und Robespierre und Marat auf der anderen Seite. Die Exekutive, als potentieller Stellvertreter bzw. Steigbügelhalter der Monarchie (der alten oder einer neuen), müsse der permanenten Kontrolle unterworfen werden, daran ließ Saint-Just keinen Zweifel (und bei Condorcet hätte er es nachlesen kön‐ nen): Durch das Volk, durch seine Repräsentanten in der Legislative und nicht zu‐ letzt durch den allgemeinen Willen, den Saint-Just freilich völlig anders auffasste als Rousseau: „Der allgemeine Wille in seiner eigentlichen Bedeutung und in der Spra‐ che der Freiheit entsteht aus der Majorität der besonderen Willensmeinungen, in dem diese ohne fremden Einfluss sich bestimmen und von jedem Individuum abge‐ geben werden. Das Gesetz, welches auf diese Weise zu Stande kommt, ist der not‐ wendige Ausdruck des allgemeinen Interesses, weil, indem der Wille eines Jeden durch sein Interesse bestimmt wird, aus der Majorität der Willen die Majorität der Interessen hat hervorgehen müssen. Der Ausschuss scheint mir den allgemeinen Willen von seiner intellektuellen Seite betrachtet zu haben, so dass der rein spekula‐
18 Hintze 1989, S. 432f.
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tive allgemeine Wille mehr das Resultat geistiger Zwecke als das des Interesses des sozialen Körpers und die Gesetze mehr der Ausdruck des reinen Beliebens und Wohlgefallens als des wirklichen allgemeinen Willens wären. In dieser Auffassung wird der allgemeine Wille verdorben; in Wirklichkeit ist das Volk dann nicht mehr im Besitz der Freiheit; es ist ein dem öffentlichen Wohl fremdes Gesetz; auf dieselbe Weise verlor Athen seine Demokratie und dekretierte es den Verlust seiner Frei‐ heit.“19 (49) Diese Definition des allgemeinen Willens hat mit Rousseaus Vorstellungen über‐ haupt nichts zu tun, ganz im Gegenteil. Auf den Konstitutionsentwurf von Saint-Just muss hier nicht näher eingegangen wird. Dass er völlig unpraktikabel ist, zeigt bei‐ spielsweise das siebte Kapitel Von den Funktionen der Nationalversammlung mehr als nur deutlich an. Dort werden die Aufgaben der Nationalversammlung nacheinan‐ der aufgezählt, was fehlt ist beispielsweise das Recht, Gesetze und Dekrete zu erlas‐ sen. Dafür ist im 2. Artikel (und auch für alle weiteren Institutionen) ausführlich ge‐ regelt, wann und wie sie die von ihr ernannten Agenten, Generäle usw. vor Krimi‐ nalgerichtshöfen anklagen kann. Im Prinzip hat man fast den Eindruck, als ob SaintJust davon ausging, dass immer ein jakobinischer Konvent mit girondistischen Ge‐ nerälen, Ministern usw. fertig werden muss, was halt in seiner Denkweise bedeutet, sie anzuklagen und zu richten. Ein tiefsitzendes Misstrauen gegen jeden und alles beherrschte Zeit seines kurzen Lebens das Denken und Handeln Saint-Justs in jedem einzelnen Moment. Es fehlten ihm der Weitblick und die theoretisch-intellektuelle Tiefe Robespierres. Um ein weiteres Beispiel zu nennen: Es ist völlig unklar, wie man sich die Praxis der Kandidatenaufstellung und Wahl zur Legislative vorzustellen hat. Während einer Wahlperiode kann jeder Kandidatenvorschläge an die Nationalversammlung senden und offensichtlich werden dann alle auf diese Weise festgelegten Kandidaten in je‐ der einzelnen Bürgerversammlung besprochen und gewählt. Wobei man sich schon fragt, wie lange es dauern soll, in jeder Wahlversammlung, bestehend aus 600 bis 800 Wählern, eine Kandidatenliste von beispielsweise 10.000 Vorschlägen zu verlesen. Eben wegen der Vermeidung solcher Schwierigkeiten ist Condorcets Ver‐ fassungsentwurf sicher etwas schwerfällig geraten und vermittelt teilweise den Ein‐ 19 Weiter heißt es: „Wenn diese Vorstellung vom allgemeinen Willen auf der Erde Glück machen wird, so wird sie die Freiheit von derselben verbannen. Die Freiheit wird aus dem Herzen ver‐ schwinden und eine veränderliche, sobald entstehende, bald vergehende Neigung des Geistes werden; unter allen möglichen Regierungsformen wird die Freiheit sich denken lassen; denn in der Einbildung verliert Alles seine natürlichen Formen und Alles verändert sich und man schafft sich in ihr Freiheiten, gleich wie die Augen in den Wolken Gestalten zu erblicken glau‐ ben. Wenn man indes den allgemeinen Willen auf sein wahres Prinzip zurückführt, so ist er der materielle Wille des Volkes, sein gleichzeitiger Wille; sein Zweck ist es, das aktive Interesse der größeren Mehrzahl und nicht ihr passives Interesse zu sanktionieren. Die Freiheit soll nicht eine Theorie sein; sie soll im Volke leben und in der Praxis verwirklicht werden. Auf diese Weise gehen die Vertreter aus dem Ergebnis des allgemeinen Willens nach der Regel der Majo‐ rität hervor.“ (49)
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druck der Überregulierung. Aber er hat den Vorteil, solche Klippen zu umschiffen und das ganze Wahlsystem in eine praktikable Form zu bringen. (Marats Kritik an Condorcets Entwurf lässt sich an dieser Stelle komplett auf Saint-Justs Text übertra‐ gen.) Die Pointe bei der Analyse des Vorschlages von Saint-Just liegt darin, dass er überall dort, wo er sich etwas klarer und durchdachter äußerte, wenn überhaupt, so nur marginal von den Ideen Condorcets abwich (was den bereits zitierten Einschät‐ zungen Hintzes korreliert werden kann). Der zentrale Unterschied ist darin zu sehen, dass Condorcet, wie gezeigt, an den Fortschritt des Menschengeschlechts und an die Aufklärung eines jeden einzelnen Menschen glaubte, während Saint-Just zwar im‐ mer von dem Guten und der Natur und dem Menschen sprach, seine ganze Verfas‐ sungsenergie freilich darauf verwandte, dass potenziell Böse zur Rechenschaft zie‐ hen zu können. Soweit zu Saint-Justs Wortmeldung. Wenn man (mit den gemachten Abstrichen) seine Ausführungen, die bereits analysierten Reden Robespierres und Marats und die dargestellte Praxis der Revolutionszeit bis 1793 nimmt, dann ist hier noch einmal darauf zu verweisen, dass Aulards grundlegende These zur Verfassungsdiskussion nicht aufrecht zu erhalten ist: „Die Opposition der Bergpartei gegen den girondisti‐ schen Verfassungsplan bedeutet im Grunde genommen keine prinzipielle Meinungs‐ verschiedenheit. Sie griff diesen Entwurf lediglich an, weil er von ihren Gegnern stammte. Nötigenfalls zauderte sie nicht, in diesem Entwurf ihre eigenen politischen Tendenzen zu bekämpfen, wenn sich solche darin fanden, und sonderbar! sie be‐ kämpfte sie mit fast girondistischen Argumenten.“20 Auf Saint-Just mag dies – wenn man sein grundsätzliches politisches Denken und seine Motivation außen vor lässt – in Ansätzen zutreffen, auf alle anderen führenden Jakobiner nicht. Und selbst wenn es im Sinne Aulards nur die Intentionen und Motivationen waren (es gab weit mehr!), die Girondisten und Jakobiner trennten, so sind bereits diese Differenzen als gewaltig zu quantifizieren und zu qualifizieren. Hedwig Hintze, darauf wurde bereits verwiesen, widersprach dieser auch hier kri‐ tisierten Einschätzung Aulards: „In Saint-Justs Vorstoß vom 24. April liegt aber meiner Meinung nach doch noch mehr als bloße Taktik: Die praktische Politik des Berges kümmerte sich in diesen Monaten, wie wir im vorigen Kapitel gesehen ha‐ ben, sehr wenig um das Dogma von der Trennung der Gewalten: Sie steuerte immer zielbewusster auf die nicht mehr zu vermeidende Diktatur zu, deren rettendes Bild ja gerade Saint-Just in jener großen Rede vom 29. November 1792 bereits heraufbe‐ schworen hatte. Als Werkzeug dieser Diktatur empfahl sich aber nicht das Minister‐ conseil; viel brauchbarer erschienen kleine handlungsfähige Ausschüsse des Kon‐ vents, der ja bereits vermittels seiner Kommissare Provinz und Armee nachhaltig be‐
20 Aulard 1924, S. 229.
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einflusste. Auf diese Weise ließ sich auch viel besser wenigstens der Anschein einer Diktatur auf demokratischer Basis aufrechterhalten; der Zusammenhang mit den breiten Massen des Volkes blieb doch irgendwie gewahrt; und die Diktatur war be‐ sonders im Anfang, vor den späteren blutigen Ausschreitungen, nicht eben unpopu‐ lär, zumal die Männer des Berges für die hungernden und kämpfenden Massen des Volkes viel besser zu sorgen wussten, als der doktrinär und egoistisch entartete Libe‐ ralismus der Girondisten.“21 Diese Idee ist freilich fast noch absurder als die Ein‐ schätzung Aulards: Dass die Jakobiner bereits in der Diskussion des Verfassungsent‐ wurfs von Condorcet ihre Diktatur unter demokratischem Anschein geplant hätten (es sei an die andere, parallele These erinnert: fast ausschließlich mit Argumenten und Theorien Condorcets und der Girondisten) – auf eine solche Behauptung trifft zu, was Hintze, wie gleich wiederzugeben ist, über manche Vorschläge im Rahmen der Verfassungsdebatte sagte: Es seien Konstruktionen „der sonderbarsten Gebilde im luftleeren Raum“.22 Wobei der Konstruktionsraum von Hintze nicht Luft entleert ist, sondern gefüllt mit den Thesen der rechten Sozialdemokratie, die den Ersten Weltkrieg ebenso mit zu verantworten hat wie das Scheitern der Weimarer Repu‐ blik.23 (Übrigens durchaus mit Argumenten, die an all das erinnern, was die Reaktio‐ näre aller Couleur und aller Zeiten gegen die Jakobiner vorbrachten.) Es wurde bereits erwähnt, dass am 15. April Lanjuinais und Buzot gefordert hat‐ ten, drei Mal wöchentlich über die Verfassung zu diskutieren. Außerdem hatten sie beantragt, dass der Konvent „die vorgesehene Erklärung der Menschenrechte zu‐ rückstellen sollte, um zuerst über praktische Maßnahmen zu entscheiden. Es war ein geschickter Schachzug, denn 86 Abgeordnete des 'Berges' befanden sich ja als Kom‐ missare in den Departements und konnten deshalb an dieser Beratung nicht teilneh‐ men. Sofort schaltete sich Robespierre ein. Was ist das Fundament der Verfassung? Das Glück der Menschen: (…) 'Man muss also, bevor man eine Regierung einsetzt, genau die Natur und den Umfang der Rechte bestimmen, deren Wahrung ihre Auf‐ gabe ist.' Der Mann, der während dreier Jahre im Namen ihrer Grundsatzerklärung gegen die Fehler einer Verfassung gekämpft hat, weigert sich, den Empirismus einer Rechten zu übernehmen, die schon soweit gegangen ist, jede Bindung durch ein Prinzip abzulehnen, damit sie ihre Diktatur um so bequemer ausüben kann. Seine Meinung setzte sich durch, und es wird mit der Erklärung der Menschenrechte be‐ gonnen.“24
21 Hintze 1989, S. 433f. 22 Hintze 1989, S. 420. 23 Siehe hierzu die – gegenteilig argumentierenden – verschiedenen Hinweise zu Biographie und politischem Lebensweg von Hintze, die Rolf Reichardt (1989, S. V-XV) in der Einleitung zur Neuausgabe ihres Werkes gegeben hat. Ob man Hintze allerdings eine „linksliberale“ Position (1989, S. XII) unterstellen kann, wäre zu diskutieren. 24 Massin 1974, S. 229f.
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Der April endete, wie die ganze Verfassungsdiskussion begonnen hatte. Am 26. April stellte Thuriot den Antrag, dass die Beratungen so lange auszusetzen seien, bis alle Parlamentarier wieder anwesend wären. Dies hatte den gerade genannten gu‐ ten Grund, dass damals um die 100 Abgeordnete der Bergpartei mit zahlreichen Missionen in ganz Frankreich und auf den Kriegsschauplätzen unterwegs waren. Die Jakobiner hatten also bei den Abstimmungen, gerade wenn die Fraktion der Gemä‐ ßigten intern nicht einig war, erhebliche Nachteile bei den Abstimmungen. „Erst am 10. Mai wurde Artikel 1 angenommen, der die Einheit und Unteilbarkeit der Repu‐ blik erklärte. Am 13. ließ der Sechserausschuss Condorcets Plan mittelbar ausschal‐ ten und stellte die ganze Arbeit des Verfassungsausschusses in den Schatten, indem er den Konvent zur Annahme einer ganz neuen Beratungsweise nach Gruppen von Kapiteln und Fragen bewog. Die Absicht, nicht zum Ziel zu gelangen, so lange die Girondisten nicht vernichtet waren, schien so deutlich, dass Condorcet am 15. Mai beim Konvent beantragte (es war sein einziges Eingreifen in diese Beratungen), eine bestimmte Frist für den Abschluss des Verfassungswerks festzusetzen. Würden die Urversammlungen nicht vor dem 1. November 1793 einberufen, um sich über die Verfassung zu äußern, so sollten sie mit diesem Tage zur Wahl eines neuen Konvents berechtigt sein, der am 15. Dezember in Tätigkeit treten sollte. Dieser Antrag wurde nicht angenommen, aber der Konvent nahm vier Artikel über die Gebietseinteilung an und vervollständigte sie am 21. durch einen fünften Artikel. Dann wurde die Be‐ ratung für acht Tage unterbrochen.“25 Hedwig Hintze hat, durch Aulard inspiriert, darauf hingewiesen, dass in den Ver‐ fassungsdebatten auch teilweise phantastische Ideen – „als hätten manche Redner (…) die (…) Verfassungsdebatten dazu benutzt, ihrer Phantasie die Zügel schießen zu lassen und die sonderbarsten Gebilde im luftleeren Raum zu konstruieren“ – zum Ausdruck gebracht wurden. „So kam am 10. Mai der Provenzale Isnard auf den selt‐ samen Gedanken, eine Erneuerung des Gesellschaftsvertrages (pacte social) vorzu‐ schlagen. Das heißt: Drei Jahre, nachdem die Franzosen im Jubel der Föderationen geschworen hatten, ein einzig Volk von Brüdern zu sein, in einem Augenblick, da diese freiwillige Schicksalsgemeinschaft durch die eherne Not zur unentrinnbaren Zwangsgemeinschaft sich auswuchs, in diesem Augenblick schlug der Girondist Is‐ nard vor, einen neuen Gesellschaftsvertrag – auf 30 Jahre – zu schließen, mit der ausdrücklichen Bemerkung, diejenigen Franzosen, die dem neuen Pakt nicht zu‐ stimmten, hätten 'das Recht, mit ihrem Hab und Gut die Gesellschaft zu verlassen, vorausgesetzt, dass dies nicht geschehe, um der Gesellschaft gegenüber in Kriegszu‐ stand zu treten'. Verhindere man solche Sezession, wolle man die Widerstrebenden gewaltsam der Gesellschaft eingliedern, so bedeutet dies 'Unterdrückung und Verge‐ waltigung aller natürlichen Rechte'. Dieser neue Pakt müsse das Verbindungsglied
25 Aulard 1924, S. 231f.
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bilden 'zwischen der Erklärung der Rechte, die ihm als Grundlage dient, und der Verfassung, der er selbst als Schranke und als Regulator dient'. Dieser Pakt habe die natürlichen Rechte zu gewährleisten, 'die Gleichheit, die Freiheit und vor allem das Eigentum'. Lange verweilte Isnard bei der Definition des Eigentumsrechts, das nicht aus der Vereinigung der Menschen abzuleiten sei und das die Gesellschaft nicht nach Gutdünken durch Gesetze modifizieren dürfe. 'Die Umstände und gewisse Männer', sagte er, machten hier genaue Definitionen notwendig. Diese langen Deklamationen lösten denn auch Marats bissigen Zwischenruf aus: 'Du musst doch sehr reich sein, da du immerfort vom Eigentum sprichst!'“26 Obwohl sich im Mai die allgemeine Krise weiter zuspitzte, nahm der Konvent am 29. Mai die diskutierte und abgeänderte „Erklärung der Rechte“ einstimmig an. (Am 23. Juli wurde sie dann, in nochmals leicht veränderter Form endgültig beschlos‐ sen.) Die Debatten in der Woche zuvor allerdings zeigten den Gegensatz zwischen den Girondisten und den Jakobinern deutlich auf: „Als man jedoch am 22. Mai an‐ fing, die Abschaffung der Gemeindeverwaltungsbehörden und die Schaffung von Kantonaldirektorien zu diskutieren, war man an dem Punkt angelangt, wo die An‐ schauungen der Bergpartei sich völlig von denen der Girondisten trennten. Der Berg war entschieden gegen diese Abschaffung, um so mehr als die Girondisten die Ein‐ heit von Paris als Gemeinde dadurch zerstören wollten, dass sie verlangten, jede Stadt von mehr als 50.000 Einwohnern sollte in mehrere Gemeindekörperschaften geteilt werden. Der Konvent schloss sich nunmehr der Meinung der Bergpartei an und verwarf das girondistische Projekt der Kantonalbehörden.“27 Die historischen und die tagesaktuellen Dimensionen dieses Streits beschrieb Kropotkin ebenfalls: „Das Munizipalgesetz vom Dezember 1789 hatte den Gemein‐ deverwaltungen eine beträchtliche Macht gegeben, die um so größer war, als die Or‐ gane der Zentralgewalt in den Provinzen abgeschafft worden waren. So fand die Re‐ volution von 1793 in den Gemeindeverwaltungen und den Sektionen ihre beste Stüt‐ ze. Man begreift daher, dass die Bergpartei Wert darauf legte, dieses mächtige Werk‐ zeug, dessen sie sich bei ihrem Vorgehen bediente, zu erhalten. Aber eben darum hatten die Girondisten in ihrem Verfassungsentwurf, vor dem nur die Erhebung vom 31. Mai Frankreich bewahrte, dafür gesorgt, dass die Gemeinden in ihrer Selbststän‐ digkeit gebrochen wurden, dass ihre Unabhängigkeit abgeschafft und die Departe‐ ments- und Distriktsdirektorien, die Organe der Besitzenden und der 'Ehrbaren', ge‐ stärkt wurden. Um das durchzusetzen, verlangten sie die Abschaffung der großen Gemeinden und der Gemeindemunizipien und die Schaffung einer neuen, einer drit‐ ten Reihe bürokratischer Behörden, der Kantonsdirektorien, die sie 'Kantonsmunizi‐ pien' nannten. Wenn dieser Entwurf angenommen wurde, mussten die Kommunen, die nicht ein Rad im Mechanismus der Verwaltung waren, sondern Gesamtheiten, 26 Hintze 1989, S. 429f. 27 Kropotkin 1982, II, S. 163.
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die Grundstücke, Gebäude, Schulen usw. in gemeinsamem Besitz hatten, verschwin‐ den, um von lediglich administrativen Körperschaften ersetzt zu werden.“28 Kropotkin sah einen der „kennzeichnenden Züge“ der Jakobinerverfassung von 1793 im Sinne dieser Ausführungen darin, dass diese „die Gemeindeverwaltungen völlig beibehielt. 'Sollten wir', sagte Hérault de Séchelles, 'die Gemeindeverwaltun‐ gen nicht beibehalten können, so zahlreich sie auch sind? Das wäre eine Undankbar‐ keit gegen die Revolution und ein Verbrechen gegen die Freiheit. Was sage ich? Es hieße, die Regierung durch das Volk in Wahrheit vernichten. Nein', fügte er hinzu, nachdem er noch einige sentimentale Phrasen gemacht hatte, 'nein, der Gedanke, die Gemeindeverwaltungen abzuschaffen, hatte nur im Kopf der Aristokraten entstehen können, und von da ist er in den Kopf der Gemäßigten verpflanzt worden.'“29 Die Jakobiner wussten sehr gut, und dies ist direkt eine Einsicht von Marat, Robespierre, Saint-Just, dass sie ihren Einfluss und ihre Machtergreifung der „Straße“ zu verdan‐ ken hatten, den Armen und bis zu diesem Zeitpunkt politisch und ökonomisch ent‐ rechteten Massen, die sich nach Freiheit sehnten, vor allem aber nach Brot und Si‐ cherheit. Es ist offensichtlich, dass die Girondisten gegen Ende des Mai 1793, kurz vor ihrem Sturz, ihre Lage begriffen hatten. Am 29. Mai wurde, wie gesehen, von Barè‐ re die Erklärung der Rechte dem Konvent vorgelegt und von diesem angenommen. Einen Tag später wurde dann der Sechserausschuss um weitere Mitglieder – Hérault de Sechelles, Ramel, Saint-Just, Mathieu und Couthon – ergänzt. Die Angst der Gi‐ rondisten vor der Realität wurde fast schon greifbar, die Lockerung ihrer auf Partei‐ enproporz und Machtmaximierung gegründeten Personalpolitik kam jedoch zu spät. Die Tage vom 31. Mai bis zum 2. Juni brachten das Ende der Gironde. Noch wäh‐ rend dieser Ereignisse bzw. kurz danach wurde Hérault de Sechelles mit der Aufga‐ be betraut, einen neuen Verfassungsentwurf zu erarbeiten. Er vollbrachte das Werk innerhalb weniger Tage, bereits am Abend des 9. Juni legte er dem Ausschuss sei‐ nen Entwurf vor, am darauf folgenden Tag akzeptierte dieser die Vorlage und Hér‐ ault de Sechelles verlas den Text mitsamt einer vorangestellten Einführung am glei‐ chen Tag im Konvent.30
28 Kropotkin 1982, II, S. 160. Über die Überlegungen der Girondisten schrieb Kropotkin: „Die Dorfgemeindeverwaltungen nahmen in der Tat sehr häufig die Partei der Bauern, und die Ge‐ meindeverwaltungen der großen Städte vertraten ebenso wie ihre Sektionen oft die Interessen der armen Stadtbevölkerung. Man musste also den wohlhabenden Bürgern eine Behörde ge‐ ben, die diese Gemeindeverwaltungen ersetzte, und die Girondisten hofften offenbar, dieses Organ in einem Kantonsdirektorium zu finden, das sich mehr an die Departements- und Di‐ striktsdirektorien, die, wie wir gesehen haben, überaus bürokratisch und konservativ waren, als ans Volk anschloss.“ (Ebd., S. 160f.) 29 Kropotkin 1982, II, S. 164; Héraults Überlegungen gleich ausführlicher. 30 Verwendet wird die Ausgabe: Hérault de Sechelles 1802, S. 50–60, alle Zitate im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl nach dieser Ausgabe.
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Hérault begann seine Ausführungen mit einem Seitenhieb gegen die Girondisten: „Rastlos haben wir uns bemüht, dem ehrenvollen Geschäft zu genügen, welches ihr uns vor einigen Tagen auferlegt habt, um mit euch einem allgemeinen Bedürfnis zu entsprechen. Mögen die Verfertiger der Unterdrückungssysteme ihre Entwürfe mit Anstrengung und Mühe kombinieren; Franzosen, welche das Vaterland aufrichtig lieben, brauchen nur auf ihr Herz zurückzugehen; da finden sie die Republik.“ (51) Beseelt gewesen sei der Ausschluss durch den Wunsch, „auf das am meisten demo‐ kratische Resultat zu stoßen“. (51) Hérault verwendete in seiner Rede immer wieder Formulierungen, die dem jakobinischen Sprachgebrauch angehörten, sich zum Erbe Rousseaus bekannten und gleichzeitig die tagespolitischen Forderungen der Sanscu‐ lotten im Blick hatten: Die „Rechte der Menschheit“ sollten durch den Vorschlag ge‐ fasst werden, unter Anerkennung der „Oberherrlichkeit des Volkes“ und der „Würde des Menschen“ usw. (51f.) Da es sich um die Organisation einer Republik handle, die aus einem Volk klar denkender Bürger bestehe und die „Natur der Dinge“ berücksichtige, sei es darauf angekommen, die Verfassung möglichst kurz und knapp zu halten. Zudem wäre es natürlich darum gegangen, den endgültigen Bruch mit der Monarchie zu fundieren. „In unserem letzten Gesetzbuch nahm das Königtum sehr viel Platz ein; aber wir sind davon für immer befreit. Eine Menge Artikel, welche das Königtum in seinem Gefolge hat, verunstalteten außerdem dieses Gesetzbuch; und diese Artikel wurden für politisch gehalten, insofern sie den so genannten Aktivbürgern einen verhassten Vorzug gaben oder die Herabsetzung der Stände, die Zerstörung der Privilegien ein‐ zuführen die Miene hatten.“ (52) Dies jedoch sei Geschichte und für immer vorbei.31 Die neue Verfassung bekenne sich zu den Errungenschaften der Gegenwart und sei Versprechen für die Zukunft. Und das Verfassungswerk beginne nicht bei Null. So seien bereits verschiedene Gesetze erlassen und Bräuche installiert, die dazu beitra‐ gen würden, Frankreich den Bürgern zurückzugeben: „Endlich hat eine Reihe guter Gesetze sich unseren Blicken dargestellt und unseren Hoffnungen gelächelt, zum Beispiel die Nationalfeste, der öffentliche Unterricht, die Annahme an Kindesstatt usw. Aber der Abgemessenheit einer Konstitution getreu, haben wir uns streng das Glück versagt, Euch von diesen Gesetzen zu unterhalten, weil sie zu den Sozialein‐ richtungen gehören. Sie müssen für einen besonderen Katalog aufbewahrt werden, der die Grundlage der bürgerlichen Gesetzgebung wird.“ (52f.)
31 „Doch wozu alle diese Kindereien noch einmal zur Sprache bringen? Sie gehören gegenwärtig nur in das Gebiet der Geschichte, welches sie errötend aufzeichnen wird. Viele wichtige Ge‐ genstände, viele mögliche Entwicklungen haben sich unserem Geist dargestellt; aber wir haben sie auf eine andere Zeit beseitigen müssen; denn es war wesentlich, dass unser Gang nicht durch bloß verordnende Mittel gehindert würde, deren eine gesetzgebende Versammlung eben so fähig ist als ein Nationalkonvent; immer muss man unterscheiden zwischen Konstitution und Art und Weise, diese Konstitution in Ausübung zu bringen.“ (52)
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Wichtig sei es gewesen, so Hérault weiter, den einzelnen Bürger, wie bereits Saint-Just gefordert hatte (der dem neuen Verfassungsausschuss ja beiwohnte), in den Mittelpunkt zu stellen, um auf diese Weise jedweden über eine Gebietseintei‐ lung vermittelten Föderalismus zu verhindern: „Um zu jenem allgemeinen Willen zu gelangen, welcher, nach der Strenge des Grundsatzes, sich nicht teilt, welcher eine Repräsentation, aber keine Repräsentanten bildet, hätten wir wohl gewünscht, dass es möglich wäre, nur ein einziges Skrutinium über ein ganzes Volk anzustellen. Bei der physischen Unmöglichkeit des Gelingens wird man, nachdem alle Kombinatio‐ nen und Verfahrensarten erschöpft worden sind, eben so wie wir genötigt sein, zu dem einfachsten und natürlichsten Mittel zurückzukehren, zu demjenigen, welches wir in unserem Entwurf aufgezeichnet haben. Es besteht darin, dass man von jedem Kanton, der eine Bevölkerung von 50.000 Seelen ausmacht, nach einem einzigen Listen-Skrutinium einen Deputierten ernennen lässt. Auf diesem Wege nähert man sich so viel als möglich dem allgemeinen, von Individuen eingesammelten Willen, und mit Wahrheit kann man behaupten, dass die Repräsentanten aus den Erklärun‐ gen dieses Willens nach dem Befehl der Majorität hervorgehen. Jeder andere Ver‐ such in dieser Angelegenheit würde unfruchtbar und irrig sein. Die von uns ange‐ zeigte Methode enthält den köstlichsten aller Vorteile; sie vernichtet alle Trennungen des Bodens, indem sie das Ganze der Departementer begründet und enger zusam‐ menfügt, so dass das Vaterland, um mich so auszudrücken, nur eine und dieselbe Be‐ wegung haben würde.“ (54f.) Der Bericht Héraults und der sich anschließende Verfassungsentwurf waren tat‐ sächlich Diskussionsgrundlagen. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass längst nicht alle Vorschläge des Ausschusses schließlich umgesetzt wurden und in die neue Ver‐ fassung Eingang fanden. „Wie Condorcet wollte auch Hérault ursprünglich ein vom Volke zu wählendes Nationalgeschworenengericht (Grand jury national) einführen; aber den im Konvent entstehenden Widersprüchen gegenüber ließ er selbst am 16. Juni diesen Vorschlag fallen.“32 Hérault formulierte: „Und dies ist der Augen‐ blick, Euch von dieser Nationaljury zu unterhalten; einem großen Institut, dessen die Majestät des souveränen Volkes bedurfte und welches fortan unstreitig der Reprä‐ sentation selbst zur Seite gestellt werden wird. Wem von uns ist nicht eins der unver‐ antwortlichen Gebrechen der Konstitution aufgefallen, welche wir endlich abschüt‐ teln werden. Verantwortlich sind die öffentlichen Beamten und die ersten Mandatari‐ en des Volkes sind es nicht! Gerade als wenn ein Repräsentant durch etwas anderes ausgezeichnet werden könnte, als durch seine Pflichten und durch die strenge Erfül‐ lung derselben, kann keine Reklamation, kein Urteil ihn erreichen. Ihn für strafbar zu erklären, würde man errötet haben; man nannte ihn also unverletzlich. Auf eben diese Weise heiligten die Alten einen Kaiser, um ihn zu legitimieren. Die schreiends‐
32 Siehe, auch zum Kontext: Hintze 1989, S. 444–448.
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te aller Ungerechtigkeiten, die zerschmetterndste aller Tyranneien hat uns mit Schre‐ cken erfüllt. Gesucht haben wir ein Gegenmittel in der Einführung einer großen Ju‐ ry, welche bestimmt ist, den in seiner Person unterdrückten Bürger wegen der Be‐ drückung des gesetzgebenden Körpers und des Rats zu rächen, so oft sich derglei‐ chen für ihn ereignet: Ein gebietendes und tröstendes Tribunal, vom Volke zu eben der Stunde und in denselben Formen geschaffen, worin es seine Repräsentanten wählt; ein erhabener Zufluchtsort der Freiheit, wo keine Bedrückung verziehen wird und wo der schuldige Stellvertreter der Gerechtigkeit eben so wenig entfliehen wür‐ de als der Meinung. Doch diese Jury zu errichten und ihr eine neben der Eurigen hinlaufende Existenz zu geben, würde noch nicht hinreichen. Groß und moralisch schien es uns daher, Euch aufzufordern, an dem Ort Eurer Sitzungen die Urne nie‐ derzusetzen, welche die rächenden Namen enthalten wird, damit jeder von uns sich unaufhörlich fürchte, sie hervorgehen zu sehen. Vergleichen wir den Unterschied der Jahrhunderte und der republikanischen Einrichtungen sogar. Ehemals ließ der Tri‐ umphierende auf seinem Wagen sich durch einen Sklaven an die Menschlichkeit zu‐ rückerinnern. Die Urne der Nationaljury wird freien Männern, französischen Gesetz‐ gebern alle ihre Pflichten vorhalten.“ (56f.) Im Prinzip hätte die Jury, gerade durch ihre ständige „Präsenz“ in der Legislative, eine ähnliche Funktion ausüben sollen wie der von Robespierre entwickelte Kon‐ trollmechanismus der gigantischen Zuschauertribünen mit tausenden Beobachtern als Vertretern der Öffentlichkeit. Eine Kontinuitätslinie zu den Verfassungsdiskus‐ sionen vor dem Sturz der Gironde ergibt sich dadurch, dass auch Hérault „auf den Gedanken der großen Gemeinden oder Kanton-Gemeinden verzichtet“.33 Die Be‐ gründung freilich ist echt jakobinisch: „Könnten wir den Willen haben, die Munizi‐ palitäten, wie zahlreich sie auch sein mögen, nicht länger erhalten zu wollen? Dies würde eine Undankbarkeit gegen die Revolution und ein Verbrechen gegen die Frei‐ heit sein. Was sag' ich? Eine Vernichtung der Volksregierung würde daraus entste‐ hen. Welches Unglück für die Bürger, wenn sie in einigen von ihren Gemeinden (und wie wenig man auch reduzieren möchte, so würde sich die Reduktion immer noch auf 14.000 belaufen) des Trostes beraubt würden, sich brüderlich zu unterstüt‐ zen! Das menschliche Geschlecht besteht aus zerstreuten, mehr oder weniger zahl‐ reichen Familien, welche aber alle Ansprüche auf Polizei und Glück haben. Die Schärpe, welche die Lumpen bedeckt, ist eben so ehrwürdig als die Schärpe der volkreichsten Städte. Wer sie trägt, wird sie eben so wenig gutwillig fahren lassen als sein Stimmrecht und sein Gewehr. Und dann, was kann Nachteiliges daraus ent‐ stehen? Nein, der Gedanke, die Munizipalitäten wegzuschneiden, konnte nur in den Köpfen der Aristokraten entstehen, von wo er in die Köpfe der Gemäßigten überge‐ gangen ist.“ (59f.) (Auch an dieser Stelle begründen die Intentionen bei analoger in‐
33 Aulard 1924, S. 233.
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haltlicher Setzung einen Unterschied zwischen den politischen Richtungen, der ob seiner Größe und Tiefe kaum zu fassen ist.) Es waren sicherlich vor allem die innenpolitischen Krisen, der bereits brodelnde und sich immer mehr verstärkende, von den Girondisten angezettelte Bürgerkrieg, der im Konvent die Bereitschaft erzeugte, das Verfassungswerk so schnell wie mög‐ lich zu Ende zu bringen. Aulard sprach von einer „fast fieberhaften Hast“,34 mit der das Parlament den Entwurf innerhalb von 13 Tagen beriet und schließlich annahm. Eine Einschätzung, die nicht zuletzt dadurch legitimiert ist, dass Hérault de Sechel‐ les seinen Bericht mit den Worten eröffnet hatte: „Aus allen Teilen der Republik er‐ schallt die einstimmige Forderung einer Konstitution. Nie hat eine größere Notdurft ein ganzes Volk gequält. 27 Millionen Menschen heischen mit lautem Geschrei das Gesetz. Wenn es in einzelnen Gegenden brauset und tobt, so ist kein anderer Grund dazu vorhanden, als der Mangel einer Konstitution. Ein National-Verbrechen würde es sein, sie nur einen Tag zu verspäten; aber dafür wird auch der Tag, wo ihr sie zu Stande gebracht haben werdet, ein Tag der Auferstehung für Frankreich und der Re‐ volution für Europa sein. Alle unsere Geschicke sind in diesem Denkmal enthalten. Es ist mächtiger als alle Heere.“35 Am 11. Juni begann die Diskussion, die ersten sieben Artikel der Verfassung wur‐ den angenommen, um auf diese Weise den Föderalismus unmöglich zu machen und damit auch ein Signal im Bürgerkrieg zu setzen. Der 12. Juni brachte dann eine De‐ batte über die Art der Stimmabgabe, Hérault de Sechelles hatte geheime Wahlen vorgeschlagen, einige Jakobiner wollten öffentliche Bekundungen. Der Konvent ent‐ schied sich für den Kompromiss, dass der Wähler jeweils für sich entscheiden und die jeweilige Urversammlung die Abstimmungsart nicht vorschreiben dürfe. Weitere parlamentarische Diskussionen werden gleich bei der Darstellung der Verfassung er‐ wähnt, so dass an dieser Stelle darauf verwiesen werden kann, dass am 23. Juni alle Artikel vom Konvent besprochen waren. Dies galt als erste Lesung der Verfassung, die zweite fand am 24. Juni statt „und wurde in der gleichen Sitzung beendet. Um schneller vorwärts zu kommen, wurde bestimmt, 'dass alle Artikel, gegen die sich kein Widerspruch erhöbe, als endgültig angenommen angesehen würden'. Aus dieser zweiten Lesung ging der Artikel über die Rechtsgarantien in folgender veränderter und erweiterter Fassung hervor: 'Die Verfassung gewährleistet allen Franzosen Gleichheit, Freiheit, Sicherheit, Eigentum, Sicherstellung der Staatsanleihen, freie Kultübung, gemeinsamen Unterricht, öffent‐ liche Unterstützung, unbeschränkte Pressefreiheit, das Petitionsrecht, das Recht sich in Volksvereinen zusammenzutun, den Genuss aller Menschenrechte.' Aus dem Pro‐ tokoll wissen wir, dass die unbeschränkte Pressefreiheit und die öffentliche Schuld durch improvisierte Abänderungsvorschläge während der Sitzung hinzukamen. Aber 34 Aulard 1924, S. 234. 35 Hérault de Sechelles 1802, S. 50f.
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wie konnte die in der ersten Lesung so feierlich abgelehnte freie Kultübung in den endgültigen Wortlaut wieder hinein kommen? Dieser Zusatz stammte offenbar vom Wohlfahrtsausschuss, der jetzt unter Dantons Einfluss zur Mäßigung im Hinblick auf die Vendée neigte, deren Priester den Aufständischen einredeten, die Revolution wolle das Christentum vernichten.“36 Mit der neuen Abfassung der Erklärung der Rechte hatte der Konvent den Wohl‐ fahrtsausschuss beauftragt, Hérault de Sechelles legte den neuen Entwurf ebenfalls am 24. Juni vor. Das Parlament verzichtete auf weitere Diskussionen und nahm den Vorschlag in kürzester Zeit nach zwei Lesungen an. Die Verfassungsarbeit des Kon‐ vents war damit beendet. Am 27. Juni erließ der Konvent das Dekret, „dass 'die Er‐ klärung der Rechte und die Verfassungsurkunde binnen acht Tagen vom Empfang des vorliegenden Dekrets den einberufenen Urversammlungen zur Annahme vorzu‐ legen seien'. Diese Volksabstimmung fand in ganz Frankreich also nicht am gleichen Tag statt. In Paris wurde zwischen dem 2. und 4. Juli 1793 abgestimmt, in der Pro‐ vinz zwischen dem 14. und 22. Juli.“37 Grund genug, zu schauen, worüber das fran‐ zösische Volk abstimmen sollte. Es klang bereits mehrfach an, muss hier aber explizit noch einmal gesagt werden: Die maßgeblich durch die Jakobiner gestaltete Verfassung von 1793 kann nicht als Darstellung, gar als Quintessenz der Ideologie der Jakobiner gelesen oder interpre‐ tiert werden. Ganz im Gegenteil. Sie ist das Ergebnis zahlreicher Diskussionen – mit Blick auf das allgemeine Beste in den damaligen tagesaktuellen Krisen und Heraus‐ forderungen Frankreichs. In diesem Sinne ist ihr mehrfacher Kompromisscharakter zu betonen: Sie ist das Ergebnis einer innerjakobinischen Selbstverständigung, die in ihrem Ergebnis nicht identisch mit den Positionen von Robespierre oder Saint-Just ist. Sie enthält Momente des Ausgleichs zwischen Jakobinern und Girondisten, ist auch ein Schritt auf die gerade erst geschlagene Gironde zu. Damit umfasste sie ebenfalls die breite Mitte der Gemäßigten, im Volk die Schicht zwischen armer Mas‐ se und Großbürgertum. Sie ist Ergebnis der Anforderungen der Praxis, sie ist der Versuch des Ausgleichs zwischen Hauptstadt und Departements. Und nicht zuletzt ist sie auch eine Umsetzung der Forderungen der Sansculotten – nicht aller, aber der‐ jenigen, die zum damaligen Zeitpunkt erfüllbar waren oder den Anschein erweckten, es zu sein. Wie bei der Darstellung der Verfassungsdebatte bereits deutlich wurde, bestand das Dokument aus einer Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte mit 35 Artikeln und der eigentlichen Verfassungsurkunde mit 124 Artikeln.38 Die Darlegung der Menschen- und Bürgerrechte sei notwendig, so formulierte der einleitende Absatz, 36 Aulard 1924, S. 239. 37 Aulard 1924, S. 243. 38 Verwendet wird: Grab 1989, S. 200–217, alle Zitate unter Angabe des Artikels nach dieser Ausgabe.
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„damit alle Bürger ständig die Handlungen der Regierung mit dem Ziel jeder gesell‐ schaftlichen Einrichtung vergleichen können und sich daher niemals durch die Ty‐ rannei unterdrücken und entehren lassen“. Dies war die nachträgliche Legitimation des Untergangs der Girondisten im Konvent und zugleich auch eine Anerkennung der Revolution in ihren unterschiedlichen Phasen, vor allem mit Blick auf die jewei‐ ligen Volkserhebungen. Dem korrespondiert, dass, anders als bei Condorcet, das wurde schon im Zuge der Darstellung von Robespierres politischer Philosophie deutlich, sich die Jakobi‐ ner nicht einem legalisierten Widerstandsrecht, das dergestalt keines mehr war, da es eben Vorschriften und Regeln zu folgen hatte, zufrieden geben wollten. Die letzten drei Artikel der Erklärung definieren diesen Gegenstandsbereich: „33. Der Wider‐ stand gegen Unterdrückung ist die Folge der übrigen Menschenrechte. 34. Unterdrü‐ ckung der Gesamtheit der Gesellschaft ist es, wenn auch nur eines ihrer Glieder un‐ terdrückt wird; Unterdrückung jedes einzelnen Gliedes ist es, wenn die Gesamtheit der Gesellschaft unterdrückt wird. 35. Wenn die Regierung die Rechte des Volkes verletzt, ist für das Volk und jeden Teil des Volkes der Aufstand das heiligste seiner Rechte und die unerlässlichste seiner Pflichten.“ (Art. 33–35) Damit war das Wider‐ standsrecht nicht nur anerkannt und kodifiziert, sondern gleichzeitig sogar zu einer Pflicht geworden. Ein Schritt, den bis zum heutigen Tage nie wieder eine Verfassung gehen sollte. Der Widerstand gegen Unterdrückung, Entrechtung, Ungerechtigkei‐ ten, Widernatürlichkeiten und Unvernünftigkeiten (im Sprachgebrauch der Aufklä‐ rung), Krieg usw. wird so zum Kern der Demokratiekonzeption der Jakobiner. Der Verlauf der Revolution wird legitimiert. Das Volk der „tugendhaften Bürger“ ist der Mittelpunkt der jakobinischen Macht- und Politikanschauungen. Ein gewaltiger Sprung hin zur wirklichen Emanzipation des Menschen und des Bürgers. Zur Seite gestellt war dem Widerstandsrecht ein Petitionsrecht (Art. 32) sowie die Erklärung: „Ein Volk hat stets das Recht, seine Verfassung zu revidieren, zu verbes‐ sern und zu ändern. Eine Generation kann ihren Gesetzen nicht die künftigen Gene‐ rationen unterwerfen.“ (Art. 28) Das ist mehr oder weniger wortgleich der Artikel 33 aus Condorcets Entwurf. Es überrascht etwas, dass dieser Passus Eingang in die neue Erklärung gefunden hat, da beispielsweise Saint-Just ihn am 24. April 1793 kritisiert hatte: „Sie haben dekretiert, dass die eine Generation die andere nicht bin‐ den kann: Allein die Generationen fließen zusammen, sie befinden sich alle im Zu‐ stand der Unmündigkeit und sind zu schwach, um ihre Rechte zurück zu verlangen. Es genügt nicht, die Rechte des Menschen zu dekretieren; es kann geschehen, dass ein Tyrann sich erhebt und sich mit eben denselben Rechten gegen das Volk bewaff‐ net; und von allen Völkern würde dasjenige am meisten unterdrückt sein, welches durch eine wilde Tyrannei im Namen seiner eigenen Rechte unterdrückt ist; unter einer so mit Heiligenschein umgebenen Tyrannei würde dieses Volk ohne Verbre‐ chen nichts mehr für seine Freiheit wagen; das Verbrechen würde mit großer Ge‐
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wandtheit geübt in der Form der Religion auftreten, und die Gauner würden in das Allerheiligste eindringen.“39 Gezeigt ist damit einerseits noch einmal der Kompro‐ misscharakter der Verfassung von 1793, zum anderen aber, dass das Widerstands‐ recht so dermaßen stark gedacht wurde, dass „die Verfassung selbst“ sich „freiwil‐ lig“ Schranken der eigenen Geltung auferlegte. Der 1. Artikel der Erklärung schreibt als „Ziel der Gesellschaft“ das „allgemeine Glück“ fest. Der Zweck der Regierung bestehe darin, „dem Menschen den Genuss seiner natürlichen und unveräußerlichen Rechte zu verbürgen“. (Art. 1) Bereits mit dieser Feststellung ist klar, dass die Jakobiner das Allgemeinwohl zumindest als nor‐ mativen Maßstab über die Rechte des Individuums stellten. Immer wieder betonen Erklärung und Verfassung, dass alle Menschen von Natur aus gleich sind, so dass sie auch vor dem Gesetz gleich sein müssten, beim Zugang zu öffentlichen Ämtern usw. (bspw. Art. 3 und 5) Als natürliche Rechte werden definiert Gleichheit, Freiheit, Si‐ cherheit und Eigentum. (Art. 2) Im 7. Artikel dekretiert die Erklärung dann: „Das Recht, seinen Gedanken und Meinungen durch die Presse oder auf jede andere Art Ausdruck zu geben, das Recht, sich friedlich zu versammeln, die freie Ausübung von Gottesdiensten können nicht untersagt werden. Die Notwendigkeit, diesen Rechten Ausdruck zu geben, setzt das Vorhandensein oder die frische Erinnerung an Despotismus voraus.“ Die Verfassung garantierte diese Rechte in ihrem 122. Artikel noch einmal expli‐ zit: „Die Verfassung verbürgt allem Franzosen Gleichheit, Freiheit, Sicherheit, Ei‐ gentum, öffentliche Schuld, freie Ausübung des Gottesdienstes, allgemeinen Unter‐ richt, öffentliche Unterstützung, unbeschränkte Pressefreiheit, das Petitionsrecht, das Recht, sich in Volksversammlungen zu vereinen, den Genuss aller Menschenrechte.“ Das war sicherlich der weitestgehendste Rechtekatalog, der je in der Revolutionszeit aufgestellt worden ist. Und eben nicht nur in den jeweiligen Erklärungen der Men‐ schen- und Bürgerrechte, sondern in der Verfassung selbst. Er ist vor allem eine voll‐ umfängliche Beschämung der Bourgeoisie, ist gleichsam eine erste „Vollendung“ der frühen Errungenschaften der Revolution. Vier Jahre hatte es gedauert, bis end‐ lich das Volk in der Mitte der Revolution angekommen war. Wie dieser Artikel zu Stande kam, darüber hat Aulard anlässlich seiner Darstellung der Verfassungsdebat‐ ten berichtet: „Am selben Tag, dem 18. Juni, kam der Artikel über die Rechtsgarantien in Hér‐ aults Entwurf zur Verhandlung. 'Die Verfassung gewährleistet jedem Franzosen das Petitionsrecht, das Recht, sich in Volksvereinen zusammenzutun, den Genuss aller Menschenrechte.' Robespierre beantragte, den öffentlichen Unterricht hinzuzufügen. Boyer-Fonfrède brachte abermals die Frage der Kultusfreiheit zur Sprache, die der Konvent schon im April erörtert hatte, und beantragte, die Kultusfreiheit unter die
39 Saint-Just 1852, S. 45.
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gewährleisteten Rechte aufzunehmen. 'Reden Sie doch nicht von Kultus in der Ver‐ fassung“, entgegnete Levasseur. 'Das französische Volk erkennt keinen anderen an als den der Freiheit und Gleichheit.' Barère war anderer Meinung. 'Ich bin weder abergläubisch noch ein Mucker', sagte er, 'aber ich glaube, die Kultusfreiheit gehört zu den Menschenrechten.' Und er wies auf das Beispiel der Vereinigten Staaten hin. Robespierre jedoch erklärte, nach seiner Ansicht erlaubten die Umstände die Ver‐ kündung der Kultusfreiheit nicht. 'Ich fürchte', sagte er, 'die Verschwörer werden den Verfassungsartikel, der die Religionsfreiheit sanktioniert, zur Vernichtung der öffent‐ lichen Freiheit benutzen. Ich fürchte, die Leute, die gegenrevolutionäre Vereine bil‐ den wollen, werden das unter dem religiösen Deckmantel tun. Wenn Sie ihnen dann sagen: 'Ihr versammelt euch unter dem Vorwand des Gottesdienstes, tatsächlich aber seid ihr Verschwörer', so werden sie Ihnen antworten: 'Wir haben die Verfassung und die Gesetze für uns. Es steht euch nicht zu, an unseren Absichten zu deuteln und un‐ sere religiösen Bräuche zu stören.' Unter solcher heuchlerischen Maske könnten Ver‐ schwörer einen Anschlag gegen die Freiheit unternehmen.' Er verlangte Übergang zur Tagesordnung mit der Begründung, der Grundsatz der Meinungsfreiheit sei in der Erklärung der Rechte festgelegt. Der Girondist Boyer-Fonfrède unterstützte die‐ sen Antrag, und der Konvent nahm ihn an.“40 Später setzte sich im Konvent trotz‐ dem der 122. Artikel in der gerade zitierten Fassung durch. Das explizite Widerstandsrecht wurde bereits angesprochen und es verweist da‐ rauf, dass auch die neue Erklärung auf dem Boden des modernen neuzeitlichen Kon‐ traktualismus anzusiedeln ist. Eine These, die der 6. Artikel erhärtet: „Die Freiheit ist die Macht, die dem Menschen erlaubt, das zu tun, was den Rechten eines anderen nicht schadet; sie hat als Grundlage die Natur, als Maßstab die Gerechtigkeit, als Schutzwehr das Gesetz. Ihre moralische Begrenzung liegt in dem Grundsatz: Was du nicht willst, das man dir tue, das füg auch keinem andern zu.“ Ebenfalls kontraktua‐ listisch ist das Recht auf Selbsterhaltung, das in der bürgerlichen Gesellschaft beste‐ hen bleibt und immer dann greift, wenn das Gesetz einen nicht schützt, also zum Beispiel bei der Abwehr einer akuten Gefahr bzw. strafbaren Handlung. (Art. 11) Das Gesetz wird, durchaus im Sinne dieser Überlegungen, definiert als: „Allgemeine und persönliche Freiheit gegen die Unterdrückung durch die, die regieren“. (Art. 9) Einige weitere Momente der neuen Erklärung können im Folgenden stichpunktartig aufgezählt werden: • •
Das Gesetz ist der „freie und feierliche Ausdruck des allgemeinen Willens“, es sei, strafend und schützend, für alle gleich. (Art. 4) Alle Bürger sind zu allen öffentlichen Ämtern zugelassen. Ausschließlich Tugend und Talent dürften bei der Auswahl maßgeblich sein. (Art. 5)
40 Aulard 1924, S. 238f.
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•
• •
Die Regeln zur Justiz folgen dem Entwurf Condorcets: Bestrafung von Will‐ kür (Art. 12), Unschuldsvermutung (Art. 13), Verbindlichkeit der Gesetze (Art. 14), Relativität der Strafe zur Tat. (Art. 15). Das Volk wird als souverän anerkannt. „Die Souveränität ruht im Volk; sie ist einheitlich und unteilbar, unverjährbar und unveräußerlich.“ (Art. 25) Die Monarchie wird ausdrücklich verboten und unter Todesstrafe gestellt.41
Die neue Erklärung argumentierte ein Stück weit „moralischer“ (der Ausdruck ist hier schief, aber ein besserer nicht zur Hand) als der Entwurf Condorcets. Das zeigt sich nicht nur in der Bevorzugung der Gemeinschaft vor dem Individuum und der Definition des Allgemeinwohls und des allgemeinen Willens. Das Eigentum wird zuerst in fünf Artikeln durchaus im Sinne einer gemäßigten girondistischen Position umrissen,42 was erneut den ausgleichenden Charakter der Verfassung unterstreicht. Aber die Erklärung, man kann es durchaus pathetisch formulieren, verbreitet durch‐ aus mehr den Geist des sozialen Ausgleichs. Die „öffentliche Unterstützung“ wird als „heilige Schuld“ definiert (Art. 21) und der Unterricht als „Bedürfnis für alle“. (Art. 22) Auch dies sind keine konkreten Angaben. Und sie sind weit entfernt von dem sozialpolitischen Programm, welches Robespierre am 24. April 1793 entworfen hatte. Aber es sind normative Maßstäbe, an denen sich die tägliche Regierungspraxis messen lassen muss. Dessen waren sich die Jakobiner wohl bewusst. Nicht zuletzt, da der Konvent auch nach dem Sturz der Girondisten, nun wahrscheinlich sogar noch mehr, den sozialpolitischen Forderungen der Sansculotten, die man zu erfüllen gedachte, ebenso ausgesetzt war wie den kommunistischen Forderungen der „Rasen‐ den“ um Jacques Roux und andere, über deren Abwehr schon vor dem 31. Mai par‐ teienübergreifende Einigkeit bestanden hatte.
41 „26. Kein Teil des Volkes kann die Macht des gesamten Volkes ausüben; aber jeder Teil des souveränen Volkes, der sich versammelt, genießt das Recht, seinen Willen mit voller Freiheit auszudrücken. 27. Jedes Individuum, das die Souveränität sich anmaßen will, soll sogleich durch die freien Männer zum Tode verurteilt werden.“ (Art. 26 und 27) 42 „16. Das Recht auf Eigentum ist das, das jedem Bürger erlaubt, seine Güter, seine Einkünfte, den Ertrag seiner Arbeit und seines Fleißes zu genießen und über sie nach seinem Gutdünken zu verfügen. 17. Keine Art der Arbeit, des Erwerbes und des Handels kann dem Fleiße der Bürger verwehrt werden. 18. Jeder Mensch kann über seine Dienste und seine Zeit verfügen; aber er kann sich nicht verkaufen noch verkauft werden; seine Person ist kein veräußerliches Eigentum. Das Gesetz erkennt keine Dienstbarkeit an; nur über die Dienstleistungen und die Entschädigung dafür kann zwischen dem Menschen, der arbeitet, und dem, der ihn anstellt, eine Vereinbarung stattfinden. 19. Ohne seine Einwilligung darf niemand des geringsten Teils seines Eigentums beraubt werden, wenn es nicht die gesetzlich festgestellte öffentliche Not‐ wendigkeit erfordert, und unter der Bedingung einer gerechten und vorher festgesetzten Ent‐ schädigung. 20. Eine Steuer darf nur für den allgemeinen Nutzen auferlegt werden. Alle Bür‐ ger haben das Recht, bei der Festsetzung der Steuern mitzuwirken, über ihre Anwendung zu wachen und sich davon Rechenschaft geben zu lassen.“
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Die ersten Artikel der Jakobinerverfassung formulieren einen demokratischen Konsens, der alle Teile des Volkes und auch ihre Repräsentanten (einschließlich der Girondisten) im Konvent umfasst: • • • • •
Die Republik wird als einheitlich und unteilbar bezeichnet. (Art. 1) Die Einteilung der Republik bleibt erhalten: Gemeinde, Bezirk, Departe‐ ment. (Art. 3) Wichtigste politische Einheit sind die Urversammlungen. (Art. 2) Bürger und damit Inhaber aller Bürgerrechte ist jeder Mann über 21 Jahre.43 (Art. 4) „Das souveräne Volk ist die Gesamtheit der französischen Bürger.“ (Art. 7)
Condorcets Entwurf hatte nur zwei Möglichkeiten vorgesehen, wie man der Bürger‐ rechte verlustig werden konnte: Durch gerichtlich festgestellten Wahnsinn oder durch eine rechtmäßige Verurteilung zu Strafen.44 Die neue Verfassung bricht sicher‐ lich am deutlichsten mit dieser Festlegung, wenn die „Annahme von Ämtern oder Begünstigungen seitens einer nicht demokratischen Regierung“ (Art. 5, gerade voll‐ ständig wiedergegeben) ebenfalls zum Ausschluss aus der politischen Sphäre der bürgerlichen Welt führt. Das war nicht nur gegen die Emigranten gerichtet, gegen jedwede Konspiration mit dem Ausland und ausländischen Monarchien, gegen die Finanzierung der Konterrevolution – es war vor allem die Festschreibung der Revo‐ lution als dynamischer Prozess. Das Volk „wählt unmittelbar seine Abgeordneten. Es überträgt den Wahlmännern die Wahl der Präfekten, der Schiedsrichter, der Strafrichter und der Richter der Kas‐ sationshöfe.“ (Art. 8 und 9) Es ist augenscheinlich, dass bei Condorcet viel mehr Ämter und Mandate durch Wahlen besetzt werden sollten. Die bürgerlich-konserva‐ tiven Historiker um 1900 (genannt und benutzt wurden bereits die Werke von Au‐ lard und Hintze) wiesen gern und durchaus auch mit einem süffisanten Lächeln da‐ rauf hin, dass ausgerechnet das Werk der Jakobiner (dem, nebenbei bemerkt, wie be‐ reits mehrfach angesprochen, der gesamte Konvent und das gesamte französische Volk zustimmten) demnach un-demokratischer sei als der girondistische Entwurf 43 „4. Jeder in Frankreich geborene und ansässige Mann, der das Alter von 21 Jahren erlangt hat; jeder Ausländer, der das Alter von 21 Jahren erlangt hat, in Frankreich seit einem Jahr ansässig ist und dort von seiner Arbeit lebt oder ein Besitztum erwirbt oder eine Französin geheiratet hat oder ein Kind annimmt oder einen Greis ernährt; jeder Ausländer endlich, von dem die ge‐ setzgebende Körperschaft erklärt, dass er sich um die Menschheit besonders verdient gemacht hat, ist zur Ausübung der Rechte eines französischen Bürger zugelassen. 5. Die Ausübung der Bürgerrechte geht verloren durch Einbürgerung im Ausland; durch die Annahme von Ämtern oder Begünstigungen seitens einer nicht demokratischen Regierung; durch die Verurteilung zu ehrenrührigen oder körperlichen Strafen bis zur Rehabilitation.“ (Art. 4 und 5) 44 Condorcet 2011, Art. II-5.
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Condorcets (der ja gar nicht zu 100 Prozent die Meinung der Girondisten widerspie‐ gelte). In solchen Einschätzungen artikulierte sich in diesen Jahrzehnten vor allem die Angst der bürgerlichen Mitte und der Sozialdemokratie vor den linken sozialisti‐ schen und kommunistischen Strömungen. Von daher überrascht es nicht, dass die bürgerlich-konservativen Historiker der vorangegangenen Generationen noch eine ganz andere Einschätzung vertraten. Um ein Beispiel zu nennen: François Auguste Mignet schrieb: „Die Verfassung von 1793 errichtete eine reine Herrschaft der Men‐ ge; sie anerkannte nicht nur das Volk als alleinige Quelle aller Gewalt, sondern über‐ trug ihm auch deren Ausübung. Souveränität ohne Einschränkung, extreme Beweg‐ lichkeit der Behörden, direkte Wahlen, an denen jeder teilnehmen konnte, Urver‐ sammlungen, die ohne besondere Berufung zu einer bestimmten Zeit zusammen tra‐ ten, die Volksvertreter ernannten und ihre Tätigkeit beaufsichtigten, eine National‐ versammlung, die jährlich erneuert wurde und eigentlich nur einen Ausschuss der Urversammlungen bildete – das alles bedeutete die Verfassung.“45 Es wurde bereits deutlich, mit welchen Argumenten Robespierre, Saint-Just und andere Jakobiner das ausführliche und langwierige (vielschichtige) Wahlsystem Condorcets zurückwiesen. Der Vollziehende Rat, also die Exekutive, sollte aus 24 Mitgliedern bestehen (Art. 62), die nicht mehr direkt gewählt werden. Der kompli‐ zierte Wahlmodus Condorcets wurde durch ein Verfahren ersetzt, welches einerseits dem Volk das Recht auf Kandidatenauswahl zubilligte, andererseits aber der Legisla‐ tive den letztendlichen zentralen Zugriff gewährte: „Die Wahlversammlung jedes Departements wählt einen Kandidaten. Die gesetzgebende Körperschaft wählt aus der allgemeinen Liste die Mitglieder des Rates.“ (Art. 63) Auf diese Weise konnten dann auch all die Vorrichtungen und Vorkehrungen entfallen, die Condorcet mühsam festschreiben musste, damit die Exekutive sich nicht zu verselbständigen und gar eine eigenständige Gewalt zu bilden vermöge. Den Jakobinern ging es dabei – inklusive des gesamten Konvents – tatsächlich um Praktikabilität und um die ja auch bei Condorcet wichtige Stärkung der Legisla‐ tive. Hérault de Sechelles erklärte in diesem Sinne in seinem Bericht über die Wahl‐ versammlungen: „Man mache uns nicht den Vorwurf, die Wahlversammlungen bei‐ behalten zu haben, nachdem wir der Souveränität des Volkes und seinem Wahlrecht eine so vollendete Huldigung dargebracht hatten. Für wesentlich haben wir es gehal‐ ten, eine auffallende Verschiedenheit zwischen der Repräsentation festzusetzen, von welcher die Gesetze und die Dekrete, mit einem Wort: das Schicksal der Republik abhängen, und zwischen der Ernennung jener großen Anzahl von öffentlichen Be‐ amten, welche man, von der einen Seite, notwendig auf ihre Abhängigkeit in ihrem Ursprung und ihren Amtsverrichtungen aufmerksam machen muss, während das Volk, von der anderen, eingestehen wird, dass es in den meisten Fällen nicht im
45 Mignet 1975, S. 297.
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Stande ist, sie zu wählen, teils weil man in den Kantonen keine hinlängliche Anzahl von fähigen Individuen kennt, teils weil ihre Amtsverrichtungen nicht von gleich einfacher Natur sind, teils endlich, weil die Beleuchtung ihrer Skrutinien zu viel Zeit und Mühe kosten würde; dies war also unsere Absicht, als wir den Wahlversamm‐ lungen die Wahl aller derjenigen Amtseinrichtungen gestatteten, welche nicht zu de‐ nen eines Repräsentanten oder eines großen Nationalgeschworenen gehören wür‐ den.“46 Und über die Art und Weise des Ineinandergreifens von direkt-demokratischen und repräsentativen Momenten, über das Wahlverfahren erklärte er: „Wir glauben über die Nationalrepräsentation eine große Wahrheit in Gang gebracht zu haben, welche, wenn sie auch schon sonst bekannt war, wahrscheinlich fernerhin nicht ohne Wirkung bleiben wird: Die Wahrheit, dass die französische Konstitution nicht aus‐ schließlich repräsentativ genannt werden kann, weil sie ebenso demokratisch als re‐ präsentativ ist. In der Tat, das Gesetz ist nicht das Dekret und folglich ist der Abge‐ ordnete mit einem doppelten Charakter bekleidet. Mandatar in den Gesetzen, welche er der Sanktion des Volkes vorlegt, ist er nur Repräsentant in den Dekreten. Hieraus geht augenscheinlich hervor, dass die französische Regierung nur in allen denjeni‐ gen Dingen repräsentativ ist, welche das Volk nicht selbst zu Stande bringen kann.“47 Schließlich nahm Hérault auch zum vollziehenden Rat und dessen Ernennung Stellung: „Jetzt ein Wort von der Einsetzung des vollziehenden Rats. Ganz unseren Grundsätzen getreu, vom Volk unmittelbar nur die Deputierten und die Nationaljury, nicht aber die Vollstrecker seines Willens ernennen zu lassen, wollten wir nicht, dass der Rat seine Bestimmung im ersten Grade der Volksschaft erhielte. Besser schien es uns, dass die Wahlversammlung eines jeden Departements einen Kandidaten ernen‐ ne, um den Rat zu bilden, und dass die Minister der Vollstreckung, Hauptvollstre‐ cker genannt, außer dem Rat gewählt werden sollten: denn sie dürfen keinen Teil desselben ausmachen. Der Rat steht als Körper in der Mitte zwischen der Repräsen‐ tation und den Ministern, zur Garantie des Volks. Diese Garantie ist nicht vorhan‐ den, sobald Minister und Rat getrennt sind.“48 Die Urversammlungen sind auch in der Verfassung der Jakobiner die zentrale po‐ litische Einheit. Sie bestehen aus mindestens 200, höchstens 600 Bürgern, die seit sechs Monaten in einem Kanton wohnen. (Art. 11 und 12) Die Legislative (und alle weiteren Wahlämter) wird ausschließlich an die Bevölkerung als – „die einzige Grundlage der Nationalrepräsentation“ – gekoppelt. (Art. 21) Auf je 40.000 Perso‐ nen ist ein Abgeordneter zu wählen. (Art. 22) Wichtig war den Jakobinern, dass die Abgeordneten nicht Vertreter bestimmter Gemeinden oder Departements seien und 46 Hérault de Sechelles 1802, S. 55f. 47 Hérault de Sechelles 1802, S. 57f. 48 Hérault de Sechelles 1802, S. 58f.
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um sich herum Parteiungen errichteten (wie eben die Girondisten), sondern: „Jeder Abgeordnete gehört der gesamten Nation an.“ (Art. 29) Die Wahlversammlungen, ebenfalls ein wichtiges Element der politischen Organisation, gehen aus den Urver‐ sammlungen hervor, auf jeweils 200 Bürger ist ein Wahlmann zu ernennen. (Art. 37 und 38) Hervorzuheben ist, dass auch die Jakobinerverfassung die Unverletzlichkeit der Abgeordneten festschrieb: „Die Abgeordneten können zu keiner Zeit für die Ansich‐ ten, die sie innerhalb der gesetzgebenden Körperschaft geäußert haben, verfolgt, an‐ geklagt oder verurteilt werden.“ (Art. 43) Der Artikel überrascht, da sich ja gerade die Jakobiner immer für imperative Mandate stark gemacht, die Kontrolle der Abge‐ ordneten und Mandatsträger wichtig genommen hatten. Es handelt sich also bei die‐ sem Artikel um eines jener großen Kompromissangebote in Richtung der Gemäßig‐ ten und der Girondisten, um den Bürgerkrieg in Frankreich zum Erliegen zu bringen und die nationale Einheit nicht nur zu dekretieren, sondern tatsächlich zu ermögli‐ chen. Natürlich – ein anderes Wort wäre deplatziert und weniger sicher treffend – liegt einem konservativen Historiker wie Aulard eine solche Interpretation fern. Dieser schrieb – wieder einmal einen ideologischen, einen ideologisch motivierten und da‐ mit per se falschen Schluss aus den an sich konkreten und wichtigen Fakten ziehend – über den 15. Juni 1793, an dem dieser Artikel im Konvent beraten wurde: „Am selben Tag tauchte bei der Beratung des Artikels des Entwurfs: 'Die Abgeordneten dürfen wegen ihrer in der gesetzgebenden Körperschaft geäußerten Ansicht niemals belangt, angeklagt oder verurteilt werden', die schon im September 1792 bei den Konventswahlen erörterte Frage der Abrufbarkeit der Abgeordneten durch das Volk wieder auf. 'Wie', sagte Rühl, 'die Abgeordneten dürfen ungestraft royalistische An‐ sichten äußern?' Dürfen sie, fragte Thuriot, föderalistische Ansichten ausdrücken? Basire forderte die Einsetzung eines Volksgerichts zur Verurteilung der Abgeordne‐ ten, die einen Tyrannen ernennen wollten. Robespierre trat dieser Ansicht bei, fragte aber, durch welche praktischen Mittel sie sich verwirklichen ließe. Vielleicht, sagte er, könne man die ausscheidenden Abgeordneten vom Volk richten lassen. Er bean‐ tragte die Verweisung dieses Gedankens zur Prüfung an den Wohlfahrtsausschuss. Der Konvent nahm den Artikel in Héraults Fassung an und versagte damit dem Volk das noch vor kurzem von vielen Demokraten beanspruchte Recht, seine Vertreter ab‐ zuberufen, wenn sie gegen ihr Mandat zu verstoßen schienen.“49 Die gesetzgebende Körperschaft, also die Legislative, wird als „einheitlich, un‐ teilbar und immerwährend“ definiert. (Art. 39) Eine Sitzungsperiode soll ein Jahr dauern und jeweils am 1. Juli beginnen. (Art. 40 und 41) Konstituieren kann die Ver‐ sammlung sich nur, wenn mindestens die Hälfte der Abgeordneten vor Ort ist.
49 Aulard 1924, S. 235.
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(Art. 42) Für Beschlüsse müssen mindestens 200 Mitglieder anwesend sein. (Art. 47) Die Sitzungen sollen öffentlich sein. (Art. 45) Wie er sich das vorstellte, hatte Ro‐ bespierre ja mit seinem Vorschlag eines gigantischen Versammlungsortes mit so vie‐ len Zuschauern, Beobachtern wie möglich dargelegt. „Die gesetzgebende Körper‐ schaft schlägt Gesetze vor und erlässt Dekrete.“ (Art. 53) Im Unterschied zu den De‐ kreten50 gelten als Gesetze „Verfügungen der gesetzgebenden Körperschaft, die be‐ treffen: die Zivil- und Strafgesetzgebung; die allgemeine Verwaltung der gewöhnli‐ chen Einnahmen und Ausgaben des Staates; die Nationalgüter; den Feingehalt, den Münzfuß, das Gepräge und die Benennung der Münzen; die Art, die Höhe und die Erhebung der Steuern; die Kriegserklärung; jede neue allgemeine Einteilung des französischen Gebietes; den öffentlichen Unterricht; die öffentlichen Ehrungen zum Gedächtnis großer Männer.“ (Art. 54) Auf den ersten Blick klingt dies nach einer Aufzählung, die erneut Konsenscha‐ rakter mit Blick auf die entmachtete Gironde anzeigt. Dies trifft auch zu – bis auf eine Ausnahme: „Wie man sieht, glaubte der Konvent die Kriegserklärung zu den Gesetzen rechnen, d. h. sie der Bestätigung durch das Volk unterwerfen zu müssen. Diese Abänderung war von erheblicher Tragweite. Damit wurde jeder Angriffskrieg fast ausgeschlossen, wurden die friedlichen Grundsätze der Verfassungsgebenden Versammlung sanktioniert, wurden beinahe die von der Gesetzgebenden Versamm‐ lung und vom Konvent selbst erlassenen Kriegserklärungen verleugnet. Dagegen entzog der Konvent, entgegen Héraults Entwurf, die 'gewöhnliche Verwaltungsge‐ setzgebung' der Bestätigung des Volkes.“51 Was Aulard nicht anspricht (es sei dahin‐ gestellt – ob aus Vergesslichkeit oder mit Absicht) ist natürlich die Feststellung, dass dieser Passus dadurch radikal anti-girondistisch ist, als er die von Robespierre ver‐ tretene Friedenspolitik der Jakobiner fortsetzt. Denn es waren ja die Girondisten, die Frankreich mit aller Macht und Energie in den Krieg gezerrt hatten – gegen den Wi‐ derspruch nur von Robespierre, Marat und einer Handvoll um diese beiden versam‐ melten Getreuen. Da Aulard (und in seiner Nachfolge weitere konservative Histori‐ ker) ja immer wieder fragen, wo eigentlich die Differenzen zwischen dem Entwurf 50 „Mit dem besonderen Namen 'Dekret' werden die Verfügungen der gesetzgebenden Körper‐ schaft bezeichnet, die betreffen: die jährliche Feststellung der Streitkräfte zu Wasser und zu Lande; die Genehmigung oder das Verbot des Durchmarsches fremder Truppen durch französi‐ sches Gebiet; die Einfahrt fremder Seestreitkräfte in die Häfen der Republik; Maßnahmen der allgemeinen Sicherheit und Ruhe; die jährliche und augenblickliche Verteilung der Unterstüt‐ zungen und öffentlichen Arbeiten; die Anordnungen für die Herstellung von Geld jeder Art; unvorhergesehene und außerordentliche Ausgaben; örtliche oder besondere Maßnahmen für eine Verwaltung, eine Gemeinde oder eine Art öffentlicher Arbeiten; die Landesverteidigung; die Ratifikation der Verträge; die Ernennung und Abberufung der Oberbefehlshaber der Arme‐ en; die Verfolgung der Verantwortlichkeit der Mitglieder des Rates und der öffentlichen Beam‐ ten; die Anklage gegen Personen, die der Verschwörung gegen die allgemeine Sicherheit der Republik beschuldigt werden; jede teilweise Änderung der Einteilung des französischen Ge‐ biets; die Nationalbelohnungen.“ (Art. 55) 51 Aulard 1924, S. 237.
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Condorcets und der Jakobinerverfassung liegen (abgesehen von der Tatsache, dass man Condorcets Text als angeblich demokratischer verklärt): Nun, sie liegen in die‐ sen Details, die so wirkmächtig das Ganze der Politik, von Theorie und Praxis be‐ stimmen, dass selbst die Konservative sich hin und wieder genötigt sieht, diese Punkte – etwas peinlich berührt, jedoch mit dem Mut zur Verdrehung und „Interpre‐ tation“ – anzusprechen. Aber es gilt, noch einmal zum 53. Artikel zurückzukehren, in dem es ja heißt, dass die Legislative Gesetze „vorschlägt“. Was genau damit gemeint ist, erklärt der Abschnitt „Von der Entstehung von Gesetzen“. Die Artikel lauten: • • • •
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„56. Gesetzesvorschläge werden von einem Bericht begleitet. 57. Erst 14 Tage nach dem Bericht kann die Diskussion eröffnet und das Ge‐ setz provisorisch beschlossen werden. 58. Der Vorschlag wird gedruckt und allen Gemeinden der Republik unter der Aufschrift 'Vorgeschlagenes Gesetz' übersandt. 59. Wenn 40 Tage nach Übersendung des vorgeschlagenen Gesetzes in der um eines größeren Hälfte der Departements ein Zehntel ihrer regelmäßig ge‐ bildeten Urversammlungen nicht reklamiert hat, ist der Vorschlag angenom‐ men und wird 'Gesetz'. 60. Wenn eine Reklamation erfolgt, beruft die gesetzgebende Körperschaft die Urversammlungen ein.“ (Art. 56–60)
Das Parlament erlässt keine Gesetze, es schlägt sie vor. Ein kompliziertes Abstim‐ mungsverfahren entfällt, da der Widerspruch durch die Verfassung geregelt ist. In der Hälfte der Departements müssen sich 10 Prozent der Bürger gegen das Gesetz aussprechen, um dieses zu Fall zu bringen. Ein Verfahren, das sicherstellt, dass bei den wirklich wichtigen Angelegenheiten tatsächlich im Sinne des Volkes gehandelt wird und damit der Allgemeinwille im Sinne der Jakobiner (als – Rousseau konter‐ karierend – Wille der Majorität) vollstreckt werden kann. Wie schon bei dem Wider‐ standsrecht bleibt auf diese Weise das Volk tatsächlich Träger der Souveränität und kann diese auch außerhalb der Wahlen jederzeit ausüben. Im Kontext dieser Ausfüh‐ rungen wird dann auch klar, warum die Jakobinerverfassung die Legislative so sehr stärkt, dass sie die Exekutive nicht wie Condorcet aus Wahlen hervorgehen lässt. Es war letztlich die einzige Möglichkeit, eine machtvolle (und nicht ohnmächtige, po‐ tentiell gar abhängige) Legislative zu garantieren, obwohl im Prinzip das Volk das letzte Wort zu allen Gesetzen hat. Die wesentlichen Charakteristika der Verfassung von 1793 sind auf den zurück‐ liegenden Seiten deutlich geworden. Stichpunktartig können nun abschließend noch einige weitere Elemente der Verfassung aufgezählt werden:
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Die Gemeinden bleiben als politische Einheit erhalten, die Beamten werden gewählt. (Art. 78 und 79) Das bürgerliche und das Strafgesetzbuch gelten ohne Ausnahmen in der gan‐ zen Republik. (Art. 85) Es gibt Friedensrichter, deren Arbeit kostenlos ist. (Art. 88 und 89) Das Strafsystem ist analog dem Entwurf Condorcets geregelt. Alle Bürger sind steuerpflichtig, dies wird als „ehrenvolle Verpflichtung“ de‐ finiert. (Art. 101) Das ganze Volk wird als Streitmacht der Republik festgesetzt. (Art. 108) „Alle Franzosen sind Soldaten. Alle werden im Gebrauch der Waffen geübt.“ (Art. 109) Außerdem gibt es ein stehendes Heer. (Art. 108) Verfassungsrevision analog der Gesetzerstellung. (Art. 115 bis 117) „Das französische Volk ist der Freund und natürliche Verbündete aller freien Nationen.“ (Art. 118) Nichteinmischungspolitik. (Art. 119) Asylrecht für alle politisch Verfolgten. (Art. 120)
Es ist zudem anzumerken, dass zumindest am Schluss dieser Ausführungen das Ge‐ ständnisses nottut, dass der verwendete Topos von der „Verfassung der Jakobiner“ ein Stück weit irreführend ist. Ein besserer Begriff ist zur Differenzierung zwischen den verschiedenen Entwürfen nicht zur Hand. (Die Praktikabilität zwingt, wie auf den zurückliegenden Seiten gesehen, nicht nur den Verfassungstheoretiker, sondern auch den Wissenschaftler.) Denn letztendlich stimmte das ganze Volk über die Ver‐ fassung ab und dieser schließlich zu. Im Konvent saßen nicht nur die Männer des Berges, sondern auch nach den Unruhen des 31. Mai nach wie vor zahlreiche Gemä‐ ßigte, auch Girondisten wusste die Versammlung noch in ihren Reihen. Natürlich war der Einfluss der Jakobiner maßgebend, nicht zuletzt mit der durch sie repräsen‐ tierten Macht der Straße im Hintergrund. Aber verschiedene Beschlüsse und Initiati‐ ven fanden auch im Konvent breite Zustimmung (und zwar auf freiwilliger Basis). Und manches von dem, was 1793 festgeschrieben oder dekretiert wurde, wider‐ sprach den Ansichten der Jakobiner sogar. Nicht zuletzt verschiedene Überlegungen zur Verfassungsproblematik. (Das zeigen ja gerade die Differenzen zwischen den Idealen der Reden Robespierres und der Praxis der Verfassung.) Die Jakobiner un‐ terbreiteten mit der Verfassung ein Friedensangebot an die Gemäßigten und die ver‐ bliebenen Girondisten. Von daher überrascht es nicht, dass diese an der Verfassung trotz der Verhaftung ihrer führenden Mitgliedern mitarbeiteten. Für die Girondisten erklärte der Abgeordnete Daunou: „Wir waren berufen, eine Verfassung zu redigieren (…). Als wir nun (…) gegen Mitte Juni zu dieser Arbeit aufgefordert wurden, gerade von denen, die bis dahin al‐ 234
le Mittel ihrer aufrührerischen Taktik angewandt hatten, um sie zu verzögern, da folgten wir sofort einem Impuls, der ganz im Einklang mit unseren Pflichten auf ein so heilsames Ziel gerichtet war; wir wollten uns nicht darum kümmern, von welcher Seite dieser Impuls ausging. Obgleich Couthon, Hérault und Saint-Just die Hauptre‐ daktoren des uns vorgelegten Projekts waren; obgleich dieses hastig redigierte Pro‐ jekt weniger einer Verfassung glich, als einem Programm politischer Gesetze; ob‐ gleich man es im Konvent mit unpassender Eile diskutierte während der Abwesen‐ heit und der Gefangenschaft von 30 Gesetzgebern, die das Volk beauftragt hatte, mit uns zu diesem wichtigen Werk zusammenzuarbeiten; obgleich wir selbst meistens mit Schmähungen oder sogar mit Gewalt zurückgestoßen wurden, wenn wir an die‐ ser Diskussion teilnehmen wollten – opferten wir doch alle diese und viele andere Erwägungen der Friedensliebe, den drängenden Umständen, dem Wunsche, das Un‐ glück des Vaterlandes wenigstens durch eine Verfassung aufgehalten zu sehen, die zweifellos unvollkommen war, die aber in günstigeren Zeiten verbessert werden konnte und die mittlerweile die Geister den meisten Grundsätzen der Freiheit und Gleichheit zu gewinnen hatte, auf denen eines Tages das allgemeine Glück beruhen sollte.“52
52 Zit. bei: Hintze 1989, S. 448f.
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8. Zwei linke Alternativen: Die Wut des Jacques Roux und die Genossenschaftsidee des François-Joseph L'Ange
Es klang bereits an, dass es der im Konvent verabschiedeten Verfassung gelang, nicht nur einen innerparlamentarischen Kompromiss – zwischen Bergpartei, den verbliebenen Girondisten und den Gemäßigten – herzustellen, sondern dass auch die große Mitte der französischen Gesellschaft in der nun kodifizierten einheitlichen und unteilbaren französischen Republik zusammenrückte, von dem Verfassungswerk quasi wie von einer Klammer umschlossen und zusammengehalten wurde. Wo von einer Mitte gesprochen wird, ist freilich immer mitgedacht, dass es die Pole auch noch gibt. Der rechte Rand machte das, was er seit Anbeginn der Revolution getan hatte: Er schürte die Konterrevolution, den Bürgerkrieg, er konspirierte mit Adel, Emigranten und eidverweigernden Priestern, er kämpfte mit Waffengewalt in seinen Zentren gegen jedwede Hoffnung und gegen jeden Humanismus des Volkes. Die Herrschaft der Jakobiner war bis zu ihrem Sturz auch die Politik der heroischen tat‐ sächlichen Einigung Frankreichs – unter Einbeziehung aller Demokraten und Repu‐ blikaner aus allen Schichten des Volkes. Auch dies ist ein Grund für den 9. Thermi‐ dor. Innerer Frieden war noch nie gut, schon gar nicht von Interesse für die Bour‐ geoisie. Der ideologisch linke Rand war kleiner als der rechte – und er verstieg sich nicht auf Mord und Totschlag, sondern auf Reden. Als Beispiel kann das Augenmerk im Folgenden auf das Manifest der Enragés gelegt werden, das Jacques Roux am 25. Juni vortrug.1 Der große Historiker Walter Markov hat sich um die Entschlüsse‐ lung der Biographie und die Edition der Schriften Roux' mehr als nur verdient ge‐ macht. Er war es maßgeblich, der den „rasend gewordenen Priester“ dem Dunkel der Geschichtsschreibung entzog: „Innovativ für die revolutionstheoretische Forschung insgesamt“.2 Markov verfasste eine Vielzahl von Aufsätzen und Publikationen zu Roux, er bemühte sich auch intensiv um die Edition von dessen Schriften. Die im‐ mense Bandbreite dieses Schaffens kann hier nicht angegeben werden. Jeder, der den Namen Markov in einem Bibliothekskatalog recherchiert, wird schnell fündig werden. Der Verfassungsvorschlag Héraults de Sechelles wurde, wie gesehen, knapp zwei Wochen lang Tag für Tag und Artikel für Artikel diskutiert. Dadurch war er gerade in Paris das Gesprächsthema des Tages, die Verfassungsgebung war aus dem Schat‐ ten herausgetreten und Teil des öffentlichen Denkens geworden. Jacques Roux, der 1 Verwendet wird die Ausgabe: Roux 1985, S. 147–156. 2 Middell 1998, S. 148.
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„Sprecher“ der Enragés, schaltete sich in die Debatte ein. „Das Manifest der Enra‐ gés entsprang keiner unbedachten Aktion. Jacques Roux unterbreitete seine Ideen nicht allein der Bürgervollversammlung der Gravilliers, sondern holte darüber hi‐ naus die Zustimmung der Nachbarsektion Bonne-Nouvelle ein. Vor allem aber trug er sie seinem Club der Cordeliers vor, der einen Ausschuss aus zwölf Mitgliedern benannte, die der Denkschrift letzte Politur geben sollten. Unter ihnen befanden sich die beiden 'anderen' Enragés: Jean-François Varlet und Théophile Leclerc.“3 Das Manifest ist insofern Gemeinschaftsarbeit, als es an Prägnanz die weiteren Schriften Roux' übertrifft, aber der Inhalt ist zu 100 Prozent sein originäres Denken. Am 23. Juni, kurz vor der Annahme der Verfassung, wollte Roux seine Gedanken dem Konvent vorstellen. „Robespierre durchkreuzte das Vorhaben und unterbrach den Redner: 'Individuelle' Petitionen seien auf der nächsten Sitzung zu verlesen. Am 24. aber wurde das Verfassungswerk mit der Annahme der letzten Artikel – vorbe‐ haltlich der Zustimmung des Souveräns Volk in den Urwählerversammlungen – ab‐ geschlossen; ein Volksfest fand im Anschluss daran statt, und Jaques Roux hinkte, als er am Abend des 25. endlich zum Zuge kam, einer vollendeten Tatsache nach. Trotzdem schlug seine Petition mit Getöse ein und ihre ersten Takte dröhnten in der Geschichte fort.“4 Dass die Verfassung tatsächlich ein umfassender Kompromiss der unterschiedli‐ chen Strömungen war, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der Konvent ziemlich ein‐ mütig die Anliegen Roux' zurückwies. Dabei ging es nicht um die, wenn man so will, kommunistischen oder egalitären Anschauungen. Diese gab es schon davor und sie existierten auch noch nach der Annahme der Verfassung. Babeuf schließlich brachte sie in den Zeiten der Konterrevolution mit seiner Verschwörung ein letztes Mal zum Strahlen.5 Was wirklich störte waren andere Sachen: „Bewegung entstand im Saal der Tuilerien und steigerte sich zum Sturm, als sich der Petitionär zum Zen‐ sor des französischen Kapitols aufwarf. Dies allerdings hat er am krassesten durch die Wahl seiner Ausdrucksmittel markiert. Jacques Roux mahnte zwar formal nur Ergänzungen zu dem Dokument an, verheimlichte aber nicht, dass er mehr zu über‐ bringen gedachte als eine Geburtstagsadresse. Er legte es schon darauf an, der Ver‐ sammlung vorzuhalten, wie wahre Umwälzung der Verhältnisse auszusehen hatte und was sie bisher – trotz Montagne – nicht war, worunter sich die Unterscheidung zwischen Volksrevolution und Revolution der Bourgeoisie verbarg. Die Tonlage der Rede war folglich von ihrem Gehalt nicht zu trennen. Nur in dieser Verbindung schlug sie – gewollt – explosiv ein. Das Protokoll vermerkte: Der Redner 'kombinie‐ re' das alte und das neue Regime durch hinterhältige Vergleiche. Er beunruhige das Volk, entmutige Industrie und Gewerbe. Wer die Verfassung nicht liebt, schmetterte 3 Markov 1985, S. 19. 4 Markov 1985, S. 20. 5 Siehe die bereits erwähnten Memoiren von: Buonarroti 1909.
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Konventspräsident Collot d'Herbois, verleumdet ihre Freunde. Thuriot nannte Roux einen frevelhaften Pfaffen, der mit seiner Weissagung von 20 Jahren Krieg Frank‐ reich die Zuversicht raube. Robespierre zählte seine Silben: 'Das Motiv gab sich volksmäßig, im tiefsten aber war es Brandstiftung.' Linke wie Billaud-Varenne und Rechte wie Charlier, der den Petitionär gar verhaftet wissen wollte, ergänzten den Chor.“6 In den folgenden Tagen hielten die Debatten um das Manifest der Enragés weiter an. Die Presse bezog vor allem die Positionen des Konvents, aber die beiden Sektio‐ nen, die Roux legitimiert hatten, standen noch hinter ihm. Am 27. Juni kam es bei der Versammlung der Cordeliers zu begeisterten Lobeshymnen auf Roux. Die ganze Kampagne zog sich bis in den Juli hin. Sogar Marat, dessen Zeitung Roux nach der Ermordung des Volksfreundes in einem Handstreich übernehmen sollte,7 argumen‐ tierte gegen den Rasenden. Robespierre selber griff nach der Versammlung der Cor‐ deliers in den schwelenden Streit ein. Er „empörte sich im Klub über die Unver‐ schämtheit des priesterlichen 'Ultrapatrioten', dem Konvent Lehren zu erteilen; der unter dem Vorwand, der Verfassung fehle ein Artikel gegen die Schieber, reduziere, sie fromme dem Volk nicht, für das sie geschaffen wurde. Statt sich nach der Zu‐ rechtweisung unauffällig zurückzuziehen, trommle er die hoch gerühmten Cordeliers zusammen. Glaube jemand, der Pfaffe, der im Gleichklang mit den Österreichern die edelsten Patrioten verleumdet, könne reine Absichten hegen? Der Unbestechliche wäre nicht dafür zu schelten, dass ihm der Zweck das Mittel heiligte. Er musste Frankreich aufhelfen, und das war im Sommer 1793 eine verzweifelte Sache. Aber musste denn Krieg sein mit den Enragés, die ihn nicht wollten? Musste Robespierre darauf beharren: Wir und nur wir sind die Revolution?“8 Albert Soboul, mit Markov eng befreundet,9 beschrieb die Situation wie folgt: „Schon Anfang August begann Robespierre den Kampf gegen die Enragés, um ihre Opposition gegen Regierung und Konvent auszuschalten. Am 6. August 1793 wand‐ te er sich bei den Jakobinern gegen die Emporkömmlinge, die Eintagspatrioten, die alles daran setzten, seine ältesten Freunde beim Volk anzuschwärzen. 'Zwei von den Volksfeinden bezahlte Männer', erklärte Robespierre hintergründig, 'zwei von Marat angeklagte Männer haben die Nachfolge dieses patriotischen Schriftstellers angetre‐ ten oder glauben, es zu tun.' Jacques Roux warf er vor allem seine Angriffe gegen 6 Markov 1985, S. 20f. 7 „Es mag halsbrecherisch, ja, skrupellos erscheinen, wenn Jacques Roux schon drei Tage darauf (nach der Ermordung Marats, AH), soeben noch als 'Mordgehilfe' verdächtigt, Marats Publiciste an sich riss, indem er der letzten Nummer 242 die 243 eines anonymen 'Schatten Marats' folgen ließ. Er legte die Trennungswand mittels einer moralischen Usurpation nieder. War es aber nicht das Beste an Marats Gedanken, das sein 'Schatten' dem ewigen Schlaf entriss? Jener Marat, den ein Volk zu seinem Revolutionsheiligen erkor, während die Bourgeois über den Verbleib von Gebein und Eingeweide zankten?“ (Markov 1985, S. 24f.) 8 Markov 1985, S. 22. 9 Siehe die Ausführung bei: Grab 1993, S. 23–27.
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die Händler vor. Um den Enragés den wichtigsten Punkt ihrer Argumente zu neh‐ men, befasste sich der Ausschuss (der Wohlfahrtausschuss, AH) aktiv mit dem Ver‐ sorgungsproblem und schickte energische Abgesandte in die Nachbardepartements von Paris, die dort Arbeitskräfte zum Dreschen des Korns zwangsverpflichteten. Auf den Vorschlag von Barère beschloss der Konvent am 9. August 1793 die Einrich‐ tung eines Vorratslagers in jedem Bezirk. Dies war eine fadenscheinige Konzession an die Forderungen des Volkes: Die Kornkäufe durch die Bezirke konnten der Teue‐ rung keineswegs abhelfen. Paris wurde immerhin mit Lebensmitteln versorgt; die Enragés verloren eine Zeit lang ihr Hauptargument gegenüber den Sansculotten.“10 Die einleitenden Sätze des Manifests entfalten noch heute ihre ganze Sprachge‐ walt. Sie sind hier in einem längeren Zitat wiederzugeben: „Abgeordnete des franzö‐ sischen Volkes! Hundertmal wurden in diesem hohen Haus die Verbrechen der Ei‐ gennützigen und Gauner laut; immer wieder habt ihr uns versprochen, den Blutsau‐ gern des Volkes das Handwerk zu legen. Nun wird das Verfassungswerk dem Souve‐ rän zur Bestätigung übergeben. Habt ihr darin das Spekulantentum geächtet? Nein. Habt ihr die Todesstrafe für Schieber ausgesprochen? Nein. Habt ihr bestimmt, wo‐ rin die Freiheit des Handels besteht? Nein. Habt ihr den Verkauf von Edelmetallgeld verboten? Nein. Nun, so erklären wir euch, ihr habt für das Glück des Volkes nicht genug getan. Die Freiheit ist ein leerer Wahn, so lange eine Menschenklasse die an‐ dere ungestraft aushungern kann. Die Gleichheit ist ein leerer Wahn, so lange der Reiche mit dem Monopol das Recht über Leben und Tod seiner Mitmenschen aus‐ übt. Die Republik ist ein leerer Wahn, so lange Tag für Tag die Konterrevolution am Werk ist, mit Warenpreisen, die drei Viertel der Bürger nur unter Tränen aufbringen können. (…) Nur wenn ihr die Lebensmittel für die Sansculotten erschwinglich macht, werdet ihr sie für die Revolution gewinnen und sie um die Verfassung scha‐ ren.“11 Markov hat darauf hingewiesen, dass diese sozialpolitische Anklage den Konvent bei der Verlesung eigentlich nicht störte. „Das Protokoll bezeugt, dass sich die Ver‐ sammlung zu jenen sozialrevolutionären Sprüchen, die vorzugsweise unsere Auf‐ merksamkeit erregen, halbwegs gelassen schnäuzte. Jacques Roux ist von der plebe‐ jisch-egalitären Grundanschauung über Armut und Reichtum, über Ausbeutung und Unterdrückung nicht abgewichen. Das war revolutionäres Gemeingut; linke Jakobi‐ ner und noch die Robbespierristen konnten hierin den Enragés auf halbem Wege ent‐ gegenkommen.“12 Aber sie war dennoch ein gewaltiger Aufschrei. Denn Roux hatte erkannt, dass die Jakobinerverfassung eine bürgerliche Verfassung war, den Sanscu‐ lotten zwar politisch und teilweise auch ökonomisch-sozialökonomisch manchen Wunsch erfüllte und alte Hoffnungen einlöste, aber nicht „den“ entscheidenden 10 Soboul 1983, S. 292. 11 Roux 1985, S. 147. 12 Markov 1985, S. 20.
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Schritt in Richtung Kommunismus darstellte. Seit ihrer Machtausübung und bis zu ihrem Ende versuchten die Jakobiner vieles, um den sozialen Zusammenhalt der Ge‐ sellschaft zu stärken und den Armen entgegenzukommen. Dekret um Dekret be‐ schäftigte sich mit dem Hunger, mit Höchstpreisen, mit der Lebensmittelversorgung usw. Aber all dies waren, dies sah Roux richtig, reformistische Maßnahmen. Der Pa‐ tient bürgerliche Gesellschaft wurde operiert und immer wieder zusammengeflickt, mit Bluttransfusionen am Leben erhalten. Die Enragés hatten ihm schon längst sein Grab geschaufelt, das sich schließlich doch nur als leere Grube entpuppte – und schlussendlich ihnen selbst als letzte Behausung dienen sollte. Wichtig ist, dass Roux das Ende der Girondisten und den Beginn der Herrschaft der Jakobiner als historische Zäsur betrachtete, dank derer, seit der man eigentlich zu neuen Ufern vorstoßen könne bzw. müsse: „Heute, da der Nationalkonvent zu Kraft und Würde gelangt ist, braucht er das Gute nur zu wollen, um es durchzusetzen. So beschwören wir euch denn im Namen des Heils der Republik: Belegt mit Hilfe der Verfassung Spekulanten und Schiebertum mit dem Bannfluch und erklärt zum allge‐ meinen Grundsatz, dass der Handel nicht darin besteht, die Bürger zu ruinieren, zur Verzweiflung zu treiben und auszuhungern. Seit vier Jahren ziehen allein die Rei‐ chen Nutzen aus der Revolution. Die Handelsaristokratie, schlimmer als die adlige und geistliche Aristokratie, hat sich ein grausames Spiel daraus gemacht, die priva‐ ten Vermögen und die Schätze der Republik an sich zu reißen.“13 Doch die Verfassung sei nicht die Einlösung dieser Hoffnungen. „Was denn! Soll das Eigentum der Gauner unverletzlicher sein als das Menschenleben?“14 Die Ver‐ fassung versage, trotz vieler Erfolge auf anderen Gebieten,15 bei ihrem wichtigsten Auftrag: Den sozialen Frieden zu bringen und auf Dauer zu garantieren. Der erneu‐ erte Konvent habe die Aufgabe, den sozialen Ausgleich in Angriff zu nehmen. Nicht zuletzt, um das Volk für seine revolutionäre Tätigkeit zu entlohnen bzw. dafür zu eh‐ ren: Den Konventsmitgliedern sagte er: „Habt keine Furcht, dem Volk zum Glück zu verhelfen! Wahrhaftig, das Volk war niemals berechnend, wenn es darum ging, alles für euch zu tun. Namentlich in den Tagen des 31. Mai und 2. Juni hat es euch be‐ wiesen, dass es die ganze Freiheit wollte. Gebt ihm dafür Brot und ein Dekret. (…) Sobald es im Verfassungswerk ein klares, unmissverständliches Gesetz gegen Spe‐ kulanten und Schiebertum hat, wird es sehen, dass euch die Sache der Armen mehr am Herzen liegt als die der Reichen.“16
13 Roux 1985, S. 148. 14 Roux 1985, S. 149. 15 „Noch einmal also, erklärt euch! Die Sansculotten mit ihren Piken werden eure Beschlüsse ausführen. Ihr habt nicht gezaudert, jenen den Tod anzusagen, die es wagen würden, einen Kö‐ nig vorzuschlagen, und ihr tatet recht. Ihr habt soeben die Konterrevolutionäre außer Gesetz gestellt, die in Marseille die Schafotte mit dem Blut der Patrioten färbten, und ihr tatet recht.“ (Roux 1985, S. 149.) 16 Roux 1985, S. 150.
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Im Prinzip sprach Roux mit seinen Worten dem Konvent im Allgemeinen und den Jakobinern im Speziellen das Recht ab, für das Volk zu sprechen. Eine Aufgabe, die er übernehmen müsse. (Erst nach dem Sturz der Gironde war solches Denken überhaupt möglich.) Das in der Verfassung kodifizierte „allgemeine Glück“ oder „allgemeine Wohl“, die immer wieder bemühte „Gleichheit“ – sie seien nur zu errei‐ chen durch eine tatsächliche Hinwendung zum und Artikulation des „allgemeinen Willens“, dessen Inhalt Roux und die Seinen besser zu kennen glaubten als die ande‐ ren.17 Was übrigens – als Sendungsbewusstsein – durchaus an Rousseau erinnert. „Ist es denn nicht genug, dass eure Vorgänger, größtenteils schändlichen Angeden‐ kens, uns Monarchie, Spekulantentum und Krieg hinterließen; müsst ihr uns noch Blöße, Hunger und Verzweiflung hinterlassen? (…) Abgeordnete der Montagne, nein und nochmals nein, ihr werdet euer Werk nicht unvollendet lassen. Ihr werdet die Fundamente des Staatswohls legen und den allgemeinen Grundsätzen zur Unter‐ drückung des Spekulanten- und Schiebertums Gesetzeskraft verleihen.“18 Walter Markov schrieb über das Manifest und die sich anschließende Debatte: „Jacques Roux hatte dem Konvent die Schlacht seines Lebens geliefert und verloren. Nur zu deutlich hatte Robespierre klargestellt, dass sich die Montagne zu allerletzt vom En‐ ragé das Wasser abgraben ließ. Wer Jaques Roux nun damit erledigt glaubte, versah sich gründlich. In Unehren vom Platz gewiesen, trat er einen geordneten Rückzug an und kam auf sein Anliegen zurück.“19 Im Laufe der darauf folgenden Wochen ließ sich Roux dann aber von der allge‐ meinen Aufbruchstimmung anstecken. Er teilte jene Äußerungen, die die Verfassung als allgemeines Heilswerk ansahen, hatte wahrscheinlich auch erkannt, dass die Stimmung in der Bevölkerung und in Paris der Verfassung positiv gesonnen war. In der 247. Nummer des Publiciste schrieb er (25. Juli 1793): „Noch vor Ablauf von drei Wochen wird die Verfassung unter der Standarte von Gesetzen, die euer Werk sind, verkündet werden; werdet ihr Freiheit und Glück genießen; werdet ihr nicht mehr gegen die Schieber kämpfen müssen, die ohne Gnade das Recht über Leben und Tod üben. Keine privilegierten Gesellschaften werden sich mehr des Handels mit Lebensmitteln und Waren aller Art bemächtigen und willkürlich den Preis für Waren des täglichen Bedarfs festsetzen – da wird kein Zwischenhändler mehr sein zwischen dem Bauern und dem Verbraucher. (…) Es sind die Handelsgesellschaften, die durch ein mörderisches Monopolsystem den Handel lähmen, die Spekulation be‐ 17 „Freilich wissen wir: Es gibt Übel, die bei einer großen Revolution unausbleiblich sind; es gibt kein Opfer, dass man nicht für den Sieg der Freiheit bringen muss; und die Freude, in einer Republik zu leben, kann man nicht zu teuer bezahlen. Aber das wissen wir auch: Durch zwei Gesetzgebende Versammlungen wurde das Volk verraten; die Fehler der Verfassung von 1791 waren eine Quelle öffentlichen Unheils; und es wird Zeit, dass der Sansculotte, der das Zepter der Könige zerbrach, ein Ende der Aufstände und jeglicher Tyrannei sieht.“ (Roux 1985, S. 154.) 18 Roux 1985, S. 155. 19 Markov 1985, S. 21.
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günstigen, die Unruhe auf den Höhepunkt treiben und Hungersnot und Verzweiflung verbreiten. Es sind die Vollmachten (die weiter nichts sind als Diplome für Diebe), die die Lebensmittel auf den Höchstpreis gebracht haben, auf dem sie jetzt stehen; mit einem Wort: Sie sind es, die die öffentlichen Speicher mit heißgewordenem und schlecht ausgewähltem Mehl verseucht haben. … Verfassung, Verfassung! Komm uns schnell zu Hilfe!“20 Soweit Roux in Erwartung jenes gigantischen Festes vom 10. August, das der Ze‐ lebrierung der neuen Verfassung diente. (Hierzu später ausführlich.) Markov sprach davon, dass seine „projakobinische Stützungspolitik“21 nur einige Tage später ihren Höhepunkt erreichte. Deutlich wird, dass sich Roux nun die sukzessive Erfüllung seiner Vorstellungen durch die Verfassung erwartete. Das war sicherlich auch den in‐ neren politischen Ereignissen geschuldet, zu denken ist beispielsweise an den 13. Juli: Nicht nur der Tag der Ermordung Marats, sondern auch des Triumphs von Pariser Freiwilligenverbänden über die Truppen der Gironde. Nachdem der innere Frieden möglich war, sollte der soziale folgen. Eine Hoffnung, die Roux, mittlerwei‐ le Insasse des Gefängnisses gewesen und wieder entlassen,22 sehr schnell verfliegen sah. Ende August kehrte (im Publiciste) die Anklage zurück: „Niemals hat es eine gesetzgebende Versammlung gegeben, die so kühn, so beherzt, so volkstümlich ge‐ wesen wäre wie der Nationalkonvent, vor allem seit dem edlen und denkwürdigen Aufstand vom 31. Mai; gleichwohl muss man mit derselben Offenheit zugeben, dass keine ein solches Beispiel von Unbeständigkeit und Leichtfertigkeit gegeben hat. Heute dekretiert man irgend eine dringliche Maßnahmen; morgen modifiziert man das Dekret oder macht es gar rückgängig. Man verbringt beträchtliche Zeit damit, Verleumdungen und Denunziationen anzuhören, sich mit leeren Petitionen und Mär‐ chen zu befassen. Man klatscht Beifall bei der Bekanntgabe eines patriotischen Ge‐ schenks von zehn Livres, bei der Nachricht von der Eroberung einer Kanone oder einer Fahne des Feindes, während das Volk hungert und als Opfer von Spekulation und Verrat dahinsiecht, während unsere Grenzen bestürmt werden, der Bürgerkrieg immer schlimmer in unseren Departements wütet und die Wucherer uns wie ge‐ wohnt den Todesstoß versetzen; während der Ministerrat nicht organisiert ist, keine
20 Roux 1985, S. 163. 21 Markov 1985, S. 25. 22 Roux schrieb am 28. August 1793 im Publiciste: „Sansculotten meiner Sektion, ich liege in Ketten, weil ich die Menschenrechte und die Gerechtigkeit verteidigt habe, weil ich die öffent‐ lichen Blutsauger und die Wucherer gegeißelt habe, weil ich unredlichen Volksvertretern und den Verwaltern der Verpflegungsdepots harte Wahrheiten ins Gesicht gesagt habe. Ich wünsche mir, meine traurige Lage möge bei euch nichts anderes bewirken, als in der Situation, in der wir uns jetzt befinden, die so notwendigen Bande der Brüderlichkeit nur noch enger zu knüp‐ fen. Gehorcht den Gesetzen, die zu befolgen ihr geschworen habt; und je mehr Anstrengung der Nationalkonvent unternimmt, die Republik zu retten, desto dringender müsst ihr eure Ener‐ gie verdoppeln, um die Tyrannen und ihre Sklaven zu vernichten.“ (Roux 1985, S. 173f.)
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Grundschulen eingerichtet sind und wir nicht einen der Vorteile der republikani‐ schen Verfassung genießen.“23 Der August hatte Paris nicht nur das gewaltige Volksfest vom 10. gebracht, son‐ dern auch die Gärung in der Stadt wieder angeheizt. Ende September sah Roux, ent‐ täuscht von der Politik der zurückliegenden Wochen, die Notwendigkeit, seine Kri‐ tik im Publiciste noch deutlicher und intensiver zu entfalten. Am 15. Oktober, fünf Tage nach der Errichtung der Revolutionsregierung durch das Dekret vom 10. Okto‐ ber, formulierte er: „Ich will also gern zugeben, dass es kein milderes, väterlicheres, der Stimme der Natur besser entsprechendes Regime gibt als das, unter dem wir le‐ ben; aber es gibt auch kein unmenschlicheres, ungerechteres, tyrannischeres, wenn die Senatoren, die die Verfassungsgesetze der Sanktion des Souveräns unterworfen haben, so unverschämt sind, sie zu brechen.“24 Es würden „tödliche Anschläge“ ge‐ gen die Freiheit geführt werden, die „aus dem Heiligtum der Gesetze selbst“, also aus dem Konvent kämen.25 Konkret meinte Roux damit beispielsweise das Dekret vom 5. September 1793, das die Versammlungsfreiheit auf zwei Tage pro Woche be‐ schränkte. Doch eben diese Versammlungs- und Redefreiheit sei eine der „Säulen der Verfassung“.26 Es kann Roux hier ein letztes Mal zu Wort kommen: „Geheiligtes Evangelium der Verfassungsgesetze! Du warst die Freude und die Hoffnung von 25 Millionen Men‐ schen, die in der Dunkelheit und im Schatten des Todes saßen. Sie seufzten dem glücklichen Augenblick entgegen, wo sie unter der Flagge der Gleichheit nur noch eine Familie von Weltweisen, Freunden und Brüdern sein würden, bereit, die Feinde an den Grenzen und die Aufrührer im Lande ein für alle Mal zu schlagen. Einheit, Friede und Brüderlichkeit, das waren die siegreichen Waffen, die sie den vereinigten Anstrengungen der Tyrannei entgegensetzen konnten.“27 Und schließlich: „Wer sieht nicht eure Ränke? Wer sieht nicht, dass die meisten von denen, die sich seit 1789 mit 23 Roux 1985, S. 176. 24 Roux 1985, S. 183. Weiter heißt es: „Denn mit solchem verbrecherischen Gesetzesbruch haben die Tyrannen immer begonnen, um ihre Herrschaft zu befestigen. In der Tat wissen die Despo‐ ten ganz genau, dass ihnen, wenn sich ein Volk geschlossen erhebt, um seine Unterdrücker zu vernichten, kein anderes Mittel bleibt, als ihm zu schmeicheln und so seinen Mut zu lähmen, als ihm irgendwelche wohltuenden Gesetze vorzuschlagen und es so mit Ketten zu beladen, als in der Sprache der Freiheit zu ihm zu reden und es dadurch zum wohlfeilen Werkzeug der In‐ trige und schändlichsten Leidenschaft zu machen.“ (S. 183) 25 Roux 1985, S. 184. 26 Roux 1985, S. 186. 27 Roux 1985, S. 184. Weiter heißt es: „Durch welche schicksalhafte Verkettung haben Neurei‐ che, die das nur durch Räubereien geworden sind und deren Name schon jetzt voller Abscheu in die Geschichte eingegangen ist, das Morgenrot des jungen Tages verdunkeln können, der das Menschengeschlecht zu Freiheit und Glück aufrief? Dank welcher bösen Laune des Ge‐ schicks dürfen ein paar Intriganten, nachdem sie erst die unbegrenzte Pressefreiheit, die Ach‐ tung des Eigentums und der Person dekretiert habe, in ihrer blutdurstigen Tollheit den Mann beleidigen und in finstere Verliese werfen, der ihre Hoffart, ihre Unverschämtheit, ihre Geld‐ gier, den Missbrauch ihrer Autorität als Konsuln und ihrer Macht als Tribunen ans Tageslicht bringt? Wie denn! Ist es nicht mehr erlaubt, seine Meinung über jene zu äußern, die die Zügel
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dem Volke gemein gemacht und mit unserem Schicksal befasst haben, das in der Absicht taten, die höchste Macht an sich zu reißen. Wer sieht nicht, dass sie ein dik‐ tatorisches Ketzergericht gegenüber allen abhalten, die nicht wie sie mit den Grund‐ sätzen der Freiheit Schindluder treiben? Diese Tartuffes!“28 Die Verfassung von 1793 wäre gescheitert, die Herrschaftspraxis der Jakobiner ebenso. Roux' Urteil war, aus einer strikten egalitären Perspektive, klar und eindeu‐ tig. Auch die Jakobiner wollten die bürgerliche Gesellschaft: Eine andere als die Gi‐ rondisten. Am Privateigentum hielten sie, allen sozialpflichtigen Ideen, Maßnahmen und Dekreten zum Trotz, fest. (Übrigens, auch wenn dieser Hinweis sich von selbst verstehen sollte, ein zentrales Bestandsstück des Rousseauschen Erbes.) Für die Gleichheit des Jacques Roux war in ihrer Mitte kein Platz. Markov hat darauf hingewiesen, dass Roux durch eben jene Maßnahmen zu Tode kam, die er selber immer gewünscht hatte. Das Gesetz über die Verdächtigen, erlas‐ sen am 17. September 1793, traf nicht nur die Konterrevolution, sondern auch die Theoretiker und Praktiker linksaußen. Im Herbst 1793 verhaftet, wurde Roux am 14. Januar 1794 der Strafkammer der Polizei vorgeführt und erfuhr dort, dass er an das Revolutionstribunal überwiesen werde. Er stach sich daraufhin mehrfach mit einem Messer in die Brust. Im Lazarett des Gefängnisses von Bicêtre gelang es, sei‐ nen Zustand zu stabilisieren. Roux wiederholte daraufhin seinen Selbstmordversuch und starb am 10. Februar 1794. Es ist von ihm noch nicht einmal ein (gesichertes) Porträt überliefert.29 Die radikale Gleichheit endete im Dämmerlicht. Während Roux wortgewaltig den Protest der Hungernden gegen jedwede Herr‐ schaft vortrug, gab es auch sozialistische, fast schon genossenschaftliche Alternati‐ ven zur Politik der Jakobiner ebenso wie zur wütenden Kritik der Enragés. Der deut‐ sche Franz-Joseph Lange, geboren 1743 am badischen Oberrhein, ging mit 15 Jah‐ ren nach Paris, um dort den Beruf eines Dessinateurs zu erlernen. Als François-Jo‐ seph L'Ange arbeitete er dann in der Seidenindustrie von Lyon – „als rechtloser Lohnarbeiter, wenn auch zur Oberschicht des Frühproletariats gehörend“. Joachim Höppner und Waltraud Seidel-Höppner ist es zu verdanken, dass sein Name in Deutschland wieder mit der Revolution verbunden wird. Sie nahmen seinen Verfas‐ sungsentwurf Universalmittel oder unverletzliche Verfassung des allgemeinen
der Regierung in den Händen haben? Schurken, die ihr nur die Maske des Republikanismus tragt, erfahret, dass ihr keinerlei Recht habt, die Gedanken der Menschen in Ketten zu legen. Sie gehören der ganzen Natur. Der Geist der Freiheit, den ihr ersticken wollt, wird gleichwohl Berge und Meere überwinden, und der Blitz, den ihr auf den Wohlmeinenden herabruft, wird euch über kurz oder lang zerschmettern. Eure letzte Stunde hat geschlagen! Zittert, Usurpato‐ ren!“ (S. 184f.) 28 Roux 1985, S. 185. 29 Siehe: Markov 1985, S. 27ff.
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Glücks von 1793 in ihre Anthologie Von Babeuf bis Blanqui. Französischer Sozialis‐ mus und Kommunismus vor Marx auf.30 Seit dem Ausbruch der Revolution betätigte sich L'Ange politisch und im Interes‐ se des sozialen Ausgleichs. Schon 1789 verfasste er Pläne für eine unmittelbare Volkssouveränität, wobei er intensiv den Spuren Rousseaus folgte. Von Interesse ist sein Entwurf hier auch, da es einer der ganz wenigen war, die sich nicht einseitig mit Bodenpolitik und Landwirtschaft beschäftigten, sondern die entwickelte bzw. sich entwickelnde bürgerlich-kapitalistische Industrie vor Augen hatten. Peter Kropotkin führte aus:31 „Es versteht sich von selbst, dass die Industrie in jener Zeit viel weniger interes‐ sierte als die Landwirtschaft. Indessen sprach schon der Kaufmann Cusset, den Lyon in den Konvent gewählt hatte, von der Nationalisierung der Industrien, und L'Ange entwickelte den Plan zu einem Phalanstère, in dem die Industrie mit der Landwirt‐ schaft vereinigt sein sollte. Seit 1790 hatte L'Ange in Lyon eine ernsthafte kommu‐ nistische Propaganda entfaltet. So brachte er in einer Broschüre, die das Datum 1790 trägt, die folgenden Ideen vor: 'Die Revolution', sagt er, 'hätte Heil bringen sollen; eine Umkehrung der Ideen hat sie verpestet; durch den abscheulichsten Missbrauch des Reichtums hat man den Souverän (das Volk) entrechtet. Das Gold (…) ist nur in arbeitsamen Händen nützlich und heilsam; es wird giftig, wenn es sich in den Schränken der Kapitalisten anhäuft. (…) Überall, Sire, wohin Eure Majestät seinen Blick lenkt, sieht sie die Erde nur von uns bewohnt; wir sind es, die arbeiten, wir sind die ersten Besitzer, die ersten und letzten tatsächlich Besitzenden. Die Nichtstu‐ er, die sich Eigentümer nennen, können nur den Überschuss unserer Subsistenzmittel 30 Aus dieser Ausgabe wird, wenn keine anderen Angaben vorliegen, im Folgenden unter Angabe der Seitenzahlen zitiert, L'Ange 1975, II, S. 22–48. Höppner und Seidel-Höppner verfassten auch ein kurzes Vorwort, dem die biographischen Angaben entnommen wurden, 1975, II, S. 19–21. 31 V. M. Dalin schrieb (mit einigen Fehlern, aber hier dennoch von Interesse) über Kropotkin: „Zweifellos besteht ein großes Verdienst Kropotkins in der eingehenden Analyse der linken Gruppierungen in den Jahren 1793 und 1794, vor allem der Enragés, denen vor ihm in der hi‐ storischen Literatur nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Kropotkins Buch regte einen so bedeutenden Kenner der Geschichte der Französischen Revolution wie N. I. Karajew an, sich eingehender mit dem Studium der Pariser Sektionen zu befassen, insbesondere der Sekti‐ on Gravilliers und ihrem Führer, dem Kopf der Enragés, Jacques Roux. Kropotkin hatte jedoch nicht recht, wenn er die Enragés als 'volkstümliche kommunistische Bewegung dieser Jahre' bezeichnete. Intensive Forschungen über die Enragés und Jacques Roux, die der sowjetische Historiker J. M. Sacher (übrigens ein Schüler Karejews, von dem er das Interesse für die Pari‐ ser Sektionen geerbt hat) und das Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR, Walter Markov (der in französischen Archiven buchstäblich alle erhaltenen Dokumente studierte) an‐ gestellt haben, erbrachten leider nur sehr spärliche Auskünfte in Bezug auf Jacques Roux und keinerlei Bestätigung seiner Bewertung als 'volkstümlicher Kommunist'. Noch weniger trifft eine solche Definition auf Leclerc und Varlet zu, den Kropotkin unrichtig einen 'Arbeiterpropa‐ gandisten' nennt. Alle drei sind auf keinen Fall als die 'ersten Vorboten des Kommunismus' zu bezeichnen. Auch bei dem progressiven Demokraten und 'roten Priester' Pierre Dolivier han‐ delt es sich ebenso wenig um einen Kommunisten wie bei Momoro oder bei L'Ange aus Lyon, dessen soziale Ideen den Forschern bis heute ein Rätsel geblieben sind.“ (Dalin 1982, S. 332.)
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sammeln. Das spricht zum mindesten für unser Miteigentum. Aber wenn wir von Natur aus Miteigentümer und die alleinige Ursache jedes Einkommen sind, dann ist das Recht, unseren Unterhalt zu beschränken und uns des Überschusses (surplus) zu berauben, das Recht des Räubers.' Das halte ich für eine sehr richtige Art, den 'Mehrwert' aufzufassen.“32 Und weiter dann: „Er gründete seine Gedanken immer auf die wirklichen Tatsa‐ chen – auf die Krise der Lebensmittelprodukte, die Frankreich durchmachte – und kam so zu dem Vorschlag eines Systems einer Art Abonnement der Konsumenten zum Ankauf der ganzen Ernte zu festgelegten Bedingungen, das Ganze vermittelst der freien Vereinigung, die sich frei und ohne Zwang ausdehnen sollte. Er wollte au‐ ßerdem den gemeinsamen Speicher, in den alle Landwirte ihre Erzeugnisse zum Ver‐ kauf bringen könnten. Es war das, wie man sieht, ein System, das für den Handel mit Lebensmitteln das individualistische Monopol und die Staatseinmischung der Revolution ablehnte und das moderne System der landwirtschaftlichen Genossen‐ schaften, deren Mitglieder sich zusammengetan haben, um gemeinsam die Erträge einer ganzen Provinz, wie es in Kanada geschieht, oder einer ganzen Nation, wie es in Dänemark der Fall ist, zu vertreiben, vorwegnahm.“33 In der Folgezeit engagierte sich L'Ange weiter politisch und wurde einer der wichtigsten und einflussreichsten Sprecher der Armen in Lyon. 1791 wurde er der Vorsitzende des „Klubs der Vereinigung“, der revolutionär-demokratische Ansichten vertrat, außerdem Mitglied des Generalrats der Kommune seiner Stadt und 1792 zu‐ dem Friedensrichter. Daneben war er auch in der Presse aktiv. „Angesichts der Ver‐ schärfung der Gegensätze zwischen den bourgeoisen Kriegsgewinnlern, Spekulanten und Schiebern und den unter Mangel, Teuerung und Geldentwertung leidenden ar‐ beitenden Massen legt L'Ange im Sommer 1792 mit seiner Schrift Moyens simples et faciles de fixer l'abondance et le juste prix du pain (Einfache und leichte Mittel, Überfluss und rechten Preis des Brotes zu sichern) den Plan einer vom Volk verwal‐ teten gesamtnationalen Genossenschaft vor. L'Ange greift darin nicht nur vielfach umlaufende Bestrebungen und Versuche auf, durch kommunale Versorgungsmagazi‐ ne und staatliche Festpreise der augenblicklichen Not (entgegen) zu steuern; er will zugleich die Grundlage für eine kollektive Gemeinschaft des französischen Volkes schaffen, in der das Privateigentum zwar nicht in seinem Bestand, wohl aber in sei‐ nen negativen Auswirkungen aufgehoben werden soll. Doch gehen L'Anges soziale Erwartungen von der bevorstehenden Übernahme der Macht durch den Nationalkon‐ vent den Jakobinern zu weit; nicht minder macht ihn seine Ablehnung jeglicher Ge‐ walt ihnen verdächtig.“34
32 Kropotkin 1982, II, S. 184f. 33 Kropotkin 1982, II, S. 185. 34 “ Höppner/Seidel-Höppner 1975, II, S. 19f.
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1793 wurde Lyon zu einem der Mittelpunkte der Konterrevolution, Wilhelm Blos schrieb über die Tage und Wochen nach dem Aufstand vom 31. Mai bis 2. Juni: „Die jakobinischen Munizipalitäten wurden im Süden und im Nordwesten meistens gestürzt und durch girondistische ersetzt. Bordeaux, Toulouse, Marseille, Toulon und Lyon erhoben sich schon vor dem Sturz der Gironde gegen den Konvent. Die Royalisten, die überall auf der Lauer lagen, drängten sich in diese lokalen und pro‐ vinziellen Aufstände ein und gaben ihnen dadurch einen ganz anderen Charakter, als ihn die Urheber dieser Aufstände gewollt. Lyon fiel ganz den Royalisten in die Hän‐ de, denn in dieser Handelsstadt hielten es nur die Arbeiter mit dem Berge. Die Sek‐ tionen standen in dieser Stadt ganz unter dem Einfluss der Kaufmannschaft. Sie stürzten die jakobinische Munizipalität und ließen Châlier, das Haupt der Jakobiner, hinrichten. Dann nahm man die Emigranten in die Stadt auf und übertrug dem Mar‐ quis von Précy, einem Royalisten alten Schlages, den Befehl über die Streitkräfte von Lyon. Indem die zweite Stadt des Reiches sich gegen die Regierung erhob, wur‐ de deren Situation äußerst kritisch und dies erklärt die schreckliche Strafe, welche der Konvent über die rebellische Stadt verhängte.“35 In den Wirren dieser Monate blieb L'Ange in Lyon und übte auch sein Amt als Friedensrichter weiter aus. Er beklagte die Zerstörungen durch die Angriffe der Ja‐ kobiner sowie die Belagerung der Stadt und sprach von den „Feinden der Gerechtig‐ keit und Wahrheit, die uns belagern und abbrennen“. Nachdem Lyon eingenommen und die Konterrevolution besiegt war, wurde L'Ange wegen seiner Einstellung als Konterrevolutionär angeklagt und guillotiniert.36 Robespierre gingen solche Exzesse der anderen Jakobiner immer zu weit, persönlich hieß er sie nicht gut.37 Kurz zuvor hatte er noch den bereits erwähnten Entwurf Universalmittel oder un‐ verletzliche Verfassung des allgemeinen Glücks fertig gestellt, der im Folgenden zu inspizieren ist. Der Text zerfällt in zehn Partien (sowie einen kurzen Anhang), die immer mehrere Artikel enthalten. Das erste Kapitel bietet eine Erklärung der Men‐ schenrechte und -pflichten. L'Anges Erklärung unterscheidet sich von den bisher analysierten in wesentlichen Einzelheiten und in der ganzen Art und Weise ihrer Präsentation. Nicht zuletzt, da sie sich einer einfachen, direkten Sprache bedient und auf komplizierte (beispielsweise kontraktualistisch argumentierende) Ableitungen der Rechte und Pflichten verzichtet. Angesprochen werden die Punkte Freiheit, Recht, Sicherheit, Souveränität und Macht – immer auf der Basis der Gleichheit al‐ ler. Sie sind hier nacheinander darzustellen: Der 1. Artikel erklärt: „Tu, was du magst, und unterlass, was du nicht magst. Nie‐ mand soll dich zwingen oder hindern. Darin besteht deine Freiheit.“ Hinzugesetzt wird, dass sich der Einzelne aber hüten solle, die Freiheit anderer zu beeinträchtigen, 35 Blos 1988, S. 249. 36 Siehe: Höppner/Seidel-Höppner 1975, II, S. 20. 37 Siehe die entsprechenden, heute vergessenen, ignorierten Nachweise bei: Elsner 1838.
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denn dadurch werde die eigene Freiheit aufs Spiel gesetzt. Das ist gar nicht einmal so weit entfernt von den bisherigen Definitionen der Freiheit und doch, auch wenn bei L'Ange der an Rousseau geschulte Kontraktualismus sich im Hintergrund Bahn bricht, so anders. Denn L'Ange dachte die Freiheit tatsächlich vom Individuum aus. Dieses soll entscheiden, was es braucht, um glücklich zu sein – und entsprechend handeln. Die Akzeptanz der Freiheit anderer ist eine Selbstverpflichtung des tugend‐ haften Staatsbürgers, der vorausgesetzt wird. Ja, es hat fast den Anschein, als ob die Grenze der jeweiligen individuellen Freiheit nur der Form halber erwähnt werden muss, so selbstverständlich würden der Gedanke und seine freiwillige, quasi hab‐ itualisierte, automatisierte Befolgung in der L'Ange vorschwebenden Gesellschaft sein. Das Recht definiert L'Ange wie folgt: „Genieße, wie du kannst und magst. Nie‐ mand soll dein Vergnügen oder deine Ruhe stören.“ (Art. 2) Auch hier wird einge‐ schränkt, dass erneut die jeweiligen Rechte der anderen die Grenze des eigenen Han‐ delns sein müssten, damit die Gesellschaft funktionieren kann. Wer sein eigenes Recht missbrauche, also sich zu sehr vergnüge, zu sehr genieße usw., der werde für Unrecht verantwortlich und müsse dieses wieder gutmachen, selbst auf Kosten des eigenen Rechts oder der eigenen Freiheit. Im 3. Artikel wird die Sicherheit bestimmt: „Alle Arme des französischen Volkes, die ganze Macht der Nation, vier Million Kämpfer, verbürgen dein Recht und deine Freiheit.“ (Art. 3) Dafür gebühre der Nation Dank. Vor allem aber ist diese gemein‐ schaftliche Aufgabe auch Verpflichtung für jeden einzelnen. Wer immer Unrecht be‐ merke, wer erkenne, dass die Sicherheit eines anderen Menschen verletzt werde, der müsse sich für diesen einsetzen und zwar mit seiner ganzen Person. Wer dies nicht tue, den werde die Gesellschaft ihrerseits „im Stich (lassen), und Schimpf und Schande begleiten dich bis ans Ende deiner Tage“. (Art. 3) Auch der alle Freiheit be‐ sitzende und sich ungestört entwickelnde und genießende Einzelne ist zuvorderst Teil der Gemeinschaft und dieser vollumfänglich verpflichtet, da er erst durch diese das ist, was er ist und noch zukünftig sein, werden kann. Stärker wurde die gegen‐ seitige, beidseitige Beziehung von Individuum und Gesellschaft in jenen Jahren sel‐ ten gedacht. Auch die Souveränität verwies L'Ange an das Individuum. Die Stimme jedes Menschen sei wichtig und gebe letztendlich den Ausschlag. Der individuelle Mensch wird als Glied des politischen Körpers ebenfalls aufgewertet. Die Souverä‐ nität bestehe in genau dieser politischen Teilhabe.38 Der Einzelne ist der Souverän, 38 „Du bist ein Glied des französischen Volkes. Der Wille eines jeden, der das verständige Alter erreicht hat, besitzt gesetzgeberische Kraft. Es könnte geschehen, dass drei Millionen, die mündig sind, eine Sache wollen, während drei Millionen sie ablehnen. Wenn du dann deiner Partei den Vorzug gibst, und sei es nur für einen einzigen Tag, so machst du das Gesetz; gehst du dagegen zu anderen Partei über und gibst ihr deine entscheidende Stimme, so bist du es wiederum, der das Gesetz macht. Darin besteht deine Souveränität.“ (Art. 4)
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die Souveränität des Volkes bzw. der Nation ergibt sich aus der Zusammenziehung, erneut auf freiwilliger, genossenschaftlicher Basis, dieser Individualansichten. Es ist purer, in seinen ganzen Intentionen wirklich unverfälschter Rousseau, wenn L'Ange dieser Regelung hinzusetzt, dass der Wille des Einzelnen nur dann richtig sein kön‐ ne, wenn er mit dem allgemeinen Willen identisch sei (und nicht, wie bei vielen Ja‐ kobinern, diesen als Majoritätswillen erst hervorbringe): „Aber gib acht, dass die Rechnung in aller Augen gewissenhaft und zuverlässig ist; denn wenn du ein Gesetz verkündest oder verkünden lässt, das nicht tatsächlich der Ausdruck des eindeutig erfassten und ausgezählten allgemeinen Willens ist, dann bist du ein Aristokrat oder gar ein Despot. Ein solches Gesetz wäre Betrug und fände nur bei Menschen Gehor‐ sam, denen Zwang und Terror das Rückgrat gebrochen haben.“ (Art. 4) Gedacht wird diese Übereinstimmung von Individualwillen und Allgemeinwillen, wobei der Individualwille immer nur als Teil des Allgemeinwillens erscheine (wo dies nicht der Fall wäre, liege Abweichung, also Aristokratismus oder Despotismus vor), als sich durch Tugend, Vernunft, durch die bereits festgesetzte Freiheit selbst herstellend, mit einem der Zentralwörter des 18. Jahrhunderts: als natürlich. Das ist, wie gesagt, die originäre Rousseausche Definition, in der der Allgemeinwille alles ist, der Rest nur, insoweit er diesen bestätigt im Sinne von vollständiger, sich selbst herstellender, von selbst ergebender Identität. Diesen Hintergrund vorausgesetzt er‐ klärt der 5. Artikel: „Das ganze französische Volk ist dir einmütig ergeben und ge‐ horsam, wenn dein Wille untrennbar mit dem allgemeinen Willen verschmilzt. Darin besteht deine Macht. Aber sei dir bewusst, dass umgekehrt auch du dem allgemeinen Willen gehorchen und dich ihm unterwerfen musst, selbst wenn er deiner Meinung widerspricht, denn diese Gleichheit macht dich zum Staatsbürger.“ (Art. 5) Als Bür‐ ger muss sich jeder Einzelne dem souveränen Volk unterordnen, aber er kann nie‐ mandem untertan sein. Wer Ansprüche geltend mache, die die so begründete Gleich‐ heit in Frage stellen oder ihr gar entgegenstehen, sei kein Staatsbürger, „sondern ein treubrüchiger Aufrührer“ und werde „als solcher aus der Republik verwiesen“. (Art. 5) Der sechste Artikel stellte dann fest, dass auf der Basis des Grundsatzes der Gleichheit „dem einzigen, grundlegenden Prinzip einer echten Republik“, das fran‐ zösische Volk „die bestmögliche Form für die Ausübung seiner Souveränität sowie für den Vollzug seines Willens“ sich geben müsse (Art. 6): Gemeint ist der sich an‐ schließende Verfassungsentwurf L'Anges. Wie sein großes Vorbild Rousseau blieb auch L'Ange jede Begründung dafür schuldig, warum der Einzelne sich an einem politischen System beteiligen soll, wel‐ ches sowieso nur Ausdruck und Exekutierung des unabhängig von den Individuen vorgegebenen (konsequent durchdacht eigentlich seit Anbeginn der Zeiten an schon fertig existierenden) Allgemeinwillens ist. Denn bei L'Ange ist, wie gesehen, anders als bei den Jakobinern und so ziemlich allen anderen Theoretikern der Revolutions‐
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jahre, der Allgemeinwille eben nicht eine bloße Addierung individueller Äußerun‐ gen nach dem Majoritätsprinzip, sondern tatsächlich jene merkwürdige metaphysi‐ sche Wolke Rousseaus, in der man mit dem Kopf darinsteckt, um die Füße individu‐ ell, nach den selbst gebildeten und doch nur aus der Wolke bezogenen Befehlen zu bewegen. Oder ist der Allgemeinwille so schwach, dass man ihn erst durch ein poli‐ tisches Verfahren eruieren muss, dass gar seine Ausübung geregelt werden sollte? Dann wäre er kein Allgemeinwille. Rousseau39 selber hatte – in seinem eigenen praktischen politischen Engagement in den Fällen Polen (Betrachtungen über die 39 Rousseau hat immer (vgl. Robespierre) zwischen „Gesetzgebern“ und den „Scharen von Ge‐ setzesmachern“ unterschieden. (Siehe bspw. Rousseau 1989, II, S. 436ff.; Rousseau 1986, S. 43–47.) Nach eigener Einschätzung übernahm er die Rolle eines „Gesetzgebers“ für die In‐ sel Korsika und erarbeitete einen Reformvorschlag für die Polnische Verfassung. Am Beispiel Korsikas kann seine Konzeption kurz präzisiert werden. Zum Zeitpunkt des Beginns der Be‐ schäftigung Rousseaus mit Korsika (1764) hatte die Insel bereits eine republikanische Verfas‐ sung (von 1757), in der unter anderem das allgemeine Wahlrecht verankert war. Buttafoco be‐ zeichnete sie jedoch als Provisorium, die bis zur Vorlage der eigentlichen Verfassung von Rousseau in Kraft bleiben sollte. (Rousseau 1947, Brief 3634) Um weitere politische Umbrü‐ che zu vermeiden, orientierte sich Rousseau an dem vorhandenen Dokument. In diesem Sinne ist eine wichtige Prämisse des Rousseauschen Denkens bezeichnet – er zog auf dem Gebiet der Politik Kontinuität und Stabilität immer dem Wandel oder gar einschneidenden revolutionären Veränderungen vor. Dem korrespondiert, dass Rousseau im Korsika-Fragment direkt politische Fragen eher ausklammerte und sich vor allem mit wirtschaftlichen und sozialen Aspekten be‐ schäftigte. Dass diese das politische System aber gleichsam vorprägen, darauf muss hier nur verwiesen werden. Werner Bahner (1978, S. 32) hat zu Recht die in der Korsika-Schrift aufge‐ stellten Thesen als differenziertes und steigerungsfähiges Minimalprogramm bezeichnet, des‐ sen Optimierung auf die Prinzipien des Contrat social hinlenkt. Der Schnittpunkt zwischen dem Contrat social und dem Verfassungsentwurf für Korsika ist in der Forderung nach der In‐ stallierung einer autarken und nationalen Bauerndemokratie unter Ausschaltung überflüssiger Bedürfnisse zu sehen. Die Ermöglichung von Gleichheit (und damit verbunden von Freiheit) ist das Hauptziel des Entwurfs, so dass Rousseau mit Blick auf dieses Ziel streng kausal argu‐ mentierte. Er begann mit der Überlegung, dass Korsika nicht reich sein dürfe, damit die Insel nicht der Gier der Nachbarstaaten zum Opfer falle. (511) Um der drohenden Knechtschaft vor‐ zubeugen, müsse die Bevölkerung vermehrt werden, was am besten durch eine Agrikultur zu gewährleisten sei. (513, 534) Diese ziehe wiederum die Bildung von Landmilizen nach sich; (514) könne Gleichheit verwirklichen; (547) die Abschaffung des Geldes durch Naturalien‐ tausch in Verbindung mit einem öffentlich-staatlichen Speicherwesen ermöglichen (529ff.); die Demokratie, die ja in Korsika bereits existent war, stärken. Für das korsische Volk sei diese Entwicklung möglich, da es sich viele seiner ursprünglichen Tugenden bewahrt habe. (526) Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit (im Sinne von Familien- und Nationalbanden) würden sich einstellen und die Korsen dadurch glücklicher und zufriedener sein, als alle anderen Völ‐ ker der Erde. Fast schon typisch für Rousseau ist, dass er diesen Überlegungen hinzufügte, für ihre Richtigkeit nicht bürgen zu können. Auch wenn Rousseau eindeutig eine Gegenposition zu den Theorien der Physiokraten bezog, befinden sich seine Vorschläge durchaus in Deckung mit jenen Maßnahmen zur Reformierung des Ancien Régime, die seit den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts in den aufgeklärten Kreisen diskutiert wurden und dann seit den siebziger Jahren im Rahmen der kurzfristigen (und nach einigen Jahren gescheiterten) Reformpolitik verwirklicht werden sollten. (Vgl. Thamer 1996.) Nach dieser kurzen Darstellung der wichtigs‐ ten Inhalte des Verfassungsentwurfes wird die argumentative Strategie Rousseaus deutlich. Er besprach das spezielle Beispiel Korsikas und bestätigte damit am konkreten Fall seine eigenen Grundsätze. Theorie und Praxis fallen dem Anspruch nach zusammen. Rousseau ging davon aus, die Anwendbarkeit seiner Theorien bewiesen zu haben. Damit löste er den Anspruch der Aufklärung ein, nicht nur theoretisch zu arbeiten, wie die Intellektuellen des 17. Jahrhunderts,
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Regierung von Polen und ihre beabsichtigte Reformierung)40 und Korsika (Entwurf einer Verfassung für Korsika)41 – diese Konstruktion nur als normativen Maßstab verstanden.42 L'Ange versuchte, den Allgemeinwillen als Realität festzuschreiben bzw. in der Realität zu verwirklichen, als verwirklichbar anzusehen. Das ist noch längst nicht die „große“ Gefahr für die „offene Gesellschaft“, die Karl Raimund Popper (The Open Society and Its Enemies, 1945, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde) mit Hilfe der Stigmatisierung von Platon, Hegel und Marx zu beweisen können glaubte. (Für solche Thesen wird man übrigens geadelt – natürlich in der „offenen Gesell‐ schaft“, in der Adel und Monarch(in) noch „ordentlich“ schützen.) Es ist auch nicht der Beginn des Totalitarismus, wie Jacob Leib Talmon (The Origins of Totalitarian Democracy, 1952, Die Ursprünge der totalitären Demokratie) in seinem unsägli‐ chen, fast schon wahnhaften Anti-Marxismus behauptete. Es ist schlicht und ergrei‐ fend nicht möglich, weder mit Gewalt noch ohne. Ein ganzes Stück weit praktikabler sind die tatsächlichen organisatorischen Ideen, die L'Ange vorschlug. Bürger im Sinne der Verfassung sind alle mündigen Personen, die auf dem Boden der Republik ansässig sind. (II-1) Organisiert ist das politische System auch bei L'Ange von „unten“ nach „oben“, d. h. von kleinen Einheiten aus‐ gehend immer höher aufsteigend. Die Bürger werden zusammengefasst in Volksver‐ sammlungen, die „organische Bestandteile des souveränen Volkes“ sind. Je „hundert benachbarte verheiratete Männer“ bilden eine Volksversammlung und haben auch das Recht, den Junggesellen ihrer direkten Nachbarschaft Zutritt zu gewähren. (II-3) Diese kleinste politisch-strukturelle Organisationseinheit wird allein durch die Zahl konstituiert, ist also vom Boden unabhängig (was ein grundlegendes Prinzip des ge‐ samten Verwaltungsaufbaus ist).43 Die weitere Struktur (als Grundlage aller Prozes‐ se, politischer, ökonomischer und kultureller) ist wie folgt: 10 Hundertschaften bil‐ den einen Kreis, 50 Hundertschaften eine Gemeinde (mit einem gemeinsamen Zen‐ trum, einem Bürgermeister und Gemeinderat), 5 Gemeinden einen Unterbezirk, 10
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sondern das Leben der Menschen zu gestalten, eine Ordnung zu schaffen und zu verwirklichen. (Siehe: Cassirer 1991 und 1994.) In der Ausgabe von: Fontius 1989, II, S. 433–521. In der Winkler-Ausgabe 1996, S. 509–563. Vgl. vor allem die Arbeiten der „DDR-Forscher“: Neben vielen anderen Äußerungen: Klenner 1985; Bahner 1971; Fontius 1989; Schröder 1992. Vorrangig selbstverständlich die Studien von Werner Krauss; kritisch zu durchleuchten die Arbeiten von Victor Klemperer; in Leipzig vollendet: Hermann Korffs großartiges Werk Geist der Goethezeit. Siehe hierzu: Bach/ L'Aminot 2010; darin verschiedene Aufsätze, zentral: Bach 2010, S. 11–23; außerdem die Ge‐ samtdarstellung von: Heyer 2012, mit Verweisen auf die Literatur. Interessant, aber unter Ver‐ nachlässigung der DDR, die Sammelbände: Jaumann 1995; Kreuzer/Link-Heer 1986. „Vom Umfang und von den Grenzen ihrer Besitzungen wird vollständig abgesehen. Die Grenz‐ linien verschwinden auf der Erde; sie haben keine andere Bedeutung mehr als die des geogra‐ phischen Gradnetzes auf guten Landkarten.“ (II-2) „Die Mitglieder einer Vollversammlung, ihr Heim, ihre Frauen, Kinder, Eltern und ihr Gesinde, erhalten als Kollektiv den Namen einer Hundertschaft, unabhängig von der Größe des von ihnen besiedelten Gebiets.“ (II-4)
Gemeinden einen Kongress, der nach der Bezirkshauptstadt benannt wird. (II-5 bis II-8) Alle Kongresse zusammen bilden den Zentralkongress, also die Nationalver‐ sammlung. (II-10) Das III. Kapitel regelt die „Berufung der Regierungsgewalten“. Jede Wahl und auch jede Beschlussfassung sollen in allen Volksversammlungen am gleichen Tag geschehen. Außerhalb der festgelegten Tage darf es keine Volksversammlungen ge‐ ben, bei Missachtung drohen Geldstrafen und Zwangsmaßnahmen. (III-1) Eine Re‐ gelung, die augenscheinlich eher an Condorcet als an die Jakobiner erinnert. Aber die Differenz zu den Girondisten zeigt sich in dem Moment, wo für jeden Bürger die Verpflichtung festgesetzt wird, an den Versammlungen teilzunehmen. „Jeder Bürger, der ohne ausreichenden Grund auf der Volksversammlung seiner Hundertschaft fehlt, wird außerhalb des Gesetzes gestellt und kann das Gesetz in keinem Falle zu seiner Verteidigung in Anspruch nehmen.“ (III-1) Es besteht also die Pflicht zur per‐ manenten politischen Teilhabe für alle Bürger. Ausführlich regelt das Kapitel wann welche Organisationseinheit an welchem Tag aus welchem Grund zusammentreten soll, was hier nicht von Bedeutung ist. Wichtig ist festzuhalten, dass für L'Ange die Hundertschaft als direktes und loka‐ les Zentrum der politischen Willensartikulation von immenser Bedeutung war. Das zeigt sich nicht nur durch die Pflicht zur Teilnahme eines jeden Bürgers an den Ver‐ sammlungen, sondern auch durch den hohen kulturellen und sozial-ökonomischen Aufwand, der betrieben wird. Sie ist gleichsam der Spiegel des erreichten gesell‐ schaftlichen Entwicklungsstandes im Mikrokosmos der Groß-Familie. „In jeder Hundertschaft gibt es eine Schule, eine Lehreinrichtung für Moral und einen Vor‐ ratsspeicher, wenn möglich, nah am Versammlungsort. Die Hundertschaft verfügt ferner über ein Laboratorium, ein Krankenhaus und eine Besserungsanstalt.“ (III-4) Hinzu kommen zur Ausübung der öffentlichen Gewalt ein Hauptmann, ein Leutnant, zwei Unteroffiziere und vier Gefreite (III-3) sowie die verschiedenen Delegierten zur Weitertragung des gebildeten Willens nach oben. Natürlich fragt man sich, wo all das Personal für diese Institutionen hergenommen, gebildet und ausgebildet wer‐ den soll. Aber es stehen hier nicht die utopischen Elemente in L'Anges Entwurf zur Debatte, sondern die Antworten, die er auf die Krisen, sozialen Herausforderungen und den Hunger seiner Zeit gab. In diesem Sinne kommt vor allem den Vorratsspei‐ chern enorme Bedeutung zu, zu denen er sich bereits 1792 geäußert hatte: „Möge in diesen heiligen Hallen des Vaterlands der Sinn, das unbesiegbare Streben nach poli‐ tischer Willenskundgebung, das bis heute vernachlässigt, von den Politikern ver‐ kannt und von den Tyrannen unterdrückt wurde, künftig unfehlbar auf das Heil des Volkes gerichtet sein. Möge man in diesen Sälen Freizeiterholung, harmlose Vergnü‐ gen und den Zauber der Freundschaft finden, wie er in den Freimaurerlogen herrscht, ferner Tanzveranstaltungen, Zirkel und Klubs. Möge diese Klubs höherer
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Art ein Patriotismus tatkräftiger Gemeinden adeln, der zu hochwertigen Taten be‐ geistert.“44 Im Verfassungsentwurf war dann ausgeführt, dass sich in den Vorratsspeichern auch die Wohnungen der Volksbeauftragten sowie der ihnen unterstellten Leute be‐ finden sollten. (VII-2) Zudem beispielsweise landwirtschaftliches Gerät zur Leihe und gemeinschaftlichen Benutzung. (VII-8) Die Vorratsspeicher waren ein großes genossenschaftliches Projekt und die zentrale sozialpolitische (und gleichzeitig auch kulturell, aufklärerische) Maßnahme, auf der der gesamte Entwurf L'Anges basierte. Wie folgt sollte es auf ein gesichertes Fundament gestellt werden. „Das französische Volk zeichnet in Hundertschaften 60.000 Livres in 60 Aktien, die weiter unterteilt werden können. Der Betrag dient als Fonds, um jeweils 100 Familien auf zwei Jahre mit Korn, Mehl und Gemüse zu versorgen. Diesen 100 Familien steht für ihren Ver‐ brauch ein gemeinsamer Vorratsspeicher zur Verfügung, den sie selbst verwalten.“ (VII-1) Täglich kann jede Familie aus den Speichern entnehmen, was sie für ihren Bedarf benötigt. (VII-5) Es ist klar, dass die Gesellschaft zuerst für dieses Speicher‐ system arbeiten muss: „Ohne die Konkurrenz zu verbieten, ist bei jeder Ernte die öf‐ fentliche Versorgung die erste Pflicht. Am 1. März muss jeder Speicher über einen zur Ernährung von ungefähr 1500 Menschen genügenden Vorrat verfügen, so dass 100 Familien für zwei Jahre reichlich mit allem versorgt sind.“ (VII-6) Das Gesetz werde festlegen, wann die Speicher gefüllt sind, so dass der Handel mit dem Ausland wieder freigebbar sei. (VII-7) Geregelt ist auch, dass alle Aktionä‐ re verpflichtet seien, alle französischen Bürger mit dem Notwendigen zu versorgen – und zwar zu einem gesetzlichen Festpreis, der dem Durchschnittspreis der letzten 15 Jahre entsprechen soll. (VII-9) Den Wohlhabenden und Reichen kommen innerhalb dieses Systems weitere Aufgaben zu. Das VIII. Kapitel beschäftigt sich mit der „staatsbürgerlichen Fürsorge“, die, im Sinne des sozialen Ausgleichs, die Rechte al‐ ler und die Pflichten weniger umfasst. Diese Maßnahmen haben gleichsam eine Art Übergangscharakter, denn L'Anges Ziel war die Angleichung der Lebensverhältnisse in der gesamten Gesellschaft, so dass, ganz banal formuliert, die Reichen durch ihre Pflichten immer ärmer und die Armen durch ihre Rechte immer reicher werden, bis man sich irgendwann in der Mitte trifft. Auch den Reichen unterschob L'Ange eine moralisch-gesellschaftliche Selbstverwirklichung mit dieser Art Hilfe, allerdings schien er dann doch nicht so recht an diese zu glauben, da in den entsprechenden Artikeln des Verfassungsentwurfs Topoi wie „Verpflichtung“ usw. weit häufiger ge‐ braucht werden als in den anderen Passagen des Textes. Stichpunktartig sind seine entsprechenden Vorschläge wiederzugeben:
44 Höppner/Seidel-Höppner 1975, II, S. 541.
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Als arm gelten Eltern, „die nur von ihrer Arbeit leben und nicht mehr als 800 Livres im Jahr verdienen“. (VIII-2) Alle Unverheirateten und alle kinderlosen Witwer und Witwen mit mehr als 2000, alle Ehepaare ohne eigenen Kinder mit mehr als 3000 und alle Ehe‐ paare mit einem bis drei Kindern und mehr als 9000 Livres netto Jahresein‐ kommen „sind verpflichtet, auf ihre Kosten ein Kind armer Leute aufzuzie‐ hen oder aufziehen zu lassen“. (VIII-2) Je weitere 1000 Livres Einkommen kommt die Sorgepflicht für ein weiteres Kind hinzu.45 (VIII-2) Die wohlhabenden Bürger müssen sich „feierlich verpflichten, einen unheil‐ bar kranken Armen bei sich aufzunehmen und zu versorgen“. (VIII-1) Einrichtung eines Armenfonds. (VIII-4) Gebildet wird dieser aus verschiede‐ nen Einkünften, beispielsweise einer Nationallotterie, der Hundesteuer, Geldstrafen, Nachlässen von Verstorbenen ohne direkte Angehörige, Spen‐ den ausländischer Besucher, die zu diesen aufgefordert werden und die in deren Pässen ehrenhalber vermerkt werden sollen. (VIII-4) Dieser Fonds übernimmt verschiedene Aufgaben: Arme Familienväter erhalten Kredite, um Heideflächen oder unbebaute oder unfruchtbare Ländereien zu bearbeiten. Hierfür erhalten sie aus dem Fonds zinsfreie Kredite. (VIII-5) Zinsfreie Kredite erhalten auch arme Familien, damit sie wieder von ihrer ei‐ genen Arbeit leben können. (VIII-5)
In L'Anges Entwurf ist, das zeigt die Aufzählung, durchaus auch das noch heute weit verbreitete und in genossenschaftlichen Strukturen (aber nicht im Rahmen ego‐ istischen kapitalistischen Wirtschaftens) sicherlich gut funktionierende Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe präsent, sein Staat also keine Armenfürsorgeanstalt, sondern eine Republik tätiger (demnach tugendhafter und moralischer) Bürger. Doch wie soll dieses gesamte System – neben den bisherigen Angaben – dauerhaft finanziert wer‐ den? Immerhin stehen neben der sozialen Fürsorge weitere gewaltige Aufgaben und Ausgaben an: „Auf Grund des in den vorangegangenen Kapiteln angegebenen gleichbleibenden hohen Steueraufkommens verpflichtet sich die Nation, ungefähr 700.000 ihrer Bürger zu entlohnen, für den Unterhalt sämtlicher Armen Frankreichs zu sorgen und alle Bedürfnisse des Staates zu bestreiten.“ (IX-2) Das Steueraufkom‐ men soll auf einem möglichst hohen Stand gehalten werden. (IV-1) Und es soll mög‐ lichst gleich bleiben, also nicht erhöht werden, damit das öffentliche Wohl nicht ge‐ 45 „Die Bürger und Bürgerinnen, die der in Artikel 2 festgesetzten Verpflichtung unterliegen, zah‐ len der Mutter vom sechsten Schwangerschaftsmonat an drei Jahre lang 10 Sous pro Tag. So‐ bald das Kind drei Jahre alt ist, sorgen sie vollständig für seine gesamte sittliche und physische Betreuung, bis es seinen Lebensunterhalt selber verdienen kann.“ (VIII-3)
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fährdet wird, die einzelnen Bürger in ihrer persönlichen Wirtschaftsführung nicht ge‐ stört werden und die Staatsmacht keine Möglichkeit bekommt, sich von ihrer Basis zu trennen. (IX-1) Die Steuern auf Luxusartikel, Tiere und Wagen und Vergnügungen sollen beibe‐ halten werden. (IV-4) Gleichzeitig wird aber die „gegenwärtige Steuer auf das vor‐ ausberechnete Einkommen durch eine freiwillige Steuerabgabe ersetzt“. (IV-5) Zu‐ dem soll ein umfassendes und gleichzeitig gerechtes System der Steuerveranlagung eingeführt werden, das jedes Haus, Bauwerk usw. erfasst. (IV-6) Jede andere Grund‐ steuer soll 40 Prozent betragen. Die auf landwirtschaftliche Produkte zu zahlenden Steuern werden in natura erhoben. (IV-7) Weitere Artikel beschäftigen sich dann mit dem Wert des Geldes (und des Goldes), mit dem Tauschwert, mit der Landwirt‐ schaft, den anfallenden Transportkosten usw.46 Vorgesehen ist die Einführung stän‐ dig laufender Grundbücher, in denen alle Werte erfasst sind. (VI-1) Dass L'Ange wirklich von den Sorgen und Nöten der armen Bevölkerung ausging zeigt sich in verschiedenen Regelungen über die Rückgabe von Waren bei zu hohen Preisen, ent‐ sprechenden Strafen oder beispielsweise in der sehr modern anmutenden Regelung, dass man die Miete für Wohnung oder Gebäude offiziell reduzieren dürfe, wenn „fühlbare Unzulänglichkeiten und Nachteile“ nicht im Mietvertrag geregelt sind. (VI-6) Zu ergänzen ist noch, dass nach Erfüllung aller dieser Verbindlichkeiten und der Bestückung aller Vorratsspeicher L'Ange zu Folge noch ein Überschuss vorhan‐ den sein werde, der gleichmäßig an alle Kreise verteilt und dazu verwendet werden soll, „erstens die Flüsse zu regulieren und sie gefahrlos benutzbar zu machen, zwei‐ tens die öffentlichen Straßen zu verbessern und zu unterhalten, drittens Gebäude, Plätze, Promenaden, Springbrunnen und andere öffentliche Einrichtungen anzulegen und zu verschönern“. (IX-3) Der politische Willensbildungsprozess bis hin zu seinem finalen Ziel, dem ferti‐ gen und beschlossenen Gesetz, vollzieht sich entsprechend dem politisch-organisato‐ rischen Aufbau der Republik. (Das ganze X. Kapitel thematisiert „Die Form der sou‐ veränen Beschlussfassung“.) Jeder Bürger kann in seiner Hundertschaft Vorschläge machen. (X-1) Jeweils mit Mehrheitsbeschlüssen „wandern“ diese Vorschläge dann von „unten“ nach „oben“. In der Legislative (dem Kongress) werden die Eingaben schließlich behandelt. (X-13–15) Dort beschäftigen sich nach dem Losverfahren 46 L'Ange entwickelte eine Schätzregel, um „den wahren Wert der Gegenstände zu ermitteln“. Seine Verfassung schreibt im V. Kapitel fest: „Jeder Tauschwert hat zwei Seiten, Produktion und Gebrauch. Die erste bestimmt den inneren Wert, die zweite den Handelswert, bei dem man die Beschaffenheit der Gegenstände, ihre Gebrauchseigenschaften und den Geschmack oder die Bedürfnisse der Menschen in Anschlag bringt. Berücksichtigt wird nur der innere Wert.“ (V-1) Was dies bedeutet, zeigt am Beispiel des Goldes der Artikel V-II: „Der innere Wert des Goldes besteht allein in den notwendigen Kosten für die Ausbeutung der Bergwerke.“ Weitere Maßregeln werden dann für die Produkte in der Landwirtschaft entwickelt, die Preise für die Waren festgesetzt. Gold und Silber werden dauerhaft an die vorgeschriebenen Preise gebun‐ den.
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Gruppen von Abgeordneten mit den einzelnen Vorschlägen. (X-15–17) Ziel ist die Erstellung einer Gesetzespräambel – die die dahinter stehende Idee, die jeweiligen Stimmverhältnisse usw. erklären soll (X-18) – samt eines genauen Gesetzestextes. (X-17) Abschließend wird das Gesetz dann den einzelnen Bürgern in ihren Hundert‐ schaften zur Annahme oder Ablehnung vorgelegt. (X-20–21) L'Ange sah dieses Ver‐ fahren als äußerst praktikabel an und ging davon aus, dass Frankreich, sollte es seine damalige Größe beibehalten, „die Schaffung jedes beliebigen Gesetzes im Laufe von drei Monaten“ fertig bringen werde. (X-22) Beigegeben bzw. angehängt war dem Text von L'Ange noch ein Vorschlag zur Begründung einer Luftflotte nach den Erfindungen von Joseph Montgolfier. Phan‐ tastisch anmutend (an das Zitronenlimonadenparadies Charles Fouriers erinnernd) hatte er doch einen realen und rationellen Kern. Auch an diesem Punkt sollte die vereinigte Kraft aller Franzosen die notwendigen Gelder zur Weiterentwicklung zu‐ sammentragen und gleichzeitig ein Übergewicht der Armee für die nationale Vertei‐ digung schaffen. „Wenn das französische Volk als erstes in der Atmosphäre manö‐ vriert, fällt es ihm leicht, jedes andere Volk zu hindern, in die Luft aufzusteigen. Stünde es wirklich zu befürchten, dass sich die Feinde des Volkes der gleichen Waf‐ fe bedienen, so wäre das ein Grund mehr, sich schleunigst mit ihr vertraut zu ma‐ chen, um sie anwenden zu können. Lässt das Volk es zu, dass man ihm zuvorkommt, wird es die Beute der Geier.“ (44) Kropotkin sah eines der wichtigen Elemente in den Konzeptionen von Roux, L'Ange und anderen darin, dass sie über die reine Agrarfrage hinaus dachten. Sie hätten auch die Bedeutung von Industrie und – vor allem – Handel erkannt und da‐ mit den Kämpfen und ideologischen Debatten des 19. Jahrhunderts vorgearbeitet. Er schrieb: „Man sieht so während der Revolution die Idee aufkeimen, dass der Handel eine Funktion der Gesellschaft ist; dass er, wie der Boden selbst und die Industrie, vergesellschaftet werden muss, die Idee, die später von Fourier, Robert Owen, Proudhon und den Kommunisten der vierziger Jahre weiter entwickelt wurde. Noch mehr. Es ist kein Zweifel für uns, dass Jacques Roux, Varlet, Dolivier, L'Ange und Tausende von Einwohnern in der Stadt und auf dem Land, Bauern und Handwerker, was die Praxis angeht, die Lebensmittelfrage außerordentlich viel besser verstanden als die Abgeordneten des Konvents. Sie verstanden, dass die Festsetzung der Preise allein, ohne die Sozialisierung des Bodens, der Industrien und des Handels, ein toter Buchstabe bleiben müsste, selbst wenn sie mit einem ganzen Arsenal von Zwangs‐ gesetzen und dem Revolutionstribunal verschanzt wäre. Dass das System des Ver‐ kaufs der Nationalgüter, wie es die Konstituierende und die Gesetzgebende Ver‐ sammlung und der Konvent angenommen hatten, jene Großpächter geschaffen hat‐ ten, die Dolivier mit Recht als die schlimmste Aristokratie bezeichnete, merkte der Konvent im Jahre 1794 wohl. Aber er wusste keinen anderen Rat, als sie in Massen verhaften zu lassen, um sie zur Guillotine zu schicken. Die drakonischen Gesetze
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gegen das wucherische Aufkaufen jedoch (wie zum Beispiel das Gesetz vom 26. Ju‐ li, das die Durchsuchung der Speicher, der Keller, der Scheunen bei den Pächtern anordnete) säten in den Dörfern nur den Hass gegen die Stadt und insbesondere ge‐ gen Paris. Das Revolutionstribunal und die Guillotine konnten das Fehlen einer auf‐ bauenden kommunistischen Idee nicht ersetzen.“47 Letztlich ist die Aussage von Kropotkin die, dass die Bergpartei als Verfassungs‐ partei gescheitert sei. Ihr Motto – „Zuerst die Republik, die sozialen Maßnahmen können später kommen.“ – richtete nacheinander sie selbst und die Republik zu Grunde.48 Es liegt ein wahrer Gedanke in dieser Feststellung. Zu viel versprachen sich die Jakobiner von der Kodifizierung der Republik, so viel, dass sie vergaßen, welche Volksbewegung sie trug.
47 Kropotkin 1982, II, S. 187f. 48 Kropotkin 1982, II, S. 189.
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9. Annahme, Wertung und Nachklänge der Verfassung
Es ist hier ein Buch über die Verfassungsdebatten des Jahres 1793, wie sie diese ent‐ scheidende Phase der Revolution prägten und aus ihr hervorgingen, zu schreiben. Man könnte meinen, dass das Ziel erreicht ist. Aber ganz so einfach dürfen wir es uns nicht machen. Nur weil die Verfassung das Parlament verlassen hat, ist ihre Ge‐ schichte noch nicht zu Ende erzählt. Denn auch in dieser Angelegenheit hatte, wie es sich für eine richtige Revolution (nunmehr ohne politisch herrschende, freilich im‐ mer noch existente Großbourgeoisie) gehört, das Volk das letzte Wort. Am 10. August 1793 sollte anlässlich des großen Nationalfestes das Ergebnis der Volksabstimmung über die Verfassung vorgelegt werden. Als Termine für die Einbe‐ rufung der Urversammlungen – und damit der Abstimmungen – waren festgesetzt für Paris der 2. bis 4. Juli und in der Provinz der 14. bis 22. Juli. Die Kommission zur Stimmzählung sollte nach dem Rücklauf der Ergebnisse aus den einzelnen De‐ partements am 9. August dem Konvent ihren Bericht abstatten. Dieser Zeitplan war so eng gestrickt, dass er nicht eingehalten werden konnte. Der Berichterstatter der Zählungskommission, Gossuin, konnte am 9. August noch keine endgültigen Zahlen angeben, aber versichern, dass es ganz klar sei, dass das Volk die Verfassung ange‐ nommen habe. Die Abstimmung des Volkes über den Verfassungsentwurf war keine Idee der Ja‐ kobiner, sie fand sich bereits in dem Entwurf Condorcets und war der Idee geschul‐ det, dass das Volk als Souverän über die Organisation seiner Gesellschaft und seines Staates zu entscheiden habe. Sie entsprach voll und ganz dem damaligen Zeitgeist, den Wünschen des Volkes. Eine beeindruckende Idee, wahrhaft und von Grund auf demokratisch. Gerade wenn man sich vor Augen führt, dass dem gesamten deut‐ schen Volk nach 1989 das Recht genommen wurde, dass überhaupt nur seine Vertre‐ ter, noch nicht einmal es selbst, dem geeinten Vaterland eine neue Konstitution ge‐ ben durften. Sicherlich ist auch dies ein weiterer Baustein dafür, dass die Bourgeoi‐ sie noch heute ein Interesse daran hat, auch bzw. vielleicht sogar gerade in Deutsch‐ land jedwede positive Rückerinnerung auf 1793, den Beginn der Herrschaft der Ja‐ kobiner, zu verhindern. In seiner Darlegung der Prinzipien und Gründe des Verfassungsentwurfs hatte Condorcet die Volksbefragung wie folgt begründet: „Warum aber legt man den Bür‐ gern einen Verfassungsentwurf zur unmittelbaren Annahme vor? Doch wohl des‐ halb, damit das Volk, das den durch sein Einverständnis eingesetzten Gewalten nur einen vorläufigen Gehorsam leistet, seine vollständige Souveränität bewahrt; damit keine Gewalt eingesetzt werden kann, die seine Rechte missachtet – und sei es nur
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vorübergehend; damit die Zustimmung des Volkes jenen Gesetzen die Autorität des erklärten Willens der Mehrheit verleiht. Die Annahme einer Verfassung in ihrer Ge‐ samtheit durch die Mehrheit der Bürger in getrennten Versammlungen, deren Mit‐ glieder Gelegenheit hatten, diese Verfassung zu prüfen, bestätigt auf eindeutige Wei‐ se, dass die Bürger ihre Verabschiedung weder als gefährlich für die Freiheit noch als gegen ihre Interessen ansehen; dass sie nichts enthält, was die Rechte der Bürger verletzt; dass sie ihnen diese Rechte in ihrer Gesamtheit zu garantieren scheint und dem privaten Machtstreben Hindernisse in den Weg stellt, die schwer zu überwinden oder zu beseitigen sind. Eine Ablehnung drückt hingegen aus, dass die Bürger diese Garantie in jener Verfassung nicht finden oder sogar, dass der ihnen vorgelegte Ent‐ wurf ihre Rechte eher verletzt als verteidigt.“1 Das war im Prinzip auch das Denken der Jakobiner, so dass deren Theorie und Praxis zusammen mit den Überlegungen und Entwürfen der Gironde als Ausdruck des damaligen Zeitgeistes begriffen werden kann. Ein Unterschied beider Positionen ist – wie bereits gesagt – letztlich wenn, dann nur darin zu sehen, dass die Jakobiner in diesem Prozess die Rolle des allgemeinen Willens stärker betonten, also intensi‐ ver und direkter auf Rousseau rekurrierten (in der Theorie, in der Praxis war der von ihnen beschworene allgemeine Wille zumeist (fast immer) nur eine Sammlung von Einzelwillen bzw. deren Majorität). Die Abstimmung über die Verfassung fand nicht in ganz Frankreich statt, dies ist hier zumindest anzumerken, auch wenn es für das gleich zu besprechende Ergebnis kaum quantitative Relevanz besitzt. Teile des Departements Nord waren von feindli‐ chen Truppen besetzt, dort gab es keine Abstimmungen, ebenso im Departement Korsika und in zahlreichen Gemeinden der Vendée, in der ja die Konterrevolution tobte. Gossuin führte in seinem Bericht am 9. August aus, dass in der Vendée nur 29 Urversammlungen zusammengetreten seien, im Departement Nord zumindest knapp über 50 Prozent.2 „Derselbe Bericht stellt fest, dass alle großen Städte außer Mar‐ 1 Condorcet 2010, S. 178. Weiter heißt es: „Werden sie nach einer Prüfung des gesamten Verfas‐ sungsentwurfs – die auch jeder Bürger einzeln für sich vornehmen kann – erklärt, dann drücken sowohl die Ablehnung wie die Annahme eine sachkundige Meinung und einen wohl begründe‐ ten Willen aus. Für die Annahme reicht es nicht aus, dass nur ein Teil jenes Entwurfs allgemeine Zustimmung verdient, es ist notwendig, dass jeder Teil des Ganzen zustimmungswürdig scheint. Für eine Ablehnung genügt hingegen, dass einige Teile in den Augen der Mehrheit echte Gefah‐ ren enthalten und sich ihre Zustimmung somit nicht auf die Gesamtheit des Werks erstrecken kann. Die Entscheidung kann also in ausreichender Kenntnis des Gegenstandes getroffen wer‐ den. Die Form, in der sie erfragt wird, lässt vollständige Freiheit. Das Volk hat tatsächlich nur die Ausarbeitung der Verfassung delegiert – eine Aufgabe, die es nicht selbst übernehmen kann. Die anschließende Ablehnung oder Annahme drückt seinen wirklichen Willen aus. In den ande‐ ren Fällen, in denen wir vorschlagen, das Volk auf diese Art zu befragen, sind wir genau densel‐ ben Prinzipien gefolgt. Es handelt sich stets um einfache Fragen, deren Beantwortung vollstän‐ dig frei und in keiner Weise von der Art der Fragestellung beeinflusst ist, da diese Form der Be‐ fragung stets nur in solchen Fällen angewandt wird, wo die Ablehnung oder Annahme des Vor‐ schlags den Willen ausdrückt, den man in Erfahrung bringen wollte.“ (S. 178f.) 2 Siehe: Aulard 1924, S. 243f.
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seille die Verfassung einstimmig angenommen hatten und das von den 40.000 Ge‐ meinden der Republik nur eine, die von Saint-Donan (Côtes-du-Nord) die Wieder‐ herstellung des Königtums gefordert hatte. Wie die Listen zeigen, erfolgte kein Wi‐ derspruch in sechs Departements: Basses-Alpes, Isère, Meuse, Paris (40.900 mit Ja), Haute-Saône, Var. Am meisten Widerspruch erhob sich in den Departements Finistè‐ re (2965 mit Nein), Morbihan, Côtes-du-Nord, Mont-Terrible (1007 mit Nein, gegen 1592 mit Ja), Aveyron, Montblanc, Doubs, Orne, Seine-Inférieure, Calvados, La Manche, Mayenne, Rhône-et-Lore, Gironde.“3 In den zusammentretenden einzelnen Urversammlungen war der Ablauf durch das Dekret vom 27. Juni 1793 so geregelt, dass der Schriftführer nach der Eröffnung der Versammlung die Verfassungsurkunde zu verlesen hatte. Anschließend sollte der Vorsitzende mit der Abstimmung beginnen und die Bürger entsprechend der Wahl‐ liste einzeln aufrufen. Im Protokoll sollte dann die Zahl der Ja- oder Nein-Stimmen festgehalten werden. Wie in der Verfassungsdiskussion festgelegt und durch das De‐ kret bestätigt, sollte in den Urversammlungen entweder mit Stimmzettel oder öffent‐ lich abgestimmt werden, ganz so, wie es jeder einzelne Wähler wünsche. Angesichts der gewaltigen Zahl von Urversammlungen ist klar, dass diese Vorschriften nicht überall akkurat befolgt wurden, wobei es Änderungen in die verschiedensten Rich‐ tungen gab, also keine vermeintlich jakobinisch-terroristische Tendenz. So wurde teilweise die geheime Wahl durch Stimmzettel festgelegt (beispielsweise in der Ur‐ versammlung von Donjon (Allier), wo das Ergebnis lautete 122 Ja-, 20 Nein-Stim‐ men, 9 unbestimmt, oder aber die Abstimmung erfolgte wegen der alles überdecken‐ den Begeisterung durch reine Akklamation, was vor allem in den Pariser Versamm‐ lungen der Fall war. Zwei Beispiele können dies illustrieren:4 Über die Abstimmung in dem Pariser Bezirk Maison-Commune berichtet das dort angefertigte Protokoll: „Der Vorsitzende verkündete, dass jeder Bürger frei sei und ohne Furcht seine Stimme über die Verfassungsurkunde abgeben solle. Jeder könne der Versammlung alles mitteilen, was nach seiner Meinung der Wohlfahrt des fran‐ zösischen Volkes widerspräche. Da keine einzige Einwendung erfolgte, wurde somit zur Abstimmung über besagte Verfassungsurkunde geschritten. Sie wurde einstim‐ mig und mit dem allgemeinen Beifallsruf 'Es lebe die Republik! Es lebe die Frei‐ heit!' angenommen.“ Über die Abstimmung in dem Pariser Bezirk des Arsenals: „Nach Verlesung der Verfassungsurkunde hallte das Sitzungslokal von dem wiederholten Ruf wider: 'An‐ genommen! Es lebe die Republik!' Jedermann stand auf, um der Verfassungsurkunde spontan zuzustimmen, aber der Vorsitzende verlangte nach Wiederherstellung der durch den Freudenausbruch gestörten Ordnung die Ausführung des Gesetzes. Er schritt zur Abstimmung und ließ die anwesenden Bürger nach der Liste aufrufen. 3 Aulard 1924, S. 244. 4 Aulard 1924, S. 244, dort auch die beiden folgenden Beispiele: 244f.
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Nach erfolgtem Aufruf und Stimmenzählung ergab sich, dass 364 Stimmen abgege‐ ben wurden, die sämtlich auf Annahme lauteten. Diese unzweideutige Einstimmig‐ keit löste neue Freudenausbrüche aus. Dieser allgemeine Gefühlsüberschwang, der sich leichter fühlen als beschreiben lässt, äußerte sich in brüderlichen Umarmungen, den Vorzeichen eines dauerhaften Glücks, denn dieses beruht auf einer von der Weisheit diktierten und auf der Gleichheit begründeten Verfassung.“ Nachdem auf den zurückliegenden Seiten so oft von Verfassungsparagraphen und trockenen Vorschriften die Rede war, sei es erlaubt, ganz im Sinne der gerade wie‐ dergegebenen Protokolle zur Annahme der Verfassung in den Pariser Versammlun‐ gen, noch ein wenig dem Pathos zu frönen. Für den 10. August war, das klang an, in ganz Paris ein gewaltiger Festumzug organisiert, um an diesem historischen Tag die Zukunft in Gestalt der vom Volk angenommenen Verfassung zu zelebrieren, die französische Nation für die kommenden Herausforderungen innen- und außenpoliti‐ scher Art zusammen zu führen. Christoph Girtanner, dem es erhebliche Bauchschmerzen bereitet hätte, auch nur ein freundliches Wort über die Jakobiner zu sagen, hat in dem 14. Band seiner (quantitativ beeindruckenden) Revolutionsgeschichte den 10. August geschildert: „Am folgenden Tage erhob sich der feierliche Zug nach dem Marsfelde. Voran gin‐ gen alle vereinten Volksgesellschaften. Dann folgte der Nationalkonvent, zum Un‐ terscheidungszeichen mit einer Kornähre in der Hand.5 Um ihn her schlossen die Abgeordneten aller Urversammlungen, eine Pike in der einen, einen Ölzweig in der anderen Hand, eine Art von Kette. Die ganze Volksmenge floss hinter ihnen her. Den Beschluss machten die Krieger, in deren Mitte ein mit schneeweißen Pferden bespannter Wagen eine Urne zum Andenken der fürs Vaterland gefallenen Helden trug. Zuerst verweilte der Zug an jenem Ort, wo einst die Bastille gestanden hatte. Hier war ein kolossalisches Bild errichtet,6 das die Natur darstellte. Aus ihren Brüs‐ ten floss kristallhelles Wasser. Becher wurden damit angefüllt. Die Ältesten der Ab‐ 5 Zu ergänzen ist diese Aussage durch die Anmerkungen Michelets: „Dahinter schritt der Kon‐ vent, ohne besondere Tracht, von einem dreifarbigen Band umgeben, das von den Föderierten gehalten wurde. Das Volk schien so seine Versammlung gleichsam zu umarmen, zusammenzu‐ halten und einzuschließen.“ Und weiter: „Noch jemandem war das Fest keine Feier: Dem, der es beschlossen hatte, dem Konvent. Der kluge und feine Festordner hatte in der Vereinigung der Bevollmächtigten des Volkes dessen Verbrüderung symbolisieren wollen; die Versammlung sollte also ohne Abzeichen erscheinen, als Volk unter Volk, und ein von den Abgesandten der Urversammlungen gehaltenes, dreifarbiges Band sollte sie einschließen. So erschien der Kon‐ vent wie am Leitseil. So leicht auch dies Band war, es erinnerte nur allzu bitter an die kürzliche Demütigung der Versammlung, an ihre Gefangenschaft vom 2. Juni. Als Ludwig XVI. zur Feier des 14. Juli 1792 geführt wurde, sagte ein Schriftsteller von ihm: 'Er sieht aus wie ein Schuldge‐ fangener.' Aber der König war wenigstens nicht gefesselt. Der Konvent hingegen trug seine Fes‐ seln sichtbar; man hatte ihm nicht einmal den Anblick seiner Ketten erspart.“ (Michelet o. J., IV, S. 268 und 270f.) 6 Jacques-Louis David hatte die Statuen geschaffen. Michelet schrieb über ihn: „David war die verkörperte Anstrengung. Darin war er der Ausdruck seiner Zeit. Ein Künstler, vom großen Or‐ kan aufgerüttelt, ein mühseliges und gewalttätiges Genie, das sich selbst eine Qual war, trug Da‐
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geordneten jedes Departements tranken daraus. Hérault de Sechelles, Präsident des Konvents, ein großer, schöner Mann, sprach folgende Rede:“7 Anschließend gab Girtanner Héraults Rede mit einigen Zwischenkommentaren wieder. Und da sich die ganze Szenerie nicht zusammenfassen, nicht in einfache prägnante Sätze bringen lässt, sind seine Ausführungen hier wiederzugeben (an Poesie Nichtinteressierte können die Passage überlesen, überblättern): Hérault begann am Platz der Bastille zu reden: „'Gebieterin der Wilden und der aufgeklärten Nationen! O Natur, dies mit den ersten Sonnenstrahlen vor deinem Bil‐ de versammelte Volk ist deiner würdig. Errungen hat es die Freiheit. In deinem Schoß, in deinen heiligen Quellen hat es mit seinen Rechten seine Palingenese ge‐ funden. Nach so vielen Jahrhunderten der Verirrung und der Sklaverei musste es auf deine einfachen Pfade zurückkehren, um Freiheit und Gleichheit wieder zu erhalten. O Natur! Vernimm den Ausdruck der ewigen Liebe, welche Franzosen deinen Ge‐ setzen schwören; und möge dieses reine Wasser, das deinen Brüsten entquillt, in die‐ ser Schale der Brüderschaft und Gleichheit die Schwüre heiligen, welche Frankreich dir an dem heutigen Tage leistet, dem schönsten, auf welchen die Sonne herabblick‐ te, seitdem sie ihr Licht aus jenen unendlichen Räumen ergießt.' Zum zweiten Mal hielt der Zug vor dem Triumphbogen. Hérault de Sechelles sprach: 'Welch Schau‐ spiel! Die Schwäche des Geschlechts und der Heroismus des Muts! O Freiheit! Dei‐ ne Wunder sind dies! Du warst es, die an jenen beiden Tagen, wo das Blut die Ver‐ brechen der Könige zu büßen begann, in den Herzen einiger Weiber jene Kühnheit entflammte, welche die Satelliten der Tyrannen zu ihren Füßen niederwarf oder in die Flucht trieb. Durch dich und unter deinen zarten Händen erschollen jene Donner, welche dem Ohr eines Königs eine Veränderung des Geschicks ankündigten. Unzer‐ störbar war der Dienst, den Franzosen dir weihten; von dem Augenblick an, wo du die Leidenschaft ihrer Gefährtinnen wurdest. O Weiber! Von allen Tyrannen ange‐ griffen, bedarf die Freiheit zu ihrer Verteidigung eines Volks von Helden. Ihr müsst sie gebären. Mit der Muttermilch müssen alle kriegerischen und hochherzigen Tu‐ genden in das Herz aller französischen Säuglinge strömen. Anstatt der Blumen, wel‐ che die Schönheit schmücken, überreichen euch die Stellvertreter des souveränen Volks den Lorbeer, das Sinnbild des Muts und des Sieges. Euren Kindern sollt ihr ihn vererben.' Zum dritten Mal hielt der Zug auf dem Revolutionsplatze. In kolossa‐ lischer Größe erhob sich hier das Bild der Freiheit. Zu ihren Füßen lagen die Insigni‐
vid in seiner wirren Seele die Kämpfe und Erschütterungen, in denen die Schreckensherrschaft jäh aufschoss. Dieser Prometheus von 1793 nahm Ton und formte daraus drei Götter, drei rie‐ senhafte Statuten: Die Natur auf den Ruinen der Bastille; die Freiheit auf der Place de la Révo‐ lution; das Volk als Herkules, wie es die Zwietracht, das heißt den Föderalismus niederwirft, auf der Place des Invalides. Dazu kam ein Triumphbogen auf dem Boulevard des Italiens, schließ‐ lich der Altar des Vaterlandes auf dem Champ de Mars: Das waren die fünf Haltestellen.“ (Mi‐ chelet o. J., IV, S. 268.) 7 Girtanner 1802, 14, S. 91f.
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en des Feudalrechts. 86 Abgeordnete, einer aus jedem Departement, schwangen die flammenden Fackeln und verwandelten sie in Asche. Der Präsident sprach: 'Hier hat das Beil des Gesetzes den Tyrannen getroffen. Vernichten wollen wir die schändli‐ chen Insignien der Knechtschaft, welche die Despoten unseren Blicken unter allen möglichen Gestalten vorhielten. Die Flamme verzehre sie. Nichts sei unsterblich als das Gefühl der Tugend, die sie vernichtet hat. Gerechtigkeit! Rache! Schutzgotthei‐ ten freier Völker, knüpft für immer den Fluch des menschlichen Geschlechts an den Namen des Verräters, welcher auf einem, von der Großmut selbst errichteten Thron, das Vertrauen eines hochherzigen Volkes zu täuschen vermochte. Freie Menschen! Volk, das aus lauter Freunden und Brüdern besteht, setze fortan die Sinnbilder deiner Größe nur aus den Attributen deiner Arbeiten, deiner Talente und deiner Tugenden zusammen. Die Pike und die Freiheitsmütze, die Pflugschar und die Garbe, und die Sinnbilder aller Künste, wodurch sich die Gesellschaft bereichert und verschönert hat, müssen fortan die Verzierungen der Republik ausmachen. Heilige Erde! Schmü‐ cke dich mit allen den wahren Gütern, welche alle Menschen teilen; aber sei un‐ fruchtbar für alles, was zu den ausschließenden Genüssen des Stolzes dient.' Zum vierten Mal hielt der Zug vor einem kolossalischen Bilde, welches das Volk der Franzosen darstellte; einen Herkules auf dem Gipfel eines Berges, wie er mit narbi‐ ger Hand den Bund von 86 Pfeilen festhält. Der Föderalismus tauchte aus einem Sumpfe hervor, um einen Teil von diesem Bunde abzureißen; aber niedergeschmet‐ tert wurde er von der furchtbaren Keule des Heros. Sechelles sprach: 'Frankenvolk! Da stehest du vor deinen eigenen Blicken unter einem lehrreichen Sinnbilde. Dieser Riese, welcher mit mächtiger Faust so viele Departementer vereinigt, bist du. Jenes Ungeheuer, dessen verbrecherische Hand den Bund zerreißen möchte, ist der Föde‐ ralismus. Volk, dem Hass und der Verschwörung aller Despoten geweiht, erhalte dei‐ ne Größe, um deine Freiheit verteidigen zu können; einmal wenigstens sei auf Erden die Macht mit der Tugend und Gerechtigkeit verbündet. Befehde diejenigen, welche dich teilen wollen, eben so kräftig als die, welche deinen Untergang geschworen ha‐ ben; denn sie sind nicht minder schuldig. Ausgestreckt vom Ozean bis zum mittel‐ ländischen Meere und von den Pyrenäen bis zum Jura, müssen deine Arme lauter Brüder, lauter Kinder umfassen. Erhalte unter einem Gesetz und unter einer Macht einen der schönsten Teile dieses Erdballs. Jene sklavischen Völker, die nur die Stär‐ ke und das Glück bewundern können, müssen als Zeugen deines allerverbreitetsten Wohlseins das Bedürfnis fühlen, sich nach deinem Beispiel zur Freiheit zu erheben.' Zum fünften Mal hielt der Zug vor dem Altar des Vaterlandes auf dem Marsfelde. Hier legte der Präsident die Akten von der Stimmensammlung aller Urversammlun‐ gen Frankreichs mit folgenden Worten nieder: 'Franzosen! Eure Mandatarien haben in 86 Departementern eure Vernunft und euer Gewissen über die euch vorgelegte Konstitutionsakte befragt. 86 Departementer haben sie angenommen. Nie hat ein einmütigerer Wunsch eine größere und dem Volke beliebtere Republik organisiert.
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Als vor Jahr und Tag der Feind auf unserem Gebiete hauste, erklärten wir uns für Republikaner und siegten. Ganz Europa befehdet uns jetzt, während wir uns eine Verfassung geben. Lasst uns schwören, die Konstitution bis zum letzten Atemzuge zu verteidigen. Ewig sei die Republik!' Unter grenzenlosem Entzücken, unter millio‐ nenfachem Freudengeschrei wurde nun feierlich der ausdrückliche Volkswille ver‐ kündigt: Dass die am 24. Junius vollendete und beschlossene Konstitution von nun an das einzige, ewig bleibende Staatsgesetz des französischen Volkes sei. Hérault de Sechelles beschloss mit einer Anrede an die große Urne, welche die Asche aller für das Vaterland gefallenen Krieger enthalten sollte. Er sagte unter anderem: 'Kühne Männer! Teure Asche! Heilige Urne! Ich grüße dich, ich umfasse dich im Namen des französischen Volks. Auf dich lege ich die Lorbeerkrone nieder, welche der Na‐ tionalkonvent und das Vaterland dir darbringen. Wir weinen nicht bei deinem An‐ blick. Das Auge des Mannes ist nicht für Tränen gemacht. Und wen sollten wir be‐ weinen? Entschlossenen Helden, wie glücklich seid ihr! Gestorben seid ihr für das Vaterland, für einen von der Natur begünstigten und vom Himmel geliebten Erd‐ fleck; für ein gutherziges Volk, das jede Tugend ehrend umfasst; für einen Freistaat, worin Achtung und Vertrauen, nicht Gunst und Zufall die Rollen verteilen. Nein! Wir wollen euch nicht mit Tränen verunglimpfen. Nachahmend wollen wir euch eh‐ ren.'“8 Nach diesen überaus blumenreichen Schilderungen der Feierlichkeiten des 10. August sind nun noch die nüchternen und genauen (der Beamte liest Gedichte auch nur nach Feierabend) Ergebnisse der Kommission zur Stimmenzählung nach‐ zureichen, die am 20. August im Konvent vorgestellt wurden. „Von den 4944 Kan‐ tons, aus denen, wie sie sagte, die Republik bestand, waren die Protokolle von 516 noch nicht eingegangen. Die Verfassung war mit 1.784.377 Stimmen gegen 11.531 angenommen. Am 1. Pluviôse wurde eine Ergänzungsliste aufgestellt. Seit dem 20. August waren die Protokolle von 92 Kantons mit 17.541 bejahenden und 79 ver‐ neinenden Stimmen eingegangen. Am 1. Pluviôse also war die Verfassung mit 1.801.918 gegen 11.610 Stimmen angenommen. Es fehlten noch die Protokolle von 424 Kantons, von denen nicht mehr die Rede war. Meines Wissens wurde keine wei‐ tere Statistik aufgestellt.“ Angesichts dieses mehr als eindeutigen Ergebnisses kann auch Aulard den von ihm festgestellten Stimmergebnissen die Würdigung nicht ver‐ sagen: „Wenn diese Ergebnisse auch nicht vollständig sind, so zeigen sie doch zur Genüge, dass die Verfassung fast einstimmig angenommen wurde. Gewiss war die Zahl der Stimmenthaltungen gewaltig, aber nur im Verhältnis zu unseren jetzigen Wahlgewohnheiten und nicht nach den damaligen Verhältnissen. Selbst unter der konstitutionellen Monarchie und dem Zensuswahlrechts nahm nur eine schwache Minderheit der Staatsbürger an den Urversammlungen teil. Oft kam es vor, dass nur
8 Girtanner 1802, 14, S. 92–98.
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ein Fünftel der in den Wählerlisten Eingetragenen erschien. Man darf annehmen, dass die, welche sich im Juli 1793 der Stimmabgabe enthielten, dies im Allgemeinen aus Nachlässigkeit, aus Unkenntnis ihrer Rechte, aus Mangel an Erfahrung taten. Die Zahl von nahezu 2 Millionen Stimmen war fast schon ein Fortschritt auf dem Weg der Wahlbeteiligung der Nation im Vergleich zu den früheren Abstimmun‐ gen.“9 Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, nicht zuletzt die opulente Schil‐ derung der Feierlichkeiten des 10. August, nahm Frankreich die Verfassung begeis‐ tert auf. Die Jakobiner hatten gut daran getan, nicht ihre eigenen Positionen vollstän‐ dig umzusetzen, sondern auf die anderen Parteien und Strömungen der Gesellschaft mit Kompromissangeboten zuzugehen. Dies ist ihnen der historischen Gerechtigkeit wegen zu attestieren und hoch anzurechnen. Die Republik stand auf einem festen Fundament, auf einem demokratischen, patriotischem Fundament, das in den nächs‐ ten Wochen und Monaten eine Energie entwickeln sollte (konnte und, vor allem: musste), die die Revolution immer weiter vorantrieb. Bei der Ausschreibung seiner Wahl hatte der Konvent einen klaren Verfassungs‐ auftrag erhalten, der nunmehr erfüllt war. Damit hätte er eigentlich der nächst fol‐ genden Versammlung Platz machen, d. h. Neuwahlen ansetzen müssen. Das bereits erwähnte Dekret vom 27. Juni hatte dies in seinem 8. Artikel noch einmal festge‐ schrieben. „Dieser Artikel lautete: 'Unmittelbar nach der Veröffentlichung des Wil‐ lens des französischen Volkes gibt der Konvent den Zeitpunkt der nächsten Einberu‐ fung der Urversammlungen für die Wahl der Abgeordneten zur Nationalversamm‐ lung und die Bildung der eingesetzten Behörden kund.' Aber seitdem war Valencien‐ nes gefallen und die Koalition marschierte auf Paris. Ging der Konvent in dieser höchsten Gefahr auseinander, so lief er Gefahr, einer weniger homogenen Versamm‐ lung das Feld zu räumen und die Einheit der Regierung in der kritischsten Stunde der nationalen Verteidigung zu gefährden. Schob er andererseits die Durchführung der Verfassung hinaus, so enttäuschte er das Land schwer! Was würden die sagen, die nur die Verfassung zur Niederlegung der Waffen bewogen hatte? Es würde aus‐ sehen, als hätte der Konvent Frankreich aufs Spiel gesetzt, um sich dauernd in der Macht zu behaupten. Aus der Missstimmung, die ein solcher Wortbruch hervorrufen musste, konnte leicht ein Bürgerkrieg entstehen.“10 Es war in der Tat angesichts des immer noch schwelenden inneren Bürgerkrieges, der konterrevolutionären Bestrebungen und des Kriegs der europäischen Mächte ge‐ gen die französische Republik undenkbar, in dieser Situation Wahlen abzuhalten, die Republik für einige Wochen oder gar mehrere Monate einer straffen politischen Füh‐ rung zu entblößen. Der Konvent sah dies – über alle Parteigrenzen hinweg – sehr genau. „Schon am 9. August hatte Gossuin, der im Namen einer besonderen Kom‐ 9 Aulard 1924, S. 243. 10 Aulard 1924, S. 245f.
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mission dem Konvent über die Annahme der Verfassung durch die verschiedenen Volksversammlung zu berichten hatte, am Schluss seiner Rede deutlich durchblicken lassen, dass man nicht gewillt sei, in absehbarer Zeit auseinander zu gehen.“11 Au‐ ßerdem machte Gossuin ein entscheidendes Argument geltend. Die Verfassungsge‐ ber hatten ihr Werk selber als eiligen Entwurf verstanden, der vor allem die Aufgabe habe, Frankreich ein festes Fundament zu geben und die inneren Konflikte zu been‐ den. In diesem Sinne müsse sie bereichert werden durch verschiedene Ausführungs‐ gesetze und Ergänzungen, die die Grundlagen der Verfassung weiter ausführen soll‐ ten: Durch ein allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch, das die Einheitlichkeit der Re‐ publik betonen sollte, und nicht zuletzt durch einen Plan für einen nationalen und allgemeinen Unterricht für alle. Das ist sicherlich einer der Gründe, wenn nicht gar der hauptsächliche, weshalb Robespierre persönlich am 13. Juli 1793 dem Konvent den Nationalen Erziehungsplan seines Freundes Michel Lepeletier vortrug.12 Die Verfassung war im Konvent verabschiedet, nun galt es, die Menschen zu erziehen: Zu jenen Bürgern, die diese Verfassung tragen, die neue französische Republik bil‐ den und ausgestalten würden. Gossuin sagte an jenem 9. August: „Das französische Volk hat seine alten Ge‐ bräuche verworfen, weil es bessere gefunden hat. Stolz und hochherzig will es die Monarchie nicht länger, und erklärt es sich für den Freund anderer Völker. Was wol‐ len also die Satelliten, welche seinen Grund und Boden beflecken? Bilden Sie sich ein, dass die Wegnahme einiger Festungen Frankreich zu Unterhandlungen bewegen werde? Nein! Wir werden unsere Eidschwüre halten. Die Konstitution, die wir am Altar des Vaterlandes zu beschwören im Begriff sind, gebietet uns, der Unterdrü‐ ckung zu widerstehen. Abgeordnete des Volks, unterrichtet nach eurer Zurückkunft eure Mitbürger von dem, was in Paris vorgeht. Habt ihr die Einwohner dieser großen Stadt, mit Dolchen bewaffnet, ungerechte Rache üben gesehen? Nein! Und doch hat‐ te man euch dies Gemälde von Paris entworfen, und doch wollte man euch verhin‐ dern, es zu betreten. Diese erstaunenswürdige Stadt, die Wiege der Freiheit, wird im‐ mer der Schrecken der Bösewichter sein. Habt ihr den Nationalkonvent mit Despo‐ ten umzingelt erblickt? Nein! So seid denn unser Organ bei euren Brüdern und gebt ihnen die Versicherung, dass wir vor der Niederlegung unserer Würde noch einen Kodex des bürgerlichen Rechts, einen Nationalunterricht und manch heilsame Ge‐ setze zu Stande bringen werden. Sagt ihnen zugleich, dass wir uns damit beschäfti‐ gen, den Handel noch blühender zu machen, und dass wir es den Befehlshabern un‐ serer Armeen unmöglich machen werden, irgend etwas gegen den Vorteil des Vater‐ landes zu unternehmen.“13 11 Hintze 1928, S. 450. 12 Abgedr. in: Robespierre 1989, S. 434–499. Robert Alt hat 1949 eine überaus verdienstvolle Ausgabe mit den Erziehungsprogrammen von Mirabeau, Condorcet und Lepeletier veranstal‐ tet, die auch eine gute Einleitung Alts enthält, S. 5–29. 13 Zit. bei: Girtanner 1802, 14, S. 90f.
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Am 11. August, einen Tag nach der großen Volksfeier, „beantragte Delacroix (Eure-et-Loir) eine Maßregel, die dem Konvent eine Frist gewährte und doch das dem Lande gegebene Versprechen sofort zu erfüllen schien. 'Unser Auftrag ist zu Ende', sagte er, 'aber Sie haben die Verleumdungen abzuwehren, die man gegen Sie verbreitet. Die föderalistischen Verwaltungen behaupten, Sie wollten nicht auseinan‐ dergehen. Hätte die Annahme der Verfassung den Wahlmodus nicht geändert, so könnten sofort Neuwahlen stattfinden. Aber Sie haben die Bevölkerung durch Volks‐ zählung festzustellen.' Und er setzte die Verfügung durch, dass jede Gemeinde so bald wie möglich eine Liste ihrer tatsächlichen Bevölkerungszahl unter Angabe der stimmberechtigten Bürger einsetzen sollte. 'Diese Listen werden sofort den Distrikt‐ direktorien übersandt, die sie an die Departements weitergeben und ihre Bemerkun‐ gen hinzufügen, sowohl über die durch Artikel 23 der Verfassung zur Wahl eines Abgeordneten in die Gesetzgebende Körperschaft vorgeschriebenen Wahlkreise wie über die Einteilung der Bürger in neue Urversammlungen gemäß Artikel 12 der Ver‐ fassung. Die Departementsdirektorien übersenden alle diese Listen nebst ihren be‐ sonderen Bemerkungen unmittelbar und sobald wie möglich an den Einteilungsaus‐ schuss des Nationalkonvents.' Diese höchst verwickelten Maßnahmen hätten zwei‐ fellos Monate beansprucht, so dass der Konvent unter dem Anschein, die Durchfüh‐ rung der Verfassung zu beschleunigen, den Status quo bis zu einem Zeitpunkt auf‐ recht erhielt, wo man auf eine Sicherstellung der nationalen Verteidigung rechnen durfte.“14 Es war Robespierre, der dann am Abend des 11. August im Jakobinerklub ein überaus pessimistisches und realistisches Gegenwartsbild der Republik zeichnete. Aus seinen Darstellungen leitete er ab, dass der Konvent nicht auseinandergehen dürfe, solange die verschiedenen Krisen nicht überwunden seien. Es war gut und wichtig, dass Robespierre diese Rolle übernahm, denn er gehörte ja ganz sicher zu denen, die wieder gewählt worden wären, dem man also nicht den Vorwurf machen konnte, an seinem, wie es der Volksmund heute formuliert, „Posten zu kleben“. Im Jakobinerklub stimmte die versammelte Menge seinem Antrag begeistert zu, darun‐ ter auch zahlreiche Vertreter der Urversammlungen, die noch in Paris waren. Sie alle begriffen die Notwendigkeit der Situation. Am darauf folgenden Tag redeten die Vertreter der Urversammlungen im Konvent und trugen dort verschiedene Ideen und Überlegungen vor, die in den nächsten Monaten angegangen werden sollten.15 Und sie forderten den Aufschub der Verfassung bis zum Ende der Krisen. 14 Aulard 1924, S. 246. 15 Zuerst verlasen sie folgende Adresse: „Freunde und Brüder, beruhigt euch! Das Vaterland, un‐ sere gemeinschaftliche Mutter, hat auf die innige Vereinigung aller ihrer Kinder herabgelä‐ chelt. Paris ist nicht mehr in der Republik, aber die ganze Republik ist in Paris. Nur ein Gefühl belebt uns alle, und die triumphierende Freiheit blickt nur auf Jakobiner und Brüder und Freun‐ de. Ha, Freunde. Keine Sprache reicht für unsere Gefühle aus. Erzittern sollen diejenigen, wel‐ che Frankreich föderalisieren wollten. Beschworen haben wir die Einheit der Republik und
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„In ihre Departements zurückgekehrt, machten sie den Franzosen klar, dass die Durchführung der Verfassung in einem vom Feinde besetzten, in seiner Selbständig‐ keit bedrohten Land unmöglich sei. Der Umschwung in der öffentlichen Meinung war allgemein. Am 28. August erklärte Barère namens des Wohlfahrtsausschusses im Konvent: 'Die Gemäßigten benutzen das Nachlassen der Sicherheitspolizei zum Flaumachen des öffentlichen Geistes und fördern heimlich die Gegenrevolution. Die einfache Durchführung der Verfassungsgesetze, die für Friedenszeiten gemacht sind, wäre inmitten der uns umgebenden Verschwörungen ohnmächtig.' Der Konvent be‐ auftragte den Wohlfahrtsausschuss mit der Darlegung seiner diesbezüglichen An‐ sichten, aber der Ausschuss hatte es nicht eilig.“16 Am 10. Oktober 1793 erließ der Konvent jenes Dekret, das die Errichtung der Revolutionsregierung umreißt.17 Mit ihm trennte sich die Praxis der Jakobiner end‐ gültig von ihrer Theorie. Die historische Forschung hat an dieser Stelle zu fragen, welche realen Motivationen das Dekret bestimmten, da hier jedoch die Verfassungs‐ debatten des Jahres 1793 zu schildern sind bzw. waren, kann ein kurzer Blick in den Text, der letzte staatspolitische, der zur Debatte steht, genügen. Der 1. Artikel dekre‐ tiert: „Die provisorische Regierung Frankreichs bleibt bis zu einem Friedensschluss revolutionär.“ Der Wohlfahrtausschuss wird durch das Dekret zur zentralen politischen Instanz, seiner Kontrolle wird alles unterstellt, „die provisorische Exekutivgewalt, die Minis‐ ter, Generäle und verfassungsmäßigen Organe“. (Art. 2) Erlassen werden Revoluti‐ onsgesetze, die „unverzüglich“ auszuführen sind.18 (Art. 4) Darüber hinaus waren soziale Maßnahmen inkludiert, unter anderen die Versorgung mit Lebensmitteln. (Art. 7–11) Neben diesem Ziel war der zweite selbstgesetzte Auftrag die weitere und schließlich endgültige Bekämpfung der Konterrevolution. (Art. 12 und 13) Die Rei‐ chen der Städte, in denen konterrevolutionäre Bestrebungen am Werk sind, sollten die jeweiligen militärischen Kosten tragen. (Art. 13) Gleichzeitig hätten ein Rech‐ dieser Schwur soll das Todesurteil aller Ränkemacher, aller Verräter, aller Verschwörungsstifter sein. Verschwunden ist der Sumpf. Wir alle bilden einen ungeheuren Berg, der seine Flammen‐ massen auf alle Royalisten und alle Helfershelfer der Tyrannei ausspeien wird. Verderben den Libellisten, welche Paris verleumdet haben. Nur durch den Tod kann ein so schändliches Ver‐ brechen gebüßt werden. Doch nein; sie sollen leben, um die Folter der Gleichheit zu ertragen. Zeugen unseres Glückes, sollen sie ewigen Gewissensbissen preisgegeben sein. Freunde, bald werden wir euch in unserer Heimat verkündigen, dass Frankreich frei und das Vaterland geret‐ tet ist.“ (Girtannner 1802, 14, S. 98f.) 16 Aulard 1924, S. 247. 17 Verwendet wird die Ausgabe: Grab 1989, S. 241–243, alle Zitate im Folgenden unter Angabe der jeweiligen Artikel. 18 „Da an den Misserfolgen die Trägheit der Regierung schuld ist, werden für die Durchführung der Gesetze und der dem öffentlichen Wohl dienenden Maßnahmen Fristen gesetzt; ihre Nicht‐ einhaltung wird ebenso wie ein Anschlag auf die Freiheit bestraft.“ (Art. 6) Saint-Just hatte in seinem Bericht vor dem Erlass des Dekrets gesagt: „Der Wohlfahrtsausschuss hat die Ursachen der öffentlichen Leiden untersucht und gefunden, dass sie in der Schwäche bestehen, mit wel‐ cher man eure Dekrete in Ausübung bringt.“ (Girtanner 1802, 14, S. 100.)
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nungshof und eine Geschworenenjury den Ursprung ihres Reichtums zu überprüfen. (Art. 14) Alle diese Maßnahmen glaubten die Jakobiner nur mit einer kleinen straf‐ fen zentralen Führung und harten Strafen umsetzen zu können. Die Diktatur hatte begonnen. Die Inkraftsetzung der Verfassung war verschoben bis in die Friedenszeit. Robespierre hatte sie wie folgt begründet: „Das konstitutionelle Schiff ist nicht gebauet worden, um immer auf der Werfte liegen zu bleiben; aber Raserei würde es sein, es in dem Augenblick, wo alle Orkane toben, vom Stapel laufen zu lassen. Die Tempel der Götter sind nicht zum Asyl für Ruchlose erbauet. Auf gleiche Weise soll die Konstitution nicht Verschworene schützen, die sie zerstören möchten. Auf das Volksheil, dieses heiligste aller Gesetze, stützt sich die revolutionäre Regierung, und ihre Grundlage ist die Notwendigkeit. Erhaltung ist der Zweck einer konstitutionel‐ len Gründung, einer revolutionären Regierung. Revolution ist Krieg der Freiheit ge‐ gen ihre Feinde; Konstitution die Regierung der siegenden und friedlichen Freiheit. Gerade weil sie im Kriege begriffen ist, bedarf die revolutionäre Regierung einer au‐ ßerordentlichen Tätigkeit, und weil die Umstände, unter welchen sie wirkt, stür‐ misch und veränderlich sind, ist sie minder gleichförmigen und minder strengen Re‐ geln unterworfen. Wenn sich die konstitutionelle Regierung mit der bürgerlichen Freiheit beschäftigt, so ist der Gegenstand der revolutionären – die öffentliche Frei‐ heit. Unter der konstitutionellen Herrschaft ist es beinah hinreichend, die Individuen gegen den Missbrauch der öffentlichen Gewalt zu schützen; unter der revolutionären hingegen ist die öffentliche Gewalt selbst genötigt, sich gegen alle sie angreifenden Faktionen zu verteidigen. Die revolutionäre Regierung ist den guten Bürgern den vollsten Schutz der Nation, den Feinden des Volkes hingegen nichts als den Tod schuldig; das Maß ihrer Stärke muss die Verwegenheit oder Treulosigkeit der Ver‐ schwörer sein.“19 Es ist abschließend zu fragen, was von der Verfassung von 1793 denn nun zu hal‐ ten ist. Auf den zurückliegenden Seiten wurde bereits mehrfach aus der großen Poli‐ tischen Geschichte der Französischen Revolution. Entstehung und Entwicklung der Demokratie und der Republik, 1789–1804 zitiert, die François-Alphonse Aulard 191020 veröffentlicht hatte. Noch heute ist die umfangreiche Abhandlung eines der wesentlichen Standardwerke (auch zur Beschämung der Forschung der letzten Jahr‐ zehnte muss dies gesagt werden).21 Es bietet sich an, seine Gedankengänge hier wie‐ derzugeben und zu reflektieren, da auf diese Weise Rede und Gegenrede einander gegenübergestellt werden können. Aulard, geboren 1849 und gestorben 1928, gilt heute als der Begründer der mo‐ dernen Geschichtsschreibung der Revolution. Nicht zuletzt, da er sich immer dafür 19 Girtanner 1802, 14, S. 101f. 20 Die deutsche Ausgabe erschien 1924, mit einer Einleitung von Hedwig Hintze und in der Übersetzung von Friedrich von Oppeln-Bronikowski, in 2 Bänden in Berlin bei Duncker und Humblot. 21 Siehe die Hinweise bei: Soboul 1976, S. 48–67.
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einsetzte, mit den Quellen und anhand der Quellen zu arbeiten sowie diese sukzessi‐ ve zu erschließen. Seit 1887 war er an der Pariser Universität Inhaber des für ihn geschaffenen Lehrstuhls für die Geschichte der Französischen Revolution und als solcher äußerst wissenschaftlich-publizistisch aktiv. Er war in seinem Denken und durch seine Funktionen gleichzeitig als Akademiker Sprecher des Bürgertums, der Bourgeoisie. Daraus resultiert, dass er die Jakobiner äußerst kritisch sah und die Gi‐ rondisten mit viel Sympathie behandelte. Und so bedeutsam die von ihm angeregte und auch editorisch ausgestaltete Quellenarbeit ist – mit ihr bereits beginnt die Se‐ lektion, die immer ideologische Komponenten hat und auf einem ideologischen Fun‐ dament ruht. Wenn man das eine weglässt, erscheint das andere in einem neuen Licht. (Wenn man sieht, mit welcher seitenfüllenden Detailtreue Aulard jedwedes Verbrechen – die tatsächlichen sowie die vermeintlichen – der Jakobiner aufspürt, dann ist man durchaus überrascht, so man den Blick dafür hat, dass beispielsweise die Tatsache, dass die Girondisten den Krieg – zuerst, machtpolitisch motiviert, den äußeren, dann, zum eigenen Machterhalt und zur Fortsetzung der ökonomischen Ak‐ kumulation, den inneren – um jeden Preis forcierten und einzig der von ihnen so ge‐ hasste Robespierre und einige seiner Getreuen mit allen Mitteln für den Frieden ein‐ traten, bei ihm nicht auftaucht. Überrascht darf man, anfänglich, kurzfristig sein, verwundert nicht – denn das ist die wissenschaftliche Klassenpolitik der Bourgeoi‐ sie, 1791 genauso wie 1910 oder in unseren Tagen.) Das Unterkapitel Allgemeiner Charakter der Verfassung von 1793 des vierten Ka‐ pitels soll im Folgenden durchleuchtet werden. Einleitend stellte Aulard fest: „Von allen französischen Verfassungen ist die vom 24. Juni 1793 die demokratischste. Sie beruht nicht nur auf der durch das allgemeine Stimmrecht ausgeübten Volkssouverä‐ nität, sondern sie gestaltet diese Souveränität auch derart, dass das Volk sich seiner Rechte nicht völlig entäußert und selbst am Zu-Stande-Kommen der Gesetze durch das Einspruchsrecht teilnimmt, durch welches das in den Urversammlungen verei‐ nigte Volk zum eigentlichen Senat der französischen Republik wurde, wie es die fortschrittlichsten Demokraten seit langem gefordert hatten.“22 Angesichts der Tatsache, dass die Verfassung ihre endgültige Formulierung nach dem Ende der Girondisten fand, in jenen Monaten, die als Beginn der Schreckens‐ zeit gelten, erscheint es als fast absurd, wenn Aulard alles Positive der Verfassung den Girondisten sowie deren Nachwirkung zuschreibt, jede Änderung der ursprüng‐ lichen Vorlage durch die Jakobiner mehr oder weniger offensichtlich und offensiv abqualifiziert. Lassen wir ihn zu Wort kommen: „Wenn diese Verfassung so stark demokratisch war, so verdankt sie das nicht ihrer Fassung durch die Bergpartei. In gewisser Hinsicht ist der von ihr am 24. Juni 1793 angenommene Wortlaut weniger kühn demokratisch als der des girondistischen
22 Aulard 1924, S. 240f.
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Entwurfs. In diesem hatten die Urversammlungen das letzte Wort bei der Wahl des Vollzugsrats. In der Verfassung der Bergpartei wird der Vollzugsrat von der gesetz‐ gebenden Körperschaft nach einer von den Wählerversammlungen der Departe‐ ments aufgestellten Kandidatenliste gewählt. Die Girondisten ließen die Beamten des Schatzamtes und des Rechnungshofes aus der Volkswahl hervorgehen; die Berg‐ partei lässt sie durch den Vollzugsrat ernennen. Die von den Girondisten abgeschaff‐ te zweistufige Wahl wurde von der Bergpartei in gewissen Fällen wiederhergestellt, namentlich bei der Wahl der Verwaltungskörperschaften. 'Das Volk selbst', sagte Hérault in seinem Bericht, 'ist nicht im Stande, sie zu wählen.' Wie man sieht, hatte die Bergpartei weniger Vertrauen in die Einsicht des Volkes als die Girondisten. Ein weiterer Beweis dafür ist die Gestaltung des Volksentscheids, der Bestätigung der Gesetze durch das Volk. Um ein Gesetz zu Fall zu bringen, genügte nach dem giron‐ distischen Entwurf die Mehrheit in einem oder zwei Departements. Die Verfassung der Bergpartei knüpft weit schwerer zu erfüllende Bedingungen daran: Mindestens ein Zehntel der Urversammlungen in mindestens der Hälfte der Departements plus Eins muss sich gegen das Gesetz aussprechen. Dagegen verkündete die Bergpartei das Recht der Auflehnung deutlicher, und ihre Erklärung der Rechte verriet 'sozialis‐ tische' Einschläge. Aber diese Unterschiede lagen mehr in der Form als in den Ideen, mehr im Schein als in der Wirklichkeit. Alles in allem hatte die Bergpartei die dem Volk von den Girondisten gewährte Gewalt der Selbstregierung beschränkt, und in‐ sofern war ihre Verfassung weniger demokratisch als die der Girondisten.“23 Wo setzt der Widerspruch ein? Zunächst einmal am offensichtlichsten Punkt: Es ist nicht legitim, den Entwurf Condorcets mit dem endgültigen und durch verschie‐ dene Kompromisse erreichten sowie im Parlament verabschiedeten Endergebnis zu vergleichen. Wissenschaftliche Fairness würde maximal den Vergleich mit den Ent‐ würfen Robespierres oder Saint-Justs zulassen. Anders formuliert: Richtig gestellt muss die Frage lauten, was von Condorcets Vorschlägen auch in einem girondisti‐ schen Konvent bis hin zur endgültigen Urkunde übrig geblieben wäre. Denn Con‐ dorcet wurde ja, wie gesehen und durchaus berechtigt, von den Zeitgenossen der Re‐ volutionsjahre vor der Gründung des Verfassungsausschusses nicht vollständig als Girondist wahrgenommen. Und er vertrat, auch das konnte gezeigt werden, durchaus eigene Gedanken, die mit der bisherigen Theorie und Praxis der Girondisten nicht kompatibel waren. Schließlich kann die Überlegung nicht abgewiesen werden, dass bereits Condorcets Entwurf Kompromisscharakter hatte. Das zeigt sich beispielswei‐ se darin, dass er die ihm eigentlich wichtige Frage des Frauenwahlrechts nicht an‐ schnitt und den Kern seiner politischen Theorie, die Idee eines Zweikammernsys‐ tems nur in seinen einleitenden Bemerkungen ansprach, nicht aber im Verfassungs‐ entwurf selbst. Die Schlussfolgerung aus diesen Überlegungen kann nur lauten, dass
23 Aulard 1924, S. 241.
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der Verfassungsplan Condorcets nicht in allen Punkten die Positionen der Girondis‐ ten abbildete. (Auf einige zentrale Abweichungen wurde in der Analyse verwiesen.) Auch wenn die Jakobinerverfassung ihrerseits ebenfalls nur schwer anzuwenden und unpraktikabel war, so hatte sie doch bestimmte Schwächen des Entwurfs Cond‐ orcets mit Blick auf die Praxis beseitigt. Und zwar bei demokratietheoretischen Ele‐ menten, die bis heute in Europa Bestand haben. Erinnert sei nur an das Hervorgehen der Exekutive aus der gewählten Legislative. Zudem ist die Jakobinerverfassung nicht „die“ Verfassung der Jakobiner – sie ist natürlich der Vorlage Condorcets ver‐ pflichtet, vor allem aber ist sie das Ergebnis von Kompromissen, parlamentarischen Debatten und schließlich einer parlamentarischen Abstimmung. Dies müsste man den Jakobinern eigentlich auf der „Positiv-Seite“ anrechnen, denn erst dadurch wur‐ de der innere Frieden in Frankreich möglich. (Die Gironde, das wurde deutlich, hatte nach der ersten Niederlage immer nur einen beherrschenden Wunsch: Rache.) Bei anderen Fragen und Einwänden geht es durchaus um Interpretationsspielräu‐ me. Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass die Jakobiner, weitaus deutli‐ cher als die Girondisten, wussten und auch dementsprechend handelten, dass die De‐ mokratie materielle und ökonomische Grundlagen hat und haben muss, dass der Staat diese zu regeln hat. Was so für das soziale Fundament der Gesellschaft gilt hat selbstverständlich auch seine argumentative Berechtigung, wenn es um die Fragen der Kultur, der Bildung, der Verbreitung der Aufklärung als Volksaufklärung usw. geht. Von daher verweist sich die Bemerkung Aulards, dass „die Bergpartei weniger Vertrauen in die Einsicht des Volkes als die Girondisten“ hatte, selbsttätig ins Reich der Absurdität. Die Macht der Pariser Kommune könnte sie ansonsten dahin vertrei‐ ben. Es reicht als Gegenargument, dass so unterschiedliche Theoretiker der Linken wie Robespierre, Saint-Just und L'Ange aus den politischen Rechten der Bürger eine Pflicht machen wollten, die Teilnahme an den Urversammlungen sollte verpflich‐ tend werden, unentschuldigtes Fehlen mit Strafen sanktioniert. Fehlendes Vertrauen in das Volk und dessen Meinungsartikulation stellt man sich irgendwie anders vor. Haben die – von Aulard geleugneten oder zumindest marginalisierten – Differen‐ zen zwischen Berg und Gironde Theorie und Praxis beider Strömungen beeinflusst? Die Antwort ist ein klares Ja. Und aus diesem ergeben sich viele der Unterschiede, die im vorliegenden Buch angesprochen wurden. Erinnert sei nur an die große und alles beherrschende Dichotomie: Die Gironde sprach vom Individuum (einem kapi‐ talistischen, also egoistischen), vom, um die deutsche Bezeichnung zu verwenden, Besitzbürger, die Jakobiner von der Allgemeinheit, dem Allgemeinwohl. Ein gewis‐ ser Anteil Phrase steckt in beiden Denkrichtungen, prägende Kraft hatte dieser Un‐ terschied dennoch bis in den kleinsten Winkel der neu gegründeten Republik, in die Spalte jeder Zeitung, in den Schankraum jeder Gaststätte. Zu diskutieren wäre sicherlich, ob die Anwendung der Gesetzesrevision durch das Volk bei den Jakobinern tatsächlich schwieriger war. Bei wirklich hochpoliti‐
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schen Fragen (Krieg und Frieden, sozialpolitische Maßnahmen) ist es durchaus vor‐ stellbar, dass 10 Prozent der Bürger in der Hälfte aller Departements ihren Wider‐ spruch kundtun. Nicht zuletzt, wenn man an die gewaltigen Volksversammlungen zu den revolutionären Feiertagen denkt, an die Erhebungen des Volkes gegen ihre je‐ weiligen Tyrannen, darunter mehrfach die Gironde. Aber selbst wenn die Entschei‐ dungen des Volkes in der Jakobinerverfassung mit mehr Schwierigkeiten und Hin‐ dernissen versehen sind, das Volk erhält dafür ein anderes Instrument, seine Mei‐ nung zu äußern: Das dezidiert beschriebene und explizit festgelegte Widerstands‐ recht (als Revolutionsrecht, als Machtäußerung der Straße), das Condorcet vollstän‐ dig in Verfassungsparagraphen aufzulösen und damit aufzuheben, auszuhebeln ge‐ dachte. Und dass die von Aulard konstatierten „sozialistischen Einschläge“ (was ist das überhaupt?) nur als Lüge oder bestenfalls der Form nach bestanden hätten, ist einfach nur lächerlich und als Behauptung eines Wissenschaftlers unwürdig (so hart und deutlich soll, muss es gesagt werden). Es erscheint als nachvollziehbar, dass sich Aulard darüber wunderte, warum das französische Volk die Jakobiner verehrte und die Girondisten verachtete und hasste, warum die Erstgenannten zusammen mit ihrer Pariser Basis, den Sansculotten, gar als demokratischer galten. „Trotzdem geschah es, dass die Anhänger der Bergpartei als glühendere Volksfreunde und größere Demokraten erschienen als die Girondis‐ ten. Da diese den Krieg der Departements gegen Paris führten, was ihnen den Vor‐ wurf des Föderalismus eintrug, da sie als Bundesgenossen der Royalisten und der antidemokratischen Gemäßigten während des Aufstands vom Juni und Juli 1793 er‐ schienen, bildete man sich nachträglich ein, ihr Entwurf sei mit Mäßigung und Royalismus befleckt. Obwohl der Wortlaut der Verfassung der Bergpartei nur eine 'Bearbeitung' der girondistischen war, sah man darin einen Urtext, und obwohl die demokratischen Kühnheiten der Girondisten darin bisweilen abgemildert waren, er‐ blickte man in ihm das allerdemokratischste System. Besonders während der Ther‐ midorreaktion und unter dem Direktorium wurde die abgeschaffte Verfassung von 1793 zum Symbol der demokratischen Ansprüche. Als die Verfassung des Jahres III das Zensuswahlrecht wieder einführte und die überlebenden Girondisten sich zu Verfechtern dieses Systems machten, als die Todesstrafe über die Anhänger der Ver‐ fassung von 1793 verhängt wurde, da ward diese Verfassung in der Volksvorstellung zu einem geheimnisvollen Zauberbuch, zum Evangelium der Demokratie. Auf Grund der Verfassung der Bergpartei waren die Aufstände vom Germinal und Prairi‐ al des Jahres III erfolgt; auf Grund derselben Verfassung entstand Babeufs Ver‐ schwörung im Jahre IV. Schließlich beriefen sich auf sie auch später noch die Demo‐ kraten und Sozialisten unter Louis Philippe und während der zweiten Republik.“24
24 Aulard 1924, S. 241f.
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Auf eine erneute tiefere Analyse dieses Absatzes von Aulard kann verzichtet wer‐ den. Er spricht für sich selbst, man muss ihn einfach Wort für Wort auf der Zunge zergehen lassen, wie der bereits mehrfach bemühte Volksmund so treffend fordert. Aber es ist hier zumindest der Hinweis zu geben, dass die Girondisten ja nicht nur den Entwurf Condorcets ihr eigen nennen können, sondern auch die Verfassung von 1791, die ebenso ihr Werk war wie alle ihre Intrigen, wie ihr permanentes Agieren gegen das Volk und gegen Paris, wie ihr bis zuletzt augenscheinlich bekundetes Festhalten am König als Person und an der Monarchie (als letzter Schutzbastion ge‐ gen das Proletariat). Ein Punkt zumindest, ist aus dem ganzen Wust herauszuheben. Denn der „Krieg der Departements gegen Paris“ trug den Girondisten natürlich nicht nur „den Vorwurf des Föderalismus“ ein – er zeigte sie als Mörder, Verbrecher, Kriegstreiber. Verantwortlich für viel mehr Tote, als die ganze Jakobinerherrschaft brachte. Der Konservatismus hat lange gebraucht, diese historischen Zusammenhän‐ ge bis zur Unkenntlichkeit zu verzerren und das Ergebnis als „Weisheit/Wahrheit letzter Instanz“ zu dogmatisieren. Die girondistische Praxis richtete die Girondisten. Und das Besitzbürgertum verantwortete eine weitere Verfassung, die von 1795 – und eben diese zeigt, was in den Köpfen der Girondisten – also der Kapitalisten – von der Demokratie übrig bleibt, wenn sie nicht unter Druck gesetzt werden: Nichts. Nun sah sich freilich auch Aulard gezwungen, die Verfassung von 1793 als Reak‐ tion auf die damaligen Krisen und Konflikte zu begreifen. Nach einigen Anmerkun‐ gen über die „Undurchführbarkeit“ der Verfassung25 schrieb er weiter: „Und hier zeigt sich uns der wirkliche Charakter der Verfassung der Bergpartei. Sie war ein de‐ mokratisches Zukunftsprogramm. Sie war vor allem auch eine Notstandsmaßnahme für die damalige Lage, um dem Bürgerkrieg ein Ende zu machen. Nur eine Verfas‐ sung konnte die Spaltung und den Brudermord in Frankreich beenden und die Einig‐ keit herstellen. Sie musste die beiden sich bekriegenden Parteien, die Bergpartei und die Girondisten, oder deutlicher: die Pariser Partei und die Departementspartei be‐ friedigen. Den Pariser Demokraten gewährte sie das Recht auf Arbeit, auf Aufleh‐ nung, das Versprechen des 'allgemeinen Glücks', und mit diesen Worten und Phrasen ließen sie sich abspeisen. Den Gemäßigten in den Departements machte sie greifbare 25 „Man hat gesagt, diese Verfassung sei nicht zur Durchführung gekommen, weil sie undurch‐ führbar war. Das war sie allerdings, insofern sie unvollständig und unvollendet war. Sie über‐ ließ es (Artikel 83) der künftigen Gesetzgebenden Versammlung, das 'Unterordnungsverhältnis' der verschiedenen Verwaltungskörperschaften zu regeln. Sie setzte keinen Vertreter der Zen‐ tralgewalt bei ihnen ein. Ein Vollzugsrat aber aus 24 Mitgliedern, mit gewählten öffentlichen Verwaltungen und ohne geregeltes Unterordnungsverhältnis, war selbst in Friedenszeiten eine Anarchie, und man war doch im Krieg! Darum war die Verfassung von 1793, so wie sie war, ohne Ausführungsgesetz undurchführbar. Kam diese erhebliche Lücke von der Unbesonnen‐ heit der Verfasser dieser Verfassung der Bergpartei? Nein, denn sie hatten selbst darauf hinge‐ wiesen, indem sie ihre Ausfüllung der künftigen Gesetzgebenden Versammlung überließen. Wenn sie sie nicht selbst ausgefüllt hatten, so geschah dies, um die damals aufständischen De‐ partements, die mehr denn je auf ihre Selbständigkeit pochten, nicht zu reizen.“ (Aulard 1924, S. 242.)
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Zugeständnisse, und zwar folgende: Die Departements fürchteten die Diktatur von Paris. Durch den Volksentscheid gab die Verfassung den Departements das letzte Wort in politischen Dingen. Sie befürchteten die Diktatur eines Mannes: Robes‐ pierres oder Dantons. Die Verfassung übertrug die vollziehende Gewalt 24 Staats‐ bürgern, zu deren Ernennung alle Departements beitrugen. Was fürchteten die De‐ partements nun noch, besonders die westlichen, von den Priestern aufgewiegelten? Sie fürchteten die Abschaffung der Religion, die Schließung der Kirchen. Die Ver‐ fassung versprach zweimal die freie Kultübung.“26 Auch hier zeigt der Verfasser sich mit seinen Nebensätzen, den Anspielungen und anderen Kniffen und Tricks als Sprecher seiner Klasse. Es ist nicht möglich, hier die Bemerkung zu verkneifen, dass „die Departements“ natürlich nichts „fürchteten“, da ihnen als Verwaltungsstrukturen menschliche Gefühlsregungen eher fremd sind. Und längst nicht alle Departements fürchteten die „Diktatur von Paris“ – nur jene, in denen die Girondisten, der Adel und die eidverweigernden Priester – alimentiert von den europäischen Monarchien und der Papst-Kirche – mit ihren Aufständen das glei‐ che Menschenblut vergossen wie – (quantitativ und qualitativ weitaus milder) die Guillotine, die „bewegliche Köpfmaschine“,27 wie sie Lavater in einem Brief an Hérault de Sechelles nannte. Bei seiner Zurückweisung der Verfassung von 1793 üb‐ rigens. (Fast überflüssig ist der Hinweis, dass die Guillotine ja ihre erste Hochkon‐ junktur in den Jahren der Herrschaft der Gironde hatte.) Hervorzuheben ist sicherlich auch, dass die Jakobiner in ihren politischen und philosophischen (ebenso auch in ihren ökonomischen, sozialen und kulturellen) An‐ sichten kein monolithischer, per se terroristischer Block waren. Gerade wenn man sieht, dass längst nicht alle Punkte der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von Robespierre in die Verfassung von 1793 eingegangen sind, dass der dann doch ziemlich verschwommene Konstitutionsentwurf Saint-Justs eher eine randständige Rolle spielte, dann kann man dies auch als Ergebnis intensiver und offener Diskus‐ sionen bei den Jakobiner selbst werten. Oder, wie es die bürgerlich-konservative (bzw. teilweise sogar royalistische oder zumindest demokratiefeindliche – Demokra‐ tie im Sinne von Demos und Emanzipation) Geschichtsschreibung (Aulard, Hintze, Mignet, Aubry, Willms) gerne und ohne Belege tut, als Nachweis dafür, dass Robes‐ pierre, Saint-Just und die anderen Schreckensmänner so lange Lügen mussten, bis sich die Balken bogen und ihnen endlich ihre Diktatur gelang. Die vorliegenden Sei‐ ten entscheiden sich für die zuerst genannte Option. Nach seinen bisherigen Ausführungen müsste Aulard, wäre er nicht Aulard, nun eigentlich die Jakobiner loben. Denn offensichtlich hatten diese ja, so die Quintes‐ senz aus Aluards „Interpretationsansatz“, ihr Vorhaben, eine eigene Verfassung zu schaffen aufgegeben und den Entwurf der Girondisten mit einigen undemokrati‐ 26 Aulard 1924, S. 242. 27 Lavater 1961, S. 302.
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schen Abänderungen durchgesetzt und so, obwohl ihnen diese Ehre nicht zukommt, Frankreich inneren Frieden beschert. Man könnte einen längeren Absatz darüber schreiben, allein Zeit und Platz fehlten offensichtlich: „Die Departements wurden al‐ so hinsichtlich ihrer Hauptbeschwerden voll befriedigt. Sie nahmen die Verfassung mit Begeisterung auf. Nach schwachen Kriegsversuchen entsanken die Waffen den Händen der girondistischen Aufrührer. Die endlich versöhnte und geeinigte republi‐ kanische Partei kämpfte geschlossen gegen die Aufstände in der Vendée, in Lyon und Toulon, die, auf ihre eigene Kraft beschränkt, niedergeworfen wurden.“28 Es ist, um die Bewertung der Verfassung von 1793 hier zu einem würdigeren En‐ de zu bringen, auf eine weitere Stimme zu verweisen, keine linke, sondern eine aus der Mitte der Gesellschaft. Jules Michelet formulierte in seiner großen Geschichte der Französischen Revolution: „Die Verfassung von 1793, ein Versuch vom Bedürf‐ nis einer politischen Krise geschaffen, hat immerhin die Eigenschaft, durch ein paar ursprüngliche und starke Züge zum Herzen der Menschheit zu sprechen.“29 Insge‐ samt machte er drei Punkte aus, die an der Verfassung hervorzuheben seien: „Sie entspricht zunächst dem althergebrachten, dem unveränderlichen Herzensbe‐ dürfnis. Sie spricht von Gott. Allerdings, sie spricht von ihm in abstrakten, unbe‐ stimmten, zweideutigen Ausdrücken. Doch allein schon dadurch, dass sie ihn nennt, heiligt sie sich selbst im Gedanken des Volkes und wird ein volkstümliches Gesetz. Es ist nicht mehr ein zufälliges Werk von Gelehrten und Philosophen. Sie fußt auf der Überlieferung, harmoniert mit ihr, mit dem allgemeinen Begriff der Menschheit. Der zweite eigentümliche Punkt ist der, dass diese für ein großes Reich geschriebene Verfassung behauptet, etwas zu verwirklichen, was schon in den allerkleinsten Ge‐ sellschaften auf Schwierigkeiten stößt: Die allgemeine und beständige Ausübung der Volkssouveränität. Eine edle Vorstellung einer einfachen Regierungsform, bei der das Volk sich keinem anheim gibt, sondern gleich Gott nur das gebietet und dem ge‐ horsam ist, was es selbst gewollt hat.“30 Den ersten Punkt mag man übergehen mit einer gewissen atheistischen Noncha‐ lance, die zu verzeihen vermag. Was die Volkssouveränität angeht, so war die Ver‐ fassung durchaus geeignet, diese anzuerkennen und auch als politisches Instrument aufrechtzuerhalten. Von daher stellte Michelet zu Recht fest, dass die Verfassung zwei einander konträre Bedingungen erfüllen musste: „Aus dem 31. Mai geboren, hatte sie sich zu rechtfertigen, indem sie den girondistischen Plan vergessen machte, sich volkstümlicher zeigte. Sie musste die Gironde an Demokratie überbieten. Und sie musste gleichzeitig das Entgegengesetzte tun: Eine starke Regierung organisie‐
28 Aulard 1924, S. 242f. 29 Michelet o. J., IV, S. 151. 30 Michelet o. J., IV, S. 151.
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ren. Frankreich ging zu Grunde, weil es keine Regierung hatte. Man wandte sich da‐ mit an Robespierre.“31 Doch es ist über den dritten Punkt von Michelets Würdigung der Verfassung zu sprechen, der wichtigste, da er direkt gegen die konservativen und/oder platten Aus‐ deutungen der Revolution zu setzen ist: „Der dritte sehr bedeutsame Punkt, durch den diese wie immer geartete Verfassung die vorausgegangenen auslöscht, ist der erstmalig ausgesprochene Gedanke, dass das Gesetz nicht nur ein Werkzeug sei, den Menschen zu regieren, sondern dass es sich um ihn kümmert, sein Leben erhalten will, dass es nicht den Untergang des Volkes will. 'Die Volksunterstützungen sind eine heilige Schuld. Die Gesellschaft schuldet den notleidenden Bürgern den Unter‐ halt, sei es, indem sie ihnen Arbeit beschafft, sei es, dass sie denen, die arbeitsunfä‐ hig sind, die Existenzmittel sichert.' Der erste noch schwache Ausdruck für die vor‐ nehmste Pflicht der Brüderlichkeit. Nichtsdestoweniger ist es der Beginn eines bes‐ seren Zeitalters, das Morgenrot der neuen Welt.“32 Das ist der Geist eines Peter Kropotkin, der hier vorleuchtet. Michelets Überle‐ gung ist nachvollziehbar. Es war nicht viel, was an tatsächlicher sozialer Gleich‐ heitspolitik in die Verfassung Eingang gefunden hatte. Aber es war tatsächlich ein Anfang, vor allem ein Bruch mit der gesamten bisherigen Geschichte, inklusive der ersten Revolutionsjahre: „Man gehe auf 1792 zurück, auf den von Condorcet ge‐ schriebenen girondistischen Verfassungsplan; da gibt es nichts dergleichen. Der Ver‐ fasser versprach allerdings das Gesetz für öffentliche Unterstützungen, aber ein be‐ sonderes Gesetz, als wenn dieses Gesetz, dieses Gebot der Brüderlichkeit, nicht an der Spitze der Verfassung seinen Platz haben müsste. Noch schlimmer, wenn man auf die Konstituierende Versammlung zurückgreift. Hier herrscht ungeteilt die an‐ glo-amerikanische Schule. Die Berichte, die Reden de la Rochefoucaulds und ande‐ rer Philosophen aus der Schule des 'laissez faire' und 'laissez passer', sind wenig philanthropisch, verglichen mit dem großen Herzen von 1793, seiner Liebe zum Volk, seinen zahllosen Gründungen, die aus diesem verwünschten Jahr eine gewalti‐ ge Ära der sozialen Brüderlichkeit machen.“33 Die Verfassung von 1793, die Frankreich einen sollte und dies tatsächlich tat (den Jakobinern zur Ehre sei es ausdrücklich gesagt), sie blieb auf dem Papier und trat nie in Kraft. Vor dem 9. Thermidor und auch in den Wochen danach war die französi‐ sche Republik nach wie vor ohne Verfassung, da die von 1791 ja wegen ihrer mon‐ archistischen Grundlage offiziell suspendiert und von der Geschichte längst überrollt war. 1795 sah die Bourgeoisie dann ihre Chance gekommen und schuf mit der Ver‐ fassung von 1795 ein Werk, das alle sozialen, politischen, moralischen und humanis‐ tischen Errungenschaften der Revolution negierte und die Herrschaft des Kapitals 31 Michelet o. J., IV, S. 153. 32 Michelet o. J., IV, S. 151f. 33 Michelet o. J., IV, S. 153.
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begründete. So wurde die bereits wiedergegebene Parole „Brot und die Verfassung von 1793“ zum Schlachtruf der hungernden Bevölkerungsmassen Frankreichs, in deren Namen Babeuf zusammen mit einigen Getreuen versuchte, die Revolution noch einmal zu retten. Doch das Volk bekam beides nicht: Keine Verfassung, die sei‐ nen Interessen verpflichtet war, und kein Brot. Bis zum Machtantritt von Napoleon waren es Sieyès und andere, die nach der Schreckensherrschaft der Jakobiner die Schreckensherrschaft des Kapitalismus begründeten und den Armen ein „Ihr seid doch an eurer Lage selber schuld“ zuriefen und sie vielleicht sogar mit der alten Überlegung, Einsicht Marie Antoinettes trösteten, dass man statt Brot ja auch Ku‐ chen essen könne. So solcher vorhanden. Wichtig erscheint zudem darauf hinzuweisen, auch wenn es eigentlich eine Bana‐ lität sein sollte, zwischen Theorie und späterer Praxis der Jakobiner zu unterschei‐ den. Wenn es auch eine Medaille ist, so hat diese doch zwei Seiten. Ja, man sollte die Regierungsausübung der Jakobiner in den letzten Monaten ihrer Herrschaft ver‐ urteilen, zumindest kritisieren. Gleichzeitig aber auch nach den Umständen und Gründen fragen, die zu ihr führten, so da wäre vor allem die vorangegangene Herr‐ schaft der Girondisten mitsamt ihrer Kriegs- und Bürgerkriegspolitik. Und das ist dann eben die nächste Seite der Medaille: Dass es Robespierre und Marat waren, die mit all ihrer Macht gegen die Kriegspläne der Girondisten ankämpften, dass sich die Hoffnungen des Volkes nicht auf sie richteten, weil sie es besonders diffizil verführ‐ ten und belogen, sondern weil sie tatsächlich die Verkörperungen der Hoffnungen der armen und entrechteten Volksmassen waren. Robespierre war nicht nur der Un‐ bestechliche, er war auch ein Versprechen auf den Frieden und das Glück. Es klang auf den zurückliegenden Seiten bereits an, dass, gerade wenn man die deutsche Forschungsliteratur vor Augen hat, durchaus auch danach zu fragen ist, warum Robespierre und die Jakobiner hierzulande derartig verteufelt und oftmals mit einer billigen und pauschalen Fundamentalkritik überzogen werden.34 (Ausnah‐ men gibt es, aber so wenige, dass man sie zählen kann: Grab und Markov sowie ihre jeweiligen Schulen, dazu vereinzelte, für sich selbst forschende Wissenschaftler.) Nicht zuletzt, da die Situation in Frankreich ganz anders ist, wo die großen Histori‐ ker immer versucht haben, die historische, politische, ideologische und moralische Rolle von Robespierre angemessen zu beurteilen. Woran liegt das? (Wobei der tragi‐ sche Verfall der Revolutionsforschung seit einigen Jahrzehnten zur Recht beklagt wird.)35 34 Siehe die Hinweise in dem Aufsatz Die Jakobinerfrage heute von Markov (1979, S. 148–159), außerdem die Hinweise bei: Berthold 1976, S. 68–75. 35 Albert Soboul hatte schon 1974 über den damaligen Stand der Forschung geschrieben: „Man muss feststellen, dass es keine Gesamtgeschichte der Revolution mehr gibt, es gibt nur partiel‐ le Geschichte, die einzelne Sektoren herausschneidet und somit die Bindung zerbricht, die sie zu den übrigen Aspekten dieses lebendigen und reichen Gegenstands Geschichte haben. Es handelt sich gewiss nicht darum, alles über alles zu sagen, wohl aber darum zu unterstreichen,
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Der eine Grund, der, diese Ausführungen beendend, genannt sei, ist darin zu se‐ hen, dass die Deutschen seit Goethes Tagen und Aussagen Angst vor Revolutionen haben, vor allem aber vor dem erhabenen Begriff der Freiheit, der die französische Geschichte immer bestimmte und vorantrieb. (Man vergleiche mit den französischen Revolutionen jenen schalen und faden Begriff von „Freiheit“, den die Kleinbürger‐ massen der DDR samt deren spätstalinistischer Intelligenzschicht vertraten, und der noch heute von Leuten wie Joachim Gauck als neue Monstranz durch die Zeiten ge‐ tragen wird.) Der andere, weit entscheidendere Grund, besteht darin, dass Robes‐ pierre eben kein Kommunist war, sondern links der Mitte der bürgerlichen Gesell‐ schaft stand. Er war ein Teil von ihr, und er wollte sie verbessern, weshalb er wie kein zweiter gegen den Krieg (den inneren und den äußeren) kämpfte, also die Bour‐ geoisie bei ihrem einträglichsten Geschäft störte. Damit ist in Deutschland kein Hof zu machen, schon gar nicht zu halten. Die von Robespierre theoretisch angedachte und umrissene bürgerliche Gesellschaft wäre gar nicht einmal so schlecht. Das einzi‐ ge Argument, was sich gegen sie vorbringen lässt, ist die jakobinische Praxis, die freilich mit ihr nichts zu tun hat. Aber das ist in den deutschen Debatten irrelevant. Die Geschichte der Verfassungsdebatten der Französischen Revolution im Jahr 1793 ist damit zu Ende erzählt. Es folgt eine kurze Ergänzung des historischen Falls und Untergangs der Jakobiner und daran anschließend ein Aufsatz, der sich (als An‐ hang deklariert, da geschichtlich-chronologisch nach „vorn“ springend) mit dem Denken und Handeln von Gracchus Babeuf beschäftigt.
worin das Einzelne vom Ganzen abhängt (und umgekehrt). Wir sind weit davon entfernt, die Notwendigkeit partieller Geschichte zu leugnen; auch sie kann uns die historische Eigenart ihres Gegenstandes vermitteln, doch unter der Bedingung, dass sie sich in das historische Gan‐ ze einordnet. Wir stellen hingegen sehr oft fest, dass sich die partielle Geschichte in ihren be‐ grenzten Regionen allmählich isoliert, gleichsam nur noch dem internen Gebrauch dient. Das Ziel wirklich historischer Überlegung bleibt verfehlt. Wie kann man über den Adel in der Ge‐ sellschaft des Ancien Régime schreiben, ohne gleichzeitig die Bauernfrage in ihrer ganzen Breite zu stellen? Jedes Einzelproblem muss historisch durchdacht werden; man kann es nicht aus seinem historischen Kontext herauslösen, um daraus zu Neben- und in zunehmendem Ma‐ ße fremden Zwecken bestimmte ideelle Aspekte zu abstrahieren. Die Praxis der partiellen Ge‐ schichte enthält, wenn sie ohne Gesamtheit bleibt, Keime einer echten Verfälschung, sie ist letztlich zu unfruchtbarer Abstraktion verurteilt. Diesen Punkt scheint die revisionistische Ein‐ stellung zur klassischen sozialen Interpretation der Französischen Revolution erreicht zu ha‐ ben.“ (Soboul 1976, S. 66f.)
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10. Kurzer historischer Nachtrag: Die Jakobiner und ihr Untergang
Aus der Tatsache, dass die Verfassung von 1793 nicht in Kraft gesetzt wurde, erga‐ ben sich weit reichende Konsequenzen. Denn es ist eindeutig, dass Robespierre und die Jakobiner ihr Führungssystem kaum auf der Grundlage der Verfassung von 1791 errichten konnten, da diese ja, wie gesehen, durch viele Gesetze und Dekrete abge‐ schafft und durch die Realität konterkariert war. Daher kam es zu einer Art Doppel‐ staatlichkeit: Einerseits blieb das alte System mit seinen Institutionen, Normen, Wer‐ ten und Gesetzen in Kraft, anderseits freilich zumeist nur so lange, bis ein neues oder anders lautendes Dekret verfügt wurde. Das Regierungssystem schließlich, auf dem der Wohlfahrtsausschuss unter Robespierre und Saint-Just seine Macht aufbau‐ te, war gleichsam genealogisch aus den Bedürfnissen der Revolution hervorgegan‐ gen und lässt sich nur so erklären, gerade was die Abweichungen zur Verfassung von 1793 und auch zur politischen Philosophie Robespierres betrifft. Der „große Terror“ der Jakobiner entstand als permanente Reaktion auf die Wün‐ sche der Sansculotten und der Pariser Bevölkerung, als Reaktion auf innenpolitische Herausforderungen und die immer noch vorhandene Wirtschaftskrise, nicht zuletzt als Versuch einer weiteren Zentralisierung aller Lebens- und Verwaltungsbereiche mit dem Zweck der Fortsetzung der Revolution gegen innere und äußere Gegner. So gesehen überrascht es nicht, dass es sich um ein äußert labiles Konstrukt handelte, das sich auf kaum mehr als seine eigenen Dekrete zu stützen vermochte. Je weiter die Entfremdung der Revolutionsregierung der Jakobiner von den Bedürfnissen der Sansculotten fortschritt, desto stärker büßte der Wohlfahrtsausschuss den Druck der Straße als wirksamstes Mittel zur Legitimierung seiner Entscheidungen ein. Gerade weil es den Jakobinern nie gelang, ihre Herrschaft zu institutionalisieren, war ihr Sturz vergleichsweise einfach. Man musste nur die Personen austauschen. Dem korrespondiert, dass die Jakobiner sukzessive die Gleichschaltung der revo‐ lutionären Klubs und Vereinigungen ebenso versuchten wie die Übernahme von Ver‐ waltungs- und Agitationsstellen in der Hauptstadt und der Provinz. Dabei ist ein Merkmal des Jakobinismus in dessen städtischer Verankerung zu sehen: Für die Nö‐ te und Bedürfnisse der Bauern und ländlichen Bevölkerung brachte er kaum ein In‐ teresse auf und verfügte aber auch kaum über Rückhalt aus dieser Schicht. Neben der Gleichschaltung anderer Organisationen drängten die Jakobiner auch den Ein‐ fluss der Pariser Kommune zurück und hatten mit den Todesurteilen gegen Hébert (hingerichtet am 24. März 1794), Roux (Selbstmord vor Hinrichtung am 10. Februar 1794) und andere den linkskritischen Organisationen und ihrer Presse ein eindeuti‐
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ges Signal gegeben. So gesehen gelang es ihnen durchaus (und zeitlich befristet), die Öffentlichkeit als „vierte Gewalt“ ein Stück weit zu kontrollieren. Das Fundament der Jakobinerherrschaft bildete die Gleichheit aller Männer bei Wahlen und Abstimmungen. Der Zensus war gefallen und bei Beförderungen und Ämtervergabe wurden Privilegien weiter zurückgedrängt. Die so geschaffene Atmo‐ sphäre war die Voraussetzung für die Beibehaltung des Konvents, der nach ähnli‐ chen Prinzipien unter den Einfluss der Jakobiner geriet. Insgesamt benannte er – of‐ fiziell immer noch Inhaber der legislativen Gewalt – 21 Ausschüsse, denen teilweise sogar exekutive Befugnisse zukamen. Die zwei bekanntesten waren der Wohlfahrts‐ ausschuss (dem zum Schluss elf Mitglieder unter Robespierre angehörten) und der Sicherheitsausschuss. Diesen beiden bot etwa der Finanzausschuss (unter Cambon) durchaus die Stirn und ersetzte so ein Stück weit die parlamentarische Opposition. Die einzigartige Stellung des Wohlfahrtsausschusses ergab sich aus der schlichten Tatsache, dass seine Mitglieder nicht mehr ausgetauscht, sondern nur noch monat‐ lich bestätigt wurden. Damit war die Basis für die permanente Akkumulation von Macht und Sondergewalten gelegt. An seinem historischen Ende bestimmten Robes‐ pierre und seine Mitstreiter über ein System, dessen Einfluss sich bis in die einzel‐ nen Gemeinden erstreckte. Sie leiteten die Außen- und Innenpolitik, die Kriegsfüh‐ rung, beriefen die Generäle, kontrollierten die teilweise staatliche Rüstungsindustrie, besaßen ein Kontroll- und Inspektionsrecht gegenüber allen Behörden und Verwal‐ tungsinstanzen. Hinzu kam die Ernennung und Entsendung von Agenten, welche, mit Sondergewalten ausgestattet, den Dualismus von Tugend und Terror überall dort durchsetzen sollten, wo sie waren. Parallel wurden die Selbstverwaltungs- und Re‐ präsentationsmechanismen der einzelnen Distrikte, Gemeinden etc. aufgehoben oder eingeschränkt. Dabei brach ihre Macht die jeweils herrschenden Gesetze. Ein wichtiges Charakteristikum des Wohlfahrtsausschusses ist darin zu sehen, dass viele Entscheidungen diskutiert und gemeinsam verantwortet wurden. Kurz: Robespierre kann nicht als der „Alleintäter“ angesehen werden. Dem Wohlfahrtaus‐ schuss stand der Sicherheitsausschuss ergänzend zur Seite. Er verfügte über eine Sonderpolizei und kontrollierte die Exekutive und die Justiz. Damit oblag ihm die Durchsetzung der revolutionären Politik auf dem Fundament des „Gesetzes über die Verdächtigen“.1 Das wahrscheinlich größte Problem der Herrschaft der Jakobiner ist in der Tatsa‐ che zu sehen, dass sie sich nie zu einer sansculottischen Wirtschaftspolitik durchrin‐ gen konnten. Auch wenn sich beider Programme in zahlreichen Punkten berührten, so bleibt doch zu konstatieren, dass sich die Jakobiner einer radikal-sozialen Dimen‐ sion der Demokratie ein ganzes Stück weit verweigerten. Dies betraf nicht nur ihr einseitiges Setzen auf die städtische Bevölkerung, sondern auch die Beibehaltung
1 Vgl. Markov/Soboul 1989, S. 341–360.
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des Konkurrenzprinzips. Dieses wurde zwar durch staatliche Maßnahmen vielerorts ausgehebelt, aber es blieb eben doch Grundlage des Wirtschaftens. Dem entspricht, dass es den Jakobinern zwar gelang, den Brotpreis zu stabilisieren, freilich sank durch ihre gleichzeitige Lohnpolitik (Maximum) die Kaufkraft. Unter der Vorherr‐ schaft Robespierres rüttelten die Jakobiner nie grundlegend an der Institution des Ei‐ gentums. (Es wurde bereits darauf verwiesen: Ein Erbteil Rousseaus!) Vielmehr schufen sie auch hier ein äußerst fragiles und durch persönliche Kontakte, Interven‐ tionen etc. anfälliges Geflecht von Sondergesetzen. Und auf dem Land blieben die Großbauern weitestgehend unangetastet, eine Neuaufteilung des Bodens zu Gunsten der Kleinbauern und Landarbeiter fand nicht statt. Damit ging den Jakobinern nicht nur die Massenbasis der Politik verloren. Darüber hinaus konnten sie auf wirtschaft‐ lichem Gebiet nie einen Status Quo schaffen, der ihren eigenen Untergang hätte überleben können. Immerhin aber erfüllten sie im Mai 1794 ihr fast ein Jahr altes Versprechen und schufen ein staatlich-säkulares Programm der Armenfürsorge, das auch die Alten- und Krankenpflege verbesserte und die Mütter sowie Witwen auf dem Existenzminimum absicherte. Eine andere, kaum zu hintergehende positive Er‐ rungenschaft der Jakobinerdiktatur ist die Abschaffung der Sklaverei in den Koloni‐ en im Februar 1794, an der bis zu diesem Zeitpunkt kaum einer gerüttelt hatte. Gleichwohl ist aber auch nicht zu bestreiten, dass im Wohlfahrts- und im Sicher‐ heitsausschuss sehr genau registriert wurde, dass sich die Regierung in immer gerin‐ ger werdendem Maße auf die Masse der Bevölkerung stützen konnte und auch die Unterstützung des Dritten Standes von Paris verlor. Die Reaktion war eindeutig: Die radikale Verschärfung des Terrors, der sich bis zu diesem Zeitpunkt vor allem auf das Gesetz über die Verdächtigen vom 17. September 1793 gestützt hatte. Nun zo‐ gen die Jakobiner unter Robespierre die Zügel an: Das am 22. Prairial des Jahres II (10. Juni 1794) erlassene Gesetz (siehe die vorstehenden entsprechenden Ausfüh‐ rungen) hebelte die letzten rechtsstaatlichen Normen aus und schuf der kaum noch zu kontrollierenden Hinrichtungswelle ihr Fundament.2 Es wurde ein neues Revolu‐ tionstribunal gegründet, welches den Zweck zugeschrieben bekam, die „Feinde des Volkes zu bestrafen“ (Art. 4). Dabei wurde die Kategorie des Volksfeindes so ausge‐ dehnt, dass sie auf zu viele Bürger Anwendung finden konnte und damit dem belie‐ bigen sowie subjektiv motivierten Terror Vorschub leistete. Folgende Gründe wur‐ den als hinreichend angesehen, um als Volksfeind angeklagt zu werden: (Art. 6) •
Wiedereinrichtung des Königtums, Herabsetzung des Konvents und der re‐ publikanischen Revolutionsregierung.
2 Abgedruckt bei Grab 1989, S. 301–305.
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•
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Geheime Beziehungen zu den Feinden der Revolution, Kontakte zu oder Hilfestellungen für Aristokraten, Verfolgung und Verleumdung von Patrio‐ ten. Wirtschaftliche Schwächung, Störung der Lebensmittelversorgung von Paris. Verbreitung von Mutlosigkeit, Täuschung des Volkes, Irreführung der öffent‐ lichen Meinung. Störung der Sitten und der revolutionären sowie republikanischen Tugenden. Missbrauch öffentlicher Ämter zu Gunsten der Gegner.
Es ist eindeutig, dass die Verschärfung des Terrors vor allem über die damit quasi eingeführte Zensur (als Verbot der Kritik an den Jakobinern) erfolgte. Doch die Aus‐ hebelung der letzten Reste rechtsstaatlicher Normen ging noch weiter. Für eine An‐ klage vor dem Revolutionstribunal war jede Art von Beweisen zugelassen (Art. 7), d. h. es genügte die Aussage eines einzelnen Menschen. Die Richter und Geschwo‐ ren hatten dann zu urteilen, ob die Anklage zutreffend ist oder nicht. Alles weitere war überflüssig. Ja, sogar eine Vernehmung des Angeklagten oder das Anhören wei‐ terer Zeugen war nicht notwendig, wenn die „moralischen Beweise“ ausreichend waren. (Art. 13) Im Falle der Verurteilung war nur eine Strafe vorgesehen: die Hin‐ richtung. „Die Richtschnur bei der Urteilsfindung ist das von der Vaterlandsliebe er‐ leuchtete Gewissen der Richter, ihr Ziel der Sieg der Republik und der Untergang ihrer Feinde, das Verfahren besteht in der Anwendung der einfachen Mittel, die der gesunde Menschenverstand an die Hand gibt, um in den gesetzlich festgelegten For‐ men zur Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen.“ (Art. 8) Hinzu trat dann noch die Einbindung aller Ressourcen in die Arbeit des Revolutionstribunals: Die Bevölke‐ rung wurde zur gegenseitigen Bespitzelung verpflichtet, wer einen tatsächlichen, vermeintlichen oder potentiellen Konterrevolutionär nicht anzeigte, wurde automa‐ tisch mitschuldig. Diese Entwicklung resümierend können mehrere Faktoren benannt werden, die einerseits den Jakobinern zum Durchbruch verhalfen, andererseits aber auch für de‐ ren Scheitern verantwortlich sind. In diesem Dualismus liegt das ganze Paradoxe der äußerst labilen und fragilen, kurzen und spontanen, von „unten“ gewollten, jedoch nicht verteidigten Epoche der Jakobinerherrschaft. • •
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Ausschaltung der Kritik (von links und rechts), in letzter Konsequenz dann Selbstzerfleischung. Die Jakobiner hielten immer an der Institution des Eigentums fest, konnten die Wünsche der Sansculotten nicht befriedigen. Gleichzeitig konnte die Wirtschaft nie stabilisiert werden.
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Ausbau der Zentralisierung, gleichzeitig aber Aufbau einer Doppelstaatlich‐ keit abseits institutionell-kodifizierter Rechte. Das theoretisch postulierte Gleichgewicht von Tugend und Terror war auf die permanente Legitimierung von „unten“ angewiesen, mit deren Wegfall gewann der Terror an Gewicht. Aufhebung der demokratischen Spielregeln, Suspendierung von Wahlen, Einschränkung der Pressefreiheit. Der nie endgültig gelöste Konflikt von reichem Bürgertum, verarmter Stadt‐ bevölkerung, von reichen Bauern und verarmter Dorfbevölkerung. Mit dem „Kult des Höchsten Wesens“ stand Robespierres Versuch der Ver‐ bindung religiöser und weltlicher Normen zu Gunsten der Machtakkumulati‐ on und des inneren Friedens sowohl der katholischen Restauration als auch dem Atheismus (Entchristlichung) gegenüber.
Genau diese Konstellation hatten auch diejenigen Konventsabgeordneten vor Au‐ gen, die schließlich – oftmals durch Angst motiviert – die parlamentarische Opposi‐ tion gegen Robespierre zusammenführte. Ermutigt wurde diese ad-hoc gebildete Be‐ wegung durch Streitigkeiten zwischen dem Wohlfahrts- und dem Sicherheitsaus‐ schuss, die sich durch interne Kämpfe noch verschärften. Robespierre entschloss sich, alles auf eine Karte zu setzen, er vertraute dem alten Machtgefüge und redete am 26. Juli 1794 vor dem Konvent über die Prinzipien der Revolution. Es war Fou‐ ché, der von Stefan Zweig so treffend porträtierte spätere Minister, der den Wider‐ stand organisierte, sahen sich nach der Rede doch zahlreiche Abgeordnete bedroht. Einen Tag später – der als 9. Thermidor historische Berühmtheit erlangte – verlas der Konvent nach einigen Verhaftungen das Anklagedekret gegen Robespierre, ein‐ stimmig votierte der Konvent für die Inhaftierung seines bisherigen Vorsitzenden und mehrerer seiner Mitstreiter. Als die Nachricht am Nachmittag die Pariser Bevöl‐ kerung erreichte, kam es zum Aufstand, der zwar zur Befreiung der Gefangenen führte, aber keinen durchschlagenden Erfolg hatte. Mehrere Sektionen der politi‐ schen Mitte stellten ihre Nationalgarden dem Konvent zur Verfügung. Dass es nicht zu bewaffneten Auseinandersetzungen gekommen war, kann als Indiz für die Äch‐ tung Robespierres durch das Volk angesehen werden. Am 29. Juli wurden Robes‐ pierre und Saint-Just, bis zum nächsten Tag insgesamt 92 Jakobiner ohne Urteil ge‐ köpft. Weitere Säuberungswellen überfluteten die ganze Republik. Die Reaktionäre, das Bürgertum – sie standen den Jakobinern in nichts nach. Der 9. Thermidor bedeutete das Ende der Jakobinerdiktatur, welches, so berichtet die Anekdote, Danton vorausgesehen hatte: Als er zur Guillotine gebracht wurde, wollte der Henker seine Arme mit zwei Stricken fesseln: Doch Danton wehrte ab: „Einen wirst du für Robespierre brauchen.“
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Anhang: 11. Babeufs letztes Aufgebot1
Eines der charakteristischen Merkmale des Marxismus ist darin zu sehen, dass er die explizite Abgrenzung gegenüber dem Utopischen Sozialismus, ja: gegenüber dem utopischen Diskurs suchte. In Friedrich Engels' Broschüre Die Entwicklung des So‐ zialismus von der Utopie zur Wissenschaft kommt dieses Verfahren bereits im Titel in programmatischer Absicht zum Ausdruck. Die Notwendigkeit dieses Vorgehens ist freilich offensichtlich. Die frühen Marxisten sahen sich dem tagesaktuellen Druck ausgesetzt, die Vorwürfe aus dem konservativen und liberalen politischen Lagern zu‐ rückzuweisen, selbst bloß utopische Forderungen aufzustellen, wobei der Terminus der Utopie den pejorativen Beigeschmack des Phantastischen, Absurden, Unreali‐ sierbaren hatte. Solche Vorwürfe standen dem behaupteten eigenen wissenschaftli‐ chen Anspruch konträr gegenüber.2 Gleichzeitig aber belegten die Marxisten ihrerseits – direkt von Karl Marx und Friedrich Engels ausgehend – den utopischen Diskurs mit eben dieser pejorativen Abwertungsstrategie.3 Gerade an den Utopischen Frühsozialisten (Robert Owen, Charles Fourier und Claude-Henri de Saint-Simon) exemplifizierten sie, dass diesen der Einblick in die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte verwehrt gewesen wäre, ihre Systeme daher, wie Engels formulierte, von vornherein zur Utopie verdammt waren. Und dennoch: Wenn der Versuch ansteht, diesen Teil des Marxismus etwas genauer zu fokussieren, dann wird deutlich, dass Marx und Engels Ausnahmen machten, d. h. verschiedene soziale Bewegungen oder gar einzelne Autoren von ihrer Kritik aus‐ nahmen. Engels nannte in Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wis‐ senschaft neben Thomas Münzer explizit Babeuf als im Sinne des Kommunismus handelnden Revolutionär, flankiert durch die Aneignung von Theoretikern wie Mo‐ relly.4 Entscheidend ist, dass Babeuf nicht nur in diesem Zusammenhang aufgewer‐ tet wurde. Denn bereits im Manifest der Kommunistischen Partei hatten ihn Marx und Engels eindeutig aus der Linie des utopischen Denkens herausgenommen und damit auch gegen ihre Fundamentalkritik abgesichert.5 1 Das Kapitel folgt meinem Aufsatz Die Last der Verschwörung. Gracchus Babeufs Theorie der Freiheit und Gleichheit, der im Januar 2007 in der Utopie kreativ erschienen ist (5–19). Er wurde für diese Ausgabe vollständig überarbeitet. 2 Eine gute Einführung bieten: Affeldt-Schmidt 1991; Hölscher 1989. 3 Hierzu: Heyer 2015. 4 Siehe: Engels 1988, S. 50. 5 Siehe: Marx/Engels 1982, S. 78.
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Wo ist der Grund für diesen Sonderstatus Babeufs zu sehen? Marx und Engels be‐ tonten, dass Babeuf an einem ganz entscheidenden Punkt über die philosophischen Systeme der Aufklärung und auch der Französischen Revolution hinausgehe. Wäh‐ rend sich in England die Industrielle Revolution voll Bahn brach,6 setzte er auf das kommunistische Gemeineigentum, bezeichnete Privateigentum jeglicher Art als Diebstahl. Hinzu trat, Babeufs Theorie noch verschärfend, dass er zur Umsetzung seines Programms auf die Revolution setzte – den gewaltsamen Umsturz zur Verbes‐ serung der Lage des Dritten Standes. Thilo Ramm, der sich mit seinen Werken als Kenner der frühen sozialistischen Theoriebildung profiliert hat, schrieb: „Für die Marxisten hingegen gilt, der Ansicht von Marx und Engels folgend, die Verschwö‐ rung des Babeuf als Zeichen dafür, dass mit der Zerstörung der feudalen Gesell‐ schaft und dem Beginn der Herrschaft der Bourgeoisie das Proletariat auf dem Schauplatz der Geschichte erschien und seine Forderungen anmeldete.“ (Ramm, 1954: 134) Es steht außer Frage, dass sich Babeuf als Anwalt der kleinen Leute ver‐ stand, deren Interessen er in der Französischen Revolution und nach dem Ende der Jakobinerherrschaft als (fast) einziger öffentlichkeitswirksam vertrat.7 Dabei stützte er sich auf den radikalen Teil der Aufklärung: Neben den Schriften Rousseaus und Mablys war für ihn vor allem Morellys Code de la nature der zentrale Bezugspunkt. In diesem Spannungsgefüge gewann er seine Ideen, deren Signum darin zu sehen ist, dass sie die Idee der völligen Gleichheit propagieren, die so zur Grundlage der Frei‐ heit wird. Bevor diese Punkte genauer auseinanderzusetzen sind, ist aber ein Blick auf die Biographie Babeufs unverzichtbar. In der Französischen Revolution gab sich François Noël Babeuf den Beinamen Gracchus und knüpfte damit an die politische Tradition der Gracchen an. Am 23. November 1760 in ärmlichen Verhältnissen in Saint-Quentin geboren, begann er bereits im jugendlichen Alter zu arbeiten – als Assistent eines Grundbuchkommis‐ sars (verantwortlich für die Registrierung und Auswertung der adligen Grundrechte und Besitztümer) – und machte sich 1783 selbständig. Er war damit bereits frühzei‐ tig mit dem Ancien Régime und seinen Fehlentwicklungen vertraut, auf deren Sturz er später sein ganzes Engagement richtete. Bezeichnend für sein Wirken in der Re‐ volution ist, dass er eigentlich immer in Konflikt zu den anderen Parteien stand, sich nie wirklich in eine Bewegung/Gruppe integrierte, dafür allerdings persönliche Freundschaften zu jenen Personen pflegte, denen er eine treibende Rolle innerhalb 6 Zum Zusammenhang von Industrieller und Französischer Revolution siehe: Liebknecht 1892. 7 In der Anfangsphase der Revolution waren erste kommunistische Texte entstanden, so L'Anges Unverletzliche Verfassung der allgemeinen Glückseligkeit, Doliviers Versuch über die ursprüng‐ liche Gerechtigkeit und Boissels Die Unterhaltungen von Vater Gérard. Daneben kam es zur Neuedition von Morellys Code de la nature (1796), der noch Diderot zugeschrieben wurde. Hinzu trat der enorme Verbreitungsgrad von Thomas Paines Die Rechte des Menschen, die die‐ ser als Antwort auf Edmund Burkes konservative Revolutionskritik (Betrachtungen über die französische Revolution) verfasst hatte. Nicht zuletzt wäre auch das revolutionäre Theater mit seiner politischen Stoßrichtung zu nennen.
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der revolutionären Prozesse zuschrieb. Im Mai 1790 wurde er zum ersten Mal ver‐ haftet, jedoch kurze Zeit später wieder freigelassen. Marat hatte sich in seiner Zei‐ tung L'Ami du Peuple mit einer Propagandakampagne für ihn eingesetzt. 1791 begann Babeuf eine eigenständige publizistische Karriere – die von ihm herausgegebene Zeitung hatte jedoch keinen Erfolg: von seinen Artikeln ist nicht ein einziger erhalten. 1792 zum Verwalter des Somme-Departements ernannt, ging er in seiner neuen Funktion so radikal gegen die Korruptionserscheinungen und den „mo‐ ralischen Verfall“ vor, dass ihm von seinen Gegnern ein Vergehen angehängt wurde. In Abwesenheit wurde er 1793 in Amiens zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt, war vorher allerdings bereits nach Paris geflohen, wo er als Sekretär im Ernährungs‐ amt (Bureau des subsistances) arbeitete. Nachdem seine Tarnung aufgeflogen war, wurde er erneut verhaftet, durch den Einsatz und die Kontakte von Sylvain Maréchal (einem seiner späteren Mitverschwörer) gelang ihm die Wiederaufnahme des Pro‐ zesses vor dem Konvent, die 1794 mit Freispruch endete. Zeitgleich widmete er sich erneut der publizistischen Agitation: Es erschienen verschiedene Schriften über sei‐ ne Grundsätze und zur Verteidigung seiner Person, daneben begann er mit der He‐ rausgabe des Journal de la Liberté de la Presse. In dieser Zeit, die vor allem durch den Terreur der Jakobiner geprägt war, ging Babeuf erneut ein hohes persönliches Risiko ein: Er wurde ein profilierter Kritiker Robespierres, machte sich aber gleich‐ zeitig für die Verfassung von 1793 sowie weitere Schritte zur Demokratisierung stark – also genau jene Punkte, die zum positiven Erbe der Jakobiner gehören. Am 29. Januar 1795 wurde durch Jean-Lambert Tallien der nächste Haftbefehl gegen Babeuf erwirkt, diesmal abgesichert durch eine Mehrheit im Konvent. „Von der Polizei aufgespürt und Anfang Februar gefasst, wurde Babeuf zuerst in Paris festgesetzt und dann nach Arras überführt, wo er bis zum 10. September gefangen blieb. In Arras hatte die Regierung in den Gefängnissen des Baudets und Providence eine Reihe von ehemaligen Jakobinern und Sansculotten konzentriert, unter ihnen Charles Germain, ein junger Mann von fünfundzwanzig Jahren, der später einer der Führer der Verschwörung werden sollte. Die Gefangenen hatten über Monate hin‐ weg freie Verbindung untereinander, sie erörterten die Probleme der Revolution und die politischen Perspektiven, die sie verfolgen wollten. Die Gefängnisse von Arras waren die revolutionäre Schule, in der die 'Verschwörung' zuerst erdacht und geplant wurde.“8 Mit dem Sturz Robespierres hatte die Reaktion einen entscheidenden Teilsieg er‐ rungen. Seinen manifesten Ausdruck fand dieser Umschwung in der Verfassung von 1795, welche die demokratischen Partizipationsrechte radikal einschränkte, die er‐ kämpften Errungenschaften rückgängig machte und eine neue Hierarchisierung und Privilegisierung der Gesellschaft einführte. Sie ist, das kann gesagt werden, ein Do‐
8 Scott 1988, S. 11.
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kument der bourgeoisen Klasse, welche damit einen entscheidenden Grundstein für die Durchsetzung und Entfaltung kapitalistisch-bürgerlicher Verhältnisse legte.9 Dem entspricht allerdings auch, dass es (nach der beschriebenen Kriegs- und Bür‐ gerkriegspolitik der Gironde) erstmals seit 1789 zu einer Beruhigung Frankreichs kam, die revolutionäre Energie war zwar erschlafft – das haben zum Beispiel Georg Kerner und Gustav Graf von Schlabrendorf eindeutig beschrieben – , es kam aber auch zu einer Durchsetzung rechtsstaatlicher Mittel und Methoden. Ein Prozess, der im Code Napoleon seinen Höhepunkt fand. Der Preis für diesen Wandel war freilich hoch: Es erfolgte eine Verschärfung der Pressezensur, die noch über die Repressi‐ onsmechanismen des Ancien Régime hinausging. Babeuf änderte innerhalb dieser Situation seine Position. Die Auswirkungen der Konterrevolution vor Augen, machte er sich nicht nur für die Verfassung von 1793 stark, sondern wurde gleichzeitig zum Verteidiger Robespierres, der für ihn nun – zurückblickend – die Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und revolutionären Tugend verkörperte. Ähnlich hatte sich, die entsprechenden Passagen wurden wiedergege‐ ben, Bunarroti10 geäußert. In seiner Zeitschrift Tribun du Peuple fasste Babeuf die‐ sen Meinungsumschwung in fast schon pathetische Worte: „Urne von Robespierre, teure heilige Asche, werde wieder lebendig und zerschmettere die faden Verleum‐ der! Doch nein, verachtet sie, bleibt friedlich, edle Reste! Das ganze französische Volk, dessen Glück Du gewollt hast und für das Dein Genie allein mehr als jeder andere getan hat, das ganze französische Volk erhebt sich, um Dich zu rächen! Und ihr Schmierfinken, lernt besser die Erinnerung an einen Weisen achten, an einen Freund der Menschheit, einen großen Gesetzgeber, und lasst davon ab, den zu belei‐ digen, den die Nachwelt verehren wird.“11 Die letzten Anmerkungen skizzieren jenen geschichtlichen Hintergrund, der schließlich dazu führte, dass sich Babeuf mit mehreren Freunden und Bekannten ge‐ gen die Verfassung von 1795 und ihre politische Trägerschicht verschwor, da ihnen – das ist zentral – jede Möglichkeit der Partizipation innerhalb des herrschenden Systems genommen war. Aus dem Gefängnis entlassen, setzte Babeuf seit Anfang November die Herausgabe des Tribun du Peuple fort und gründete den Club de Pan‐ théon, benannt nach dem Gebäude, in das die Helden der Revolution und ihre Vor‐ läufer überführt worden waren. Die Vereinigung hatte den Zweck der Agitation und Propaganda gegen das Direktorium und die neue Verfassung. Sie umfasste vor allem die „alten Revolutionäre“, deren Tugendhaftigkeit durch ihr früheres politisch-ge‐ sellschaftliches Engagement erwiesen sei. Wer damit gemeint war, ist eindeutig: Ja‐ kobiner, Sansculotten, Vertreter der Kommune sowie darüber hinaus alle, die in Haft saßen. Nach nur vier Monaten (im Februar 1796) wurde die von Babeuf geschaffene 9 Siehe neben anderen: Furet/Richet 1997; Markov/Soboul 1989. 10 Ausgabe 1909. 11 Zit. bei: Heyer 2005, S. 963f.
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Organisationsstruktur durch Napoleon Bonaparte aufgelöst, Babeuf und seine wich‐ tigsten Mitstreiter (Buonarroti, Maréchal, Le Peletier, Darthé) gingen in den Unter‐ grund und begannen, detaillierte Pläne für den Sturz des Direktoriums sowie die Sammlung und bewaffnete Organisation der Pariser zu entwerfen. Es war Albert Soboul, der mit Blick auf die geschilderten Ereignisse ausführte, dass sich der Charakter des Babouvismus, d. h. seine Handlungsstrategie, radikal ge‐ ändert habe: Seit diesem Zeitpunkt sei es Babeuf und seinen Mitarbeitern um den Versuch gegangen, ein zuvor entwickeltes Konzept kommunistischer Gleichheit und Gütergemeinschaft in die empirisch messbare Realität zu überführen. „Die Organisa‐ tion der Verschwörung zeigt einen Bruch mit den Methoden, die bis dahin von der Volksbewegung verfolgt worden waren, und sie kennzeichnet auch einen Wandel in der Geschichte der revolutionären Praxis. (…) Um so bemerkenswerter erscheint die Untergrundorganisation, die Babeuf vor allem mit Hilfe Buonarrotis und Darthés 1796 aufbaute. In ihrem Mittelpunkt stand als leitende Gruppe das Geheime Direk‐ torium, das sich auf eine kleine Gruppe bewährter Kämpfer und Verbindungsagenten stützte, so auf Didier für die Pariser Bezirke sowie auf Germain und Grisel für die Armee. Um diese Gruppe kamen dann Sympathisanten – Patrioten und Demokraten im Sinne des Jahres II – , die nicht eingeweiht waren in das Geheimnis des 'Endziels' und von denen es nicht den Anschein hat, dass sie alle das revolutionäre Ideal teil‐ ten. Dies war eine organisierte Verschwörung par excellence, in der allerdings das Problem der notwendigen Verbindung mit den Massen auf unbestimmte Weise ge‐ löst worden zu sein scheint. Vom Gipfel zur Basis konnten Direktiven und Parolen leicht übermittelt werden, doch von den Sektionen zu den Agenten und von diesen zum Geheimen Direktorium war der Informationsfluss schlecht. Die von Marat er‐ hobene Forderung nach einem Diktator wurde hier zu einer kollektiven, zentralisier‐ ten Leitung.“12 Gleichwohl aber, trotz dieser zutreffend beschriebenen Probleme, stellte die Ver‐ schwörung für die Regierung eine Gefahr da. Denn das Direktorium konnte sich kei‐ neswegs auf eine Mehrheit der Pariser Bevölkerung stützen. Seine Legitimation er‐ zielte es dadurch, dass es dem Bürgertum zumindest in der Hauptstadt Frieden und Sicherheit gewährleistete. Um so überraschender ist es, dass sich die Regierung nicht zu einer klaren Linie gegenüber Babeufs Organisation durchringen konnte. Na‐ poleons frühe Warnung wurde nicht konsequent weiterverfolgt. „Babeuf allerdings trieb seine Vorbereitungen weiter voran, doch am 12. Floréal (30. April) wurde die für die Verschwörung bereits gewonnene Polizeilegion aufgelöst. Vor allem Babeufs Militäragent Grisel verriet die Verschwörer an Carnot: Der 'Volkstribun' und Buonar‐ roti wurden am 21. Floréal (10. Mai) verhaftet und ihre Papiere beschlagnahmt. Ein Versuch, die Armee im Lager von Grenelle zum Aufruhr zu bringen, scheiterte in
12 Soboul 1988, S. 149f.
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der Nacht vom 23. zum 24. Fructidor (9./10. September). Der Versuch ging aus von Männern des Jahres II, Jakobinern und Sansculotten und weniger von den eigentli‐ chen Babouvisten: Von den 131 Verhafteten waren nur sechs Abonnenten des Tribun du Peuple.“13 Die Verschwörung war gescheitert, ihre Protagonisten saßen erneut im Gefängnis. Thilo Ramm, aus dessen Standardwerk bereits zitiert wurde, schrieb über den an‐ schließenden Prozess: „Die Verschwörer wurden vor den Staatsgerichtshof gestellt, ein Sondergericht, dessen Geschworene von den Departementswählerversammlun‐ gen gewählt wurden und das in Vendôme tagte. Ihre Verteidigung lief darauf hinaus, trotz der zahlreichen belastenden Schriftstücke das Bestehen einer Verschwörung zu leugnen, ihr Ziel aber hypothetisch zu rechtfertigen, und in der Tat hatten sie damit auch Erfolg. Das Urteil vom 26. Mai 1797 nahm an, dass eine Verschwörung nicht bestanden habe. Nach dem schon erwähnten Gesetz vom 16. April 1796 aber, dessen Dauer nach Artikel 355 der Verfassung von 1795 auf ein Jahr beschränkt war und das somit zur Zeit der Urteilsverkündung nicht mehr in Kraft war, wurden Babeuf und Darthé zum Tode, Buonarroti und eine Anzahl anderer zur Deportation verur‐ teilt, der Rest freigesprochen. Babeuf und Darthé begingen nach der Urteilsverkün‐ dung einen Selbstmordversuch, der jedoch misslang. Sie wurden am 27. Mai 1797 hingerichtet.“14 Es ist auch Herbert Marcuse zu verdanken, dass das Erbe Babeufs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht in Vergessenheit geriet. In einem auch heute noch lesenswerten Aufsatz hat er sich mit Babeuf und dem Prozess gegen diesen ausein‐ andergesetzt. Dabei zielte er vor allem auf einen Punkt: Das Recht des Intellektuel‐ len, am bestehenden System Kritik zu üben, welche die Grenzen des Status Quo sprengt: D. h. Fundamentalopposition zu betreiben. Anhand der Revitalisierung der Argumentation Babeufs gewann er die These, dass es möglich sein muss, die parla‐ mentarische Demokratie mit ihrem Repräsentationsapparat zu Gunsten direkt-demo‐ kratischer Strukturen in Frage zu stellen bzw. sogar auszuhebeln. So gesehen müsse dann auch Babeufs Anmerkung, dass seine Aktionen gar keine Verschwörung gewe‐ sen seien, da sie sich auf das Gemeinwohl, das Wohl des Volkes – im Sinne der vo‐ lonté générale Rousseaus – zurückführen lasse, Berücksichtigung finden. Marcuse schrieb: „Diese Strategie, die in der einen oder anderen Form zu einem wesentlichen Ele‐ ment aller Theorien der revolutionären Diktatur geworden ist, gründet sich in Ba‐ beufs Verteidigungsrede auf den Gedanken, dass das Volk, welches seine Verfassung und seine Vertreter wählt, nicht notwendig das souveräne Volk ist, dass sein zum Ausdruck gebrachter Wille nicht notwendig sein autonomer Wille ist, und dass seine freie Wahl nicht notwendig gleich Freiheit ist.“ Und weiter heißt es: „Unter solchen 13 Soboul 1988, S. 151f. 14 Ramm 1954, S. 172f.
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Umständen wäre selbst eine freie Stimmabgabe ein Votum für die Knechtschaft, und die Demokratie wäre zu einem System der Beherrschung und Ausbeutung mittels Zustimmung geworden. Babeuf galt eine auf solche Weise erhaltene Zustimmung für null und nichtig, war keine Zustimmung, und eine Regierung durch das Volk musste gegen jenes Volk erkämpft werden, das in die Knechtschaft eingewilligt hat‐ te. Mehr noch, die Einführung von Demokratie musste die Untergrabung der beste‐ henden Demokratie bedeuten – so wie sie die Subversion des Ancien Régime bedeu‐ tete.“15 Marcuse ging es darum, dass Formen repräsentativer Demokratie nicht automa‐ tisch mit einem angeblichen Maximum an Freiheit zu analogisieren sind. Vielmehr gebe es eben auch in den modernen Staaten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Mechanismen und Strategien zur Beeinflussung der Wähler, Ja, noch zugespitzter: Marcuse schloss sich Rousseau und Babeuf darin an, dass die parlamentarische De‐ mokratie auch als eine Form der Herrschaft einer privilegierten Klasse angesehen werden könne, die ihren egoistischen Sonderwillen durchzusetzen trachte. Das Volk habe, hier war Rousseau weiter als die modernen Verfassungen des 20. Jahrhunderts und ihre konservativ-technokratischen Theoretiker, das Recht, sich zu irren, Fehler zu machen. Das sei Teil seiner Souveränität, seiner Freiheit und seiner Verantwor‐ tung. Die Verfassung von 1793 schrieb genau diesen Passus fest, was sich in der Re‐ gierungspraxis der Jakobiner allerdings nicht niederschlug: „Ein Volk hat stets das Recht, seine Verfassung zu revidieren, zu verbessern und zu ändern. Eine Generation kann ihren Gesetzen nicht die künftigen Generationen unterwerfen.“ (Diese Passage wurde ausführlich dargestellt.) Babeuf hat den gegen ihn geführten Prozess als einen Akt begriffen, der nicht nur ihn selbst oder seine Mitstreiter bedrohe, sondern die französische Nation, die bei einem Schuldspruch ihren Status als revolutionäres Subjekt verliere.16 (32) Daher verknüpfte er das Gerichtsverfahren mit dem möglichen Verlauf der Revolution, ihrer Gegenwart und der Zukunft. Es gebe nur zwei Optionen: Entweder die Stagna‐ tion, verbunden mit der Etablierung neuer Hierarchien sowie eines Stände- und Pri‐ vilegiensystems, oder die letztmalige Dynamisierung, verstanden als alles entschei‐ dender Schritt in die Freiheit. Die Wahl stehe zwischen Revolution und Restaurati‐ on, Freiheit und Tod, wie nicht zuletzt das Beispiel der Englischen Revolution unter Oliver Cromwell zeige.17 Angeleitet werden Babeufs sich auf dieser Basis entwi‐
15 Marcuse 1988, S. 156f. 16 Die Rekonstruktion des Denkens Babeufs erfolgt anhand von dessen Verteidigungsrede vor Gericht, die John Anthony Scott editiert hat. Babeuf 1988. Im Folgenden alle Zitate nach die‐ ser Ausgabe. 17 Babeuf hat explizit vor der Konterrevolution gewarnt: „Die entsetzliche Schreckensherrschaft des Königtums, die einst schon eure Brüder unterdrückte, wird im Triumph über euren Sturz ihren Dolchen freien Lauf lassen, die furchtbarste Verfolgung alle Verfechter der Freiheit nie‐ dermähen.“ (100f.)
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ckelnden Gedanken durch die Frage nach den Möglichkeiten und Chancen des Wi‐ derstandsrechts. Inwieweit ist es legitim, wenn es als Artikulation der so genannten natürlichen Gesetze interpretiert wird? Babeufs Antwort war eindeutig: „Ich habe gewagt, folgende Lehren aufzustellen und zu verkünden: Es ist das natürliche Recht der Menschen und ihre Bestimmung, frei und glücklich zu sein. Die Gesellschaft be‐ steht, um jedem ihrer Mitglieder das natürliche Recht auf diese Bestimmung zu si‐ chern. Wird diese Verpflichtung nicht allen gegenüber erfüllt, ist der Gesellschafts‐ vertrag gebrochen. Um eine Verletzung des Gesellschaftsvertrages zu verhindern, bedarf es einer Garantie. Diese Garantie kann nur in dem Recht eines jeden Bürgers bestehen, über Verstöße zu wachen, sie allen Mitbürgern anzuzeigen, als erster der Unterdrückung zu widerstehen und die anderen zum Widerstand aufzurufen. Daraus folgt die unverletzliche, unbegrenzte individuelle Berechtigung, zu denken, zu über‐ legen und seine Gedanken und Überlegungen anderen mitzuteilen, unablässig zu be‐ obachten, ob die Bedingungen des Gesellschaftsvertrags in ihrer Gesamtheit und in völliger Übereinstimmung mit dem Naturrecht eingehalten werden; gegen festge‐ stellte Übergriffe, Unterdrückung, Tyrannei aufzustehen; Mittel in Vorschlag zu bringen, um die Willkürakte und Usurpationen der Regierenden zu unterbinden und die verlorenen Rechte zurückzuerobern.“ (32f.) Die Strategie der soeben wiedergegebenen Aussagen Babeufs ist äußert interes‐ sant. Denn er antizipierte die liberalen Freiheitsrechte des 19. Jahrhunderts und spielte sie gegen die Folgen der sich verschärfenden kapitalistischen Ausdifferenzie‐ rungsprozesse aus. Gleichsam in einem Sprung führt seine Theorie über die Industri‐ elle Revolution und den Manchesterkapitalismus hinweg in die nachkapitalistische und kommunistische Industriegesellschaft, wie sie etwa Edward Bellamy (Rückblick aus dem Jahr 2000 auf 1887) am Ende des 19. Jahrhunderts beschrieben hat. Zudem verweisen Babeufs Anmerkungen in den Kern der Vertragstheorie, des Kontraktualismus.18 Also direkt in jenen Diskurs, in dem seit dem Erscheinen von Thomas Hobbes' Leviathan (1651) die Begründung und Legitimierung der seit dem Westfälischen Frieden entstandenen modernen europäischen Staaten versucht wurde. Und genau an dieser Stelle ist dann auch – im Spannungsfeld von Individuum, Staat und Gesellschaft – die Beantwortung der Frage möglich, ob und wenn ja inwieweit das Widerstandsrecht bei Nichterfüllung des höchsten Staatszwecks durch die Re‐ gierenden zum Tragen kommt. Spätestens mit Denis Diderot wurde die Vertrags‐ theorie um 1750 Teil der radikaleren Spielart der Französischen Aufklärung, vor al‐ lem Diderot, Morelly, Raynal und der auch in der Französischen Revolution aktive Thomas Paine deuteten es zu Revolutionstheorien um. Bei ihnen wurde das Wider‐ standsrecht zur Waffe des Dritten Standes, zum Aufruf für die revolutionäre Beendi‐
18 Siehe neben der bereits erwähnten Literatur: Proust 1962.
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gung der Unterdrückung durch das Ancien Régime. Auch diesen Passus schrieb die Verfassung von 1793 fest und die von 1795 strich ihn ersatzlos. Babeuf steht genau in dieser Linie, rekurrierte er doch nicht nur auf Morelly, son‐ dern übernahm auch – in zugespitzter Form – Rousseaus Ideal der gesellschaftlichen Homogenität. Damit liegt auch die utopische Dimension des Ansatzes auf der Hand: Es ist die zu generierende völlige faktische Gleichheit aller, die freilich nur gegen den Status Quo der nach-jakobinischen Epoche zu verwirklichen wäre. Babeuf kon‐ trastierte daher seine Theorie legitimer Herrschaft mit der von ihm beobachteten em‐ pirischen Situation seiner Zeit. „Eine legitime Obrigkeit setzt eine so vollkommene Verfassung voraus, wie sie nur menschenmöglich ist. Sie erfordert mindestens, dass alle bekannten Grundsätze des Gesellschaftsrechts, alles, was die Ausübung und Ga‐ rantie der Freiheit und der Volkssouveränität ausmacht, darin verankert ist. Durch die Umstände, die ich darlege, müsste selbst eine vom Volk frei angenommene Ver‐ fassung nicht unbedingt der Niederschlag dieser geheiligten Grundsätze sein. Dann könnte man auch nicht sagen, die auf diesen Gesetzen beruhende Regierung sei legi‐ tim. Und eine Regierung, die auf einem nicht wirklich vom Volke angenommenen Vertrag beruhte, wäre dies noch weit weniger. Daraus folgt, dass ausschließlich eine Verfassung, welche die Prinzipien der Freiheit, Souveränität und nationalen Sicher‐ heit verankert, eine legitime Regierung hervorbringen kann. Sonst gibt es keine.“ (49f.) Dem so geschilderten „Idealzustand“ ist eine Zeitdiagnose vorgeschaltet, durch die er erst sein eigentliches Gewicht gewinnt. Damit ist die Doppelstruktur utopi‐ schen Denkens bei Babeuf präsent, wobei gerade der Kontrast von Imagination und Realität die utopische Dimension normativ überhöht: „Ich sah in dieser Ordnung die Souveränität des Volkes verkannt: das Recht zu wählen und gewählt zu werden ist ausschließlich gewissen Kasten vorbehalten. Ich sah die Privilegien wiederaufleben und eine neue, verabscheuungswürdige Unterscheidung in Aktiv- und Passivbürger. Ich sah alle Garantien der Freiheit vernichtet: Keine echte Pressefreiheit mehr; keine Versammlungsfreiheit mehr; kein Petitionsrecht mehr; kein Bewaffnungsrecht mehr. Ich sah das kostbarste, so innig mit der Souveränität verbundene Recht, die Gesetze zu sanktionieren, gleichfalls dem Volke genommen und der zweiten Kammer der Legislative übertragen, während man sich doch während der ganzen Revolution so sehr gegen das Zweikammernsystem empört hatte. Ich sah eine sehr kleine Exekuti‐ ve, die nicht vom Volke ernannt wird. Ich sah sie mit großen Machtbefugnissen aus‐ gestattet und berechtigt, fast alle Abgeordneten des Volkes abzusetzen und nach ihrem Gutdünken zu ersetzen. Ich sah die öffentliche Fürsorge und das Bildungswe‐ sen vergessen.“ (50f.) Für Herbert Marcuse war Babeufs Interpretation der Verfassungsgeschichte der Französischen Revolution und ihren manifesten Ergebnissen, den einzelnen Verfas‐ sungen von 1791, 1793 und 1795, das entscheidende Kriterium für dessen Handeln.
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Marcuse schrieb, Babeufs Kritik des Direktoriums fokussierend: „Nur eine Regie‐ rung, welche die unveräußerlichen Menschenrechte anerkennt und ihr Amt in Über‐ einstimmung mit dem Prinzip der Volkssouveränität ausübt, kann beanspruchen, eine legitime Autorität zu sein. (...) Babeuf kann nunmehr leicht folgern, dass die Regierung, gegen die er konspirierte, keine legitime Autorität ist. Denn die Verfas‐ sung von 1795 schaffte das allgemeine Wahlrecht ab, stellte die Unterscheidung zwi‐ schen Aktiv- und Passivbürgern wieder her, hob die Bürgerrechte auf, welche die Verfassung von 1793 sanktioniert hatte, und stattete die Exekutive mit Machtmitteln außerhalb der Kontrolle des Volkes aus. Unter solchen Umständen lag die Legitimi‐ tät nicht bei den Verteidigern der Regierung, sondern bei den Verschwörern gegen sie.“19 Diese Argumente Marcuses finden sich bei Babeuf selbst.20 Die Verfassung von 1795 sei ein massiver Rückschritt und im Prinzip Ausfluss der Konterrevolution, die Babeuf nicht nur als „Verrat“ an den Idealen der Revolution, sondern darüber hinaus auch als „Royalisierung“ bezeichnet. Die Gesellschaft zur Zeit der Verschwörung (d. h. nach der Herrschaft der Jakobiner) und das 1789 gestürzte Ancien Régime unter‐ scheiden sich Babeuf zu Folge kaum, würden sie doch beide nach denselben Grund‐ sätzen verfahren: Strukturierung, Hierarchisierung, Privilegien- und Elitenbildung, Ausdifferenzierung der Gesellschaft in arm und reich, den Ausschluss ganzer gesell‐ schaftlicher Klassen/Schichten von der politischen Teilhabe. Der Masse des Volkes werde durch die Verfassung von 1795 der Bürgerstatus genommen. Möglich wurde dies, da das Volk selbst müde, fatalistisch und egoistisch sei sowie kein Interesse an der Fortsetzung der revolutionären Aktionen mehr habe. „Weder in der neuen Ver‐ fassungsform noch in den Maßnahmen der zum Dienste des Staatsapparats bestimm‐ ten Beamten konnte ich etwas erkennen, was meine Liebe zu dieser Republik hätte wecken können. Ich sagte mir: Sie ist verloren, wenn nicht eine geniale Tat sie rettet, ansonsten wird sich der Monarchismus unweigerlich ihrer bemächtigen. Ich sah mich um und bemerkte viel Mutlosigkeit, selbst unter den einst so glühenden, so be‐ herzten Patrioten, die sich erfolgreich so sehr für die Stärkung der Freiheit eingesetzt hatten. Der Anblick dieser allgemeinen Niedergeschlagenheit, der völligen Knebe‐ lung, wenn man so sagen kann, der Ohnmacht, der totalen Schutzlosigkeit des Vol‐ kes gegen die Unternehmungen der Regierenden, die Spuren der Ketten, die fast alle diese tatkräftigen Männer kürzlich getragen hatten, die Überzeugung, zu der auch ei‐ nige von denen gelangt zu sein schienen, die es nicht laut sagten, dass die Republik im Grunde vielleicht keine so ausgezeichnete Sache sein könne – all diese Ursachen 19 Marcuse 1988, S. 159. 20 „Ich hatte einen krassen Gegensatz zu all dem in der Verfassung bemerkt, die dieser vorange‐ gangen war. Ich habe gesehen, wie die eine vernichtet und die andere gegen den Willen des Volkes eingeführt wurde. Die eine war durch 4.800.000 Stimmen gewährleistet, die einmütig, entschlossen und freiwillig abgegeben worden waren, die andere nur von 900.000 zweifelhaf‐ ten Stimmen abgestützt.“ (51)
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hatten fast jedermann zur Aufgabe bewegt, und man schien bereit, sich unter das Joch zu beugen.“ (53f.) Mit Babeufs Stellung zum kontraktualistischen Diskurs und zur Verfassungsge‐ schichte der Revolution wurden wichtige Elemente seiner Theorie benannt. Ein wei‐ terer einschlägiger Punkt ist darin zu sehen, dass er die kommunistische Güterge‐ meinschaft forderte, d. h. die Aufhebung des privaten Eigentums. In enger Anleh‐ nung an Morellys Code de la nature sowie unter Rekurs auf Mably und Rousseau formulierte er die These, dass alle Verbrechen und Laster der Zivilisation aus dem Privateigentum resultieren.21 Sie ist – seit Platons Politeia und Thomas Morus' Uto‐ pia – grundlegend für den utopischen Diskurs, so dass die intellektuell-theoretische Annäherung Babeufs an diesen Teil der abendländisch-europäischen Tradition sicht‐ bar wird. Damit ist dann auch der innovative Beitrag Babeufs auf diesem Gebiet be‐ nannt: Zur Begründung seiner kommunistischen Gemeineigentumstheorie verband er die utopische Methode22 mit dem kontraktualistischen Ansatz und legte so einen kaum zu überschätzenden Beitrag zur Konvergenz beider Diskurse vor. Er schrieb: „Das Los des Menschen sollte sich beim Übergang vom Natur- zum Gesellschafts‐ zustand nicht verschlechtern. Ursprünglich gehört der Boden niemandem, seine Früchte allen.“ (62) Und weiter heißt es: „Wenn der Boden niemandem, die Früchte allen gehören, wenn der Besitz einer Minderheit nichts als das Ergebnis einiger missbräuchlicher, gegen die Grundrechte verstoßender Institutionen ist, folgt daraus, dass dieser Besitz einiger weniger einen Übergriff darstellt, dass zu allen Zeiten al‐ les, was sich ein Individuum vom Boden und den Früchten der Erde über seine Er‐ nährung hinaus aneignet, Diebstahl am Gemeinwesen ist.“ (64) Babeufs Argumentation ist klar: Eigentum sei eine rein staatliche Institution, aus‐ schließlich durch positive Gesetze geschaffen und sanktioniert. Ja, erst der Staat le‐ gitimiere die im Naturzustand erfolgten Ausdifferenzierungen und Ungleichheiten, indem diese nun, wie exemplarisch bei Thomas Hobbes und ebenso Jean-Jacques Rousseau nachzulesen ist, durch alle gesichert werden. Da der Boden aber von Natur aus, d. h. dem Ursprung nach, allen gehöre, habe kein Staat die Autorität, eine Auf‐ teilung der Flächen zu sanktionieren. Babeuf hatte dies, zusammen mit Sylvain Ma‐ réchal und anderen, auf die pointierte Formel gebracht, dass Eigentum Diebstahl 21 Zur Absicherung dieser These, darauf kommen wir noch zu sprechen, musste er Rousseau und Mably allerdings verzerrend interpretieren. Denn beide bejahten eindeutig die Institution des Privateigentums und schlugen lediglich obere Schranken der Akkumulation vor und forderten die Sozialpflichtigkeit des Besitzes. Auf diesen Teil ihrer Ausführungen stützte sich ja Robes‐ pierre. Zuzustimmen ist Babeuf insofern, als Rousseau im Contrat social schilderte, dass bei der Begründung der idealen Gesellschaft das vorhandene Eigentum in einer logischen Sekunde an den Staat übergeht. Dieser aber, und hier irrte Babeuf, kassiert es nicht oder verteilt es neu, sondern gibt es vielmehr, nun rechtmäßig geschützt, an seine früheren Besitzer zurück. Dane‐ ben konnte sich Babeuf natürlich auf die radikale Zivilisationskritik Rousseaus stützen, die in markant-sprachgewaltigen und polemischen Texten ihren Ausdruck fand. (Siehe: Heyer 2005, I, S. 97–116.) 22 Siehe, immer noch zentral: Ruyer 1950; Krysmanski 1963.
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sei.23 Damit ist im Denken Babeufs der utopische Dualismus präsent: Der kritisier‐ ten Gegenwart wird eine Gesellschaft gegenübergestellt, die als tragfähige Alternati‐ ve fungiert. Dass diese kontraktualistisch generiert werden soll, ist das Signum des Entwurfs. „All unsere gesellschaftlichen Einrichtungen, unsere gegenseitigen Geschäfte sind nichts anderes als ständige räuberische Handlungen, die barbarische Gesetze genehmigen, in deren Schutz wir einzig auf gegenseitige Ausbeutung bedacht sind. Im Gefolge ihrer furchtbaren Anfangsvereinbarungen bringt unsere Gaunergesell‐ schaft alle Arten von Lastern und Verbrechen hervor, gegen die sich einige redliche Männer umsonst zusammenschließen, um ihnen einen Kampf anzusagen, den sie nicht gewinnen können, weil sie das Übel nicht bei der Wurzel greifen, sondern nur Linderungsmittel anwenden, die sie aus falschen Vorstellungen von unserer organi‐ schen Verderbnis schöpfen. Aus allem Gesagten geht deutlich hervor, dass alles, was einer über seinen persönlichen Anteil an den Gütern der Gesellschaft hinaus besitzt, Diebstahl und widerrechtliche Aneignung ist. Es ist also gerecht, es ihm wieder wegzunehmen. Selbst derjenige, der bewiese, dass er aufgrund seiner bloßen Kör‐ perstärke in der Lage ist, soviel wie vier zu leisten, und der deshalb den vierfachen Lohn forderte, wäre ein Verschwörer gegen die Gesellschaft, weil er damit allein ihr Gleichgewicht stören und die kostbare Gleichheit vernichten würde.“ (66) Babeuf hat, das ist entscheidend, noch einmal seinen Umsturzversuch gerechtfer‐ tigt, der ihm zu Folge als letzte Möglichkeit erscheint, die Gleichheit aller durchzu‐ setzen. Der Verschwörung selbst wird so aber immer auch attestiert, dass sie eigent‐ lich gar keine sei. Richte sie sich doch gegen eine Regierung, welche nicht die Prin‐ zipien der Natur artikuliere und damit auch nicht auf der Basis eines gerechten Sozi‐ alvertrages agiere. Mit Rousseau und im Namen der „Rechte der Menschheit“ nahm Babeuf für sich in Anspruch, das Richtige zur richtigen Zeit getan zu haben. Die bisher rekonstruierte Selbsteinschätzung Babeufs ist allerdings an einer zen‐ tralen Stelle zu revidieren. Denn es ist keineswegs so, dass er die von ihm vorge‐ schlagene alternative Gesellschaft auf kommunistischer Grundlage tatsächlich in ihren Facetten imaginiert hat. Es lassen sich vielmehr nur wenige Anhaltspunkte fin‐ den, die immerhin sporadische Aussagen ermöglichen, deren interpretative Gewich‐ tung sich an der geleisteten Gegenwartskritik zu orientieren hat. So kann kein Zwei‐ fel daran bestehen, dass Babeuf die Verfassung von 1793 als wichtigen Schritt zur Verwirklichung seines Gleichheits- und Freiheitskonzeptes betrachtete. Damit geriet ein Punkt in den Fokus seiner Betrachtungen, der wie kaum ein zweiter die politi‐ 23 „Alles, was einem Mitglied des Gemeinwesens zur Befriedigung seiner täglichen Bedürfnisse jeder Art fehlt, ist das Ergebnis einer Beraubung seines natürlichen persönlichen Eigentums durch jene, die das Gemeineigentum an sich reißen. Alles, was ein Mitglied des Gemeinwesens mehr hat als zur Befriedigung seiner täglichen Bedürfnisse jeder Art, ist das Ergebnis eines Diebstahls an den anderen Mitgliedern, der notwendig eine mehr oder weniger große Zahl ihres Anteils am Gemeineigentum beraubt.“ (64f.)
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schen Theorien beeinflusst hat. Für Babeuf war die Umsetzung seiner Überlegungen ganz zentral von der Aufklärung und Bildung der Bürger, der Citoyens abhängig. Aufgeklärte Menschen, so seine These, könnten nicht getäuscht oder in die Irre ge‐ führt werden. Der Gebrauch der eigenen Vernunft wird zur Vorbedingung für das Er‐ kennen des Gemeinwohls: Interpretiert als „Stimme der Natur“. Von hier bedinge sich auch, dass die Verteilung der Bildungs- und Kulturchancen an die Ausdifferen‐ zierung der Gesellschaft gebunden sei. Oder anders: Babeuf zu Folge stellt die Usurpation der Aufklärung „ein Werk‐ zeug, ein Arsenal von Waffen“ (67f.) in der Hand der reichen bourgeoisen Ober‐ schicht dar. Die Anforderung an die zukünftige bessere Gesellschaft ist in diesem Sinne formuliert: Sie soll völlige Gleichheit auf allen Gebieten durchsetzen. „Die gesellschaftlichen Institutionen müssen also so beschaffen sein, dass sie keinem In‐ dividuum die Hoffnung lassen, jemals reicher, mächtiger oder durch seine Kenntnis‐ se vornehmer zu werden als seinesgleichen. Um es noch genauer zu sagen: Es muss gelingen, das Schicksal zu bezwingen, das Los jedes Gesellschaftsmitgliedes von Zufall, von glücklichen und unglücklichen Umständen unabhängig zu machen, je‐ dem einzelnen und seiner Nachkommenschaft, so zahlreich diese auch sein mag, ein Auskommen zu sichern, aber nur ein Auskommen; und allen jeden nur möglichen Weg zu versperren, jemals mehr zu erringen als den persönlichen Anteil an den Er‐ zeugnissen der Natur und der Arbeit.“ (68) Die Kehrseite der von Babeuf gezeichneten Alternative liegt freilich ebenfalls auf der Hand. Das Individuum wird fast vollständig vom Staat abhängig, wird schlicht‐ weg konsumiert.24 Gleich den neuzeitlichen Utopisten dachte Babeuf von „oben“. Auch die Umstrukturierung bzw. Revolutionierung des alten Status Quo werde auf diese Weise und gerade nicht von „unten“ – wie etwa noch bei Jacques Roux – kom‐ mend erfolgen. Dem korrespondiert, dass es der Staat und seine harten Institutionen sind, welche die neuen Strukturen garantieren und ihr Bestehen gegen jede Form der Kritik – die dann ja gegen die „Gebote der Natur „verstoßen würde – absichern bzw. mit Hilfe repressiver Maßnahmen immunisieren. Jedoch könnte – gerade bei glei‐ cher Bildung – auch davon ausgegangen werden, dass die Individuen in der Zukunft ihre Handlungen gleichsam habitualisieren. Mit dem Privateigentum, wie Babeuf (erneut im Rahmen des utopischen Diskurses) ausführt, würden die kritisierten Pro‐ bleme der Gegenwart automatisch aufgehoben. „Dieses System wird die Grenzsteine verschwinden lassen, die Hecken, die Mauern, die Türschlösser, die Zwistigkeiten, die Prozesse, die Diebstähle, die Morde, alle Verbrechen; die Gerichte, die Gefäng‐ 24 „Das einzige Mittel, dahin zu gelangen, ist die Einrichtung einer gemeinsamen Verwaltung, die Abschaffung des Privateigentums. Jeder muss an seine Fähigkeiten, an die von ihm beherrsch‐ te Tätigkeit gebunden und verpflichtet sein, seine Erzeugnisse in natura in einem Sammellager abzuliefern; eine einfache Güterverwaltung hat alle Individuen und alle Dinge zu erfassen, und letztere in strengster Gleichheit aufzuteilen und in die Wohnung der einzelnen Bürger bringen zu lassen.“ (68)
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nisse, die Galgen, die Strafen, die Verzweiflung, die all dieses Unglück hervorruft; den Neid, die Eifersucht, die Unersättlichkeit, den Hochmut, den Betrug, die Falsch‐ heit, kurz, alle Laster; außerdem (was sicherlich wesentlich ist) den nagenden Wurm der allgemeinen Sorge, die jeden von uns ständig verfolgt, was morgen, in einem Monat, in einem Jahr, im Alter sein wird, die Sorge um das Schicksal unserer Kinder und Kindeskinder.“ (69) Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Babeufs Wirkung in der Geschichte nicht nur durch ihn selbst erzielt wurde. Ebenso bedeutsam war die Darstellung sei‐ ner Ideen durch Philippe Buonarroti – einem der engsten Mitverschwörer Babeufs – im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts.25 Und schon während des Umsturzversuches beteiligten sich andere Theoretiker an der ideologischen Begründung der Position des radikalen Kommunismus. So verfasste der von 1750 bis 1803 lebende Sylvain Maréchal eines der einflussreichsten Dokumente der ganzen Bewegung: Das Mani‐ feste des Égaux, Das Manifest der Gleichen26, in dem die Gleichheit als „das erste Gebot der Natur“27 bezeichnet und damit, ganz im Sinne der Aufklärung, entschei‐ dend aufgewertet wird. Ja, Maréchal ging sogar über Babeuf hinaus. Noch expliziter als dieser setzte er auf kommunistische Eigentumsverhältnisse und verneinte die durch die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte festgesetzte rechtliche Gleich‐ heit der Chancen. Seine Alternative war ein Modell totaler, völlig egalisierender Ho‐ mogenität, die in letzter Konsequenz nur mit Hilfe eines starken Staates hergestellt und aufrechterhalten werden kann. Das Individuum wird mit all seinen Facetten, Leidenschaften und Potentialen von der staatlichen Sphäre absorbiert und soll in die‐ ser aufgehen. „Wir streben etwas Erhabeneres und Gerechteres an, das Gemeingut oder die Gütergemeinschaft. Kein individuelles Landeigentum mehr: Die Erde ge‐ hört niemandem. Wir verlangen, wir fordern den gemeinsamen Genuss der Früchte der Erde: Die Früchte gehören allen. Wir erklären, nicht länger ertragen zu können, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen im Dienste und nach dem Belieben einer winzigen Minderheit arbeitet und sich abquält. Lange genug, allzu lange haben weniger als eine Million Menschen über das verfügt, was mehr als zwanzig Millio‐ nen ihresgleichen gehört. Schluss endlich mit diesem gewaltigen Ärgernis, das unse‐ ren Nachfahren unglaublich erscheinen wird! Schluss endlich mit den empörenden Unterschieden zwischen Reichen und Armen, Großen und Kleinen, Herren und Knechten, Herrschenden und Beherrschten. Es darf keinen anderen Unterschied mehr zwischen den Menschen geben als den des Alters und des Geschlechts. Nach‐ 25 Buonarroti veröffentlichte 1828 – verarmt in Paris lebend – sein zweibändiges Werk Conspira‐ tion pour l'égalité dite de Babeuf, suivie du procès auquel elle donne lieu et des pièces justifi‐ catives und schuf damit den ersten „Klassiker“ der Darstellung der Verschwörung. Sein Buch ist bis heute eine der besten Einführungen in die Problematik. Die einzige deutsche Über‐ setzung erschien 1909 im Dietz-Verlag und wurde von diesem 1975 neu aufgelegt. 26 Verwendet wird die Ausgabe: Maréchal 1988, S. 103–108. 27 Maréchal 1988, S. 103.
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dem alle dieselben Bedürfnisse und dieselben Familien haben, soll es für sie auch nur ein und dieselbe Erziehung, dieselbe Ernährung geben.“28 Das zentrale Merkmal des Gleichheitsbegriffs Maréchals ist darin zu sehen, dass dieser durch die künstliche Sphäre der Reglementierung und des menschlichen Agierens sogar die natürlichen Unterschiede auszuhebeln trachtete: Differenzen der Art von Intelligenz, Stärke etc. sollen durch gezielte Maßnahmen gegen Null zu‐ rückgeführt werden. Die Absicherung seiner Überlegung nahm Maréchal dadurch vor, dass er den Durchbruch zur faktischen Gleichheit mit der Revolution verband. „Französisches Volk! Woran sollst du von nun an die Vortrefflichkeit einer Verfas‐ sung erkennen? Nur, wenn sie gänzlich auf der faktischen Gleichheit beruht, kann sie dir genügen und alle deine Wünsche befriedigen. Die aristokratischen Verfassun‐ gen von 1791 und 1795 verstärkten deine Ketten anstatt sie zu sprengen. Die von 1793 war ein echter, großer Schritt in Richtung der wirklichen Gleichheit. Wir wa‐ ren ihr noch nie so nahe, doch sie erreichte das Ziel noch nicht, sie gelangte nicht bis zum Gemeinwohl, dessen Prinzip sie doch feierlich verankerte.“29 Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Maréchal die von ihm entworfene ideale Gesellschaft der Zukunft ebenfalls utopisch auflud. Das zeigt sich gerade dann, wenn er die Französische Revolution als Vorstadium der noch ausstehenden besseren (eutopischen) Zukunft der Menschheit interpretierte. Die chiliastisch-apo‐ kalyptischen Momente seiner Aussagen sind freilich ebenfalls deutlich erkennbar: Untergang oder Paradies, ein Weg abseits dieser beiden extremen Pole war für Ma‐ réchal und auch für Babeuf nicht vorstellbar. Genau von hier bezogen sie ja ihr Selbstverständnis der von einer kleinen Minderheit getragenen Durchsetzung des kommunistischen Systems qua Revolution. Gemessen an den zu erwartenden Ver‐ heißungen des geschichtsphilosophisch gedeuteten Endstadiums müsse die Französi‐ sche Revolution als gescheitert betrachtet werden. Zwar wäre die Verfassung von 1793 ein wichtiger und entscheidender Schritt in die richtige Richtung gewesen, al‐ lerdings sei davon seit der großbürgerlich-reaktionären Verfassung von 1795 nichts mehr zu spüren, schon gar nicht existent. Damit verdeutlicht sich, dass Maréchal gleich Babeuf davon ausging, dass der Umschwung kaum auf friedlichem Wege erfolgen könne: Hier unterschieden sie sich von den nur einige Jahre später agierenden Utopischen Frühsozialisten und ge‐ nau das ist auch einer der Gründe für die positive Rezeption durch Marx und Engels. Maréchal hat sich explizit dazu bekannt, dass die Blutopfer der Revolution einen Preis darstellen, der durchaus für das zukünftige Glück aller bezahlbar sei. „Die Or‐ ganisation der tatsächlichen Gleichheit, die einzige, die allen Bedürfnissen gerecht wird, ohne Opfer zu fordern, wird vielleicht anfangs nicht jedermann behagen. Der Egoist, der Ehrgeizige wird vor Wut zittern, der unrechtmäßige Besitzer über Unge‐ 28 Maréchal 1988, S. 105f. 29 Maréchal 1988, S. 108f.
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rechtigkeiten zetern. Einige für die Leiden anderer Unempfindliche werden ihren ex‐ klusiven Genuss, die einsamen Freuden, den persönlichen Wohlstand schmerzlich bedauern. Die Machtgierigen, die gemeinen Handlanger der willkürlichen Gewalt werden ihre stolzen Nacken nur widerstrebend unter die reale Gleichheit beugen. In ihrer Kurzsichtigkeit fällt es ihnen schwer, das bevorstehende Allgemeinwohl zu er‐ fassen; doch was vermögen ein paar tausend Unzufriedene gegen eine Masse glück‐ licher Menschen, die nur erstaunt sind, so lange nach einer greifbar nahen Glückse‐ ligkeit gesucht zu haben.“30 Seit der Aushöhlung der emanzipatorischen Errungenschaften der nie in Kraft ge‐ tretenen demokratischen Jakobinerverfassung (1793) diagnostizierte Babeuf die Ausbildung einer neuen Stände- und Privilegiengesellschaft, welche die wenigen noch vorhandenen und hart erkämpften Grundrechte zu unterminieren trachtete. Ja, es drohe sogar die Wiedereinsetzung der Monarchie, was dann die Bestrafung der Protagonisten der Revolution nach sich ziehen würde – eine These, die bereits Ro‐ bespierre bei der durch ihn vorangetriebenen Intensivierung der revolutionären Pra‐ xis vorgetragen hatte. Gegen diese Zeitdiagnose – das heißt die permanente Gefahr der Konterrevolution – setzte Babeuf sein Konzept der Gleichheit, das sich direkt aus den Normen der Natur ableiten lasse. In diesem Sinne ist dann derjenige zur po‐ litischen Tat legitimiert, der Einblick in diese Sphäre habe und so gleichsam kaum mehr mache als die Gesetze der Natur zu exekutieren. Genau an dieser Stelle liegt aber, das haben wir eindeutig gesehen, der archimedische Punkt der Argumentation. Babeuf ging, hier Rousseau folgend, davon aus, dass die Masse des Volkes ver‐ blendet sei und so selbst in demokratischen Entscheidungen getroffene Vereinbarun‐ gen irrelevant wären. Der Bezug dieser Passage zu den einschlägigen Ausführungen Rousseaus im Discours sur l'inégalité ist evident.31 Die Revolution wurde von ihm mit seinem nächsten, über die Praxis der Jakobiner hinausgehenden Schritt konfron‐ tiert: Dem Prinzip des Terrorismus. Babeuf versuchte also, und eben daran scheiterte er, die Ideale der Revolution mit genau den Mitteln zu retten, deren Herrschaft er befürchtete: Gewalt, Unterdrückung, Verschwörung, Mord. Dieses Dilemma war ihm nicht bewusst.
30 Maréchal 1988, S. 107. 31 Siehe: Heyer 2006.
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