Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus 3515097066, 9783515097062

Dieser Band präsentiert den aktuellen Forschungsstand zur Geschichte der Universität Tübingen im Nationalsozialismus. Im

149 90

German Pages 1136 [1138] Year 2010

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Michl/Daniels: Strukturwandel unter ideologischen Vorzeichen. Wissenschafts- und Personalpolitik an der Universität Tübingen 1933-1945
Fakultäten und Abteilungen
Rieger: Die Entwicklung der Evangelischen-theologischen Fakultät im 'Dritten Reich'
Burkard: Die Entwicklung der Katholisch-Theologischen Fakultät
Günther: Ein aufhaltsamer Niedergang? Die rechtswissenschaftliche Abteilung in der Zeit des Nationalsozialismus
Brintzinger: Die Wirtschaftswissenschaftliche Abteilung im Nationalsozialismus
Grün: Die Medizinische Fakultät Tübingen im Nationalsozialismus. Überblick und Problematisierung
Fächer
Hille: Das Kunsthistorische Seminar unter der Leitung von Georg Weise und Hubert Schrade
Mischek: Das Völkerkundliche Institut der Universität Tübingen während des Nationalsozialismus
Strobel: Das Urgeschichtliche Institut der Universität Tübingen zwischen 1933 und 1945
Daniels: Auslandkunde an der Universität Tübingen 1918-1945
Handtke: Das Philosophische Seminar: Deutsch bis in die Wurzeln
Potthast/Hoßfeld: Vererbungs- und Entwicklungslehren in Zoologie, Botanik und Rassenkunde/Rassenbiologie: Zentrale Forschungsfelder der Biologie an der Universität Tübingen im Nationalsozialismus
Junginger: Antisemitismus in Theorie und Praxis. Tübingen als Zentrum der nationalsozialistischen 'Judenforschung'
Grün: 'Mit der besten gynäkologischen Hand'. Die Diskussion um eine Erbgesundheitsklinik für Tübingen 1934-1935
Reichherzer: Die Ausrichtung der Universität auf den Krieg. Wehrwissenschaften und die Universität Tübingen in der Zwischenkriegszeit
Alltag
Lang: Jüdische Lehrende und Studierende in Tübingen als Opfer des Nationalsozialismus
Wiglusch/Schittenhelm: Zwangsarbeiter an der Universität Tübingen 1940-1945
Wischnath: 'Student sein verpflichtet' - Tübinger Studenten im Dritten Reich
Schönhagen: Stadt und Universität Tübingen in der NS-Zeit
Scherb: 'Wir haben heute eine neue Sinngebung' - Tübinger Studentinnen im Nationalsozialismus
Personen
Wildt: Von der Universität ins Reichssicherheitshauptamt. Tübinger Exekutoren der 'Endlösung'
Scharer: Robert F. Wetzel (1898-1962) - Anatom, Urgeschichtforscher, Nationalsozialist. Eine biografische Skizze
Schmidt-Degenhard: 'Kleinkarierter Größenwahn'. Zur 'ärztlichen' Karriere des Dr. Dr. Robert Ritter (1901-1951)
Thran: Hans Fleischhacker. Rassenkundliche Forschungen in Tübingen und Auschwitz
Mohr: Erich Kamke, 1890-1961
Scheuren-Brandes: Walther Schönfeld (1888-1958) - Christliche Rechtswissenschaft als Lebensaufgabe
Schoppmeyer: Philipp Heck (1858-1943)
Schwieger: Wilhelm Merk - ein Tübinger Verwaltungs- und Staatsrechtler zwischen deutsch-nationalem Denken und Nationalsozialismus
Aufarbeitung
Zauner: Die Entnazifizierung (Epuration) des Lehrkörpers. Von der Suspendierung und Entlassung 1945/46 zur Rehabilitierung und Wiedereinsetzung der Professoren und Dozenten bis Mitte der 50er Jahre
Wischnath: Die Universität Tübingen und die Entziehung akademischer Grade im Dritten Reich
Bausinger: 'Volksforschung' im Zeichen des Nationalsozialismus
Flitner: Die Tübinger Vortragsreihe 'Deutscher Geist und Nationalsozialismus' 1964/65
Lüdtke: Die 'Braune Uni': Eine studentische Arbeitsgruppe zur 'Selbstgleichschaltung' der Tübinger Universität im Nationalsozialismus
Hayes: 'Verbergt nicht Eure Feigheit unter dem Mantel der Klugheit': Zur Gedenkpraxis der Universität Tübingen in der Nachkriegszeit
Arbeitskreis 'Universität Tübingen im Nationalsozialismus': Berichte des Arbeitskreises 2003-2008
Abbildungsverzeichnis
Register
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Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus
 3515097066, 9783515097062

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Urban Wiesing / Klaus-Rainer Brintzinger / Bernd Grün / Horst Junginger / Susanne Michl (Hg.)

Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus

Geschichte

Urban Wiesing/ Klaus-Rainer Brimzinger / Bernd Grün/ Horst Junginger/ Susanne Michl (Hg.) Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus

CONTUBERNIUM Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte

Herausgegeben von Jörg Baten, Ewald Frie, Andreas Holzern, Ulrich Köpf, Sönke Lorenz, Anton Schindling, Jan Schröder und Urban Wiesing Band 73

Urban Wiesing/ Klaus-Rainer Brintzinger/ Bernd Grün/ Horst Junginger/ Susanne Michl (Hg.)

Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus

@

Franz Steiner Verlag Stuttgart

2010

Umschlagbild: Hissen der Hakenkreuzfahne auf der Neuen Aula am (UAT S

19/10-1-4,

9.3.1933, Fotograf: Privat (IO,4X7,8 cm)

Nr. 13)

Bibliografische Information der Deutschen National­ bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN

978-3-515-09706-2

JedeVerwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. ©

2010 Franz SteinerVerlag,

Stuttgart

Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: Hubert & Co, Göttingen Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis Hrsg. Vorwort

9

............................................................................................................

Michl, Susanne / Daniels, Mario Strukturwandel unter ideologischen Vorzeichen. Wissenschaftsund Personalpolitik an der Universität Tübingen 1933-1945 ........................ 1 3

Fakultäten und Abteilungen

Rieger, Reinhold Die Entwicklung der Evangelischen-theologischen Fakultät im "Dritten Reich"

.........................................................................................

77

Burkard, Dominik Die Entwicklung der Katholisch-Theologischen Fakultät

...........................

119

Günther, Frieder Ein aufhaltsamer Niedergang? Die Rechtswissenschaftliche Abteilung in der Zeit des Nationalsozialismus

.............................................................

177

Brintzinger, Klaus-Rainer Die Wirtschaftswissenschaftliche Abteilung im Nationalsozialismus

.........

199

.............................................................

239

Grün, Bernd Die Medizinische Fakultät Tübingen im Nationalsozialismus. Überblick und Problematisierungen

Fächer

Hille, Nicola Das Kunsthistorische Seminar unter der Leitung von Georg Weise und Hubert Schrade

.........................................................

28 1

Mischek, Udo Das Völkerkundliche Institut der Universität Tübingen während des Nationalsozialismus

................................................................

303

Strobel, Michael Das Urgeschichtliche Institut der Universität Tübingen zwischen 1933 und 1 945 .............................................................................. 321

Daniels, Mario Auslandkunde an der Universität Tübingen 1 9 1 8- 1 945 .............................. 3 5 1

Inhaltsverzeichnis

6

Hantke, Manfred Das Philosophische Seminar: Deutsch bis in die Wurzeln ............... " .......... 385

Potthast, Thamas / Haßfeld, Uwe Vererbungs- und Entwicklungslehren in Zoologie, Botanik und Rassenkundel Rassenbiologie: Zentrale Forschungsfelder der Biologie an der Universität Tübingen im Nationalsozialismus ............ .435

Junginger, Horst Antisemitismus in Theorie und Praxis. Tübingen als Zentrum der nationalsozialistischen "Judenforschung" ........ .483

Grün, Bernd "Mit der besten chirurgischen und gynäkologischen Hand". Die Diskussion um eine Erbgesundheitsklinik für Tübingen 1934-1935 .............................................................................. 559

Reichherzer, Frank Die Ausrichtung der Universität auf den Krieg. Wehrwissenschaften und die Universität Tübingen in der Zwischenkriegszeit.. ........................... 579

Alltag

Lang, Hans-Jaachim Jüdische Lehrende und Studierende in Tübingen als Opfer des Nationalsozialismus ............................................................... 609

Wiglusch, Agnes / Schittenhelm, Judith Zwangsarbeiter an der Universität Tübingen 1940 - 1 945 ............................ 629

Wischnath, Jahannes Michael "Student sein verpflichtet" - Tübinger Studenten im Dritten Reich ............ 685

Schönhagen, Benigna Stadt und Universität Tübingen in der NS-Zeit... ................... " .................... 73 1

Scherb, Ute "Wir haben heute eine neue Sinngebung" Tübinger Studentinnen im Nationalsozialismus ...... " .......... " .......... " .......... 759

Personen

Wildt, Michael Von der Universität ins Reichssicherheitshauptamt. Tübinger Exekutoren der "Endlösung" ............................................ " .......... 89 1

Scharer, Philip Robert F. Wetzel ( 1 898-1962) - Anatom, Urgeschichtsforscher, Nationalsozialist. Eine biografische Skizze ................................................. 809

Schmidt-Degenhard, Tabias "Kleinkarierter Größenwahn" - zur ,ärztlichen' Karriere des Dr. Dr. Robert Ritter ( 190 1 - 1 9 5 1 ) ......................................................... 833

Inhaltsverzeichnis

7

Thran, Elke Hans Fleischhacker. Rassenkundliche Forschungen in Tübingen und Auschwitz .............................................................................................. 853

Mohr, Richard Erich Kamke, 1890-1961 ............................................................................. 863

Scheuren-Brandes, Christoph M. Walther Schönfeld ( 1 888-1 958)Christliche Rechtswissenschaft als Lebensaufgabe ..................................... 881

Schoppmeyer, Heinrich Philipp Heck ( 1 858-1943)........................................................................... 897

Schwieger, Christopher Wilhelm Merk - ein Tübinger Verwaltungs- und Staatsrechtler zwischen deutsch-nationalem Denken und Nationalsozialismus ................. 9 1 3

Aufarbeitung

Zauner, Stefan Die Entnazifizierung (Epuration)des Lehrkörpers. Von der Suspendierung und Entlassung 1 945/46 zur Rehabilitierung und Wiedereinsetzung der Professoren und Dozenten bis Mitte der 1 950er Jahre ........................... 937

Wischnath, Johannes Michael Die Universität Tübingen und die Entziehung akademischer Grade im Dritten Reich ........................................................................................... 999

Bausinger, Hermann "Volksforschung" im Zeichen des Nationalsozialismus ............................ 1055

Flitner, Andreas Die Tübinger Vortragsreihe "Deutscher Geist und Nationalsozialismus" 1964/65 .................................................................... 1059

Lüdtke, Alf Die "Braune Uni": Eine studentische Arbeitsgruppe zur "Selbstgleichschaltung" der Tübinger Universität im Nationalsozialismus .............................................................................. 1063

Hayes, Oonagh "Verbergt nicht Eure Feigheit unter dem Mantel der Klugheit": Zur Gedenkpraxis der Universität Tübingen in der Nachkriegszeit... ........ 1069

Arbeitskreis " Universität Tübingen im Nationalsozialismus ". Berichte des Arbeitskreises 2003-2008 ..................................................... 1089 Abbildungsverzeichnis ............................................................................... 1 123 Register. 1 125 ......................................................................................................

Vorwort Auch das vorliegende Buch über die Geschichte der Universität Tübingen im Nati­ onalsozialismus besitzt seine eigene, kurze Geschichte, die zu kennen Aufbau und Struktur des Werkes erläutert. Im Jahre 200 1 gründete der damalige Rektor, Prof. Eberhard Schaich auf Vorschlag einzelner Professoren den Arbeitskreis "Universi­ tät Tübingen im Nationalsozialismus". In der Folge entstand ein Ort zur Initiierung weiterer Forschung und zum Austausch von Forschungsergebnissen. Zudem hat der Arbeitskreis seither vier Berichte zu einschlägigen Fragen der Universität Tü­ bingen im Nationalsozialismus abgefasst 1 Diese Berichte dienten der Universität als Stellungnahmen zu Themen, bei denen Presse und Öffentlichkeit wiederholt Aufklärung und Erklärung angemahnt hatten. Überdies veranstaltete der Arbeits­ kreis im Wintersemester 2004/05 eine Ringvorlesung "Universität Tübingen im Nationalsozialismus", um die Thematik auch breiteren Kreisen jenseits der Fachöf­ fentlichkeit vorzustellen. Nach der Ringvorlesung stellte sich den Mitgliedern des Arbeitskreises die Frage, in welcher Form sie die nun vorliegenden Forschungsergebnisse zur Ge­ schichte der Universität Tübingen im Nationalsozialismus, die in vielen Bereichen das Vorhandene überschritten, publizieren sollten. Diese Frage war auch vor dem Hintergrund zu beantworten, dass zu dieser Thematik durchaus schon zahlreiche Publikationen vorlagen, wenngleich auch weiterhin große Lücken verbleiben. Die Universität konnte bereits auf eine Reihe von Aktivitäten zur Erforschung ihrer Geschichte im Nationalsozialismus zurückblicken und hatte in den 1960er und 1970er Jahren eine gewisse Vorreiterrolle eingenommen. Ausgehend von einer Reihe von kritischen Artikeln in der Tübinger Studentenzeitung "Notizen"2 begann die Beschäftigung der Universität mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit mit einer Vorlesungsreihe im Wintersemester 1964/653 Es folgten die Publikatio­ nen anlässlich der 500-Jahrfeier der Tübinger Universität im Jahr 19774, inklusive einer Gegenfestschrift5 und der Monographie von Uwe Dietrich Adam6 Letztere darf in Bezug auf die Gründlichkeit und die Breite der Quellenbasis als eine der ersten ihrer Art gelten. 1983 organisierte das Universitätsarchiv Tübingen unter der Leitung Volker Schäfers eine Ausstellung zur Geschichte der Universität Tübingen,

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Zur Aberkennung von Doktoraten, zu Juden an der Universität im Nationalsozialismus, zu Zwangarbeiterinnen und Zwangsarbeitem sowie zu Zwangssterilisierungen; die Berichte sind in diesem Band abgedruckt. Gremliza 1964; Hauser 1964; Bachof 1964; Kohler 1964. Flitner 1965. Decker-Hauff u.a. 1977; Decker-Hauff/Setzler 1977; Wandel 1977. Doehlemann 1977. Adam 1977.

Vorwort

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die den Anfängen des Nationalsozialismus und der Zeit von 1926 bis 1934 gewid­ met war 7 Die Herausgeber einigten sich auf einen Kompromiss zwischen einem Sam­ melband, der im Wortsinne neuere Forschungsbeiträge "sammelt", und einem Werk, das einzig von systematischen Fragestellungen geprägt und gewissermaßen aus "einem Guss" geschrieben ist. Der erste Teil des nun vorliegenden Bandes ver­ sucht, neben einer Übersicht zur gesamten Universität, eine Auswahl von Fakultä­ ten und Instituten beziehungsweise von Fächern anhand institutionsgeschichtlicher Fragestellungen zu beleuchten. Die Veränderungen des Lehrpersonals und der Stu­ dierenden, der Lehr- und Forschungsinhalte sowie die Auseinandersetzungen in den jeweiligen Institutionen werden hier untersucht. Durch die institutionsge­ schichtlichen Vorgaben der Herausgeber an die Autoren des ersten Abschnittes sollte mehr als nur eine Zusammenschau des gegenwärtigen Forschungsstandes entstehen. Der zweite Teil sammelt Studien zum Alltag an der Universität, zu Ver­ brechen und zu Personen sowie zu einschlägigen Themen des Nationalsozialismus. Der dritte Teil widmet sich mit seinen zum Teil umfänglichen Studien der Aufar­ beitung dieser Zeit. Nicht alle Arbeiten wurden eigens für diesen Band angefertigt, einige stammen aus anderen Forschungszusammenhängen. Der Sammelband weist insbesondere im zweiten und dritten Teil unterschiedli­ che Perspektiven und Beschreibungsebenen auf: einzelne Themen und Vorkomm­ nisse, einzelne Personen, sowie Epochen und Themen der Aufarbeitung. Zudem war den Autoren im zweiten und dritten Teil keine methodische Vorgabe gemacht worden, so dass unterschiedliche Ansätze zu finden sind: Alltagsgeschichte, Wis­ senschaftsgeschichte, Verbrechensgeschichte, biographische Abhandlungen etc. Neben wissenschaftlichen Abhandlungen finden sich hier auch Berichte eher per­ sönlicher Natur. Die Entscheidung für diese Form der Publikation neuer Forschungsergebnisse war nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass sich trotz umfangreicher Bemühun­ gen für bestimmte Fakultäten niemand finden ließ, der sie nach institutionsge­ schichtlichen Fragestellungen untersucht hätte. Zudem sahen sich die Herausgeber mit kurzfristigen Absagen konfrontiert, die jedes Bemühen um Vollständigkeit ver­ geblich werden ließen. Gleichwohl: Die Herausgeber glauben, mit der nun gewähl­ ten Form das Optimum dessen präsentieren zu können, was die Umstände zuließen, und eine umfangreiche und detailreiche Publikation bieten zu können, die Wesent­ liches zur Geschichte der Universität Tübingen im Nationalsozialismus in den Blick nimmt und in vielfacher Hinsicht Neues hinzufügt. Andere Universitäten haben andere Wege in der Erforschung ihrer Geschichte gewählt, doch den einschlägigen Publikationen ist gemeinsam, dass sie historisch kontingenten Entstehungsbedingungen entsprungen sind und entsprechend unter­ schiedlich ausfallen. Die historiographische Vielfalt spiegelt die Realität der Aufar­ beitung dieser Zeit an den deutschen Universitäten wider. Auch die Veröffentli­ chungen anderenorts sind durch besondere Umstände der Erforschung des Natio-

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Schäfer 1983.

Vorwort

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nalsozialismus geprägt. 8 Insofern nimmt die Aufarbeitung der lokalen Geschichte immer auch ihre lokalen Eigenheiten an. Für die Erforschung der Universitätsgeschichte des Nationalsozialismus zeigt sich die Erforschung der Mikroebene als besonders lohnend. Die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der formalen und inhaltlichen Gleichschaltung sowie der unterschiedlichen Formen der ,Selbstgleichschaltung' , die damit einhergehenden Personalentscheidungen, die verschiedenen Schattierungen zwischen Gleichschal­ tung, Anpassung und verhaltenem Autonomiestreben setzen ein Betrachten des Einzelfalls voraus. Insoweit trägt dieser Band über die Erforschung der Geschichte der Universität Tübingen hinaus auch eine weitere Facette zur Geschichte der nati­ onalsozialistischen Hochschulpolitik bei. Die komplexe Lokalgeschichte einer Universität, hier um die Aufarbeitung zahlreicher neuer Details bereichert, bestätigt abermals, dass der Nationalsozialismus auch an den Universitäten "nicht auf die unheilvolle Tätigkeit einer kleinen Tätergruppe reduziert werden kann"9 Die meisten Autoren dieses Buches haben eine persönliche Beziehung zur Uni­ versität Tübingen. Sie haben hier zumindest studiert, zeitweise gearbeitet oder ar­ beiten derzeit an dieser Universität. Sie tragen somit zur historiographischen Auf­ arbeitung einer in vieler Hinsicht verhängnisvollen Periode ,ihrer' Universität bei. Im Rahmen der Publikation dieses Bandes hat Dr. Johannes Michael Wischnath eine umfangreiche Bibliographie erstellt. Sie ist so umfänglich, dass ein Abdruck den Rahmen dieses Buches gesprengt hätte. Sie ist daher selbständig in elektroni­ scher Form publiziert worden. IO Der Sammelband ist nur mit Hilfe Vieler zustande gekommen. Für die Heraus­ geber gilt es zu danken, insbesondere Oonagh Hayes und Jens Kolata für die sorg­ faltige redaktionelle Bearbeitung der Manuskripte, Herrn Sascha Bühler für die letzte Kontrolle der Manuskripte sowie Herrn Dr. Johannes Michael Wischnath für seine zahlreichen Anregungen. Der Rektor der Eberhard Karls-Universität Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Eberhard Schaich und sein Nachfolger Prof . Dr. Bernd Engler haben den Arbeitskreis mit Personalmitteln unterstützt. Herr Prof . Dr. Anton Schindling hat sich für die Aufnahme in die Reihe "Contubernium" eingesetzt und mit dem Verlag vermittelt. Der Rektor Prof. Dr. Bernd Engler hat einen Druckkostenzu­ schuss bewilligt. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Darüber hinaus gilt der Dank den Autoren für ihre Beiträge und die Geduld, mit der sie die Empfehlungen der Her­ ausgeber zur Überarbeitung ihrer Texte aufgenommen haben. Tübingen im April 20 10 Die Herausgeber

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Die Sammelrezension von Heinz-Peter Scluniedebach 2009 bestätigt diesen Befund. Jahr 2005, 1 1 . V gl. www.nationalsozialismus.uni-tuebingen.de und www.uni-tuebingen.de/einrichtungen/ stabsstellen/universitaetsarchiv.html.

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Vorwort

Literatur Adam, Uwe Dietrich: Hochschule und Nationalsozialismus. Die Universität Tübingen im Dritten Reich, mit einem Anhang von Wilfried Setzler "Die Tübingen Studentenfrequenz im Dritten Reich", Tübingen 1977. Bachof, Otto: Bemerkungen zur "Braunen Universität", in: Notizen. Tübinger Studentenzeitung 54 (Mai 1964), 3-4. Decker-Hauff, Hansmartin u. a. (Hrsg.): Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 14771977, Tübingen 1977. Decker-Hauff, Hansmartin I SetzIer, Wilfried (Hrsg.): Die Universität Tübingen von 1477 bis 1977 in Bildern und Dokumenten, Tübingen 1977. Doehlemann, Martin (Hrsg.): Wem gehört die Universität? Untersuchungen zum Zusammenhang von Wissenschaft und Herrschaft anläßlich des 500jährigen Bestehens der Universität Tübin­ gen, Gießen 1977. Flitner, Andreas (Hrsg.): Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus. Eine Vortragsreihe der Universität Tübingen, Tübingen 1965. Gremliza, Hermann L.: Die braune Universität, Tübingens unbewältigte Vergangenheit, in: Notizen. Tübinger Studentenzeitung 53 (Februar 1964), 3-4. Hauser, Bert: Die braune Universität, eine Aufgabe, in: Notizen. Tübinger Studentenzeitung 54 (Mai 1964), 2-3. Jahr, Christoph: Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Strukturen und Personen, Stuttgart 2005 (Die Berliner Universität in der NS-Zeit, Bd. 1), 9-17. Kohler, Günther: Ringvorlesung zur "Braunen Universität", in: Notizen. Tübinger Studentenzeitung 57 (November 1964), 2. Schäfer, Volker (Hrsg.): " . . . treu und fest hinter dem Führer". Die Anfänge des Nationalsozialismus an der Universität Tübingen 1926-1934. Begleitheft zu einer Ausstellung des Universitäts­ archivs Tübingen (20.6.-18.8.1983), Tübingen 1983 (Werkschriften des Universitätsarchivs, Bd. 10, 2. Reihe, Kataloge und Repertorien). Schmiedebach, Heinz-Peter: Kollaborationsverhältnisse, Ressourcenmobilisierung und der "Miss­ brauch der Medizin". Aspekte zur Medizin im Nationalsozialismus, in: Zeitschrift für Ge­ schichte der Naturwissenschaften, Technik und Medizin 17 (2009), 219-234. Wandel, Uwe Jens (Bearb.): . . . helfen zu graben den Brunnen des Lebens. Historische Jubiläums­ ausstellung des Universitätsarchivs Tübingen (8.10.-5 . 1 1 . 1977), 500 Jahre Eberhard-Karls­ Universität Tübingen, 1477-1977, Tübingen 1977.

Strukturwandel unter ideologischen Vorzeichen Wissenschafts- und Personalpolitik an der Universität Tübingen 1933-1945

Mario Daniels, Susanne Michl

L Einleitung : Die Vision einer nationalsozialistischen "Großhochschule Schwaben" Kurz nach Beginn des Zweiten Weltkrieges legte Robert Wetzei!, Dozentenführer und Prorektor der Universität Tübingen, einen außerordentlich weitreichenden Ent­ wurf für eine wissenschaftliche und organisatorische Neuausrichtung seiner Hoch­ schule vor 2 Zu diesem Zeitpunkt - am Ende des Jahres 1939 - war die Phase der planmäßigen politischen Umgestaltung der sich bis dato selbst verwaltenden Insti­ tution zu einer nationalsozialistischen "Führeruniversität" bereits weitgehend vorü­ ber und die württembergische Landesuniversität in ruhigeres Fahrwasser geraten. Doch nun, sechs Jahre nach der "Machtergreifung", wurde offenbar eine neue Runde institutioneller Planungen eingeläutet. Die Reformideen Wetzeis zu einem systematischen " wissenschaftlichern1 Auf­ bau und organisatorische[nl Ausbau einer deutschen Hochschule" - so der Titel knüpften ganz offensichtlich an eine Reihe von Schriften an, die den Prozess der Gleichschaltung an den Universitäten während der ersten Jahre der nationalsozia­ listischen Herrschaft programmatisch begleitet hatten. Sie hatten eine tief greifende personelle, strukturelle und wissenschaftliche Umgestaltung der deutschen Hoch­ schullandschaft mit dem Ziel ihrer politischen und ideologischen Indienstnahme gefordert 3 Auch wenn eine nationalsozialistische Hochschulreform in Teilbereichen durchaus gelang4, bewiesen die Institutionen akademischer Bildung dennoch in vielen Bereichen ein großes Beharrungsvermögen. Im Jahr 1939 musste die Dis­ krepanz zwischen den hochtrabenden Zukunftsplänen der ersten Jahre und der Tat­ sache, dass es zu einem umfassenden Neubau der Universitäten nicht gekommen

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Zu Robert Wetzel, einem der wichtigsten nationalsozialistisch aktiven Dozenten in Tübingen, siehe den Beitrag von Philip Scharer in diesem Band. Ein erster Entwurf dieser Ideen findet sich in UAT 308/37, einem Aktenbestand der Dozenten­ akademie, und ist datiert auf Dezember 1939. Leicht verändert findet sich der Beitrag Wetzels wieder abgedruckt in: Hoffmann 1940. Siehe etwa Jaeger 1933; Bornkamm 1934; Rein 1933. Siehe hierzu Losemann 1994.

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Mario Daniels, Susanne Michl

war, einem engagierten Nationalsozialisten wie Robert Wetzel bewusst geworden sein 5 Doch ist sein Entwurf nicht als einsamer Versuch eines NS-Professors zu se­ hen, alten Forderungen neues Leben einzuhauchen. Vielmehr deutet einiges darauf hin, dass Ende der 30er Jahre eine weitere Phase der NS-Hochschulpolitik begann, die mit der Gleichschaltungszeit ihre weit ausgreifenden Zielvorstellungen gemein hatte. Konkreter Anlass für Wetzei s Reflexionen zu eben diesem Zeitpunkt waren wohl Diskussionen über eine zentrale "Reichshochschulplanung", die Befürchtun­ gen weckten, dass eine "Kleinstadtuniversität"6 wie Tübingen im Zuge einer Neu­ verteilung und Konzentration der staatlichen Finanzmittel gegenüber Wissen­ schaftsstandorten wie Berlin, München oder Hamburg nachrangig behandelt wer­ den könnte 7 Jedenfalls sprach sich Wetzel - ganz in der militanten Diktion der ,kämpfenden Wissenschaft' - vehement gegen eine Neuverteilung der Gewichte aus: ,,[AJuf keinen Fall aber darf noch so unbewußt oder in noch so versteckter Form ein allgemei­ ner Verhältnisschlüssel zwischen Stadt und Universität Tübingen für deren fernere Entwick­ lung auf Gebieten zum Hemmnis werden, in denen sie in Forschung und Berufserziehung ebenso viel leisten kann, oder mehr leisten muß wie andre [sie]. So, wie ein Truppenteil mit Mann und Roß und Wagen gleich gut ausgestattet wird, ob er in einer Großstadt in Garnison liegt oder im Wald oder auf der Heide, so muß auch die Pflege einer Hochschule als einer ,geis­ tigen Garnison des Reichs' von ihrer Umgebung in all den Bereichen grundsätzlich unabhän­ gig gestellt werden. "8

Vor diesem Hintergrund liest sich Wetzeis Text wie eine Werbeschrift für die Leis­ tungsfahigkeit und das Entwicklungspotential der württembergischen Landesuni­ versität. Zugleich kann sie verstanden werden als eine Reaktion auf den steigenden Anpassungsdruck eines Wissenschaftssystems, das zur Förderung von Großfor­ schungseinheiten tendierte. So betrachtet war es konsequent, dass Wetzel gedachte, die Universität Tübingen durch einen groß angelegten Um- und Ausbau der süd­ westdeutschen Hochschullandschaft neu zu positionieren. Eines seiner Leitbilder wurde die Gründung einer "Großhochschule Schwa­ ben". Damit meinte er einen Verbund der drei württembergischen Hochschulen neben der Universität Tübingen die Landwirtschaftliche Hochschule Hohenheim und die Technische Hochschule Stuttgart -, der zu einem "Kräfte sammelnden und Kraft ausstrahlenden Kulturzentrum für den deutschen Südwesten" werden sollte 9 Dieses war zugleich in das nationale Hochschulsystem einzupassen. Zentral war für Wetzel die Idee der "universitas". So wie die Arbeit der spezialisierten "Sonder­ wissenschaft" durch das "sachliche und persönlich lebendige Miteinander" inner­ halb der Gesamtinstitution Universität Teil einer "örtlichen Gemeinschaftsarbeit"

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Siehe dazu Seier 1984, 143. Wetzel 1940, 38 mit Betonung im Druckbild: "Kleinstadtuniversität". Hinweise auf die "Reichshochschulplanung" finden sich ebd., 37, 50 und 52. Ebd., 40. Ebd., 49. -

Strukturwandel unter ideologischen Vorzeichen

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sein solltelO und sich die drei württembergischen Hochschulen mit ihren unter­ schiedlichen Arbeitsschwerpunkten ergänzen und eine neue Einheit bilden soll­ tenll, stellte sich Wetzel die "Großhochschule Schwaben" als Teil zentraler Wis­ senschaftsplanung durch das Reich vor. Diese hatte für eine gesteuerte Aufgaben­ verteilung unter den Hochschulen zu sorgenl2 - ohne aber wiederum einer allzu starken Spezialisierung den Weg zu ebnen. Solange eine zentrale Organisationsins­ tanz noch fehlte, könne einstweilen "nur in örtlicher Initiative am Ausbau der ein­ zelnen Hochschule gearbeitet werden"13 , womit aber "vorweg zu erfüllen" versucht werden sollte, ,,[w]as wir von einer Reichsplanung erhoffen" 14 Aus dieser Vorstellung einer - durch das Prinzip der "universitas" abge­ schwächten - Arbeitsteiligkeit innerhalb des nationalen Hochschulsystems leitete Wetzel die Idee einer fachlichen Schwerpunktbildung an den einzelnen Hochschu­ len ab. Sie sollten aber "nie von dem Bestreben geleitet sein, dies und jenes eben ,auch zu haben'. Das Recht auf intensive Vertretung von Ansprüchen haben wir nur da, wo sie naturgegeben oder erdient sind, und nur dann, wenn wir auch auf Dinge zu verzichten verstehen. "15 Für eine Schwerpunktbildung in Tübingen waren in Wetzeis Augen bereits wichtige Ansätze vorhanden, an die sich weitere Ausbaupläne anknüpfen ließen. Gemeinsamer Nenner des Vorhandenen und des Projektierten war dabei ein dezi­ diert nationalsozialistisches Verständnis von Wissenschaft, dem zufolge sie "in der Bindung an die völkische Verantwortlichkeit ihrer Ziele politisch und [ ...] in der Bindung an die Rasse ihrer Träger weltanschaulich" seP6 Auch wenn Wetzel sich gegen eine dogmatisch weltanschauliche Verengung aussprach, plädierte er dafür, "Anläufe zur Einheit des wissenschaftlichen Weltbilds [ ...] schon jetzt" voranzu­ treiben.17 Für einen besonders geeigneten Bezugsrahmen hielt er das Rasse-Kon­ zept, und entsprechend galt Wetzel - Professor für Anatomie - die Biologie als Leitwissenschaft. Auch wenn das keineswegs heißen sollte, "daß jetzt in Tübingen nichts mehr gilt außer Biologie" , ergab sich deren "zentrale Stellung" daraus, dass sie "in alle Wissenschaften ausstrahlt" und somit prädestiniert erschien, als "sachli­ che und weltanschauliche Verbindung zwischen allen Einzelwissenschaften" zu fungieren1 8 Die Grenzen zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften sollten so überwunden werden, und mit ihnen die zwischen den Fakultäten. Biologie und Rasse waren damit für Wetzel das Referenzsystem, mit dem sich die "universitas" realisieren ließ. So war nach Wetzel die "biologische Wissenschaftsgruppe" - von der "mensch­ lichen Anatomie, Physiologie, Psychologie und Rassenkunde" bis hin zur Zoolo-

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Ebd., 34f. Ebd., 49. Ebd., 50. Ebd., 46. Ebd., 52. Ebd., 47. Ebd., 40. Ebd., 4 1 . Ebd., 43f.

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Mario Daniels, Susanne Michl

gie, Botanik und Bakteriologie - zum wissenschaftlichen Kristallisationskern ge­ worden, an den sich die anderen Naturwissenschaften ebenso angelagert hatten wie die Geologie, Paläontologie und der naturwissenschaftliche Zweig der Urge­ schichte. Von hier wurden Verbindungslinien zur Geschichtswissenschaft und Volkskunde gezogen, zu den Sprachen ("Judengeschichte und orientalische Spra­ chen" , "Englandkunde"), zu den Rechtswissenschaften, zur Philosophie und zur Religionswissenschaft. Auch der "Schwerpunkt Auslandskunde", den Wetzel ei­ gens hervorhob, wurde in diesen Kontext eingeordnet.19 An diese Entwicklungen sollten die weiteren Ausbaupläne anschließen, die von großen Ambitionen zeugen - und von hohen Erwartungen an Gestaltungswil­ len und -kraft des NS-Regimes. Gewünscht wurden unter anderem eine Klinik und ein Institut für Tropenmedizin, ein forstbiologisches Institut, "der Ausbau der Ger­ manen- und Indogermanenkunde unter Schaffung eines zentralen Instituts", eine weitere Förderung der "Judenforschung" , ein "Ausbau der Geologie, Paläontologie und Mineralogie" , um die Gründung eines "deutschen Diluvialinstituts" zu flankie­ ren - und alle Pläne setzten eine "großzügige Bauplanung" voraus20 Durch diese Erweiterungen der Universität und ihre Einbindung in eine "Groß­ hochschule Schwaben" sollte Tübingen zu einem starken Zentrum im südwestdeut­ schen Raum werden und zu einem weltanschaulichen Vorposten mit der Aufgabe der "kulturellen Festigung der Grenze" 21 Nicht nur in dieser Hinsicht kam der Uni­ versität eine betont politische Aufgabe zu. Auch wenn Wetzel "vor der Beengung durch überbetonte Nutzungserwägungen" warnte, trug in seinen Augen dennoch die "Hochschule auch tätige Verantwortung [ ... ] für praktisches und unmittelbares Auswerten ihrer wissenschaftlichen Ergebnisse" , sei sie doch "das Organ des Rei­ ches, das gültige Erkenntnis verantwortlich zu suchen und den Handelnden und Gestaltenden, Führung und Volk, zur Verfügung zu stellen hat" 22 Wenig von dem, was Wetzel in seiner Rede vorstellte, war sonderlich originell. Die Rhetorik einer politischen und ,kämpfenden' Wissenschaft etwa findet sich in sehr ähnlicher Form in den erwähnten hochschulpolitischen Schriften der Gleich­ schaltungszeit. Ebenso war es bereits seit der Weimarer Zeit ein fast schon geläufi­ ger Topos, den Verlust der Einheit zu beklagen, der eine Folge der immer stärkeren Differenzierung des deutschen Universitätssystems war23 Die nationalsozialistisch grundierte ,ganzheitliche' Wissenschaftsauffassung, die bei Wetzel deutlich wird, hat hier ihre Ursprünge. Auch wenn wohl nicht alle Universitätsmitglieder diese Planspiele des weithin bekannten Parteifunktionärs vorbehaltlos unterschrieben und unterstützt haben, weisen Wetzeis Ausführungen auf eine ganze Reihe von Zusammenhängen hin, die für das Verständnis der universitären Entwicklung während der NS-Zeit wichtig sind.

19 20 21 22 23

Ebd., 44f. Ebd., 47f. Ebd., SI. Ebd., 37. Grüttner 1995, 160.

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Erstens war die Bereitschaft WetzeIs, die universitäre Wissenschaft ganz in den Dienst nationalsozialistischer Politik zu stellen, nicht außergewöhnlich und der von ihm geforderte nationale Einsatz der Universitäten keineswegs nur ein ideologi­ sches Wunschbild. Vielmehr zeigten die deutschen Hochschulen in ihrer Gesamt­ heit von Anfang an eine große Bereitschaft, mit dem Regime zu kooperieren. Selbst wenn nicht alle Hochschullehrer voll und ganz auf Linie gingen, kann für die ersten Jahre nach 1933 von einer Selbstgleichschaltung und für die gesamte NS-Zeit von einer Selbstindienstnahme für das Regime gesprochen werden.24 Zweitens lag diese Kooperationswilligkeit nicht einfach nur in rückhaltloser politisch-ideologischer Zustimmung begründet. Die NS-Hochschulpolitik brachte Bewegung in die Institution und eröffnete neue Gestaltungsmöglichkeiten. Re­ formversprechen und auch Visionen einer neuen großbetrieblichen Wissenschafts­ organisation setzten Planungsenergien frei, weil die politischen Angebote universi­ tären Akteuren als attraktive Chancen erschienen, Ressourcen für eine Verbesse­ rung der Rahmenbedingungen wissenschaftlichen Arbeitens zu mobilisieren. Doch so sehr die politische Einbindung Anerkennung und Förderung bedeutete, konnte sie im Gegenzug Gefahren mit sich bringen - auch das ist WetzeIs Ausführungen zu entnehmen. Wenn er sich dagegen aussprach, dass eine neue reichsweite Wis­ senschaftsplanung die kleinen und mittleren Universitäten benachteiligte, war das ein Hinweis auf eine verschärfte Konkurrenzsituation, die über den altbekannten Wettbewerb unter den Hochschulen im föderalen System hinausging. Daraus er­ wuchs ein Zwang, die wissenschaftliche wie politische Relevanz ebenso unter Be­ weis zu stellen wie die Leistungskraft der Institutionen. Dies wiederum erzeugte einen gesteigerten Druck zur politischen Radikalisierung innerhalb der Universität, die sich etwa in nachdrücklicheren Forderungen niederschlagen konnte, politischen Projekten direkt zuzuarbeiten, mithin anwendungsorientierte Politikberatung zu praktizieren. Dieses Zusammenwirken von inneren und äußeren Veränderungsimpulsen führte drittens zu Gewichtsverlagerungen und neuen Akzentsetzungen innerhalb der Universität. Ideologische Feindbilder legten es nahe, die Existenz ganzer Wis­ senschaftszweige in Frage zu stellen. Wetzel machte keinen Hehl daraus, dass in seinen Augen die Theologischen Fakultäten in Tübingen "widerwissenschaftlich"25 seien und "auf Dauer keinen Platz [hättenl, weder im wissenschaftlichen Aufbau noch in den Hörsälen einer Hochschule, die allen Deutschen dient"26 Dagegen konnten ganze Fachgruppen davon profitieren, sich an ideologischen Leitbildern zu orientieren. Wetzel exerzierte vor, wie es der Rasse-Begriff erlaubte, einen disziplin­ übergreifenden ,Cluster' zu bilden, als dessen Leitwissenschaft die Biologie fun­ gierte. Auch die von Wetzel hier subsumierte Auslandwissenschaft kann als Bei­ spiel gelten, wie Politiknähe neue Forschungsverbünde zu konturieren vermoch­ te.27 Zugleich deutet eine solche Gegenüberstellung von ,Gewinnern' und ,Verlie-

24 25 26 27

Vgl. den instruktiven Aufsatz von Langewiesehe 1997. Wetzel 1940, 41. Ebd., 45. Vgl. den Beitrag von Mario Daniels in diesem Band.

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rem' einer politisierten Wissenschaft "für Volk und Reich"28 an, dass der Prozess der Schwerpunktbildung und Ressourcenverteilung in hohem Maße Konflikte barg. Viertens schließlich wird deutlich, dass die NS-Zeit auch für die Betrachtung der Universitäten in unterschiedliche Phasen gegliedert werden sollte. Entspre­ chend den Befunden der allgemeinen Forschung zur nationalsozialistischen Herr­ schaft in Deutschland ist zunächst ein besonderer Akzent auf die ersten Jahre, die Machtergreifungs- und Gleichschaltungsphase mit ihrem Schwerpunkt 1933/34, zu setzen. Für die deutschen Universitäten ist diese Periode gut erforscht. Welche Wir­ kungen der Zweite Weltkrieg für die Hochschulen hatte, steht hingegen weniger deutlich vor Augen. Wetze1s Text und andere noch vorzustellende Befunde deuten darauf hin, dass zwar das Jahr 1939 keine tiefe Zäsur markierte, die Jahre 1938 bis 1940 aber doch eine Phase hoher P1anungs- und Reformaktivitäten waren, die dar­ auf abzielten, die Universität tief greifend umzugestalten. Mit der nicht erwarteten zeitlichen Verlängerung des Weltkrieges stagnierten die angestoßenen Bewegun­ gen aber sehr bald wieder, weil die Kriegführung materielle wie personelle Res­ sourcen band. Erst dadurch scheiterten die Pläne einer nationalsozialistisch umge­ formten Universität endgültig. Im Folgenden sollen die damit umrissenen Strukturen und Prozesse genauer in den Blick genommen werden29 Dabei wird es nur möglich sein, für einige wenige ausgewählte Bereiche wichtige Linien herauszustreichen, um so die Wirkungen der zwölf NS-Jahre auf das Gefüge und die Arbeit der Universität Tübingen in Grund­ zügen zu charakterisieren. Zunächst werden Institutiona1isierungsvorgänge in den Mittelpunkt gerückt. Inwiefern der Nationalsozialismus einen fachlichen Wandel anstieß, soll vor allem an Beispielen von Lehrstuhlneugründungen und den Versuchen, größere Lehr- und Forschungszusammenhänge etwa im Sinne der Ideen Wetze1s zu etablieren, erör­ tert werden. Im Anschluss werden die mit diesen Veränderungen eng verzahnten, hier aber analytisch getrennt betrachteten Veränderungen der Strukturen der Selbstverwal­ tung nachvollzogen. Mit der zügig voranschreitenden Aushöhlung der hergebrach­ ten Entscheidungs- und Administrationsprozesse wurden die Machtverhältnisse neu definiert. Sie orientierten sich am "Führerprinzip" und ersetzten oder schwäch­ ten damit die kollegial verfassten Gremien der Senate und Fakultäten. Zugleich wurden die Universitäten auf eine zentrale Reichshochschulverwaltung hin ausge­ richtet, was insbesondere die Personalpolitik stark veränderte. Damit wäre der dritte Komplex genannt, der in einigen Grundzügen vorgestellt werden soll: Wie veränderte die nationalsozialistische Herrschaftspraxis die Perso­ nalrekrutierung und den Verlauf akademischer Karrieren? Um sich einer Antwort anzunähern, werden zwei wichtige Sektoren näher betrachtet: Zum ersten werden 28 29

WetzeI 1940, 38. Dieser Versuch wird hier nicht zum ersten Mal unternommen. Der vorliegende Überblick weiß sich in vielerlei Hinsicht der Monographie Uwe Dietrich Adarns (Adam 1977) verpflichtet. Sie ist auch 30 Jahre nach ihrem Erscheinen die zentrale Darstellung der Universität Tübingen während der NS-Zeit und als ergänzende Lektüre auch dort heranzuziehen, wo sie nicht aus­ drücklich zitiert wird.

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kurz die Veränderungen nachgezeichnet, die sich mit der NS-Herrschaft für Dozen­ tenlaufbahnen ergaben. Der Weg zur Habilitation und dann zur Professur wurde für den einzelnen Dozenten durch ein System politischer Kontrolle mit entsprechen­ dem weltanschaulichem Anpassungsdruck nicht nur erschwert. Zugleich sorgten die Nationalsozialisten für eine feste Bezahlung habi1itierter Nachwuchskräfte. Da der Dozentenstatus zuvor materiell außerordentlich prekär war, bedeutete dies eine erhebliche Verbesserung. Zum zweiten wird untersucht, wie der Staat versuchte, Einfluss auf die Besetzung der universitären Spitzenpositionen zu nehmen, also auf die Berufung neuer Professoren, denen auch unter den veränderten Verhältnissen des inneren Gefüges der Hochschulen eine machtvolle Schlüsselstellung zukam. Es geht also im Folgenden um die Frage, inwieweit die NS-Zeit einen Struktur­ wandel an der Universität Tübingen mit sich brachte - und welche Effekte diese Veränderungen nach sich zogen. Einige der aufgezeigten Phänomene sollen darü­ ber hinaus exemplarisch mit Entwicklungen an anderen Universitäten verglichen werden, um den weiteren Kontext, Gemeinsamkeiten der Universitäten des Deut­ schen Reiches, aber auch Tübinger Spezifika einfangen zu können.30

2. Institutioneller Wandel in Forschung und Lehre Die Universität Tübingen hat auf den ersten Blick für die NS-Zeit eine beachtliche Bilanz institutionellen Um- und Ausbaus vorzuweisen. Zwischen 1933 und 1945 wurden insgesamt elf neue Lehrstühle geschaffen.31 Bei näherem Hinsehen jedoch relativiert sich dieser quantitative Befund ein wenig. Es wird deutlich, dass sich in den Jahren ab 1933 ein langfristiger Expansionstrend fortsetzte, der seit dem Be­ ginn des 19. Jahrhunderts zu einer erheblichen Vergrößerung der Universität ge­ führt hatte. Zwischen 1817 und 1933 wurden insgesamt 47 neue Lehrstühle ge­ schaffen. Knapp die Hälfte (22) dieser Neugründungen fiel in die Zeit bis 1870, was einen Zuwachs von 60 % bedeutete. Weitere 25 Lehrstühle kamen in den Jahr­ zehnten bis 1933 hinzu, was einem nochmaligen Plus von 40 % entsprach. Waren es im 19. Jahrhundert vor allem die naturwissenschaftlichen und medizinischen Fächer, die eine solche Ausdifferenzierung ihrer Teilbereiche erfuhren, so holten 30

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Wichtige Studien zu anderen Universitäten: Höpfner 1999; Böhm 1995; Jansen 1992; Chroust 1994; Stuchlik 1984; Go1czewski 1988; Hammerstein 1989; Eberle 2002; siehe ebenso die Quellenedition von Nagel 2000. Wichtige Sammelbände: Jahr 2005 und vom Bruch 2005; Be­ cker u. a. 1987; Krause u. a. 1991; John u. a. 1991; Hoßfeld 2003; Baumgart 2002. Adam 1977, 156 zählt folgende Fächer auf: Lehrstuhl für deutsche Volkskunde (Bebermeyer) 1933, Lehrstuhl für Rassenkunde (Gieseler) 1934, Lehrstuhl für Urgeschichte (Riek) 1935, Lehrstuhl für Weltpolitische Auslandskunde und Kolonialpolitik (Drascher) 1939 (von Adam fälschlich auf 1938 datiert), Lehrstuhl für Geschichte, historische Hilfswissenschaften und Landesgeschichte (Hans Weirich, ab 1943 Otto Herding) 1940, Lehrstuhl für Völkerkunde (Ludwig Kohl-Larsen) 1942, Lehrstuhl für Physikalische Chemie (Gustav Kortüm) 1942, Lehrstuhl für Tropenmedizin (Ludolph Fischer) 1942, Lehrstuhl für Afrikanische Kulturge­ schichte (mit Völkerkunde zusammengelegt), Lehrstuhl für Angewandte Physik (Heinz Verle­ ger) 1943. Zusätzlich wären noch das Arische Seminar und das Extraordinariat für Astronomie zu nennen.

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die geisteswissenschaftlichen Fächer seit dem Ersten Weltkrieg massiv auf. Die feingliedrige Ausgestaltung der Philosophischen Fakultät mit ihren vieWiltigen philologischen, gesellschafts- und kulturwissenschaftlichen Seminaren und Institu­ ten fand vor allem in der Weimarer Zeit statt32 War also der Hochschulausbau auf der Ebene von Lehrstuhlgründungen wäh­ rend der NS-Zeit in Zahlen bemerkenswert, aber doch nicht außergewöhnlich, müssen gleichwohl zwei wichtige Einschränkungen gemacht werden. Zum einen ist institutioneller Wandel an einer Universität nicht einfach mit der Errichtung neuer Lehrstühle oder gar ganzer Institute gleichzusetzen. Unterhalb der Schwelle fester Institutionalisierung im Sinne einer etatrechtlich gesicherten Finanzierung von einer oder mehrerer Planstellen zuzüglich des Bedarfs an Sach­ mitteln gibt es andere Möglichkeiten, neue Fachrichtungen in Forschung und Lehre zu verankern. Idealtypisch kann die Etablierung eines neuen Fachs als mehrstufiger Vorgang beschrieben werden. Er begann mit einem befristeten und widerrufbaren, thematisch mehr oder min­ der scharf umrissenen Lehrauftrag. Dieser konnte einem hiesigen Privatdozenten ebenso erteilt werden wie einer von außen kommenden Lehrkraft, die dafür nicht immer über eine entsprechende Venia Legendi verfügen musste, dann aber eine andere Qualifikation vorzuweisen hatte33 Der Lehrauftrag konnte verstetigt wer­ den, indem er zunächst finanziell besonders abgesichert, das heißt durch eine soge­ nannte "Gewährleistung" fest bezahlt und somit inhaltlich fortgesetzt wurde, wenn der erste lehrbeauftragte Fachvertreter ausschied. War das Arrangement über einen längeren Zeitraum erfolgreich - abzulesen etwa an hohen Hörerzahlen bei Vorle­ sungen und Seminaren -, und wurden vielleicht sogar noch weitere Schritte der institutionellen Verstetigung gegangen (zum Beispiel die Gründung einer Schrif­ tenreihe oder große Sachanschaffungen in den Naturwissenschaften), konnte eine eigene Professur in greifbare Nähe gelangen. Wichtige Voraussetzungen für diesen letzten Schritt waren eine gute Haushaltslage, aber auch die politische Unterstüt­ zung des Staates. Universitäten sind staatliche Institutionen und insbesondere in Fragen des inneren Ausbaus von einer günstigen politischen Großwetterlage ab­ hängig. Institutionalisierungsvorgänge sind also außerordentlich langwierig, kom­ plex und vielschichtig: Unterschiedliche politische und universitäre Instanzen, die nationale und internationale akademische Fachwelt, die Konkurrenz der einzelnen Hochschulen im Universitätssystem und andere, zum Teil schwer wägbare Fakto­ ren können diesen Prozess beschleunigen, verlangsamen oder scheitern lassen. Zu­ dem war eine gelungene Institutionalisierung nicht unumkehrbar, konnte doch auch ein Extraordinariat zu einem Lehrauftrag zurückgestuft werden.

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Zur Lehrstuhlentwicklung an der Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik siehe Paletschek 200 1 , 345-380. So sprach, um ein Beispiel zu nennen, für den Wehrwissenschaftler Herman [sie!] Nietham­ mer, der sich nicht habilitiert hatte, seine praktische militärische Erfahrung als hochrangiger Offizier (zuletzt Generalleutnant); vgl. zur Karriere Niethammers UAT 1 17CI26, Fragebogen zum Gesetz vom 7.4.1933 vom 2.7.1933, Karteikarte Niethammer, undatiert; Kultministerium an Rektorat der Technischen Hochschule Stuttgart vom 25.4.1933.

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Aus diesen Differenzierungen ergibt sich, dass institutioneller Wandel auf un­ terschiedlichen Ebenen betrachtet werden muss: In ein Gesamtbild sind nicht nur die Lehrstühle mit einzubeziehen. Zu berücksichtigen sind auch die Erteilung oder Gewährleistung von Lehraufträgen, ebenso wie gescheiterte Bemühungen um Neu­ institutionalisierungen. Zum anderen ist die Zahl neu gegründeter Professuren allein deshalb wenig aussagekräftig, weil sie nicht die inhaltlichen Entwicklungen abzubilden vermag. Da der Nationalsozialismus mit dem Programm antrat, die Hochschulen nicht nur organisatorisch, sondern auch weltanschaulich gleichzuschalten, ist es von beson­ derem Interesse, die Ansätze ideologischer Neugestaltung von Forschung und Lehre zu charakterisieren und zu gewichten. Betrachtet man diesen Differenzierungen entsprechend die Entwicklungen der Universität Tübingen, erkennt man, dass die ambitionierten nationalsozialistischen Umgestaltungsansätze das Profil der Hochschule nicht unerheblich veränderten.

2.1

Die Zeit des ideologischen Aufbruchs

( 1 933-1936)

Die Gleichschaltungspolitik, die sofort nach dem Machtwechsel 1933 einsetzte, förderte nachdrücklich Wissenschaftszweige, denen eine besondere Nähe und An­ schlussfahigkeit zu zentralen Elementen der nationalsozialistischen Ideologie zu­ geschrieben wurde. Dazu gehörten insbesondere die Vor- und Früh- beziehungs­ weise Urgeschichte, die Rassenkunde und die Volkskunde. Diese drei Disziplinen galten als prädestiniert, nationalsozialistische Menschen-, Gesellschafts- und Ge­ schichtsbilder wissenschaftlich zu untermauern, deren gemeinsamer Bezugs- und Ausgangspunkt ein biologistisch-rassistisch definiertes völkisches Kollektiv war, das sich über Jahrtausende hinweg als politisch und kulturell besonders hochste­ hend und durchsetzungsfahig erwiesen habe. Die Ideologen zeigten daher eine be­ sondere Vorliebe für die Ursprünge, Eigenschaften, Erzeugnisse und Entwicklun­ gen der ,arischen Herrenrasse'. Dieses starke ideologische Interesse an Urgeschichte, Volkskunde und Rassen­ kunde seitens der neuen Machthaber stieß in der Universität Tübingen auf große Resonanz. Ihr musste man die Gründung von drei neuen Lehrstühlen nicht erst schmackhaft machen. Sie erkannte die neue politische Konjunktur der drei Fächer als Chance für eine institutionelle Erweiterung. Bereitwillig formulierten und bil­ ligten die universitären Gremien entsprechende Gründungsanträge. Schon Mitte Juni 1933 befürwortete der Große Senat gleichzeitig die Errichtung von Lehrstüh­ len für Urgeschichte, Anthropologie einschließlich Rassenkunde und Deutsche Volkskunde.34 Universität und Kultministerium waren offensichtlich sehr darauf bedacht, die neuen, ideologisch grundierten Professuren mit politisch zuverlässi34

UAT 47/40, Sitzungsprotokoll Großer Senat vom 16.6.1933, 187. Zur "grundlegenden Bedeu­ tung, die die Fragen der Rassenkunde und der Rassenhygiene für die Staatsauffassung und die Bevölkerungspolitik des nationalsozialistischen Nachwuchs haben", vgl. die Änderung der Prüfungsordnung für das wissenschaftliche Lehramt; UAT 131/115, I, Ministerialabteilung für die höheren Schulen an Rektoramt vom 3 . 1 1 . 1933.

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gen Wissenschaftlern zu besetzen. Alle drei ,weltanschaulichen' Lehrstühle wur­ den mit dezidierten Nationalsozialisten besetzt: Die Volkskunde vertrat Gustav Be­ bermeyer, der, obwohl offiziell erst seit Mai 1933 Mitglied der Partei, mit besonde­ ren Vollmachten versehen an der Gleichschaltung der Universität Tübingen maß­ geblich beteiligt war35 Das Ordinariat, das für ihn geschaffen wurde, wurde der Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung entzogen. Die Rassenkunde (Extraordi­ nariat) fand in Wilhelm Gieseler einen wissenschaftlich wie politisch umtriebigen Vertreter.36 Und auch wenn der Urgeschichtlicher Gustav Riek sicherlich nicht ganz so politisch aktiv war wie seine neuberufenen Kollegen, war er mit seinem sehr frühen Parteibeitritt (1929) ein "alter Kämpfer der Bewegung" , der sich auch in den folgenden Jahren in überdurchschnittlicher Weise in NS-Organisationen, vor allem in der SS, engagierte37 Selbst wenn die Ausdifferenzierung des Fachspektrums in den Jahren nach 1933 in einem nicht unbeträchtlichen Maße gleichbedeutend mit Politisierung war, kann nicht übersehen werden, wie wenig innovativ diese Entwicklungen letztlich waren. Keine der genannten Professuren entstand aus dem Nichts, sondern alle knüpften an Vorhandenes an3 8 Dies galt beispielsweise auch für die Wehrwissenschaften, die in Tübingen nicht mit einer festen Planstelle bedacht wurden, sondern ihre Vertretung in Form von Lehraufträgen fand - und zwar bereits ab Juni 193239 Die dezidierte Militari­ sierung einzelner Wissenschaftsbereiche war in Tübingen ab Mitte der 20er Jahre zu beobachten und stand im Kontext des politisch und gesellschaftlich weithin un­ terstützten Revisionismus gegen die Nachkriegsordnung des Versailler Vertrages. Neben den Gebietsverlusten und der Auferlegung von großen Reparationslasten war auch die erzwungene Reduzierung des deutschen Militärs auf ein kleines Heer mit nur leichter Bewaffnung einer der Hauptgründe, die Stellung Deutschlands in Europa nach dem Ersten Weltkrieg als nationale Demütigung aufzufassen. Die Wehrwissenschaften und die eng mit ihr verbundenen Varianten wie Kriegsge­ schichte (1925 wurde erstmals eine entsprechende Venia Legendi erteilt)4O verän-

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Bebermeyer gab 1933 an, bereits seit 1927 der Partei anzugehören, dies sei aber "aus wehrpo­ litischen Gründen geheimgehalten" worden. Offizieller Beitritt zur NSDAP am 1.5.1933; StAS Wü 13/2628, Spruchkammerentscheidung vom 5.5.1949. Zu Bebermeyer siehe ausführlich Besenfelder 2002. Gieseler (1900-1976) war Mitglied der NSDAP seit dem 1.5.1933, der SA seit Januar 1934; Ende 1937 als SS-Untersturmführer ins Rasse- und Siedlungshauptamt übernommen; vgl. UAT 172/2, Teilakte Wilhelm Gieseler sowie Weingart u. a. 1988, 444f., und den Beitrag von Uwe Hoßfeld und Thomas Potthast in diesem Band. Vgl. zu Riek den Beitrag von Michael Strobel in diesem Band. Dies benennt auch Grüttner 1995, 166. Der Lehrauftrag wurde Generalmajor a. D. Wolfgang Muff erteilt; UAT 126/456, Kultministe­ rium an Rektoramt vom 30.7.1932. Zu den Wehrwissenschaften siehe auch den Beitrag von Frank Reichherzer in diesem Band. Es handelte sich um das Habilitationsverfahren von Hans von Mangoldt-Gaudlitz, Oberst und Brigadekommandeur a.D.; UAT 126/410, Kleiner Senat an Württembergisches Ministerium des Kirchen- und Schulwesens (MinKSW) vom 2.9.1925; MinKSW an Rektorarnt vom 18.9.1925.

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derten ab 1933 allerdings tendenziell ihre Stoßrichtung. Waren sie während der Weimarer Republik Teil der Forderungen nach Revision, begleiteten sie bis 1939 die Reihe der Vertragsbrüche des Deutschen Reiches, insbesondere die Aufrüs­ tungspolitik, um dann schließlich den Zweiten Weltkrieg wissenschaftlich zu flan­ kieren. Bei den bisher vorgestellten Fachentwicklungen handelt es sich nicht um Be­ sonderheiten der Universität Tübingen. Vielmehr haben sie Gegenstücke an vielen anderen Hochschulen des Deutschen Reiches. Wehrwissenschaften41 , Vor- und Frühgeschichte, Volkskunde, Rassenkunde beziehungsweise Rassenbiologie und in changierenden Benennungen Rassenhygiene, Eugenik oder Rassenpflege konnten sich in einiger Breite etablieren. Die letztgenannte Fachrichtung war beispielsweise in der NS-Zeit an 15 der 23 Universitäten durch ein eigenes Institut vertreten42 Und auch die Volkskunde war schließlich an zahlreichen Universitäten durch Ordi­ nariate oder Extraordinariate vertreten, beispielsweise in Hamburg, Heide1berg, Ber1in und Leipzig43 Die Etablierung politisierter Fächer erstreckte sich zwar über die gesamte Spanne des zwölf jährigen "Dritten Reichs" , doch hatte sie einen markanten Schwer­ punkt während der Anfangszeit, in der diese Fächer eindeutig von einer politischen Aufbruchsstimmung profitieren konnten. In Ber1in etwa entstanden Institute für Staatsforschung, für allgemeine Wehrlehre, für Volkskunde, eine Anstalt für Ras­ senkunde, V ölkerbiologie und ländliche Soziologie, ein Lehrstuhl für politische Pädagogik und eine kriegsgeschichtliche Abteilung innerhalb des Historischen Se­ minars. 44 Allerdings setzte nicht jede Universität diese Trends auf die gleiche Weise um. So konnte sich in Göttingen nur die Volkskunde 1938 mit einem Lehrstuhl eta­ blieren. Rassenkunde und Wehrkunde wurden zwar mit Lehraufträgen abgedeckt, sie konnten sich jedoch nicht institutionell behaupten45 Zudem blieb viel Raum für örtliche Varianten und Besonderheiten. Die Universität Jena verfolgte beispiels­ weise eine recht einseitige, allein auf die naturwissenschaftlichen und medizini­ schen Disziplinen gerichtete institutionelle Expansion46 Und in Freiburg profitier­ ten von den fünf Neugründungen47 neben dem Rassenkunde-Institut von Hans Friedrich Kar1 Günther und der Volkskunde gänzlich andere Bereiche: Gegründet wurden ein Kommunal wissenschaftliches Institut, das vom Propagandaministe­ rium geförderte Institut für Rundfunkwissenschaft und das Seminar für Internatio­ nales und Ausländisches Strafrecht.

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Einen außerordentlichen Lehrstuhl für Kriegsgeschichte und Wehrwissenschaften bekam etwa die Universität Hamburg; siehe Grüttner 1995, 162. Grüttner 1995, 165 zählt auf: Berlin, Bonn, Frankfurt am Main, Freiburg, Gießen, Greifswald, Hamburg, Jena, Köln, Königsberg, Leipzig, München, Rostock, Tübingen, Würzburg. Zudem kamen noch die Institute in Innsbruck und Graz hinzu. Besenfelder 2002, 142. Siehe Grüttner 1995, 161. Siehe hierzu Dahrns 1987, 38. Siehe Hoßfeld u. a. 2005, 80ff. Zeller 2007.

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Gerade weil politisch verwertbare Wissenschaftssegmente an allen deutschen Universitäten gefördert wurden, bemühte sich die Universität Tübingen darum, eine Vorreiterrolle zu übernehmen und sich auf diese Weise zu profilieren. Das ist nicht zuletzt an dem frühen Zeitpunkt der Initiative der Lehrstuhl-Trias von Ras­ senkunde, Volkskunde und Vor- und Frühgeschichte zu erkennen. Hier ging es nicht darum, die Wirkungen des Machtwechsels distanziert abzuwarten, sondern um das schnelle und beherzte Ausnutzen des Veränderungswillens der neuen Machthaber für die eigenen institutionellen Zwecke. Selbst wenn dies nicht unbedingt eine um­ fassende Zustimmung zu den ideologischen Leitlinien des NS-Regimes bedeuten musste, war das Ergebnis doch eine rasche politische Anpassung und Verfügbar­ keit. Im Extremfall konnte dies zu einer Förderung von Wissenschaftszweigen füh­ ren, die kaum etwas anderes waren als nationalsozialistische "Gegnerforschung"48 Dazu gehörte die sogenannte "Judenwissenschaft" , die sich, von einem scharfen Antisemitismus ausgehend, der Erforschung jüdischer Geschichte, Kultur und Sprache widmete49

2.2

Die Zeit der großen Entwürfe (1939-1941)

Ende der 30er Jahre begann eine kurze Phase außerordentlich ambitionierter Pla­ nungen, die darauf abzielten, die Universität als Lehr- und Forschungseinrichtung tief greifend zu verändern. Drei eng aufeinander bezogene Leitlinien waren den nun entwickelten Projekten gemeinsam: Erstens orientierten sie sich offensichtlich an einem Modell großbetrieblicher Wissenschaftsorganisation. Nicht mehr das kleine, an eine Professur gebundene Institut war die Orientierungsmarke, sondern der wissenschaftliche Dachverband, der unterschiedliche Fächer und deren Vertre­ ter in großer Zahl zusammenführte, um die wissenschaftliche Leistungsfahigkeit zu steigern. Das damit erstrebte Ziel war, zweitens, eine möglichst vielgestaltige Inter­ disziplinarität, mit der weit definierte wissenschaftliche Felder erschlossen werden sollten. Die Wahl dieser Felder richtete sich, drittens, nicht zuletzt nach Kriterien politischer Verwertbarkeit. Fast durchgängig wurde eine Verbindung von wissen­ schaftlichen Erkenntnisinteressen mit politisch-ideologischer Beratung und Zuar­ beit angestrebt, durch die unter anderem die Position der Universität Tübingen im Konkurrenzfeld der deutschen Hochschulen verbessert werden sollte. Angesichts der großen Zahl der Akteure, die diesen Kurs verfolgten und mitgestalteten, wird deutlich, dass WetzeIs Rede in zentralen Passagen nicht die randständige Meinung eines ideologisch engagierten Querkopfs war, sondern sich auf einen beachtlichen universitären Konsens stützen konnte. Dies kann an drei Beispielen verdeutlicht werden: "Judenwissenschaft" , Auslandkunde und Landesgeschichte. Der Vorschlag, einen Lehrstuhl für Judenwissenschaft zu errichten, wurde erst­ mals im November 1939 von Wetzel zur Debatte gestellt, als zu befürchten stand,

48 49

Zu diesem Begriff, der für die Arbeit von SS und SD von Bedeutung war, vgl. Hacbmeister 1998, 15 1-157. Siehe hierzu den Beitrag von Horst Junginger in diesem Band.

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dass Tübingen seine gute Position in diesem weltanschaulich relevanten Bereich einbüßen könnte. Die Universität Berlin strebte die Errichtung einer ähnlichen Pro­ fessur an, für deren Besetzung sie den Tübinger Dozenten Karl Georg Kuhn in Er­ wägung zog50 Weil darüber hinaus Berlin nicht der einzige Ort war, an dem über eine weitere Institutionalisierung der "Judenwissenschaft" nachgedacht wurde, for­ derte Wetzel eine "beschleunigte Durchführung der Errichtung der Professur und der Berufung Kuhns" , um "das Tübinger Vorrecht und den sachlichen Tübinger Vorsprung in der wissenschaftlichen Bearbeitung der Judenfrage" zu wahren51 Diese Kompetenz sollte sogar noch ausgebaut werden. Dachte Wetzel zeitweise noch an eine "Fachgruppe orientalischer Sprachen- und Kulturgeschichte"52, sprach er sich jetzt für eine "Tübinger Wissenschaftsgruppe Judenkunde - Semitologie Rassenforschung"53 aus - und damit für eine klare Ausrichtung der universitären Wissenschaft an nationalsozialistischen Feindbildern. Das in diesem Kontext geäußerte Plädoyer dafür, "mehr oder weniger nahe verwandte Fächer eines grösseren Wissenschaftsgebietes zu massieren, um ihre örtliche, umfassende Bearbeitung zu gewährleisten"54, ist auch für die anderen Ausbauprojekte gültig, wie vor allem an der Auslandkunde deutlich wird, dem wohl größten interdisziplinären Wissenschaftsverbund innerhalb der Universität Tübingen während der NS-Zeit. In Anknüpfung an institutionelle Strukturen und Netzwerke, die sich seit dem Ende der Ersten Weltkrieges entwickelt hatten, wurde 1939/40 die "Württembergi­ sche Arbeitsgemeinschaft für Auslandswissenschaften" aus der Taufe gehoben55 Ähnlich wie bei der "Judenwissenschaft" war es wohl nicht zuletzt die Sorge, in einem Bereich, der zur wissenschaftlichen wie politischen Profilbildung erheblich beitrug, den Anschluss an andere Universitäten zu verlieren. Hatte bereits 1939 die Universität Hamburg ein neues Kolonial-Institut erhalten, entstand mit der Aus­ landswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Berlin seit Beginn des Jahres 1940 eine weitere leistungsstarke auslandkundliche Institution. Wollte sich die Universität Tübingen nicht ihre über zwei Jahrzehnte aufgebaute Expertise auf die­ sem Sektor streitig machen lassen, musste sie nachziehen. Mit der "Württembergi­ schen Arbeitsgemeinschaft für Auslandswissenschaft" wurde nun der Versuch un­ ternommen, große Teile der Universität zu einem neuen interdisziplinären For­ schungsverbund zusammenzufassen, der nicht zuletzt auch eine größere Nähe zur Politik versprach. Das zeigt insbesondere das fachliche Selbstverständnis Wahr­ hold Draschers, der seit 1939 ein eigenes planmäßiges auslandkundliches Extraor­ dinariat innehatte, das einer der Stützpfeiler der Arbeitsgemeinschaft sein sollte. Der neue wissenschaftliche Dachverband integrierte aber nicht nur verschie­ dene Fächer innerhalb der Universität. Eines seiner hervorstechendsten Organisa­ tionsprinzipien war die Zusammenarbeit mit außeruniversitären Institutionen. Von 50 51 52 53 54 55

Junginger 2006, 178. UAT 13 1/128, Wetze! an Rektoramt vom 4.10.1940. UAT 126a/284, Wetze! an Rektoramt vom 24.4.1940. UAT 13 1/128, Wetze! an Rektoramt vom 4.10.1940. UAT 126a/284, Wetze! an Rektoramt vom 24.4.1940. Vgl. dazu den Beitrag von Mario Danie!s in diesem Band.

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Anfang an wurde - ähnlich den Vorstellungen WetzeIs von einer "Großhochschule" - angestrebt, für einen auslandkundlichen Arbeitsschwerpunkt die Leistungskraft verschiedener südwestdeutscher Einrichtungen zu bündeln, nicht zuletzt, um sich auf der Ebene der Reichspolitik besser Gehör verschaffen zu können. Vor allem das "Deutsche Ausland-Institut" (DAI) in Stuttgart übernahm in diesem Konzept eine prominente Rolle und band die Universität damit auch an die Großforschungsnetz­ werke der "Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften" an56 Dass Großbetriebe und interdisziplinäre Verflechtungen zentrale Leitbilder der universitären Ausbauplanungen um 1939/40 waren, wird auch an der Tübinger Landesgeschichte deutlich. Dieser Zweig der Geschichtswissenschaft wurde an der Universität zwar durchaus gepflegt, verfügte aber über keinen eigenen Lehrstuhl. Dies änderte sich allerdings binnen kurzer Zeit, als sich im September 1940 eine politisch überaus heikle Lage abzeichnete: Der Inhaber des stets mit einem Katho­ liken zu besetzenden Extraordinariats, Erich König, verstarb - und war es bisher seiner integren Amtsführung zu verdanken, dass sein Lehrstuhl noch nicht der kir­ chenfeindlichen Politik der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen war, bestand in der Philosophischen Fakultät nun die Befürchtung, über die Professur nicht mehr verfügen zu können57 Die "Hauptsorge" des Dekans earl August Weber war es daher, den Lehrstuhl zumindest "in abgewandelter Form zu erhalten" 58 Es ging ihm dabei wahrscheinlich weniger darum, eine weitere "national-sozialistische­ weltanschauliche" Professur zu verhindern59, denn zur selben Zeit unterstützte die Fakultät die Pläne zur Errichtung einer außerordentlichen Professur für die Ge­ schichte des Judentums für Karl Georg Kuhn. Im Vordergrund wird gestanden ha­ ben, die vier Planstellen der Geschichtswissenschaft und mit ihnen das Fach in seiner ganzen Breite zu bewahren - oder gar die heikle Situation dafür zu nutzen, es auszubauen. Dass bereits elf Tage nach Königs Tod ein Antrag der Fakultät vorlag, die va­ kante Professur in eine "für historische Hilfswissenschaften und Landeskunde um­ zuwandeln" , verweist auf die Eile, die offenbar an den Tag gelegt wurde, um zu erwartenden politischen Initiativen zuvorzukommen. Zugleich entsprachen die ge­ äußerten Vorstellungen über eine Vertretung der Landesgeschichte dem politisch geförderten Trend zur regionalen und interdisziplinären Zusammenfassung zu grö­ ßeren Einheiten. So war von vornherein an eine Kooperation mit der Württember­ gischen Kommission für Landesgeschichte, der rechtsgeschichtlichen Abteilung des Juristischen Seminars "und anderen interessierten Stellen" gedacht, was ebenso auf höhere Ambitionen verwies wie eine anvisierte "Zusammenarbeit mit den

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Vgl. zu diesen Forschungsgemeinschaften vor allem Oberkrome 1993; Fahlbusch 1999. UAT 131/128, Dekan Weber an Rektor vom 3.10.1940. Zum katholisch gebundenen Extraordi­ nariat vgl. May 1975. UAT 13 1/128, Weber an Fritz Ernst vom 5.10.1940. So Webers Darstellung nach dem Krieg; UAT 13 1/137, Weber an Dekan Stadelmann vom 10.10.1945, hier auch das Zitat. Ferner heißt es hier: "Der jetzige Rektor Schneider hat damals spontan zu mir gesagt, er hätte es nicht zu hoffen gewagt, dass ich diesen Lehrstuhl der Fakul­ tät retten könnte."

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Nachbarhochschulen in Freiburg und Strassburg" . 60 Kurz darauf war sogar ein in­ terdisziplinäres "Institut für schwäbische Landesgeschichte" an der Universität im Gespräch, das auch mit Institutionen der "Volksdeutschen Forschungsgemeinschaf­ ten" kooperieren sollte61 Wieder ging es dabei auch darum, die Position der Uni­ versität in der reichsdeutschen Hochschullandschaft zu verbessern. Nicht wie an­ dere Institutionen der politisch geförderten Landesgeschichte eine Vertretung zu schaffen, konnte vor diesem Hintergrund als veritabler Standortnachteil interpre­ tiert werden62 Zu diesem Ensemble der Entwürfe einer Reorganisation der Wissenschaft zu großen Verbünden gehörte schließlich auch die Tübinger Beteiligung am "Kriegs­ einsatz der deutschen Geisteswissenschaften" . Mit diesem nach seinem Begründer und Leiter Paul Ritterbusch auch als "Aktion Ritterbusch" bezeichneten Projekt stellten sich ab Februar 1940 bis zu 500 Geisteswissenschaftler aus mehr als 20 Fächern mit einer regen Tagungs- und Publikationstätigkeit in den Dienst national­ sozialistischer Politik. Vor allem der kriegerische Prozess der europäischen Neu­ ordnung unter deutscher Dominanz sollte wissenschaftlich begleitet und legitimiert werden. Zeigten die bisher genannten Ansätze der Universität Tübingen zur organi­ satorischen Umgestaltung durchweg eine Tendenz zum Regionalismus mit dem Ziel, den deutschen Südwesten im reichsdeutschen Wissenschaftssystem vorteil­ haft zu positionieren, erstrebte das "Gemeinschaftswerk" unter der Ägide Ritter­ buschs eine reichsweite (Selbst-)Mobilisierung deutscher Wissenschaftler jenseits föderaler Strukturen63 Über die Erhebung der Beiträger zu Sammelbänden des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Großunternehmens lässt sich die Beteiligung von mindestens 21 Tübinger Hochschullehrern am "Kriegseinsatz" nachweisen.64 60 61

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UAT 13 1/128, Vogt an Dekan vom 30.9.1940. Diese ersten Institutspläne formulierte der auch landesgeschichtlich arbeitende Rechtshistori­ ker Hans Brich Feine; UAT 1311128, Feine an Stellvertreter des Rektors und Dozentenführer Wetzel über den Dekan der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät vom 30.10.1940. Die Institutionen, auf die Feine sich bezog, waren: das "Alemannische Institut" in Freiburg, das "Institut für fränkisch-pfalzische Landesgeschichte" in Heidelberg, das "Südost-Institut" in München, das "Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande" in Bonn (Leiter: Steinbach), das "Institut für mittelalterliche Geschichte, geschichtliche Hilfswissenschaft und geschichtliche Landeskunde" in Marburg (Leiter: Th. Mayer) und das "Institut für schlesische Landeskunde" in Breslau (Leiter: Aubin). Vgl. die Ausführungen Hans Weirichs, des ersten Inhabers des Landesgeschichte-Lehrstuhls; UAT 13 11129, Weirich an Rektor vom 12.11 .1941. Siehe den knappen und instruktiven Überblick bei Hausmann 2000. Auswertung des Personenanhangs in: Hausmann 1998, 364-389. Hier werden erwähnt: Viktor Burr (1906-1975, Alte Geschichte), Hans Brich Feine (1890-- 1 965, Deutsche Rechtsge­ schichte), Hildegard Gauger (1890-1975, Anglistik), Wilhelm Grebe (1897-1946, Philoso­ phie), Theodor Haering (1884-1964, Philosophie), Georg Hasenkamp (1888-1960, Geogra­ phie), Jakob Wilhelm Hauer (1881-1962, Religionswissenschaft), Paul Kluckhohn (18961957, Deutsche Literaturgeschichte), Kar! Kübler (1897-1990, Klassische Archäologie), Bnno Littmann (1875-1958, Morgenländische Sprachen und Literaturen), Hermann von Mangoldt (1895-1952, Staats- und Verwaltungsrecht, Völkerrecht, Luftrecht), Paul Schmitthenner (1884-1963, Kriegsgeschichte), Hermann Schneider (1886-1961, Deutsche Sprach- und Lite-

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Drei von ihnen waren sogar als Sparten- beziehungsweise Gruppenleiter innerhalb ihrer Fächer oder als Herausgeber entsprechender Werke tätig: der Philosoph Theo­ dor Haering, der Althistoriker Joseph Vogt65 und der Anglist earl August Weber, der darüber hinaus von Anfang an maßgeblich an der Organisation der Arbeit der "Englandkunde" beteiligt war66 Der Trend zur Bildung von größeren Forschungsverbünden war - das machen die vorgestellten Beispiele deutlich - verbunden mit einer verstärkten Politisierung der Universität. Nach der Machtergreifungsphase waren die Jahre um den Beginn des Zweiten Weltkrieges die Zeit, in der sich die Universität am stärksten im Sinne nationalsozialistischer Vorstellungen von Hochschul- und Wissenschaftspolitik umgestaltete. Auch wenn das Regime durch die permanente Wiederholung der For­ derung, seinen ideologischen Präferenzen zu folgen, und durch eine entsprechende Mittelzuweisung auf Veränderung drängte, ist schwer zu übersehen, dass die Uni­ versität weitgehend frei willig agierte und kreative Lösungen entwickelte, die über politische Lippenbekenntnisse weit hinausgingen. V ielmehr verstand es die Uni­ versität, für sich aus dem von der nationalsozialistischen Hochschulpolitik gesetz­ ten Vorgaben und Zielsetzungen erheblichen Nutzen zu ziehen. Doch nicht nur eine fortgesetzte ausgeprägte Politisierung charakterisiert den bemerkenswerten Institutionalisierungsschub ab 1939. Er schärfte zudem das geis­ tes- und sozialwissenschaftliche Profil der Universität und war offenbar Teil des Versuchs, sich im Konkurrenzfeld des deutschen Hochschulsystems, das zudem durch die Expansion des Deutschen Reiches ab 1939 wuchs, durch eine innovative Neugruppierung der Geistes- und Sozialwissenschaften zu positionieren. Eine Her­ abstufung des naturwissenschaftlichen und medizinischen Zweiges resultierte dar­ aus nicht, wie sich im Generalbebauungsplan zeigte, der seit 1940 erarbeitet wurde. Wäre er mit seinem Gesamtvolumen von 60-70 Millionen Reichsmark umgesetzt worden, wäre fast jede Klinik mit einem Neubau bedacht worden, womit, wie Wet­ zel festhielt, "die Universität all anderen deutschen Hochschulen in bezug auf Bau­ lichkeiten überholt" hätte. Über erste grundlegende Regelungen mit der Stadt Tü­ bingen und dem Land Württemberg, die sich zudem als nachteilig für die Universi­ tät erwiesen, kam der Bebauungsplan allerdings nicht hinaus67 Dennoch: Nimmt man alle Entwicklungen um 1939 zusammen, zeigt sich, dass den Planem ein in allen Bereichen großzügiger Ausbau vorschwebte, der die Leistungskraft der Uni­ versität nachhaltig erhöhen sollte.

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raturgeschichte), Walther Schönfeld (1888-1958, Deutsches Recht, Kirchenrecht, Rechtsphilo­ sophie), Rudolf Stadelmann (1902-1949, Mittlere und Neuere Geschichte), Joseph Vogt (1895-1986, Alte Geschichte), earl August Weber (1895-1955, Anglistik), Hermann von Wissmann (1895-1979, Geographie), Max Wundt (1879-1963, Philosophie). Vgl. Vogt 1943. Dieser Band steht "für das Bemühen [der Althistoriker, Anm. d. Verf.J, Anfor­ derungen des nationalsozialistischen Regimes und seiner Ideologie entgegenzukommen, dies aber zu verbinden mit einer Fortführung der herkömmlichen Arbeit". Vogts Beitrag für den Band ist nicht frei von sprachlichen Anleihen bei NS-ldeologemen; Schönwälder 1992, 215f., Zitat 216; vgl. zu Vogt ausführlich Königs 1995. Vgl. Weber 1942; zu Weber vgl. ausführlich Hauser 2007. Adam 1977, 196-198, das Zitat von WetzeI auf 196f.

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Die beiden erkennbaren Trends - Politisierung und Bildung neuer Schwer­ punkte - lassen sich für die hier fokussierten Jahre noch an zwei weiteren instituti­ onellen Veränderungen erkennen. So fiel in die Jahre 1939/40 auch die Gründung eines "Arischen Seminars" , das sich vom Orientalischen Seminar abspaltete. Die Idee, mit einem solchen Institut an der Universität eine "Abteilung für arteigene Weltanschauung" einzurichten, ging vom Professor für Indologie und Verglei­ chende Religionswissenschaft Jakob Wilhelm Hauer aus68 Mit einer im Frühjahr 1939 verfassten Denkschrift plädierte er dafür, den beiden Theologischen Fakultä­ ten und dem von ihnen vertretenen konfessionellen Christentum eine Vertretung "arteigener Weltanschauung" entgegen zu stellen. Mit der Unterstützung des Kult­ ministers Mergenthaler wurde zunächst dem Antrag Hauers auf Erweiterung seines Lehrauftrags um "arische Weltanschauung" vom Reichserziehungsministerium stattgegeben. Sehr bald darauf, im April 1940, folgte die Gründung des "Arischen Seminars" , dessen Direktor Hauer wurde. Unumstritten war dies nicht. Enno Littmann, der zweite Vorstand des Orienta­ lischen Seminars, protestierte heftig gegen die Abspaltung der Religionswissen­ schaft und ihre Umwandlung in eine arische Weltanschauungslehre69 Für ihn hatte Hauers völkisch-rassisch geprägtes Wissenschaftsprogramm nicht nur nichts mehr mit der philologisch ausgerichteten Religionswissenschaft zu tun, sondern war in seinen Augen für seriöse Forschungsarbeit ungeeignet. Entsprechend legte Litt­ mann Wert auf eine strikte räumliche Trennung beider Bereiche. Seine Bedenken änderten jedoch nichts an den Planungen, das Arische Seminar schnell auszubauen. Für die Außenwirkung der Universität mindestens so symbolträchtig wie jede Neuinstitutionalisierung einzelner Teilbereiche war die Änderung der Reihenfolge der Fakultäten durch den Rektor Hermann Hoffmann und den Dozentenbundführer Robert Wetzel zum ersten Trimester 1940. Dieser Eingriff entthronte die beiden Theologischen Fakultäten, welche die Fakultätenordnung seit jeher angeführt hat­ ten und nun an deren Ende gestellt wurden. An die Spitze trat nun die Naturwissen­ schaftliche Fakultät, gefolgt von der Medizinischen Fakultät70 Dies entsprach der Auffassung WetzeIs, aber auch der Hoffmanns, von der Biologie als neuer Leitwis­ senschaft.71 Robert Wetzel begründet die neue Rangfolge in seinem Schreiben an den Kultminister Mergenthaler vom 1. November 1939 zudem mit einer "tatsäch­ liche[n1 Umwertung der Wissenschaften, die sich seit der Schaffung der mittelalter­ lichen Universitäten vollzogen hat". Die Theologie sei ihrem Charakter nach keine Grundwissenschaft, sondern eine "Lehre auf Grund von Voraussetzungen, die nur glaubensmässig anerkannt und keineswegs für alle Menschen, auch nicht für alle Deutschen verbindlich gemacht werden können" 72 Daraus wird deutlich, dass die

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Siehe zum Folgenden Junginger 1999, 156ff. Ebd., 160. Die Rangfolge hatte sich traditionell an dem Alter der Fakultäten orientiert. Die neue Reihung war umso augenfälliger, als die Naturwissenschaftliche Fakultät die zuletzt gegründete Fakul­ tät an der Universität Tübingen war. Vgl. Hoffmann 1940, 1 1 9f. UAT 117/307, 12.

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Neugruppierung der Fakultäten im Kontext der Auseinandersetzungen der Natio­ nalsozialisten mit den Kirchen stand.73 Die neue Rangfolge war also deutlich mehr als ein Verwaltungsakt. Sie hatte zudem sichtbare Auswirkungen auf die symbolische Ordnung des Universi­ tätsalltags: Bei Bekanntmachungen ebenso wie bei der Sitzordnung im Festsaal und beim Einzug des Lehrkörpers musste, so hielt ein Schreiben des Rektors an die Fakultäten vom 24. Juni 1939 fest, diese neue Ordnung für jedermann ersichtlich eingehalten werden 74 Reichserziehungsminister Bernhard Rust zeigte sich von dieser ideologisch motivierten Initiative nur wenig angetan. Er wollte die Anordnung zwar nicht rück­ gängig machen, doch rügte er Hoffmann mit dem Hinweis, dass Rektoren zu sol­ chen Maßnahmen nicht befugt seien und dass bis auf Weiteres von solchen Schrit­ ten abzusehen sei. Offensichtlich ging es Rust weniger darum, prinzipielle politi­ sche Kritik an dem Vorpreschen der führenden Tübinger Nationalsozialisten zu üben, als um die Wahrung der Kompetenzen seines Ministeriums, gerade wenn es um solche aufsehenerregenden75 Grundsatzentscheidungen ging. Staatlicherseits wurde nämlich die Tübinger Theologie im Weiteren massiv benachteiligt. Das Kultministerium weigerte sich, vakante Lehrstühle zu besetzen, was die Fakultäten mittelfristig zu "einem langsamen Absterben verurteilte" 76 Dieser Marginalisie­ rungsprozess war auch am sinkenden Anteil der für Theologie Immatrikulierten an der Gesamtstudierendenzahl abzulesen. Stellten beide Theologischen Fakultäten Anfang 1940 immerhin noch 10,3 % aller Studierenden, waren es im Wintersemes­ ter nur noch 2,6 %.77 Im Übrigen stieß der Alleingang Tübingens und auch der Universität Bonn eine Diskussion unter den Ministerien und ParteisteIlen darüber an, ob eine Ent­ thronung der theologischen Fakultäten nicht an allen Universitäten angestrebt wer­ den sollte 78 Zu einer reichsweiten verbindlichen Regelung kam es jedoch nicht. Sowohl die Rektorenkonferenz als auch die Ministerien waren sich darin einig, dass entsprechende zentrale Anordnungen vermieden werden sollten. Nur im Amt des Stellvertreters des Führers wurde von Martin Bormann Druck auf den Reichs­ minister Rust ausgeübt, die Theologie doch von ihrem Sockel zu stürzen. Letztlich taten es nur wenige Universitäten Tübingen gleich. Im Januar 1945 nannte die Par-

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Adam 1977, 8 l f. UAT 117/307, 12. Darauf, dass der Schritt der Universität Tübingen auch öffentliche Beachtung fand, deutet ein Artikel der Zeitschrift "Der Deutsche in Polen" vom 27.8.1939 hin, der über die Vorgänge im Südwesten des Reiches mit einiger Enttüstung berichtete. Siehe die Abschrift Groh in: ebd. In seinem Schreiben vom 1 . 1 1 .1939 an den Kultrninister nimmt auch Robert Wetzel darauf Be­ zug: "Fragen möchte ich noch, wie gerade ,der Deutsche in Polen' dazu kommt, sich über die sachliche Wiedergabe hinaus in so ausgeprägt verständnisloser Weise dazu zu äußern"; siehe ebd. Adam 1977, 82. Ebd., 19lf. Zum Folgenden siehe Harmnerstein 1989, 479-481.

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teikanzlei neben Bonn und Tübingen noch die Universitäten Freiburg, Jena und Kiel, welche die Änderung in der Reihenfolge der Fakultäten vorgenommen hät­ ten 79

2. 3 Die Zeit der Stagnation (1941-1945) Das meiste von dem, was die großen Pläne für eine weitgehende Umgestaltung der Universität und ihre Neupositionierung in der deutschen Hochschullandschaft vor­ sahen, kam über recht bescheidene Anfange nicht hinaus. Der Krieg, dessen Ende entgegen vielerorts optimistischer Einschätzungen spätestens Ende 1941 in kaum absehbare Ferne gerückt war, bewirkte eine erhebliche Verknappung der Ressour­ cen und verengte die Spielräume für einen fortgesetzten institutionellen Aus- und Umbau. Die Aufbruchstimmung seit den späten 30er Jahren wurde durch Stagna­ tion gedämpft und verflüchtigte sich schließlich weitgehend. Eines der Hauptprobleme des Lehr- und Forschungsbetriebs der gesamten Uni­ versität waren die Einberufungen von Hochschullehrern zum Wehrdienst. Bereits vor Beginn der verstärkten Mobilisierung im Zeichen des "totalen Krieges" nach der Niederlage bei Stalingrad Anfang 1943 waren 42 % der Professoren und Do­ zenten eingezogen worden, von den Assistenten hatten sogar 72 % Kriegsdienst zu leisten, so dass Rektor Stickl die Arbeitsfahigkeit der Universität für gefahrdet hielt. Verschärfend kam hinzu, dass zugleich die Studierendenzahlen während der Kriegsjahre steil anstiegen. Unter den Versuchen, den Mangel an kriegswichtigen Arbeitskräften zu beheben, der nicht zuletzt eine Folge der restriktiven NS-Hoch­ schulpolitik seit 1933 warso, hatte die Rücknahme der Quotierung des Frauenan­ teils an der Studierendenschaft die stärkste Wirkung. Stellten die Frauen bis 1940 allenfalls 10 % der Immatrikulierten, stieg ihr Anteil bis zum Sommersemester 1943 auf über 50 % und blieb bis Kriegsende mit mehr als einem Drittel auf hohem Niveau. Aber auch die Gesamtzahl der Studierenden stieg bis 1944 - dann ver­ mochten nur noch wenige von ihnen dem Zugriff der Einberufungen zu entgehen, und Neuimmatrikulationen waren nicht mehr möglich 81 Waren im ersten Trimester 1940 insgesamt 877 Studierende an der Universität immatrikuliert, verdoppelte sich ihre Zahl bis zum Sommersemester 1942 auf 1 759. Im Sommer 1944 schließ­ lich hatte die erheblich ausgedünnte Hochschullehrerschaft 3 015 Studierende zu betreuen 82 Die unübersehbare personelle Schieflage war das strukturelle Haupt­ problern der Universität während der Kriegsjahre. Weil sich zudem die materiellen Spielräume merklich verengten, wurde es zusehends schwerer, die bis 1941 entwi­ ckelten hochfliegenden Ausbaupläne umzusetzen. Symptomatisch dafür war, wie sich die "Württembergische Arbeitsgemein­ schaft für Auslandswissenschaften" entwickelte. Die angestrebte enge Zusammen­ arbeit mit anderen wissenschaftlichen Einrichtungen des Südwestens, allen voran 79 80 81 82

Ebd. Knapper Überblick: Jarausch 1984. Adam 1977, 189-191 und 198f. Zahlen nach UAT S 73/1.

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mit dem DAI, aber auch mit der Stuttgarter Weltkriegsbücherei, lieB sich nur in Grundzügen realisieren. Abgesehen davon, dass die Studierenden offensichtlich kaum Interesse für die neuen Lehrangebote zeigten, fielen nach und nach die meis­ ten Lehrkräfte der Auslandkunde - durchweg nur mit Lehraufträgen versehen weg, weil sie zum Militärdienst eingezogen wurden. Am schwerwiegendsten war jedoch, dass das institutionelle Gravitationszentrum der Arbeitsgemeinschaft, die neue Professur für "weltpolitische Auslandskunde", keinerlei Wirkung entfalten konnte, weil ihr Inhaber, Wahrhold Drascher, bereits 1939 zur Marine eingezogen worden war. Erst Anfang 1944 wurde er vom Militärdienst freigestellt - zu spät, um der Auslandskunde die notwendigen frischen Impulse geben zu können. Ähnlich erging es dem projektierten "Institut für schwäbische Landesge­ schichte". Allerdings stand hier schon im Juni 1941 deutlich vor Augen, dass es sich "unter den augenblicklichen Umständen" nicht realisieren lieB 83 Mehr als ein bescheidener Ausbau einer landesgeschichtlichen Abteilung im Historischen Semi­ nar als Nukleus eines späteren Instituts war, auch aufgrund von Schwierigkeiten mit der NS-Kultusverwaltung, nicht durchzusetzen 84 Davon abgesehen hatte die Landesgeschichte einen denkbar schlechten Start, weil ihr erster Lehrstuhlinhaber, Hans Weirich, schon ein Jahr nach seiner Berufung an der Ostfront fiel und sich die Neubesetzung des Lehrstuhls mit Otto Herding vor allem durch politisch motivierte Eingriffe in das Berufungsverfahren bis Mitte 1944 hinzog. Auch das Vorhaben einer "judenwissenschaftlichen" Professur verlief während der Kriegsjahre im Sande. Es gelang nicht, für den Lehrstuhl Gelder bereit zu stel­ len. Den Vorschlag der Universität, für das neue Extraordinariat eine nicht besetzte planmäßige Oberarztprofessur aus der Medizinischen Fakultät zu verwenden, lehnte das Reichserziehungsministerium mit einer etatrechtlichen Begründung ab 85 Da es zugleich unterstrich, dass für eine neue Planstelle kein Geld bereitge­ stellt werden könne, waren die Möglichkeiten der Universität weitgehend ausge­ reizt 86 Weil für die nähere Zukunft kaum zu erwarten war, dass eine "nicht etats­ rechtlich gebundene Professur zur Verfügung" stehen würde - der einzige Ausweg, den das Ministerium sah -, wurden die Ausbaupläne mit der Hoffnung auf einen günstigen Kriegsverlauf erst einmal aufgeschoben 87 Der Krieg zog sich jedoch in die Länge, und aus dem Lehrstuhl wurde nichts. Dabei wird auch eine Rolle ge­ spielt haben, dass die "Judenwissenschaft" im Kampf gegen den "rassischen" Hauptfeind der Nationalsozialisten durch die physische Vernichtung der europäi-

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UAT 13 1/129, Weirich an Rektor vom 1 2 . 1 1 . 1941; UAT 13 1/130, Kultminister (Mergenthaler) an Rektor vom 2.1. 1942. Die Institutspläne wurden in den 50er Jahren wieder aufgegriffen und in veränderter Form umgesetzt; vgl. Daniels 2009, 166f. UAT 1 3 1/128, Dekan Weber an Kuhn vom 25.4.1941; ergänzend Wetzel an Rektoramt vom 4.10.1940. Junginger 2006, 179. UAT 131/128, Dekan Weber an Kuhn vom 25.4.1941. Hier heißt es unter anderem: "Am End­ erfolg [einer Berufung Kuhns, Anm. d. Verf.] kann kein Zweifel sein, nur der Krieg mit der Stoppverordnung des Finanzministeriums steht der augenblicklichen Ernennung im Wege."

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schen Juden seit Mitte 1941 "sozusagen politisch überholt und obsolet gemacht" wurde 88 Wenn hier eine grundlegende Tendenz eines allmählichen Rückzuges ideologi­ scher Lehr- und Forschungsinhalte89 sichtbar wurde, war sie weniger das Ergebnis einer bewussten Distanzierung von nationalsozialistischer Wissenschaftspolitik als ein Effekt der verkleinerten Handlungsspielräume. Die Lehrveranstaltungen, die nationalsozialistisches Gepräge trugen, wurden keineswegs einfach aufgegeben. Karl Georg Kuhn beispielsweise musste zwar auf eine Professur verzichten, ein umfangreicher Lehrauftrag blieb ihm aber bis zum Kriegsende erhalten, obwohl er ihn aufgrund seiner Dienstverpflichtung zum Heer kaum ausfüllen konnte 90 Auch Jakob Wilhelm Hauer blieb unermüdlich in seinem weltanschaulichen Engage­ ment 91 Die von den Nationalsozialisten geförderte Kriegsgeschichte, die seit 1937 weitgehend brachlag, wurde ab 1 943 noch einmal mit einem Lehrauftrag wiederbe­ lebt, für den mit Fritz Willich ein Generalleutnant a. D. gewonnen wurde n Und beim Germanisten Hermann Schneider, um ein weiteres Beispiel zu nennen, konnte sich 1943 mit Joseph Plassmann einer der einflussreichsten Köpfe des "SS-Ahnen­ erbes" für "Germanenkunde und nordische Philologie" habilitieren - im Mai 1944 erfolgte seine Ernennung zum Dozenten 93 Anders gesagt: Die Bereitschaft, Wissenschaft weiterhin an ideologischen Inte­ ressen zu orientieren, bestand bei nicht wenigen Professoren und Dozenten weiter­ hin fort. Die Rahmenbedingungen dafür verschlechterten sich jedoch erheblich. Zudem fanden entsprechende Veranstaltungen nach wie vor nur wenige Hörer. Vollends setzte sich nun die schon in den 30er Jahren zu beobachtende Einstellung und Haltung der Studierenden durch, "ausschliesslich zur Examensvorbereitung [zu] hören", wie Gustav Bebermeyer mit Blick auf die Auslandkunde schrieb. "Es hat nach Lage der Dinge keinen Sinn", fuhr er fort, "staats- und volkspolitisch wichtige Vorlesungen einzurichten, ohne die Studierenden anzuhalten, diese Vorle­ sungen auch zu hören. Sonst ergibt sich der unerfreuliche Zustand, dass diese Vor-

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Junginger 2006, 189. Eine solche Entwicklung konstatiert Adam 1977, 193, für die Jahre 1941-1945. UAT 126a/284, Rektor an Kuhn vom 17.5.1940; Kuhn an Rektor vom 16.6.1940; Rektor an Kultminister vom 24.4. 1 943; Dekan der Philosophischen Fakultät an Rektor vom 5.6.1945. Adam 1977, 193. Über Willich ist aus den Universitätsakten wenig zu erfahren. Er war von 1927-1930 Lehrer für Taktik und Kriegsgeschichte an der Artillerieschule in Jüterbog; zum 1.9.1942 Entlassung aus dem Wehrmachtsdienst als Generalleutnant; UAT 1 17CI26, Willich an Rektor vom 16.1. 1943; Dekan an Rektor vom 22.1. 1943; Reichserziehungsministerium an Willich vom 30.3.1943 (Erteilung des Lehrauftrags "für Kriegsgeschichte" zum Sommersemester 1943 im Einvernehmen mit dem Oberkommando der Wehrmacht); Dekan an Rektor vom 24.6.1943 (Verlängerung des Lehrauftrags bis Kriegsende). UAT 126/5 17, Personalakte Plassmann, Lebenslauf vom 18.9.1943; Plassmann an Dekan der Phi­ losophischen Fakultät vom 18.9.1943; Habilitationsbericht des Dekans der Philosophischen Fa­ kultät, Weimeich, vom 4. 11.1943; Ernennungsurkunde vom 30.5.1944. Biographische Einzelhei­ ten zu Plassmann (hier fälschlich mit "ß" geschrieben) bei Kater 1974, 46. Hier wird Plassmann als "wichtigste Figur" des "Ahnenerbes" nach Himrnler, Wüst und Sievers bezeichnet. Für einen kurzen Überblick zum "Ahnenerbe" vgl. Wilhelm 1998.

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lesung von nur ganz wenigen Besuchern besucht wird, die kaum die Zahl von ei­ nem halben Dutzend ausmachen."94 Das geringe Interesse der Studierenden war nicht zuletzt ein Abwehrreflex ge­ gen die ideologische Dauerbeanspruchung und -indoktrination und die vieWiltigen Dienstpflichten95, die den Studienalltag flankierten und belasteten. Daraus resul­ tierte eine Konzentration auf die Erfordernisse eines berufsorientierten "Brotstudi­ ums". Aktiver Widerstand erwuchs aus dieser Haltung indes nicht. Hatten der Beginn des Krieges und die Erwartung eines schnellen Sieges of­ fensichtlich Planungseuphorie wenn nicht hervorgerufen, so doch zumindest beför­ dert, bremste der weitere Kriegsverlauf alle ambitionierten Neugestaltungsideen weitgehend aus. Mit dem Angriff auf die Sowjetunion litt der universitäre Alltag zusehends mehr unter den Personalanforderungen der Armee. Mit den eingezoge­ nen Hochschullehrern jedoch verlor die Universität die entscheidende Vorausset­ zung für eine Umsetzung der seit dem Ende der 30er Jahre entwickelten Pläne. Neben den Personalmangel trat eine Reduzierung der verfügbaren Geldmittel. Auch wenn diese materielle Beschneidung nicht genau zu beschreiben ist - zur Etatentwicklung während der NS-Zeit steht eine Untersuchung noch aus -, fallt doch ins Auge, dass alle angedachten Großprojekte nur in bescheidenem Rahmen umgesetzt wurden. Hier dürften die hohen Kosten der Kriegführung ihre Spuren hinterlassen haben. Die Aufbruchsstimmung wich einer unverkennbaren Stagna­ tion. Der Krieg, zunächst noch ein Katalysator, wurde zum Hemmschuh für die weitere Hochschulentwicklung.

3 . Die Führeruniversität: Strukturwandel der akademischen Selbstverwaltung Am 25. November 1933 wurde in Tübingen ein jahrhundertealtes Kernstück uni­ versitären Selbstverständnisses ad acta gelegt. Die "Verordnung des Kultministeri­ ums über die Verfassung der Universität Tübingen" veränderte grundlegend die Verwaltungsform der Hochschule.96 Alle Befugnisse, welche bis dato den Kollegi­ alorganen zukamen, gingen nun auf den Rektor als "Führer der Universität" über. Der Kleine und der Große Senat sollten fortan lediglich als Beratungsgremien fun­ gieren und durften keine Beschlüsse mehr fassen. Ferner sah das "Führerprinzip" vor, dass die Dekane der einzelnen Fakultäten vom Rektor ernannt wurden.

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UAT 13 1/134, Bebermeyer an Dekan der Philosophischen Fakultät vom 13.4.1944. Auch die Resonanz auf die kriegsgeschichtliche Vorlesung Willichs war gering: UAT 1 17C/26, Dekan der Philosophischen Fakultät an Rektor vom 24.6.1943. Vgl. Adam 1977, 194-196. 11u war im Okrober 1933 ein Erlass des preußischen Kultministers Bemhard Rust vorausge­ gangen, welcher an den preußischen Universitäten das "Führerprinzip" einführte. Bis zum 1.5.1934 wurden die Rektoren noch von den Landesrninisterien ernannt, das Emennungsrecht ging dann auf das Reichsrninisterium über. Bis Dezember 1933 beziehungsweise Januar 1934 war mit Sachsen und als letzte Universität Hamburg allerorts das "Führerprinzip" eingeführt.

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Dieser markante Bruch mit der traditionellen Konzils- und Kollegialverfas­ sung, wie sie an der Tübinger Universität besonders stark ausgeprägt war und noch in der Universitätsverfassung von 1 9 1 2 bekräftigt wurde, verlief überraschend rei­ bungslos. Anlässlich der Rektoratsübergabe an den Ordinarius für Praktische Theo­ logie Karl Fezer am 1 1 . Dezember 1933 es war das erste Rektorat, welches unter dem Zeichen des Führerprinzips stand - wies der scheidende Rektor Albrecht Diet­ rich darauf hin, dass "die neue Verfassung keinen Riss in der nahezu 500 jährigen Geschichte unserer Universität bedeutet, vielmehr eine den Anforderungen der Zeit entsprechende organische Fortsetzung darstellt" 97 In der Geschichte der Universi­ tät Tübingen habe es immer schon Führungspersönlichkeiten gegeben, "von Nauk­ ler, dem ersten Rektor und Kanzler an, zu Mästlin, dem Lehrer Keplers, und Osian­ der, dem Retter der Stadt in bedrängter Zeit, weiter zu Autenrieth, dem grossen Arzt und Organisator, und vielen anderen Namen". Auch der zukünftige Rektor Karl Fezer schloss sich seinem Vorredner in dieser Einschätzung an: -

"Muss denn an unserer Universität so viel anders werden? Ich sehe die Aufgabe, die vor uns liegt, schon jetzt. Ich erkenne den im Nationalsozialismus wirksamen Willen als dieselbe Kraft, die hinter der Umwälzung steht, die wir seit 15 Jahren in der Wissenschaft sich vollziehen se­ hen, angefangen von der Naturwissenschaft bis zur Theologie und dort vielleicht am stärksten zum Ausdruck kommend: die Erkenntnis von der Einheit und Ganzheit - was Hitler in einer grossen Schau erkannt hat und mit seinem gewaltigen Willen durchsetzt: die Totalität des Le­ bens und eines Volkes. "98

Zwischen Kontinuität und Bruch wählten Dietrich wie Fezer, der alte gewählte Rektor sowie der neue ernannte Führerrektor, ähnliche Formulierungen, welche die neue, radikale Hochschulpolitik in eine natürliche, ja "organische" Fortsetzung der universitären Tradition stellten. Die Führeruniversität, so schien es, sei keine genu­ ine Erfindung der Nationalsozialisten, sondern jahrhundertealte, real praktizierte Hochschulpolitik.

3 . 1 Die Führerrektoren Im Kaiserreich und in der Weimarer Republik hatte die Rektorenwahl in Tübingen nach einem fest gefügten Prozedere stattgefunden 99 Viel Wahlfreiheit besaßen die Senatsmitglieder nicht. Das Anciennitätsprinzip entschied vielmehr, welcher Ordi­ narius im jährlichen Turnus als nächster Rektor an der Reihe war. Traditionsgemäß wurde derjenige Professor für jeweils ein Jahr zum Rektor ernannt, dessen Ordina­ riatsantritt in Tübingen am weitesten zurücklag. Mit dieser im Voraus festgelegten Rangordnung sollte zweierlei vorgebeugt werden: Zum einen entstand kein Macht­ vakuum, da, selbst wenn ein Ordinarius ausfiel oder die Wahl nicht annahm, so­ gleich auf den nächsten Rangältesten zurückgegriffen werden konnte. Zum ande­ ren schloss dieses ausgeklügelte System ein etwaiges inneruniversitäres Machtge97 98 99

UAT 47/40, Sitzungsprotokoll Großer Senat vom 21.12. 1933, 210. Ebd. Paletschek 200 1 , 189-201 .

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rangel um die Führungsposition im Vorfeld aus. Trotzdem löste diese Rangordnung auch Unmut aus. Vor allem die zugezogenen Professoren, die ihr Ordinariat nicht in Tübingen, sondern an einer anderen Universität erhalten hatten, fühlten sich zu­ rückgestuft, wurden sie doch trotz ihres meist schon fortgeschrittenen Alters wie die eben erst berufenen Tübinger Ordinarien behandelt. 1908 wurde dieses "Wahl­ verfahren" auf Anstoß des Ministeriums leicht abgeändert und damit der zuneh­ menden geographischen Fluktuation Rechnung getragen. Nun zählte nicht mehr die Tübinger Dienstzeit als Ordinarius, sondern die Gesamtdienstzeit als Ordina­ rius an einer deutschen Hochschule. Es bleibt dennoch festzuhalten, dass das "Wahlverfahren" in Tübingen in der Regel eine universitätspolitisch nicht sehr brisante Frage war: Es stützte vielmehr die Kollegialität unter den Ordinarien, da sich niemand benachteiligt fühlen muss­ te.1OO Zweifelsohne repräsentierte der Rektor die Hochschule nach außen, die kurze Amtsdauer von einem Jahr machte es ihm jedoch fast unmöglich, sich politisch besonders zu profilieren. Auch das Ministerium, das als außeruniversitäre Stelle am Entscheidungsprozess beteiligt war, mischte sich im Allgemeinen nicht in die inneruniversitäre Angelegenheit ein. Der vom Senat gewählte Kandidat bedurfte zwar noch der Ernennung durch den Minister, dies stellte jedoch nur noch eine For­ malität dar. Im Kaiserreich und in der Weimarer Zeit besiegelte das Ministerium jedes Jahr die vom Senat vorgelegte Liste 101 Noch die Wahlen im Frühjahr 1933 beruhten auf dieser Rechtsgrundlage. Der Pathologe Albrecht Dietrich trat regulär nach der Wahl, die im Dezember 1932 stattgefunden hatte, seinen Dienst an. Trotzdem kam es im April 1933 zu einigen Turbulenzen. Der Kultminister Mergenthaler hatte Bedenken gegen Dietrich geäu­ ßert und Gerhard Kittel als neuen Rektor favorisiert, so dass Dietrich im Ministe­ rium vorstellig werden musste 102 Die Verletzung des traditionellen Regelwerks, wie es im Kaiserreich und in der Weimarer Zeit gefestigt worden war, war unüber­ sehbar. Allerdings schien es Mergenthaler nicht angezeigt, prinzipiell gegen die Wahl des Rektors zu opponieren, und nachdem Dietrich beteuert hatte, das "Amt im Sinne der neuen Regierung zu verwalten" sowie dabei die "Interessen der Uni­ versität nach Möglichkeit" zu wahren, bestätigte Mergenthaler den Pathologen in seinem Amt.103 An fast allen reichsdeutschen Universitäten machte sich der Übergang von ei­ ner selbstverwalteten Ordinarien- zu einer Führeruniversität während der Amtszei­ ten der noch vom Senat gewählten Rektoren eher zögerlich bemerkbar 104 In der 100 Paletschek nennt auch Ausnahmen von der Regel eines sehr unspektakulären Auswahlverfah­ rens, etwa wenn besondere Feierlichkeiten anstanden und der vorgesehenen Rektor als nicht repräsentationsfahig eingestuft wurde; siehe etwa das Überspringen des katholischen Theolo­ gen Kober im Jubiläumsjahr 1877, Paletschek 2001 , 196. Anders argumentiert etwa für die Universität Köln Frank Go1czewkski, der im Rektor auch vor 1933 eine äußerst politische Fi­ gur sah; siehe Go1czewski 1988, 248. 101 Paletschek 200 1 , 191. 102 Bezugnehmend auf die Senatssitzung vom 24.4.1933 unterläuft Adam ein Fehler, wenn er Ernst Sittig als den favorisierten Kandidaten Mergenthalers angibt; Adam 1977, 46. 103 UAT 47/40, Sitzungsprotokoll Großer Senat vom 24.4.1933, 174. 104 Eine Ausnahme bildet etwa die Rektoratszeit Martin Heideggers an der Freiburger Universität;

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Regel beteuerten die Übergangsrektoren, sich zugleich im Sinne der neuen Macht­ haber und für eine autonome Universität einsetzen zu wollen. Ein Großteil der noch gewählten Rektoren bekannte sich zum Kollegialprinzip und zur akademischen Selbstverwaltung der Universität. Zudem hatten die Senatsmitglieder zumeist keine bekennenden Nationalsozialisten gewählt, was zum einen mancherorts daran lag, dass ein geeigneter Kandidat nicht zur Verfügung stand, zum anderen sicherlich auch an einer Scheu der Ordinarien, sich allzu manifest den neuen Machthabern anzubiedern. l OS Auch der Tübinger Rektor Albrecht Dietrich machte hier keine Ausnahme: Neben seinen bekenntnishaften Beteuerungen, die Universität auf nati­ onalsozialistischem Kurs zu halten106, hatte er sich - wenn auch freilich nicht offen widerständig - gegen eine Vereinnahmung der Universität von politischen Stellen gewandt, etwa im Versuch, die Benutzung der Universitätsräume "von dritter Seite", also von Partei seite einzudämmen 107 Er hatte hierin die Zustimmung der Senatsmitglieder, die bereits im Februar 1933 als Reaktion auf die studentischen Agitationen verkündet hatten, die Universität solle eine unpolitische Institution bleiben, und diese Stellungnahme mit einem Bekenntnis zur nationalsozialistischen Bewegung verknüpften. Säuberlich wurde unterschieden zwischen dem individuel­ len und dem kollektiven politischen Bekenntnis. Letzteres blieb unerwünscht: Die Universität müsse es "ihrem Wesen nach ablehnen, als solche in den parteipoliti­ schen Kampf einzutreten. Sie überlässt es dem Einzelnen, nach bestem Wissen und Gewissen als Staatsbürger seine politische Gesinnung zu betätigen. " IOS So sehr die Ordinarien gegen eine Politisierung der Universität und ihrer auto­ nomen Selbstverwaltungsstruktur opponierten, so wenig schritten sie ein, wenn es um die zukünftige Personal struktur der Universität gehen sollte. In der Personalpo­ litik waren die Monate bis zur Entmachtung der Senate im Herbst 1933 alles andere als eine Übergangszeit. Das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamten­ turns" vom 7. April 1933 und in der Folge die Massenentlassungen von jüdischen und politisch nicht genehmen Universitätsangehörigen hatte die Personalstruktur der meisten Universitäten tief greifend verändert.109 Die noch gewählten Rektoren

siehe dazu Martin 2007. 105 Siehe etwa den deutsch-nationalen, aber nicht nationalsozialistischen Rektor in Marburg Wal­ ter Merk (Nagel 2000, 14ff.), ebenso in Würzburg den Professor für Apologetik und verglei­ chende Religionswissenschaft Georg Wunderle, der zwar kein Nationalsozialist war, in seinen Reden jedoch dem "Reichskanzler Adolf Hitler und der Reichsregierung die eifrigste Mitwir­ kung an ihrer schweren, dem deutschen Volk dienenden Arbeit" zusicherte; siehe Baumgart 2002, 2 1 . 106 Siehe etwa seine Rede in der Senatssitzung vom 1 1 .5.1933, im Protokoll UAT 47/40, 178: "Wir müssen uns das Vertrauen der Führer mehr und mehr erwerben. Die Arbeit der Hochschu­ len werde mit Misstrauen angesehen. Er habe zwar die Überzeugung, dass hier in Tübingen alles getan worden sei, um den nationalen Geist hochzuhalten und dass wir deshalb ein gutes Gewissen haben. Er bitte, innerhalb der Hochschule die Einmütigkeit zu wahren und sich in allen Anliegen an den Rektor zu wenden. Er wolle keine bloss dekorative Figur sein. Er wolle sich durchsetzen." 107 Adam 1977, 78, Anmerkung 206. 108 UAT 47/40, Sitzungsprotokoll Großer Senat vom 25.2.1933, 168. 109 Zu diesem Gesetz ausführlich: Mommsen 1966; Mühl-Benninghaus 1996.

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beteiligten sich aktiv und zum Teil äußerst engagiert an den nationalsozialistischen Maßnahmen, vor allem den Amtsenthebungen, oder hatten diesen wenig bis gar nichts entgegenzusetzen ll O In Tübingen war das nicht anders. Allerdings hatten hier die administrativen und rechtsförmigen Maßnahmen nicht ebenso tief grei­ fende, strukturelle Folgen wie an manch anderer Universität. Das Ausmaß der Ent­ lassungen aufgrund des "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtenturns" hielt sich in Grenzen. Der Rektor, der Senat und die übrigen Universitätsmitglieder konnten darüber mehr oder weniger stillschweigend hinwegsehen. In einer verglei­ chende Zusammenschau verschiedener Universitäten setzen auch Michael Grüttner und Sven Kinas die Universität Tübingen an den letzten Platz: Acht Universitäts­ mitglieder wurden entlassen.111 Diese geringe Entlassungsquote war allerdings nicht darauf zurückzuführen, dass die Tübinger sich vehement gegen die Eingriffe in die Personalstruktur gestemmt hätten. Vielmehr hatte an der hochgradig antise­ mitischen Universität Tübingen das Auswahlverfahren lange vor 1933 stattgefun­ den: Jüdische Akademiker hatten bereits in Kaiserreich und Weimarer Republik kaum Chancen auf einen Ruf nach Tübingen. 112 In Personalangelegenheiten, soviel bleibt jedenfalls festzuhalten, konnte sich die Universität Tübingen über die Zäsur 1933 hinweg eine erstaunliche Kontinuität erhalten, zumal wenn man die Tübinger Situation mit anderen Universitäten ver­ gleicht. 113 110 Am ehesten schienen die Massenentlassungen noch im Heidelberger Senat auf grundsätzliche Bedenken zu stoßen, ohne dass jedoch der Rektor und Historiker Willy Andreas oder der Senat sich zu einer Stellungsnahme entschieden hätten. Sie nahmen letztlich die diskriminierenden Regelungen prinzipiell hin und versuchten, im Einzelfall Ausnahmebestände geltend zu ma­ chen; siehe zu Heidelberg ausführlich Sellin 2006. Im Gegensatz dazu hat in Berlin der noch gewählte Rektor Bugen Fischer, kein bekennender Nationalsozialist, aber mit eindeutiger deutsch-nationaler Gesinnung, die Vertreibungen jüdischer und politisch unliebsamer Hoch­ schullehrer mit großer Effizienz durchgeführt; Jahr 2005. 1 1 1 GrüttnerlKinas 2007, 184f; vgl. Adam 1977, 36f.: Während an der Universität Tübingen nur etwa 2 % der Angehörigen des Lehrkörpers ihre Stellung verloren, wurden an anderen Univer­ sitäten Werte von einem Fünftel oder zum Teil sogar fast einem Drittel (Berlin, Frankfurt a. M.) erreicht. In absoluten Zahlen wurden in Tübingen nur zwei Professoren und ein Privatdozent, der eine Professur vertrat, entlassen: der außerordentliche Professor für Philosophie Traugott Konstantin Oesterreich, der Vertreter der außerordentlichen Professur für theoretische Physik Hans Albrecht Bethe, und der außerordentliche Professur für Mathematik Erich Kamke. Fünf Opfer gab es unter den Assistenten und Privatdozenten, welche nicht direkt unter das Berufsbe­ amtengesetz fielen, deren weitere Aufstiegsmöglichkeiten jedoch so massiv behindert wurden, dass sie gezwungen waren, ihre Hochschullaufbahn zu beenden; siehe hierzu ausführlicher Bericht des Arbeitskreises "Universität Tübingen im Nationalsozialismus" zum Thema "Juden an der Universität Tübingen im Nationalsozialismus" in diesem Band. 112 Siehe unten, Abschnitt Berufungen; vgl. ferner Bericht des Arbeitskreises "Universität Tübin­ gen im Nationalsozialismus" zum Thema "Juden an der Universität Tübingen im Nationalsozi­ alismus"; siehe zum Ausschluss jüdischer Hochschullehrer auch Paletschek 2001 , 3 15ff. 113 Allerdings mussten noch fünf weitere Professoren ihre Lehrstühle räumen, da die Altersgrenze vom 70. auf das 68. Lebensjahr herabgesetzt wurde. Davon waren betroffen Paul Riessler von der Katholisch-theologischen Fakultät (Lehrstuhl für Altes Testament), Carl Sartorius und Carl Johannes Fuchs von der Rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät (Lehrstuhl für öf­ fentliches Recht und Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre) sowie von der Medizinischen Fakul-

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Der Ordinarius für Praktische Theologie Karl Fezer war der erste Führerrektor der Universität Tübingen. Als Kultminister Mergenthaler ihn am 1 1 . Dezember 1933 zum Rektor ernannte, war er bereits aus der Glaubensbewegung der "Deut­ schen Christen" ausgetreten, der er sich im Mai 1933 angeschlossen hatte. Noch kurz zuvor hatte er sich in Berlin kirchenpolitisch engagiert und war an der Seite des späteren Reichsbischofs Ludwig Müller federführend an der Ausarbeitung der neuen Richtlinien der "Deutschen Christen" beteiligt gewesen 114 Die wütenden Angriffe auf das Alte Testament und die radikalen Forderungen der "Deutschen Christen", wie sie auf der Sportpalastkundgebung am 13. November 1933 formu­ liert wurden, wollte Fezer indes nicht mehr mittragen. Er verkündete am 1 . Dezem­ ber 1933 im Festsaal der Tübinger Universität vor den Mitgliedern der Evange­ lisch-theologischen Fakultät seinen Austritt. Dass Fezer die Einführung des Arier­ Paragraphen für die evangelische Kirche nicht mit vollziehen wollte, hinderte ihn nicht daran, in seiner Rektoratszeit die Anordnung vom 5. März 1934 auszuführen, die den Ariernachweis für Beamte ständiger und unständiger Art, Angestellte und Arbeiter vorschrieb. Auch ist kein Einwand bekannt, als im Jahr 1935 der Arier­ Paragraph für Studierende des Evangelischen Stifts eingeführt wurde.ll5 Trotz dieser Distanzierung von den "Deutschen Christen" schien Fezer aus Sicht der Nationalsozialisten denkbar geeignet, die Universität unter den neuen Machthabern auf nationalsozialistischen Kurs zu bringen 116 Nicht zuletzt seine Beliebtheit unter den Hochschullehrern machte Fezer zu einer geeigneten Über­ gangsfigur, welche den Nationalsozialismus, so erhoffte es sich wohl Mergenthaler, salonfahig machen würde. In diesem Sinne äußerte sich auch der erste Nachkriegs­ rektor Hermann Schneider 1 945 in einem Wiedereinsetzungsantrag: Fezer habe "mit ausgesprochen religiös gefarbte[r] Eindringlichkeit und Wucht, mit denen er seinen Glauben an die Mission Hitlers in seinen Kundgebungen als Rektor aus­ sprach, vielen fern stehenden und misstrauischen Deutschen [den Nationalsozialis­ mus] einleuchtend gemacht und nahegebracht".1l7 Auch wenn Schneiders abschlie­ ßendes Urteil zugunsten Fezers ausfiel, macht seine Formulierung dennoch deut­ lich, wie wichtig diese Übergangsrektoren für die Zeit nach 1933 an den deutschen Hochschulen waren, nicht trotz, sondern gerade wegen ihres eher vorsichtigen und bedachten Bekenntnisses zum Nationalsozialismus. In der Rektoratszeit Fezers tagten der Große und der Kleine Senat noch regel­ mäßig. Aus den Senatsprotokollen lässt sich nicht schließen, ob Fezer vehement einen Führungsanspruch angemeldet hat.118 Lediglich in der Sitzung am 1 . März

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tät Martin Heidenhain (Anatomie) und Kurt Wolf (Hygiene); siehe UAT 47/40, Sitzungsproto­ koll Großer Senat vom 28.6.1933, 191. Vgl. allgemein Meier 200 1 , 37-58, zu Fezer 41 und 47f. HerrnIelLächele 1988. Zu Fezer siehe Thierfelder 1988. Siehe den Zusatz des Rektors zum Wiedereinsetzungsantrag von Karl Fezer, in: UAT 149/39. Anders in seiner Rektoratsrede arn 18.1. 1934, in der er das Führerprinzip eindeutig begrüßt hatte, denn "was hier nötig ist, kann nie von einer Mehrheit beschlossen werden, sondern muß geschaut, geglaubt und dann verantwortet werden". Er stellte jedoch dem Führer Berater an die Seite, ausdrücklich nicht nur Professoren, sondern auch die Studierenden, die im Senat und in

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1934 beteuerte Fezer anlässlich einer Diskussion über die Studententumulte, "dass in allen die Universität betreffenden Dingen der Rektor es sei, der als Führer zu entscheiden habe" 119 Dies änderte sich mit dem Amtsantritt des Altphilologen Friedrich Focke im März 1935. Sitzungen im Kleinen Senat - der Große Senat wurde bereits im Feb­ ruar 1935 abgeschafft - wurden nur noch spärlich abgehalten. 120 Deutlicher als sein Vorgänger trat Focke mit dem Anspruch eines Führerrektors auf, allein über Uni­ versitätsangelegenheiten zu entscheiden. Getragen wurde dieser Anspruch durch die vom Reichserziehungsministerium erlassenen "Richtlinien zur Vereinheitli­ chung der Hochschulverwaltung" vom 1 . April 1935, welche das Rektoramt mit einer beträchtlichen Machtfülle ausstatteten.l2l Grenzen waren ihm in der Praxis vor allem von zwei selbständigen Gliedkörperschaften gesetzt, obwohl sie ihm for­ mal nachgeordnet waren: von der Studentenschaft und der Dozentenschaft, deren jeweilige Führer ebenfalls vom Reichswissenschaftsminister ernannt wurden. Den nationalsozialistischen Erwartungen dürfte Focke weitestgehend entspro­ chen haben. Besonders in Berufungsfragen radikalisierten sich seine Ansichten über die Priorität politischer gegenüber wissenschaftlichen Kriterien. Zu Beginn seiner Amtszeit im Februar 1935 hatte er noch gezögert, den Kandidaten der natio­ nalsozialistischen Mitglieder des Großen Senats Kurt Walter auf den neu errichte­ ten außerordentlichen Lehrstuhl für Astronomie zu berufen. 122 Zwar bestehe an der aktiven nationalsozialistischen Gesinnung Walters kein Zweifel, so Focke, ob der junge Kandidat jedoch ein "brauchbares Institut" leiten könne, sei fraglich. Focke schlug vor, zunächst einen erfahrenen Mann zum Aufbau eines Instituts zu holen, versage dieser politisch, könne man bei einer zweiten Besetzung "diesen Gesichts­ punkt ganz in den Vordergrund rücken".123 Diese zögerliche Haltung hatte sich je­ doch im zweiten Jahr seiner Amtszeit geändert: Im Sommer 1936 akzentuierte er bei der Wiederbesetzung eines mathematischen Ordinariats unmissverständlich die politische Eignung des Kandidaten, ohne die an eine Berufung nicht zu denken war 124 Dass er, wie Adam angibt, "auf der persönlichen Ebene durchaus bereit war, sich für Mitglieder des Lehrkörpers einzusetzen, die vom Regime bedroht waren",

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der Fakultät vertreten waren. Die Rede "Die Universität im neuen Staat" ist in der Tübinger Chronik vom 23. 1 . 1934 abgedruckt. UAT 47/40, Sitzungsprotokol! Großer Senat vom 1.3.1934, 221. Die Studentendemonstratio­ nen batten sich gegen den katholischen Dogmatiker Karl Adam gerichtet, der, so das Senatspro­ tokol!, "in einem Vortrag in Stuttgart die Geschichte des jüdischen Volkes verherrlicht und von den deutschen Lastern gesprochen" habe. Adam erhielt daraufhin einige Tage Lehrverbot und musste eine disziplinarische Untersuchung des Kultministeriums über sich ergehen lassen; siehe Adam 1977, 7 1 , Anmerkung 163. Adam zählt noch drei Sitzungen im Jahr 1935. 1936 und 1937 kam der Kleine Senat noch je zweimal zusammen. Zum letzten Mal tagte er im Sornmersemester 1937; siehe Adam 1977, 66 und Anmerkung 133. UAT 117/307, 12. Zum Folgenden siehe Heiber 1992, 2. Bd., 238f. Zitiert in: ebd., 238. Ebd., 239.

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lässt sich im Falle des Religionswissenschaftlers Hans Alexander Winkler zwar bestätigen, wird aber zumindest durch den Fall Erich Kamkes nach neuerern For­ schungsstand fraglich. 125 Als Nachfolger Friedrich Fockes trat der Psychiater Hermann Hoffmann am 1 . November 1937 das Rektorenamt an. Mergenthaler hatte sich bereits 1936 dafür eingesetzt, dass der damals in Gießen tätige Psychiater die Nachfolge Robert Gaupps antreten konnte. Bereits zu diesem Zeitpunkt stand fest, dass mit dem Ruf nach Tübingen zugleich das Rektorat verbunden sein sollte.126 Eine solche gezielte Rekrutierung von nationalsozialistischen Gewährsmännern, die von Mergenthaler, aber auch von Tübinger Universitätsmitgliedern vorangetrieben wurde, zeigt, wie weit man sich mittlerweile von dem Verfahren der Rektoratswahl entfernt hatte. Bei vielen musste dieses Verfahren einer Brüskierung gleichgekommen sein, zumal Hoffmann gegen den Willen der Medizinischen Fakultät, die Ernst Kretschmer fa­ vorisiert hatte, berufen wurde. In den Augen Mergenthalers jedoch, der mit den bisherigen Rektoren unzufrie­ den war, war Hoffmann ein zuverlässiger Nationalsozialist, Antisemit und enga­ gierter Gegner des Christentums. Dass in der Personalpolitik der Führerrektor ver­ stärkt auf die politische Zuverlässigkeit der Kandidaten geachtet wurde, war nach der Vorarbeit Fockes zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Hoffmann ging je­ doch noch einen Schritt weiter und engagierte sich in enger Zusammenarbeit mit dem Dozentenführer Robert Wetzei, seine Vorstellungen einer nationalsozialisti­ schen Universität in der Gewichtung und Ausrichtung bestimmter Fächer durchzu­ setzen. In diesem Maße hatte sich noch kein Rektor in die innere Struktur der Uni­ versität eingemischt. 127 Wie kein anderer Tübinger Rektor hat Hoffmann seine nationalsozialistische Mitgliedschaft zur Schau gestellt. Er empfand sich selbst, so notierte er rückbli­ ckend auf seine Rektoratszeit 1941, als der erste Tübinger Rektor, "der die Hoch­ schule nach nationalsozialistischen Gesichtspunkten geführt habe" 128 So wollte er sich auch verewigt sehen: Gegen Ende seiner Amtsperiode 1939 ließ er sich für die Rektorengalerie des Großen Senats der Universität in der Uniform eines SA-Ober­ sturmführers portraitieren. Trotz des eindeutigen Anspruches Hoffmanns, als Führerrektor die personelle und strukturelle Zusammensetzung der Universität nationalsozialistisch zu lenken, war das Rektorenamt in eine Krise geraten. Die verloren gegangene Selbstständig­ keit der Kultusverwaltungen der Länder an die Reichsbehörden und das Dickicht an parteipolitischen Instanzen innerhalb und außerhalb der Universität hatten zu­ nehmend dazu beigetragen, dass der Rektor seine in der Universitätsverfassung verankerte führende Position kaum mehr ausfüllen konnte. Hoffmann beantragte nach zwei Jahren Amtszeit die Entbindung von seinen Amtspflichten 129 Auch sein 125 Siehe hierzu Adam 1977, 67 und den Beitrag von Richard Mohr über Erich Karnke in diesem Band; zu Winkler siehe Junginger 1995. 126 Siehe zu Hoffmanns Berufung Leonhardt 1996, 95-101. 127 Siehe hiezu auch die in der Einleitung thematisierte Rede WetzeIs. 128 Hoffmann, Das Meine (1941), in: UAT 550/28, 115, zitiert in: Leonhardt 1996, 117. 129 UAT 1 17C/3, Schreiben Rektor Hoffmann an Oberregierungsrat Dr. Deyhle (Kultministerium)

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Nachfolger, der Hygieniker Otto Stick!, beantragte mehrmals beim Reichserzie­ hungsministerium seine Ablösung. Allerdings vergeblich: Er blieb Rektor, bis die Universität und die Stadt Tübingen am 20. April 1 945 an die französischen Trup­ pen übergeben wurden. In einem Schreiben vom 20. März 1939 an die Reichsleitung des Dozentenbun­ des hatte Robert Wetzel die Amtsübernahme Stickls folgendermaßen beschrieben: "Er sträubt zwar einige Federehen, tat aber doch keinen energischen Schwingenschlag oder Krallenhieb der wirklich ernsten Abwehr. Kurzum er würde es machen. Ich weiss, dass in der Reichsamtsleitung aus früheren Zeiten einiges Murmeln gegen Stickl sich schon erhoben hat. Wir können hier nur sagen, dass er sich in Tübingen ausgezeichnet benommen hat, und dass wir ihn [sie] die Sache zutrauen." 130

Dass Stickl derjenige nationalsozialistische Führerrektor mit der längsten Amtspe­ riode wurde, sagt nicht sehr viel darüber aus, wie präsent er tatsächlich an der Uni­ versität war und wie er seine Führerrolle auszufüllen vermochte. In der Anfangs­ zeit, von November bis Mai 1 940, kam er nur drei Tage die Woche nach Tübingen, da er mit Hoffmann zusammen bei einer Armeesanitätsabteilung am Westwall sta­ tioniert war. l 3 l Von Mai 1940 bis März 1941 war er dann Beratender Hygieniker an der Westfront und wurde von Wetzel vertreten. Erst im März 1941 wurde er zur Heeres-Sanitäts-Staffel nach Tübingen versetzt und konnte seinen Amtsgeschäften wieder regelmäßig nachgehen. Der Krieg hatte jedoch die Personalkrise an der Universität nochmals verschärft. Zudem war die Attraktivität des Rektoramtes in Kriegszeiten nicht gerade gestiegen, so dass sich kein Nachfolger für Stickl finden ließ. Der Historiker Helmut Heiber hat allen vier Tübinger Führerrektoren Namen­ und Konturlosigkeit attestiert.132 Sicherlich hatte keiner der Rektoren seine Macht­ fülle gänzlich ausgeschöpft. Soweit die Aktenlage Schlüsse zulässt, mag es wenige Führerentscheidungen gegeben haben. Und dennoch kann man zwischen den Rek­ toraten von Karl Fezer über Friedrich Focke zu Hermann Hoffmann einen zuneh­ menden Führungsanspruch erkennen, zunächst und besonders in personalpoliti-

vom 1.3.1939. Hoffmann gibt selbst als Grund die Überbelastung zweier Ämter, Klinikdirektor und Rektor, an. In seinem Schreiben an Deyhle erwähnt er jedoch auch die zeitliche Koinzi­ denz seines Rücktrittgesuchs mit einem studentischen Theaterstück "Faust IV. Teil oder: Der Geist des 2 1 . Jahrhunderts", das bei Kultminister Mergenthaler auf heftige Kritik gestoßen war. Einige Tübinger Studenten hatten darin Tübinger Professoren und führende Nationalsozi­ alisten persifliert. Neben dem Kultusminister waren die württembergische Gauleitung sowie örtliche Spitzenvertreter von Wehrmacht, Partei und SS anwesend. Hoffmann wollte sein Rücktrittsgesuch nicht darauf zurückgehen lassen. Heiber legt aber einen Zusammenhang nabe; siehe Heiber 1992, 2. Bd., 242. Die tatsächlichen Konsequenzen des Theaterstückes kön­ nen nach dem derzeitigen Stand der Forschung nicht ermittelt werden. Zum Theaterstück siehe ausführlicher Adam 1977, I11f. und den Beitrag von Johannes Michael Wischnath über die Tübinger Studierenden in diesem Band. 130 UAT 1 17C/3, Schreiben an die Reichsamtsleitung des NSD-Dozentenbundes vom 20.3.1939. 131 Ebd., Schreiben des Rektor Stickls an Ministerpräsident und Kultminister Mergenthaler vom 29.3.1944. 132 Heiber 1992, 2. Bd., 233.

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schen Entscheidungen, später jedoch auch bezüglich einer strukturellen und inhalt­ lichen Ausrichtung einer nationalsozialistischen Universität. Neben der persönlichen Amtsauffassung des jeweiligen Rektors lag es zu ei­ nem nicht geringen Teil an der für die NS-Zeit so typischen polykratischen Macht­ struktur, dass die Rolle des Führerrektors weder inhaltlich noch strukturell klar um­ rissen wurde. Nach 1933 hatten sich verstärkt parteipolitische Körperschaften her­ ausgebildet, welche die Machtfülle des Rektors erheblich einschränkten. Die Richt­ linien des Reichserziehungsministeriums von April 1935 nennen zwei der wohl einflussreichsten: die Dozentenschaft und die Studentenschaft. Bevor ihre Rolle auf die Universitätspolitik untersucht wird, soll jedoch noch ein kurzer Blick auf einen weiteren Parteirepräsentanten geworfen werden, der entschieden dazu beige­ tragen hat, die Tübinger Universität in der Anfangszeit nationalsozialistischer Herr­ schaft auf "Kurs" zu halten.

3.2 Der "Gleichschaltungskommissar": Gustav Bebermeyer

In der Kaiserzeit und in den Weimarer Jahren hatte sich das Amt des Rektors nicht durch eine besonders große Machtfülle ausgezeichnet. Der jährliche Wechsel ver­ hinderte eine Entfaltung aller Einflussmöglichkeiten. Traditionellerweise war der mächtigste Mann an der Universität nicht der Rektor, sondern der Kanzler 133 Die Stelle des Universitätskanzlers war eine Tübinger Besonderheit. Zwar hatten auch andere Universitäten einen Regierungsvertreter in ihren Reihen, der wie etwa in Preußen zumeist Kurator genannt wurde. Doch war dieser nur in Tübingen auch Teil der Professorenschaft, was ihm zugleich eine Vermittler- und Kontrollfunktion zwischen Regierung und Universität verlieh 134 Er wurde aus dem Kreis der Tübin­ ger Professoren auf Lebenszeit vom Ministerium ernannt und war somit intimer Kenner der internen Universitätsangelegenheiten, da er bei allen Senatssitzungen anwesend war. Er war gleichzeitig Vertrauensmann der Regierung, welcher er von internen Kontroversen und Unstimmigkeiten aus erster Hand berichten konnte. Es blieb nicht aus, dass Versuche unternommen wurden, dieses Amt abzuschaffen. Nach dem Tod des Universitätskanzlers und Nationalökonomen Gustav von Schön­ berg hatte sich 1908 eine Senatsmehrheit dafür gefunden, die Petition scheiterte allerdings im Ministerium, so dass es bei der alten Regelung blieb. Die Stelle des "Kommissars der Universität Tübingen mit besonderen Voll­ machten", die im April 1933 geschaffen und mit dem Germanisten Gustav Beber­ meyer besetzt wurde, war zwar keine explizite Fortführung des Kanzleramtes, ja selbst ihr Kompetenz- und Aufgabenbereich war nicht scharf umrissen. Die Verbin­ dung zwischen den beiden Ämtern stellte jedoch Bebermeyer selbst her, indem er das Briefpapier des Kanzlers benutzte und sein Betätigungsfeld mehrmals als "Kanzlergeschäfte" bezeichnete.135 Auch dem damaligen, erst seit 1 93 1 ernannten

133 Zum Folgenden Paletschek 200 1 , 179-188. 134 Heiber 1992, 1. Bd., 365. 135 Siehe hierzu Besenfelder 2002, 84.

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Kanzler August Hegler musste sehr schnell klar geworden sein, dass sein Amt "überflüssig" geworden war. Er trat in der Senatssitzung vom 24. April 1933 zu­ rück. Kultminister Mergenthaler habe ihm erklärt, so teilte er seinen Senatskolle­ gen mit, dass der Kanzler als Vertrauensmann der Regierung "naturgernäss aus der nationalsozialistischen Bewegung hervorgegangen und aktivistisch eingestellt" sein müsse. Für einen solchen parteipolitischen Posten kam nun August Hegler nicht mehr in Frage l36 Um sich gehörig Einfluss in allen Universitäts-, insbesondere in Berufungsan­ gelegenheiten zu sichern, konnte sich indes Gustav Bebermeyer fortan sowohl auf die eingeschliffene und legitime Tradition der Tübinger Kanzlerschaft als auch auf die parteipolitischen Stellen stützen. Dass ihm so wenig grundsätzliche Gegenwehr entgegengebracht wurde, mag nicht unwesentlich daran gelegen haben, dass man in Tübingen an diese ambivalente Form eines Vertrauensmannes der Regierung, der aus der Professorenschaft hervorging, bereits gewöhnt war. Bebermeyer entwi­ ckelte denn auch eine fiebrige Aktivität an der Tübinger Alma Mater. Er trat vehe­ ment dafür ein, dass Tübingen eine Reichsuniversität werden solle, was einen tief greifenden, strukturellen Umbau der Universität bedeutet hätte 137 Es war auch Be­ bermeyer, der in den Senatssitzungen im Jahr 1933 seine Senatskollegen zur Ord­ nung rief, in der universitären Personalpolitik nationalsozialistische Gesinnung ge­ bührend zu berücksichtigen. Dabei ging er nicht zimperlich vor: Bei der Wiederbe­ setzung des Lehrstuhls für das Neue Testament an der Katholisch-theologischen Fakultät am 20. Juli 1933 bedauerte er nicht nur die Art, wie die Berufungsvor­ schläge gemacht wurden, er drohte seinen Senatskollegen auch, dass die Fakultäten das Vorschlagsrecht in Berufungsangelegenheiten verlieren könnten.138 Dass die nationalsozialistische Hochschulpolitik gerade im Jahr 1933 sehr stark von Einzelpersonen und ihrem persönlichen Engagement und Amtsauffas­ sung geprägt war, zeigt ein Vergleich mit der Universität Jena. Dort bestand eine dem Tübinger Universitätskanzler ähnliche Einrichtung: ein vom Ministerium aus den Reihen des Lehrkörpers ernannter Kurator. Am 1 . Oktober 1932 wurde im "Mustergau Thüringen" der Rechtsphilosoph earl August Emge als Kurator einge­ setzt, um die Staatskontrolle über die Universität zu gewährleisten 139 Emge war seit 1928 nicht-beamteter Professor und bekam mit seinem Amtsantritt zum Kura­ tor zugleich einen Lehrstuhl für Rechtsphilosophie. Damit bekleidete ein aktiver Nationalsozialist, Parteimitglied seit 1 93 1 , das Amt. Im Gegensatz zum Tübinger Bebermeyer scheint Emge jedoch, was die Ein­ griffe in die Berufungsangelegenheiten betrifft, eher eine "blasse Figur" gewesen zu sein 140 Er schaffte es nicht, seine Position und frühen Einflussmöglichkeiten weiter auszubauen, geriet in zahlreiche Konflikte innerhalb der Universität und verließ 1935 Jena, nachdem seine Position unhaltbar geworden war, um einen Ruf nach Berlin anzunehmen. 136 137 138 139 140

UAT 47/40, Sitzungsprotokoll Großer Senat vom 24.4.1933, 173. Ebd., Sitzungsprotokoll Großer Senat vom 28.6.1933, 189f. Ebd., Sitzungsprotokoll Großer Senat vom 20.7.1933, 194. Siehe hierzu Hoßfeld 2003, 47-49; Pinter 1994. Hoßfeld 2003, 48.

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Bebermeyers Amtsende war mit "Verordnung des Kultministeriums über die Verfassung der Universität Tübingen" vom 25. November 1933 besiegelt, mit der die Verfassung von 1 9 1 2 geändert wurde. Er schien eher erleichtert zu sein, als dass er seiner Arbeit als "Gleichschaltungskommissar" nachtrauerte. Im Januar 1934 schrieb er: "Die Kanzlergeschäfte führe ich übrigens nicht mehr. Nach der neuen Univ.-Verfassung haben wir keinen Kanzler mehr, weil der vom Kultminister eingesetzte Rektor der alleinige Führer der Hochschule und zugleich Vertrauensmann des Ministeriums ist. Ich bin froh, dass ich mich jetzt ganz meiner Professur widmen kann." 141

3.3 Die Dozentenführer Die Universität Tübingen war 1933 schon längst keine reine Ordinarienuniversität mehr. Nach der Jahrhundertwende hatten sich reichsweit mehr und mehr die Nichtordinarien und die Privatdozenten organisiert, um Stimmrecht in den univer­ sitären Selbstverwaltungsgremien zu bekommen. Mit der wachsenden Zahl der etatmäßigen Extraordinariate und Privatdozenten wurde immer deutlicher, dass ohne diese Mittelbaustellen der Lehr- und Forschungsbetrieb nicht mehr aufrecht­ erhalten werden konnte. In Tübingen hatte im reichsweiten Vergleich das Ministe­ rium mit Zustimmung der Ordinarien im Senat den Forderungen der Nichtordina­ rien sehr früh entsprochen 142 In der Universitätsverfassung von 1 9 1 2 wurde fest­ gelegt, dass etatmäßige Extraordinarien mit drei Vertretern im Großen Senat und einem Vertreter im Kleinen Senat stimm- und antragsberechtigt waren. Und auch in den Fakultäten bekamen sie Mitwirkungsrechte. Was die Beteiligung der Nichtor­ dinarien an der Hochschulverwaltung betrifft, hatte Tübingen hier die fortschritt­ lichste Universitätsverfassung des Kaiserreichs. An allen anderen Hochschulen tra­ ten die Reformen erst in den 1 920er Jahren ein. In der Weimarer Republik wurden in Tübingen die Stimmrechte der Nichtordinarien weiter ausgebaut: Etatmäßige Extraordinarien entsandten sechs und Privatdozenten erstmals zwei Vertreter in den Großen Senat. Die Nationalsozialisten konnten sich in den ersten Monaten ihrer Herrschaft auf eine äußerst politisierte Dozentenschaft stützen. Allerdings gab es 1933 an den deutschen Hochschulen noch keine parteipolitische Dozentenorganisation, die effi­ zient und systematisch die Universität auf nationalsozialistischen Kurs zu bringen, geschweige denn erheblichen Einfluss auf die Personalrekrutierung nach national­ sozialistischen, politischen und rassischen Maßstäben auszuüben vermochte. Des­ wegen war die NSDAP auf einzelne Personen angewiesen, die als Mitglied des Lehrkörpers sich an ihrer jeweiligen Alma Mater im nationalsozialistischen Sinne engagierten. Es waren hauptsächlich junge Nachwuchswissenschaftler, die sich den Parteigliederungen als die geeignetsten Vertrauenspersonen anboten. 141 Zitiert in Besenfelder 2002, 106f. 142 Zur Universitätsverfassung von 1912 und Nichtordinarienbewegung in Tübingen siehe Palet­ schek 200 1 , 168-178.

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In der Anfangszeit ernannte der bereits in den 20er Jahren gegründete Natio­ nalsozialistische Lehrer-Bund Vertrauensmänner oder Obleute, um die nationalso­ zialistische Politisierung zu erreichen. Sie entfalteten eine rege Tätigkeit, übten er­ heblichen Einfluss auf die Personalentscheidungen aus und beteiligten sich massiv an Verdrängungs- und Verleumdungskampagnen gegen der Partei missliebige Hochschullehrer. Effizient arbeiteten vor allem die Vertrauensleute der NSDAP an den Medizini­ schen Fakultäten, die systematisch vom Reichsärzteführer Gerhard Wagner Ende 1933 auf Geheiß des Stellvertreters des Führers (StdF), Rudolf HeB, platziert wur­ den 143 In einem Schreiben des Stellvertreters des Führers an den Rektor der Uni­ versität Tübingen vom 18. Januar 1934 - im Auftrag unterzeichnet von Gerhard Wagner - wurde Rupprecht Matthaei als der Vertrauensmann der Reichsleitung der NSDAP in der Medizinischen Fakultät benannt. Matthaei solle, so wurde dekre­ tiert, "zu allen Sitzungen der medizinischen Fakultät, des Senats und allen zu Son­ derzwecken eingesetzten Kommissionen der Fakultät und des Senats" zugezogen werden. Der Rektor solle sich auch sonst "bei wichtigen Angelegenheiten, vor allen solchen hochschulpolitischer Art, mit [Matthaeil in Verbindung setzen" 144 Gegen diese Eigenmächtigkeiten von Parteidienststellen wurden an manchen Universitä­ ten wenn nicht offene Proteste, so doch Bedenken laut. Auch in Tübingen wandte sich der Dekan der Medizinischen Fakultät Albrecht in einem Schreiben vom 24. Januar 1934 an den Rektor und wies ihn darauf hin, dass die Verfügung des Stell­ vertreters des Führers im Widerspruch zur Universitätsverfassung stand, in der die Vertreter der Privatdozenten nicht an Habilitationsverfahren teilnehmen durften 145 Sollte Matthaei tatsächlich zu allen Sitzungen hinzugezogen werden, würde das ferner bedeuten, dass er das Recht habe, "im Anschluss an den Probevortrag seinen Mitassistenten zu prüfen und Fragen an ihn zu richten", um schließlich sein Urteil abzugeben. Der Vorgang einer solchen Beteiligung von Nichtordinarien erschien ungeheu­ erlich. Matthaei wurde wohl auch weiterhin bei Habilitationsfragen im Fakultätsrat nicht hinzugezogen, so dass er sich im Oktober 1934 an den Kultminister wandte, um auf den "Übelstand" hinzuweisen.146 Er erinnerte darin Mergenthaler an dessen Worte anlässlich eines Besuchs in Tübingen, es dürfe "keinen Unterschied geben zwischen dem ältesten Ordinarius und dem jüngsten Privatdozenten". In diesem von Parteidienststellen hervorgerufenen Konflikt über die Teilnahme von Nichtor­ dinarien an hochschulpolitischen Fragen gingen alte Kampfmuster der seit den 20er Jahren erstarkenden Nichtordinarienbewegung und neue nationalsozialisti­ sche Hochschulpolitik Hand in Hand.

143 Siehe auch Adam 1977, 59ff. Für einen Überblick über die Medizinischen Fakultäten an deutschen Hochschulen vgl. Kater 2000, 189-248. 144 UAT 117/307, 12. 145 Ebd. 146 Ebd. Der Rektor schien zwischenzeitlich ein Rechtsgutachten der Rechts- und wirtschaftswis­ senschaftlichen Fakultät angeordnet zu haben, das ihm im November 1934 zusicherte, eine Teilnahme von Privatdozenten im Fakultätsrat bei Habilitationen sei zu bejahen.

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Von den Vertrauensmännern hielt sich jedoch kaum einer länger als bis zum Wintersemester 1933/34. Nicht selten machten sich die ersten Protagonisten einer nationalsozialistischen Umformung der Universität äußerst unbeliebt, und das nicht nur in Kreisen, die der Partei fernstanden 147 Im Gegensatz zu Preußen, wo in den ,,[v]orläufigen Maßnahmen zur Vereinfa­ chung der Hochschulverwaltung" vom 25. Oktober 1933 ein Führer der Dozenten­ schaft institutionalisiert wurde, war in Württemberg ein solches Amt nicht vorgese­ hen 148 Obgleich eine rechtliche Grundlage fehlte, gründete Rupprecht Matthaei bereits im Februar 1934 eine Vereinigung von Assistenten und außerplanmäßigen Dozenten. Er band sie sowohl an die Reichsdozentenschaft als auch an den Natio­ nalsozialistischen Lehrerbund an 149 In den Richtlinien zur Vereinheitlichung der Hochschulverwaltung vom 1 . April 1935 wurden die "Dozentenschaft" und auch die "Studentenschaft" zu selbstständigen Gliedkörperschaften der Hochschule mit eigenen Rechten und Pflichten erhoben. Vorgesehen war eine Trias der Hochschul­ führung, bestehend aus dem Führerrektor und den Leitern der Dozentenschaft und Studentenschaft, welche Ersterem in einem Führer-Gefolgschaftsverhältnis direkt unterstanden. Verglichen mit dem Studentenbund wurde im Juli 1935 relativ spät der Natio­ nalsozialistische Deutsche Dozentenbund (NSDDB) als Gliederung der NSDAP gegründet. Zunächst umfasste er alle Parteimitglieder unter den Hochschullehrern, die Mitgliedschaft als Voraussetzung für den Beitritt wurde jedoch bereits 1936 wieder aufgehoben. 1939 bestand zwischen Dozentenschaftleitung und Dozenten­ bundführung fast immer Personalunion. Die Dozentenschaftleiter und später die Dozentenbundführer setzten fort, was die Vertrauensmänner in den Anfangsmonaten nationalsozialistischer Herrschaft begonnen hatten: eine massive Einflussnahme auf alle personellen Hochschulange­ legenheiten. Wie sehr der Grad der Einmischung von Hochschule zu Hochschule differierte, war erheblich von der Amtsauffassung und Persönlichkeit des jeweili­ gen Dozentenführers sowie von der Führungskraft des Rektors abhängig. An man­ chen Universitäten bildete sich ein Dualismus zwischen Rektor und Dozentenfüh­ rer heraus, so dass man mit Hellrnut Seier vom Dozentenführer als einem Ersatz­ oder Gegenrektor sprechen könnte.150 Mancherorts entwickelte sich aber auch eine 147 So etwa der Bonner Psychologe Walter Poppelreuter, seit 1931 NSDAP-Mitglied und Grün­ dungsmitglied des Nationalsozialistischen Lehrerbunds. Seine Angriffslust - Mitte April ver­ langte er gar den Rücktritt des Rektors, der Dekane und Senatsmitglieder und stieß damit auf Widerstand des Ministeriums und des Oberbürgermeisters - traf auf wenig Gegenliebe selbst unter den Nationalsozialisten; siehe Höpfner 1999, 99f. 148 Im Reichserziehungsministerium dachte man zuerst daran, auch einen "nationalsozialistischen Ordinarius zum Vertreter der Dozentenschaft bestellen zu können". Dies scheiterte allerdings daran, dass es an solchen zu Beginn weitestgehend fehlte, so dass die Führungsposten dann doch meist in den Händen von Nichtordinarien verblieb; siehe Harnmerstein 1989, 256. 149 Siehe hierzu seine Berichterstattung im Großen Senat, UAT 47/40, Sitzungsprotokoll Großer Senat vom 1.3.1934, 220: Über die Dozentenschaft heißt es, "sie sei eine ständische Organisa­ tion des akademischen Nachwuchses und habe die Aufgabe, den neuen Typus des akademi­ schen Lehrers zu gestalten". 150 Siehe Seier 1984, 135ff.

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rege Zusammenarbeit zwischen den beiden Führungspersönlichkeiten, so dass es schwierig ist, eine reichseinheitliche Entwicklung auszumachen.l5l Nicht so spektakulär wie die Einmischung in Berufungsverfahren, deswegen nicht weniger tief greifend, war ein weiteres Aktionsfeld des Dozentenschaftsfüh­ rers. Jeder einzelne Jungwissenschaftler wurde, zumal wenn er durch universitäre Einrichtungen finanziell gefördert wurde oder gar auf eine AssistentensteIle hoffen durfte, vom Führer der Dozentenschaft hinsichtlich seiner politischen und charak­ terlichen Zuverlässigkeit begutachtet. In der Nachwuchsförderung sahen die Do­ zentenführer einen Beitrag dazu, die zukünftige Universität im nationalsozialisti­ schen Sinne vorzubereiten. Trotz der inneruniversitären Eingriffe vonseiten der Dozentenbundsführer kam dem NS-Dozentenbund auf Reichsebene keine führende Rolle zu.152 Zwar bestan­ den enge Verbindungen zwischen den Dozentenführern, und bei Berufungsfragen flossen Informationen zwischen den Universitäten, es kam jedoch nicht zur Errich­ tung einer reichseinheitlichen Kartei und Beurteilung von Hochschullehrern. In Tübingen nahmen die Leiter der Dozentenschaft beziehungsweise die Do­ zentenbundsführer allesamt äußerst engagiert Einfluss auf die Belange der Hoch­ schulpolitik. So kann im Gegensatz zu anderen Universitäten, wo der Einfluss der Dozentenführer nicht über die Organisation der Dozentenlager hinaus reichte, in Tübingen tatsächlich von einem Dualismus zwischen Rektor und Dozentenführer ausgegangen werden. Drei der vier Dozentenführer stammten aus der Medizini­ schen Fakultät. Der Reihenfolge ihrer Amtszeit nach waren dies: der Physiologe Rupprecht Matthaei bis 1935, Erich Schönhardt aus der naturwissenschaftlichen Fakultät bis Herbst 1936, der Assistenzarzt für Kinderheilkunde Walter Schwenk bis November 1938 und schließlich Robert Wetze!. Bereits Matthaei hatte sich in Berufungsfragen massiv in die Entscheidungen des Senats eingemischt.153 Und auch sein Nachfolger Erich Schönhardt setzte diese Tradition fort.154 Gravierender noch waren die Eingriffe Walter Schwenks, be­ schränkte sich dieser doch nicht nur auf Personalfragen, sondern wollte auch die fachliche Ausrichtung der Universität dem nationalsozialistischen Zeitgeist anpas­ sen. In einem Schreiben vom 15. September 1937 stellte er dem Rektor Friedrich 151 Allgemein stehen vergleichende Studien noch aus. Zu den verschiedenen Positionen der Do­ zentenführer siehe beispielsweise Eckart 2006, 30--5 2; Höpfuer 1999, 98-110; Harnmerstein 1989, 260ff; Chroust 1994, 199. 152 Siehe hierzu Harnmerstein 1989, 259. 153 Siehe Adam 1977, 128ff. Dass die Medizinische Fakultät innerhalb kürzester Zeit gleichge­ schaltet wurde, war vor allem Matthaeis Verdienst. Insbesondere unterstützte er den Parteige­ nossen Willy UsadeI, der zum Direktor der Chirurgischen Klinik berufen wurde, und trat auch bei der Neubesetzung des Lehrstuhls für Innere Medizin gegen die vom Senat aufgestellte Kandidatenliste an. Matthaei hatte in beiden Fällen sowohl die Senatsmitglieder als auch die eigene Fakultät gegen sich, ging jedoch erfolgreich aus den Machtkämpfen hervor. 154 Schönhardt setzte sich vor allem für die Berufung von Hermann Hoffmann auf den Lehrstuhl für Psychiatrie ein und opponierte gegen Ernst Kretschmer, dessen Berufung vor allem von denjenigen gewünscht werde, "die an einer Stärkung des NS an unserer Universität kein allzu großes Interesse haben"; siehe Adam 1977, 140; vgl. auch den Beitrag von Klaus-Rainer Brint­ zinger in diesem Band.

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Focke unumwunden die Frage, ob die Angehörigen der beiden Theologischen Fa­ kultäten noch zu "förderungswürdigen Nachwuchs" gezählt werden könnten.155 Der Kampf gegen die theologischen Fakultäten, die in einer nationalsozialisti­ schen Universität keinen Platz mehr haben sollten, wurde noch vehementer von seinem Nachfolger Robert Wetzel fortgeführt. Er löste mit Beginn des Winter se­ mesters 193 8/39 Schwenk im Amt des Dozentenführers ab. WetzeI, der bereits seit 1937 Prorektor der Universität war, entfaltete eine rege Gutachtertätigkeit sowohl bei Berufungsfragen als auch in der Beurteilung des wissenschaftlichen Nachwuch­ ses, etwa bei der Verleihung von Dozenturen. Philip Scharer weist in seinem bio­ graphischen Beitrag über Wetzel in diesem Sammelband darauf hin, dass sich die Vorstellungen WetzeIs bezüglich der Eignung des jeweiligen Kandidaten nicht hauptsächlich auf die politische Zuverlässigkeit stützten. Die von ihm angelegten Kriterien bezogen sich vielmehr auf eine charakterliche Eignung, die nicht nur überzeugte, linientreue und aktive Nationalsozialisten, sondern auch eher zurück­ haltende Mitläufer erfüllen konnten. Freilich näherten sich die von Wetzel favori­ sierten Charakterzüge in vielem dem von den Nationalsozialisten propagierten neuen Dozententypus, so dass sie häufig mit der politischen Zuverlässigkeit zusam­ menfielen. Nichtsdestotrotz war der Einfluss des Dozentenführers Wetzel in Personalfra­ gen bedeutend, wenn nicht gar entscheidend. Nachdem Hoffmann zum Kriegs­ dienst eingezogen worden war, übernahm Wetzel überdies als Prorektor das stell­ vertretende Amt des Rektors, was seinen Einfluss in den Kriegsjahren noch erheb­ lich gesteigert haben dürfte. Die über die Jahre unangefochtene Machtposition des Dozentenführers Wetzel geriet jedoch ins Wanken. Der Dozentenführer hatte sich sehr für die Errichtung einer "Reichsuniversität" Tübingen eingesetzt - ein Projekt, das bereits 1933 vom Bevollmächtigten Gustav Bebermeyer verfolgt und vom Reichserziehungsministe­ rium in den ersten Kriegsjahren weiter ausgebaut wurde. Dies brachte ihn in offe­ nen Konflikt mit Mergenthaler und führte kurz vor Kriegsende dazu, dass Wetzel abgesetzt wurde.

3.4 Studentenführer

An etlichen Hochschulen des Deutschen Reichs nutzten nationalsozialistische Stu­ denten 1933 geschickt die Tatsache aus, dass sie als einzige hochschulinterne Grup­ pierung auf eine bereits Jahre zuvor aufgebaute Organisation, den Nationalsozialis­ tischen Deutschen Studentenbund (NSDStB), zurückgreifen konnten. Die ersten örtlichen nationalsozialistischen Studentengruppen hatten sich bereits 1922/23 ge-

155 Adam 1977, 8 1 . In einem Schreiben an den Kultminister vom 23.9.1937 setzte sich Focke nicht wirklich für die beiden Theologischen Fakultäten ein. Er ließ lediglich verlauten, dass seiner Ansicht nach die Angehörigen der beiden Theologischen Fakultäten solange nicht von der Förderung ausgeschlossen werden dürften, als beide Fakultäten Glieder der Universität seien; siehe ebd., 109-110.

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bildet 156 Der NSDStB als überregionale Organisation wurde 1926 ins Leben geru­ fen. Mit der Politik des neuen Reichsleiters Baldur von Schirach gelang es schließ­ lich dem NSDStB am Ende der 20er Jahre, weite Kreise der Studenten zu erreichen. Im Gegensatz zu der nationalsozialistischen Dozentenschaft, welche über eine solche Organisation nicht verfügte und nur langsam ihren Einfluss geltend machen konnte, mischten sich die Leiter der Studentenschaft besonders in den Anfangsjah­ ren nationalsozialistischer Herrschaft massiv in universitäre Belange ein. Der NSDStB sah sich als die treibende Kraft, um die Universität auf nationalsozialisti­ schen Kurs zu bringen. Als diese erste Politisierungswelle der Hochschulen im Laufe des Jahres 1934 zu Ende ging, begann ihr Einfluss jedoch wieder zu sinken. Erst ab November 1936, als Gustav Adolf Scheel zum Reichsstudentenführer er­ nannt wurde, gewann der NSDStB wieder an Einfluss. In Tübingen wurde im Sommersemester 1926 eine Ortsgruppe des NSDStB ins Leben gerufen. Der Gründung war eine tumultartige Konfrontation zwischen den sozialistischen Tübinger Studenten und den national-konservativen Gruppierungen vorausgegangen, die unter dem Namen "Die Schlacht von Lustnau" in die Tübin­ ger Universitätsgeschichte eingegangen ist 157 Gewaltsam versuchten einige natio­ nalistische Studenten, einen Vortrag des Heidelberger Privatdozenten Emil Julius Gumbel zu verhindern. Seine Äußerung zum Tod deutscher Soldaten im Ersten Weltkrieg - sie seien, "ich will nicht sagen, auf dem Felde der Unehre gefallen [ . . . ] , aber [ . . . ] doch auf grässliche Weise ums Leben" gekommen - hatte bereits kurz zuvor in Heidelberg heftige Reaktionen ausgelöst 158 Der NSDStB verzeichnete in den folgenden Jahren einen zunehmenden Erfolg in der Studentenschaft. Bei den AStA-Wahlen im Juli 1932 lag sein Stimmanteil bei 43,6 % 159 Obwohl er im Februar 1933, bei den letzten AStA-Wahlen, an Ein­ fluss einbüßte, kam er immer noch als stärkste Fraktion auf 39,7 % der Stimmen 1 60 Zu diesem Zeitpunkt konnten nur noch die konfessionellen Studentengruppierun­ gen dem NSDStB die Stirn bieten. Der Evangelische Studentenring errang 16,5 %, und der Ring der katholischen Studenten 17,5 % der studentischen Stimmen. Der Nationale Studentenblock von "Stahlhelm" und die verbindungsübergreifende Sammelbewegung "Hochschulring Deutscher Art" kamen auf insgesamt 20 %. Die

156 Zum Folgenden vgl. Grüttner 1995, 19ff. 157 Siehe hierzu ausführlich Lange 1999. Die sozialistische Tübinger Studentengruppe war im politischen Spekttum der Studentenschaft nahezu unbedeutend, nach Ansicht des damaligen Vorsitzenden Arno Göhring bestand sie aus ,,8-10 Mitgliedern [ . . . ] ein Stammtisch von theo­ retisierenden Marxisten, sonst nichts als verlacht von den Nazis und den Stahlhelmem"; siehe Lüdtke 1977, 104. 158 Siehe hierzu ausführlicher Wolgast 1993; Brenner 2001; Jansen 1991. 159 Adam 1977, 24. 160 1m reichsweiten Vergleich lag Tübingen mit diesem Ergebnis jedoch noch leicht unter dem Durchschnitt (im reichsweiten Durchschnitt verfielen in den Wahlen von 1932 49,1 % der Stimmen auf den NSDStB und in den Wahlen von 1933 41,3 %); siehe Grüttner 1995, Tabelle 25, 496. Die angegebenen Zahlen beziehen sich lediglich auf die Universitäten und nicht auf die Technischen Hochschulen.

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linke Einheitsfront - seit jeher sehr schwach in Tübingen - erhielt gerade einmal 5 % der Stimmen 1 6 1 Die nationalsozialistische Studentenführung machte es sich zu ihrem erklärten Ziel, sowohl die Studentenschaft zu politisieren als auch Druck auf die Universi­ tätsleitungen auszuüben, um missliebige und politisch unzuverlässige Dozenten ihrer Posten zu entheben. Tumulte, Boykotte und Denunziationen waren ihr politi­ sches Aktionsfeld. Der starke studentische Politisierungs- und Nazifizierungsprozess an der Uni­ versität Tübingen muss auch vor dem Hintergrund der strukturellen Probleme gese­ hen werden, mit denen sich die Universität in den 30er Jahren konfrontiert sah. Kennzeichnend für dieses Jahrzehnt war ein ständiges Krisenbewusstsein. Ange­ sichts der steigenden Studierendenzahlen begann man nun, von einer Überfüllungs­ krise zu sprechen und den großen Konkurrenzkampf unter den Nachwuchswissen­ schaftlern zu beklagen 1 62 Noch Ende der 20er Jahre war die steigende Universi­ tätsfrequenz durchaus positiv bewertet worden.1 63 Die Tübinger Rektoren vermerk­ ten stets mit einigem Stolz die für Studenten augenscheinliche Attraktivität der Eberhard-Karls-Universität. Die Kehrtwende in der Wahrnehmung kam abrupt und fiel umso harscher aus. Nun wurden die steigenden Studentenzahlen nicht mit Leis­ tungsstärke, sondern mit der tiefen Krise gleichgesetzt. Der Gedanke, der Zugang zum Studium müsse stärker beschränkt werden, lag hier nahe. Die Überfüllungs­ krise Anfang der 30er Jahre hatte sicherlich nicht unerheblich dazu beigetragen, dass das "Gesetz gegen die Überfüllung der Schulen und Hochschulen" vom 25. April 1933 diskussionslos an den Hochschulen begrüßt wurde, und dies, obwohl zwischen Sommersemester 1932 und Sommersemester 1933 bereits ein Rückgang zu verzeichnen war - der Beginn eines historisch beispiellosen Einbruchs der Stu­ dierendenzahlen bis etwa 193 8/39 164 Der NSDStB versuchte auch innerhalb der universitätspolitischen Institutionen seinen Einfluss geltend zu machen. Offiziell sah die Universitätsverfassung nicht vor, dass die Studentenführer bei der Besetzung von Lehrstühlen mitwirken konn­ ten. Im Senat erfuhren sie jedoch von einer anstehenden Berufung beziehungsweise der Kandidatenliste und konnten im Vorfeld Erkundigungen einziehen und diese 161 Siehe Lüdtke 1977, 104. 162 Paletschek 200 1 , 66ff. Die Zahl der Studierenden an der Tübinger Universität stieg seit dem Kaiserreich stetig an. Etwa 800 Studenten besuchten Anfang 1870 die Universität. Im Jahr 1931 - dem Höhepunkt des Aufwärtstrends - war die Zahl von 4000 dann erreicht. 163 Ebd., 134ff. 164 Waren an der Tübinger Alma Mater im Sommersemester 1932 3 944 Studierende eingeschrie­ ben, waren es ein Jahr später noch 3 450. Bis zum Sommer 1939 sank die Zahl um mehr als die Hälfte auf 1 542 Studierende. In den ersten Kriegsjahren überschritt die Studierendenzahl nicht einmal mehr die 1 OOOer-Marke, konnte sich aber bis Ende des Krieges wieder mehr als ver­ doppeln (Wintersemester 1944/45: 2088 Studenten). Auch die Zahl der Dissertationen fiel von 238 im Wintersemester 1932/33 auf einen Tiefstand von 97 im Sommersemester 1941 und er­ holte sich dann wieder. Der Nachwuchsmangel wurde an den deutschen Universitäten beson­ ders vor dem Krieg Gegenstand immer wiederkehrender Klagen; siehe hierzu Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, herausgegeben vom Statistischen Reichsamt, Jahrgang 52, Berlin 1933, 522f.; SetzIer 1977, 217-227.

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dann über die Reichsstudentenführung an den Stab des Stellvertreters des Führers weiterleiten. Trotz zahlreicher, vehement vorgetragener Forderungen nach einem direkten Vetorecht bei Berufungen und einem Mitspracherecht bei der Errichtung neuer Lehrstühle blieben diese erweiterten Einflussmöglichkeiten den Studentenführern an vielen Universitäten verwehrt. In Tübingen allerdings erkämpften sich die Stu­ denten ein Mitspracherecht bei Berufungen. In einer Unterredung am 3 . Juli 1933, an welcher der Rektor, Kommissar Bebermeyer, die Dekane, die Professoren Ger­ ber und Haering, der Universitätsrat sowie die Studierenden Martin Sandberger, earl Unger und Gerhard Schumann teilnahmen, konnte man sich nach einer hitzi­ gen Diskussion darauf einigen, dass "in Berufungsangelegenheiten der Führer der Studentenschaft bezw. sein Vertreter zugezogen" werden musste 165 Zudem sollten die Dekane die Führer der Studentenschaft beziehungsweise die Fachschaftsvertre­ ter über eine Fakultätssitzung benachrichtigen und mit ihnen die Tagesordnung be­ sprechen. Eine Einladung zur Sitzung erfolge nur, wenn dies ausdrücklich ge­ wünscht wurde. Das Gleiche galt für den Rektor und die Sitzungen des Großen und Kleinen Senats. Trotz dieser Zugeständnisse behielten sich der Rektor und die De­ kane das Recht vor, von der Einbeziehung der Studenten abzusehen, falls sie dies für notwendig hielten. Mitwirken konnten die Studenten in den Angelegenheiten, die sie unmittelbar betrafen, nämlich bei der Lehre und der "Schaffung neuer Lehr­ stühle, der Einrichtung neuer Kurse und anderer Erweiterungen des Unterrichts" .1 66 Es ist erstaunlich, wie konziliant sich die Ordinarien zeigten und wie weit sie den Studenten entgegenkamen. Die studentischen Drohungen, den Universitäts­ frieden durch Tumulte, Ausschreitungen und Boykotte erheblich zu stören, schie­ nen beim Rektor und den Professoren Wirkung gezeigt zu haben.1 67 Das gegensei­ tige Vertrauen, das zwischen Studenten und den Lehrenden wiederhergestellt wer­ den sollte, stand auf beiden Seiten im Mittelpunkt des Interesses. Der Direktor der Nervenklinik Robert Gaupp gestand den Studierenden durchaus zu, gerade in Fra­ gen der Lehre gehört zu werden. Die Überprüfung der persönlichen Eignung der zu Berufenden sei ja auch bisher geprüft worden, so Heinrich Stoll. Und Ernst Sittig

165 UAT 117/134. Neben Tübingen kam es nur an wenigen Universitäten zu einer Beteiligung der Studenten an der Hochschulpolitik: In Heidelberg wurden Studenten an der Medizinischen und an der Philosophischen Fakultät zur Beratung bei der Besetzung von Lehrstühlen einbezogen. An der Technischen Hochschule Stuttgart hatten die Studenten ein Mitspracherecht bei der Besetzung von Professuren; siehe Grüttner 1995, 82f. 166 UAT 117/134. 167 Eine konziliante, um nicht zu sagen konturlose Haltung hatte die Universitätsleitung von den Anfangen der studentischen Agitation im Frühjahr 1933 an den Tag gelegt. Anfang März ver­ einbarte der Rektor Paul Simon und der Studentenführer Gerhard Schumann, dass die parteipo­ litische Hakenkreuzfahne zwar generell nicht auf den Dächern von öffentlichen Gebäuden ge­ hisst werden dürfte, dass eine Haupttür der Neuen Aula jedoch offen bliebe, damit die Studen­ ten ungehindert auf das Dach des Gebäudes kommen konnten. Am 9.3. anlässlich einer Kund­ gebung der SA, SS, Stahlhelm und Hitlerjugend wehte dann auch die Flaggen Schwarz-Weiß­ Rot und die Hakenkreuzfahne auf dem Hauptgebäude der Universität; siehe die Aufzeichnun­ gen des Universitätsrats Knapp in: UAT 117/996.

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räumte der Studentenschaft gar ein Vetorecht gegenüber politisch unzuverlässigen Dozenten ein. Kompromissbereit zeigte sich jedoch auch die studentische Seite. Gerhard Schumann legte offen, wie die Studentenführer ihre Erkundigungen nach der poli­ tischen Zuverlässigkeit eines Dozenten einholten, und sicherte zu, dass alle daran beteiligten Studentenschaften zur Verschwiegenheit verpflichtet seien. Gerade die­ ses vernetzte Informationssystem der örtlichen Studentenschaften untereinander mit unmittelbarem Kontakt zum Stellvertreter des Führers war den Ordinarien ein Dorn im Auge. Schumann stimmte jedoch dem Einwand zu, dass es zu weit ginge, wenn Fakultät und studentischer Fachschaftsvertreter nebeneinander Erkundigun­ gen einholten. Auch kam es zu einem gewissen Konsens, dass die Studierenden sich eines rein wissenschaftlichen Urteils über einen Dozenten enthalten sollten. Inwieweit die Tübinger Studentenführung tatsächlich ihren Einfluss in Perso­ nalfragen geltend machen konnte, ist nicht eindeutig zu klären. Soweit die spärli­ che Aktenlage Schlüsse zulässt, schalteten sich die Studentenführer vor allem dann ein, wenn die pädagogischen Fähigkeiten eines Kandidaten zur Beurteilung stan­ den 1 68 Besonders setzten sich die studentischen Vertreter für Dozenten ein, die aus Tübingen kamen. Dies mag dafür sprechen, dass die reichsweite Vernetzung der studentischen nationalsozialistischen Organisationen innerhalb der Universität Tü­ bingen kaum zum Tragen kam. Im Fall der Neubesetzung des LehrstuhIs des Rechtswissenschaftlers Sartorius allerdings brachte die Studentenführung, nach­ dem sie Erkundigungen eingeholt hatte, Bedenken gegenüber der politischen Zu­ verlässigkeit des Greifswalder Kandidaten Arnold Köttgen vor 1 69 Die rechtswis­ senschaftliche Abteilung konnte den Vorwurf jedoch entkräften, nachdem sie den Lehrer Köttgens um Einschätzung seines Schülers gebeten hatte. Da die Akten der NS-Studentenführung im Herbst 1 945 auf Beschluss des geschäftsführenden Vor­ stands der Tübinger Studentenschaft fast vollständig vernichtet wurden, lässt sich ein abschließendes Urteil über den Einfluss der Tübinger Studentenschaft innerhalb der Personalpolitik nicht fallen. Die Machtkämpfe auf der lokalpolitischen, inneruniversitären Bühne zwischen studentischen Aktivisten und den Professoren gewinnen an besonderer Bedeutung, wenn man die späteren Karrierewege der Tübinger Studentenaktivisten innerhalb der NSDAP und der SS betrachtet.170 Ein ungewöhnlich hoher Prozentsatz der na­ tionalsozialistischen Studenten der Universität Tübingen war später in hohen Par­ teistelIen aktiv. Die Alma Mater war in dieser Hinsicht ihre erste politische Bühne. 168 So etwa bei der Wiederbesetzung des Lehrstuhls für Neues Testament an der Katholisch-theo­ logischen Fakultät. Mit Verweis auf seine ausgezeichneten Lehrleistungen schlug der studenti­ sche Vertreter im Senat Unger vor, Stefan Lösch auf der Berufungsliste vom dritten auf den zweiten Platz vorzurücken; UAT 47/40, Sitzungsprotokoll Großer Senat vom 20.7. 1 933, 194f. Ebenso bei der Besetzung des ordentlichen Lehrstuhls für Anatomie, bei der sich der Student Saniter für den Dozenten Oertel mit den Worten einsetzte, "er sei den Studenten ganz beson­ ders ans Herz gewachsen"; UAT 47/40, Sitzungsprotokoll Großer Senat vom 27.7.1933, 199201. Auch bei der Berufung Rober! WetzeIs hatten sich Studenten für ihn eingesetzt. 169 Siehe Adam 1977, 126f. 170 Siehe hierzu ausführlicher die Beiträge von Michael Wildt und Horst Junginger in diesem Band.

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Dass ihnen gerade in der tumultartigen Anfangszeit nationalsozialistischer Herr­ schaft vonseiten der Universitätsleitung so wenig Gegenwehr entgegengesetzt wurde, mag für ihre weitere politische Sozialisation sowie für ihr Selbstverständnis in den leitenden Parteistellen eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben.

4. Personalpolitik: Habilitationen und Berufungen Gleichschaltungspolitik bedeutete in hohem Maße Personalpolitik. Die Nationalso­ zialisten bedienten sich in ihrem Bestreben, die deutschen Universitäten ideolo­ gisch auf Linie zu bringen und in ihre politischen Dienste zu stellen, eines vielge­ staltigen Instrumentariums. Am Anfang stand die Entlassung von rassisch und po­ litisch Unliebsamen mit Hilfe des "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbe­ amtenturns" vom 7. April 1933. Dass es an der Universität Tübingen sehr viel we­ niger einschneidende Wirkung entfaltete als an anderen Hochschulen oder in ande­ ren Bereichen des öffentlichen Dienstes, ist sicherlich ein Hinweis auf die schon vor 1933 erreichte hohe politische und konfessionelle respektive ,rassische' Homo­ genität des Lehrkörpers.l71 Ergänzt wurde diese staatlich implementierte systema­ tische Diskriminierung durch einen hohen, mehr oder minder informellen Anpas­ sungsdruck innerhalb der Universität, der sich beispielsweise in einer offenbar be­ achtlichen Zahl von Denunziationen manifestierte, die, vielfach aus studentischen Kreisen kommend, manchen Hochschullehrer zumindest unter erheblichen Recht­ fertigungsdruck setzten, wenn nicht Karrieren dadurch sogar in Frage gestellt wur­ den. Es herrschte eine aufgeheizte Atmosphäre politischer Verdächtigungen, der Herr zu werden offensichtlich nicht ganz einfach war. l72 Positive Anreize waren ein weiterer wirkungsvoller Mechanismus der Gleich­ schaltungspolitik. Indem beispielsweise, wie oben mit Blick etwa auf Urgeschichte und Rassenkunde gezeigt, ideologisch attraktive Fächer und Fragestellungen durch Förderungen institutionell aufgewertet und materiell unterstützt wurden, wurde nicht zuletzt eine entsprechende wissenschaftliche Neuorientierung propagiert und attraktiv gemacht. Die NS-Hochschulpolitik hatte also zwei Seiten, die eng aufeinander bezogen waren und sich nicht voneinander trennen lassen. Zum einen übte das neue Regime einen hohen ideologischen Anpassungsdruck aus. Es verlangte von den Hochschul­ lehrern öffentliche Bekenntnisse zur neuen politischen Ordnung, ebenso wie ent­ sprechende wissenschaftliche Reverenzen, die vor allem nach der Gründung welt­ anschaulicher Zensurinstanzen schnell zu einer verbreiteten Pflichtübung wurden. Wie unverhohlen repressiv diese Mechanismen waren, zeigte sich vor allem im Falle mangelnder Anpassung. Anpassungsunwillige Hochschullehrer hatten Diszi-

171 Vgl. Adam 1977, 36f. 172 Vgl. ebd., 75f. Ferner UAT 131/115, I, Sitzungsprotokoll der Philosophischen Fakultät vom 16.3.1933: "Um den Denunziationen entgegenzuwirken, soll Herr [ . . . ] Koll[ege] Bebermeyer gebeten werden, in Zukunft Denunziationen nur entgegenzunehmen, wenn der Denunziant sich bereit erklärt, in seiner Gegenwart dem Denunzierten gegenüberzutreten."

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plinar-, im Extremfall auch Strafverfahren zu gewärtigen, ferner die Verweigerung der Druckerlaubnis durch die ZensursteIlen und nicht zuletzt die Verhinderung oder doch zeitliche Verzögerung von Karriereschritten wie Habilitation oder Berufung. Zum anderen aber eröffnete die NS-Politik auch zahlreiche Chancen. Diese umfassten nicht nur den in vielen Bereichen von Partei, Staat und Gesellschaft rasch um sich greifenden Nepotismus der "alten Kämpfer", die jetzt für ihre ideolo­ gische Treue belohnt wurden. 173 Gerade auch diejenigen, die mit wachem Sinn die Umgestaltungsversprechen des Regimes als Chance für das eigene berufliche Wei­ terkommen auffassten, vermochten von der Politisierung der Universität zu profi­ tieren. Eine einfache Gleichung, nach der politisches Wohlverhalten ohne Abstri­ che in Erfolg und Aufstieg umgemünzt werden konnte, gab es zwar nicht - dafür waren die Verhältnisse des polykratischen Systems mit seinen vielfaltigen, in Kon­ kurrenz stehenden Seilschaften zu unübersichtlich und unberechenbar. Doch wir­ kungslos war politische Anpassung nicht. Das NS-System lockte mit dem Verspre­ chen von Aufstiegsmobilität, ein Bekenntnis zum Nationalsozialismus sollte nicht unbelohnt bleiben. Ganz handfest konnte dies die Beförderung, die Berufung auf einflussreiche Stellen im Wissenschaftssystem - also nicht allein an den Universi­ täten, sondern auch in außeruniversitären, häufig politiknahen Institutionen - oder, wie im Falle der Reichshabilitationsordnung, eine grundsätzlichen Verbesserung der materiellen Verhältnisse einer ganzen Statusgruppe bedeuten.

4. 1 Habilitationen Der Hebel der nationalsozialistischen Auslesepolitik setzte nicht erst und nicht al­ lein bei der Besetzung der Spitzenpositionen an, sondern schon zu einem weitaus früheren Zeitpunkt in der akademischen Karriere, bei den Nachwuchswissenschaft­ lern. Denn "der Hochschullehrer im nationalsozialistischen Staat", so präzisierte der Reichs- und preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung und Unterricht 1934, müsse "als Erzieher, Lehrer und Forscher besonders strengen Anforderungen an fachliche Eignung, Persönlichkeit und Charakter genügen. Die Auswahl und Formung des Nachwuchses im akademischen Lehramt bedarf daher der denkbar größten Sorgfalt" 174 Die Reichshabilitationsordnung vom Dezember 1934 sollte dafür sorgen, die Nachwuchsrekrutierung an den neuen Grundsätzen zu orientie­ ren.175 Wenn nach den bisherigen Bestimmungen die Habilitation zugleich die Er­ teilung der Lehrbefugnis einschloss, so wurden diese beiden Verfahren nun ge­ trennt. Diese Neuerung stand noch ganz im Zeichen eines vermeintlich drohenden Akademikerüberschusses. Die wissenschaftliche Qualifikation der Habilitation, so wurde bestimmt, sollte unabhängig vom Bedarf an Nachwuchswissenschaftlern verliehen werden, wohingegen die Erteilung der Dozentur sich der jeweiligen Kon­ junktur anzupassen hatte. Folgte die Habilitationsleistung allein wissenschaftlichen 173 Vgl. dazu allgemein Bajohr 2001, 17-34. 174 Reichs- und preußischer Minister für Wissenschaft, Erziehung und Unterricht am 13.12.1934, Rill, Nr. 730/1, in: UAT 117C/39. 175 Adam 1977, 132.

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Maßstäben, so setzte die Erteilung einer Dozentur eine eingehende Beurteilung der didaktischen Fähigkeiten des Kandidaten sowie seiner "persönlichen und charak­ terlichen Eignung als Lehrer an den Hochschulen des nationalsozialistischen Staa­ tes" voraus 176 Dies geschah nicht etwa an der Universität, sondern während eines obligatorischen Dienstes in einem "Wehrsportlager" und in einer "Dozentenaka­ demie" 177 Diesem zweistufigen Verfahren lag klar die Idee eines neuen "Dozen­ tentyps" zugrunde, der sich durch körperliche Tüchtigkeit und weltanschauliche Zuverlässigkeit auszeichnete. 1935 legte das Reichserziehungsministerium nach: Zwar nicht verpflichtend vorgeschrieben, aber von "allergrößtem Wert" sei eine von allen Dozenten und Assistenten bis zum 35. Lebensjahr zu absolvierende zweimonatige Kurzausbildung zum Reserveoffizier. Der Hochschullehrer der Zu­ kunft sollte ein wissenschaftlicher Arbeiter beziehungsweise Soldat im Dienst der nationalsozialistischen Machthaber sein. Bei den Fakultäten stießen diese neuen Anforderungen an den Nachwuchswis­ senschaftler auf keine große Zustimmung. Zwar befürworteten die meisten den Grundgedanken, die Kandidaten wissenschaftlich, didaktisch und charakterlich zu prüfen. Das neue Verfahren schien ihnen jedoch wenig geeignet, die Attraktivität der Universitätslaufbahn zu steigern. Der Abwanderung der besten Köpfe, so be­ fürchteten ausnahmslos alle Fakultäten, werde durch die neue Ordnung nur noch mehr Vorschub geleistet. Da der "junge Gelehrte bei Erteilung des Dr. habil. noch keine Anwärterschaft auf eine akademische Lehrtätigkeit bekommt, wird der Zu­ gang zur Hochschullaufbahn unsicher und stark erschwert", so etwa der Dekan der Naturwissenschaftlichen Fakultät Ernst Lehmann.178 Alle Dekane sahen die Gefahr, dass die Mehrfachbelastung von Gemein­ schaftslager und wissenschaftlicher Arbeit die Bewerber auf eine Hochschullauf­ bahn eher abschrecken könnte. Ferner bemerkte der Dekan der Medizinischen Fa­ kultät Albrecht, dass der Eindruck entstehe, dass dem Gemeinschaftslager und der Dozentenakademie "als der letzten Instanz die entscheidende und maßgebende Be­ deutung für die Beurteilung zukommt". Diese beiden Ausbildungsstätten sehe er lieber zeitlich vor der Beurteilung der Lehrbefähigung, da diese neben der wissen­ schaftlichen Leistung "doch das Wesentliche für den künftigen Dozenten" sei und deshalb "als letzte Krönung" an den Schluss des Prüfganges gestellt werden soll­ te 179 Was in der Stellungnahme Albrechts wie kleinliche Änderungsvorschläge für die Reihenfolge des Prüfungsverfahrens klingt, bedeutete eine auf der hochschul­ politischen Bühne hart umkämpfte Entscheidungshoheit. Wer befand über die Be­ fähigung eines Bewerbers für die Hochschullaufbahn? Waren es letztlich nicht die Leiter der mehr militärisch ausgerichteten Ausbildungslager und Dozentenakade­ mien? Die rhetorisch geschickt verpackte, doch in ihren Grundzügen harsche Kri­ tik der Dekane an der neuen Reichshabilitationsordnung zeigt deutlich, wie die Fa176 Reichs- und preußischer Minister für Wissenschaft, Erziehung und Unterricht am 13.12.1934, Rill, Nr. 73011, in: UAT 117C/39. 177 Für eine genauere Darstellung der Lager siehe für die Universität Göttingen Dahrns 1987, 36f. 178 Zum Folgenden siehe die Diskussion in: UAT 117C/39. 179 Ebd.

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kultäten sich um ihre Rechte bei der Rekrutierung ihres eigenen Nachwuchses sorgten. Zudem wurde von den Fakultäten der Paragraph 9 der neuen Habilitationsord­ nung kritisiert. Darin heißt es: "Die Bewerber um eine Dozentur melden sich unter genauer Begrenzung der beanspruchten Lehrbefugnis beim Reichswissenschaftsrninisterium. Der Reichswissenschaftsrninister weist den Bewerber über die Landesunterrichtsverwaltung einer geeigneten Fakultät zu. " 180

Der Kandidat musste sich demnach nicht für eine bestimmte Universität, sondern für alle deutschen Universitäten bewerben. Ernst Lehmann, der Dekan der natur­ wissenschaftlichen Fakultät, sah hier einen für die Arbeit in einem Laboratorium recht ungünstigen Umstand. Die Personalpolitik solle im Interesse eines reibungs­ losen Forschens und Lehrens in den Händen des Institutsleiters verbleiben, da ge­ rade in den Naturwissenschaften die Arbeit im Labor auf einem "gegenseitigen Vertrauensverhältnis" basiere. Auch die Philosophische Fakultät argumentierte für ein Verbleiben des Nachwuchses an der Heimatuniversität: Sie sei besonders dazu "berufen", so der Dekan Friedrich Focke in einem Schreiben an den Rektor vom 26. Januar 1935, "in Forschung und Lehre die Verbindung mit Landschaft, Stam­ mestum und Landesgeschichte zu pflegen". Dies gelte, so Focke weiter, "für den Historiker sowohl wie für den Germanisten, für den Geographen und den Kunsthis­ toriker sowohl wie für den Psychologen und Pädagogen, vom Volkskundler und Prähistoriker gar nicht zu reden". Auch hier würden bei unvorhersehbaren Zuwei­ sungen und Versetzungen Forschung und Lehre empfindlich behindert.1S1 Dieses vom Dekan der Philosophischen Fakultät vorgebrachte Argument wurde von Dozentenführer Matthaei in seiner Stellungsnahme für die Deutsche Dozenten­ schaft Anfang 1935 fast wortwörtlich übernommen. Seine Ausführungen lesen sich insgesamt wie ein Zusammenschnitt aus den Fakultätsberichten.182 Die Interessen der Jungwissenschaftler an einer reibungsfreien Hochschullaufbahn und diejenigen der Fakultäten, die ihre Rechte bei der Rekrutierung ihres Nachwuchses gewahrt wissen wollten, überschnitten sich in vielen Punkten. Auch ein engagierter Natio­ nalsozialist wie Matthaei sprach sich hier für eine Wahrung der Fakultätsautonomie aus, verflocht dabei aber seine Argumente strategisch geschickt mit Positionen na­ tionalsozialistischer Hochschulpolitik. So wünschte er sich etwa bezüglich des zweistufigen Verfahrens, dass sowohl die rein wissenschaftliche als auch die Prü­ fung der didaktischen und charakterlichen Eignung an den Universitäten selbst im Rahmen des Habilitationsverfahrens und nicht nur in den Ausbildungslagern statt­ finden sollte:

180 Abschrift Reichs-Habilitations-Ordnung, Dezember 1934: Rill, Nr. 730/34, in: ebd. 181 Ebd. 182 Stellungsnahrne zur Reichs-Habilitations-Ordnung vom 13.12.1934 für die Deutsche Dozen­ tenschaft auf deren Rundschreiben vom 10. 1 . 1935 von Rupprecht Matthaei vom 4.2.1935, in: ebd.: "Besonders dürften die Philosophische Fakultät in Forschung und Lehre der engen Ver­ bindung mit Landschaft, Stammesturn und Landesgeschichte nicht entraten können (Volks­ kunde, Vorgeschichte, Geschichte, Kunstgeschichte, Germanistik, Geographie, Psychologie, Pädagogik). "

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"Wir Parteigenossen an den Hochschulen haben schon wiederholt darauf aufmerksam ge­ macht, dass die Beurteilung der Persönlichkeit in der neuen Umgebung eines Lagers oder eines Dozentenlehrganges keine Sicherheit dafür bietet, dass sich der junge Dozent auch in seinem Beruf im Umgang mit Studenten und Berufsgenossen kameradschaftlich bewähren wird. " 183

Dass der Einfluss der Fakultäten durch die neuen Bestimmungen stark zurückge­ drängt wurde, beklagte auch Matthaei in seiner Stellungnahme: "Wenn eine Fakultät zunächst nur über die wissenschaftliche Würdigung für den Dr. habil. zu befinden hat, ohne übersehen zu können, wohin der Bewerber vom Reichskultministerium zur Erlangung der Lehrberechtigung verwiesen werden wird, so wird die persönliche Verantwort­ lichkeit für den Habilitanden darunter leiden."

Dies sei nicht förderlich für eine ruhige Entwicklung des jungen akademischen Lehrers und Forschers. Und Matthaei bedachte auch das "Recht des älteren For­ schers, sich seine Mitarbeiter selbst zu wählen", das durch die neuen Bestimmun­ gen empfindlich gestört würde 1S4 Im Plädoyer, den Einfluss der Fakultäten auf die Nachwuchsrekrutierung zu stärken, waren sich Fakultäten und Dozentenführer also erstaunlich einig. Stiegen einerseits die Anforderungen an eine wissenschaftliche Karriere - was einen nicht unerheblichen Teil der Jungwissenschaftler abschreckte, einen solchen Weg zu bestreiten -, so verbesserten sich andererseits die finanziellen Bedingungen für junge Dozenten grundlegend. Eine Novellierung der Reichshabilitationsord­ nung vom Oktober 1938 bestimmte, dass die Dozenten mit der Verleihung der Lehrbefugnis automatisch in das Beamtenverhältnis berufen werden sollten. Sie waren nun finanziell abgesichert und nicht mehr von häufig jährlich zu verlängern­ den Beihilfen oder Stipendien abhängig.ls5 Die Überleitung in die Dozentur neuer Ordnung erfolgte nur auf Antrag und war mit einer erneuten Prüfung der politischen Zuverlässigkeit verbunden 186 Nach einem Verzeichnis der Dozenten und nicht beamteten außerordentlichen Professo­ ren alter Ordnung vom 5. Juni 1939 betraf dies in Tübingen insgesamt 47 Perso­ nen.187 In einem Schreiben an den Kultminister vom 28. Juli 1939 lehnte der Rek-

183 Ebd. 184 Ebd. 185 Zu einer Übergangslösung bis zum Eintreten der neuen Besoldungsregelung hatte sich der Reichserziehungsrninister bereits im Januar 1938 entschlossen; siehe UAT 117C/41. Die Bei­ hilfen der Dozenten, einschließlich der nicht beamteten außerordentlichen Professoren, richte­ ten sich nach den Dienstaltersstufen. Maßgeblich war der Beginn der Verleihung der Dozentur. Im ersten und zweiten Jahr bedeutete das für ledige Dozenten jährlich 3 195 Reichsmark, für verheiratete 4 132 Reichsmark. Der Satz stieg auf 6588 Reichsmark für ledige und auf 6780 Reichsmark für verheiratete Dozenten im 20. Dienstjahr an. War ein Dozent Familienvater, kamen noch großzügig bemessene Kinderbeihilfen hinzu. Angesichts der Tatsache, dass die Dozenten bis dato nur eine Privatdozentenbeihilfe von monatlich maximal 300 Reichsmark bekamen, bedeutete das im Regelfall eine erheblich finanzielle Verbesserung. 186 Siehe hierzu und zum Folgenden UAT 117C/39. 187 Ebd. Diese verteilten sich auf die verschiedenen Fakultäten folgendermaßen: zehn auf die Na­ turwissenschaftliche Fakultät, 17 auf die Medizinische Fakultät, fünf auf die Rechts- und wirt­ schaftswissenschaftliche Fakultät, 13 auf die Philosophische Fakultät und zwei auf die beiden Theologischen Fakultäten.

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tor auf Grundlage von Gutachten der jeweiligen Dekane und des Dozentenschafts­ leiters sechs Anträge ab. Begründet wurden die Entscheidungen in vier Fällen mit einer ungenügenden Qualifikation als Hochschullehrer und Wissenschaftler sowie mit der Tatsache, dass der AntragssteIler bereits eine außeruniversitäre Stelle inne­ hatte und vonseiten der Universität kein Bedürfnis bestünde, den Kandidaten wei­ terhin auf einer DozentensteIle zu belassen. In zwei Fällen war die Entscheidung explizit politisch begründet, so etwa bei einem Kandidaten aus der rechtswissen­ schaftlichen Abteilung, dessen Lehrtätigkeit und "hervorragendes juristisches Wis­ sen und seine umfassende Allgemeinbildung" zwar sehr gerühmt wurden, seine "menschlichen Qualitäten und seine politische Haltung" jedoch "weniger günstig" ausfielen. lss Der Historiker Hartrnut Titze gibt an, dass die Zahl der reichsweiten Habilitati­ onen zwischen 1933 und 1944 um ein gutes Drittel auf insgesamt 1 534 zurück­ ging 1S9 Seinen Berechnungen zufolge stellt er einen "stetigen Rückgang der Zahl, wohl auch des Niveaus, der akademischen Nachwuchskräfte" fest l90 Diesen be­ sorgniserregenden Leistungsrückgang hatten bereits die Zeitgenossen bemerkt auch an der Universität Tübingen. Selbst ein nationalsozialistischer Aktivist wie der Dozentenführer Walter Schwenk kam nicht umhin, eine sinkende Attraktivität der Hochschulkarriere zu konstatieren. Als Grund dafür gab er das ungeklärte Schicksal der Universitäten beziehungsweise der Hochschulen an: "Es war früher eine Ehre an einer Hochschule arbeiten zu können. Durch Vorwürfe, die man der Hochschule gemacht hat, sehnt sich heute kein junger Akademiker danach, an einem derar­ tigen Platz arbeiten zu dürfen. Sie gehen lieber zum Heer oder in die Industrie. Dort wird gegen sie von keiner Seite ein Vorwurf erhoben. " 1 9 1

Als engagierter Parteifunktionär sah Schwenk den Prestigeverlust, den die Univer­ sität zur Zeit des Nationalsozialismus erlitten hatte, mit Sorge. In seinem Schreiben an den Rektor ging er jedoch nicht so weit, die nationalsozialistische Hochschulpo­ litik an sich für den Ansehensverlust verantwortlich zu machen. Der reichsweite Trend einer sinkenden Habilitationsfrequenz kann für die Uni­ versität Tübingen nicht bestätigt werden. Im Gegenteil: Von 1933 bis 1944 habili­ tierten sich 1 20 ausschließlich männliche Nachwuchswissenschaftler. Darunter be­ fanden sich zehn Wissenschaftler, die sich - von einer anderen Universität kom­ mend - nach Tübingen umhabilitieren ließen. Die Zahl der Habilitationen, so der erstaunliche Befund, sank bis in die Kriegsjahre hinein nicht, zumal wenn man sich die Zahlen aus der Zeit vor 1933 vor Augen führt. Sylvia Paletschek hat vom Kai­ serreich bis in die Weimarer Zeit insgesamt eine steigende Habilitationsfrequenz errechnet. Habilitierten sich im Zeitraum von 1910 bis 1933 150 Privatdozentenl92, 188 Ebd. Im zweiten Fall wurde dem Kandidaten aus der Naturwissenschaftlichen Fakultät sowohl die "menschlichen" als auch die wissenschaftliche Qualifikation abgesprochen. 189 Titze 1989, 235. Titze greift hier auf Zahlen Richard Grunbergers zurück; Grunberger 1974, 401. 190 Ebd. 191 So Schwenk in einem Schreiben an den Rektor vom 15.7.1937, ausführlich zitiert bei Adam 1977, 1 5 1 . 192 Paletschek 2001 , 280.

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waren es in den Jahren von 1933 bis 1 945 1 1 0 193 Auch wenn damit noch nichts über die Verhältnisse in einzelnen Fächern gesagt ist, zeigt sich doch, dass sich der im Kaiserreich einsetzende Trend auch nach 1933 fortsetzte.

4.2 Berufungen So wichtig und wirkungsvoll die verschiedenen Formen der Einflussnahme auf die Nachwuchsförderung auch waren, so besaß die Besetzung der Lehrstühle in der NS-Zeit nach wie vor einen zentralen Stellenwert für die Ausgestaltung von Lehre und Forschung 194 Die Lehrstuhlinhaber blieben die einflussreichste Statusgruppe - im Widerspruch zu den Reformvorstellungen, die sich aus dem Selbstverständnis des Nationalsozialismus als Bewegung der Jungen gegen die gesellschaftliche und politische Präponderanz der älteren Generationen ableiteten und die Machtverhält­ nisse der Ordinarienuniversität in Frage stellten 195 Die beamtenrechtliche Stellung von Professoren jenseits des erwähnten Berufsbeamtengesetzes blieb von den Nati­ onalsozialisten weitgehend unangetastet - so sehr auch in vielen Bereichen der Herrschaftspraxis die staatliche Orientierung an rechtlich fixierten Normen von maßnahmenstaatlichen Eingriffen ausgehebelt wurde.196 Die Berufung eines Pro­ fessors bedeutete weiterhin eine mittel- oder langfristig wirksame Weichen stellung für die Vertretung eines Fachs an einer Hochschule und musste deshalb für eine politisch-ideologisch aktive Hochschulverwaltung zum überaus wichtigen Hebel­ punkt werden. Das galt umso mehr, als die Zahl der Personalentscheidungen be­ achtlich war: Zwischen 1933 und 1 945 wurde von durchschnittlich 70 Professoren­ stellen etwa die Hälfte neu besetzt, wobei die meisten Neuberufungen die beiden mitgliedstärksten Fakultäten - die Philosophische und die Medizinische - betra­ fen 197 Mit dem Verweis auf die Rechtsförmigkeit hochschulpolitischen Handeins in Berufungsangelegenheiten soll nun nicht der Eindruck erweckt werden, hier sei alles beim Alten geblieben, so dass die Besetzung der planmäßigen Ordinariate und Extraordinariate weiterhin in hohem Maße durch das traditionelle Prinzip der Hochschulautonomie bestimmt wurde. Die weitgehend autonome Selbstergänzung durch Kooptation geriet im Gegenteil in zweierlei Hinsicht unter großen Druck. Zum einen wurde der verwaltungsrechtliche Gang der Berufungsverfahren erheb193 Zählt man die 10 Umhabilitierungen nicht mit, so ergibt sich auf die Jahre der nationalsozialis­ tischen Herrschaft verteilt folgendes Bild: 1933: 7; 1934: 6; 1935: 6; 1936: 15; 1937: 8; 1938: 12; 1939: 12; 1940: 1 1 ; 1941: 7; 1942: 3; 1943: 13; 1944: 7; 1945: 2. Bei einer Habilitation konnte das genaue Datum nicht eruiert werden. Die Liste der Habilitationen zwischen 1933 und 1945 wurde vom Universitätsarchiv erstellt und uns freundlicherweise zur Verfügung ge­ stellt. 194 Vgl. zu diesem Abschnitt über Berufungen ausführlich Daniels 2009, Kapitel 3. 195 Für die Bedeutung von Generationenkonftikten für die nationalsozialistische Hochschulpolitik der Zeit der Gleichschaltung vgl. Grüttner 2002 und Kater 1985. 196 Vgl. zur Unterscheidung von "Normen-" und "Maßnahruenstaat" und zu ihrem Neben- und Gegeneinander Fraenkel 200 1 . 197 Basierend auf einer Auswertung der Vorlesungsverzeichnisse.

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lich umgestaltet, was eine Vermehrung der Einfluss nehmenden Akteure, das heißt vor allem eine größere Beteiligung politischer Stellen bedeutete. Daraus ergaben sich - zum anderen - in der Praxis noch mehr als auf dem Papier vielgestaltige po­ litische Eingriffe, die dazu tendierten, die hergebrachten Formen der Personalrek­ rutierung regelrecht auszuhöhlen. Sie zwangen die universitären Akteure dazu, ihre Rechtsbestände ebenso wie ihre fachlichen Kompetenzen zu verteidigen. Über die Geschichte der Berufungsverfahren an deutschen Universitäten ist bisher nur wenig geforscht worden, so dass Aussagen über die Entwicklungen in der NS-Zeit nur vorläufigen Charakter haben können. Gleichwohl lässt sich einiges Grundlegendes entlang der aufgezeigten Linien festhalten.

4.2.1 Berufungsverfahren vor 1933 Die bestimmenden Gremien in Berufungsfragen waren vor 1933 die Fakultäten 198 War ein Lehrstuhl neu zu besetzen, bildete die zuständige Fakultät eine Berufungs­ kommission, in der die Vertreter der Nachbarfacher sich der Aufgabe widmeten, das weite nationale Feld der im Fach tätigen Wissenschaftler zu überblicken und eine Auswahl der in Frage kommenden Kandidaten zu treffen. Die Kommission legte ihre Vorschlagsliste dem Fakultätskollegium zur Diskussion vor. Waren die Berufungsvorschläge zum Beschluss erhoben, ging die Liste weiter an den Großen Senat. Dieser ernannte nun einen Berichterstatter, der die Fakultätsliste einer mehr oder weniger intensiven Prüfung unterzog. Die von ihm ohne Einwände übernom­ mene oder bisweilen auch modifizierte Liste wurde dem Senat vorgelegt, der das Für und Wider der vom Berichterstatter und/oder von der Fakultät vorgeschlagenen Kandidaten erneut diskutierte - und schließlich eine Liste beschloss, die auf dem Amtsweg an das Kultministerium ging. Dieses besaß zwar sehr wohl das Recht, sich über die mit der Liste vorgenommene Platzierung ("Lozierung") der Kandida­ ten hinwegzusetzen, doch in der Regel folgte es in der Aufnahme der Berufungs­ verhandlungen den Vorschlägen der Universität. Auffallig ist, dass unter allen drei beteiligten Instanzen ein ausgeprägter Kon­ sens darüber bestand, welche Kriterien ein guter Lehrstuhlinhaber zu erfüllen habe. Forschungsleistungen und Lehrerfolge standen gleichberechtigt an der Spitze. Da­ neben waren soziale Kompetenzen und andere charakterliche Vorzüge beziehungs­ weise Makel Gegenstand der internen Diskussionen. Zudem spielten konfessio­ nelle und politische Kriterien eine nicht unerhebliche Rolle. Sie wurden allerdings nur dann expressis verbis thematisiert, wenn sich Meinungsverschiedenheiten etwa im Hinblick auf die Gewichtung einzelner Bewertungsfaktoren ergaben. Sonst dürften diese Positionen ihre Wirkung in stillschweigendem Einvernehmen entfal­ tet haben, wie der viel zitierte Ausspruch des Universitätskanzlers August Hegler vom Februar 1933 unterstreicht, nach dem man in Tübingen "die Judenfrage da­ durch gelöst" habe, "dass man nie davon gesprochen habe" 199 Auch Katholiken 198 Wichtige Informationen zur Berufungspraxis liefert Paletschek 200 1 , 310-344. 199 UAT 47/40, Sitzungsprotokoll Großer Senat vom 25.2.1933, 170; zitiert auch bei Adam 1977, 30 und Paletschek 2001, 287, Anmerkung 146.

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stießen in Tübingen auf Vorbehalte und blieben im Kollegium der Professoren un­ terrepräsentiert.2oo Hohe Hürden wurden außerdem für die Anhänger politischer Positionen errichtet, die mit den Ansichten der nationalkonservativen Mehrheits­ strömung in der Hochschullehrerschaft unvereinbar waren. Davon war vor allem die politische Linke betroffen. Hatte Tübingen diesbezüglich eine besonders rigide Berufungspraxis, gehörten, mit Schwankungen von Hochschule zu Hochschule, ähnliche Ausschlussmechanismen zum Universitätsalltag im Deutschen Reich.

4.2.2 Wandel der Berujungspraxis nach 1933 Die Berufungspraxis war vor 1933 also alles andere als unpolitisch, doch standen bei der personellen Selbstergänzung der Universität wissenschaftliche Kriterien im Vordergrund. Auch bedeutete die NS-Zeit keine vollkommene Abkehr von den seit dem 19. Jahrhundert gewachsenen institutionellen Verfahren und ihrem fachlichen Orientierungsrahmen. Gleichwohl markiert das Jahr 1933 eine klare Zäsur - un­ missverständlich sichtbar gemacht durch den Eingriff des neuen NS-Kultministers Christian Mergenthaler in das Verfahren zur Neubesetzung des Ordinariats für mit­ telalterliche Geschichte, das bereits Mitte 1932 begonnen und zum April 1933 zum Abschluss gebracht werden sollte. Ohne sich um die institutionellen Gepflogenhei­ ten zu scheren, griff der Minister in den Geschäftsgang ein, ignorierte den Wider­ spruch aus den Reihen der Universität und berief den Altparteigenossen Heinrich Dannenbauer, einen Schüler des scheidenden Lehrstuhlinhabers Johannes Haller. Die NS-Machthaber hätten die Radikalität ihres Gestaltungsanspruches kaum ein­ drücklicher demonstrieren können. Dennoch setzte diese politische Berufung par excellence nicht den Maßstab für die Personalpolitik der nächsten Jahre. Vergleichbare Stellenbesetzungen gegen die Interessen der Fakultäten wurden nicht die RegePOl Allerdings dürfte der Fall Dannenbauer nicht zuletzt eine äußerst wirksame Drohgebärde gewesen sein, die demonstrierte, woher der politische Wind jetzt wehte und was geschehen würde, wenn sich die Universität nicht den neuen Anforderungen anpasste. Die unter Be­ weis gestellte Interventionsbereitschaft der NS-Hochschulverwaltung zwang die Universität zur Berücksichtigung politisch definierter Kriterien. Insofern ist selbst 200 In der Zeit von 1870 bis 1932 hielt sich der Anteil der Protestanten unter den Tübinger Profes­ soren weitgehend konstant bei gut drei Vierteln. Etwa ein Fünftel war katholisch, nur ein Pro­ fessor war in dieser Zeit Jude; Paletschek 200 1 , 314. Die Zahlenverhältnisse gelten auch in etwa für die Tübinger Privatdozenten der Jahre 1870 bis 1932. Unter ihnen befand sich wahr­ scheinlich kein einziger Jude; an der Gesamtuniversität waren 86,2 % der Privatdozenten evan­ gelisch, 13 % katholisch; ebd., 284-287, Zahlen aus der Tabelle 15, 285. Die Anteile der Pro­ testanten beziehungsweise Katholiken an der Gesamtbevölkerung des Deutschen Reiches be­ trugen im genannten Zeitraum etwa zwei beziehungsweise ein Drittel; vgl. Wehler 2003, 435. Glaubensjuden stellten 1871 einen Anteil von 1,25 %, 1925 von 0,9 %; Berding 1988, 223. Vgl. zum Thema Konfession an den Universitäten den Überblick von Hammerstein 1995. Entgegen dem Titel dieser Studie wird auch der Katholizismus berücksichtigt. 201 Für ein weiteres Beispiel einer politisch dominierten Berufung - die Hero Moellers - vgl. den Beitrag von Klaus-Rainer Brintzinger in diesem Band.

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für äußerlich ruhig verlaufene Berufungsverfahren sehr wohl von einer grundsätz­ lichen verstärkten Politisierung der Entscheidungsfindung auszugehen - zumal auch die institutionellen Gewichte neu verteilt wurden. Ausgangspunkt von Berufungsverfahren blieben die Fakultäten. Ein Blick auf die Philosophische Fakultät zeigt, dass die Diskussionen, allen politischen Rück­ sichtnahmen zum Trotz, bis zur Fertigstellung der Kandidatenliste weitgehend ih­ ren gewohnten Gang nahmen. Die Ernennung des Dekans zum "Führer" des Fakul­ tätskollegiums wirkte sich zumindest hier in der Regel nicht aus.202 Weitaus schwe­ rer wog hingegen die Entmachtung des Großen Senats: An die Stelle der kollegia­ len Diskussion trat die Entscheidungsgewalt des Führerrektors, der eine Berufungs­ liste ohne Weiteres kippen konnte. Das vermochte auch der Dozentenführer der Universität, dessen wirksamster Hebel seine obligatorischen Gutachten zu den vor­ geschlagenen Kandidaten war. Daneben ermöglichte es ihm seine einflussreiche Position im universitären Gefüge, eigene Kandidatenvorschläge bereits im Vorfeld zu lancieren - ein Weg, den auch die Reichsdozentenschaft für sich nutzen konnte. Und schließlich ersetzte das Reichserziehungsministerium die Kultusbehörde des Landes Württemberg als die staatliche Instanz, die die Entscheidung über die Be­ setzung einer Professur traf. Bereits dieser knappe Überblick über die institutionelle Ordnung deutet an, dass es eine Vereinfachung wäre, von einem eindeutigen Dualismus von Universi­ tät hier und NS-Staat dort auszugehen. Es entwickelten sich vielmehr widersprüch­ liche Spannungsverhältnisse zwischen den an Berufungsverfahren beteiligten Ins­ tanzen, die wechselnde Interessenkonstellationen bildeten. So konnten zum Ersten die ideologischen Bestrebungen des Staates und der Partei ohne Weiteres mit Wün­ schen der Universität konform gehen, wie das Beispiel der gleichzeitigen Instituti­ onalisierung der Lehrstühle für Rassenkunde, Volkskunde und Urgeschichte zeigt. Zum Zweiten waren die NS-Akteure alles andere als eine homogene Gruppe, son­ dern standen nicht selten in mehr oder minder ausgeprägter Konkurrenz zueinan­ der. Diese verschärfte sich oft durch persönliche Animositäten der Funktionäre, die in einem System, das die Macht nach dem "Führerprinzip" personalisierte, nur sehr unzureichend institutionell gefiltert und abgefedert werden konnten. Und zum Drit­ ten reichte diese konfliktträchtige "Polykratie" bis in die Universität hinein und prägte sich hier in ähnlicher Weise aus. Das bedeutete nicht zuletzt, dass es - und das war bei einem überschaubaren Personenverband wie der Universität Tübingen nichts Neues, verstärkte sich jetzt aber im Zeichen eines politischen Interventionis­ mus - in starkem Maße von dem Engagement und dem Machtanspruch Einzelner abhing, wie sehr ein Berufungsverfahren zum politischen Zankapfel wurde. Doch trotz aller Differenzierungen ist eines unübersehbar: Berufungsverfahren waren während der NS-Zeit in einschneidender Weise von politischer Einfluss­ nahme geprägt, die in einem mehr oder minder starken Gegensatz zur Personalrek­ rutierung nach wissenschaftlichen Kriterien stand. Selbst wenn die Politisierung der Berufungspraxis nicht gleichbedeutend war mit einem einfachen Oktroi von nationalsozialistischen Wunschkandidaten, war die Zeit des hohen Konsenses über 202 Für ein Gegenbeispiel siehe den folgenden Abschnitt 4.2.3.

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die Berufungskriterien, die vor 1933 Konflikte relativ selten machte, vorbei. Die Friktionen nahmen zu und führten zu erheblichen Reibungsverlusten. Das Beru­ fungsverfahren zur Wiederbesetzung des Ordinariats für Neuere Geschichte (ab Oktober 1937) kann wichtige Entwicklungen in der Berufungspraxis verdeutlichen.

4.2.3 Auswirkungen der politisierten Berujungspraxis: ein Fallbeispiel Das Verfahren, das die Nachfolge des 1937 emeritierten Historikers Adalbert Wahl regeln sollte, wurde bereits zu einem frühen Zeitpunkt durch einen handfesten Ek­ lat aus der Bahn geworfen. Die Philosophische Fakultät hatte sich in ihren Beratun­ gen darauf geeinigt, den Freiburger Historiker Gerhard Ritter wegen seiner heraus­ ragenden wissenschaftlichen Leistungen auf Platz eins der Liste zu setzen 203 Der Vorschlag erreichte nicht einmal die nächste Instanz, und das, was daraufhin ge­ schah, war nicht nur gemessen an den Gepflogenheiten vor 1933 ein Affront: De­ kan Bebermeyer, der als "Führer" der Fakultät während ihrer Beratungen der Liste keinerlei Einwände erhoben und sie gegengezeichnet hatte204, scherte aus, indem er der Liste eine "eigene Stellungnahme" anfügte: "Als Nationalsozialist" erhebe er "staatspolitischen Bedenken" gegen Ritter aufgrund von dessen "nahe[ml Verhält­ nis zur kirchlichen Bekenntnisfront" 205 Damit hebelte er die Liste erfolgreich aus und stellte die Kompetenzen des Fakultätskollegiums vehement in Frage. Beber­ meyers Eingabe lässt sich zwar durchaus mit einem "Sondervotum" vergleichen, wie es vor 1933 nicht unüblich war. "Sondervoten" konnten in der Fakultät wie auch im Großen Senat von einzelnen Mitgliedern dieser Gremien eingereicht wer­ den, um gegen Besetzungslisten Einspruch zu erheben. Jedoch kam Bebermeyers Stimme nun, 1937, in zweifacher Hinsicht ein Gewicht zu, das ein ,normales' Son­ dervotum zuvor nur schwer erreichen konnte. Erstens hatte Bebermeyer eine au­ ßerordentlich machtvolle politische Position inne, die es unmöglich machte, seine Meinungsäußerung zu ignorieren. Und zweitens entfiel infolge der Personalisie­ rung der Entscheidungsstrukturen im Sinne des "Führerprinzips" das Korrektiv kollegialer Diskussion in den Gremien 206 Bebermeyer sprach sich, wie auch die "zuständigen Tübinger Parteistellen" , für den zweitplazierten Tübinger Privatdozenten Kurt Borries aus, der sich dezi203 UAT 205/90, Philosophische Fakultät, gezeichnet Bebermeyer, an Rektor vom 2.12.1937. Die Berufungsliste nannte an zweiter und dritter Stelle Kurt Borries und Hermann Wendt. Dannen­ bauer gab ein Sondergutachten für die Drittplatzierung Helmut Görings statt Wendts ab, fand damit aber keinerlei Rückhalt in der Fakultät und der Berufungskommission; ebd., Votum Dan­ nenbauers vom 2.12.1937; vgl. auch UAT 13 1/122, Dekan Bebermeyer an Rektor vom 3.12. 1 937. 204 Zumindest enthält das entsprechende Sitzungsprotokoll keine Hinweise darauf, dass eine Dis­ kussion stattgefunden hat; UAT 13 1/122, Sitzungsprotokoll der Philosophischen Fakultät vom 2.12.1937. Bebermeyer hält selbst fest, die Liste sei, abgesehen von Dannenbauers Sondervo­ turn, "einmütig gebilligt" worden; ebd., Bebermeyer an Rektor vom 3.12. 1937. 205 Ebd., Dekan Bebermeyer an Rektor vom 3.12. 1937. 206 Für Informationen über "Sondervoten" und dem Umgang mit ihnen vgl. Paletschek 200 1 , 320322 und Daniels 2009, 99, 102, und 109-114.

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diert nationalsozialistisch positioniert hatte. Fachliche Abstriche nahm Bebermeyer, wenn auch ungern, in Kauf: "Historiker von Bedeutung, die fahig und gewillt sind, Geschichte vom Standpunkt der nationalsozialistischen Weltanschauung zu lehren, stehen [ . . . ] leider nicht zur Verfügung."207 Als Rektor Hoffmann sich Bebermeyer anschloss2os , war die Liste der Fakultät endgültig obsolet geworden. Im Folgenden nahm das Verfahren einen vollkommen chaotischen Verlauf. Die Universität mitsamt der Dozentenschaft verlor die Kontrolle und wurde dazu de­ gradiert, nur noch auf die Initiativen anderer Instanzen zu reagieren, das hieß, zu Kandidatenvorschlägen Stellung zu nehmen, die vom Reichserziehungsministe­ rium beziehungsweise dem Kultminister gemacht wurden. Der als Favorit genannte Borries schied aus, weil seine Berufung auf Vorbe­ halte seitens des zuständigen Reichserziehungsministeriums-Referenten Heinrich Harmjanz stieß209 - nicht die einzige Situation, in der dieser dem Hochschullehrer Steine in den Karriereweg legte. Das Kultministerium brachte, noch während über Borries nachgedacht wurde, den Namen Rudolf Stadelmanns ins Spiel und forderte ein Gutachten über ihn an 210 Auch über Helmut Göring wurde auf Wunsch des Kultministeriums nachgedacht, bis Rektor Hoffmann ihn vehement als politisch nicht tragbar ablehnte.211 Willy Andreas wurde in Erwägung gezogen, stieß aber auf den Widerstand des Dozentenführers Walter Schwenk 212 Mit einem regulären Berufungsverfahren hatte all dies nicht mehr viel zu tun, denn dazu fehlte die übli­ che Grundlage: eine von der Fakultät offiziell abgesegnete Kandidatenliste 213 Selbst als im April 1938 Berufungsverhandlungen mit Stadelmann begonnen wurden, war ein Ende des völlig zerfaserten Verfahrens nicht erreicht. Bevor ein Ruf erging, wurde Stadelmann wegen angeblich regimekritischer Äußerungen von der Frau eines Gießener Professorenkollegen denunziert 214 Noch während über die mögliche Berufung Stadelmanns nachgedacht wurde, forderte das Kultministerium die Fakultät auf, sich dazu zu äußern, "ob ihr Dr. Erich Botzenhart beim Reichsin­ stitut für Geschichte des neuen Deutschlands zur Berufung [ . . . ] als geeignet

207 UAT 13 11122, Dekan Bebermeyer an Rektor vom 3.12. 1937. 208 UAT 205/90, Rektor Hoffmann an Kultminister vom 23.12.1937. Hoffmann führte an, dass ,,[u]nter der Gesamtzahl von 1550 Studierenden [ . . . ] etwa 370 evangelische Theologen [seien], die größtenteils der Bekenntnisfront zuneigen. Die dadurch geschaffene Situation macht es mir unmöglich, Prof. Ritter für die hiesige Professur [ . . . ] in Vorschlag zu bringen." 209 Bbd., Rektor Hoffmann an Kultminister vom 23.12.1937; vgl. zu Harmjanz: Grüttner 2004, 70. 210 UAT 205/90, Kultminister an Rektor vom 3 . 1 . 1938; Schwenk an Rektor vom 7.1. 1938. 211 Bbd., Reichserziehungsministerium an Kultministerium vom 26. 1 . 1938; Dekan Bebermeyer an Rektor vom 24.2.1938; Rektor Hoffmann an Kultminister vom 7.3.1938. UAT 13 11122, Brich König an Dekan vom 13.2.1938 (Gutachten zu Schriften GÖrings). 212 UAT 205/90, Schwenk an Rektor vom 7.1. 1938; vgl. auch UAT 13 11122, Sitzungsprotokoll der Philosophischen Fakultät vom 3.2.1938. Wer Andreas vorschlug, ist nicht genau bekannt. Wahrscheinlich war es das Reichserziehungsministerium. 213 Immerhin sind die Namen Stadelmann, Andreas und der im Folgenden erwähnte Botzenhart nicht ganz aus der Luft gegriffen worden. Sie wurden auf der Fakultätsliste als Kandidaten genannt, die nicht berücksichtigt wurden; UAT 205/90, Philosophische Fakultät an Rektor vom 2.12. 1937 (Vorschlagsliste). 214 Vgl. zu diesen Vorfällen Heiber 1991, 282f.

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erscheint" 215 Dekan Bebermeyer, Rektor Hoffmann und auch der nun amtierende Dozentenführer Wetzel lehnten ihn trotz seiner politischen Qualitäten ab, weil er noch nicht habilitiert war 21 6 Indem die Ministerien mit Hilfe ihrer Weisungsbefugnis gegenüber der Univer­ sität die Initiative an sich rissen, marginalisierten sie die Hochschulakteure. Sie brachten einen Kandidaten nach dem anderen ins Gespräch und verhinderten so inneruniversitäre Verhandlungen auf den hergebrachten Bahnen. Für andere Ver­ fahren lassen sich weniger ausgeprägte, aber ähnliche Beeinflussungsversuche nachweisen, in denen sich nicht nur Reichserziehungs- und Kultministerium, son­ dern auch andere Teile der Ministerialbürokratie oder die Reichsdozentenschaft zu Fürsprechern von Kandidaten aus einschlägigen NS-Institutionen (wie dem er­ wähnten "Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands" oder auch dem "SS-Ahnenerbe") machten. Allerdings wurden solche Kandidatenvorschläge ge­ macht, während die Fakultät an der Aufstellung einer Liste arbeitete. Unter den politischen Eingriffen litt gerade auch die Effizienz der Berufungs­ praxis, wie die Verfahrensdauer im Falle Stadelmanns zeigt. Die Fakultät hatte ihre Liste seit dem Oktober 1937 erarbeitet und Anfang Dezember verabschiedet. Noch 14 Monate später mussten die Gutachten über Botzenhart erstellt werden. Die durch politische Turbulenzen verzögerte Berufung Stadelmanns wurde im Grunde erst im Juli 1941 durch seine endgültige Ernennung zum ordentlichen Professor abge­ schlossen.217 Selbst die wohl konfliktreichste Berufung der Weimarer Zeit, die des Althistorikers Richard Laqueur, hatte dagegen nur rund neun Monate gedauert 218 Durch ein ausuferndes Gutachterwesen wurde die Verfahrensgeschwindigkeit verlangsamt und der Verwaltungsaufwand erhöht. Reichten für die Erarbeitung der Kandidatenlisten vor 1933 allein wissenschaftliche Fachgutachten aus, so wurden jetzt auch Einschätzungen über die politische Zuverlässigkeit im nationalsozialisti­ schen Sinne eingeholt. Wo überall angefragt wurde, ist im Einzelfall schwer zu re­ konstruieren. Neben den obligatorischen Dozentenschaftsgutachten konnten auch Stellungnahmen der verschiedenen Instanzen der NSDAP, ihrer Gliederungen und der ihr nahestehenden Organisationen und Institutionen eingeholt werden. Als 215 UAT 205/90, Kultminister an Rektor vom 24.1.1939. Botzenhart war als auf der Liste der Fa­ kultät erwogener Kandidat nicht berücksichtigt, "weil er noch über keine Lebenserfahrung ver­ fügt und das Feld seiner Forschungen noch der Ausdehnung bedarf'; ebd., Philosophische Fa­ kultät an Rektor vom 2.12. 1937 (Vorschlagsliste). 216 Ebd., Bebermeyer an Rektor vom 6.2.1939; Wetzel an Rektoramt vom 15.2.1939; Rektor Hoff­ mann an Kultminister vom 21 .2.1939. Immer wieder wurden Kandidaten politisch unterstützt, die im Hinblick auf ihren Ausbildungsstand nicht den akademischen Anforderungen entspra­ chen, also im Falle von Berufungen nicht habilitiert waren. Die Universität Tübingen scheint sich erfolgreich gegen diese Zurückstellung der fachlichen Qualifikation gewehrt zu haben. Andernorts war die Unterstützung solcher Kandidaten in Einzelfallen aber erfolgreich. Für ein Beispiel aus Göttingen vgl. Dahrns 1987, 39. 217 UAT 126/661 , Reichserziehungsministerium an Kultministerium vom 26.7.1941 (Ernennung rückwirkend zum 1.6. 1941). 218 Gerechnet vom ersten Listen-Beschluss der Fakultät arn 8 . 1 1 . 1929 bis zur Erteilung des Rufes an Laqueur am 8.8.1930; UAT 1311111, TI, Sitzungsprotokoll der Philosophischen Fakultät vom 8 . 1 1 . 1929. UAT 126/37 1 , Kultministerium an Rektorarnt vom 8.8.1930.

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Grundproblem dieses tendenziell ausufernden Systems der politischen Gesinnungs­ prüfung erwies sich jedoch, dass sich die Kategorie der "politischen Zuverlässig­ keit" unter den Bedingungen häufig widerstreitender polykratischer Herrschaftsin­ teressen kaum trennscharf bestimmen ließ. Ob jemand als Nationalsozialist zu gel­ ten hatte oder nicht, konnte von den Entscheidungsträgern jeweils sehr unterschied­ lich eingeschätzt werden. Formalkriterien wie die Parteimitgliedschaft waren zwar Indikatoren, mussten aber keinesfalls ausschlaggebend sein. Der politische Maß­ stab wurde so unterschiedlich gehandhabt, dass er fast unbrauchbar wurde. Das Berufungsverfahren Stadelmanns ist zwar ein Extrembeispiel und nicht ohne Weiteres zu verallgemeinern. In ihm prägten sich aber Tendenzen aus, die sich auch in anderen Verfahren aufweisen lassen. Auch wenn diese nicht so aus­ ufernd oder gar ganz ordnungsgemäß verliefen, zeigt der Fall der Wiederbesetzung des Neuzeit-Lehrstuhls doch, was ihren Abläufen permanent drohte. Die starke Personalisierung der Kompetenzen, das wuchernde Gutachterwesen und die ausge­ prägte Präferenz für politische Kriterien drängten die wissenschaftlichen Begrün­ dungen in den Hintergrund. Durch das von Kurzatmigkeit und Reibungsverlusten geprägte Handeln der beteiligten Instanzen drohte in politischen Berufungsverfah­ ren die Gefahr, dass sämtliche Zwecksetzungen verfehlt wurden, denen eine Beru­ fung aus der Sicht der unterschiedlichen Akteure dienen sollte. Selbst wenn es der Universität wohl nicht selten gelang, ihre wissenschaftli­ chen und institutionellen Interessen trotz vieler Abstriche in einem erheblichen Maße zu wahren219, werden Erfahrungen wie in den Fällen Dannenbauer und Sta­ delmann die universitären Akteure tief verunsichert haben - wenn sie nicht zu den wenigen gehörten, die nie da gewesene Möglichkeiten sahen, ihre Position inner­ halb der Institution Universität auszubauen. Beide Haltungen ließen korporative Selbstbestimmung auch jenseits von Lehrstuhlbesetzungen zu einem außerordent­ lich heiklen Tagesgeschäft werden.

5 . Zusammenfassung Die Universität Tübingen erfuhr während der NS-Zeit einen erheblichen Struktur­ wandel. Zwar wurde aus den Visionen WetzeIs und anderer von einer Großhoch­ schule in Südwestdeutschland nichts. Auch gelang es nicht, alle Hochschullehrer ideologisch zu vereinnahmen oder gar ,gleichzuschalten' , und es erwies sich als sehr schwierig, die alten korporativen Verfahrenspraxen vollends aufzubrechen und zu beseitigen. Dennoch veränderte sich in den nur zwölf Jahren nach 1933 sehr vieles. Lehre und Forschung wurden verstärkt von ideologischen Vorstellungen durch­ drungen. "Rasse", "deutsches Volkstum" und Antisemitismus wurden zwar nicht zu Kategorien, die alles wissenschaftliche Arbeiten von nun an prägten. Es blieb in vielem den jeweiligen Fachtraditionen und Paradigmen verpflichtet. Doch unüber­ sehbar ist, dass die Grundbegriffe des NS-Weltbildes in hohem Maße integriert 219 Zu einem ähnlichen Fazit gelangt Höpfner 1999, 542.

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wurden und in einigen besonders geförderten Wissenschaftsbereichen - man denke hier an die Volkskunde oder die Rassenkunde - durchaus zu handlungsleitenden Kategorien aufstiegen. Dies bleibt selbst dann ein wichtiger Befund, wenn man zu konzedieren bereit ist, dass viele wissenschaftlichen Texte sich nur oberflächlich und verbal an ideologische Begriffe anlehnten - um etwa eine Druckerlaubnis zu erlangen -, ohne hergebrachte Fragestellungen aufzugeben. Zum einen wäre hier genau zu eruieren, wo die äußerliche Konzession aufhörte und die ,eigentliche' Wissenschaft anfing. Und zum anderen müsste darüber reflektiert werden, welche nachhaltigen deformierenden Wirkungen ein solcher ideologischer Anpassungs­ druck haben konnte - zumal sie im Falle des Nationalsozialismus wohl nur deshalb nicht tiefer reichten, weil seine Herrschaft zu kurz währte 220 Doch das wissenschaftliche Arbeiten an der Universität Tübingen änderte sich nicht nur auf dem Papier. Auch wenn über den Haushalt der Universität während der NS-Zeit noch keine Studien vorliegen, sind Konturen einer NS-Finanzpolitik doch sichtbar. Neue Ansätze wurden gefördert und ausgebaut, erhielten Gelder und neu geschaffene Stellen. Zwar wurden die hergebrachten Regeln einer rationalen Haushaltspolitik nicht zugunsten von Rassenkunde und anderen Fächern außer Kraft gesetzt, indem der NS-Staat große Summen zusätzlichen Geldes in die Uni­ versität pumpte, um ihren Strukturwandel zu beschleunigen. Aber deutlich wird doch, dass zumindest Umverteilungsprozesse stattfanden. Wie sie genau aussahen, ist noch zu erforschen. Zu untersuchen wäre hier unter anderem, inwieweit etwa die Bekämpfung der theologischen Fakultäten auch eine finanzielle Komponente hatte - und welche Fächer von dem Niedergang der Theologie profitierten. Neue Lehrstühle und neue Institute samt Personal entstanden. Bibliotheken wurden mit ideologisch relevanter Literatur ausgestattet. Doch dieser Ausbau be­ schränkte sich nicht auf die innere Organisation der Universität. Zugleich war der Trend unübersehbar, sie verstärkt in das nationale Wissenschaftssystem einzupas­ sen. Vieles kam über Planungen nicht hinaus. Das galt für Bestrebungen zu einer Zentralisierung der Hochschullandschaft, wie sie mit der Gründung des Reichser­ ziehungsministeriums zumindest auf den Weg gebracht wurde und wie sie darüber hinaus auch im Projekt einer Reichshochschulplanung erkennbar wird. Das galt aber auch für - mit diesen Planungen durchaus kompatible - Ideen für regionale Schwerpunktbildungen, wie sie anhand WetzeIs eingangs zitierter Programmschrift vorgestellt wurden. Was hingegen gut gelang, war die Anbindung universitärer Wissenschaft an außeruniversitäre Forschungsnetzwerke, sowohl in den Natur- als auch in den Geis­ tes- und Gesellschaftswissenschaften. Allgemein ist ein Trend zu Großforschungs­ verbünden zu beobachten, der etwa mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges zu einer besonders regen Planungsaktivität führte. Der Krieg und mit ihm die Aus­ sicht, das Deutsche Reich in Europa machtpolitisch neu zu positionieren, setzte

220 Hier könnten Vergleiche mit den orthodox marxistischen Wissenschaftssystemen Osteuropas während des Kalten Krieges weiterhelfen, bei denen sich langfristige Effekte ideologischer Orientierung wissenschaftlichen Arbeitens zeigen.

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ganz offensichtlich auch wissenschaftliche Expansionsphantasien und Energien frei. Sicher, viele der Pläne ließen sich nicht verwirklichen, weil der Krieg nicht den gewünschten Verlauf nahm, sich immer mehr in die Länge zog, deshalb materielle wie personelle Ressourcen band und die Handlungsspielräume an der Universität stark verkleinerte. Dennoch ist die Dynamik bemerkenswert, die sich in einem schmalen Zeitfenster um 1 940 abzeichnete - wie insgesamt die NS-Zeit an der Universität Tübingen eine Phase starker Bewegung und Veränderung war. Einer­ seits hatte sie ein unverhohlen aggressiven Charakter: Missliebige Hochschullehrer - Juden und andere weltanschauliche Gegner - wurden entlassen; die Hochschul­ autonomie wurde attackiert, indem die alten Entscheidungsmechanismen an der Universität mit der Einführung des "Führerprinzips" außer Kraft gesetzt wurden; ein Klima gegenseitiger Verdächtigung und Denunziation machte auch im Alltag die Bedrohlichkeit der neuen Situation spürbar; und durch die ideologische Anpas­ sung wissenschaftlichen Forschens an die NS-Vorstellungen wurden auch deren Feindbilder übernommen, so dass sich Wissenschaft im Extremfall einer offensi­ ven "Gegnerforschung" annähern konnte. Doch andererseits hatte die Veränderungsdynamik auch attraktive Seiten. Poli­ tische Anpassung konnte Karrieren befördern, Gelder für große wissenschaftliche Projekte und eigene Institute freisetzen. Für die Mitarbeit in Großforschungsver­ bünden konnte die Nähe zur Politik sprechen, und Anwendungsorientierung war nicht selten gleichbedeutend mit Macht, Einfluss und Gestaltungsmöglichkeiten, die der eigenen Arbeit eine gesteigerte Relevanz zu geben vermochten. Nicht nur arrivierte Wissenschaftler konnten von diesen Aufstiegsmöglichkei­ ten, die das NS-System bot, profitieren, sondern auch der wissenschaftliche Nach­ wuchs. Seine finanzielle Situation verbesserte sich mit der Einführung der "Dozen­ ten neuer Ordnung" im Gefolge der Reichshabilitationsordnung erheblich. Politi­ sches Engagement beschleunigte manche Karriere, obgleich die Unwägbarkeiten der polykratischen Herrschafts- und Verwaltungspraxis verhinderten, dass eine ent­ sprechende Korrelation garantiert war. Auch diese Chancen hatten ihre Schatten­ seiten. Der Druck, sich politisch anzupassen, war groß, und jedes Fehlverhalten konnte das Ende der Karriere bedeuten. Die gesamte Veränderungsdynamik der NS-Hochschulpolitik speiste sich nicht zuletzt aus diesem Spannungsverhältnis von Repression und Aufstiegsversprechen. Sie lassen sich nicht voneinander trennen und setzten gemeinsam große Energien frei, die die Universität Tübingen in vielen Bereichen binnen kurzer Zeit strukturell tief greifend veränderten. Dass sich dies nicht noch deutlich radikaler ausprägte, war vor allem der ausbremsenden Wirkung des Krieges und schließlich der nur kurzen Dauer der NS-Herrschaft geschuldet.

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Fakultäten und Abteilungen

Die Entwicklung der Evangelischen-theologischen Fakultät im "Dritten Reich" Reinhold Rieger

Die theologisch prägenden Figuren an der Fakultät waren nach wie vor Adolf Schlatter und Karl Heim. Ihrer Anziehungskraft verdankte sie es, dass sie in der Zeit der Weimarer Republik die meistbesuchte unter den theologischen Fakultäten in Deutschland war. ! Dies änderte sich anfangs auch im "Dritten Reich" nicht. Die Theologie der Fakultät war vor allem vom Gegensatz zur Theologie Karl Barths und von einem führungsbedürftigen Krisenbewusstsein, das politisch mit Nach­ kriegslethargie und Demokratieskepsis verbunden war, bestimmt gewesen, das 1933 in nationale Euphorie und die Zuversicht auf eine bessere Entwicklung für Gesellschaft und Kirche umschlug. Die neue politische und gesellschaftliche Lage brachte für die evangelischen Kirchen und die theologischen Fakultäten neue Herausforderungen mit sich, denen sie aber meist unter den zuvor erworbenen Voraussetzungen begegnen mussten und denen sie nicht hinreichend gewachsen waren 2

1 . Personelle Entwicklung a. Lehrkörper Der Lehrkörper der Evangelisch-theologischen Fakultät unterlag während der Zeit des "Dritten Reiches" kaum Veränderungen. Die meisten der vorher berufenen Pro1 2

Vgl. Rieger 2003. Vorbemerkung zur Quellenlage: Die Akten der Dekane der Evangelisch-theologischen Fakul­ tät Rückert und Weiser im UAT enthalten wenig Material aus der Zeit zwischen 1933 und 1945. Könnte das mit einem analogen Vorgang zusammenhängen, wie ihn der Fachschaftslei­ !er Friedrich Schmid erzählt? Dekan Weiser habe ihn Ende Januar 1945 zu sich gerufen und in aller Offenheit gesagt, "das Ende des Krieges sei ja nun abzusehen. [ . . . ] Jedenfalls sei eine Abrechnung mit der NS-Vergangenheit zu erwarten. In dieser Situation bitte er mich, [ . . . ] be­ lastendes Material, insbesondere über Professoren der Fakultät, zu vernichten. [ . . . ] Nachträg­ lich habe ich vermutet, daß ich nur ein kleiner Faktor innerhalb einer größeren Reinigungsak­ tion schon einige Zeit vor der sog. Entnazifizierung gewesen bin"; Schmid 1988, 122. Die fol­ gende Darstellung muss sich mit den eventuell gefilterten Quellen, die vielleicht ein verzerrtes Bild hervorrufen, begnügen und bleibt deshalb in vielen Einzelheiten und auch in der Bewer­ tung unsicher. Die Äußerungen der Professoren in der Zeit nach Kriegsende über ihre Rolle in der Zeit vorher haben, besonders wenn sie im Zusammenhang mit Entnazifizierungsverfahren gemacht wurden, oft apologetischen Charakter und sind deshalb nur bedingt zuverlässig.

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fessoren blieben im Amt, es sei denn, sie wurden aus Altersgründen emeritiert. Dadurch unterschied sich die Fakultät von anderen Fakultäten in Deutschland, die teilweise stark reduziert oder weitgehend umbesetzt wurden 3 Der "intakten" Lan­ deskirche, die sich der Eingliederung in die "Deutsche Evangelische Kirche" ver­ weigerte, stand eine "intakte" theologische Fakultät zur Seite 4 1933 lehrten das Alte Testament (AT) Paul Volz (Ernennung am 22. Juni 19 14) und Artur Weiser (außerordentlicher Professor (a. o. Prof.) seit dem 3. April 1930), das Neue Testament (NT) Gerhard Kittel (Ernennung am 5. August 1921, Eintritt 1926) und Otto Bauernfeind (a. o. Prof. seit dem 1 . März 1928), die Kirchenge­ schichte Hanns Rückert (Ernennung am 15. März 1928, Eintritt 193 1) und Ernst Stracke (a. o. Prof. seit dem 1 8. April 1928), die Systematische Theologie Karl Heim (Ernennung am 10. Juni 1 9 14) und Georg Wehrung (Ernennung am 1 . April 1920), die Praktische Theologie Hermann Faber (Ernennung am 20. April 1923) und Karl Fezer (Ernennung am 1. April 1930), die Missionswissenschaft Martin Schlunk (a. o. Prof. seit dem 12. Mai 1928). Adolf Schlatter (NT) , Karl Müller (Kir­ chengeschichte) und Friedrich Traub (Systematische Theologie) waren aus Alters­ gründen entpflichtet. Als Privatdozenten wirkten Ernst Haenchen (NT), Karl Hein­ rich Rengstorf (NT), Hans Engelland (Systematische Theologie) und seit dem 22. Mai 1933 Rudolf Paulus (Religionsphilosophie und Systematische Theologie). De­ kane der Fakultät waren Weiser ( 1 932/33, 1935-1945), Wehrung ( 1 933/34) und Rückert (1934-1935) 5 Engelland ging 1933 nach Kiel, Ernst Haenchen 1933 als Professor nach Gie­ ßen. Rengstorf lehnte 1934 einen Ruf nach Riga ab6 , wurde 1936 als Professor nach Kiel berufen, aber aus politischen Gründen 1937 entlassen. Paulus war Pfarrer in Kilchberg. Er beantragte die Ernennung zum Dozenten neuer Ordnung 7 Ein An­ trag auf Ernennung zum außerplanmäßigen Professor 1939 blieb unbeantwortet 8 Otto Bauernfeind musste 1939 in den Pfarrdienst gehen. Er hatte sich gewei­ gert, um eine Verlängerung seiner Lehrerlaubnis als Privatdozent nach neuem Recht anzusuchen, da er sich "als entschiedener Anhänger der Bekennenden Kir­ che im Jahre 1939 einer gesinnungsmäßigen Überprüfung durch den damaligen Reichswissenschaftsminister Rust nicht unterziehen wollte" 9 Prof. Walter Grund­ mann in Jena, Prof. Herbert Preisker in Breslau und Kittel hatten zuvor positive Gutachten über Bauernfeind erstellt und seine "nie verleugnete nationale Haltung" betont.lO Er übernahm ein Klinikpfarramt in Tübingen, konnte aber inoffiziell wei­ terhin Lehrveranstaltungen an der Fakultät abhalten. 1 1

3 4 5 6 7 8 9 10 11

Vgl. Meisiek 1993, 143; Meier 1996, 363; Mulert 1936, besonders 829f. Vgl. Meisiek 1993, 206. Vorlesungsverzeichnisse der Universität Tübingen 1933-1945. Rektor Fezer, Geschäftsbericht 15.2.1935, UAT 1 17C/3. Antrag 25.6.1939, UAT 126/501. Käberle 5.3.1946, ebd. Dekan Rückert an Landesdirektion für Kultus 14.5.1946, UAT 535/169; vgl. Bauemfeind an Rektor 23.7.1939, UAT 193/55. Kittel 23.5.1939, UAT 535/169. Dekan Rückert an Landesdirektion für Kultus 14.5. und 6.6.1946, ebd.

Die Entwicklung der Evangelischen-theologischen Fakultät im "Dritten Reich"

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1936 wurde Weiser zum Nachfolger des emeritierten Volz auf dessen Lehrstuhl ernannt. Zur Wiederbesetzung der außerordentlichen Professur für AT schlug die Fakultät Joachim Begrich aus Leipzig, Karl Eiliger aus Leipzig, Oskar Grether aus Erlangen und Ernst Würthwein aus Tübingen vor. Dabei äußerte sie den "Wunsch, daß vor allem die der Tübinger theologischen Arbeit nahestehenden Würthwein und Grether in erster Linie ins Auge gefaßt werden möchten" 12 Da Würthwein noch nicht habilitiert war, konnte er nicht berücksichtigt werden. Karl Eiliger kam zum Wintersemester 1937/38 als Professor in Vertretung und wurde am 2 1 . Juli 1937 zum a. o. Prof. ernannt. Für den Systematischen Lehrstuhl des 1938 emeritierten Heim schlug die Fa­ kultät Paul Althaus aus Erlangen, Adolf Köberle aus Basel und Friedrich Karl Schumann aus Halle vor, mit Vorrang für Köberle.13 Dieser wurde zum 27. Oktober 1939 berufen 14 Zu den beiden Neuberufungen bemerkte Rückert als Dekan in ei­ nem Gutachten 1946: "Sowohl in Prof. Köberle wie in Prof. Eiliger sind zwei Ge­ lehrte berufen worden, die dem Nationalsozialismus und den D [eutschen1 C[hristen1 fernstanden und die sich aktiv und reibungslos der entschieden kirchlichen Front der Fakultät einfügten."15 Das Gutachten der Fakultät, das sich an Rückerts Text anlehnte, ergänzt: "Was es bedeutet, daß bei beiden Gelegenheiten das Eindringen deutsch-christlicher Elemente in die Fakultät vermieden werden konnte, ermißt nur derjenige, dem bekannt ist, wie stark die Fakultäten in dieser Hinsicht unter Druck gesetzt wurden.'d6 Allerdings sind Zweifel an dieser Einschätzung vor allem Kö­ berles angebracht. Denn Köberle hatte sich in Basel im Sinn der NSDAP deutsch­ national verhalten. 17 Zur Wiederbesetzung des durch Emeritierung von Schlunk freiwerdenden Lehrstuhis für Missionswissenschaft erwog die Fakultät Walter Freytag aus Ham­ burg, Wilhelm Stählin aus Münster, Walter Holsten aus Hasbergen bei Osnabrück, wobei sich die Mehrheit für Freytag aussprach.18 Die Wiederbesetzung konnte je­ doch nicht erfolgen, da die Professur im September 1941 durch das Reichswissen­ schaftsministerium aufgehoben und in eine Professur für afrikanische Völkerkunde an der Philosophischen Fakultät umgewandelt wurde 19 Kittel wurde zum 18. September 1939 vom Reichswissenschaftsminister, "vor­ behaltlich jederzeitiger Widerrufung", zur Vertretung der Professur für Neues Tes-

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18 19

Protokollbuch der Evangelisch-theologischen Fakultät, UAT 16211, 25.6.1936, 376. Ebd. 26.6.1938, 386. Rektor an Dekan 1 1 . 1 1 . 1939, UAT 5351176. Gutachten Rückert 19.8.1946, UAT 535/184. Gutachten der Fakultät über die politische Haltung Weisers 1946, ebd. Deutsches Nachrichtenblatt. Mitteilungsblatt der deutschen Kolonien in der Schweiz 1.4.1938: Bericht über die Gedächtnisrede Käberles bei der Heldengedenkfeier in Zürich, UAT 5351176. Deutsches Konsulat an Dekan Weiser 12.4.1938: "Er hat seine politische positive Einstellung wiederholt unter Beweis gestellt"; UAT 535/176. Protokollbuch der Evangelisch-theologischen Fakultät, UAT 16211, 15.7.1939, 395. Wissenschaftsministerium 30.10.1941, UAT 162/44; vgl. Dekan Käberle an Rektor 30.6.1945, UAT 162/53. Dekan Rückert an Landesdirektion für Kultus, Erziehung und Kunst 24. 1 . 1 947, ebd.

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tament an die Universität Wien versetzt 20 Ab 1 . April 1 943 wurde er wieder in Tübingen eingesetzt 2! Die Fakultät zog als Ersatz für den Ausfall Kittels die Pro­ fessoren Julius Schniewind aus Halle und Joachim Jeremias in Göttingen für eine kommissarische Vertretung in Erwägung 22 Ein Jahr später zeigte die Fakultät ei­ nen gewissen Unmut über die Unklarheit darüber, ob Kittel endgültig in Wien blei­ ben werde. "Da es den Anschein hat, dass Kittel die Angelegenheit in der Schwebe halten will, die Fakultät ihrerseits an einer baldigen Lösung der Frage des neutesta­ mentlichen Lehrstuhls interessiert ist, so soll eine baldige Klärung der Frage her­ beigeführt werden, wobei die Fakultät an Bultmann, Jeremias, [Ernst] Lohmeyer [aus Breslau] und lOtto] Michel [aus Halle] denkt'm, und zwar für eine Neubeset­ zung. Stattdessen kamen als Vertretung 1940 Ethelbert Stauffer und 1941 Otto Mi­ chel, für den die Fakultät wünschte: "Es wird angesichts der evtl. Rückkehr D. Kittels festgestellt, daß die Fakultät einstimmig dafür ist, Herrn Michel dem neu­ testamentlichen Fach in Tübingen zu erhalten. "24 Sie beantragte für ihn eine Do­ zentur für die Zeit nach der Rückkehr Kittels 25 Der Württembergische Kultminis­ ter gab aber den Antrag nicht nach Berlin weiter 26 Der Rektor widerrief den Vertre­ tungsauftrag an Michel bei der Rückkehr Kittels im März 1943 27 Kittel wurde dreimal eine Professur für Judaica an einer philosophischen Fa­ kultät angeboten, in Tübingen, Berlin und Wien, was er nach einer Äußerung von 1946 als den Versuch auffasste, ihn der Theologie abspenstig zu machen und ganz auf die Seite der Ideologie der NSDAP zu ziehen. Obwohl diese Angebote ange­ sichts der GeHihrdung der theologischen Fakultäten für Kittel verlockend waren, habe er sie immer "kategorisch abgelehnt" 28 Karl Fezer bekam Ende 1933 einen Ruf nach Berlin, den er aber ablehnte. Er wurde daraufhin zum ordentlichen Professor für Praktische Theologie ernannt 29 Karl Heim lehnte 1937 einen Ruf an das Theological Seminary der Universität Princeton auf den Lehrstuhl von Charles Hodge ab 30 Ein Problem für die Fakultät stellte Stracke dar, der schon im Kirchenstreit eine von der Mehrheit abweichende Haltung eingenommen hatte (siehe dazu unten 3d). Diese RandsteIlung hatte offensichtlich dazu geführt, dass sich Stracke an den Sit­ zungen und Prüfungen der Fakultät nicht mehr beteiligte 3! Er ließ sich 1939 davon entbinden. Grund dafür war auch Strackes zunehmende Entfremdung von Theolo­ gie und Kirche. Er sagte über sich selbst, er sei "im Wesen nicht etwa Theologe, sondern Soldat". Auch werde er von den Theologiestudenten "seit langem so gut 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31

Reichswissenschaftsminister an Kittel 15.9.1939, UAT 126/326c. Reichswissenschaftsminister an Rektor 8.2.1943, ebd. Protokollbuch der Fakultät, UAT 162/1, 27. 1 1 . 1939, 398. Ebd., 5.12. 1940,403. Ebd., 1 6 . 1 1 . 1942, 405. Dekan an Reichswissenschaftsrninister 5.2. 1943, UAT 535/178. Dekan an Michel 10.6.1943, ebd. Rektor an Dekan 1.3.1943, Briefbuch der Fakultät, UAT 162/5. Kittel, Meine Verteidigung 1946, UAT 162/3 1 , 48. UAT 162121. Heim an Rektor 2 1 .4.1937, UAT 1261266a; Pressernitteilung, UAT 162127. Protokollbuch der Fakultät, UAT 16212, 15.7. 1939, 395.

Die Entwicklung der Evangelischen-theologischen Fakultät im "Dritten Reich"

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wie ganz abgelehnt" 32 Stracke stellte Überlegungen an, ein eigenes Institut für "Deutsche Frömmigkeit" zu gründen, was aber Rektor Hermann Hoffmann verhin­ derte, da Stracke einen "unausgeglichenen Charakter und eine zu geringe Vorbil­ dung" habe. Außerdem arbeite in diesem Sinne schon Prof. Jakob Wilhelm Hauer an der Universität 33 Auch der neue Plan, "Deutsche Wehrkunde" zu lehren, wurde abgelehnt. 34 Die Philosophische Fakultät weigerte sich, Stracke zu übernehmen 35 1943 wurde Stracke beurlaubt, um im "Arischen Institut" Hauers zu arbeiten36, mit dem er aber bald in Streit geriet, weil er "erkenntnistheoretische und methodologi­ sche Bedenken" gegenüber dessen Methode hatte. Er sei 1942 aus der Kirche aus­ getreten, "weil sie sich gegen den großen Gang der Geschichte unserer Zeit ge­ sperrt" habe, aber nicht, um sich "in einen Kampf gegen das Christentum herein­ ziehen zu lassen". Denn "wer gegen das Christentum, das ja von den Kirchen sehr wohl zu unterscheiden ist, kämpft, der bekämpft zugleich den Nationalsozialismus. Er gefahrdet die Einheit und die seelische Geschlossenheit unseres Volkes und ge­ fahrdet damit unseres Volkes Kraftanstrengung gegen den äußeren Feind" 37 Ende 1943 war Stracke wieder in der Evangelisch-theologischen Fakultät 38 1 945 trat er wieder in die Landeskirche ein 39 Rückert schlug wegen des zeitweiligen Ausscheidens von Stracke aus der Fa­ kultät 1 942 Hans von Campenhausen, Walther Eltester und Walter Völker als even­ tuelle Nachfolger Strackes vor.40 Völker war dann 1 943 vertretungsweise Professor für Kirchengeschichte in Tübingen, als Rückert und Stracke zum Kriegsdienst ein­ gezogen waren. Kriegsdienst mussten 1939 Weiser, Eiliger und Stracke leisten, 1 940 Eiliger, Rückert, Stracke und Weiser, 1941/42 auch Würthwein und Haußmann 41 Die Fa­ kultät bat um Befreiung vom Heeresdienst für Rückert, Weiser und Ellige02, hatte damit aber nur teilweise Erfolg. Fezer wurde auf Bitten des Dekans für "bis auf weiteres unabkömmlich" erklärt 43 32 33 34 35 36 37

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Stracke an Eugen Mattiat 2 1 . 10.1937, UAT 126a/486. Rektor Hoffmann an Kultminister 20. 12.1937, ebd. Kultrninister an Stracke 15.8.1939, ebd. Dekan an Rektor 22.12.1939, ebd. Rektor an Dekan: Briefbuch der Fakultät 6.2.1943, UAT 162/5. Stracke an Hauer 14.5.1943, UAT 126a/486. Ähnlich Stracke an Rektor Otto StickI 12.5.1943: "Wirklich echter Nationalsozialismus und wirklich echtes Christentum sind als Gesinnungs­ mächte identisch. Diese Überzeugung hat mich zu meinem Austritt aus der Kirche veranlaßt, weil sie sich hermetisch abgesperrt hat gegen den Gestaltwandel, der ihr von dem großen Gang der Geschichte unserer Zeit auferlegt war und ist. Dagegen bedeutet mein Austritt aus der Kir­ che keineswegs, daß ich nun etwa gegen das Christentum kämpfen will"; ebd. Dekan an Rektor 2.12. 1943, ebd. Entnazifizierungsspruch 4.3.1949, UAT 413/224. Dort wird Stracke als Mitläufer eingestuft: "Seine wissenschaftliche Tätigkeit während des NS-Regimes belastet den Betroffenen nicht." Dekan Bauemfeind habe ihn als "unbedingt aufrichtigen, ehrenhaft denkenden Menschen" be­ zeichnet. Protokollbuch der Fakultät, UAT 162/1, 1 6 . 1 1 . 1942, 405. Vorlesungsverzeichnisse der Universität Tübingen 1940-1942. Protokollbuch, UAT 16211 , 23 . 1 1 . 1939, 398. Rektor 9.2.1944, UAT 16212 1 .

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b. Studenten Die Tübinger Evangelisch-theologische Fakultät war 1933 die größte in Deutsch­ land. Sie hatte im Wintersemester 1 932/33 932 Studenten, davon 53 Frauen. 263 Württembergern standen 352 Studenten aus Preußen und 94 aus Bayern gegenüber. Ein Jahr später war die Studentenzahl mit 952 noch etwas höher, davon waren 68 Frauen. Danach nahm die Zahl stetig ab. 1934: 763; 1 934/35: 748; 1935: 692; 1935/36: 67 1 ; 1936/37: 641 ; 1937/3 8 : 387; 1938: 368; 1938/39: 348; 1939: 300; 1940: 26944; danach bis 1 945 unter 100 45 Zusammen mit der Katholisch-theologischen Fakultät nahm der Anteil der Theologiestudierenden an der Gesamtzahl der Studenten an der Universität Tübin­ gen von 25 % im Jahr 193 1 auf 42 % im Jahr 1936 zu. Auch 1939 lagen sie noch bei 3 1 % 46

2. Universitäre, kirchliche und politische Betätigung und Funktionen der Professoren a. universitär Der auch besonders kirchenpolitisch engagierte Praktische Theologe und Ephorus des Stifts Karl Fezer wurde am 1 1 . Dezember 1933 als Nachfolger von Albert Diet­ rich zum Rektor der Universität ernannt. Als ihn der württembergische Kultminis­ ter dazu aufgefordert hatte, das Rektorat zu übernehmen, lehnte Fezer nach späterer Aussage zuerst mit der Begründung ab, dass er "in den kirchlichen Kämpfen der vorausgegangenen Monate eindeutig [sleine Stellung auf der Seite eines klaren bi­ blischen Christentums bezogen hätte und auch nicht gewillt sei, diese Stellung ir­ gendwie aufzugeben". Er könne sich daher nicht denken, das Vertrauen einer nati­ onalsozialistischen Regierung zu besitzen. Als der Minister auf seiner Forderung bestand, besprach sich Fezer mit Landesbischof Theophil Wurm, der meinte, Fezer könne im Rektorat weiteres Unglück verhüten 47 Während seines Rektorats ver­ suchte Fezer, "den Bruch des Rechts und den Angriff auf die Freiheit der persönli­ chen Überzeugung zu verhindern". Bei Berufungen versuchte er, "eine einseitige parteimäßig-autoritäre Besetzung der Professuren zu verhindern, durch Befragung des Großen Senats, trotz des Mißfallens des Ministers, der die Universitätsverfas­ sung, welche die Mitwirkung des Großen Senats bei Berufungen vorsah, außer Kraft gesetzt hatte". Allerdings bekannte er sich in seinem Geschäftsbericht als Rektor 1935 zum "Führerprinzip", das jedoch die "vertrauensvolle Verbundenheit" der Dozentenschaft nicht überflüssig mache. Er stellte sich durchaus in den propa44 45 46 47

Vorlesungsverzeichnisse der Universität Tübingen 1933-1939. Setzler 1977, 225. Adam 1977, 157. Fezer an Rektor Schneider 12.9.1945, in: HerrnIe u.a. 1988, 303f.

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gandistischen Dienst des Staates, wenn er von "tiefen Eindrücken von der Gefahr­ lichkeit des Vorurteils gegen den heutigen deutschen Staat und von der Notwendig­ keit des persönlichen Kampfes gegen die Verleumdungen im Ausland" berichtete, die er in Bern gewonnen haben wollte 48 "Der Beginn des Rektorats Fezer markiert den Abschluß der ersten, noch vom Prozeß der Machtergreifung und Gleichschal­ tung geprägten Phase voll äußerer und innerer Unruhe und einer unverkennbaren Unentschlossenheit der politischen Instanzen, auf welche Ziele hin sich die vom Nationalsozialismus beherrschten Hochschulen entwickeln sollten. Gleichzeitig entstanden unter Fezer die ersten, noch rudimentären Strukturen und Institutionen, die das Bild der Universität künftig prägen sollten."49 Dazu gehörten das Amt des Führers der Dozentenschaft und die SA-Hochschulämter. Fezer musste 1934 den Arier-Nachweis für die Beschäftigten der Universität anordnen 50 Nach einer Maßregelung durch den Kultminister wegen der Solidaritätserklä­ rung für den bedrängten Landesbischof Wurm stellte Fezer sein Rektoramt zu Ver­ fügung, wurde aber vom Minister angewiesen, es weiterzuführen. Allerdings sollte er nicht mehr vom Minister empfangen werden. Bei der allgemeinen Neubesetzung der Rektorate an den deutschen Universitäten im Februar 1935 wurde Fezer von 90 % des Lehrkörpers weisungswidrig wiedergewählt. Statt seiner berief der Reichswissenschaftsminister einen anderen Kollegen, Friedrich Focke, zum Rektor der Universität Tübingen 51 Der württembergische Kultminister Mergenthaler be­ richtete an den Reichswissenschaftsminister, er könne sich dem Votum der Univer­ sität für Fezer nicht anschließen, da er sein Amt im Kirchenstreit nicht pflichtge­ mäß geführt habe. Dass er trotzdem so viele Stimmen, darunter auch von Parteige­ nossen, auf sich habe vereinen können, werfe ein "bezeichnendes Licht auf die Verhältnisse im Tübinger Lehrkörper", in dem sich "nur ganz wenige wirkliche alte Parteigenossen" befanden, denen "in den Jahren des Kampfes nationalsozialisti­ sche Disziplin zur zweiten Natur geworden" seP2 Rektor Hermann Schneider äußerte sich nach dem Krieg 1 945 zum Wiederein­ setzungsantrag Fezers nach dessen Suspendierung durch die Militärregierung über seinen Vorgänger: "Ohne Zweifel hat Fezer durch die ausgesprochen religiös gefärbte Eindringlichkeit und Wucht, mit denen er seinen Glauben an die Mission Hitlers in seinen Kundgebungen als Rektor aussprach, vielen femstehenden und mißtrauischen Deutschen [den Nationalsozialismus] ein­ leuchtend gemacht und nahegebracht und damit in bester Meinung zur Mißleitung unseres Volkes beigetragen. Auf der anderen Seite war es bald unverkennbar, daß er sich seines Irrtums bewußt wurde und weder sich selbst noch seine früheren Gesinnungsgenossen und Abgötter bei der Aufdeckung und Geißelung von Mißbräuchen und Verirrungen schonte. Sein Rektorat

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51 52

Geschäftsbericht vor den Dozenten der Universität 15.2.1935, UAT 1 17C/3. Adam 1977, 56f. Thierfelder 1988, 140. Ob das Urteil Heibers richtig ist, dass ,,1934 aber bereits [ . . . ] ersichtlich [wurde] , daß dieser Rektor doch nicht der rechte Vertreter des Nationalsozialismus an der Uni­ versität war und seine Begeisterung für Partei und Staat nur so weit ging, als die innere Orga­ nisation der Universität davon nicht berührt wurde" (Heiber 1994, 235), ist fraglich. Fezer an Rektor Schneider 12.9.1945, in: HerrnIe u . a.1988, 304; siehe auch UAT 1 17C/3. Vgl. außerdem Adam 1977, 6lf., 64 und Heiber 1994, 236: 114 Stimmen von 125 für Fezer. Zitiert nach Heiber 1994, 236f.

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war ausgezeichnet durch Sachlichkeit der Amtsführung und mutigen Widerstand gegen Zumu­ tungen vonseiten des nationalsozialistischen Ministeriums sowie durch unbedingtes Vertrauen der gesamten Dozentenschaft. "53

Fezer wurde Anfang Mai 1933 vom Fakultätentag, an dem auch Faber und Weiser teilnahmen, zum Vertrauensmann gegenüber der Regierung gewählt, "mit dem Auftrag, bei den Arbeiten zum Neubau der Verfassung der deutschen Evang. Kir­ che die Belange der Evang. theol. Fakultäten wahrzunehmen" 54 Das Dekanat der Fakultät lag die meiste Zeit in den Händen von Weiser. Er hatte es schon 1932 inne und wurde 1933 durch Wehrung abgelöst. Dessen Nach­ folger Rückert wurde jedoch bereits am 22. September 1934 wegen seines Verhal­ tens im Kirchenstreit vom Kultminister abberufen. Nach einer Zeit der kommissa­ rischen Verwaltung des Dekanats durch Heim wurde 1935 wieder Weiser als Dekan eingesetzt und blieb dies bis 1945. Weiser hatte sich offensichtlich zuerst gewei­ gert, das Amt noch einmal zu übernehmen, aber die Fakultät hat ihn nach Rückerts Aussage im Jahre 1 946 dringend gebeten, "seine starken inneren Widerstände zu überwinden und das Amt anzunehmen, weil sie ihn als charaktervollen Vertreter der theologisch-kirchlichen Anliegen gegen den Nationalsozialismus bereits be­ währt gefunden hatte und weil im anderen Fall die Einsetzung eines deutschchrist­ lichen Nichtordinarius oder eines national-sozialistischen Kommissars aus einer anderen Fakultät und damit die Zerstörung der Fakultät gedroht hätte.,,55 Als Be­ dingungen habe Weiser gefordert, die Maßregelung der Fakultät zurückzunehmen, den abgesetzten Dekan Rückert als Prodekan einzusetzen und die ungehinderte Lehrtätigkeit zu garantieren. Weiser habe in seiner Amtsführung kein Führerprinzip verfolgt, sondern immer im Einvernehmen mit der Fakultät gehandelt. Unter sei­ nem Dekanat seien die dem Nationalsozialismus fernstehenden Köberle und EHi­ ger berufen, der radikale Vertreter der deutsch-christlichen Richtung Stracke weit­ gehend ausgeschaltet und die wegen ihrer kirchenpolitischen Haltung gefahrdeten Bauernfeind und Michel geschützt worden. 56 Das Gutachten der Fakultät von 1946 führt noch an, unter Weisers Dekanat hätten die aus rassischen Gründen verfolgten Theologiestudenten in Tübingen studieren und Examina ablegen können 57 Dieser Darstellung von Weisers Verhalten als Dekan widersprach allerdings Bauernfeind teilweise 58 Hermann Faber organisierte über Beziehungen zur Firma Robert Bosch eine finanzielle Unterstützung von Theologiestudenten, die zum Beispiel auch dem ju­ denchristlichen Wolfgang Schweitzer zugute kam 59

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UAT 149/39. Fezer an Rektor Schneider 12.9.1945, in: HerrnIe u.a. 1988, 302. Gutachten von Rückert über die Führung des Dekanats durch Weiser 19.8.1946, BI. 1 , 1 , UAT 535/184. Ebd., BI. 1,2 BI. 2,1. Gutachten der Fakultät über die politische Haltung Weisers [1946], 4, ebd. Bauernfeind an Kultminister 18.2.1949, ebd. Gutachten Bauernfeind 28.3.1948, 3, UAT 535/174. -

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b. kirchlich Als Vertrauensmann des Fakultätentags war Fezer an der Neugestaltung der evan­ gelischen Kirche in Deutschland beteiligt. Er war Mitglied in einem von Wehr­ kreispfarrer Ludwig Müller geleiteten Ausschuss, der die neue Verfassung der DEK festlegen sollte 60 Die Berliner Regierung versuchte, eine Reichskirche zu etablie­ ren und die Landeskirchen aufzulösen. An der einstweiligen Leitung der Reichskir­ che war Fezer neben Ludwig Müller, Friedrich Karl Schumann, Otto Koopmann und Simon Schöffel beteiligt 61 Als Reichsbischof wurde Ludwig Müller einge­ setzt, den Fezer anfangs als einen relativ gemäßigt erscheinenden Vertreter gegen die radikalen Gleichschaltungsabsichten des Reichsleiters der Deutschen Christen (DC) Joachim Hossenfelder unterstützte. 62 Wenig später aber forderte Fezer Reichs­ bischof Müller zur Abdankung auf, nachdem klar geworden war, dass er die Zer­ schlagung der Landeskirchen beabsichtigte. Schon mit der Wahl Müllers zum Reichsbischof war Fezer nicht einverstanden, er hatte aber die Wahl zu leiten und das Ergebnis öffentlich mitzuteilen. Auch auf einer Audienz bei Hitler am 25. Ja­ nuar 1934 forderte Fezer zusammen mit den Landesbischöfen von Württemberg und Bayern die Amtsenthebung Müllers 63 Eng mit diesen Funktionen und Tätigkeiten verknüpft war die Mitgliedschaft Fezers bei den Deutschen Christen. Dieser "Glaubensbewegung" trat Fezer im Mai 1933 bei, weil er den Eindruck hatte, dass in ihnen der Einfluss Müllers gegenüber dem Hossenfelders zunahm und unterstützt werden müsste. Müller hatte Kritik ge­ übt am Programm der DC, das vom ersten Reichsleiter Hossenfelder stammte. Fe­ zer anerkannte die drei Ziele, die Müller für die DC vorsah: Volksmission, volks­ nahe Predigtweise, Einbezug der Laien. Allerdings machte Fezer auch gegen Mül­ ler geltend, "daß es unmöglich sei, für eine christliche Kirche, den sog. Arierpara­ graphen zu übernehmen" und das Alte Testament abzulehnen. Er erreichte "gegen starke Widerstände die Streichung des Arierparagraphen aus den Richtlinien der ,Deutschen Christen''' M "Unter Fezers Mitwirken entstanden die neuen Richtli­ nien der Deutschen Christen vom 16.5. 1933, die auf eine entsprechende Vorlage des gemäßigten ostpreußischen Flügels der Glaubensbewegung DC unter Wehr­ kreispfarrer Ludwig Müller zurückgingen, aber entsprechend überarbeitet waren. Im Unterschied zu den radikalen Hossenfelderschen Richtlinien der Glaubensbe­ wegung DC vom Juni 1932 fanden die ,Fezerschen Richtlinien' auch in Kreisen der neu entstandenen ,Jungreformatorischen Bewegung' eine gewisse Anerken­ nung. "65 Sie waren Ausdruck der Bindung der kirchlichen Verkündigung an das

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Thierfelder 1986, 280. Meier 1992, 47. Siegele-Wenschkewitz 1978, 45. Fezer an Rektor Schneider 12.9.1945, in: HerrnIe u.a.1988, 302f. Ebd., 302. Meier 1996, 105; vgl. Meier 1992, 4 1 .

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deutsche Volk66, konnten aber die alten Richtlinien von Hossenfelder nur ergänzen, nicht ersetzen 67 Noch vor der Krise um die DC rechtfertigte Fezer Müllers Kandidatur zum Reichsbischof und erläuterte in einem Vortrag vom 7. Juni 1933 sein Verständnis der Gleichschaltung der Kirche mit dem Staat. Die Frage nach der Gleichschaltung müsse mit ja und mit nein beantwortet werden: "Nein, wenn [ . . . ] mit solcher Gleichschaltung gemeint wäre: Jetzt wird der Staat zum Herrn der Kirche und die Kirche ihrerseits zur hörigen Dienerin seiner Interessen. [ . . . ] Zu einer sol­ chen Gleichschaltung müsste ein Christ, und erst recht ein Theologe, Nein sagen, und koste es, was es wolle. "68

Ja gesagt werden müsse zur Gleichschaltung, wenn sie so verstanden würde, "dass der Wille der Kirche und der Wille des verantwortlichen Staatsführers beide sich beugen vor Gott, und dass in diesem innersten Punkt der Zusammenschluss, die Gleichschaltung erfolgt" 69 Fezer forderte von den evangelischen Christen, die neue Staatsform nicht nur zu begrüßen, sondern an ihr mitzuarbeiten. Dies gründe auf dem "Ja zu dem im Grund des Nationalsozialismus lebenden Ernst des Glaubens" 7o Diese religiöse Einschätzung des Nationalsozialismus beruhte auf Wunschvorstellungen und war eine völlige Verkennung seiner Prinzipien und eine Verwechslung von Unglaube und Aberglaube mit Glaube. Mitglieder bei den DC waren auch die Tübinger Theologieprofessoren Kittel, Rückert, Stracke und Weiser. "Bis auf Stracke traten alle wieder aus den DC aus, nachdem die Berliner Sportpalastkundgebung der DC Schrift und Bekenntnis ver­ höhnt hatte.'01 Sie protestierten damit gegen die Rede des Gauobmanns der Berli­ ner DC Reinhold Krause n Fezer wurde im Juli 1934 daraufhin aus der Nationalsy­ node ausgeschlossen.73 Der Jungreformatorischen Bewegung, die gegen den Alleinvertretungsan­ spruch der DC und gegen den Ausstoß von "Nichtariern" aus der Kirche war, hatte sich neben Walter Künneth, Hanns Lilje und Martin Niemöller auch Karl Heim angeschlossen 74 Otto Michel stand der Bewegung in seiner Hallenser Zeit nahe 75 Der Freien Volkskirchlichen Vereinigung, "die als landeskirchlicher Verband die Aktivitäten der bekenntniskirchlichen Gruppen in Württemberg zu unterstüt­ zen, aber auch zu mäßigen suchte", hat sich 1935 Georg Wehrung angeschlossen 76

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Thierfelder 1988, 133. Kirchlicher Anzeiger für Württemberg vom 7.12. 1933, in: Schäfer 1972, Bd. 2, 855. Korrigierte Mitschrift des Vortrags vom 7.6.1933, 2f., UAT 679/3. Ebd., 5. Ebd., 20. Meisiek 1993, 289; Adam 1977, 56 verwechselt die DC mit der Glaubensbewegung Hauers. Meier 1976, 446; Meier 1996, 183; Warum die drei Tübinger Professoren aus den "DC" austraten 1933; Kirchlicher Anzeiger für Württemberg, in: Schäfer 1972, Bd. 2, 854-857. Thierfelder 1986, 28 1 . Meier 1992, 42. Vgl. Siegele-Wenschkewitz 1993, 142, Fußnote 50. Wolfes 1998, 204.

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Der Bekennenden Kirche (BK) gehörte nur Otto Bauernfeind an, und er galt als der eigentliche Vertreter der BK an der Fakultät.77 Otto Michel, obwohl in Halle Mitglied der BK, distanzierte sich in Tübingen von ihr. Diese schwache Vertretung der BK in Tübingen führte zu der Einschätzung Rektor Fockes: "Wer in Tübingen ein bis zwei Semester Theologie studiert hat, ist für den kirchenpolitischen Kampf (im Sinne der Bekennenden Kirche) nicht mehr zu gebrauchen.'os Beim Stiftsjubiläum 1936 wurde auf die BK nicht Bezug ge­ nommen 79 Fezer hatte als Stiftsephorus schon vor 1933 dem Nationalsozialismus im Stift Raum gegeben: "In den Jahren vor der Machtergreifung gehörte gerade das Stift unter meiner Leitung zu den Stellen in Tübingen, wo die nationalsozialistische Bewegung eine Heimat hatte und Förderung fand." so Das führte dazu, dass das Stift im "Dritten Reich" kaum angefochten war 8t "Als Ephorus des evang. theol. Stifts sah ich meine Aufgabe darin, den Stipendiaten die gewissensmäßige Freiheit des theologischen Studium zu sichern, sie vor Benachteiligung, die sie wegen ihrer christlichen Haltung treffen und sie davon abbringen sollte, soweit wie möglich zu schützen. "S2 Der Praktische Theologe Faber engagierte sich für den Religionsunterricht in Tübingen: "Als in den Kriegsjahren in den Volksschulen viele Religionsstunden ausfielen, weil die Lehrer immer mehr dem Druck der Partei und der staatlichen Stellen erlagen, hat D. Faber persönlich in verschiedenen Klassen den Religionsunterricht übernommen und trotz mehrfacher Verwar­ nung durchgehalten. "83

Der Missionswissenschaftler Martin Schlunk ließ sich öfter beurlauben, um an in­ ternationalen Missionskonferenzen teilnehmen und im Ausland Vorträge halten zu können. Dekan Weiser sagte über Schlunk in einem Artikel zu dessen 70. Geburts­ tag in der "Tübinger Chronik" 1944, er habe "vor allem dem Fragenkreis ,Mission und Volkstum' seine Aufmerksamkeit geschenkt [ . . . ] . Die pietätvolle Achtung der Naturgrundlagen des Volkes ist dadurch zum festen Besitz aller deutsch-evangeli­ schen Missionsarbeit geworden"s4 Dieses Urteil wird bestätigt durch den Text der "Deutschen Erklärung an die Weltmissionskonferenz" in Tambaram bei Madras in Indien von 1938, die von Ordnungen spricht, "die Gott gegeben hat, und die von dauernder Gültigkeit sind: [ . . . ] die Unterschiede der Völker mit ihren verschiede­ nen Regierungsformen, die der Rassen mit ihren verschiedenen natürlichen Ga­ ben", und die darauf Wert legt, dass die "Gültigkeit dieser Ordnungen mit der Ver-

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Dekan Rückert an Landesdirektion für Kultus 6.6.1946. Otto Michel in Theologische Litera­ turzeitung 1949, UAT 535/169; vgl. Siegele-Wenschkewitz 1978, 52 und Meisiek 1993, 24f. und 289. Zitiert bei Thierfelder 1988, 149. Ebd., 1 5 1 . Zitiert ebd., 1 5 1 . Ebd., 156. Fezer an Rektor Schneider 12.9.1945, in: HerrnIe u.a. 1988, 306. Fakultätsgutachten über Faber 1947, UAT 535/174. Tübinger Chronik 29.9.1944, UAT 162/44.

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schiedenheit ihrer Gaben und Aufgaben" geachtet wÜYden 85 Schlunk hatte diesen Text, der sich gegen andere Tendenzen auf der Weltmissionskonferenz richtete, als Leiter der deutschen Abordnung mitverfasst. Er berichtete dem Reichswissen­ schaftsminister am 3 . März 1939 über die Konferenz und bemerkte: "Die jüdische Propaganda arbeitet in der ganzen Welt mit allen Mitteln gegen Deutschland und manchmal wurden uns Fragen gestellt, die auf eine genauere Kenntnis einzelner Vorgänge in Deutschland schließen ließen, als dem Befragten zur Verfügung standen. "86 Dies zeigt, dass auch Schlunk einer Verschwörungstheorie anhing. Al­ lerdings erhielt Schlunk einen scharfen Verweis durch das Reichspropagandaminis­ terium wegen seiner Mitarbeit an dieser Konferenz mit ihrem "übernational-kos­ mopolitischen, dem Nationalsozialismus entgegengesetzten Geist" und der Publi­ kation ihres Beschlusses, der einen "international-pazifistischen Charakter" habe, in seiner "Neuen Allgemeinen Missionszeitschrift", die daraufhin verboten wur­ de 87 Die veröffentlichen Ausführungen "grenzen geradezu an Hoch- und Landes­ verrat und können unter keinen Umständen geduldet werden". 88 Das Reichswissen­ schaftsministerium wollte sich dienststrafrechtliche Maßnahmen gegen Schlunk vorbehalten 89 Schlunk wehrte sich gegen den Verweis mit dem Versuch, "Mißver­ ständnisse über die Konferenz" auszuräumen. Er äußerte dem Rektor gegenüber: "Ich bin überzeugt, daß ich mit allem, was ich in Tambaram gesagt habe und mit allem, was ich über die Konferenz berichtet habe, die Ehre des deutschen Mannes und die Ehre des deutschen Volkes mit keinem Wort auch nur leise preisgegeben habe."90 Das Verbot der Zeitschrift werde die Behauptung verstärken, "in Deutsch­ land sei eine der Wahrheit entsprechende Berichterstattung nicht erlaubt" 91

c. politisch Mitglieder in der NSDAP waren Fezer, Kittel, Michel, Stracke und Weiser seit Mai 1933, Faber seit 1937. Keine Parteimitglieder waren Bauernfeind, Eiliger, Heim, Köberle, Rückert, Schlunk, Volz und Wehrung 92 Fezer verstand seinen Parteibeitritt als Teilnahme an der "Volkssache" , da es sich bei der NSDAP nach ihrem Wahlerfolg im Frühjahr 1933 nicht mehr bloß um eine Partei gehandelt habe. Er versprach sich die Behebung der Arbeitslosigkeit, die Sanierung der Verwaltung und die Förderung der Erziehungsarbeit der Kir­ chen 93 Fezer begründete den Beitritt auch mit der Ansicht, "daß die Kirche nicht noch einmal an einer Massenbewegung vorbeigehen dürfe wie im letzten Jahrhun-

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UAT 126/593. Bericht 3.3.1939, UAT 126/593. Verbot am 4.8.1939, ebd. Ebd. Reichswissenschaftsministerium an Rektor über Kultminister 14.122.8. 1939, UAT 126/793. Schlunk an Rektor 31.8. 1939, 4, UAT 126/593. Ebd., 5. Entnazifizierungsakten, UAT 1621586; UAT 126a/486. Fezer an Rektor Schneider 12.9.1945, in: Hermle u.a. 1988, 301.

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dert an der Arbeiterbewegung". "Aus der anfanglichen Abneigung gegenüber Hit­ ler wurde immer stärker eine große Verehrung."94 Diese wurde auch religiös be­ gründet: "Meine Herren, wer nicht erkennt, daß der Führer uns von Gott gegeben ist, ist entweder töricht oder bösen Willens", so Fezer gegenüber Repetenten des Stifts 95 In seiner Rektoratsrede vom 1 8 . Januar 1934 überhöhte er den neuen Staat: "Das dritte Reich ruht nicht auf von Menschen geschaffenen Institutionen, sondern auf der neu wiedererkannten rassenmäßigen Existenz des deutschen Volkes". Er forderte die Übernahme des Führerprinzips in die Universitätsverfassung 96 Aller­ dings scheint Fezer seinen "Pflichten" als Parteimitglied nicht immer nachgekom­ men zu sein. So wurde er 1934 getadelt, er habe die "Zellenabende" der Partei nicht besucht, und zum nächsten dieser Abende verpflichtet 97 Bald aber, so Fezer nach dem Krieg, habe er in seiner Einschätzung der NS­ DAP einen Irrtum erkennen müssen. "Je deutlicher der antichristliehe Kurs in der Partei die Oberhand gewann, desto öfter und dringlicher legte sich mir der Austritt aus der Partei nahe. Die Hoffnung, daß dadurch, daß die Christen in der Partei blieben, noch irgend etwas gebessert werden könnte, hatte ich aufgege­ ben angesichts der Dynamik, die gerade dem radikalen Flügel der Partei eignete. Allein der Wiederaustritt aus der Partei war praktisch unmöglich gemacht. Ich hätte dadurch, wie man mir versicherte, nicht nur meine eigene Lebensstellung zerstört."98

Der Austritt hätte negative Folgen für die Fakultät wie für das Evangelische Stift gebracht, dessen Ephorus Fezer war. Nach dem Krieg setzte sich die Fakultät, be­ sonders ihre Mitglieder, die nicht der NSDAP angehört hatten, für die Aufhebung der Suspendierung Fezers ein mit der Begründung, dass er "die Grundsätze der nationalsozialistischen Kultur- und Universitätspolitik" nicht verfolgt und ihre Durchsetzung stark gehemmt habe. Er sei in die Partei eingetreten, "weil er von ihr eine Lösung der sozialen Frage und - gemäß § 24 des Parteiprogramms - eine christliche Kultur- und Kirchenpolitik erhoffte [ . . . ] . Sobald der Kurs des National­ sozialismus klar erkennbar wurde", habe er ohne Zögern alle Bindungen zu ihm gelöst, "außer der unlösbaren der äußeren Parteizugehörigkeit - und ist unmißver­ ständlich in die Opposition" getreten.99 Ein von Fezer für den 19. Januar 1939 an­ gekündigter Vortrag vor Studenten im Museum über ,, [d]ie Gewißheit des christli­ chen Glaubens" wurde verboten und musste in die Stiftskirche verlegt werden. IOD Auch Weiser rechtfertigte seinen Parteibeitritt mit der Verantwortung, "die uns als Mitglieder der Theologischen Fakultät die aktive Mitarbeit an den Aufgaben der Kirche zur Pflicht macht". Die "drohende Gefahr des Nihilismus und eines Bürger­ kriegs" sollte gebannt werden. Deshalb habe die Kirchenleitung Wert darauf gelegt, Verbindungen mit der Partei zu unterhalten. Die Professoren glaubten, "im Ver-

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Thierfelder 1988, 132. Mezger 1986, 249. Thierfelder 1986, 282. Parteizellenleiter an Fezer 13.6.1934, UAT 679/3. Fezer an Rektor Schneider 12.9.1945, in: HerrnIe u.a. 1988, 305. Fakultät an Württembergische Landesverwaltung für Kultus, Erziehung und Kunst 2.7.1945, UAT 162/21. 100 Vermerk auf der Ankündigung, UAT 679/3.

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trauen auf Punkt 24 des Parteiprogramms und die feierliche Versicherung, die der Reichskanzler am 2 1 . März 1933 in Potsdam über die positive Bedeutung der bei­ den christlichen Konfessionen abgegeben hatte, im Rahmen von Partei und Glau­ bensbewegung DC diese Aufgabe verwirklichen zu können" 101 Nach dem Streit mit Hossenfelder und Müller versuchte Weiser aus der Partei auszutreten. "Für mich persönlich war damit eine Zugehörigkeit zur Partei sinnlos geworden, da ich in einem Komprorniß keine Lösung zu erblicken vermochte. Ich erklärte daher im Dezember 1933 meinen Austritt aus der Partei. Doch wurde mir nach einiger Zeit eröffnet, daß für Beamte mit dem Austritt die Dienstentlassung ohne Ruhegehalt verbunden sei. [ ] Seit dieser Zeit habe ich trotz wiederholter Verwarnungen keine Veranstaltungen der Partei mehr besucht."I02 Das Spruchkammerurteil entlastete Weiser 1951 mit dem Argument: . . .

"Wenn es auch richtig sein mag, daß man den Parteieintritt eines Theologen schwerer anrech­ nen muß als eines Nichttheologen, so entfällt dieser erschwerende Gesichtspunkt im Falle des Betroffenen deswegen, weil sein Parteieintritt auf Wunsch und im Einvernehmen mit der würt­ tembergischen Kirchenleitung erfolgt war. " 103

Kittel rechtfertigte seinen Parteibeitritt 1933 nach dem Krieg mit politischen Hoff­ nungen: "Mein Beitritt zur NSDAP erfolgte am 1. Mai 1933. Ich hoffte auf eine Behebung der furcht­ barenArbeitslosigkeit und der schweren sozialen Notstände, v. a. darauf, daß die von der Partei mit besonderem Nachdruck geforderte ,Volksgemeinschaft' in Sinne einer echten Überwin­ dung der Klassen- und Standesgegensätze verwirklicht werden möchte." 104

Er sah in der NSDAP eine "völkische Erneuerungsbewegung auf christlich-sittli­ cher Grundlage" und erhoffte von ihr die "Überwindung des Freidenkerturns und der atheistischen Zersetzung des Volkslebens" .105 Er sei nach der Enttäuschung über sie nicht aus der Partei ausgetreten, weil er ohnehin als Theologe einen schwe­ ren Stand in ihr gehabt habe 106 Faber war 1933 noch nicht der NSDAP beigetreten, "weil der Eintritt damals eine Stärkung der Deutschen Christen und eine Unterstützung der Partei in ihrem Streben, in die Kirche und die Fragen des religiösen Glaubens sich einzumischen, bedeutet hätte" 107 Obwohl Freunde ihn 1937 zum Beitritt aufforderten, habe er erklärt, von sich aus nicht um eine Aufnahme nachzusuchen. Er sei aber gar nicht gefragt worden, sondern habe die Mitteilung erhalten, aufgenommen worden zu sein. Seine Hoffnungen und Erwartungen seien aber schwer enttäuscht worden. "Daß ich insbesondere die heidnisch-weltanschaulichen Grundsätze und destrukti­ ven Methoden der Partei ablehnte, ist in vielen Predigten, die ich damals gehalten habe, auch für die Öffentlichkeit deutlich geworden. "108 Faber war Mitglied bei der 101 102 103 104 105 106 107 108

Weiser an Rektor Schneider 10.9.1945, UAT 149/38. Ebd. SpruchkammerurteiI 30.8.1951, UAT 535/184. Kittel an Rektor 12.9.1945, UAT 149/37. Kittel, Meine Verteidigung 1946, UAT 162/3 1 , 1 1 . Ebd., 15. Faber an Rektor Schneider 13.9.1945, 1 , UAT 149/37. Faber an Rektor Schneider 13.9.1945, 2, UAT 149/37; vgl. Gutachten der Fakultät, gezeichnet

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Reiter-SA, aus der er 1939 ausgetreten ist 109 Auf Antrag des Standartenführers der Reiter-SA, nicht auf eigenes Ersuchen, wurde Faber Mitglied bei der NSDAp llO Sein Austrittsantrag wurde 1939 nicht angenommen, aber er habe sich vom Partei­ wesen ferngehalten ll1 Köberle war parteipolitisch nicht engagiert, aber ihm wurde vor seiner Beru­ fung bescheinigt, er habe "seine politisch positive Einstellung wiederholt unter Be­ weis gestellt"112, und er habe sich in Basel "um das Deutschtum in der Schweiz besondere Verdienste erworben"113 Er stand "in scharfer Auseinandersetzung" mit dem NS-kritischen Barth.114 Im Zusammenhang mit seiner Berufung schildert Kö­ berle seine politische Situation in der Schweiz: "Infolge der exponierten und ständig gefährdeten Stellung der deutschen Professoren in der Schweiz habe ich mich im Einverständnis mit dem Deutschen Konsulat in Basel für die Zeit meines auslandsdeutschen Aufenthalts von der Zugehörigkeit zu NSDAP-Partei-Gliederungen zurückgehalten und habe in Basel nur der unter Partei-Leitung stehenden ,Deutschen Kolonie' angehört. " 115

Allerdings trat Köberle auch nach seiner Ernennung zum ordentlichen Professor in Tübingen 1939 nicht der Partei bei. Der einzige Professor, der bis zuletzt bei den De und in der NSDAP mitarbei­ tete und auch SA-Mitglied war, war Stracke. Er beantragte eine Beurlaubung von seiner Lehrtätigkeit, um "tragfahige Grundlagen zur Ausrichtung meiner wissen­ schaftlichen Arbeit nach den dringendsten Erfordernissen der nationalsozialisti­ schen Weltanschauung zu gewinnen" 116 Gegenüber Rektor Schneider äußerte Stracke nach dem Krieg: "Voll Gram und Scham muß ich gestehn, daß erst das Wissen um diese satanischen Ungeheu­ erlichkeiten mich von der Blendung durch die idealistische Außenseite des Nationalsozialis­ mus befreit hat. Hätte ich eher um diese Schande gewußt, so wäre meines Bleibens in der Par­ tei kein Augenblick mehr gewesen." 117

1937 wurden die Theologiestudenten aus der SA, 1938 aus dem NSDStB ausge­ schlossen. "Im Juli 1938 verloren die Theologen in der NSDAP ihre Parteiämter und im Juli 1939 wurde das Aufnahmeverbot für Pfarrer und Theologiestudenten bekräftigt. "118 Gerhard Kittel betätigte sich auch außerhalb der Universität im ideologischen Bereich als Sachverständigen-Beirat für das Referat Religionswissenschaft der "Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts für Geschichte des Neuen

109 110 111 112 113 114 115 116 117 118

von Bauemfeind 28.3.1948, UAT 535/174. Faber an Dekan 14. 1 1 . 1 947; ebd. Gutachten der Fakultät 1947; ebd. Ebd. Deutsches Konsulat in Basel 12.4.1938, UAT 535/176. Dekan Weiser an Pressestelle der Universität 5.4.1939, ebd. Gustav vom Bruch 1937, in: Wischnath 1997, 195. Köberle an Kultminister 1 1 .5.1939, UAT 351/538. Stracke an Kultminister 18.3.1935, UAT 126a/486. Stracke an Rektor Schneider 12.9.1945, UAT 149/38. Meisiek 1993, 323.

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Deutschlands".119 Er galt als Experte für die Geschichte des Judentums und die "Judenfrage" 120 Rektor Schneider urteilte nach dem Krieg 1 945 über Kittel: "Zum Verhängnis wurde ihm die allzu große Nachgiebigkeit gegen den Parteistandpunkt in der Judenfrage. Kittel ist von Haus aus gewiß kein Antisemit, sondern ein ausgezeichneter und verständnisvoller Kenner und besonnener Historiker des Judentums. Aber er hat sich selbst in seiner wissenschaftlichen Schriftstellerei in der Abwägung von Recht und Unrecht zwischen dem Nationalsozialismus und dem Judentum zu Konzessionen und Äußerungen hinreißen las­ sen, die sich mit der Würde und Freiheit der Wissenschaft nicht vertragen. " 12 1

Dazu gehört auch die Verteidigung eines "ernsthaften Antisemitismus" gegen des­ sen Diskreditierung durch falsche Vorwürfe gegen die Juden 122 Am 1938 von den DC gegründeten "Institut zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf die Kirchen" verweigerte Kittel die Mitarbeit, nachdem er in einen immer schärferen Gegensatz zu den DC geraten war 123 Nach eigenem Bekunden hat er bei Rudolf HeB gegen die gewaltsamen Judenverfolgungen 1938-1940 mehr­ mals protestiert. Als dies nicht geholfen habe, habe er sich auf die historischen Ar­ beiten zum antiken Judentum beschränkt in dem "Gefühl, daß das Verhängnis wohl seinen Lauf nehmen müsse" .124 Artur Weiser hat nach späterer eigener Aussage eine Mitarbeit im Reichsinsti­ tut für Geschichte des Neuen Deutschland 1935 mit der Begründung abgelehnt, "daß ich der wissenschaftlichen Erforschung des AT im Rahmen der Theologie zu dienen habe und mich nicht dazu hergeben könne, Material für antisemitische Pro­ paganda zu liefern. Aus dem gleichen Grunde habe ich die Aufforderung zu Beitritt und Mitarbeit an dem Institut zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben (Leiter W. Grundmann) zurückgewiesen."125

3 . Stellung der Fakultät in Universität, Staat, Gesellschaft und Kirche a. Folgeordnung in der Universität Seit dem Sommersemester 1939 wurden die theologischen Fakultäten von ihrem traditionellen ersten Platz in der Rangfolge der Fakultäten verdrängt und auf den letzten Platz nach den Naturwissenschaften, der Medizin, den Rechts- und Wirt­ schaftswissenschaften sowie der Philosophischen Fakultät gesetzt 126 Dies geschah 119 Geschäftsführer Wilhelm Grau an Kittel 24.7.1936, UAT 126/326c. Siehe hierzu den Beitrag von Horst Junginger in diesem Band. 120 Kittel hatte 1933 eine Schrift mit dem Titel "Die Judenfrage" veröffentlicht. 121 Rektor Schneider zum Wiedereinsetzungsantrag, 1945, UAT 149/39. 122 Vgl. Kittel 1934. 123 Kittel, Meine Verteidigung, 1946, UAT 16213 1 , 16. 124 Ebd., 42; vgl. zu Kittels "Verteidigung" Siegele-Wenschkewitz 2000. 125 Weiser an Rektor Schneider 10.9.1945, UAT 149/38. 126 Briefbuch der Fakultät 24.6.1939, UAT 16214; Vorlesungsverzeichnis der Universität Tübingen 1940.

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eigenmächtig durch Rektor Hermann Hoffmann. "Obgleich der Reichserziehungs­ minister die Universität zweimal in scharfem Ton aufforderte, die ursprüngliche Reihenfolge in der Ordnung wiederherzustellen und dem Rektor jede Befugnis für eine derartige Änderung absprach, hielt die Universität bis Kriegsende ungerührt an ihrer Regelung fest."127 Die Mahnung des Reichswissenschaftsministers sollte aber nicht die theologischen Fakultäten unterstützen, sondern zielte auf eine reichs­ einheitliche Regelung zu ihrem Nachteil ab.128

b. Ideologische Beurteilung und hochschulpolitische Tendenzen Hintergrund für die Zurücksetzung der theologischen Fakultäten an der Universität waren Bestrebungen, sie ganz aus der Universität zu verdrängen. Der Gründer der Glaubensbewegung Deutsche Christen Hossenfelder diffa­ mierte die Theologie mit Äußerungen wie: "Theologie ist Unsinn; sie steht zwi­ schen Volk und Kirche:oJ29 Die DC sollten volksnahe kirchliche Praxis unterstüt­ zen, nicht theologische Reflexion. Dass Ludwig Müller, der spätere Reichsbischof, dennoch auf die akademische Theologie gewisse Rücksicht nahm, geht wohl auf den Einfluss Fezers zurück, der ihm seitens der theologischen Fakultäten als deren Vertrauensmann 1933 seine Unterstützung anbot.130 Jakob Wilhelm Hauer, der Tübinger Professor für Religionswissenschaft und Indologie, der auch eine eigene "Deutsche Glaubensbewegung" gegründet hatte, forderte 1935, die theologischen Fakultäten müssten von den Universitäten ver­ schwinden, denn sie widersprächen dem Prinzip der Wissenschaftlichkeit, christli­ cher und deutscher Wesensgehalt vertrügen sich nicht miteinander. Das Theologie­ studium solle an staatlich beaufsichtigten, kirchlichen Seminarien stattfinden.l3l Martin Sandberger, der Bereichsführer Südwest der Reichsstudentenführung, äußerte in einer Aussprache im Oberkirchenrat in Stuttgart mit Direktor Dr. Her­ mann Müller und Oberkirchenrat Wilhelm Pressel132 am 30. November 1938 die Auffassung, die Universitäten müssten im nationalsozialistischen Staat gründlich umgestaltet werden, und zwar in eine "Führerbildungsstätte". Deshalb stelle sich die Frage, ob der Staat noch für die Ausbildung kirchlichen Nachwuchses zustän­ dig sein könne. Die Kirche könne gar nicht wünschen, "daß der Staat die Fakultäts­ politik bestimmt und ihr Zumutungen machen muß im Rahmen des totalen Erzie­ hungswillens, die die Kirche von ihrer Sache her ablehnen muß". Für theologische Fakultäten als Stätte freier theologisch-kirchlicher Forschung sei bald kein Platz mehr an der Universität. "Das Ziel müsse also sein: Schaffung und Bildung einiger freier, von staatlichen Eingriffen unabhängiger theologisch-kirchlicher Ausbil­ dungsstätten." Die kirchlichen Vertreter wiesen in dem Gespräch auf die "Uner127 128 129 130 131 132

Adam 1977, 78. Wolgast 1993, 78. Zitiert in Scholder 1977, Bd. 1 , 526. Ebd., 527f. Meier 1992, 91; Meier 1996, 397. Über Pressel siehe Wischnath 1998.

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träglichkeit und Unmöglichkeit der derzeitigen Situation (zum Beispiel Personal­ politik des Reichserziehungsministeriums, Eingriffe in Forschung und Lehre, Er­ schwerung des theologischen Studiums usw.)" und den "historischen und geistes­ geschichtlichen Standort der theologischen Fakultäten und ihre Bedeutung im Rah­ men der Universitas" hin. "Wenn die staatliche Hochschulpolitik nicht bereit sei, die theologischen Fakultäten fernerhin als berechtigtes Element im Rahmen der Universität zu billigen und zu dulden aus weltan­ schaulichen, religiösen GlÜnden des totalen Staates und ihr mit Rücksicht auf ihren notwendig konfessionell bestimmten Charakter ein gewisses Sonderrecht zuzubilligen, mindestens in dem Mass, dass der theologischen Fakultät das Vorschlagsrecht bei Neubesetzungen unter sachli­ chen und theologischen Gesichtspunkten zugebilligt bleibt, dann sei allerdings für die Kirche und die theologischen Fakultäten der Augenblick gekommen, im Interesse der notwendigen, durch die Sache geforderten Freiheit und Reinheit, wie der theologischen Forschung und Lehre, so auch der Verkündigung, den für sie nicht leichten Weg zu gehen und zur Bildung und Einrichtung eigener, mit dem übrigen Geistesleben nicht unmittelbar verbundener theologi­ scher Forschungs- und Lehrstätten zu schreiten." 1 33

Schon 1934 hatte Hanns Rückert gegen theologiefeindliche Tendenzen betont, "daß die evangelisch-theologische Fakultät, die sich ja immer zugleich auch als ein Or­ gan der Kirche weiß, die Universität als den Ort betrachtet, an dem sie dem völ­ kisch-staatlichen Leben eingegliedert ist und an dem durch sie hindurch die Kirche dem Volke dient" 134 Auf der Reichsgründungsfeier an der Universität Tübingen am 30. Januar 1939, der Feier des "Jahrestags der nationalen Erhebung", griff Rektor Hoffmann die Kir­ chen heftig an und warf ihnen staatsfeindliches Verhalten vor, da sie sich der ras­ sisch-völkischen Weltanschauung verschlössen. Der Staat habe sich nicht nach den Kirchen zu richten, sondern die Kirchen und ihre Lehren nach ihm. "Denn sie sind nur ein Glied unserer Volksgemeinschaft und haben keinen Anspruch auf weltan­ schauliche Sonderrechte." Auch sie hätten dem deutschen Volk in seiner ideellen Wehrkraft zu dienen im Kampf gegen seine politischen und weltanschaulichen Feinde. 135 Dazu passte, was der Dozentenführer Prof. Robert Wetzel ausführte: "Die Geschlossenheit der Hochschule duldet auf die Dauer nur eine Vertretung der Fächer, die als echte Wissenschaft mehr oder weniger unmittelbar die Wirklichkeit erfassen und die dem ganzen deutschen Volk als Glieder seines Körpers und als Teile seines Leibes unentbehrlich sind. Alle Wissenschaft kommt aus echtem Glauben und führt zu ihm zurück; aber es kann niemals eine Wissenschaft vom Glauben geben. Und vollends nicht zwei Wissenschaften von zweierlei Glauben, deren beide sich darum streiten, auf der Grundlage echter deutscher Fröm­ migkeit, des Glaubens an göttliche Macht, die in Natur und Schicksal immer neu sich offen­ bart, ihre menschlich engen und doch ins übermenschliche Absolute zielenden Sonderhäuser aufzuführen." 1 3 6

133 Zusammenfassender Bericht über eine von dem Bereichsführer Südwest, Dr. Sandberger, auf Wunsch der Reichsstudentenführung veranlasste Aussprache mit Dr. E. Müller und Oberkir­ chenrat Pressel am 30. Dezember 1938 im Oberkirchenrat in Stuttgart, UAT 162/743. 134 Rückert 1934a, besonders lOf. 135 Pressemitteilung der Universität Tübingen vom 30. 1 . 1 939, 2, UAT 1 17/1229. 136 Ebd., 5.

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Als Konsequenz davon richtete Wetzel an den Rektor einen Tag danach die Bitte, eine ordentliche Professur für Geschichte des Judentums an der Philosophischen Fakultät zu errichten und schlug dafür die Übertragung der Stelle Kittels mitsamt ihrem Inhaber in diese Fakultät vor. Damit sollte die Religionswissenschaft der "Herrschaft der glaubensmäßig spezialisierten Organisation, in diesem Fall einer theologischen Fakultät als das geistige Glied einer Kirche", entzogen werden. "Taktisch bedeutet mein Vorschlag den ersten Schritt dazu, die theologischen Fakultäten plan­ mäßig ihres eigentlichen wissenschaftlichen Gehaltes so zu entkleiden, daß umso deutlicher wird, wie unmöglich ihr verbleibender Kern, die Absurdität einer ,Wissenschaft vom Glau­ ben ' , in einer im übrigen weltanschaulich klaren Institution verbleiben kann. " 1 37

Die theologiefeindlichen Äußerungen Hoffmanns und WetzeIs riefen den Protest einiger württembergischer Kirchenbezirke hervor, den sie gegenüber der Fakultät zum Ausdruck brachten.138 Landesbischof Wurm schrieb nach diesen Ereignissen am 4. Februar 1939 an den Reichsführer SS: "Alle gegen die Fakultät und die theologische Wissenschaft gerichteten scharfen Angriffe wur­ den von den Professoren und Studenten fast ausnahmslos mit eisigem Schweigen aufgenom­ men. Die Hörer empfanden offenbar das Peinliche dieser Brüskierung einer hochangesehenen Fakultät. " 1 39

Dazu erklärte Wurm, die Evangelisch-theologische Fakultät in Tübingen nehme seit Beginn des 19. Jahrhunderts "eine führende Stellung nicht bloß unter den Theo­ logischen Fakultäten, sondern im deutschen Geistesleben" ein. Dann versuchte er, die Fakultät durch Nachweis ihrer politischen Zuverlässigkeit zu verteidigen. "Wie steht diese Fakultät zum Dritten Reich? Das dürfte schon daraus ersichtlich sein, daß der erste Universitätsrektor nach der Machtergreifung ein Theologe war, Professor D. Dr. Fezer, der Ephorus der berühmten theologischen Bildungsanstalt, des Stifts. Fünf Mitglieder der Fa­ kultät sind Pg., einer ist Adjutant der Reiterstandarte der SA. Professor Kittel ist als hervorra­ gender Kenner des Judentums Mitarbeiter an dem Reichsinstitut für die Geschichte des Neuen Deutschland [ . . . ] . Beim letzten Parteitag in NÜTnberg war er Ehrengast des Führers. Als Nach­ folger für den die Altersgrenze erreichenden Professor Heim hat die Fakultät den Professor Köberle in Basel in Aussicht genommen, einen geborenen Bayern, der dort 5 Jahre lang auf exponiertem Posten die deutsche Sache tapfer mitvertreten hat und wegen seines scharfen Ge­ gensatzes zu Karl Barth unlängst auf einer von Emigranten herausgegebenen schwarzen Liste deutscher Dozenten gestanden hat. " 140

Ein Memorandum vom März 1939 verdeutlicht den kirchlichen Standpunkt. Die Fakultäten sollten an den Universitäten fortbestehen, weil sich dies geschichtlich bewährt habe und weil so das Theologiestudium "in engster Verbindung mit dem gesamten geistigen Leben des Volkes" stehe.141 Wenn dennoch eine Auflösung der theologischen Fakultäten durchgesetzt würde, müsste für die neue Form theologi­ scher Ausbildung der "Charakter wissenschaftlicher Forschungsstätten, an denen die theologische Ausbildung und Erziehung in steter Verbindung mit echter theolo137 138 139 140 141

Wetzel an Rektor Hoffmann 3 1 . 1 . 1939, UAT 1 17/1229. Kirchenbezirke Marbach und Neuenbürg 1939: UAT 162/743. Wurm an Reichsführer SS 4.2.1939, zitiert in: Schäfer 1986, Bd. 6, 69. Ebd., 69f. Ebd., 72.

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gischer Forschungsarbeit sich vollzieht", gewahrt werden. Auch der bekenntnismä­ ßige Charakter müsse erhalten bleiben 142 Landesbischof Wurm betrachtete den Ausschluss der Theologiestudierenden von Ausbildungsbeihilfen "im Zusammenhang mit verschiedenen Versuchen, den theologischen Fakultäten das Wasser abzugraben" 143 Er erreichte, dass die Beihil­ fen wieder gewährt und damit für Theologiestudierende keine Ausnahmen gemacht wurden. Theologische Fakultäten in Deutschland sollten geschlossen oder reduziert werden. 1938 entstand der Plan, die Heidelberger Fakultät nach Tübingen zu verle­ gen. "Anders als das Reichswissenschaftsministerium, das aus konfessionellen Proporzgründen die theologische Fakultät Heidelberg (damals 59 Hörer, 1 Studen­ tin) nach Tübingen verlegen wollte, sollte nach Bormanns Willen Tübingen nach Heidelberg verlegt werden, damit das ausgesprochen evangelisch-theologische Zentrum Tübingen (damals 269 Hörer, davon 9 Studentinnen) durch Heidelberger Studenten nicht noch verstärkt werde."144 Das Reichswissenschaftsministerium ordnete am 12. Oktober 1 944 an, die Fakultäten von Heidelberg und Erlangen nach Tübingen zu verlegen, was aber nicht mehr geschah 145 Allerdings sollten durch den Krieg bedingt neben Berlin nur zwei schwach besuchte Fakultäten, Jena und Wien, offen bleiben, die meistbesuchten Fakultäten Tübingen und Leipzig aber geschlossen werden. Auch diese Maßnahme sollte der Ausschaltung der Theologie an den Universitäten dienen 146 1 940 wurden aber ei­ nige Fakultäten wieder geöffnet, auch in Tübingen, wo die Fakultät 1939 geschlos­ sen worden war 147 Weiser beurteilte nach dem Krieg diese Entwicklung so: "Ein gemeinsamer Generalangriff auf die Theologischen Fakultäten, dessen Ausgang uns nicht zweifelhaft war, ist - wahrscheinlich bedingt durch die innere und äußere Kriegslage - nicht mehr erfolgt. "148 Äußerungen einzelner Mitglieder der Fakultät gerieten unter ideologischen Verdacht. So klagte die nationalsozialistische Zeitschrift "Flammenzeichen" 1938 Heims in seinem Buch "Glauben und Denken" vertretene Auffassung an, zwischen einem gottgläubigen und einem nicht gottgläubigen Menschen bestehe ein größerer Gegensatz als zwischen politischen oder staatlichen Feinden. "Das ist dieselbe Geisteshaltung, die Grundlage und Vorbedingung für den Landesverrat bildet. Es ist dieselbe Haltung, die den Deserteuren im Kriegsfall ein Recht auf ihr Handeln zuspricht. [ . . . ] Mächten doch die maßgeblichen Stellen dem Professor Heim heimleuchten, damit er und seinesgleichen durch ihre christliche ,Ideologie' nicht mehr die Aufbauarbeit des völkischen Deutschland stören." 149

142 143 144 145 146 147 148 149

Ebd., 72f. Wurm an Reichsfinanzminister 17.4.1939, ebd., 77. Meier 1996, 447. Ebd., 455. Meisiek 1993, 339. Ebd., 349. Weiser an Rektor Hermann Schneider 10.9.1945, UAT 149/38; vgl. Meier 1996, 7. Flammenzeichen 12, Februar 1938, 6, in: UAT 126/266a.

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Auf diese Drohungen hin verfasste Heim eine Erklärung, die er zuerst an Dekan und Rektor schickte und dann ähnlich im "Flammenzeichen" veröffentlichen ließ. Darin erläuterte und bekräftigte er seine Auffassung, wollte allerdings auch seine religiös untermauerte "Treue zum Volk" zeigen: "Wenn unser Einsatz für unser Volk im Gottesglauben verankert ist, dann hat unsere Volksge­ bundenheit einen ewigen Grund und ist eine unbedingte Verpflichtung, die durch nichts er­ schüttert werden kann, auch nicht dadurch, daß unter den Gliedern eines uns feindlichen Vol­ kes sich Menschen befinden können, mit denen mir auf religiösem Gebiet eine Verständigung leichter gelingt als mit manchen Volksgenossen." 150

Damit stellte er die verabsolutierte Volksgebundenheit über eine geistliche Verbun­ denheit. Das verhinderte nicht, dass der Kreisleiter der NSDAP in Tübingen Rauschnabel an Rektor Hoffmann schrieb: "Prof. Heim kann von politischer Seite aus nicht rehabilitiert werden." l5l Allerdings beurteilte er Dekan Weiser und Pro­ fessor Heim durchaus als nützliche Ideologen: "Sowohl Prof. Weiser als auch Prof. Heim stehen [ . . . ] nicht in der Front des extremen Be­ kenntniskampfes. Parteigenosse Weiser hat mir, in seiner Eigenschaft als Dekan der Theologi­ schen Fakultät, angedeutet, daß er und Prof. Heim in ihrer Arbeit einen sachlichen Kampf ge­ gen die Bekenntnisfront führen und deshalb schon von der anderen Seite als Ketzer bezeichnet wurden. " 152

Als Heim 1939 von Bischof Viktor Glondys in Rumänien zu Vorträgen nach Kron­ stadt eingeladen wurde, wollte der Reichswissenschaftsminister eine Ausreise Heims nicht genehmigen, da er "zum Teil kritisch beurteilt" werde.153 Der Rektor schlug deshalb statt Heim seinen Nachfolger Köberle vor 154 Da Glondys an dem Besuch Heims festhielt, bekam er doch die Genehmigung.155

c. Stellung der Evangelisch-theologischen Fakultät Tübingen in Deutschland Die Fakultät war sich ihrer Besonderheit und herausragenden Stellung in Deutsch­ land bewusst. Dies brachte etwa Dekan Rückert gegenüber dem württembergischen Ministerpräsidenten zum Ausdruck, um ihre öffentliche Stellungnahme zum Kir­ chenstreit zu rechtfertigen: "Die Eigenart gerade unserer Tübinger Fakultät hat immer darin bestanden, daß sie sich stärker als andere Fakultäten dieser ihrer kirchlichen Funktion bewußt gewesen ist und ihr wissen­ schaftliches Arbeiten vom Dienst an der Kirche her hat bestimmt sein lassen. Darauf beruht auch nicht zuletzt die starke Wirkung, die von ihr ausgegangen ist und die sich noch heute da­ rin ausdrückt, daß sie die von Studenten meistbesuchte und eine der im In- und Ausland ange­ sehensten deutschen theologischen Fakultäten ist. " 156

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Erklärung an Dekan und Rektor 17.2.1938, ebd. Rauschnabel an Rektor 3.3.1938, ebd. Ebd. Reichswissenschaftsminister an Rektor 1.6.1939, ebd. Rektor Hoffmann an Bischof Glondys 7.6.1939, ebd. Reichswissenschaftsminister an Rektor 4.7.1939, ebd. Rückert an Ministerpräsident und Kultminister Mergenthaler 19.9. 1934, UAT 162/848.

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Der württembergische Landesbischof Theophil Wurm brachte gegenüber Angriffen auf den Bestand der theologischen Fakultäten die Bedeutung der Tübinger Fakultät zur Geltung: "Die Evangelisch-theologische Fakultät Tübingen nimmt seit Beginn des 19. Jahrhunderts eine führende Stellung nicht bloß unter den Theologischen Fakultäten, sondern im deutschen Geis­ tesleben ein. Die Namen Baur, Beck, Weizsäcker (Großvater des gegenwärtigen Staatssekre­ tärs im Auswärtigen Amt), Haering, Schlatter gehören zu den glänzendsten in der deutschen Universitätsgeschichte. Unter ihren jetzigen Mitgliedern haben der Systematiker Karl Heim und der Neutestamentler Gerhard Kittel einen über die europäischen Grenzen hinausgehenden, bis nach Amerika reichenden Ruf. Seit Jahrzehnten steht Tübingen auch in der Zahl der Theo­ logiestudierenden an der Spitze sämtlicher deutscher Theologischer Fakultäten; es hat insbe­ sondere auch Ausländer angezogen. " 157

Die Erwähnung der Bekanntheit im Ausland und der Beliebtheit der Fakultät bei ausländischen Studenten sollte die Politik davor warnen, den Ruf Deutschlands durch eine Schließung oder Vertreibung der Fakultät von der Universität zu schädi­ gen. Im Unterschied zu anderen evangelisch-theologischen Fakultäten in Deutsch­ land, die durch Neubesetzungen oder Nichtbesetzungen von Professuren völlig verändert wurden 158, blieb die Tübinger Fakultät weitgehend erhalten. Daran erin­ nerte Weiser den neuen Rektor nach Kriegsende: "Zu einer Zeit, als der Plan der Partei, die theologischen Fakultäten durch Nichtbesetzung ihrer Vakanzen aussterben zu lassen, bereits in Durchführung begriffen war, gelang es, nach Über­ windung von teilweise sehr hartnäckigen Widerständen zwei freigewordene Professuren [Heim und Volz1 mit Gelehrten [Köberle und EIliger1 zu besetzen, die nicht den D. C. angehörten und auf diese Stellen neu ernannt wurden. Dadurch ist die Fakultät auch in theologischer Hinsicht bis zum Kriegsende , intakt' geblieben und hat bis zuletzt ihre Anziehungskraft auch aufAnge­ hörige der Bekenntnisfront bewahrt; hinsichtlich der Besuchsziffern stand sie in der letzten Zeit dauernd an erster Stelle der Theologischen Fakultäten Deutschlands."!59

Diese "Intaktheit" gab der Tübinger Fakultät eine Sonderstellung im nationalsozia­ listischen Deutschland l60 Nachdem die vier Professoren, die ursprünglich den DC angehört hatten, wieder ausgetreten waren, war der Einfluss der DC in Tübingen zurückgedrängt worden. Zwar war die Theologie andererseits auch nicht von der Bekennenden Kirche geprägt, aber Anhänger dieser Richtung konnten auch in Tü­ bingen studieren, weil die Fakultät sich vom lutherischen Bekenntnis der Landes­ kirche nicht entfernt hatte 161 Nachdem der Kultminister den Besuch von Ersatz­ veranstaltungen der Bekennenden Kirche untersagt hatte, berichtete die Fakultät an den Rektor, ihr seien keine Ersatzkurse dieser Art in Tübingen bekannt 162

157 158 159 160 161 162

Landesbischof Wurm an Reichsführer SS 4.2.1939, zitiert in: Schäfer 1986, Bd. 6, 69. Vgl. Wolgast 1993, 64. Weiser an Rektor Hermann Schneider 10.9.1945, UAT 149/38. Vgl. Meisiek 1993, 24f. und 233. Ebd., 257 und 296. Kultminister an Rektor 25. 1 1 . 1936 und Dekan an Rektor 28. 1 1 . 1 936, Briefbuch der Fakultät, UAT 162/3.

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d. Beziehung zur Kirche Die Tübinger Evangelisch-theologische Fakultät hatte traditionell eine gute Bezie­ hung zur Württembergischen Landeskirche. Dies bestätigte sich auch in den Ausei­ nandersetzungen um eine Neugestaltung der evangelischen Kirche in Deutschland seit 1934. Reichsbischof Müller und die zentrale Reichskirchenregierung versuch­ ten eine "Gleichschaltung" der Landeskirchen, was ihre Auflösung in die Reichs­ kirehe bedeutete. Eine Verordnung vom 3. September 1934 sollte die württember­ gisehe Landeskirche der Reichskirche einordnen. Dem widersetzte sich Landesbi­ schof Theophil Wurm, der sich der Barmer Theologischen Erklärung angeschlos­ sen hatte, und verweigerte den Diensteid 163 Daraufhin wurde er vom Reichsbi­ schof abgesetzt, von der NSDAP öffentlich "der Devisenverschiebung bezichtigt, zu Hausarrest verurteilt und in einem Gerichtsverfahren vor dem Landgericht Stutt­ gart freigesprochen, die Bekanntmachung des freisprechenden Urteils aber in der Presse vom Kultminister verboten" 164 Am 14. September 1934 übermittelte Rektor Fezer an Dekan Rückert die Wei­ sung des Württembergischen Kultministers an die Fakultät, "gegenüber den von der Reichskirchenregierung getroffenen und durch die Reichsregierung gedeckten Maßnahmen sich jeder Stellungnahme zu enthalten" 165 Noch im Frühsommer 1934 hatte die Fakultät die Bitte um ein Gutachten zu den Maßnahmen der Reichs­ kirchenregierung, die ihr von der der Bekennenden Kirche nahestehenden Kirch­ lich-theologischen Arbeitsgemeinschaft mit der Absicht gestellt worden war, gegen die Übertragung des Führerprinzips auf die Deutsche Evangelische Kirche (DEK) und die Eingliederung der Landeskirche in die DEK vorzugehen, mit der Begrün­ dung abgelehnt, ein solches Gutachten sei zwecklos. Die Arbeitsgemeinschaft be­ dauerte die Absage der Fakultät: "Wenn die Tübinger Fakultät, wie wir wohl annehmen dürfen, in dieser Sache zu einer klaren, auf dem Evangelium fundierten Stellungnahme in der Lage ist, wäre es doch mindestens für diejenigen, die sich zum Kampf für Wiederherstellung geordneter Zustände in der DEK ver­ pflichtet wissen [ . . . ] von großem Wert, diese Stellungnahme einer hochangesehenen Fakultät zu erfahren. Zudem dürfte gerade ein Wort aus Tübingen am ehesten noch bei der Reichskir­ chenregierung Eindruck machen, zumal Tübingen bei der Bestellung des Reichsbischofs im letzten Jahr eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hat. Zudem ist es bekannt, daß gerade die Tübinger Fakultät sich um eine lebensnahe Theologie nachdrücklich bemüht. " 166

Nach der Zuspitzung der Lage mit der Absetzung von Wurm aber war die Fakultät nicht mehr bereit zu schweigen und wandte sich trotz des Verbots in einem Schrei­ ben am 19. September 1934 an den Württembergischen Ministerpräsidenten und Kultminister Christian Mergenthaler. 163 164 165 166

Vgl. Schäfer 1974, Bd. 3, 524-531. Fezer an Rektor Schneider 12.9.1945, zitiert in: HerrnIe u.a. 1988, 304. Fezer an Dekan Rückert 14.9.1934, UAT 117C/12. Ernst Lachenmann für die Kirchlich-Theologische Arbeitsgemeinschaft an Dekan Rückert 9.6.1934, UAT 162/847. Die Anspielung auf die Rolle der Fakultät bei der Einsetzung des Reichsbischofs Müller dürfte wohl eine Fehleinschätzung sein, wenn man Fezer, dessen Funk­ tion hiermit gemeint ist, glauben darf.

100

Reinhold Rieger "Durch das Eingreifen der Reichskirchemegierung in die Leitung der Württembergischen Evangelischen Kirche ist der Kirchenstreit in ein Stadium eingetreten, in dem auch bei uns Pfarrer und Gemeinden vor überaus ernste und folgenschwere Entscheidungen gestellt sind. Die evangelisch-theologische Fakultät hat von TImen [ . . . ] die Weisung erhalten, daß sie sich der Stellungnahme zu den Maßnahmen der Reichskirchenregierung, soweit diese vom Staat gedeckt würden, enthalte; die Befolgung dieser Anordnung ergebe sich für die Fakultät aus ihrer Gehorsamspflicht gegenüber dem nationalsozialistischen Staat und dem Führer und Reichskanzler [ . . . ]. Die vom Nationalsozialismus geforderte Politisierung der Hochschulen bedeutet für die theologische Fakultät ganz vorwiegend eine noch stärkere Orientierung ihrer wissenschaftlichen Arbeit an den religiös sittlichen Lebensfragen der Nation. [ . . . ] Die Eigenart gerade unserer Tübinger Fakultät hat immer darin bestanden, daß sie sich stärker als andere Fakultäten dieser ihrer kirchlichen Funktion bewußt gewesen ist und ihr wissenschaftliches Arbeiten vom Dienst an der Kirche her hat bestimmt sein lassen. [ . . . ] Zu eben dieser Stellung­ nahme, die die nationalsozialistische Weltanschauung von uns verlangt, fühlen wir uns auch vom Gebot Jesu Christi her verpflichtet [ . . . ]. 1) Es widerspricht dem klaren Wortlaut des NT und den Erkenntnissen der deutschen Reformation Luthers, wenn in der Hand einer einzigen Person die ganze Regierungsvollmacht über die Kirche vereinigt wird [ . . . ] . 2) Wir müssen [ . . . ] feststellen, daß zahlreiche Handlungen der Reichskirchenregierung Wahrheit und Ehre verlet­ zen und an Stelle des Rechts Gewalt setzen [ . . . ] . Damit dürfte deutlich geworden sein, daß sich unser Widerspruch nicht richtet gegen das vom Führer und Reichskanzler in seiner Nürnberger Proklamation ausdrücklich ausgesprochene Ziel einer einheitlich geleiteten Deutschen Evan­ gelischen Kirche, auch nicht gegen die organisatorische Einordnung der Landeskirchen in sie [ . . . ]. Unser entschiedenes Nein müssen wir aber sprechen gegenüber der derzeitigen Kirchen­ regierung. Mit ihren Plänen und Methoden baut sie nicht die einige Kirche im deutschen Volk. Mit aller Zentralisierung der Organisation kann sie nicht verdecken, daß sie durch ihre Maß­ nahmen die Kirche nur innerlich zerreißt und zerstört. " 167

Im gleichzeitigen Schreiben der Fakultät an Landesbischof Wurm heißt es: "Die Fakultät ist sich in diesen Tagen schwerer Verwirrung ihrer Aufgabe und ihrer Verantwor­ tung wohl bewußt und wird unerschrocken, gebunden im Glauben an unseren Herrn Jesus Christus, gegenüber jedermann mit vollem persönlichem Einsatz das vertreten, was ihr an theologischer Erkenntnis geschenkt ist. " 168

Stracke beteiligte sich als Einziger nicht an diesen Schritten der Fakultät und ver­ langte, dies sowohl dem Ministerpräsidenten als auch dem Landesbischof mitzutei­ len 169 Um dem gerecht zu werden, sollte das Schreiben vom 19. September am 2 1 . September 1934 durch ein anderes Exemplar mit den Unterschriften der beteiligten Dozenten ersetzt werden.l7O Der Ministerpräsident reagierte sofort: "Ich habe der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen die Weisung erteilt, von einer Stellungnahme gegen die Maßnahmen der Reichskirchenregierung in Württemberg abzusehen. Ich hatte gehofft, daß der Dekan der Fakultät sich an meine Anordnung gebunden fühlen würde. Statt dessen hat er ihr direkt zuwider gehandelt. Ich sehe mich deshalb genötigt, ihn abzuberufen und ihn und den übrigen noch in aktivem Dienst befindlichen Mitgliedern der

167 Fakultät an Ministerpräsident 19.9. 1934, UAT 162/848. 168 Fakultät an Landesbischof 19.9. 1934, ebd. 169 Protokollbuch der Fakultät 17.9.1934, UAT 162/1, 353; Dekan Rückert an Ministerpräsident und Landesbischof 21.9.1934, UAT 162/848. 170 Dekan an Kultminister 21.9. 1934, UAT 162/848. Die Rede von der "Fakultät" wurde durch "wir" ersetzt.

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Fakultät und den beteiligten Privatdozenten [ . . . ] meine schärfste Mißbilligung auszuspre­ chen." 171

Mergenthaler drohte mit einschneidenden Maßnahmen. Die Fakultätsmitglieder hätten einen Eid auf den Führer abgelegt. Wenn sie Gewissensbedenken hätten, sollten sie ihr Amt niederlegen l72 Dekan Rückert wurde abgesetzt und Heim als kommissarischer Dekan eingesetzt. Landesbischof Wurm hingegen drückte der Fakultät seinen "wärmsten Dank" für die Erklärung aus, "worin sie sich gegenüber der Reichskirchenregierung an die Seite der rechtmäßigen württembergischen Kirchenleitung gestellt" habe. Es sei für ihn "ein wahrhaft beglückendes Gefühl, die theologischen Lehrer der heimischen Universität in solcher Geschlossenheit und Entschiedenheit diesen Standpunkt ein­ nehmen zu sehen" 173 Die Ablehnung der Fakultät gegenüber der von der Reichskirche eingesetzten württembergischen Kirchenführung zeigte sich, als deren Geistlicher Kommissar Eberhard Krauß die Fakultät aufforderte, einen Vorschlag für einen Vertreter in der Landessynode zu machen 174 Gegenüber dem Ministerpräsidenten stellte die Fa­ kultät ihre Zwangslage dar, in die sie dadurch gekommen sei. Entweder sie ent­ sende keinen Vertreter, da für sie die Synode nicht rechtmäßig sei, oder sie müsse dies, wenn sie einen Vertreter entsende, dort kundtun 175 Die Fakultät beschloss: "In der Fakultät herrscht Einigkeit darüber, daß sie in der neuen Landessynode keine Vertte­ tung der württembergischen Kirchengemeinden im Sinne des Neuen Testaments erblicken kann. Die Fakultät, mit Ausnahme des Herrn Weiser, der sich für die praktischen Folgerungen die Entscheidung vorbehält, erkennt darum die neue Landessynode nicht an und lehnt es ab, einen Vertreter dafür vorzuschlagen. " 176

Stracke äußerte dazu die abweichende Einstellung, dass es sich dabei "prinzipiell nur um eine Frage der äußeren Ordnung, nicht um eine Sache, die an Glauben und Gewissen geht", handle, und deshalb die Fakultät der Aufforderung der neuen Kir­ chenleitung folgen solle l77 Damit widersprach Stracke der Auffassung von Wurm, "daß es sich in dem Kirchenkonflikt nicht bloß um Fragen der äußeren Organisa­ tion handelt, sondern um das Wesen der Kirche selbst"178 Am 30. Oktober 1934 trafen sich einige Professoren in Erfurt, um die kirchen­ politische Lage zu besprechen, unter ihnen aus Tübingen Bauernfeind, Faber, Kit­ tel und Rückert. Sie kamen zu der Auffassung, dass illegitimen Kirchenregierungen gegenüber "entschlossener Widerstand als selbstverständlich angesehen" werde. Das politische Führerprinzip auf die Kirche zu übertragen sei unmöglich. Der Schluss des Amtseids "So wahr mir Gott helfe" bedeute, "daß im Konfliktsfall der Schwörende Gott mehr gehorchen muß als den Menschen". Es wurde berichtet, 171 172 173 174 175 176 177 178

Ministerpräsident Mergenthaler an Rektor Fezer 22.9.1934, ebd. Ebd. Landesbischof an Fakultät 30.9.1934, ebd. Krauß an Fakultät 1 . 10. 1934, ebd. Fakultät an Ministerpräsident 5.10. 1934, ebd. Protokollbuch der Fakultät 9.10.1934, UAT 162/1, 356f. Stracke an stellverttetenden Dekan Heim 1 1 . 10.1934, UAT 162/848. Wurm an Konsistorialpräsident der DEK Walzer 10.9.1934, in: Schäfer 1974, Bd. 3, 531.

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dass "alle Anwesenden tatsächlich auf der Seite der Bekenntnissynode stehen und für sie kämpfen. Es wurden freilich auch nicht die Gefahren übersehen, die in theo­ logischer, kirchlicher und politischer Hinsicht auf der Seite der Bekenntnisbewe­ gung sich erheben (besonders Kittel und Beyer). Es wurde aber der Vorstellung entgegengetreten, als wenn mit der Geltendmachung solcher Bedenken die Bildung einer dritten Front angestrebt werde" 179 Danach stellten sich die Tübinger Theolo­ gen auf die Seite der Bekennenden Kirche, wollten aber gewisse Bedenken zur Geltung bringen, ohne damit ihrer Ablehnung der Reichskirchenregierung unter Reichsbischof Müller Abbruch zu tun. Infolge dieser Besprechungen sandten Theologieprofessoren aus Berlin, Bres­ lau, Erlangen, Gießen, Göttingen, Greifswald, Halle, Heidelberg, Jena, Kiel, Kö­ nigsberg, Marburg, Münster, Rostock und Tübingen an Müller am 5. November 1934 eine Rücktrittsforderung: "Wir theologischen Hochschullehrer fordern von Ihnen, daß Sie der zerrütteten und nach Frieden verlangenden Kirche den Dienst tun, sofort zurückzutreten."180 Die Erklärung wurde von der Tübinger Fakultät ab­ gesandt und von den Tübingern Bauernfeind, Faber, Fezer, Heim, Kittel, Müller, Paulus, Rengstorf, Rückert, Schlatter, Schlunk, Traub, Volz, Wehrung sowie Weiser mitunterzeichnet. 557 Tübinger Theologiestudenten schlossen sich der Rücktrittsforderung an Müller an. Dabei versuchten sie, sich auf Hitler zu berufen, indem sie ihm dankten, "daß er die Bestätigung der bisherigen rechtswidrigen Schritte der Reichskirchen­ regierung durch einen Staatsakt nicht vorgenommen hat [ . . . ] . Die Tübinger Theo­ logiestudenten haben mit Schmerz feststellen müssen, daß das mit so großem Ernst begonnene Werk Adolf Hitlers monatelang durch Gewalteingriffe von Seiten der Polizei und Partei in Glaubensangelegenheiten untergraben wurde. [Sie] erwarten, daß die von ihm anerkannte Rechtmäßigkeit der Württembergischen Kirchenregie­ rung Wurm in der Praxis sichtbar werde." l8l Mitte November 1934 wurde der Geistliche Kommissar in Württemberg abge­ setzt und LandesbischofWurm und sein Oberkirchenrat wiedereingesetzt. Dennoch wiederholten die Tübinger Theologen die Rücktrittsforderung an Müller: "Nur der vollständige Mangel einer echten Theologie bei TImen konnte zu einer solchen Ver­ wahrlosung der evangelischen Kirche führen. [ . . . ] Aus der uns als theologischen Lehrern der Kirche aufliegenden Verantwortung beharren wir auf der Forderung Thres Rücktritts. [ . . . ] Sie muten uns zu, wir sollten uns auf unser Lehramt beschränken. Das ist ein Widerspruch in sich selbst. Wir und unsere Studenten haben es von Luther gelernt, daß theologische Überzeugung in kirchlichen Entscheidungen lebens- und volksnah bewährt werden müssen." 182

Die Fakultät lehnte aber eine Zustimmungserklärung zur ersten vorläufigen Kir­ chenleitung unter August Marahrens ab.183 Der Reichswissenschaftsminister Bernhard Rust verpflichtete die theologi­ schen Fakultäten erneut zum Stillschweigen in kirchenpolitischer Hinsicht. 179 180 181 182 183

Protokoll der Besprechung der Professoren in Erfurt 30.10.1934, UAT 162/848. Brieftelegramm an ReichsbischofMüller 5 . 1 1 . 1934, ebd. Entschließung 1 5 . 1 1 . 1934, ebd. Tübinger Theologen an ReichsbischofMüller 2 1 . 1 1 .1934, ebd. Protokollbuch der Fakultät 24. 1 1 . 1 934, UAT 162/1.

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"Es ist Pflicht eines Staatsbeamten, sich in bezug auf öffentliche Streitfragen der Zurückhal­ tung zu befleißigen, die der politischen Verantwortung eines Amtsträgers des nationalsozialis­ tischen Staates entspricht. Gegen diese selbstverständliche und grundlegende Verpflichtung haben Professoren und Dozenten der Evangelisch-Theologischen Fakultäten durch ihre aktive Teilnahme am Kirchenstreit [ . . . ] verstoßen. Ihr Verhalten hat in stärkstem Maße dazu beigetra­ gen, daß der Kirchenstreit in das Gebiet der Hochschulen und in die Reihen der Dozenten und Studenten hineingetragen wurde. [ . . . ] Den Evangelisch-Theologischen Fakultäten ist jede öf­ fentliche Stellungnahme im Kirchenstreit untersagt. " 184

Einige Professoren reagierten auf diesen Erlass des Reichswissenschaftsministers mit Erklärungen über die Konfliktlage, in die sie dadurch gebracht seien. So berief sich Kittel einerseits auf seine aus dem Eid auf den Führer herrührende Pflicht, an­ dererseits auf seinen der Kirche geschuldeten Auftrag zur theologischen Erkennt­ ms. "Wollte ich beides, die Gebundenheit an Staat und Volk und die Gebundenheit an die Kirche, auseinanderreißen, so höbe ich damit mein Amt in seinem innersten Wesen auf. [ . . . ] Ich glaube, wie ich es dem Professor Barth und anderen gegenüber in aller Schärfe vertreten habe, durch ,Schweigen - d. h. durch Neutralität an diesem Punkte des Kirchenstreites - mich zu versündi­ gen.' [ . . . ] Ich glaubte ein verachtenswerter Nationalsozialist und das Gegenteil des vom Nati­ onalsozialismus geforderten politischen Professors zu sein, wenn ich mich auf den ,akademi­ sehen' Charakter meines Lehramtes zurückzöge und neutral bliebe. " 185

Kittel versuchte damit, die inneren Widersprüche der nationalsozialistischen Ideo­ logie und Politik gegenüber den Kirchen aufzudecken. Wehrung sprach in seinem Schreiben von der "Gewissensnot", in die ihn der Erlass stürze und die er gerade als Deutscher empfinde, "der den heutigen Staat bejaht, für ihn mit aller Kraft ar­ beiten will und nur das eine wünscht, daß es ihm gelingen möge, das deutsche Volk gegen Bolschewismus und westliches Denken hindurchzuretten. [ . . . ] Schwiegen wir, so würden wir uns nicht nur an der evangelischen Kirche, sondern auch an unserem Staat selbst versündigen. Mit diesem Schweigen würden wir beiden nicht mehr den vollen Dienst tun, den wir ihnen schulden. "186 Der kommissarische De­ kan Heim beteuerte, die Fakultät habe "von Anfang an dem Versuch widerstanden, die Bindung an Führer und Volk und die an die Kirche auseinanderzureißen."187 Der Reichswissenschaftsminister ließ sich davon nicht beeindrucken: "Die Beurteilung der rechtlichen Tragweite kirchlicher Ereignisse und Gesetze insbesondere gehört nicht in den Bereich der theologischen Lehre; noch weniger kann es bei der gegebenen Sachlage Aufgabe theologischer Lehrer sein, in dem Machtkampf einzelner kirchlicher Persön­ lichkeiten und Gruppen gegeneinander öffentlich Stellung zu nehmen. " 188

Er verbot zum Beispiel Heim, an einer Veranstaltung der Bekenntnisfront in Frank­ furt als Redner teilzunehmen.189 Heim wehrte sich dagegen mit der KlarsteIlung,

184 185 186 187 188 189

Reichswissenschaftsminister an Rektor 28.2.1935, UAT 162/743. Kittel an Reichswissenschaftsminister 5.4.1935, UAT 117C/12 und UAT 162/743. Wehrung an Reichswissenschaftsminister 14.4.1935, ebd. Heim an Reichswissenschaftsminister 17.4.1935, ebd. Reichswissenschaftsminister an Württembergischen Kultminister 5.7.1935, ebd. Kultrninister an Rektor 19.9.1935, UAT 117C/12.

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das Thema des Vortrags berühre den Kirchenstreit nicht, es gehe nur um die Ab­ grenzung von der Deutschen Glaubensbewegung.190 Landesbischof Wurm hingegen nahm die Stellungnahmen der Fakultät und ih­ rer Mitglieder gegen die Einschränkungen der Meinungsäußerungen dankbar auf und bot seinerseits Unterstützung für die Fakultät auf ihrem Weg an: "Die Kirchenleitung ist sehr erfreut dariiber, daß die Fakultät in ihrem Schreiben wie in den besonderen Äußerungen der beiden Professoren Kittel und Wehrung die kirchliche Stellung und Verpflichtung der theologischen Fakultäten so würdig und deutlich zum Ausdruck gebracht hat. Sie wäre, falls die Fakultät es für zweckmäßig und wünschenswert hält, gerne bereit, auch ihrerseits dem He1111 Reichsminister die Notwendigkeit kirchlicher Bewegungsfreiheit für eine theologische Fakultät darzulegen. " 1 9 1

Der Reichswissenschaftsminister hob am Anfang 1936 den Erlass vom 28. Februar 1935 wieder auf, "in dem Vertrauen, daß die Professoren und Dozenten in Zukunft die Mitarbeit an der grundsätzlichen Klärung der die kirchliche Lehre betreffenden Fragen und die kirchenpolitische Betätigung scharf scheiden", nicht ohne Verwar­ nung an die Theologieprofessoren, die ungehörig gegen den Erlass protestiert hät­ ten 192 Die Fakultät hatte sich zuvor von der Bekennenden Kirche abgegrenzt, indem sie nicht an der Bekenntnissynode in Augsburg teilnahm, dem Verbot der Beteili­ gung an illegalen Prüfungen und Vorlesungen nachkam und die Beobachtung von studentischen Bekenntnisgruppen unterstützte 193 Inwiefern die Behauptung des Gutachtens der Fakultät von 1946 über die politische Haltung Weisers als Dekan zutrifft und nicht vielmehr eine Schutzbehauptung ist, ist fraglich und müsste ge­ prüft werden: "Weiser hat den ministeriellen Erlaß, der ihn anwies, die in Tübingen bestehenden studentischen Gruppen der ,Bekennenden Kirche' anzuzeigen, unbe­ folgt gelassen, vielmehr diese Gruppen als Dekan geschützt und unterstützt. ,,194 Jedenfalls hat Weiser über den Rektor an den Kultminister berichtet: "Soweit ich habe feststellen können, treffen sich Studenten, die der Bekennenden Kirche ange­ hören, ihr nahestehen, oder sich dafür interessieren, gelegentlich in losen privaten Zusammen­ künften je nach ihrer landeskirchlichen Zugehörigkeit, zu Bibelbesprechungen und Informati­ onen über die Lage in ihrer Heimatkirche. Da diese Zusammenkünfte keine festen organisato­ rischen Formen besitzen [ . . . ] entzieht sich ihre Stärke der Kontrolle. Agitatorisch sind diese Gruppen nicht in Erscheinung getreten, es haben sich bis jetzt daher keine Mißstände gezeigt. " 1 95

Die Fakultät wurde in ihren kirchlichen Aktivitäten weiter beschränkt. So verbot der Kultminister 1936 den Beitritt eines Vertreters der Fakultät zum Führerrat des Evangelischen Gemeindedienstes in Tübingenl96, die Mitwirkung am Beirat der 190 191 192 193

Heim an Reichwissenschaftsminister 15. 10.1935, ebd. Wurm an Fakultät vertreten durch Heim 3.5.1935, UAT 162/743. Reichswissenschaftsminister an Rektor 1 5 . 1 . 1936, UAT 117C/12. Bericht Weisers an Rektor 1 1 . 1 . 1936; dieser gleichlautend an Kultrninister 14. 1 . 1936, ebd.; vgl. Wischnath 1997, 137-140. 194 Gutachten der Fakultät [ 1 946], 4, UAT 535/184. 195 Bericht Weisers an Rektor 1 1 . 1 . 1936; dieser gleichlautend an Kultrninister 14. 1 . 1936, UAT 1 17C/12. 196 Kultminister an Rektor 24.9.1936, UAT 162/743.

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Kirchenleitung197, die Abhaltung von öffentlichen Morgenandachten an der Uni­ versität "im Sinne der Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens"198 sowie den persönlichen Kontakt mit dem Landesbischof in dienstlichen Angelegenhei­ ten 199 In der Frage der Anwendung des Arierparagraphen des neuen Beamtengesetzes auf die Kirche nahm die Fakultät eine gespaltene Haltung ein. Karl Heim hatte sich am 5. Oktober 1933 der Erklärung "Neues Testament und Rassenfrage" ange­ schlossen, die betonte, dass der völkische Gegensatz zwischen Juden und Heiden für die christliche Gemeinde völlig irrelevant sei 200 Heim zog aber wenige Tage später seine Unterschrift wieder zurück, da er dem Anschein wehren wollte, die Unterzeichner wollten "mit den ausländischen Kritikern Deutschlands gemeinsame Sache machen", indem sie den Umgang mit Juden kritisierten 201 Die Fakultät wandte sich in einer Erklärung gegen Stellungnahmen ausländischer Theologen ge­ gen die Anwendung des Arierparagraphen auf die Kirchen, die diese Kritik damit begründeten, "es handle sich um eine Frage des Glaubens, des Bekenntnisses und der Reinheit biblischer Verkündigung" 202 Die Fakultät schickte ihrer Entgegnung voraus, sie sehe "in dem unter uns neu erwachten Bewußtsein um die Eigenart und den Wert des deutschen Volkstums [ ] einen Ruf Gottes an uns". Sie lehnte es ab, die Anwendung des Arierparagraphen auf die Kirche als Glaubensfrage zu behan­ deln: "Ob ein Judenchrist Träger eines kirchlichen Amtes in einer ihrer Eigenart sich bewußt werdenden Volkskirche sein kann, ist eine Frage der Verwaltung dieser Volkskirche. "203 Mit diesem Urteil stützte sich die Fakultät auf die Schrift von Kit­ tel über "Kirche und Judenchristen", die sie auch an alle theologischen Dozenten außerhalb Deutschlands in Europa und Amerika versandte. Kittel hatte die "Juden­ frage" so zu lösen versucht, dass er den Juden einen Gaststatus als Fremde in Deutschland zugewiesen sehen wollte 204 Wie sich mit dieser Erklärung der Fakultät die Haltung, die Fezer zu der Frage eingenommen haben will, verträgt, ist unklar. Fezer berichtet 1945, er habe gegen­ über den De geltend gemacht, es sei unmöglich für eine christliche Kirche, den sogenannten Arierparagraphen zu übernehmen 205 . . .

197 198 199 200 201 202 203 204 205

Kulttninister an Rektor 1 . 10. 1936, ebd. Kulttninister an Rektor 6.1. 1939, ebd. Kulttninister an Rektor 24.5.1943, ebd. Abgedruckt in Liebing 1977, 16-18. Heim 30.10.1933, ebd., 46. Vgl. SiegeleWenschkewitz 1978, 78f. Dekan Wehrung 9.11. 1933, Liebing 1977, 47. Fakultät 1 . 1 1 . 1933, Liebing 1977, 48. Vgl. Meier 1996, 128f.; Siegele-Wenschkewitz 1978, 62, 7 1 ; Siegele-Wenschkewitz 1980, 94. Fezer an Rektor 12.9.1945, in: HerrnIe 1988, 302.

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e. Reformbestrebungen Die politische ideologische Durchdringung aller Lebensbereiche setzte auch die Universitäten unter Druck und rief Bemühungen zur Reform des Studiums im Sinne der ideologischen Vorgaben hervor. Hermann Faber veröffentlichte 1934 eine Schrift über " [nJeue Wege der Pfar­ rerausbildung", in der er sich auf die Richtlinien der De von 1933 berief, die eine Umgestaltung der Ausbildung "im Sinne größerer Lebensnähe und Gemeindever­ bundenheit" forderten.206 Die bisherige Ausbildung sei zu akademisch, sie müsse zu "Volksverbundenheit" und "Hingabe und Verantwortungsfreudigkeit des Füh­ rers" anleiten 207 Schon auf der Universität müssten "neben die wissenschaftlichen Forderungen dringender als je die religiösen Aufgaben einer innerlichsten Ausrüs­ tung treten" 208 "Mit dem Kampf gegen das individualistische Denken hat sich die Ablehnung des intellektualistischen Denkens zu verbinden. "209 Dafür berief sich Faber auf Hitlers "Mein Kampf' und auf das Programm der Berneuchener Bewe­ gung von 1933. Die Tübinger Fakultät verfasste am 25. April 1938 durch ihren Dekan Weiser eine Denkschrift zur Frage der Reform des theologischen Studiums, die einerseits den politischen Ansprüchen entgegenkommen, andererseits den Verrat an kirchli­ chen und wissenschaftlichen Grundsätzen verhindern sollte 21O Meisiek stellt eine Diskrepanz fest zwischen der traditionellen wissenschaftlichen Arbeit an der Fa­ kultät und den nationalsozialistischen Grundsätzen.211 "Die Tübinger dachten zwar auch national, aber sie unterschieden zwischen politischer Loyali­ tät und theologischer Aufgabe. [ . . . ] Die Tübinger Denkschrift beharrte auf dem , wissenschaft­ lichen Charakter unserer Pfarrerausbildung' , die den Pfarrer ,zu selbständiger Aneignung des Evangeliums [ . . . ] und selbständiger systematischer Auseinandersetzung mit den geistigen Bil­ dungselementen der Zeit' befahigen sollte. [ . . . ] Damit versuchte die Tübinger Evangelisch­ theologische Fakultät ihre Eigenständigkeit gegenüber kirchlichen und staatlichen Kontrollan­ sprüchen aufrechtzuerhalten. Dieser dritte Weg zwischen Ausweichen an kirchliche Ersatz­ hochschulen und Anpassung an die nationalsozialistische Weltanschauung wurde auch verwirklicht. "212

Der Schwerpunkt des Studiums sollte auf der biblischen Exegese liegen, auf Kos­ ten der Kirchengeschichte. Die Notwendigkeit der Beschäftigung mit dem Alten Testament und Paulus wurde betont. Besonders die Praktische Theologie wies eine Nähe zu nationalsozialistischen Zielen auf, wenn in ihr die Verbundenheit der Theologie mit den "völkischen Lebensfragen" zum Ausdruck kommen solle. Die Verantwortung des theologischen Lehrers für das Volk müsse sichtbar werden 213

206 207 208 209 210 211 212 213

Faber 1934, 4. Ebd., 7f.; vgl. ebd., 37f. Ebd., 9f. Ebd., 4 1 . Vgl. Meier 1996, 309. Ebd. Meisiek 1993, 217. Ebd., 221.

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4. Theologische Auseinandersetzungen An der Vorlesungsreihe "Universitas literarum", die, wie seit 1934 formuliert, "je­ dem Studenten dringend empfohlen" wurde, da sie besonders geeignet sei, "die national-politische Erziehung zu fördern"214, beteiligten sich immer wieder auch Dozenten der Evangelisch-theologischen Fakultät, so im Sommersemester 1934 Heim mit "Theologischer Ethik" und Faber mit "Kirchlichen Gegenwartsproble­ men" , im Wintersemester 1 934/35 Volz und Weiser mit "Gegenwartsfragen über das Alte Testament", im Sommersemester 1935 Rückert mit der Vorlesung "Die innere Auseinandersetzung von Christentum und Deutschtum bis auf Luther". Auch an diesen Themen zeigen sich die Problemfelder, mit denen die Fakultät zu tun hatte: a. die christliche Bewertung der neueren Geschichte, b. das Verhältnis von Kirche und Staat, c. das Verhältnis von Christentum und Deutschtum, d. die Einschätzung des Alten Testaments, e. die christliche Haltung gegenüber den Ju­ den.

a. Die christliche Bewertung der neueren Geschichte Ein Hauptstreitfeld war die theologische Beurteilung der Geschichte, insbesondere der jüngsten Geschichte Deutschlands. Wie sollte sich die Kirche zu der national­ sozialistischen Umgestaltung von Staat und Gesellschaft verhalten? Hanns Rückert meinte die Kirche darauf beziehen zu können, indem er sie darin das Handeln Got­ tes erkennen lässt. "Es handelt sich in der Erhebung unseres Volkes nicht um ein säkulares Geschehen, von dem die Verkündigung der Kirche unbeeinflußt bleiben dürfte oder an der sie sich gar gegensätzlich orientieren müßte. In der Geschichte dieser Wochen und Monate offenbart sich Gott. "215

Wenn sich die Kirche dieser Deutung der Geschichte nicht anschließen könne, werde sie erfahren, dass der neue Staat "schonungslos Macht gegen Macht setzen" werde 216 Bei der Neuausrichtung der Kirche auf die völkische Bewegung werde das "Wiedererwachen reformatorischer Frömmigkeit in der Gegenwart" behilflich sem. "Die Kirche ist - nicht von einer Partei außerhalb oder innerhalb ihrer selbst, sondern von der Geschichte - vor die Frage gestellt, ob sie die innere Kraft besitzt, um eine große Wende des deutschen Schicksals von Gott her zu deuten und gestaltend an ihr Anteil zu nehmen. Überhört sie die Frage oder bringt sie diese Kraft trotz besten Willens nicht auf, so ist sie ipso facto zur Sekte geworden und zur geschichtlichen Ohnmacht verurteilt."217

Das Mittel für den Machterhalt der Kirche sieht Rückert in der Besinnung auf die "deutsche Reformation", im Zusammenfinden des "deutschen Volkes" mit Lu-

214 215 216 217

Vorlesungsverzeichnis der Universität Tübingen Sornmersemester 1934, 34. Rückert 1933a, 1 1 . Ebd., 10. Rückert 1933b, 1 .

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ther.218 Die Rettung der Kirche liegt für ihn darin, die politische Entwicklung, die sie sonst vernichten würde, ideologisch zu unterstützen, indem sie als Handeln Gottes, des "Herrn der Geschichte", gedeutet wird. "Heute erlebt ein ganzes Volk den Gott, der stürmische Bewegung ist, der vom Menschen die Entscheidung verlangt, der nur die Ganzen will und die Halben umkommen läßt, und es streckt sich sehnsüchtig aus nach der Kraft zu wagender Tat, zu äußerster Anspannung, die auch in den vor uns liegenden Jahren der schweren Entbehrungen und der härtesten Kämpfe nicht nachläßt, sondern sich immer wieder neu strafft. Es ruft nach dem Ethos der Pflicht und des Opfers, nach dem starken Gemeinschaftsbewußtseiu. "219

Dieses Ethos werde gespeist durch die "reformatorische Frömmigkeit". Auch Ge­ org Wehrung beteiligte sich an dieser theologischen Geschichtsdeutung, wenn er den "in den Zeitereignissen und umwälzenden geschichtlichen Bewegungen ver­ borgenen Gottessinn" erkennen und für die Christenheit darin den "Aufruf zur Mit­ arbeit" hören wollte. Obwohl Gottes Wirken in den Zeitereignissen gesehen wer­ den müsse, könne nicht von einer "unmittelbaren Offenbarung Gottes" darin ge­ sprochen werden. 220 An der Barmer Theologischen Erklärung vom 3 1 . Mai 1934 entzündete sich auf dieser Grundlage eine Auseinandersetzung, an der sich auch Kittel, vor allem in einem veröffentlichten Briefwechsel mit Karl Barth, beteiligte. Gleich im ersten Brief macht Kittel seinen politisch-ideologischen Standpunkt klar, wenn er sich zu den "württembergischen nationalsozialistischen Theologen" rechnet 221 Kittel be­ ruft sich auf die Tübinger "Zwölf Sätze" vom 12. Mai 1934, der sich 14 Tübinger Theologiedozenten angeschlossen haben. Darin heißt es: "Wir sind voll Dank ge­ gen Gott, daß er als der Herr der Geschichte unserem Volk in Adolf Hitler den Füh­ rer und Retter aus schwerer Not geschenkt hat."222 Hier wird eine geschichtliche Entwicklung religiös gedeutet und legitimiert. Vor diesem Hintergrund stellte Kit­ tel an die Mitglieder des "Bruderrats der Bekenntnissynode der Deutschen Evange­ lischen Kirche" die Frage, ob sie bereit seien, zu bekennen, dass die Botschaft der Kirche "jeden Tag neu auszurichten ist auf die konkrete Lage hin, in welche von dem lebendigen Gott [ . . . ] , dem wirkenden Herrn der Geschichte, Prediger und Hö­ rer jeden Tag neu geführt werden", und die "falsche Lehre" zu verwerfen, "als ob es zu irgendeiner Zeit oder an irgendeinem Ort eine Verkündigung des Evangeli­ ums ohne Bezogenheit auf den geschichtlichen Augenblick gäbe, welche [ . . . ] nicht [ . . . ] durchgängig mitbestimmt wäre durch die von Gott ihr geordnete Stunde von Welt und Volk und Mensch" 223 Dem hielt Barth entgegen, damit würde die Ge­ schichte zu "einer zweiten Offenbarungsquelle und einem zweiten Offenbarungs­ gegenstand" gemacht, und sieht darin "das bekannte D.C.-Dogma vom , wirkenden

218 Ebd., 18. 219 Ebd., 17. Zu Rückerts Geschichtstheologie vgl. Scholder 1977, Bd. 1 , 529; Siegele-Wenschke­ witz 1993, besonders 124-129; Bräuer 1998, besonders 384-387, sowie Harnm 2002, beson­ ders 279-28 1 . 220 Zitat bei Wolfes 1998, 201. 221 Kittel 9.6.1934, in: BarthlKittel 1934, 3. 222 Ebd., 5. 223 Ebd., 4.

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Herrn der Geschichte '''.224 Er kann in Kittels Geschichtsauffassung nur eine "höchst private Geschichtsdeutung" erkennen, die gnostische Züge trägt.225 Kittel dagegen hält Barth vor, "der Kirche die biblische Vollmacht der Geschichtsdeutung zu be­ streiten", was eine Irrlehre sei 226 Barth hat von Kittel den Eindruck, er halte "die Zustimmung zu der Politik der Nationalsozialisten für einen heute notwendigen Artikel des christlichen Glaubens" 227 Auch Artur Weiser betreibt diese Art der Geschichtstheologie. "Gelingt es nicht, ein weltanschauliches, religiöses Verständnis des geschichtlichen Augen­ blicks und der aus ihm werdenden Aufgabe [ . . . ] zu wecken, so werden jene nicht mit eigenem Leben erfüllten Formen dem Druck von außen und innen nicht standhalten.'