Die Tyrannei der Werte: Vierte, unveränderte Auflage. Mit einem Nachwort von Christoph Schönberger [4 ed.] 9783428559800, 9783428159802

Carl Schmitt war ein Mann des polemischen Traktats, der Streitschrift, des Pamphlets. Zu seiner eigentlichen literarisch

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German Pages 92 Year 2020

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Die Tyrannei der Werte: Vierte, unveränderte Auflage. Mit einem Nachwort von Christoph Schönberger [4 ed.]
 9783428559800, 9783428159802

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CARL SCHMITT

Die Tyrannei der Werte Vierte, unveränderte Auflage

Duncker & Humblot · Berlin

CARL SCHMITT

Die Tyrannei der Werte

CARL SCHMITT

Die Tyrannei der Werte Vierte, unveränderte Auflage

Mit einem Nachwort von Christoph Schönberger

A Duncker & Humblot · Berlin

Veröffentlicht unter Mitwirkung des wissenschaftlichen Beirats der Carl-Schmitt-Gesellschaft e.V.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

1. Auflage 1967 2. Auflage 1979 3., korrigierte Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © 2020 Duncker & Humblot GmbH Satz: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Druck: Druckteam, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-15980-2 (Print) ISBN 978-3-428-55980-0 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞



Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhalt Editorische Notiz (von Gerd Giesler) . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Tyrannei der Werte. Überlegungen eines Juristen zur Wert-Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 *

Werte als Gefahr für das Recht? Carl Schmitt und die Karlsruher Republik (Nachwort von Christoph Schönberger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

Editorische Notiz „Die Tyrannei der Werte“ von Carl Schmitt ist 1960 zunächst als Privatdruck in einer Auflage von 200 Exemplaren veröffentlicht worden, ohne Verlagsangabe, nur mit dem Druckvermerk W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart 1960. Die erste bearbeitete und erweiterte Auflage, die neben dem Text des Privatdrucks eine Einleitung und sieben römisch nummerierte Abschnitte enthält, ist in dem Sammelband „Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag“, W. Kohlhammer, Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1967, S. 37 – 62 erschienen. Die zweite Auflage, die den Text der ersten Auflage enthält, ist in dem Sammelband „Carl Schmitt, Eberhard Jüngel, Sepp Schelz. Die Tyrannei der Werte“, herausgegeben von Sepp Schelz, Lutherisches Verlagshaus, Hamburg 1979, S. 9 – 41, veröffentlicht worden. Die hier vorliegende dritte Auflage gibt den Text der ersten Auflage wieder, aus der zweiten Auflage wurden die wenigen Korrekturen übernommen, die der Autor in sein Handexemplar eingetragen hat, das sich im Nachlass Carl Schmitt, Landesarchiv NRW, Abtlg. Rheinland, Bestand RW 65-29124 befindet. Die dort ebenfalls ein-

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Editorische Notiz

getragenen kommentierenden Bemerkungen des Autors, die keine Textkorrekturen sind, wurden nicht berücksichtigt. Bei der von Carl Schmitt erwähnten Verbreitung des Privatdrucks (S. 33) handelt es sich um den Artikel „Max Weber und Carl Schmitt“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27. 6. 1964 (Bilder und Zeiten) von Karl Löwith, in dem die letzten 7 Zeilen des Absatzes auf S. 39 / 40 zum Kampf der Werte als Langzitat gedruckt und in die polemische Auseinandersetzung Löwiths mit Schmitt einbezogen werden. Editorische Zusätze sind in [eckige Klammern] gestellt. Gerd Giesler

Einleitung Die hier veröffentlichten Überlegungen eines Juristen gehören zu einer Diskussion über „Tugend und Wert in der Staatslehre“, die im Anschluß an ein Referat von Professor Ernst Forsthoff am 23. Oktober 1959 in Ebrach stattgefunden hat. Forsthoff wies darauf hin, daß die Tugend in der Staatslehre des absoluten Fürsten noch einen Platz hatte, während das Legalitäts-System des bürgerlichen Rechtsstaates mit einem Wort und Begriff wie Tugend nichts mehr anzufangen weiß. Als eine Art Ersatz bot sich der Wert an. Schon vor dem ersten Weltkrieg war eine wertphilosophische „Rehabilitierung der Tugend“ versucht worden (Max Scheler 1913). Nach dem ersten Weltkrieg drangen wertphilosophische Begriffe und Gedankengänge in die Staats- und Verfassungslehre der Weimarer Verfassung (1919 – 1933) ein und suchten die Verfassung und ihre Grundrechte in ein Wert-System umzudeuten. Die Rechtsprechung hielt sich damals noch zurück. Erst nach 1949, nach dem zweiten Weltkrieg begründeten deutsche Gerichte ihre Entscheidungen in weitem Maße mit wertphilosophischen Gesichtspunkten. Praktisch handelt es sich dabei um eine wohlgezielte Umdeutung der Grundrechte, um deren

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sogenannte Drittwirkung und unmittelbar privatrechtliche Geltung, und um eine folgenreiche Ausdeutung des Wortes sozial in Art. 20, 28 des Bonner Grundgesetzes vom 23. Mai 1949. Das Problem des rechtsstaatlichen Verfassungsvollzugs erhob sich in seiner ganzen Tragweite. Forsthoff hat seine Position in mehreren Vorträgen und Aufsätzen vertreten, die jetzt in dem Buch „Rechtsstaat im Wandel. Verfassungsrechtliche Abhandlungen 1950 – 1964“1 gesammelt vorliegen. Den Kern der Sache hat er mit einem einfachen und klaren Satz endgültig getroffen: „Der Wert hat seine eigene Logik.“ I. Die Gerichte der Bundesrepublik Deutschland haben sich bei der Auslegung des Bonner Grundgesetzes ohne große Bedenken der Logik des Wertes anvertraut. Damit ist noch nicht gesagt, daß die Wertlogik bei uns Rechts- und Gesetzeskraft erlangt hätte, indem sie auf dem Weg über eine „verbindliche Standeskunst“, nämlich die Jurisprudenz der höchsten deutschen Gerichte, zu einem deutschen judge made law geworden wäre. Der bundesrepublikanische Gesetzgeber jedenfalls hält sich in dieser Hinsicht noch zurück. Ein justizbeamteter Richter dagegen braucht eine objektive Begründung für seine Urteile und Entscheidungen und hierfür bietet sich ihm heute ein Vielerlei von Wertphilosophien an. Die Frage ist, wie 1

Stuttgart 1964.

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weit ein solches Vielerlei imstande ist, die gewünschten, allgemeinüberzeugenden, objektiven Begründungen zu liefern. Vielleicht fühlt sich mancher bundesrepublikanische Richter als Pionier bestimmter Werte; doch hätte er wahrscheinlich Bedenken, sich als Pionier der Kräfte, Mächte, Ziele und Interessen zu betätigen, die sich bei ihm mit einem wertphilosophischen Visum melden. Auf keinen Fall aber darf er die Frage nach der eigenen Logik des Wertes als einen Streit um Worte abtun. Als praktisch beobachtender Jurist wird er bald die Erfahrung machen, daß die stärksten Gegensätze im entscheidenden Moment als ein Streit um Worte ausgefochten werden. Als theoretisch reflektierender Jurist wird er den Unterschied von Rechtskraft, Rechtsgut und Rechtswert begreifen und ihn nicht als eine bedeutungslose Nuancierung abtun. Als rechtsgeschichtlich gebildeter Jurist weiß er, daß das Eigentum erst die Sache selbst war (res mea est), dann zu einem dinglichen „Recht an der Sache“ wurde und sich jetzt in einen bloßen Wert auflösen soll. Auch der Gesetzgeber, dessen Satzungen normalerweise dem Spielraum einer freien Wert-Logik berechenbare Grenzen ziehen sollen, kann in seiner amtlichen Sprache dem Wörterbuch einer der vielen Wertphilosophien verfallen. So beginnt z. B. die Begründung zum Entwurf eines „Gesetzes zur Neuordnung des zivilrechtlichen Persönlichkeitsund Ehrenschutzes“2 wörtlich mit dem Satz: 2 Deutscher Bundestag, 3. Wahlperiode, Drucksache Nr. 1234.

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„In der freiheitlichen Demokratie ist die Würde des Menschen der höchste Wert. Sie ist unantastbar.“ Er, der Wert, bleibt offen. Vielleicht bekundet sich in einer solchen Sprechweise etwas sehr Einfaches und Aktuelles: eine multiple, d. h. überentwickelt pluralistische, aus zahlreichen heterogenen Gruppen sich integrierende Gesellschaft muß die ihr adäquate Öffentlichkeit in ein Übungsfeld wertlogischer Demonstrationen verwandeln. Die Gruppen-Interessen treten dann als Werte auf, indem sie wesentliche Rechtskategorien zu Stellenwerten irgendeines ihnen adäquaten Wert-Systems machen. Die Verwandlung in Werte, die „Ver-Wertung“, macht das Inkommensurable kommensurabel. Ganz beziehungslose Güter, Ziele, Ideale und Interessen, etwa von christlichen Kirchen, sozialistischen Gewerkschaften, Landwirte-, Ärzte-, Opfer-, Geschädigten- und Vertriebenen-Verbänden, kinderreichen Familien usw. usw. werden dadurch vergleichbar und kompromißfähig, so daß eine Quote bei der Verteilung des Sozialprodukts errechnet werden kann. Das hat seinen guten Sinn, solange man sich der spezifischen Besonderheit des WertBegriffes bewußt bleibt und seinen konkreten Sinn dort sucht, wo er zu Hause ist, im Bereich des Ökonomischen. Eine Verwandlung in Werte, eine allgemeine Ver-Wertung, ist heute in allen Bereichen unseres sozialen Daseins im Gange und dokumentiert sich bis in die amtliche Sprache der höchsten Sphären hinein. Das zeigen die Übersetzungen der Sozial-

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enzyklika des Papstes Johannes XXIII. Mater et Magistra vom 15. Mai 1961. Hier ist das lateinische Wort Bonum (Gut) in der italienischen Übersetzung mit valore, in der deutschen mit Wert verdolmetscht3. Oft wird dieser Sprachwandel damit gerechtfertigt, daß die lateinischen Termini dem Tempo der modernen industriell-technischen Entwicklung nicht mehr folgen könnten. In der Deklaration des 2. Vatikanischen Konzils über das „Verhältnis der Kirche zu den nicht-christlichen Religionen“ vom 28. Oktober 1965 sind allerdings – nach den bona spiritualia et moralia – die valores socio-culturales genannt, die sich auch bei den Bekennern nicht-christlicher Religionen finden und anerkannt, gewahrt und gefördert werden sollen. II. Tatsächlich hat das lateinische Wort valor in den romanischen Sprachen die Bedeutung von Kraft, Mut und Tugend (im Sinne von virtus) weit stärker bewahrt als das deutsche Wort „Wert“. Die valeurs haben in der Malerei und der Musik ihren ästhetischen Sinn; hier können sie auch „entfesselt“, d. h. absolut werden, als reine, nicht mehr an einen Träger gebundene Farbe oder als nicht mehr wortgebundene Musik. Im Deutschen haben hundert Jahre rapider Industrialisierung den Wert zu 3 Vgl. die neue, auf Anregung des deutschen Episkopats hergestellte Übersetzung in der Herder-Korrespondenz vom September 1961, S. 551, Nr. 175 / 6: höhere und höchste Werte, geistige Werte, höchster Wert des Lebens.

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einer wesentlich ökonomischen Kategorie gemacht. Wert ist heute für das allgemeine Bewußtsein so stark ökonomisiert und kommerzialisiert, daß diese Imprägnierung nicht mehr rückgängig zu machen ist, am wenigsten in einer Zeit industriellen Fortschritts, wachsenden Reichtums und permanenter Umverteilung. Eine wissenschaftliche Wertlehre gehört in die Wirtschaftswissenschaften. Dort ist eine Wert-Logik am Platze. Im Recht der Entschädigung kommt das zum Zuge. Das Prinzip der Entschädigung beruht, wie Lorenz von Stein sagt, „auf der Scheidung von Gut und Wert, die nur durch Begriffe der Nationalökonomie möglich ist“4. Wirtschaft, Markt und Börse sind auf diese Weise der Boden alles dessen geworden, was man spezifisch einen Wert nennt. Auf diesem ökonomischen Boden gelten alle noch so hohen außerökonomischen „Werte“ nur als ein Überbau, der vom Gesetz des Bodens erfaßt wird. Superficies solo cedit. Das ist nicht „Marxismus“, sondern nur eine Wirklichkeit, an die der Marxismus mit Erfolg anknüpfen kann. Die unwiderstehliche Ökonomisierung ist nicht etwa nur eine Folge oder nur eine Begleiterscheinung eines Kapitalismus, der alles, auch die menschliche Arbeit, in Ware, Wert und Preis verwandelt hat, für den das Geld „der allgemeine, für sich selbst konstituierte Wert aller Dinge“ ist und der alles übrige, Mensch und Natur, seines 4

Verwaltungslehre Bd. 7, Stuttgart 1868, S. 76.

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„eigentümlichen Wertes beraubt“. Eine durchaus anti-kapitalistische Arbeits-Philosophie arbeitet in gleicher Richtung, indem sie den Kapitalismus mit seiner eigenen Logik beim Wort nimmt und zu Ende führt. Die Arbeit des Menschen darf nicht als Ware behandelt werden. Gut. Aber was ergibt sich, wenn sie dafür als Wert behandelt wird, um ihren Preis zu steigern? Nur die Arbeit schafft den wahren Wert. Gut. Wenn dem so ist, dann gehört doch der Wert primär in den ökonomischen Bereich und hat dort seinen Boden und seine Heimat, soweit man hier überhaupt noch von Boden und Heimat sprechen kann, ohne auch Boden und Heimat in Wert und Ware zu verwandeln. Und nun noch gar ein Wort wie Mehr-Wert! Mit der industriell-technischen Entwicklung nimmt der Mehr-Wert phantastische Dimensionen an. Das Sozialprodukt wächst von Jahr zu Jahr. Wer ist jetzt der wahre Schöpfer dieses ungeheuerlich ansteigenden, völlig überdimensionalen Mehr-Wertes? Wer darf sich das Verdienst zurechnen, diesen unermeßlichen Reichtum produziert und diese Serien von Wirtschaftswundern adäquat-kausal bewirkt zu haben? Konkret gesprochen: Wer ist der legitime Verteiler des Sozialprodukts, und wer bewertet in concreto die Quoten? Alle solche Fragen müssen zunächst doch wohl als ökonomische Fragen gestellt werden, solange hier nach dem Wert gefragt wird.

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III. Die Logik des ökonomischen Wertbegriffs hat also einen vernünftigen Bereich der Tauschgerechtigkeit, der justitia commutativa, und kann sich darin sinnvoll entfalten, unter der Voraussetzung einer stabilen Währung. Rechtswissenschaftlich ist das der Bereich des Schuld- und Handelsrechts, der Entschädigung für Vermögensschaden, des Steuerrechts und des Haushaltrechts, in besonderer Weise auch des Versicherungsrechts. Geistesgeschichtlich und wissenssoziologisch ist das Versicherungswesen eine Quelle von Wertvorstellungen, die nicht einfach in der Marktwirtschaft aufgehen. Auch symbolische Geldzahlungen für verletzte Ehre, Phantasie- oder Affektionswerte sind Fälle, die nur im Rahmen der konkreten Ordnung beurteilt werden können, innerhalb derer sie ihren Sinn haben. Wehrgeld-Taxen primitiver Strafrechte bewerten Leib und Leben adliger oder freier Männer in (Substanz-, nicht Chartal-) Geld. Das alles hat aber nichts mit einer Wertphilosophie zu tun, die das Gute, Wahre und Schöne vor dem Kausalitätsdenken einer wertfreien Naturwissenschaft retten soll.

IV. Heute wird jede Verwendung des Wortes „Wert“ bewußt oder unbewußt von zwei entgegengesetzten Seiten her unweigerlich ins Ökonomische gesteuert: vom Kapitalismus und – polemisch, aber

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nicht weniger effektiv – vom anti-kapitalistischen Sozialismus. Von einer dritten, scheinbar ganz anders gerichteten Seite wird derselbe Vorgang ungewollt noch beschleunigt. Seit 1848 gibt es eine ebenso merkwürdige wie auffällige Gleichzeitigkeit, eine Simultaneität, Osmose und Symbiose von Wertphilosophie und Lebensphilosophie. Man darf hier nicht nur an akademische und rein philosophie-geschichtliche Ereignisse denken, wie die Begründung der Lebensphilosophie durch den großen Wilhelm Dilthey. Vielmehr interessiert uns die Tatsache einer wort- und begriffsgeschichtlichen Kontemporaneität, die über den Streit der Schulen und Lehrmeinungen hinweggeht und eine gemeinsame Ziel-Richtung entgegengesetzter, ja feindlicher Ideen und Tendenzen zu bewirken vermag. Für jede Lebensphilosophie ist das Leben wenn nicht der höchste, so doch ein höherer Wert. Das Zwillingspaar Leben-Wert / Wert-Leben präsentiert sich seit über hundert Jahren in einer engverwachsenen Kontemporaneität und figuriert seitdem auf deutschen Büchern mit einer bunten Reihe ungewollt symptomatischer, oft ganz naiver Buchtitel entgegengesetzter Herkunft. Die Reihe erstreckt sich zum Beispiel von Eugen Dührings „Der Werth des Lebens“ (1865) über Heinrich Dietzel, „Vom Lehrwert der Wertlehre und vom Grundfehler der Marxschen Verteilungslehre“ (1921) bis zu Heinrich Mitteis „Der Lebenswert der Rechtsgeschichte“ (1947). Im Wertsystem und Wörterbuch der rassischen Weltanschauung er-

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scheinen Wert und Leben innig verbunden an höchster Stelle. Hitler erklärte (vor der Presse am 10. November 1938) den Menschen, und zwar den deutschen Menschen, zu einem „unvergleichlichen Wert“; das deutsche Volk war der „Höchstwert, den es überhaupt auf dieser Erde gibt“. Alfred Rosenberg erblickte im „Dienst an den höchsten Werten“ den „Stempel des wahren Genius“. Die verschiedenen Lebens-Philosophien hielten sich oft für eine Überwindung des Materialismus oder gaben sich jedenfalls gern dafür aus. Das ändert nichts daran, daß ihre Wertungen, Verwertungen und Unwert-Erklärungen in die allgemeine Säkularisierung einmündeten und dort die Tendenz zu einer neutralisierenden Verwissenschaftlichung nur beschleunigten. Die Verwandlung in einen Wert ist ja nichts anderes als eine Versetzung in ein System von Stellen-Werten. Sie ermöglicht fortwährende Umwertungen, sowohl der WertSysteme wie auch innerhalb eines Wert-Systems durch fortwährende Umstellungen in der WertSkala. Auch eröffnen sich phantastische Möglichkeiten der Verwertung des Wertlosen und der Beseitigung des Unwertes. Es kommt also nicht darauf an, daß religiöse, geistige und moralische Werte als höhere Werte in die Wert-Skala eingesetzt werden und daß die Vital-Werte, wie Max Scheler sie nennt, nur gegenüber den materiellen Werten als höherwertig rangieren und gegenüber dem Geistigen als minderwertig gelten. Entscheidend ist, daß alle Werte, vom höchsten bis zum niedrigsten, auf dem Wert-

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Geleise rangieren. Die Stellen-Setzung und Besetzung ist von sekundärer Bedeutung; die Logik des Wertes funktioniert primär vom Wert und erst sekundär von der Wert-Stelle her. Auch der höchste Wert verwandelt sich mit der Einreihung in ein Wertsystem in einen Wert, dem seine Stelle im Wert-System zugeteilt wird. Aus dem, was er ist oder bisher war, wird er zu einem Wert. Was auch immer als höchster Wert angesetzt werden mag – Gott oder die Menschheit, Person oder Freiheit, das größte Glück der größten Zahl oder die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung – zunächst und vor allem andern ist es erst einmal ein Wert und erst dann der höchste Wert. Wäre es kein Wert, so dürfte es in der Skala der Werte überhaupt nicht erscheinen. Einen Überwert, der kein Wert ist, kann kein Wert-System anerkennen. Bleibt also nur der Unwert, der aus dem WertSystem ausgeschaltet werden muß, weil die absolute Negation des Unwertes ein positiver Wert ist. Gott kann für das Wertdenken der höchste Wert sein, aber auch nicht mehr. In atheistischen WertSystemen dagegen, an denen es ja auch nicht fehlt, wird Gott zu einem absoluten Unwert. Einem Pessimisten im ontologischen Sinne, wie Eduard von Hartmann, wird, wie Max Scheler formuliert, „das Sein selbst zum Unwert“. Manche Theologen, Philosophen und Juristen versprechen sich von einer Wertphilosophie die Rettung ihrer Existenz als Theologen, Philosophen und Juristen, die Rettung nämlich vor einer

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unwiderstehlich vordringenden, wertfreien Naturwissenschaftlichkeit. Das sind vergebliche Hoffnungen. Die allgemeine Verwertung kann den Prozeß der allgemeinen Neutralisierung nur beschleunigen, indem sie auch die Grundlagen der theologischen, philosophischen und juristischen Existenz in Werte verwandelt. Der Irrtum, auf dem jene Hoffnungen beruhen, gleicht dem Irrtum des edlen Ritters, der eine Anerkennung seines Pferdes und eine Sicherung seiner ritterlichen Existenz darin erblickt, daß die moderne EnergieTechnik mit Pferdekräften rechnet. Die allgemeine Neutralisierung hebt alle überkommenen Gegensätze auf, auch den Gegensatz von Wissenschaft und Utopie, mit dem Friedrich Engels seinerzeit so erfolgreich arbeiten konnte, als er seine Abhandlung über „die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ schrieb (1882). Heute haben Wissenschaft und Utopie sich längst gegenseitig gleichgeschaltet. Die Utopie wird wissenschaftlich – quels savants que les poètes! hatte schon der (1912 verstorbene) große Mathematiker Henri Poincaré ausgerufen, wobei er die heutige Aktualität Jorge Luis Borges’, des Preisträgers von 1961, noch nicht einmal ahnen konnte – und die Wissenschaft wird utopisch, wie sie das besonders in Äußerungen berühmter Biologen, Biochemiker und Evolutionisten bekundet. Allen sozialen und biologischen Utopien stellen sich infolgedessen Werte aller Art zur Verfügung. Wert und außerökonomische Wert-Logik erwei-

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sen sich sogar als Motoren der Utopie. So lag es nahe, im Rahmen eines Gesamtthemas wie „Säkularisation und Utopie“ einige konkrete juristische Auswirkungen der außerökonomischen Wert-Logik zur Sprache zu bringen, und es ergab sich fast von selbst, daß der Diskussionsbeitrag über die Tyrannei der Werte in seiner momentgebundenen Fassung, wie er hier wiedergegeben wird, im Anschluß an Forsthoffs Referat über „Tugend und Wert in der Staatslehre“ entstanden ist. V. Das Interesse an einer wertphilosophischen Fundierung, das die deutsche Jurisprudenz nach dem zweiten Weltkriege zeigte, ging Hand in Hand mit einer Wiederbelebung des Naturrechts. Beides war ein Ausdruck des allgemeinen Bestrebens, die bloße Legalität des juristischen Positivismus zu überwinden und den Boden einer anerkannten Legitimität zu gewinnen. Für manchen Juristen hatte die Wertphilosophie im Vergleich zum thomistischen oder neothomistischen Naturrecht den großen Vorzug der Wissenschaftlichkeit und Modernität. Für die erstrebte Überwindung von Positivismus und Legalität eignete sich aber nur eine materiale Wertlehre. Die rein formale Wertlehre der neukantianischen Philosophie war zu relativistisch und subjektivistisch, um das zu liefern, was man suchte, nämlich einen wissenschaftlichen Ersatz für ein Naturrecht, das keine Legitimität mehr hergab.

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Eben diesen Ersatz bot um so nachdrücklicher die von der Phänomenologie kommende materiale Wertethik Max Schelers, dessen Hauptwerk (1913 – 1916) ja schon im Titel das Gesuchte angekündigt hatte: „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik.“ In den Augen Schelers ist Max Weber Jurist, Nominalist und Formaldemokrat; das wissenschaftliche Ideal einer wertfreien Wissenschaft „ist in der Tat mit der modernen Demokratie verbunden“, und eben diesen Formalismus will Scheler mit seiner materialen Wertethik überwinden; denn die Geschichte, so sagt er, wird nicht durch Demokratie vorgetrieben, sondern durch Eliten, Minoritäten, Führer und Personen5. Tatsächlich hat Max Weber niemals im „Wert“ das letzte Wort oder der Weisheit letzten Schluß erblickt. Ihm war das Wertdenken willkommen, weil es ihm die wissenschaftliche Möglichkeit gab, seine geschichtlichen und soziologischen Einsichten trotz der Hemmungen und Bedenken des „rein kausalen“ Denkens weiterzuverfolgen. „Wert“ war ihm in erster Linie ein Hilfsmittel seines wissenschaftlichen Arbeitens, ein Werkzeug, das ihm freie Bahn für seine „Idealtypen“ verschaffte. Im übrigen hielt er es für durchaus denkbar, daß man „den Ausdruck Wert wohl verschmähen würde“, sobald es ernst wird und um das „Konkretissimum des Erlebens“ geht6. 5 Vgl. Gesammelte Werke, Bd. 8, 2. Aufl., Bern und München 1960, S. 430 f., 481. 6 Weber exemplifiziert an dem Fall, daß ein Mann zu einer Frau sagt: „Anfänglich war unser Verhältnis nur eine

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Eine Diskussion wie die Ebracher, an der sich Theologen, Philosophen und Juristen beteiligten, stößt immer wieder auf diesen Gegensatz von formaler und materialer Wertlehre und wird immer wieder die beiden repräsentativen Namen für diesen Gegensatz beschwören: Max Weber und Max Scheler. Bei unserm rechtswissenschaftlichen Thema – Umdeutung der Grundrechte und der Verfassung in ein Wertsystem, Drittwirkung der Grundrechte und Verwandlung des Verfassungsvollzugs in einen Wertvollzug – geht es darum, daß der Verfassungsvollzug aus einem Normenund Entscheidungsvollzug in einen Wert-Vollzug verwandelt werden soll. Deshalb müssen wir im Auge behalten, daß die Logik des Wertes sich sofort verbiegt, wenn sie den ihr adäquaten Bereich des Ökonomischen und der justitia commutativa verläßt und andere als ökonomische Güter, Interessen, Ziele und Ideale in Werte verwandelt und verwertet. Der höhere Wert rechtfertigt dann unberechenbare Prätentionen und Minderwertigkeitserklärungen; der unmittelbare Wert-Vollzug zerstört den juristisch sinnvollen Vollzug, der nur in konkreten Ordnungen auf Grund von festen Satzungen und klaren Entscheidungen vor sich geht. Es ist ein verhängnisvoller Irrtum zu glauben, die Güter und Interessen, Ziele und Ideale, die hier in Frage stehen, könnten durch ihre VerLeidenschaft, jetzt ist es ein Wert“ (in dem Aufsatz über den Sinn der Wertfreiheit, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1951, S. 492 f.; bei Julien Freund in der französischen Ausgabe bei Plon, S. 426 f).

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wertung vor der Wertfreiheit moderner Naturwissenschaftlichkeit gerettet werden. Werte und Wertlehren vermögen keine Legitimität zu begründen; sie können eben immer nur verwerten. Der Unterschied von Tatsache und Recht, factum und jus, Feststellung eines Sachverhalts auf der einen, Schätzung, Abwägung und Urteilsfindung und Entscheidung auf der andern Seite, die Verschiedenheiten von Referat und Votum, Tatbestand und Entscheidungsgründen, alles das ist den Juristen seit langem geläufig. Rechtspraxis und Rechtslehre arbeiten seit Jahrtausenden mit Maßen und Maßstäben, mit Positionen und Negationen, Anerkennung und Ablehnung. Was geht also vor sich und was kommt Neues hinzu, wenn heute wertphilosophische Legitimierungen für alles das gesucht werden? Was vor sich geht, ist der Versuch eines Ausweges aus einer kritischen Situation, in die der Wissenschaftsanspruch der Geisteswissenschaften durch die vordringende Naturwissenschaftlichkeit des europäischen 19. Jahrhunderts geraten war; mit andern Worten: die Wertphilosophie ist eine Reaktion auf die Nihilismus-Krise des 19. Jahrhunderts. Was neu hinzukommt ist etwas Negatives, aber nicht in dem arithmetischen Sinne von Plus oder Minus, auch nicht im Sinne einer dialektischen „Aufhebung“ des Negierten, sondern als ein spezifischer Zusatz von Degradierung, Diskriminierung und Rechtfertigung einer Vernichtung. Man darf sich durch Reminiszenzen an vorindustrielle, oft noch gemütvolle Bedeutungen des

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deutschen Wortes „Wert“ heute nicht mehr irreführen lassen. Hier geht es um den Anspruch auf juristische Relevanz und um den Vollzug. Hier wird jede außerhalb des ihr adäquaten ökonomischen Bereichs vollzogene Wertung in ihrem Ansatz negativ, und zwar als Diskriminierung des Minderwertigen oder als Unwert-Erklärung zwecks Ausschaltung und Vernichtung des Unwertes. Im Vergleich zur Unwert-Erklärung läßt die einfache Wertlos-Erklärung verschiedene Möglichkeiten offen: sie kann gänzliche Uninteressiertheit des Wertenden ausdrücken; sie kann auch die Chance anderweitiger Verwertung offenhalten („Verwertung des Wertlosen“); sie kann schließlich auch in der Richtung auf eine Unwert-Erklärung verlaufen. Die Behandlung als „Wert“ bezieht den Anschein der Wirklichkeit, Objektivität und Wissenschaftlichkeit aus dem ökonomischen Bereich einer adäquaten Wertlogik. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß im außerökonomischen Bereich der Ansatz negativ bleibt und die Logik des außerökonomischen höheren und höchsten Wertes beim Unwert ansetzt. „Die Beziehung zur Negation ist das Kriterium dafür, daß etwas zum Gebiet der Werte gehört.“ Heinrich Rickert erklärt diesen Satz7 mit dem Hinweis darauf, daß es keine negative Existenz, wohl aber negative Werte gibt. Die darin enthaltene Aggressivität (der „Angriffspunkt“) des Wertdenkens tritt für den Juristen, wenn er es mit streng 7 System der Philosophie, Erster Teil, Tübingen 1921, S. 117.

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formalen, neukantianischen Werttheorien zu tun hat, meistens zurück. Die betonte Subjektivität und Relativität der rein formalen Wertlehren erweckt auf den ersten Blick sogar den Anschein einer grenzenlosen Toleranz. Ein betonter Rechtspositivismus und Normativismus schließt einen unmittelbaren, die feste Satzung überschreitenden Wertvollzug aus. Solange aber die Wertlogik gilt, ist ihre immanente Aggressivität nur verlagert. Das brauchen wir hier nicht weiter zu vertiefen, ebensowenig wie die beiden entgegengesetzten Gesichter des „Verstehens“ hier erörtert werden sollen, dessen praktisches Resultat ein „Alles-Verzeihen“ (comprendre c’est pardonner), aber auch ein „Alles-Zerstören“ (comprendre c’est détruire) sein kann, wenn der Verstehende den Verstandenen besser zu verstehen behauptet als dieser sich selbst. Für unser rechtswissenschaftliches Problem des Wertvollzuges haben wir es in der heutigen deutschen Jurisprudenz meistens mit Wertphilosophien zu tun, die den Formalismus überwunden haben und materiale, objektiv gültige Werte anbieten. Deshalb genügt es, den negativen und aggressiven Grundansatz der Wertphilosophie durch einen Hinweis auf Max Schelers Wert-Axiomatik zu belegen, um die weitverbreitete Meinung zu korrigieren, alles Böse der Wertlehren liege nur an ihrem Formalismus. Max Scheler sagt: „Der letzte Sinn auch eines positiven Satzes (z. B. es soll sein, daß Gerechtigkeit in der Welt ist; es soll sein, daß Schadensersatz geleistet werde) enthält also stets und not-

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wendig den Hinblick auf einen Unwert: den Hinblick nämlich auf das Nichtsein eines positiven Wertes.“

Also nur im stetigen und notwendigen Hinblick auf einen Unwert erhält diese materiale Wertlehre ihren Sinn. Die Fortsetzung lautet: „Erst recht hat natürlich das Nichtseinsollen den Hinblick auf das Sein eines Unwertes zur Voraussetzung.“

Auch das Weitere verdient, wörtlich zitiert zu werden: „Das Nichtsein des positiven Wertes ist ein Unwert. Hieraus folgt (syllogistisch), daß auch die positiven Sollenssätze auf negative Werte gehn.“

Die Negativität gehört nach Scheler zu den („zum Teil schon von Franz Brentano aufgedeckten“) Axiomen jeder materialen Wertethik. Dem Benutzer der Ausgabe der Gesammelten Werke Max Schelers8 fällt dabei auf, daß „Unwert“ in dem überaus detaillierten Sachregister weder als eigenes Stichwort noch unter „Wert“ erscheint, sondern nur unter „Sollen“ beiläufig vorkommt. Trotz aller Statuierungen des Textes läßt also das sonst so vorzügliche Sachregister die zentrale Stellung des Unwertes in keiner Weise erkennen, weshalb wir hier mit einigen wörtlichen Zitaten an diesen wichtigsten Punkt der wertphilosophischen Begriffs-Topik erinnert haben. Für das Problem des Wert-Vollzuges ist auch die Analogie oder Parallele wichtig, mit der Scheler die Eigenständigkeit des materialen und objek8

Bd. 2, 4. Aufl., Bern 1954, S. 102, 233.

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tiven Wertes erklärt. Das Sein der Werte ist für ihn unabhängig von Dingen, Gütern und Sachverhalten; alle Werte sind materiale Qualitäten, die eine bestimmte Ordnung von oben nach unten zueinander haben, und dies unabhängig von der Seinsform, in die sie eingehen9. Die Analogie oder Parallele, die er für eine solche Selbständigkeit des Wertes heranzieht, findet er in der Unabhängigkeit der Farbe (z. B. Rot) von dem Farbträger (z. B. dem Apfel). Die moderne Malerei praktiziert tatsächlich schon seit langem die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Farbe. Aber diese entfesselte Farbe, die sich bei großen modernen Malern wie Emil Nolde, W. Kandinsky oder E. W. Nay auf der Leinwand im Rahmen eines Gemäldes austobt, würde sich in der Praxis der Gerichte und Verwaltungsbehörden als unabhängiger Wert ausleben und beispielsweise die entfesselten Werte des rechtsstaatlichen Denkens mit denen des Sozialstaates aufeinanderprallen lassen. Alles Sollen beruht ja nach Scheler auf dem Wert, und nicht etwa der Wert auf dem Sollen. Das Sollen aber „geht“ stets auf einen Unwert. Eine dialektische Negation genügt dieser materialen Wert-Logik nicht, weil sie nicht zur absoluten Vernichtung des Unwertes führt, im Hinblick auf den diese Wert-Logik ihren Sinn erhält. Der Wolf, der das Lamm frißt, vollzieht die Höherwertigkeit des Nährwertes, den das Lamm für den Wolf „trägt“, im Vergleich zur Minderwertigkeit des 9

Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 40.

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Lebenswertes, den dasselbe Lamm im Vergleich zum Lebenswert des Wolfes „trägt“. Immerhin verneint der Wolf nicht den Nährwert des Lammes und tötet er das Lamm nicht, nur um es zu vernichten. Erst die Erklärung des Lammes zum absoluten Unwert würde ihm die wert-syllogistische Sinngebung für eine sonst sinnlose Vernichtung liefern. Wir erinnern uns als Juristen an die Abhandlung des Jahres 1920 über „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Karl Binding, der große Strafrechtslehrer, konnte nur deshalb ihr Mitverfasser werden, weil er in seinem ungebrochenen, positivistischen Vertrauen auf den Staat diesen als den Gesetzgeber, Richter und Vollstrecker vorausgesetzt und an einen unabhängigen und eigenständigen Wert-Vollzug überhaupt noch nicht gedacht hat. VI. An der Ebracher Diskussion vom 23. Oktober 1959 haben Theologen, Philosophen und Juristen teilgenommen. Das Stichwort von der Tyrannei der Werte fiel im Anschluß an die Diskussionsbeiträge von Prof. Joachim Ritter (Münster) und Dr. Konrad Huber (Freiburg). Ritter bemerkte, daß der Wertbegriff im gleichen Maße aufkommt, in dem der Naturbegriff durch die moderne Naturwissenschaft zerstört wird; die Werte werden an die leer gewordene Natur herangetragen und ihr auferlegt. Huber unterschied Tugend-Ethik, Wert-

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Ethik und Gesetzes-Ethik; er erinnerte daran, daß Max Scheler der eigentliche Repräsentant der Wert-Ethik ist, und meinte – in Anspielung auf das berühmte, auch in Forsthoffs Referat zitierte Jakobiner-Wort von der Tugend, die durch den Schrecken herrschen soll – Max Scheler würde sich durch das Wort Terror nicht schrecken lassen. Beide Diskussionsbeiträge, sowohl der von Joachim Ritter wie der von Konrad Huber, enthielten eine Fülle von Gedanken und sind mit den Stichworten herantragen, auferlegen und Terror in keiner Weise erschöpfend wiedergegeben. Aber sie wurden der Anstoß zur Zitierung des Wortes von der Tyrannei der Werte und zu den hier folgenden Überlegungen, in denen der aufmerksame Leser jenen Anstoß wiedererkennen wird. Ausdrücke wie Herantragen oder Auferlegen philosophischer Begriffe mußten das juristische Selbstbewußtsein auf den Plan rufen, denn das Referat Forsthoffs enthielt in sich selbst, als rechtswissenschaftliche Leistung, mehr gute Philosophie als jede – im Sinne des heutigen arbeitsteiligen Wissenschaftsbetriebes noch so methodisch reine – Philosophie an guter Jurisprudenz mit sich zu bringen pflegt. Und das Jakobiner-Wort vom Terror mußte Nicolai Hartmanns Formulierung von der Tyrannei der Werte heraufbeschwören. Bei alledem stand zu befürchten, daß die Diskussion in ein steriles Hin und Her von Subjektiv und Objektiv, Formal und Material, Neukantianismus und Phänomenologie, Erkenntnistheorie und Wesensschau, Max Weber und Max Scheler

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hineingetragen und das konkrete juristische Thema verfehlt würde. Schon im Jahre 1923 hatte Ortega y Gasset die Phänomenologie gegen die neukantianische Erkenntnistheorie ausgespielt und Schelers materiale Ethik als neue, strenge Wissenschaft von quasi-mathematischer Evidenz enthusiastisch gepriesen, während er die neukantianische Wertphilosophie als uninteressant abtat. Scheler hat diese „Gefolgschaft“ Ortegas mit Genugtuung registriert10. Der Gefahr solcher schulphilosophischen Komplizierungen konnte aber vorgebeugt werden, am besten durch eine Bezugnahme auf Martin Heideggers ebenso sachkundiges wie peremptorisches Urteil über „die Rede von den Werten und das Denken in Werten“. Denn gerade Heidegger kam – im Rahmen solcher Diskussionen als Universitätsphilosoph betrachtet – von der Phänomenologie her und nicht vom Neukantianismus (vgl. den Artikel „Neukantianismus“ von Hermann Lübbe in der 6. Auflage des Staatslexikons der Görres-Gesellschaft, Freiburg 1960, Sp. 1005 – 1012).

10 Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 24. Ortega, der in Marburg Philosophie studiert hat, kannte die Marburger NeuKantianer gut und wußte, daß bei ihnen keine materiale Wertethik zu holen war. In der „Ethik des reinen Willens“ von Hermann Cohen (1. Aufl. 1904, 2. Aufl. 1907, Neudruck 1921) erscheint der Wert in der Lehre von der Tugend in Kapitel X, bei der Tugend der Gerechtigkeit, aber mit dem klaren Bewußtsein, daß „der Wert die Kategorie des Verkehrs“ ist und der Gebrauchswert zum Tauschwert wird (S. 611 der Ausgabe von 1921).

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VII. So entstanden die hier abgedruckten Überlegungen eines Juristen zur Tyrannei der Werte als Diskussionsbeitrag; sie wurden überarbeitet und als Privatdruck von 16 Seiten Umfang in einer Auflage von 200 Stück den Teilnehmern der Tagung und einigen Freunden zugänglich gemacht. Der Untertitel betont, daß es sich um „Überlegungen eines Juristen zur Wert-Philosophie“ handelt. Die Widmung „Den Ebrachern des Jahres 1959“ bestätigt, daß die Überlegungen den Rahmen der Diskussion nicht sprengen wollen. In Spanien hat die Revista de Estudios Politicos11 eine Überarbeitung des Privatdrucks veröffentlicht, die an die vorhin erwähnte enthusiastische Rezeption der phänomenologischen Wertphilosophie durch Ortega y Gasset anknüpft. Dabei zeigte sich wiederum, daß eine internationale Erörterung des Problems der Wertphilosophie auf kaum überwindliche sprachliche Schwierigkeiten stößt. In Frankreich hat Professor Julien Freund, Straßburg, der Verfasser des großen Werkes „L’essence du Politique“12, in der Reihe Recherches en Sciences Humaines Nr. 1913 vier Abhandlungen Max Webers zur Wissenschaftslehre herausgegeben, mit einer sehr instruktiven Einleitung, an deren Schluß er auf den Privatdruck Bezug nimmt. Die sprachlichen Schwierigkeiten, die sich bei me11 12 13

Nr. 115 vom Januar / Februar 1961. Paris 1965. Paris 1965.

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thodologischen und erkenntnistheoretischen Kontroversen noch zusätzlich steigern, hat er vollkommen gemeistert und dadurch auch die sachlichen Probleme zu hellerem Bewußtsein gebracht. Hierfür sei als aufschlußreiches Beispiel die Übersetzung von Wertfreiheit genannt, die J. Freund mit neutralité axiologique wiedergibt. Raymond Aron hatte von einer indifférence aux valeurs gesprochen. In Deutschland ist dem Privatdruck ein besonderes Schicksal widerfahren. Er wurde nach vier Jahren plötzlich aufgegriffen und durch ein Weltblatt14 in eine polemische Auseinandersetzung hineingezogen. Was in einem Kreis von etwa 40 Hörern gesagt und dann als Privatdruck für höchstens 200 Leser – immer im Rahmen einer Diskussion über Tugend und Wert in der Staatslehre – geäußert worden war, sah sich jetzt im Lautsprecher vor ein ganz anders geartetes Forum von einigen hunderttausend Lesern zitiert, ohne daß diese Leser auch nur annähernd eine Information über den Sinn und Zusammenhang der Diskussion erhielten. Mein bescheidenes Vehikel von beinah antikem Format wurde durch eine riesige, Schallgeschwindigkeit entwickelnde Maschine plötzlich überholt. Eine Schallmauer wurde durchbrochen. Der Lärm, der sich bei einem solchen Vorgang einstellt, konnte zur Klärung des schwierigen Themas – rechtsstaatlicher Verfassungsvollzug – nicht das Geringste beitragen. Es wurde nur von 14 Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 146 vom 27. Juni 1964.

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neuem demonstriert, daß der Wert tatsächlich seine eigene Logik hat. Im folgenden wird der Ebracher Diskussionsbeitrag über die Tyrannei der Werte nach dem Privatdruck von 1960 unverändert als Dokument veröffentlicht. Dem aufmerksamen Leser wird es nicht entgehen, daß der Ansatz für eine Weiterführung der hier vorgetragenen Gedanken bereits erkennbar ist und sich aus einer Frage des vorliegenden Textes entnehmen läßt: aus der Frage nach dem Stellen-Wert der Wert-Freiheit. Eine folgerichtige Wert-Philosophie der Freiheit kann sich nicht damit begnügen, die Freiheit als höchsten Wert zu proklamieren; sie muß vielmehr begreifen, daß für die Wertphilosophie nicht nur die Freiheit der höchste Wert, sondern auch die WertFreiheit die höchste Freiheit ist. Der Wert hat seine eigene Logik. Im Licht des rechtsstaatlichen Verfassungsvollzugs wird das am deutlichsten erkennbar.

Die Tyrannei der Werte Überlegungen eines Juristen zur Wert-Philosophie Den Ebrachern des Jahres 1959 gewidmet von Carl Schmitt Die Frage Es gibt Menschen und Dinge, Personen und Sachen. Es gibt auch Kräfte und Mächte, Throne und Herrschaften. Die Theologen und Moralisten kennen Tugenden und Laster, die Philosophen Qualitäten und Modi des Seins. Aber was sind Werte? Und was bedeutet eine Wert-Philosophie? Man hat natürlich auch schon vor der heutigen Wert-Philosophie von Werten gesprochen, auch von einem Unwert. Doch machte man meistens eine Unterscheidung, indem man sagte: Sachen haben einen Wert, Personen haben eine Würde. Man hielt es für unwürdig, die Würde zu verwerten. Heute dagegen wird auch die Würde zu einem Wert. Das bedeutet eine auffällige Rang-Erhöhung des Wertes. Der Wert hat sich sozusagen aufgewertet. Es ist zu beachten, daß der Wert, von dem die Wert-Philosophie spricht, kein Sein haben soll, sondern eine Geltung. Der Wert ist nicht, sondern

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er gilt. Einige sprechen von einem idealen Sein der Werte, doch brauchen wir solche Nuancen nicht zu vertiefen, weil der Wert als solcher jedenfalls nicht ist, sondern eben gilt. Das Gelten freilich impliziert, wie wir noch näher sehen werden, einen um so stärkeren Drang zur Verwirklichung. Der Wert lechzt geradezu nach Aktualisierung. Er ist nicht wirklich, wohl aber wirklichkeitsbezogen und lauert auf Vollzug und Vollstreckung. Man sieht: wir haben es hier mit scharfsinnigen Distinktionen zu tun. Das läßt auf eine komplizierte Situation schließen. Für die Philosophen und Soziologen des Marxismus bedeutet das kein schwieriges Problem. Sie haben an den Formeln des dialektischen Materialismus einen bequemen Schlüssel und können jede nichtmarxistische Philosophie unter Ideologie-Verdacht stellen und schonungslos entlarven. Gegenüber einer Philosophie, die von Werten spricht und sich selber als Wert-Philosophie bezeichnet, ist die Entlarvung besonders einfach. Nach marxistischer Lehre ist ja die ganze bürgerliche Gesellschaft eine Gesellschaft von Geld- und Warenbesitzern, in deren Händen sich alles, Menschen und Dinge, Personen und Sachen in Geld und Ware verwandelt. Alles wird auf den Markt gebracht, wo nur noch ökonomische Kategorien gelten, nämlich Wert, Preis und Geld. In der Produktion aber geht es um den Mehr-Wert. Einige Wenige bemächtigen sich des Mehr-Wertes, den viele andere erarbeiten, und diese vielen anderen werden um den Mehr-Wert, der ihnen zusteht, betrogen. Immer geht es um

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den Wert. Kein Wunder, wird der Marxist sagen, daß die Wirklichkeit solcher Zustände sich in den Köpfen der Ideologen als eine Wert-Philosophie spiegelt. So einfach wollen wir uns die Beantwortung der Frage nicht machen. Selbstverständlich sind Wert und Preis und Geld-Geltung ökonomische Begriffe und tief in ökonomische Zusammenhänge verstrickt. Aber es wäre ungerecht, sie darauf zu reduzieren und die ganze Wert-Philosophie damit abzutun. Betrachten wir vielmehr diese Wert-Philosophie als ein philosophie-geschichtliches Phänomen; fragen wir nach ihrer Herkunft und ihrer Lage und suchen wir uns ihren unbestreitbaren Erfolg zu erklären.

Herkunft und Lage der Wert-Philosophie Die Erklärung liegt darin, daß die Wert-Philosophie in einer sehr prägnanten philosophie-geschichtlichen Situation entstanden ist, als Antwort auf eine bedrohliche Frage, die sich als die Nihilismuskrise des 19. Jahrhunderts erhoben hatte. Unabhängig davon, ob man irgendeine Form der Existenzphilosophie annimmt oder ablehnt, oder den Existenzialismus bejaht oder verneint, bleibt jedenfalls philosophie-geschichtlich wahr, was Martin Heidegger über den Ursprung der WertPhilosophie sagt und was wir – wegen seiner erschöpfenden und abschließenden Richtigkeit – hier in extenso zitieren:

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Die Tyrannei der Werte Im 19. Jahrhundert wird die Rede von den Werten geläufig und das Denken in Werten üblich. Aber erst zufolge einer Verbreitung der Schriften Nietzsches ist die Rede von Werten populär geworden. Man spricht von Lebenswerten, von den Kulturwerten, von Ewigkeitswerten, von der Rangordnung der Werte, von geistigen Werten, die man z. B. in der Antike zu finden glaubte. Bei der gelehrten Beschäftigung mit der Philosophie und bei der Umbildung des Neukantianismus kommt man zur WertPhilosophie. Man baut Systeme von Werten und verfolgt in der Ethik die Schichtungen von Werten. Sogar in der christlichen Theologie bestimmt man Gott, das summum ens qua summum bonum, als den höchsten Wert. Man hält die Wissenschaft für wertfrei und wirft die Wertungen auf die Seite der Weltanschauungen. Der Wert und das Werthafte wird zum positivistischen Ersatz für das Metaphysische1.

Herkunft und philosophie-geschichtliche Lage der Wert-Philosophie sind mit diesen Sätzen Martin Heideggers treffend bestimmt und richtig verortet. Eine kausalgesetzliche und deshalb wertfreie Wissenschaft bedrohte die Freiheit des Menschen und seine religiös-ethisch-juristische Verantwortlichkeit. Auf diese Herausforderung antwortete die Wert-Philosophie, indem sie dem Reich eines nur kausal bestimmten Seins ein Reich der Werte entgegenstellte, als ein Reich des idealen Geltens. Es war ein Versuch, den Menschen als freies, verantwortliches Wesen, zwar nicht in einem Sein, wohl aber wenigstens in der Geltung dessen, was man Wert nannte, zu behaupten. Diesen Versuch 1 Martin Heidegger, Holzwege, Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1950, S. 209 / 10, in dem Aufsatz: Nietzsches Wort „Gott ist tot“, S. 193 ff.

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kann man wohl als positivistischen Ersatz für das Metaphysische bezeichnen. Die Geltung der Werte beruht auf Setzungen. Wer ist es nun, der hier die Werte setzt? Bei Max Weber finden wir die klarsten und insofern auch ehrlichsten Antworten auf diese Frage. Danach ist es das menschliche Individuum, das in voller, rein subjektiver Entscheidungsfreiheit die Werte setzt. Auf diese Weise entgeht es der absoluten Wertfreiheit des wissenschaftlichen Positivismus und setzt ihm seine freie, das heißt: subjektive Weltanschauung entgegen. Die rein subjektive Freiheit der Wertsetzung führt aber zu einem ewigen Kampf der Werte und der Weltanschauungen, einem Krieg aller mit allen, einem ewigen bellum omnium contra omnes, im Vergleich zu dem das alte bellum omnium contra omnes und sogar der mörderische Naturzustand der Staatsphilosophie des Thomas Hobbes wahre Idyllen sind. Die alten Götter entsteigen ihren Gräbern und kämpfen ihren alten Kampf weiter, aber entzaubert und – wie wir heute hinzufügen müssen – mit neuen Kampfmitteln, die keine Waffen mehr sind, sondern scheußliche Vernichtungsmittel und Ausrottungsverfahren, grauenhafte Produkte der wertfreien Wissenschaft und der von ihr bedienten Industrie und Technik. Was für den einen der Teufel ist, wird hier für den anderen der Gott. „Und so geht es durch alle Ordnungen des Lebens hindurch . . . und zwar für alle Zeit.“ Mit solchen ergreifenden Äußerungen Max Webers könnte man viele Seiten füllen2. Immer sind es die Werte, die den Kampf

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schüren und die Feindschaft wachhalten. Daß die alten Götter entzaubert und zu bloß geltenden Werten geworden sind, macht den Kampf gespenstisch und die Kämpfer verzweifelt rechthaberisch. Das ist der Albdruck, den Max Webers Schilderung hinterläßt. Bedeutende Philosophen wie Max Scheler und Nicolai Hartmann haben versucht, dem Subjektivismus der Wertungen zu entgehen und eine objektive und materiale Wert-Philosophie zu finden. Max Scheler errichtete eine Stufenordnung der Werte, die von unten nach oben vom Nützlichen zum Heiligen ging. Nicolai Hartmann konstruierte ein System des objektiven Zusammenhangs einer realen Welt in Schichten, deren unterste das Anorganische, deren höchste das Geistige sein sollte. Aber Werte mögen noch so hoch und heilig gelten, als Werte gelten sie immer nur für etwas oder für jemanden. Nicolai Hartmann selbst hat das nachdrücklich betont. Wenn er sagt, daß dieses für „nicht ihrem idealen Gelten anhaftet, wohl aber ihrem aktualen“, nämlich dem „wertfühlenden Subjekt“ (Ethik S. 142), so ist das für unsere 2 Max Weber, Wissenschaft als Beruf, 1919, abgedruckt in Gesammelte Schriften zur Wissenschaftslehre, Zweite Auflage, besorgt von Johannes Winckelmann, Tübingen 1951, S. 588; Gesammelte politische Schriften, Zweite Auflage, herausgegeben von Johannes Winckelmann, Tübingen 1958, S. 547 / 48 (Schluß des Vortrages Politik als Beruf). Zum „Kampf der Wertordnungen“ sind die im Sachverzeichnis von Johannes Winckelmann genannten Seiten der Gesammelten Schriften zur Wissenschaftslehre (S. 150, 153 f., 490, 491 ff., 503, 587 ff., 592) zu vergleichen.

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Überlegung ausschlaggebend, weil wir das aktuale Gelten im Auge behalten müssen und sich jetzt herausstellt, daß wir es, sobald es aktual wird, immer nur mit „wertfühlenden Subjekten“ zu tun haben. Der immanenten Logik des Wertdenkens kann eben keiner entrinnen. Ob subjektiv oder objektiv, formal oder material, sobald der Wert erscheint, wird eine spezifische Denk-Schaltung unvermeidlich. Sie ist – man muß schon sagen: zwangsläufig – mit jedem Wert-Denken gegeben. Denn das Spezifische des Wertes liegt eben darin, daß er statt eines Seins nur eine Geltung hat. Die Setzung ist infolgedessen nichts, wenn sie sich nicht durchsetzt; die Geltung muß fortwährend aktualisiert, das heißt: geltend gemacht werden, wenn sie sich nicht in leeren Schein auflösen soll. Wer Wert sagt, will geltend machen und durchsetzen. Tugenden übt man aus; Normen wendet man an; Befehle werden vollzogen; aber die Werte werden gesetzt und durchgesetzt. Wer ihre Geltung behauptet, muß sie geltend machen. Wer sagt, daß sie gelten, ohne daß ein Mensch sie geltend macht, will betrügen. Der Angriffspunkt Ob etwas Wert hat und wieviel, ob etwas wert ist und wie hoch, läßt sich nur von einem – gesetzten – Standpunkt oder Gesichtspunkt aus bestimmen. Die Wert-Philosophie ist eine PunktPhilosophie, die Wert-Ethik eine Punkt-Ethik.

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Standpunkt, Gesichtspunkt, Blickpunkt, Augenpunkt sind immer wiederkehrende Stichworte ihres Sprachschatzes. Es sind weder Ideen noch Kategorien, noch Prinzipien, noch Prämissen. Es sind eben Punkte. Sie stehen in dem System eines reinen Perspektivismus, in einem Bezugssystem. Jeder Wert ist demnach ein Stellenwert. Auch der höchste Wert – sei es der einzelne Mensch in seinem jeweiligen irdischen Dasein, sei es die Menschheit als ein „großes Wesen“; sei es die Freiheit oder die klassenlose Gesellschaft; sei es das Leben selbst oder der Lebensstandard; sei es das Heilige oder auch Gott – hat gerade als solcher, als höchster Wert, nur seinen Stellenwert im Wertsystem. Darum konnte auch die Redewendung von der „Umwertung der Werte“ glatt in Umlauf kommen. Die Umwertung macht hier keine Schwierigkeit, weil sie mit einer bloßen Umschaltung vollzogen werden kann. Standpunkte, Blickpunkte, Gesichtspunkte sind nicht dazu da, ihrer selbst wegen beibehalten zu werden. Es gehört im Gegenteil zu ihrer Funktion und ihrem Sinn, mit wechselnder Ebene gewechselt zu werden. Hier nun, wo der Punktualismus des Wertdenkens in die Augen springt, bricht auch Max Webers intellektuelle Redlichkeit durch. Es wäre offenbar unrecht, ihn auf einige Kraftstellen zu reduzieren und darüber seine großen soziologischen Einsichten zu vernachlässigen. Auch denkt niemand mehr daran, ihn auf seine neukantianische Erkenntnistheorie festzulegen3. Aber ge-

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rade innerhalb des typischen Punktualismus der Wert-Philosophie bewährt sich die durchdringende Kraft seines Denkens darin, daß er neben allen den Gesichtspunkten, Standpunkten und Augenpunkten einen eigenen, und zwar den entscheidenden, Punkt erkannt und offen beim Namen genannt hat: den Angriffspunkt. Es ergibt sich, sagt Max Weber in seiner Auseinandersetzung mit dem Historiker Eduard Meyer, „eine endlose Mannigfaltigkeit wertender Stellungnahmen“; ihre Interpretation hat den Sinn, „uns eben die möglichen Standpunkte und Angriffspunkte der Wertung aufzudecken“. Die drei Termini „Standpunkte“, „Angriffspunkte“ und „Wertung“ hebt er durch Anführungszeichen heraus – mit einer für seine Denk- und Schreibweise typischen Geste4. Das Wort „Angriffspunkt“ enthüllt die potenzielle Aggressivität, die jeder Wertsetzung immanent ist. Worte wie Standpunkt oder Gesichtspunkt lenken davon ab und erwecken den Eindruck eines scheinbar grenzenlosen Relativismus, Relationismus und Perspektivismus und damit auch einer ebenso großen Toleranz, verbunden mit einer grundsätzlichen, wohlwollenden Neu3 Raymond Aron, in der Einleitung zur französischen Ausgabe von Max Webers Abhandlungen „Wissenschaft als Beruf“ und „Politik als Beruf“, französische Übersetzung durch Julien Freund, in der Reihe „Recherches en Sciences Humaines“ Nr. 12, Librairie Plon, Paris 1959. 4 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 2. Aufl., besorgt von Johannes Winckelmann, 1951, S. 246 (aus dem Jahre 1906).

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tralität. Sobald aber zum Bewußtsein kommt, daß hier auch Angriffspunkte im Spiel sind, entfallen die neutralistischen Illusionen. Man kann versuchen, das Wort „Angriffspunkt“ zu verharmlosen, indem man es in einen bloßen „Ansatzpunkt“ umdeutet. Das würde jedoch nur den unbequemen Eindruck mildern, nicht aber die immanente Aggressivität selbst. Diese bleibt „die fatale Kehrseite der Werte“5. Sie ist mit der thetisch-setzerischen Struktur des Wertes von selbst gegeben und wird durch den konkreten Vollzug des Wertes immer von neuem produziert. Sie wird auch durch die Unterscheidung von Wertrecht und Satzrecht nicht überwunden, sondern eher verschärft6. Durch die 5 Den Ausdruck übernehme ich aus der deutschen Übersetzung des Buches von Americo Castro, Spanien, Vision und Wirklichkeit (Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln-Berlin 1957), S. 60: „selbst die sanftesten Reiche und Religionen fußen auf Ungerechtigkeiten, der fatalen Kehrseite der Werte, die sie verkörpern“. In Americo Castros Buch ist viel von Werten die Rede. Doch ist der sprachliche Sinn des lateinischen Wortes Valor mit dem deutschen Wert nicht identisch; darüber mein Beitrag für die Festschrift zu Ehren von Prof. Legaz y Lacambra (Santiago de Compostela), die 1960 erscheinen soll. [Carl Schmitt, „Der Gegensatz von Gemeinschaft und Gesellschaft als Beispiel einer zweigliedrigen Unterscheidung. Betrachtungen zur Struktur und zum Schicksal solcher Antithesen“. Estudios Juridicos-Sociales. Homenaje al Profesor Luis Legaz y Lacambra, Universidad de Santiago de Compostela 1960, Bd. 1, S. 165 – 178]. 6 Diese Unterscheidung macht Rainer Specht in dem Aufsatz „Zur Struktur formal-material gebauter Rechtsphilosophien“, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. XLIV / 4 (Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied und Berlin 1958), S. 475 – 493. Es ist klar, daß die Setzung eines Satzes begrifflich nicht dasselbe ist wie die Setzung einer

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Ambivalenz der Werte wird sie immer von neuem virulent, sobald Werte als solche von konkreten Menschen gegenüber andern, ebenso konkreten Menschen geltend gemacht werden. Wertzerstörende Wertverwirklichung Auch die Ambivalenz der Werte erscheint zunächst in einem neutralen Gewande, zum Beispiel als Plus und Minus in mathematischer, als positiver oder negativer Pol in physikalischer Objektivität. Doch ist nicht schwer zu erkennen, daß diese Art Neutralität keine andere ist als die des naturwissenschaftlichen Positivismus, dessen nihilistiSatzung (eines Gesetzes). Aber jede Setzung drängt auf Vollzug. Wie schnell die Diktate der Vernunft auf diesem Wege zur Diktatur der werttragenden und wertfühlenden Subjekte werden können, lehrt die Geschichte der modernen Revolutionen, und die Theten und die Tyrannen waren schon in der griechischen Antike nah benachbart. Die scharfsinnigen Unterscheidungen Rainer Spechts sollen damit nicht widerlegt, wohl aber von unsern Überlegungen her ergänzt werden. Specht bemerkt selbst „daß die Thesis nicht einfach auf-liegt, sondern wirkt“, und er fährt fort: „In gewisser Hinsicht modifiziert der thetische Charakter den von ihm betroffenen Kern, indem er etwa aus einem bloßen Noema ein Dikaioma macht. Auf analoge Sachverhalte hat Edmund Husserl immer wieder hingewiesen“ (S. 484). Sehr richtig. Aber was bedeutet es, daß dieses Thetische, dieses Setzerische nicht nur „auf-liegt“, nicht nur hinzutritt und nicht nur zum Wert sich „gesellt“? Es bedeutet, daß nicht nur „in gewisser Hinsicht“, wie Rainer Specht sagt, vom Thetisch-Setzerischen her Modifikationen eintreten, vielmehr die Logik des Setzens und Durchsetzens im Wesen des Wertes angelegt ist und unentrinnbar zur Wertlogik selbst gehört.

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scher Wertfreiheit man doch gerade entgehen wollte, als man sich in die Freiheit des rein subjektiven Wertens stürzte und den dadurch entfesselten Kampf aller mit allen auf sich nahm, um die große Nihilismuskrise zu überwinden. Hat nun inzwischen der Übergang zu objektiven Wertlehren den Abgrund überbrückt, der die wertfreie Wissenschaftlichkeit von der menschlichen Entscheidungsfreiheit trennt? Haben die neuen objektiven Werte den Albdruck behoben, den Max Webers Schilderung des Kampfes der Wertungen bei uns hinterlassen hat? Sie haben es nicht, und sie können es auch nicht. Sie haben – ohne die objektive Evidenz für Andersdenkende auch nur im geringsten zu vermehren – durch ihre Behauptung des objektiven Charakters der von ihnen gesetzten Werte nichts anderes getan als ein neues Moment der Selbstverpanzerung in den Kampf der Wertungen eingeführt, ein neues Vehikel der Rechthaberei, das den Kampf nur noch schürt und steigert. Die subjektive Wertlehre ist nicht überwunden, und objektive Werte sind nicht schon dadurch gewonnen, daß man die Subjekte verschleiert und die Wertträger verschweigt, deren Interessen die Standpunkte, Gesichtspunkte und Angriffspunkte des Wertens liefern. Niemand kann werten ohne abzuwerten, aufzuwerten und zu verwerten. Wer Werte setzt, hat sich damit gegen Unwerte abgesetzt. Die grenzenlose Toleranz und Neutralität der beliebig auswechselbaren Standpunkte und Gesichtspunkte schlägt sofort in das Gegenteil, in Feindschaft um, sobald es mit der Durchsetzung und Geltendma-

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chung konkret ernst wird. Der Geltungsdrang des Wertes ist unwiderstehlich und der Streit der Werter, Abwerter, Aufwerter und Verwerter unvermeidlich. Ein Philosoph der objektiven Werte, für den es höhere Werte gibt als das physische Dasein der jeweils lebenden Menschen, ist bereit, die Vernichtungsmittel der modernen Wissenschaft und Technik einzusetzen, um diese höheren Werte durchzusetzen; und ein anderer Philosoph der objektiven Werte hält es für ein Verbrechen, menschliches Leben um angeblich höherer Werte willen zu vernichten. Das kann man in der Diskussion über den Einsatz atomarer Kampfmittel erleben7. Es ist erschütternd zu sehen, daß schließlich sogar Herkunft und Sinn der Wert-Philosophie überhaupt verlorengehen und der Ansatz zu einer Überwindung des wissenschaftlich-positivistischen Nihilismus dieser Logik gemäß sich selbst vernichtet. Denn auch die absolute Wertfreiheit der Wissenschaft kann als Wert, sogar als höchster Wert gesetzt und geltend gemacht werden, und keine folgerichtige Wertlogik kann den Setzer und Vollstrecker dieses höchsten Wertes daran hindern, die ganze Wert-Philosophie als unwissenschaftlich, fortschrittswidrig und nihilistisch zu verdammen. Dann endet der Streit der Werter und Abwerter 7 Die Zerstörung der naturrechtlichen Kriegslehre; Erwiderung an Pater Gundlach S. J. von Ernst-Wolfgang Böckenförde und Robert Spaemann, in „Atomare Kampfmittel und christliche Ethik“. Diskussionsbeiträge deutscher Katholiken, Verlag Jos. Kösel, München 1960.

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damit, daß auf beiden Seiten ein grauenhaftes Pereat Mundus ertönt. Die Tyrannei der Werte Wie sollte denn der Kampf der subjektiven oder gar der objektiven Werte anders enden? Der höhere Wert hat das Recht und die Pflicht, den niederen Wert sich zu unterwerfen, und der Wert als solcher vernichtet mit Recht den Unwert als solchen. Das ist klar und einfach und in der Eigenart des Wertens begründet. Eben darin besteht die allmählich in unser Bewußtsein tretende „Tyrannei der Werte“. Das Wort von der „Tyrannei der Werte“ ist nicht von mir erfunden; es erscheint bei dem großen Philosophen der objektiven Wertlehre, Nicolai Hartmann, und ist für unseren Zusammenhang so bedeutungsvoll, daß wir es – ähnlich wie Martin Heideggers eingangs erwähnte Äußerung über die geschichtliche Verortung der Wertlehre – hier ausdrücklich zitieren müssen. Nicolai Hartmann sagt: Jeder Wert hat – wenn er einmal Macht gewonnen hat über eine Person – die Tendenz, sich zum alleinigen Tyrannen des ganzen menschlichen Ethos aufzuwerfen, und zwar auf Kosten anderer Werte, auch solcher, die ihm nicht diametral entgegengesetzt sind. Die Tendenz haftet zwar nicht den Werten als solchen in ihrer idealen Seinssphäre an, wohl aber als bestimmenden (oder seligierenden) Mächten im menschlichen Wertgefühl. Solche Tyrannei der Werte zeigt sich schon deutlich in den einseitigen Typen der geltenden Moral, in der bekannten Unduldsamkeit (auch des sonst nachgiebigen) gegen

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fremdartige Moral; noch mehr im individuellen Erfaßtsein einer Person von einem einzigen Wert. So gibt es einen Fanatismus der Gerechtigkeit (fiat justitia, pereat mundus), der keineswegs bloß der Liebe, geschweige denn der Nächstenliebe ins Gesicht schlägt, sondern schlechterdings allen höheren Werten8.

Diese Sätze Nicolai Hartmanns bestätigen das Bild einer wertzerstörenden Wertverwirklichung, das wir vorhin erhalten haben. Für das praktische Ergebnis, das uns als Juristen hier angeht, macht es keinen Unterschied, ob die Tyrannei der Werte nur psychologisch oder wesensmäßig in sich selbst unvermeidlich ist, ob sie also erst auf dem Weg über das subjektive menschliche Wertgefühl eintritt, wie Hartmann meint, oder ob sie, wie das unsern Erfahrungen entspricht, bereits in der Struktur des Wertdenkens angelegt ist. Richtig verstanden kann das Wort von der Tyrannei der Werte den Schlüssel zu der Erkenntnis liefern, daß die ganze Wertlehre den alten, andauernden Kampf der Überzeugungen und der Interessen nur schürt und steigert. Es ist nicht viel damit gewonnen, daß es moderne Wertphilosophen gibt, die „Fundierungsverhältnisse“ anerkennen, kraft deren der niedere Wert dem höheren gelegentlich sogar vorgezogen werden kann, weil er die Vorbedingung 8 Nicolai Hartmann, Ethik, 1926, S. 524 ff. In dem Werk des katholischen Theologen Werner Schöllgen, Aktuelle Moralprobleme, Düsseldorf, Patmos-Verlag 1955, S. 144, ist Nicolai Hartmanns Äußerung über die Tyrannei der Werte mit lebhafter Zustimmung zitiert, ohne daß freilich daraus grundsätzlich Schlüsse für eine Kritik der Wert-Philosophie selbst gezogen würden.

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des höheren ist. Das alles zeigt nur die Verwirrung der ganzen Wertargumentation, die fortwährend neue Relationen und Gesichtspunkte aufwirft, dabei jedoch immer in der Lage bleibt, dem Gegner den Vorwurf zu machen, daß er offensichtliche Werte nicht sieht, mit anderen Worten: ihn als wertblind zu disqualifizieren. Die polemische Verwertung des Wortes blind ist der Logik des Wertes adäquat, weil es sich um Bezugssysteme handelt, die aus Gesichtspunkten, Blickpunkten und Augenpunkten konstruiert werden9. Wertlogisch muß immer gelten: daß für den höchsten Wert der höchste Preis nicht zu hoch ist und gezahlt werden muß. Diese Logik ist viel zu stark und einleuchtend, als daß sie im Kampf der Werte eingeschränkt oder bedingt werden könnte. Man braucht nur das altmodische Verhältnis von Zweck und Mittel mit dem modernen Verhältnis von höherem und niederem Wert oder gar dem von Wert und Unwert miteinander zu vergleichen, um zu erkennen, wie Hemmungen und Rücksichten infolge der spezifischen Wertlogik entfallen. 9 Von positiver und negativer Wertblindheit spricht Dietrich von Hildebrand in einem berühmt gewordenen Aufsatz des Husserl’schen Jahrbuches für Philosophie und phänomenologische Forschung. [Dietrich von Hildebrand, „Sittlichkeit und ethische Welterkenntnis. Eine Untersuchung über ethische Strukturprobleme“, Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. 5 (1922), S. 463 – 602; wiederabgedruckt in Dietrich von Hildebrand, Die Idee der sittlichen Handlung. Sittlichkeit und ethische Welterkenntnis, unveränderter Nachdruck Darmstadt 1969, S. 127 – 266 (zur Weltblindheit S. 150 ff.)].

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Früher, als die Würde noch kein Wert, sondern etwas wesentlich anderes war, konnte der Zweck das Mittel nicht heiligen. Daß der Zweck das Mittel heiligen soll, hielt man für eine verwerfliche Maxime. In der Hierarchie der Werte dagegen gelten andere Relationen, die es rechtfertigen, daß der Wert den Unwert vernichtet und der höhere Wert den niederen Wert als minderwertig behandelt. Max Scheler, der große Meister der objektiven Wertlehre, hat gesagt – und Theodor Haecker hat es ihm mit mehr polemischem als denkerischem Eifer nachgesprochen –: Die Verneinung eines negativen Wertes ist ein positiver Wert. Das ist mathematisch klar, denn minus mal minus ergibt plus. Man kann daraus ersehen, daß die Bindung des Wertdenkens an seinen alten wertfreien Gegner nicht so leicht zu lösen ist. Jener Satz Max Schelers erlaubt es, Böses mit Bösem zu vergelten und auf diese Weise unsere Erde in eine Hölle, die Hölle aber in ein Paradies der Werte zu verwandeln. Unvermittelter und gesetzlich vermittelter Wertvollzug Die Wertlehre feiert, wie wir sahen, in der Erörterung der Frage des gerechten Krieges ihre eigentlichen Triumphe. Das liegt in der Natur der Sache. Jede Rücksicht auf den Gegner entfällt, ja sie wird zum Unwert, wenn der Kampf gegen diesen Gegner ein Kampf für die höchsten Werte ist. Der Unwert hat kein Recht gegenüber dem Wert,

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und für die Durchsetzung des höchsten Wertes ist kein Preis zu hoch. Hier gibt es dann infolgedessen nur noch Vernichter und Vernichtete. Alle Kategorien des klassischen Kriegsrechts des Jus Publicum Europaeum – gerechter Feind, gerechter Kriegsgrund, Verhältnismäßigkeit der Mittel und das geordnete Vorgehen, der debitus modus – fallen dieser Wertlosigkeit hoffnungslos zum Opfer. Der Drang zur Wertdurchsetzung wird hier ein Zwang zum unmittelbaren Wertvollzug. Im Jahre 1920 erschien in Deutschland eine Schrift, die einen ominösen Titel trug: Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihre Verfasser waren zwei hochangesehene deutsche Gelehrte bester deutscher Bildungstradition, der Mediziner Alfred Hoche und der Jurist Karl Binding. Beide waren liberale Menschen ihrer Zeit, beide von besten, humanen Absichten beseelt. Beide haben in einer geradezu rührenden Weise darüber nachgedacht, wie man einen Mißbrauch ihrer Vorschläge für die Vernichtung lebensunwerten Lebens durch Vorbehalte und Kautelen aller Art verhindern könnte. Es wäre nicht nur ungerecht, sondern niederträchtig, den beiden deutschen Gelehrten ex post irgendeine Schuld oder Mitverantwortung für die schreckliche Praxis der Vernichtung lebensunwerten Lebens anzuhängen, die zwanzig Jahre später Wirklichkeit wurde. Aber gerade diese Erfahrung kann doch zum Anlaß werden, jedes Wort dieses Buchtitels genau zu erwägen und das Problem der Tyrannei der Werte zu bedenken. Ne simus faciles in verbis. Seien wir nicht leichtfertig im Gebrauch unserer Worte.

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Damals, 1920, war es möglich, in aller Humanität und Gutgläubigkeit die Vernichtung lebensunwerten Lebens zu fordern. Wieviel harmloser und ungefährlicher kann es heute erscheinen, die Veröffentlichung veröffentlichungsunwerter Schriften und die Äußerung äußerungsunwerter Meinungen zu unterdrücken, die Drucklegung druckunwerter Bücher und Aufsätze schon in der Druckerei zu unterbinden und die Beförderung beförderungsunwerter Personen oder Sachen schon am Bahnhof oder Ladeplatz unmöglich zu machen. Das könnte doch alles unter der Parole der Freigabe der Vernichtung von Unwerten gefordert werden, und es wäre alles doch nur die unmittelbare Durchsetzung höherer Werte gegenüber niederen Werten oder gar Unwerten. Es wäre ein interessantes philosophisches Thema für sich, das problematische Gelten der Werte mit dem problematischen Sein der platonischen Ideen zu vergleichen. Was aber auch immer die Fachphilosophen dazu sagen mögen, sicherlich wird für den Wert in noch höherem Grade zutreffen, was Goethe von der Idee gesagt hat: sie tritt immer als fremder Gast in die Erscheinung. Anders kann wohl auch der Wert nicht wirklich werden. Die Idee bedarf der Vermittlung, und wenn sie in nackter Unmittelbarkeit oder in automatischem Selbst-Vollzug in die Erscheinung tritt, dann ist der Schrecken da und das Unglück furchtbar. Für das, was man heute Wert nennt, müßte sich die entsprechende Wahrheit von selbst verstehen. Das ist wohl zu bedenken, wenn man an der

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Kategorie „Wert“ festhalten will. Die Idee bedarf der Vermittlung, aber der Wert bedarf ihrer noch weit mehr. In einem Gemeinwesen, dessen Verfassung einen Gesetzgeber und Gesetze vorsieht, ist es Sache des Gesetzgebers und der von ihm gegebenen Gesetze, die Vermittlung durch berechenbare und vollziehbare Regeln zu bestimmen und den Terror des unmittelbaren und automatischen Wertvollzugs zu verhindern. Das ist eine schwierige Aufgabe, angesichts derer man es wohl verstehen kann, daß die großen Gesetzgeber der Weltgeschichte von Lykurg und Solon bis Napoleon mythische Figuren geworden sind. In den industriell hochentwickelten Staaten der Gegenwart mit ihrer organisierten Massen-Daseinsvorsorge wird die Vermittlung zu einem neuen Problem. Versagt hier der Gesetzgeber, so gibt es für ihn keinen Ersatz, sondern höchstens Lückenbüßer, die mehr oder weniger schnell das Opfer ihrer undankbaren Rolle werden. Ein Jurist, der sich darauf einläßt, unmittelbarer Wertvollzieher zu werden, sollte wissen, was er tut. Er sollte die Herkunft und Struktur der Werte bedenken und dürfte das Problem der Tyrannei der Werte und des unvermittelten Wertvollzuges nicht leichtnehmen. Er müßte mit der neuzeitlichen Wert-Philosophie ins klare kommen, ehe er sich entschließt, Werter, Umwerter, Aufwerter oder Abwerter zu werden und als werttragendes und wertfühlendes Subjekt die Setzungen einer subjektiven oder auch objektiven Wertstufenord-

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nung in der Form von Richtersprüchen mit Rechtskraft zu verkünden.

Werte als Gefahr für das Recht? Carl Schmitt und die Karlsruher Republik Von Christoph Schönberger Carl Schmitt war ein Mann des polemischen Traktats, der Streitschrift, des Pamphlets. Zu seiner eigentlichen literarischen Form fand er in dem, was die Franzosen einen brûlot nennen: ein entflammbarer Text, ein Boot mit hochentzündlicher Fracht, dazu bestimmt, das Schiff des Gegners in Brand zu setzen. Ein solcher brûlot ist die Schrift über die „Tyrannei der Werte“. Der Titel enthält bereits die ganze These. Werte können dem Gemeinwesen und seinem Recht keinen festen Grund bieten, sie verschärfen vielmehr dessen Probleme. Gerade wenn man von ihnen erwartet, sie sollen Gemeinsamkeit stiften, wirken sie zerstörerisch. Dahinter stehen immer spezifische Akteure mit spezifischen Interessen. „Wer sagt, dass sie gelten, ohne dass ein Mensch sie geltend macht, will betrügen.“1 Der jungen Bundesrepublik, in der man sich nach der tiefen Verunsicherung durch Natio1 Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, vorliegende Ausgabe (im Folgenden abgekürzt als: TdW), S. 41.

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nalsozialismus und Krieg gern und viel auf Werte berief, liest Carl Schmitt auf diese Weise die Leviten. So scheinbar klar seine zentrale These daherkommt, so rasch drängen sich dem Leser freilich grundsätzliche Fragen auf. Auf welcher Ebene bewegt sich Schmitts Argumentation eigentlich? Geht es um politische Philosophie, um allgemeine Ethik oder um Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit? Schmitt selbst gibt einen Hinweis, wenn er „Überlegungen eines Juristen zur Wert-Philosophie“2 ankündigt. Sein Thema ist die Wertphilosophie, aber er will dazu ausdrücklich gerade als Jurist Stellung nehmen. Das macht die Sache freilich nicht einfacher. Denn Schmitt beruft sich zwar auf seine Rolle als Jurist, behandelt in seinem Traktat aber überwiegend Autoren der Wertphilosophie von Max Weber bis Max Scheler und Nicolai Hartmann. Sein Text wählt von vornherein eine schwierige Zwischenlage zwischen Philosophie und Jurisprudenz. Der Autor will Philosophen und Juristen etwas sagen, geht damit freilich auch das Risiko ein, beide zu enttäuschen.

I. Forsthoff, Karlsruhe, Ebrach: Der Entstehungskontext der Schrift „Die Tyrannei der Werte“ ist ein Manifest grundlegender Opposition gegenüber der Entwicklung der frühen Bundesrepublik, ihrer politi2

TdW, S. 35.

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schen Moral und ihres Verfassungsrechts. Die Schrift beruht auf einem Beitrag Carl Schmitts im Rahmen eines Seminars in Ebrach am 23. Oktober 1959. Schmitt äußerte sich in einer Diskussion über „Tugend und Wert in der Staatslehre“, die sich an ein Referat Ernst Forsthoffs anschloss.3 Der überarbeitete Text wurde zunächst als Privatdruck im Jahr 1960 einem kleinen Adressatenkreis zugänglich gemacht. Schmitt ließ ihn dann 1967 mit einer ausführlichen Einleitung in dem Forsthoff zum 65. Geburtstag gewidmeten Band „Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien“ erscheinen. Diese Publikation ist die Textgrundlage der vorliegenden Ausgabe.4 Ebrach bezeichnet in diesem Zusammenhang mehr als nur einen Ort in Oberfranken. Zwischen 1957 und 1971 fanden dort wissenschaftliche Ferienseminare statt, die eine Art Studium Generale außerhalb der Universität ermöglichen sollten; sie gingen auf einen Kreis um Ernst Forsthoff zurück5, der diese auch weitgehend aus seinen pri3 Vgl. dazu Schmitts eigene Bemerkungen: TdW, S. 9, 29 f. Forsthoff hatte ausgeführt, „dass die Tugend in der Staatslehre des absoluten Fürsten noch einen Platz hatte, während das Legalitäts-System des bürgerlichen Rechtsstaates mit einem Wort und Begriff wie Tugend nichts mehr anzufangen weiß“: TdW, S. 9. 4 Siehe dazu im vorliegenden Band die Editorische Notiz von Gerd Giesler, S. 7 – 8. 5 Vgl. dazu den Brief Forsthoffs an Schmitt vom 8. Juli 1957, Brief Nr. 100, in: Briefwechsel Ernst Forsthoff – Carl Schmitt (1926 – 1974), hrsg. v. Dorothee Mußgnug, Reinhard Mußgnug und Angela Reinthal, 2007, S. 131 ff. (131).

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vaten Mitteln finanzierte. Die Ebracher Seminare brachten Studenten und Nachwuchswissenschaftler aus der Jurisprudenz und anderen Geisteswissenschaften mit bekannten Referenten zusammen.6 Forsthoff war der einflussreichste Schüler Schmitts in der frühen Bundesrepublik, der sein Betätigungsfeld vor allem im Verwaltungsrecht fand.7 In Ebrach bot er dem in Plettenberg recht isoliert lebenden Schmitt ein Forum, mit Jüngeren in einen intensiven Kontakt zu treten; dieser hat „Die Tyrannei der Werte“ denn auch „den Ebrachern des Jahres 1959 gewidmet“8. Forsthoff und Schmitt standen seit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wieder9 in engem Kontakt 6 Näher Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, 1993, S. 200 ff. 7 Aufgrund seiner NS-Belastung hatte Forsthoff seinen Heidelberger Lehrstuhl erst 1952 wiedererlangt. Zu ihm demnächst die umfassende Studie von Florian Meinel, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft – Ernst Forsthoff und seine Zeit (1902 – 1974), erscheint 2011. 8 TdW, S. 35. 9 Forsthoff hatte den Kontakt zu Schmitt in der NS-Zeit offenbar deshalb weitgehend eingestellt, weil er nach anfänglichem eigenem NS-Engagement dessen Rechtfertigung der Morde vom 30. Juni 1934 und antisemitische Äußerungen missbilligte; vgl. dazu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Zum Briefwechsel zwischen Ernst Forsthoff und Carl Schmitt, AöR 133 (2008), S. 261 ff. (263); Bernd Rüthers, Überlebende und überlebte Vergangenheiten. Zwei Starjuristen einer Diktatur unter sich, Myops 4 / 2008, S. 67 ff. (68); Wolfgang Schuller, Eine große Rührung, FAZ v. 24. Dezember 2007, Nr. 299, S. 37; Michael Stolleis, Leiden an der Bundesrepublik, Rechtsgeschichte 13 (2008), S. 205 ff.

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und teilten, trotz durchaus deutlichen Unterschieden der Persönlichkeiten und Positionen, eine sehr distanzierte Grundeinschätzung der Entwicklung der Bundesrepublik.10 Aus Anlass von Schmitts siebzigstem Geburtstag im Jahr 1958 bemühte sich Forsthoff nachdrücklich darum, diesen ungeachtet von dessen Engagement im Nationalsozialismus in der öffentlichen Wahrnehmung als bedeutenden Gelehrten zu rehabilitieren.11 Ausdruck davon war insbesondere die 1959 publizierte Festschrift für Carl Schmitt.12 Diese Bemühungen Forsthoffs lösten heftige Kritik und Widerstand aus, die sich auf Schmitts Parlamentarismuskritik der Weimarer Zeit, seine NS-Vergangenheit und ostentative Unbußfertigkeit nach 1945 bezogen.13 10 Vgl. dazu ihren über Jahrzehnte geführten Briefwechsel (Fn. 5). 11 Vgl. insbesondere Ernst Forsthoff, Der Staatsrechtler im Bürgerkrieg. Carl Schmitt zum 70. Geburtstag, Christ und Welt v. 17. Juli 1958, S. 14. 12 Festschrift für Carl Schmitt zum 70. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern, hrsg. v. Hans Barion, Ernst Forsthoff, Werner Weber, 1959. 13 Vgl. nur Erich Kaufmann, Carl Schmitt und seine Schule. Offener Brief an Ernst Forsthoff, in: Deutsche Rundschau 84 (1958), S. 1013 ff.; Adolf Schüle, Eine Festschrift, JZ 1959, S. 729 ff. Die Kritik kam für Forsthoff natürlich nicht unerwartet, und er hob nicht ohne Behagen die NS-Verstrickung mancher Kritiker hervor; vgl. dazu seinen Brief an Schmitt vom 12. Dezember 1959, Brief Nr. 125, in: Briefwechsel (Fn. 5), S. 151 f. (151). Zu den zeitgenössischen Kontroversen Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949 – 1970, 2004, S. 216 ff.; Meinel (Fn. 7), Achtes Kapitel, I: Eine Festschrift.

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Gleichzeitig begann Forsthoff eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Entwicklung der Staatsrechtslehre und der sich formierenden Rechtsprechung des jungen Bundesverfassungsgerichts. Hauptangriffspunkt seiner Kritik war die damals verbreitete Deutung des Grundgesetzes als Wertsystem, die auch dem weichenstellenden Lüth-Urteil des Gerichts aus dem Jahr 1958 zugrundelag.14 Forsthoff sah darin eine Bedrohung des spezifisch juristischen Charakters der Verfassungsinterpretation, bei der es nicht auf Wertverwirklichung ankommen dürfe, sondern allein auf die aus seiner Sicht seit Savigny bewährten klassischen Auslegungsregeln. Seine Fundamentalkritik veröffentlichte er unter dem Titel „Die Umbildung des Verfassungsgesetzes“15 nicht zufällig gerade in der Schmitt-Festschrift und nahm damit eine weitere Erhitzung der Debatte in Kauf. So heißt es in einem Brief Forsthoffs an Schmitt zu Neujahr 1959, es spreche vieles dafür, „dass die Herausgabe der Festschrift sehr erhebliche Emotionen in Bewegung setzen wird. Ich bin mir auch darüber klar, dass ich selbst in erster Linie der Zielpunkt dieser Emotionen sein werde. Nicht nur, weil man natürlich weiß, dass ich an der Vorbereitung der Festschrift beteiligt bin, sondern vor allem wegen meines Bei14 BVerfGE 7, 198 (204 f.), Urteil des Ersten Senats vom 15. Januar 1958; Thomas Henne / Arne Riedlinger (Hrsg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht. Die Konflikte um Veit Harlan und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts, 2005. 15 Ernst Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Festschrift für Carl Schmitt zum 70. Geburtstag (Fn. 12), S. 35 ff.

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trages darin, in dem ich aufdecke, wohin die moderne Auslegung der Verfassung durch die Gerichte führt: zur systematischen Verunsicherung des Verfassungsrechts und zu einer Machtsteigerung der Justiz . . .“.16

Der Festschrift-Beitrag Forsthoffs wirkte als Katalysator einer der zentralen Grundsatzkontroversen der Staatsrechtslehre der frühen Bundesrepublik. Alexander Hollerbach reagierte bereits 1960 mit einer vertieften Gegenkritik, die den unausweichlich „geisteswissenschaftlichen“ Charakter aller Verfassungsinterpretation hervorhob.17 Hier kristallisierten sich um 1960 zwei gegnerische wissenschaftliche Lager heraus, die oft vereinfachend als „Schulen“ Carl Schmitts und Rudolf Smends bezeichnet werden.18 Forsthoffs grundlegende Kritik an der Deutung des Verfassungsrechts als Wertordnung war der eigentliche Auslöser und Anknüpfungspunkt von 16 Brief Forsthoffs an Schmitt vom 1. Januar 1959, Brief Nr. 114, in: Briefwechsel (Fn. 5), S. 143 f. 17 Alexander Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung? Zu Ernst Forsthoffs Abhandlung „Die Umbildung des Verfassungsgesetzes“ in der Festschrift für Carl Schmitt, AöR 85 (1960), S. 241 ff. 18 Dazu eingehend Günther (Fn. 13), S. 112 ff. Im Zuge dieser Kontroversen brach auch der langjährige Briefkontakt zwischen Rudolf Smend und Carl Schmitt ab, die insbesondere in den Weimarer Jahren ein enges persönliches Verhältnis verbunden hatte: Reinhard Mehring, Zum Ende der Beziehung, in: ders. (Hrsg.), „Auf der gefahrenvollen Straße des öffentlichen Rechts“. Briefwechsel Carl Schmitt – Rudolf Smend 1921 – 1961. Mit ergänzenden Materialien, 2010, S. 149 ff.; siehe dazu die dort, S. 146 ff., abgedruckten letzten wechselseitigen Briefe aus den Jahren 1960 / 61.

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Schmitts Schrift. Schmitt hatte denn auch dem ursprünglichen Manuskript als Motto einen Satz aus Forsthoffs Abhandlung vorangestellt: „Der Wert hat seine eigene Logik. Ernst Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes“.19 Dieser Entstehungskontext erklärt manche Eigenart des Schmittschen Textes, der implizit auf einer Art Arbeitsteilung mit Forsthoff beruht. Schmitt überlässt Forsthoff die konkrete Auseinandersetzung mit den Gerichten und der Rechtswissenschaft der jungen Bundesrepublik, während er selbst sich auf die Grundsatzprobleme der Wertphilosophie konzentriert. Diese Arbeitsteilung war auch durchaus naheliegend. Anders als der vierzehn Jahre jüngere aktive Ordinarius Forsthoff hatte sich der Plettenberger Privatier Schmitt auf die Rechtsentwicklung unter dem Grundgesetz nicht mehr wirklich eingelassen. Nur Forsthoff konnte die entsprechende Kritik aus hinreichender alltäglicher Vertrautheit heraus formulieren. Umgekehrt sah 19 Vgl. dazu den Brief Forsthoffs an Schmitt vom 11. Januar 1960, Brief Nr. 131, in: Briefwechsel (Fn. 5), S. 156 f.: „Mit bestem Dank bestätige ich den Empfang der neuen, erweiterten Fassung. Ich habe sie gleich gelesen und finde, dass die Abhandlung durch die Erweiterung außerordentlich gewonnen hat. Das Ganze ist, gerade wegen der Einfachheit der Diktion, die hier als ich möchte sagen künstlerisches Mittel wirkt, von außerordentlicher Eindringlichkeit und Überzeugungskraft. Die Schrift wird eine literarische Delikatesse. Und das Motto beschämt mich. Dass mein Name über der Abhandlung steht, verletzt meinen Sinn für geistige Proportionen. Das ist kein Protest. Dass ich jetzt weniger denn je geneigt bin, meinen Namen von dem Ihrigen getrennt zu wünschen, brauche ich nicht erst zu versichern . . .“.

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Forsthoff in Schmitt den in Fragen der Ideengeschichte ungleich versierteren Lehrer, der gewissermaßen den Überbau für die Auseinandersetzung mit dem Verständnis des Verfassungsrechts als Wertsystem leisten konnte. Die verteilten Rollen haben für den Leser freilich einen gewichtigen Nachteil. Erst in der Zusammenschau von Forsthoff und Schmitt ist die Grundsatzkritik an der Wertordnungsvorstellung als ganze zu erkennen. Diese Zusammenschau wird aber wiederum dadurch erschwert, dass zwischen beiden bei aller Kampfgenossenschaft nicht unerhebliche Akzentunterschiede bestehen. II. Die Probleme der Wertphilosophie und die Autonomie des Rechts Schmitts Schrift verteidigt die Autonomie des Rechts und der Juristen gegenüber Anleihen und Übernahmen aus der Wertphilosophie. Diese Autonomie sieht er vor allem in der Eigenständigkeit von Gesetzgeber und Gesetzgebung: „. . . der unmittelbare Wert-Vollzug zerstört den juristisch sinnvollen Vollzug, der nur in konkreten Ordnungen auf Grund von festen Satzungen und klaren Entscheidungen vor sich geht . . . . In einem Gemeinwesen, dessen Verfassung einen Gesetzgeber und Gesetze vorsieht, ist es Sache des Gesetzgebers und der von ihm gegebenen Gesetze, die Vermittlung durch berechenbare und vollziehbare Regeln zu bestimmen und den Terror des unmittelbaren und automatischen Wertvollzugs zu verhindern.“20 20

TdW, S. 23, 53 f.

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Es gilt aus seiner Sicht zu verhindern, „dass Juristen die Setzungen einer subjektiven oder auch objektiven Wertstufenordnung in der Form von Richtersprüchen mit Rechtskraft . . . verkünden“21. Darin liegt eine Grundsatzkritik der außerordentlichen Konjunktur, welcher sich die Wertphilosophie Max Schelers und Nicolai Hartmanns in der westdeutschen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung nach dem Zweiten Weltkrieg erfreute.22 Nach Nationalsozialismus und Kriegsniederlage suchte man verbindliche sittliche Maßstäbe. Es kam zu einer Renaissance des Naturrechts und einer damit teils verknüpften, teils eigenständigen Orientierung an einer materialen Wertphilosophie. Günter Dürigs wirkmächtige Deutung des Grundrechtsteils des Grundgesetzes als „Wertsystem“ gehört in diesen Zusammenhang.23 Die WertphiTdW, S. 54. Einer der Leittexte war Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts. Ein Versuch zur Neubegründung des Naturrechts, 1947; eingehende Darstellung und Kritik bereits bei Ulrich Matz, Rechtsgefühl und objektive Werte. Ein Beitrag zur Kritik des wertethischen Naturrechts, 1966. Zur zeitgenössischen Renaissance des Naturrechts etwa Kristian Kühl, Rückblick auf die Renaissance des Naturrechts nach dem 2. Weltkrieg, in: Geschichtliche Rechtswissenschaft. Freundesgabe für Alfred Söllner, 1990, S. 331 ff. Schmitts eigene Deutung dieser Konjunktur: TdW, S. 21. 23 Günter Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde. Entwurf eines praktikablen Wertsystems der Grundrechte aus Art. 1 Abs. I in Verbindung mit Art. 19 Abs. II des Grundgesetzes, AöR 81 (1956), S. 117 ff.; ders., Art. 1 Abs. I , Art. 2 Abs. I, in: Maunz / Dürig, GG, Erstkommentierungen 1958. 21 22

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losophie schien auch die Möglichkeit zu bieten, die metaphysisch-traditionalistischen Elemente, welche insbesondere dem im katholischen Bereich verbreiteten neuthomistischen Naturrecht anhafteten, in eine moderne wissenschaftliche Form zu übersetzen oder ganz abzulösen. Indirekt und uneingestanden ließen sich so überdies manche Elemente der vielfältigen antiformalistischen Rechtslehren fortführen, die bereits in der Weimarer Republik und erst recht im Nationalsozialismus vorgeherrscht hatten.24 Das breite Spektrum philosophischer Entwürfe aus der neukantianischen Wertphilosophie der Zeit vor 193325 blieb hingegen unbeachtet.26 Schmitt konzentriert seine Kritik vor diesem Hintergrund auf die von der Phänomenologie beeinflusste Wertphilosophie, die Max Scheler und Nicolai Hartmann in der ersten Hälfte des 24 Zu den verwickelten Kontinuitätsfragen Joachim Rückert, Zu Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der juristischen Methodendiskussion nach 1945, in: Karl Acham u. a. (Hrsg.), Erkenntnisgewinne, Erkenntnisverluste. Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften zwischen den 20er und 50er Jahren, 1998, S. 113 ff. 25 Friederike Wapler, Werte und das Recht. Individualistische und kollektivistische Deutungen des Wertbegriffs im Neukantianismus, 2008. 26 Diese waren nicht allesamt so „relativistisch und subjektivistisch“, wie Schmitt im Blick auf Max Weber behauptet (TdW, S. 21), aber sie konnten wohl jedenfalls das nicht liefern, „was man suchte, nämlich einen wissenschaftlichen Ersatz für ein Naturrecht, das keine Legitimität mehr hergab“ (TdW, S. 21).

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20. Jahrhunderts entwickelt hatten.27 Scheler und Hartmann wollten den Relativismus in der Ethik durch den Nachweis überwinden, dass Werte ein eigenständiges ideales Sein hätten und sich als ein hierarchisches Ordnungssystem erweisen ließen. Bei Scheler war diese Rangordnung religiös imprägniert, so dass ihm die Werte des Heiligen als die höchsten galten; bei dem säkularen Hartmann nahmen die sittlichen Werte die oberste Stelle ein.28 In Schmitts Kritik an Scheler schwingen überdies die unterschiedlichen Positionen beider innerhalb des deutschen Renouveau catholique zwischen Kaiserreich und Weimar mit, als Scheler die Kirche als spiritualisierte Gemeinschaft in der Welt deutete, während Schmitt diese als autoritäre juridische Repräsentationsform begriff.29 Schmitts Einwände gegen die Wertphilosophie bewegen sich auf unterschiedlichen Ebenen. Zu27 Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913 / 16), 5. Aufl. 1954; Nicolai Hartmann, Ethik (1926), 4. Aufl. 1962; vgl. auch Dietrich von Hildebrand, Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis. Eine Untersuchung über ethische Strukturprobleme (1922), in: ders., Die Idee der sittlichen Handlung. Sittlichkeit und Welterkenntnis, 1969, S. 127 ff. 28 Dazu Wilhelm Weischedel, Recht und Ethik, 1956, S. 27 f.; Martin Morgenstern, Nicolai Hartmann zur Einführung, 1997, S. 131. 29 Giancarlo Caronello, Max Scheler und Carl Schmitt, zwei Positionen des katholischen Renouveau in Deutschland. Eine Fallstudie über die Summa (1917 / 1918), in: Christian Bermes u. a. (Hrsg.), Vernunft und Gefühl. Schelers Phänomenologie des emotionalen Lebens, 2003, S. 225 ff.

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nächst beschreibt er das Aufkommen eines Wertdiskurses seit dem 19. Jahrhundert rückblickend als Verfallsprozess und macht sich dabei Heideggers Diagnose zu eigen, das Wertdenken habe „einen positivistischen Ersatz für das Metaphysische“ dargestellt.30 Das Wertdenken habe der Beschleunigung der naturwissenschaftlich-technischen Zivilisation nichts entgegenzusetzen, sondern verstärke jene sogar noch. Weiterhin ordnet er dem Wertbegriff eine legitime Bedeutung allein in der Sphäre der Ökonomie zu, wo es auf Austauschverhältnisse und Vergleichbarkeit durch Geldwert ankomme.31 Schließlich und vor allem bescheinigt er dem Wertdenken durchgängig eine aggressive Form, weil es zwangsläufig eine Tendenz entfalte, als geringerwertig eingeschätzte Positionen abzuwerten oder sogar zu vernichten. Das gilt nach Schmitts Einschätzung nicht nur für die materiale Wertphilosophie Schelers und Hartmanns, sondern ebenso für das ausschließlich an die subjektiven Wertungen des einzelnen Individuums anknüpfende Denken Max Webers; auch und gerade Webers rein subjektives Wertdenken führe „zu einem ewigen Kampf der Werte und Weltanschauungen, . . . , einem ewigen bellum omnium contra omnes, im Vergleich zu dem das alte bellum omTdW, S. 38 f. TdW, S. 14 ff. In der Schmitt-Rezeption der italienischen Linken ist die „Tyrannei der Werte“ denn auch in erster Linie als Nachweis gelesen worden, dass ökonomistisches Denken die Eigenheit des Politischen verfehlen müsse: Giuseppe Duso, Tirannia di valori e forma politica in C. Schmitt, Il Centauro, Nr. 2, 1981, S. 157 ff. 30 31

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nium contra omnes und sogar der mörderische Naturzustand der Staatsphilosophie des Thomas Hobbes wahre Idyllen sind“32. Webers subjektivistisches Wertverständnis hat für Schmitt aber immerhin den Vorzug, dass es nicht wie die objektiven Wertlehren „die Subjekte verschleiert und die Wertträger verschweigt“33. III. Fragen an die „Tyrannei der Werte“ 1. Andeutungen: „Die Tyrannei der Werte“ und die NS-Vergangenheit In der „Tyrannei der Werte“ wird ein Subtext mitgeführt, der auf den Nationalsozialismus verweist. So rückt Schmitt einerseits Hitler und den NS-Chefideologen Alfred Rosenberg in den Kontext wertphilosophischer Positionen34 und hebt andererseits hervor, der Mediziner Alfred Hoche und der Jurist Karl Binding – „liberale Menschen ihrer Zeit, beide von besten, humanen Absichten beseelt“ – hätten durch ihre 1920 veröffentlichte Schrift „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ ungewollt „die schreckliche Praxis der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ vorbereitet, „die zwanzig Jahre später Wirklichkeit wurde“35. TdW, S. 39. TdW, S. 46. 34 TdW, S. 17 f. 35 TdW, S. 52, siehe auch S. 29; vgl. Karl Binding / Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihr Ziel (1920), Neuausgabe mit einer 32 33

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Das von Schmitt bekämpfte Denken in Werten, so suggerieren diese Passagen, war für die Verbrechen des Nationalsozialismus ursächlich. Der Leser wüsste dann freilich gern, wie Schmitt seine eigenen Schriften in den Jahren nach der Machtübernahme Hitlers einschätzt. War sein massiver Einsatz für eine Durchdringung der gesamten Rechtsordnung mit neuen Leitgedanken und Grundbegriffen im Geist des Nationalsozialismus nach 1933 nicht gerade selbst Ausdruck eines Wertdenkens?36 Karl Löwith als einer der schärfsten Kritiker Schmitts hat diese Frage bereits 1964 an den Tyrannei-Text gerichtet.37 Frappierend ist überEinführung von Wolfgang Naucke, 2006. Wenn Schmitt schreibt, „es wäre nicht nur ungerecht, sondern niederträchtig, den beiden deutschen Gelehrten ex post irgendeine Schuld oder Mitverantwortung“ für die spätere „schreckliche Praxis der Vernichtung . . . anzuhängen“ (TdW, S. 52), so spricht der Autor im Hinblick auf seine eigenen antisemitischen Äußerungen und Aktivitäten nach 1933 vielleicht auch pro domo. 36 Dazu Bernd Rüthers, Rechtsordnung und Wertordnung. Zur Ethik und Ideologie im Recht, 1986, S. 25 f.; Michele Nicoletti, Trascendenza e potere. La teologia politica di Carl Schmitt, 1990, S. 556 f.; vgl. auch die rückblikkende Grundsatzkritik in Ernst Rudolf Hubers Brief an Schmitt vom 16. Juni 1950, zitiert bei Reinhard Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, 2009, S. 481 f. 37 Er sprach in einem FAZ-Artikel, der sich auf den Privatdruck der Tyrannei-Schrift von 1960 bezog, von einer „rassischen Werttheorie“ Schmitts in der NS-Zeit: Karl Löwith, Max Weber und Carl Schmitt, FAZ v. 27. Juni 1964, Nr. 146, wieder abgedruckt in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 1 (2007), S. 365 ff. (Zitat: 374). Schmitt beklagt sich in der Einleitung von 1967 zwar über den FAZ-Artikel

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dies der Kontrast zwischen der sehr realen Gewaltsamkeit und Tödlichkeit der NS-Zeit und der theoretisch-imaginären Aggressivität, die Schmitt dem Reden von Werten in der Bundesrepublik um 1960 bescheinigt. Schon Löwith stellte der „,Tyrannei‘ . . . der ausgedachten ,Werte‘ einer vergangenen Wertphilosophie“ zugespitzt „die wirkliche Diktatur des von Schmitt legitimierten Nationalsozialismus“ gegenüber.38 Die merkwürdige Diskrepanz zwischen Schmitts Insistieren auf dem potentiell tödlichen Charakter der Wertlogik und der Realität der frühen Bundesrepublik erklärt sich jedenfalls nicht allein aus der Kassandra-Pose, die er nach 1945 gern einnahm. Dieses Insistieren entlastet vielmehr den tief in das Dritte Reich verstrickten Autor, indem es die dem Wertdenken zugeschriebene Vernichtungslogik ausgerechnet in der Nachkriegsepoche kulminieren lässt. Dem entspricht auch Schmitts Hervorhebung, dass zum Wertdenken im Zeitalter atomarer Waffen eine Lehre vom gerechten Krieg passe, die nur noch „Vernichter und Vernichtete“ kenne und die Hegung des Krieges im klassischen europäischen Völkerrecht zerstöre39; (TdW, S. 33 f.), nennt aber weder Autor noch Titel und geht auf die inhaltliche Kritik Löwiths nicht ein. Zur Einordnung näher Alexander Schmitz, Zur Geschichte einer Kontroverse, die nicht stattfand: Karl Löwith und Carl Schmitt, Zeitschrift für Kulturphilosophie 1 (2007), S. 376 ff. 38 Löwith (Fn. 37, Zitat im Wiederabdruck auf S. 374). 39 TdW, S. 39, 47, 51; vgl. auch Carl Schmitt, Theorie des Partisanen, 1963, S. 95.

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diese Vernichtungstendenz fand er seit der NSZeit im universalistischen Völkerrechtsverständnis der maritimen angelsächsischen Mächte40. Wenn Schmitt dem Wertdenken die Konsequenz zuordnet, „Böses mit Bösem zu vergelten und auf diese Weise unsere Erde in eine Hölle, die Hölle aber in ein Paradies der Werte zu verwandeln“41, so fällt es nicht leicht, darin die untergründige Entwicklungstendenz der gravitätischen Rechtsprechung in der frühen Bundesrepublik wiederzuerkennen. 2. Kritik der Wertphilosophie oder Kritik ihrer juristischen Rezeption? Schmitts Text ist hauptsächlich eine Polemik gegen die materiale Wertphilosophie. Im Kern geht es ihm dabei jedoch um eine Kritik von Rechtsdenken und Rechtsprechung der frühen Bundesrepublik. Schmitt schlägt den Sack und meint den Esel. Durch seine Konzentration auf die Kritik der Wertphilosophie gerät freilich das Sachproblem an den Rand, das gerade in der Übernahme wertphilosophischer Theoreme in die Rechts- und Verfassungsdogmatik liegt. Auch wenn man die implizite Arbeitsteilung mit Forsthoff in Rechnung stellt, fällt doch auf, wie wenig Aufmerksamkeit Schmitt dem Import wertphilosophischer Theoreme in das Recht widmet. Im Text des ursprüng40 Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, 1950. 41 TdW, S. 51, Formulierung dort in Bezug auf Max Scheler.

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lichen Privatdrucks wird die spezifisch juristische Problematik sogar überhaupt erst in den beiden Schlussabsätzen zum ersten Mal erwähnt.42 Bei Forsthoff, der sich auf die Philosophie als solche gar nicht einlässt, finden sich hingegen sehr viel klarer formulierte Einwände gegenüber „wertphilosophierende[n] Juristen“.43 Die Fixierung Schmitts auf die Wertphilosophie ist umso fragwürdiger, als diese Philosophie sich ihrem eigenen Anspruch nach als Individualethik der Person, nicht aber als Grundlegung verbindlichen Rechts verstanden hatte. So grenzt etwa Nicolai Hartmann die rein individuelle Funktion seiner Ethik ausdrücklich gegenüber dem Recht ab: „Sie mischt sich nicht in die Konflikte des Lebens, gibt keine Vorschriften, die auf diese gemünzt wären, ist kein Codex von Geboten und Verboten wie das Recht. Sie wendet sich gerade an das Schöpferische im Menschen, fordert es heraus, in jedem neuen Fall zu erschauen, gleichsam zu divinieren, was hier und jetzt geschehen soll.“44

Die sprechende Titelformel von der „Tyrannei der Werte“, die Schmitt von Hartmann entlehnt, TdW, S. 53 f. Forsthoff (Fn. 15), S. 41: „Die Sinnerfassung ist dann keine Rechtskunst mehr, sondern wird philosophisch. Dies freilich in einem anspruchslosen Sinne . . . Wertphilosophierende Juristen werden im Jahre 1958 schwerlich dem Vorwurf des Anachronismus entgehen können, selbst wenn sie sich auf Scheler berufen sollten. Hier zeigt sich die prinzipielle Gefahr einer Abdankung der juristischen Methode zugunsten irgendwelcher geisteswissenschaftlicher Arten der Deutung“ (Hervorhebung dort). 44 Hartmann (Fn. 27), Einleitung, S. 4. 42 43

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bezieht sich bei diesem ebenfalls allein auf die möglichen Wertkonflikte innerhalb einer Person.45 Schmitt kritisiert die materiale Wertphilosophie also im Hinblick auf etwas, das sie nach ihrem eigenen Anspruch gar nicht leisten wollte. Selbstverständlich warf diese Wertethik auch auf der Ebene der Philosophie erhebliche Probleme auf, was etwa die Objektivität der beanspruchten Wesensschau ideeller Gebilde anging.46 Mit Schmitts Hinweis auf das Moment individueller Setzung war die Sachfrage des systematischen Nachdenkens über ethische Orientierungsgesichtspunkte aber sicherlich noch nicht erledigt.47 Der Kern der Problematik in der Nachkriegsbundesrepublik bestand in jedem Fall darin, dass manche Juristen derartige Theoreme zur Fundierung und Interpretation des allgemeinverbindlichen Rechts 45 Hartmann (Fn. 27), S. 574 ff.: „Die Tyrannei der Werte und ihre Schranke in der Wertsynthese“. 46 Vgl. bereits aus der Weimarer Zeit die eingehende Kritik von Ernst von Aster, Zur Kritik der materialen Wertethik, Kant-Studien 33 (1928), S. 172 ff. 47 Aufschlussreich ist insoweit die freundlich-kritische Ratlosigkeit seines spanischen Briefpartners Luís Cabral de Moncada; vgl. Erik Jayme (Hrsg.), Luís Cabral de Moncada und Carl Schmitt. Briefwechsel 1943 – 1973, 1997, S. 37 ff. (38): „Mir scheint, als ob Ihre ganze Kritik sich allein auf einem verhängnisvollen Missverständnis gründet, nämlich, auf die fast unbewusste Unterschiebung des existenziellen Moments des Wertens und Wertunglebens, wie diese von den Menschen tatsächlich erlebt und durchgeführt werden, an die Stelle des essentiellen und ideellen Moments, der Werte an sich, wenn ich mich so ausdrücken darf, vor jeder Erfassung und Verwirklichung derselben seitens der Menschen . . .“ (Hervorhebungen dort).

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heranziehen wollten. Die naheliegenden Einwände gegen diese Übernahmen im Hinblick auf die äußere Ordnungsfunktion des Rechts48 werden bei Schmitt jedoch kaum formuliert und expliziert. Indem Schmitt sich fast ausschließlich auf die Polemik gegen die Wertphilosophie der zwanziger Jahre beschränkt, vermeidet er es, sich selbst zum Problem der Bewältigung ethischer Konflikte und pluralistischer Lebensentwürfe durch das Recht ins Verhältnis zu setzen. Erst recht fehlt es deshalb an jeder Auseinandersetzung mit der Funktion der Redeweise von der Wertordnung des Grundgesetzes für die frühe Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Denn das Gericht stützte sich gar nicht erkennbar auf eine bestimmte Wertphilosophie und benutzte den Topos von der Wertordnung für sehr unterschiedliche Aufgaben, von der Begründung für sein Konzept einer wehrhaften Demokratie über die Aktualisierung des Vorrangs der Verfassung bis hin zur Auffächerung unterschiedlicher Grundrechtsdimensionen.49 Die für das Grundgesetz 48 Gerhard Luf, Zur Problematik des Wertbegriffes in der Rechtsphilosophie, in: Ius Humanitatis. Festschrift Alfred Verdross, 1980, S. 127 ff. (139 ff.); Ernst-Wolfgang Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts (1990), in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, 1991, S. 67 ff. (81 ff.). 49 Dazu Horst Dreier, Dimensionen der Grundrechte. Von der Wertordnungsjudikatur zu den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten, 1993, S. 20 ff. Auch die damals besonders von Forsthoff behauptete Abhängigkeit dieser Recht-

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charakteristischen Probleme eines inhaltsreichen Verfassungsrechts, das den Gesetzgeber an Grundrechte und Verfassungsprinzipien bindet, und einer mächtigen Verfassungsgerichtsbarkeit gehen ohnehin nicht in denjenigen des Wertdenkens auf und werden durch die Fixierung darauf vielleicht sogar eher überdeckt. Sie sind dem Verfassungsrecht denn auch nach dem diskreten Abschied von den Wertformeln der frühen Jahrzehnte praktisch unverändert erhalten geblieben. Die Konzentration Schmitts auf die Weimarer Wertphilosophie lässt sich wohl vor allem als Ausdruck eines heimlichen Konkurrenzverhältnisses verstehen. Der Schlüssel dazu liegt im von Schmitt gern zitierten Satz „Der Feind ist unsre eigne Frage als Gestalt“50. Wendet man diesen Satz auf „Die Tyrannei der Werte“ an, so darf man die Intensität, mit der Schmitt dort die objektive Wertphilosophie bekämpft, gerade als Anzeichen der Nähe und Verwandtschaft zur eigenen Position verstehen. Der Autor einer Habilitationsschrift über den „Wert des Staates“51 steht dem Wertdenken nicht so fern, wie seine Polemik glausprechung von der Verfassungstheorie Rudolf Smends ist nur sehr begrenzt plausibel; vgl. dazu gleichfalls Dreier, ebd., S. 13 ff.; frühe kritische Bilanz bei Helmut Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz. Kritik einer Argumentationsfigur des Bundesverfassungsgerichts, 1973. 50 Carl Schmitt, Ex Captivitate Salus. Erfahrungen der Zeit 1945 / 47, 1950, S. 90. Es handelt sich um ein Zitat Theodor Däublers. 51 Carl Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, 1914.

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ben machen möchte. Noch in der Weimarer Zeit hatte Schmitt im Hinblick auf den Grundrechtsteil der Reichsverfassung von der „prinzipiellen Wertbetonung inhaltlicher Verfassungsgarantien“ gesprochen und diese „der prinzipiellen Wertneutralität des funktionalistischen Legalitätssystems“ gegenübergestellt.52 Das Projekt einer objektiven Fundierung der Verbindlichkeit des positiven Rechts, wie es wertphilosophierende Juristen und auf seine Weise auch das junge Bundesverfassungsgericht in den fünfziger Jahren verfolgten, weist durchaus Verbindungslinien zu Schmitts Rechtsdenken auf.53 Im Zeichen der Werte will Schmitt es aber in der Bundesrepublik nicht verfolgt wissen, schon gar nicht durch die Gerichte und die Verfassungsgerichtsbarkeit. Der „Theologe der Jurisprudenz“54 wittert und bekämpft die Konkurrenz. Hasso Hofmann hat einmal lapidar festgestellt: „Schmitt, der mit einer Untersuchung über den ,Wert des Staates‘ begonnen hatte, betrachtete seine Werte stets als Seiendes, die der anderen aber als bloße Setzungen.“55 52 Carl Schmitt, Legalität und Legitimität (1932), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 – 1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, 1958, S. 263 ff. (300). 53 Dazu auch Michael Stolleis, Das Zögern beim Blick in den Spiegel. Die deutsche Rechtswissenschaft nach 1933 und nach 1945, in: Hartmut Lehmann / Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 1, 2004, S. 11 ff. (13). 54 So Schmitts gelegentliche Selbstcharakterisierung in einem Notat vom 3. Oktober 1947: Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947 – 1951, 1991, S. 23.

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3. „Kehre“ Carl Schmitts zum liberalen Gesetzesstaat? Die Kritik des Wertdenkens könnte anzeigen, dass Carl Schmitt hier eine „Kehre“ vollzieht, dass ein Autor, der so häufig Legitimität gegen Legalität ausspielte, nun zum Verteidiger der Legalität gegen konkurrierende Legitimitätsansprüche wird und den von ihm selbst früher oft abgewerteten formalen Rechtsstaat zum maßgeblichen Horizont seines Rechtsdenkens macht. Erweist sich der juriste maudit hier vielleicht als Theoretiker eines liberalen Gesetzesstaats, in dem das Recht ausschließlich Ergebnis der Vermittlungsleistung des parlamentarischen Gesetzgebers ist und nicht unmittelbaren Wertvollzugs?56 Geht die Legitimität für Schmitt nun in der Legalität auf? Der Schmitt der Weimarer Jahre, von demjenigen der NS-Zeit zu schweigen, hatte kein besonderes Interesse an „rechtsstaatlichem Verfassungsvollzug“57 an den Tag gelegt. Im Gegenteil hatte 55 Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, 2. Aufl. 1992, Vorbemerkungen zur Neuausgabe, S. XVII, Fn. 63 am Ende. 56 Die Frage aufwerfend Reinhard Mehring, Carl Schmitt zur Einführung, 1. Aufl. 1992, S. 139; ähnlich ders. (Fn. 36), S. 521, 523; pointiert verneinend Ilse Staff, Zum Begriff der Politischen Theologie bei Carl Schmitt, in: dies. / Gerhard Dilcher (Hrsg.), Christentum und modernes Recht, 1984, S. 182 ff. (197 ff.), die Schmitts Kritik am Wertdenken als Ausdruck eines Plädoyers für ein metaphysisches Fundament des Rechts im Sinne politischer Theologie versteht. 57 Schmitt brachte diesen erst in der Bundesrepublik ins Spiel aus Anlass eines Rechtsgutachtens, das er für die

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er ein stark materiell aufgeladenes Verständnis von Verfassung als politische Grundentscheidung eines Volkes über die Art seiner politischen Existenz entwickelt, von der er das Verfassungsgesetz als formaljuristisches Dokument streng unterschied.58 Gegenüber der technischen Formalität des geschriebenen Textes ließ sich bei Schmitt stets die fundamentalere Schicht der politisch-existenziellen Verfassung ins Spiel bringen. Dass Schmitt an diesem Dualismus auch nach dem Zweiten Weltkrieg festhielt, zeigt sich an einem bemerkenswerten Disput mit Forsthoff. Forsthoff hebt ähnlich wie Schmitt erst nach 1945 die Vorzüge des liberalen Rechtsstaats hervor und spricht deshalb nur noch vom „Verfassungsgesetz“. Schmitt hält ihm nachdrücklich entgegen, er selbst fasse die Verfassung „nicht als Gesetz“ auf.59 Was Forsthoff angeht, ist das Beharren auf Buderusschen Eisenwerke erstattete, um eine unmittelbare Sozialisation aufgrund der hessischen Nachkriegsverfassung abzuwehren: Rechtsstaatlicher Verfassungsvollzug (1952), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze (Fn. 52), S. 452 ff. Hier betonte er besonders nachdrücklich die rechtsstaatliche Sicherungsfunktion der Zwischenschaltung des Gesetzes im Enteignungsrecht. 58 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 20 ff. 59 Brief Schmitts an Forsthoff vom 12. August 1963, Nr. 175, in: Briefwechsel (Fn. 5), S. 194, Hervorhebung dort; Brief Forsthoffs an Schmitt vom 14. August 1963, Nr. 176, in: Briefwechsel (Fn. 5), S. 194 f.: „Dass ich Ihren Verfassungsbegriff nicht teilen soll, ist ein törichtes Missverständnis . . . Meine Auffassung ist: natürlich ist die Verfassung primär ein politisches und existentielles Phänomen. Das klarzustellen war 1928 wichtig und es bleibt auch für

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einem formell-rechtsstaatlichen Verfassungsverständnis in der Bundesrepublik leichter zu begreifen als für Schmitt. Denn für Forsthoff ist das entscheidende inhaltliche Moment des Rechts längst aus dem Verfassungsrecht in das Verwaltungsrecht gewandert. Im Verfassungsrecht kann er gerade deshalb die technisch-formale Seite so stark betonen, weil die eigentlich bedeutsamen Entwicklungsprozesse der Industriegesellschaft und des Sozialstaats aus seiner Sicht im davon unberührten Verwaltungsrecht ablaufen.60 Hieraus erklärt sich auch Forsthoffs Beharren auf einer traditionellen juristischen Gesetzeshermeneutik in der Verfassungsauslegung. Die Antiquiertheit der empfohmich richtig. Nur reduziert sich in normalen Zeiten die Verfassungsanwendung auf die Verfassungsgesetzesanwendung. Das ergibt sich aus dem auch von Ihnen gerade immer wieder betonten Zusammenhang von Norm und Normalität . . .“; in diesem Sinne auch Ernst Forsthoff, Der introvertierte Rechtsstaat und seine Verortung, Der Staat 2 (1963), S. 385 ff. 60 Dieses Zusammenspiel im Werk Forsthoffs ist bereits vermerkt bei Hollerbach (Fn. 17), S. 246, 249; vgl. dazu den prägnanten Aufsatztitel von Peter Häberle, Lebende Verwaltung trotz überlebter Verfassung? Zum wissenschaftlichen Werk von Ernst Forsthoff, JZ 1975, S. 685 ff. Die bundesdeutsche Rechtsentwicklung seit Ende der fünfziger Jahre hat das Verwaltungsrecht allerdings gerade nicht, wie von Forsthoff intendiert, autonom gelassen, sondern es zunehmend in Abhängigkeit vom Verfassungsrecht gebracht: Christoph Schönberger, „Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht“. Die Entstehung eines grundgesetzabhängigen Verwaltungsrechts in der frühen Bundesrepublik, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz. Altes Recht und neue Verfassung in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland (1949 – 1969), 2006, S. 53 ff.

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lenen Methode entspricht der wahrgenommenen Antiquiertheit des Interpretationsgegenstands.61 Schmitt geht diesen Weg Forsthoffs jedoch nur begrenzt mit. Er teilt dessen formales Verständnis des Rechtsstaats, nicht aber des Verfassungsrechts insgesamt. Forsthoffs ernüchterter Blick auf den Staat der Industriegesellschaft62 ist Schmitts Sache nicht. Gleichwohl tritt die Verfassung auch in der „Tyrannei der Werte“ in den Hintergrund. Die eigentliche Vermittlungsleistung soll der Gesetzgeber erbringen. Die früher von Schmitt so häufig als sinnleerer Funktionsmodus abgewertete Legalität wird nun gegen diejenigen verteidigt, die diese mit Hilfe objektiver Wertvorstellungen einhegen und relativieren wollen.63 Selbst eine in Zweifel gezogene Legalität ist für Schmitt jetzt in einem modernen Staat immer noch stärker als jede andere Art Recht: „Das liegt an der dezisionistischen Kraft des Staates und seiner Verwandlung des Rechts in Gesetz.“ Zwar könne sich das ändern, falls der Staat einmal absterbe. Einstweilen bleibe aber die Legalität als „unwiderstehliche[r] Funktionsmodus“ erhalten.64 Anders als für Forsthoff 61 Plastisch etwa Ernst Forsthoff, Zur heutigen Situation einer Verfassungslehre, in: Epirrhosis. Festgabe für Carl Schmitt, Bd. 1, 1968, S. 185 ff. (193). 62 Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft. Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, 1971. 63 Dazu treffend Hofmann (Fn. 55), S. 257 f. 64 Formulierungen bei Schmitt, Theorie des Partisanen (Fn. 39), S. 86 f.

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dürfte für den Sinneswandel Schmitts jedoch nicht die Einschätzung maßgeblich sein, in der „Normallage“ des bundesdeutschen Verfassungsstaats trete die politisch-existenzielle Verfassung hinter die formelle Rechtsstaatlichkeit zurück.65 Zu sehr stehen die Formulierungen der „Tyrannei der Werte“ dafür in der Kontinuität schon zu seiner Schrift über den „Wert des Staates“ aus dem Jahr 1914, die bereits die Notwendigkeit der „Vermittlung“ der Rechtsidee durch die staatliche Rechtsetzung betont hatte.66 „Unmittelbarkeit“ stand bei ihm bereits damals für die apokalyptische Auflösung aller Ordnung, „Mittelbarkeit“ hingegen für die spezifische Ordnungsleistung des staatlichen Rechts. Entscheidend für die Akzentverschiebung nach 1945 ist wohl vielmehr, dass Schmitt die materielle Aufladung der Verfassung jedenfalls nicht den Gerichten und schon gar nicht der Verfassungsgerichtsbarkeit überlassen will, deren mögliche Einführung er in der Weimarer Zeit so vehement als Einrichtung einer kryptopolitischen Justiz bekämpft hatte67. Zudem vollzog sich die umfasForsthoff, Der introvertierte Rechtsstaat (Fn. 59). Schmitt, Der Wert des Staates (Fn. 51); vgl. zu dieser Kontinuitätslinie Nicoletti (Fn. 36), S. 556; Mehring (Fn. 36), S. 520. 67 Vgl. vor allem Carl Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze (Fn. 52), S. 63 ff. (mit ergänzenden Nachkriegsbemerkungen Schmitts zur Bundesrepublik auf S. 105 ff.). Zu Schmitts Kritik der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Weimarer Zeit näher Christoph Schönberger, Die Verfas65 66

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sende Materialisierung der Verfassung in der frühen Bundesrepublik vor allem von den Grundrechten her, in Schmittschen Kategorien also gerade aus dem rechtsstaatlich-unpolitischen Teil der Verfassung68 heraus. Für Schmitt kann ein materielles Verständnis der Verfassung seinen systematischen Anker hingegen nur im „politischen“, institutionellen Teil der Verfassung finden. Im Kern ist sein Verfassungsdenken von der Vorstellung der politischen Einheit geprägt, während Werte für ihn stets plural sind und schon deshalb keine Einheit konstituieren können. Seine Kritik des Wertdenkens ist auch und gerade Kritik an der Vorstellung, man könne den Staat auf grundrechtliche Freiheit, ja überhaupt auf die Freiheit der Individuen gründen. Diese Grundposition bekräftigt Schmitt wenig später auch noch einmal in seiner Auseinandersetzung mit Hans Blumenberg, in der er sich als politischer Theologe gegen jede „Selbstermächtigung“ des modernen Menschen sungsgerichtsbarkeit bei Carl Schmitt und Hans Kelsen: Gemeinsamkeiten und Schwachstellen, in: Olivier Beaud / Pasquale Pasquino (Hrsg.), La controverse sur „le gardien de la Constitution“ et la justice constitutionnelle. Kelsen contre Schmitt / Der Weimarer Streit um den Hüter der Verfassung und die Verfassungsgerichtsbarkeit. Kelsen gegen Schmitt, 2007, S. 177 ff. 68 Vgl. Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 58), S. 125, 200. Schmitt hat das selbst allerdings auch schon in der Weimarer Zeit manchmal anders akzentuiert und etwa 1932 den Grundrechtsteil der Weimarer Reichsverfassung als substantiell-wertbetont dem Funktionalismus ihres parlamentarischen Organisationsteils gegenübergestellt: Legalität und Legitimität (Fn. 52), S. 299 ff.

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wendet.69 Schmitts neue Zuwendung zu einem institutionell nicht näher qualifizierten „Gesetzgeber“ bedeutet deshalb nicht etwa eine späte Anerkennung des pluralistisch-parteienstaatlichen Parlamentarismus. Es bleibt damit freilich offen, wie dieser „Gesetzgeber“ die ihm zugedachte Vermittlungsleistung zwischen konfligierenden Wertvorstellungen überhaupt erbringen können soll. Schmitt selbst lässt denn auch wenig Zutrauen zu dieser Vermittlung erkennen70: „In den industriell hochentwickelten Staaten der Gegenwart mit ihrer organisierten Massen-Daseinsvorsorge wird die Vermittlung zu einem neuen Problem. Versagt hier der Gesetzgeber, so gibt es für ihn keinen Ersatz, sondern höchstens Lückenbüßer, die mehr oder weniger schnell das Opfer ihrer undankbaren Rolle werden.“

Seine Schrift betont zwar die Notwendigkeit berechenbarer und vollzugsfähiger Regeln, gibt jedoch keine Auskunft darüber, wie denn diese Regeln angesichts der von ihm so pointiert hervorgehobenen Aggressivität der Wertkonflikte überhaupt entstehen sollen. Je dramatischer Schmitt diese Wertauseinandersetzungen als moderne Form des Kriegs aller gegen alle ausmalt, desto dringlicher wird die Frage, wie das Recht diese bewälti69 Carl Schmitt, Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder politischen Theologie, 1970; Hans Blumenberg / Carl Schmitt, Briefwechsel 1971 – 1978 und weitere Materialien, mit einem Nachwort von Alexander Schmitz, 2007. 70 TdW, S. 54.

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gen und auf welche Ressourcen es dabei zurückgreifen kann. Schmitt erläutert jedoch nicht, wie unter diesen Bedingungen ein „gesetzlich vermittelte[r] Wertvollzug“71 möglich sein soll.72 Anders als in der Weimarer Republik, in der er mehr und mehr auf den Reichspräsidenten gesetzt hatte, findet Schmitt in der Bundesrepublik schlicht keinen institutionellen Anknüpfungspunkt für sein politisch-existentielles Verfassungsverständnis mehr. Mangels Alternativen schlägt er sich gegenüber der Gefahr eines vom Verfassungsgericht angeleiteten wertbezogenen Verfassungsvollzugs auf die Seite des Gesetzgebers. Wenn nur die Wahl zwischen Karlsruhe und Bonn möglich ist – und Schmitt muss diese als Entscheidung zwischen Skylla und Charybdis empfunden haben –, dann optiert Schmitt für Bonn. Aber er tut dies allein faute de mieux. Schmitt verweigert dem Bundesverfassungsgericht die Option auf eine ideelle Überhöhung der freiheitlich-parlamentarischen Demokratie, die er dieser nie hatte bieten wollen. Sein überscharfer Blick für die Ideologieanfälligkeit und mögliche Maßlosigkeit derartiger Theoreme erklärt sich daraus, dass er in Kaiserreich, Weimar und Nationalsozialismus immer wieder selbst zu solchen maßlosen Überhöhungen gegrif71 Vgl. die Überschrift in: TdW, S. 51: Unvermittelter und gesetzlich vermittelter Wertvollzug. 72 Siehe zur Kritik Antonio Da Re, Die Tyrannei der Werte. Carl Schmitt und die phänomenologische Ethik, in: Gerhard Pfafferott (Hrsg.), Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft, 1997, S. 238 ff.

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fen hatte. Das macht Schmitt besonders empfindlich, wenn solche Legitimitätshorizonte nunmehr für die liberale Demokratie aufgeboten werden, deren ideelle Überwölbung ihm fernliegt. So beschwört er nun Maß und Mitte des Rechts, der erprobte Ideologe rät zur Ideologieabstinenz. Seine heftige Kritik macht sich auch in dadaistischer Gelegenheitslyrik Luft73: „In Karlsruhe wächst ein Gummibaum Lemuren schlurfen durch den Raum Und hängen einen Freiheitstraum Als Wert an diesen Gummibaum. Nanu was sagt ihr denn dazu? Wir sagen: psst – tabu!“

Allenfalls angedeutet findet sich in der Schrift, dass Schmitt den Ausweg in einer Rückbesinnung auf durch Antike und Christentum geprägte Begriffe wie „Würde“ oder „Tugend“74 sehen könnte, die für ihn Seinskategorien sind und nicht wertphilosophische Gesichtspunkte. Derartige Andeutungen lassen sich aber kaum noch von nostalgischer Melancholie unterscheiden. Schmitts radikaler Dekonstruktion des Wertdenkens entspricht 73 Das aus den sechziger Jahren stammende Gedicht ist aus dem Nachlass zitiert bei Mehring (Fn. 36), S. 523. 74 „ . . . man sagte: Sachen haben einen Wert, Personen haben eine Würde. Man hielt es für unwürdig, die Würde zu verwerten . . .“ (TdW, S. 35). Über „Tugend und Wert in der Staatslehre“ hatte Forsthoff 1959 in Ebrach gesprochen; vgl. auch Ernst Forsthoff, Der moderne Staat und die Tugend (1950), in: ders., Rechtsstaat im Wandel. Verfassungsrechtliche Abhandlungen 1950 – 1964, 1964, S. 13 ff.

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in der „Tyrannei der Werte“ kein theoretisches Angebot, wie man die Rolle des Rechts und der Juristen unter dem Grundgesetz anders und besser verstehen kann.

IV. Die prekäre Lage der Juristen des öffentlichen Rechts „zwischen Theologie und Technik“ Die „Tyrannei der Werte“ setzt an die Stelle einer philosophischen Kritik der Philosophie und einer juristischen Kritik des Rechtsdenkens rhetorisch zugespitzte Intuitionen zur Aggressivität jeden Wertdenkens. Die Fragwürdigkeiten der Schrift und manche Idiosynkrasien ihres Verfassers sollten aber nicht überdecken, dass das sachliche Kernanliegen Schmitts weiterhin aktuell und bedenkenswert ist. Dieses liegt in der Sorge um die Autonomie und Eigenwürde des Rechts und der Juristen. Löst man Schmitts Kritik aus ihrer zeitbedingten Verengung auf die Wertphilosophie, so geht es darin letztlich um das Verhältnis des Rechts zu den jeweils einflussreichen Großideologien. Die „Tyrannei der Werte“ ist Schmitts Variation auf das „Silete theologi!“ des Albericus Gentilis75. Der 75 Der Satz „Silete theologi in munere alieno!“ des Albericus Gentilis wandte sich am Ende des 16. Jahrhunderts gegen die Berücksichtigung konfessioneller Gesichtspunkte beim Verständnis der völkerrechtlichen Kriegsgründe. Er wird von Schmitt häufiger zustimmend zitiert; vgl. etwa: Ex Captivitate Salus (Fn. 50), S. 70; Der Nomos der Erde (Fn. 40), S. 131.

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frühneuzeitliche Völkerrechtler Gentilis hatte die Theologen zum Schweigen in weltlichen Angelegenheiten aufgerufen und den Raum der säkularen Ordnung für die Juristen beansprucht. Die damals beanspruchte Autonomie des Rechts76 ist stets gefährdet geblieben. Carl Schmitt hat dafür an anderer Stelle die Formulierung gefunden, die Juristen stünden stets in der Gefahr, „zwischen Theologie und Technik“ zerrieben zu werden.77 Ihre Autonomie ist einerseits gefährdet durch eine restlose Funktionalisierung, die Auslieferung an die mächtigen Eigenlogiken von Wirtschaft, Technik und Naturwissenschaft, aber auch an eine nur noch rechtstechnische Alltagspraxis des Rechts. In anderer Weise ist diese Autonomie ebenso in Gefahr durch ideologieanfällige Großformeln, welche die Eigenständigkeit des Rechts auch unter den Bedingungen liberaler Demokratien bedrohen können. Ein inhaltsreiches und gerichtlich umfassend durchsetzbares Verfassungsrecht, wie es sich in der Bundesrepublik herausgebildet hat, ist diesen Gefährdungen in spezifischer Weise ausgesetzt. Im Rahmen des Bundesverfassungsgerichts sucht es seinen Weg zwischen der technischen Selbstreferentialität vieler Kammerbeschlüsse und dem hohen Ton, den die Leit76 Vgl. allgemein Joachim Rückert, Autonomie des Rechts in rechtshistorischer Perspektive, 1988. 77 Schmitt, Ex Captivitate Salus (Fn. 50), S. 74; ders., Glossarium (Fn. 54), S. 23; vgl. auch ders., Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft (1943 / 44), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze (Fn. 52), S. 386 ff. (422).

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entscheidungen der Senate nicht selten anschlagen. Dem Verfassungsrecht droht ein permanenter Verschleiß, der nach der Verordnung und dem Gesetz auch die Verfassung als rechtliche Form zu erreichen beginnt. Ähnliches lässt sich gegenwärtig auch im Völkerrecht beobachten, das unsicher zwischen expertokratischen Vertragsregimen und Visionen einer „internationalen Gemeinschaft“ schwankt.78 Die frühbundesrepublikanischen Kritiker wie Forsthoff und Schmitt konnten schon aufgrund ihrer inneren Distanz zur parlamentarischen Demokratie keine angemessenen Lösungen anbieten, und ihre methodischen Vorschläge blieben allzu sehr der Vergangenheit verhaftet, ohne sich auf die Neuartigkeit der unter dem Grundgesetz eingetretenen Situation wirklich einzustellen und einzulassen. Das schließt freilich nicht aus, dass sie gerade aus ihrer eigenwilligen Besiegtenperspektive heraus manches Problem schärfer und früher wahrnahmen. Die prekäre Stellung der Juristen und besonders der Juristen des öffentlichen Rechts gehört zu diesen Problemen. Es ist gewissermaßen juristisches Berufsrisiko, den eigenen Selbststand zwischen Technokratismus und Ideologieanfälligkeit zu verlieren. Die Sicherung der juristischen Autonomie kann in vielfältigen Formen versucht 78 Vgl. Martti Koskenniemi, International Law in Europe – Between Tradition and Renewal, European Journal of International Law 16 (2005), S. 113 ff. (116); Thilo Rensmann, Wertordnung und Verfassung. Das Grundgesetz im Kontext grenzüberschreitender Konstitutionalisierung, 2007, S. 360 ff.

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werden, durch institutionelle Mechanismen, Berufsethos79 und eine reflektierte rechtswissenschaftliche Aneignung und Durchdringung der jeweiligen normativen Grundlagen. Nicht zuletzt bedarf sie jedoch der immer wieder erneuerten Aufmerksamkeit für die strukturellen Gefährdungen des Juristen. Carl Schmitt ist diesen Gefährdungen selbst häufig genug erlegen. Gerade deshalb ist er vielleicht nicht der schlechteste Zeuge für ein Grundproblem, das bewusst bleiben muss, weil es nicht gelöst werden kann.

79 Dazu jüngst Ernst-Wolfgang Böckenförde, Vom Ethos der Juristen, 2010.