Die Theorie der dynamischen Effizienz: Unter Mitwirkung von Philipp Bagus und Fabian Lair. Übersetzt von Marius Kleinheyer. Hrsg. von Hardy Bouillon [1 ed.] 9783428580071, 9783428180073

»Die Theorie der dynamischen Effizienz« ist eine Sammlung von Aufsätzen, die Jesús Huerta de Soto zwischen 1988 und 2012

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German Pages 414 Year 2020

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Die Theorie der dynamischen Effizienz: Unter Mitwirkung von Philipp Bagus und Fabian Lair. Übersetzt von Marius Kleinheyer. Hrsg. von Hardy Bouillon [1 ed.]
 9783428580071, 9783428180073

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Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus Band 4

Jesús Huerta De Soto

Die Theorie der dynamischen Effizienz

Duncker & Humblot · Berlin

JESÚS HUERTA DE SOTO

Die Theorie der dynamischen Effizienz

Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus Band 4

Jesús Huerta De Soto

Die Theorie der dynamischen Effizienz Unter Mitwirkung von

Philipp Bagus und Fabian Lair

Übersetzt von

Marius Kleinheyer

Herausgegeben von

Hardy Bouillon

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 2510-2893 ISBN 978-3-428-18007-3 (Print) ISBN 978-3-428-58007-1 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort der Herausgeber Mit der Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus sollen einschlägige Schriften, die in der Tradition des Klassischen Liberalismus und in geistiger Nähe zu Friedrich August von Hayek stehen, einer deutschsprachigen Leserschaft nähergebracht werden. Zu diesem Zweck werden Schlüsselwerke bedeutender Autoren übersetzt und in deutscher Erstausgabe herausgegeben. Gleichwohl ist die Schriftenreihe nicht auf Übersetzungen beschränkt, sondern auch offen für Arbeiten gegenwärtiger Autoren, die sich der Schule des Klassischen Liberalismus und dem freiheitlichen Denken Hayeks eng verbunden fühlen. Auf den Autor des vierten Bandes trifft beides zu. Dass Jesús Huerta de Soto – wie schon seine Vorgänger Kirzner, Jasay und Spencer in dieser Reihe – zu eben jenen bedeutenden Autoren gehört, deren Werke auch einem deutschen Leserkreis offen stehen sollten, steht ganz außer Frage. Und zweifellos ist auch, dass Die Theorie der dynamischen Effizienz ein Schlüsselwerk des Autors ist. Das Buch ist eine Sammlung von Aufsätzen, die Jesús Huerta de Soto zwischen 1988 und 2012 geschrieben hat. Im Zentrum steht der dynamische Prozess der sozialen Kooperation als Charakteristikum des freien Marktes, der seine Effizienz dem Unternehmertum und den zu ihm passenden Institutionen verdankt. Huerta de Soto steht tief verwurzelt in der Tradition der Österreichischen Schule der Nationalökonomie. Insofern verwundert der multidisziplinäre Ansatz, den er an den Tag legt, kaum. Seine Ausführungen reichen weit über die traditionellen Gebiete der Ökonomie wie Wirtschaftstheorie, Wirtschaftspolitik oder Geldtheorie hinaus. Huerta de Soto ist auch in der Methodologie, Geschichte und politischen Philosophie oder der Ideengeschichte und Sozialphilosophie zu Hause. Jesús Huerta de Soto (* 1956) ist Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Rey Juan Carlos in Madrid. Er lehrte zunächst an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Complutense, bevor er 2000 zum Ordinarius für Wirtschaftspolitik an der Universität Rey Juan Carlos ernannt wurde. Seither setzt er sich unermüdlich für eine Wiederbelebung und Weiterentwicklung der Österreichischen Schule der Nationalökonomie ein. Von seinen zahlreichen Werken sind bislang drei auf Deutsch erschienen: Die Österreichische Schule der Nationalökonomie (2007), Geld, Bankkredit und Konjunkturzyklen (2011) und Sozialismus, Wirtschaftsrechnung und unternehmerische Funktion (2013). Nach Der ökonomische Blickwinkel von Israel Kirzner, der Der Staat von Anthony de Jasay und Mensch versus Staat von Herbert Spencer ist Die Theorie der dynamischen Effizienz von Jesús Huerta de Soto der vierte Band der Reihe. Weitere Bände anderer Autoren sind bereits in Planung und sollen im Jahres-

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Vorwort der Herausgeber

rhythmus erscheinen, darunter Wissen und Entscheidungen von Thomas Sowell. Die Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus wird von der Friedrich ­August von Hayek-Stiftung, Berlin, großzügig unterstützt. Prof. Dr. Hardy Bouillon   Prof. Dr. Gerd Habermann   Prof. Dr. Erich Weede

Einleitung des Herausgebers Die Theorie der dynamischen Effizienz ist eine Aufsatzsammlung. Insofern ähnelt sie dem letzten Band in dieser Reihe. Auch Mensch versus Staat von Herbert Spencer entstand aus einer Reihe von Aufsätzen, die der Autor im Verlauf einer größeren Zeitspanne verfasste und dem Leser einen ungewöhnlichen Einblick erlaubt; einen Einblick in die Entwicklung des Autors, die ihn umgebende Zeitgeschichte und in die im Wechselspiel von Theorie und Geschichte entstandenen Grundthesen. Im vorliegenden Fall geben die ausgewählten Aufsätze Aufschluss darüber, was Jesús Huerta de Soto in einem Zeitraum von knapp 25 Jahren sowohl erfahren, analysiert als auch weiterentwickelt hat. Der Bogen, den er spannt, ist weit. Aber nur so kann er erörtern, was für die Beantwortung der zentralen Frage seines Forschens von Bedeutung ist: Welche Rahmenbedingungen, welche Institutionen müssen vorhanden sein, damit der Unternehmer unter Ausschöpfung seines Kreativvermögens im Markt das auszulösen vermag, was zur dynamischen Effizienz des gesellschaftlichen Koordinationsprozesses führt? Und natürlich: Welche Institutionen dürfen es nicht sein, um der Gefahr zu entgehen, dass die unternehmerische Funktion gehemmt oder gar ganz außer Kraft gesetzt wird? Eines wird dem Leser schnell klar: Huerta de Soto verwendet einen weiten Institutionsbegriff. Es geht um Institutionen im Sinne gewachsener, spontaner Konventionen, um „weiche“ Institutionen (Werte, Prinzipien, Religion u. ä.), aus denen die „harten“ Institutionen (z. B. staatliche und suprastaatliche Einrichtungen, Gesetze etc.) geformt werden, und zwar durch menschliches Planen und Konstruieren. Doch Planung und Konstruktion bergen eine Gefahr. Die harten, künstlichen Institutionen können zum Menschen, seiner Freiheit und zu dem, was seinen Wohlstand ermöglicht, passen oder nicht. Wenn man so will, dann kann man Huerta de Sotos Aufsätze in diesem Band als eine Ansammlung von Antworten auf die Frage nach den richtigen Institutionen für ein Leben in Freiheit und Wohlstand verstehen, für ein Leben, das sein Wohlergehen der Wahrnehmung der unternehmerischen Funktion in einem Umfeld verdankt, die der dynamischen Effizienz bestmögliche Bedingungen gewährt. Den Auftakt zu diesen Antworten bildet ein Aufsatz, der einführend erläutert, wie der Autor seine Theorie der dynamischen Effizienz verstanden haben will. Es folgen (ein langer und ein kurzer) Aufsatz zu methodologischen und terminologischen Fragen. Sie erleichtern dem Leser die Einordnung in das wirtschaftstheoretische Gesamtbild, in dem die Österreichische Schule der Nationalökonomie einen besonderen Platz einnimmt. Ein Missverstehen ihrer Grundposition würde die Lektüre vieler der Folgeaufsätze erschweren. Umgekehrt erleichtert

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Einleitung des Herausgebers

ihre Erörterung und Einbettung in den „anhaltenden Methodenstreit“ das Lesen der Folgebeiträge. Den ersten drei Aufsätzen zum Auftakt folgen drei Analysen zu dem, was Huerta de Soto unter Unternehmertum, genauer: unter der unternehmerischen Funktion, versteht, warum der Sozialismus in all seinen Ausprägungen unter Verkennung dieser Funktion nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch unmöglich ist, und wie die unternehmerische Funktion auch in jenen Bereichen (wie hier z. B. im Umweltsektor) funktionieren kann, die in der neoklassischen Wirtschaftstheorie traditionell dem Refugium staatlicher oder suprastaatlicher Entscheidungen zugeordnet werden. Auch ordnungs- und sozialpolitische Fragen werden weithin gerne als Refugium des Staates und seiner Organe betrachtet, zum Teil auch aus Mangel an Fantasie. Kann es einen liberalen Nationalismus geben? Was sagen Libertäre zur Migrationsfrage? Wie sähe ihre Antwort auf die Frage nach der sozialen Sicherheit aus? Huerta de Soto greift derlei Fragen in den Kapiteln 7–9 auf und bietet eine breite Palette an Lösungen an. Danach wechselt er zu Themen der monetären Ordnung und kapitalistischen Ethik.1 Dabei geht es um das richtige Bankensystem, eines, das sich auf die 100-prozentige Deckung der Sichteinlagen besinnt und vom Teilreservesystem abrückt, das eine ungedeckte Kreditvergabe zulässt. Eine Kaufkrafterhöhung aus dem Nichts birgt aber ein hohes Risiko, das die monetäre Ordnung instabilisiert und nicht nur ökonomisch, sondern auch moralisch verwerflich ist und somit mit der wahren Ethik des Kapitalismus, zu der – wie der Autor zeigt – Hayek und Kirzner wichtige Impulse gegeben haben, kollidiert. Die zweite Hälfte der Aufsätze beginnt mit Theoriebetrachtungen, die es dem Autor erlauben, den Einfluss seiner Mentoren – Mises, Hayek, Kirzner und Rothbard  – auf das eigene Denken stärker ins rechte Licht zu rücken. Hier stellt er auch sein Modell der drei Handlungsebenen vor, das er als Übergang zu diversen Anwendungsfragen nutzt, z. B. für die nach der Rolle der Politiker und der Direktdemokratie. Die genannten Mentoren des Autors vertreten allesamt – wie der Autor selbst – die eine oder andere jüngere Generation der Österreichischen Schule der Nationalökonomie. Huerta de Soto ist auch daran gelegen, unsere Aufmerksamkeit auf die Vorläufer dieser Schule zu lenken. An sie, an Juan de Mariana sowie die übrigen Scholastiker der Schule von Salamanca, und an ihre Beiträge zur Geld- und Banktheorie sowie zum Subjektivismus, erinnert der Autor in den Kapiteln 14 und 15. 

1

In der englischen Originalfassung, nach der die deutsche Ausgabe übersetzt wurde, ist noch ein weiterer Aufsatz (als Kapitel 11) zum Teildeckungssystem der Banken enthalten. Für die deutsche Ausgabe wurde auf ihn aus Gründen, die wir gegen Ende unseres Vorwortes darlegen werden, verzichtet.

Einleitung des Herausgebers

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Diesen Kapitel folgt eine ausführliche Hommage an Ludwig von Mises, dessen Hauptwerk Human Action und deren komplexe Entwicklungsgeschichte, die mit Nationalökonomie. Theorie des Handelns und des Wirtschaftens ihren Ausgang nahm, und dann, nach Übertragung des Traktats ins Englische, mehrere Umarbeitungen und Erweiterungen durch den Autor und eine Vielzahl von Übersetzungen erfuhr. Im Anschluss an diese Hommage folgt ein Nachruf auf Murray Rothbard, der – wie man zwischen den Zeilen kaum verkennen kann – den Autor nur wenig minder geprägt haben dürfte, als Mises es getan hat. An Hayek erinnert Huerta de Soto auf andere Weise; zum einen durch eine Ausweitung des „besten Tests“, mit dem man laut Hayek herausfinden kann, wer ein guter Ökonom ist, und zum anderen durch eine Darstellung des nach Hayek benannten Ricardo-Effekts. Beide, Test und Effekt, gelten ein und demselben Phänomen. Der (künstliche) Lohnanstieg – er mag noch so gut intendiert sein – kommt nicht dort an, wo er gewünscht ist, weil er die Unternehmer zur wirtschaftlichen Korrektur zwingt. Um es in den Worten des Autors zu sagen: „Die Unternehmer finden es attraktiver, Kapitalgüter statt Arbeit zu nutzen. Dies stellt einen wirkungsvollen Effekt dar, der dazu führt, dass die Stufen der Produktionsstruktur länger werden.“ Eine Ausnahme formaler Art unter allen Aufsätzen der vorliegenden Sammlung bildet Kapitel 20. Es ist ein Interview, das der eine als eine Art Zwischenresüme, der andere als Einstimmung zum Buch lesen mag. Auf jeden Fall spannt es einen leicht verständlichen Bogen über alle zentralen Themen des Buches. Den Abschluss der Aufsatzsammlung bilden zwei neuere Beiträge des Autors. Im ersten der beiden bricht er eine Lanze für den Euro, und zwar aus Sicht der Österreichischen Schule der Nationalökonomie. Im zweiten geht es um die Rolle des Anarchokapitalismus in der Welt von morgen. Der Autor meint, dass den libertären Anarchokapitalisten der revolutionäre Erfolg gelingen könne, der dem Klassischen Liberalismus aus Gründen theoretischer Inkohärenz versagt geblieben sei. Thematische Überlappungen bei Werken, die – wie das vorliegende – aus der Zusammenstellung einander ergänzender Aufsätze hervorgehen, die alle zu unterschiedlichen Anlässen verfasst wurden, sind naturgemäß kaum zu vermeiden. Welche Anlässe es jeweils waren, kann der Leser den Anmerkungen entnehmen. Sofern dem Autor Hinweise zu Ursprung und Anlass nennenswert erschienen sind, hat er sie gegeben. Soviel zum Inhalt des Buches. Zu dessen Form muss nicht viel ergänzt werden. Sie folgt den Vorgaben des Autors und der Reihe, in der das Buch erscheint. Die Übersetzung erfolgte nach der englischen Originalausgabe The Theory of Economic Efficiency.2 Anders als diese, ist sie um zwei Kapitel reicher. Gemeint sind die Kapitel 21 und 22 zum Euro und zum Anarchokapitalismus. Bei ihnen handelt es 2

Huerta de Soto (2009a).

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Einleitung des Herausgebers

sich um Fassungen jüngerer Aufsätze, die der Autor zu anderen Gelegenheiten verfasst hat (Huerta de Soto, (2009b, 2012) und die für den vorliegenden Band übersetzt wurden. Das in The Theory of Economic Efficiency enthaltende Kapitel zum Teildeckungsbankwesen (dort Kapitel 11) wurde indes für den vorliegenden Band ausgelassen, weil es bereits an anderer Stelle in deutscher Übersetzung vorliegt, nämlich als Kapitel 8.4 in Geld, Bankkredit und Konjunkturzyklen.3 Es wurde, wie auch der Rest desselben Buches, von Philipp Bagus übersetzt, einem Schüler und Kollegen von Huerta de Soto. Philipp Bagus war es auch, der das Kapitel zum Euro in diesem Band übersetzt hat. Im Fall von Kapitel 1, 3 und 22 war ein anderer Schüler des Autors am Werk, nämlich Fabian Lair; in allen anderen Fällen ­Marius Kleinheyer. Da letzterer – gleichfalls Schüler des Autors – den Löwenanteil an der Arbeit trug, wird er als Hauptübersetzer des vorliegenden Bandes geführt. Es gehört zu den Grundsätzen dieser Reihe, bei Zitaten nach Möglichkeit die einschlägigen deutschen Übersetzungen bzw. Originalfassungen heranzuziehen, um etwaige Fehldeutungen durch Neuübersetzungen zu vermeiden. Im vorliegenden Band war dieses Prinzip nicht immer durchzuhalten. Zu den herkömmlichen Gründen, die ein starres Festhalten am Grundsatz erschwerten, gesellten sich spezifische. So wären z. B. viele Zitate aus Human Action auch in der Nationalökonomie zu finden gewesen.4 Doch die inhaltlichen Umstrukturierungen und Umformulierungen, die Mises für die spätere englische Ausgabe seines Traktats vorgenommen hat, ließen es nicht in jedem Fall unproblematisch erscheinen, auf die alten Formulierungen der Nationalökonomie zurückzugreifen. Für den Leser mag angesichts dessen der Hinweis nützlich sein, dass Zitate aus dem Englischen, sofern nicht anderweitig gekennzeichnet, vom Übersetzer ins Deutsche über­tragen wurden. Die vorgelegte Übersetzung wurde nach editorischen Vorgaben hier und da geändert und – wo noch in der Rohfassung – syntaktisch und anderweitig geglättet bzw. umformuliert. Von Eingriffen in Stil und Inhalt der Übersetzer wurde selbstverständlich abgesehen. Gelegentlich wurden Begriffe an terminologische Gepflogenheiten angepasst, um etwaige Fehlinterpretationen zu umgehen. Ähnliches gilt für Begriffe, die – wortgetreu übersetzt – in anderen Kulturkreisen kontextbezogen Missverständnisse auslösen können. So meinen US-Amerikaner mit „government“ nicht immer die „Regierung“, sondern auch oft den „Staat“ oder dessen Organe. Insofern wurde hier und da der sinngemäßere Begriff dem wortgetreueren vorgezogen. Ähnliches gilt für die Begriffe „Rente“ und „Pension“. Sie wurden gelegentlich synonym verwendet, auch wenn derlei Gleichsetzung im deutschen Kontext (z. B. bezogen auf das deutsche Rentenwesen) Ungenauigkeiten hervorrufen kann, 3

Huerta de Soto (2011b). Ähnliches gilt auch für ein anderes Hauptwerk von Mises. The Theory of Money and Credit ist nicht nur eine Übersetzung der Theorie des Geldes und der Umlaufsmittel, sondern eine inhaltlich erweiterte Auflage. Folglich sind nicht alle englischsprachigen Zitate in der Urfassung zu finden und mussten vom Übersetzer ins Deutsche übertragen werden. An manchen Stellen – vor allem in Kapitel 21 – wurden die englischsprachigen Zitate vieler Autoren schlicht unübersetzt übernommen. 4

Einleitung des Herausgebers

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die im Kontext des Rentenwesens in anderen Nationen (Spanien, USA, GB) nicht entstünden oder anders ausfielen. Zum Sachbegrifflichen gesellt sich auch Fachbegriffliches. Hier gilt es, beim Übersetzen besonders „nah am Autor“ zu bleiben. Das zeigt sich dann bei Begriffen, die angesichts des englischen Originals zunächst etwas sperrig erscheinen mögen. So spricht der Übersetzer z. B. lieber von unternehmerischer Funktion (entrepreneurship) als von Unternehmertum. Mit dieser Begriffswahl wird er nicht nur dem breiteren Ansatz gerecht, in dessen Rahmen der Autor Unternehmertum charakterisiert, sondern auch den Übersetzungsusancen früherer Werke des Autors.5 Zu guter Letzt: Im englischen Sprachgebrauch ist es seit langem üblich, die „Österreichische Schule der Nationalökonomie“ kurz und ergreifend „Austrian School“ und deren Vertreter „Austrians“ zu nennen und in beiden Fällen die für Eigennamen übliche Großschreibung zu verwenden. Dass im ersten Fall der Begriff nicht für eine in Österreich gelegene Schule, sondern für eine ökonomische Denktradition steht, und im letzten Fall nicht die Bewohner der Alpenrepublik, sondern die Anhänger einer bestimmten Ökonomenschule gemeint sind, versteht sich von selbst. Ob sich ähnliche Kürzel im Deutschen durchsetzen werden, wenn man die Begriffe wortgetreu übersetzt, bleibt abzuwarten. Im Sinne der Begriffsökonomisierung wäre es sicherlich wünschenswert. Wie auch immer, der vorliegende Band greift diese Idee auf und verwendet konsequent die deutschen Äquivalente „Österreichische Schule“ und „Österreicher“ und meint damit genau das, was auch ihre englischen Entsprechungen in der Vorlage meinen. Da das relationale Adjektiv als Eigenname bzw. Teil des Eigennamens fungiert, wird es großgeschrieben.6 Entsprechendes gilt für seine Verwendung in anderen zusammengesetzten Begriffen (Österreichischer Ansatz, Österreichische Analyse, Österreichisches Konzept usw.).7 Wie auch schon bei den vorherigen Bänden der vorliegenden Reihe, so wurde auch hier davon Abstand genommen, in irgendeiner Weise wohlmeinend von der Vorlage abzuweichen. Gleichwohl galt es, die verlegerischen Standards der Reihe zu wahren. Im Hinblick darauf wurden die bibliographischen Angaben, die ursprünglich in die Anmerkungen oder im Text eingebunden waren, in ein eigens dafür erstelltes Literaturverzeichnis übertragen und notfalls ergänzt. Der Index orientiert sich an der englischen Vorlage, verzichtet aber auf Einträge, die lediglich auf Absätze bzw. Unterkapitel der Hauptkapitel oder auf Buchtitel verweisen, da diese ohnehin im detaillierten Inhaltsverzeichnis und Literaturverzeichnis – die in der englischen Ausgabe fehlen – enthalten sind.

5 Huerta de Soto (2011, 2013). Vgl. dazu auch Kapitel 4 in diesem Band, und dort den Absatz über „Das Wesen der unternehmerischen Funktion“. 6 Ähnliches gilt für „Neoklassische Schule“ oder „Neoklassischer Ansatz“. 7 Ein Nebenvorteil liegt darin, dass die Großschreibung der Verwechslungsgefahr von Schule und Land vorbeugt. Ähnliches gilt für Bezeichnungen wie „Deutsche Historische Schule“.

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Soviel zur Form des Buches. Bleibt mir noch – wie auch schon bei den vorherigen Bänden dieser Reihe –, allen zu danken, die an der Entstehung des Bandes mitgewirkt haben; insbesondere der Friedrich August von Hayek-Stiftung, ohne deren großzügige Unterstützung die Herausgabe des Bandes nicht möglich gewesen wäre. Hardy Bouillon

Inhaltsverzeichnis 1. Die Theorie der dynamischen Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Eine kritische Analyse der Evolution des statischen Effizienzkriteriums . . . . . . . . . 22 Historische Vorläufer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Der Einfluss der mechanischen Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Das statische Effizienzkonzept und die „Wohlfahrtsökonomie“ . . . . . . . . . . . . . 27 Kritik der Wohlfahrtsökonomie und der Begriff der statischen Effizienz . . . . . . 28 Der ökonomische Begriff der dynamischen Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Die dynamische Effizienz und das unternehmerische Handeln . . . . . . . . . . . . . . 31 Das wirtschaftliche Konzept der dynamischen Effizienz: Kreativität und Koor­ dination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Israel M. Kirzner und die Idee der dynamischen Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Murray N. Rothbard und der Mythos der statischen Effizienz: Roy E. Cordatos Versuch einer Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Joseph Alois Schumpeter und der „Prozess schöpferischer Zerstörung“ . . . . . . 36 Harvey Leibensteins Konzept der X-Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Douglas C. North und sein Konzept der „adaptiven Effizienz“ . . . . . . . . . . . . . . 38 Dynamische Effizienz und die Transaktionskostentheorie von Ronald H. Coase 40 Das Konzept der dynamischen Effizienz in wirtschaftlichen Fachbüchern . . . . . 41 Das Verhältnis von Ethik und dynamischer Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Die Ethik als notwendige und genügende Voraussetzung für die dynamische Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Dynamische Effizienz und die persönlichen Moralprinzipien . . . . . . . . . . . . . . 49 Die Evolution ethischer Prinzipien: Institutionen als Voraussetzung für die dynamische Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Einige praktische Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

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Inhaltsverzeichnis

2. Der anhaltende Methodenstreit der Österreichischen Schule . . . . . . . . . . . . . . . 59 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Die wesentlichen Unterschiede zwischen der Österreichischen und der Neoklas­ sischen Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Theorie der Handlung (Österreicher) versus Theorie der Entscheidung (Neo­klassiker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Subjektivismus (Österreicher) versus Objektivismus (Neoklassiker) . . . . . . . . . 64 Entrepreneur (Österreicher) versus Homo oeconomicus (Neoklassiker) . . . . . . 64 Unternehmerischer Fehler (Österreicher) versus ex post Rationalisierung aller vergangenen Entscheidungen (Neoklassiker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Subjektive Information (Österreicher) versus objektive Information (Neo­klassiker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Unternehmerische Koordination (Österreicher) versus allgemeines oder partielles Gleichgewicht (Neoklassiker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Subjektive Kosten (Österreicher) versus objektive Kosten (Neoklassiker) . . . . . 69 Verbaler Formalismus (Österreicher) versus mathematischer Formalismus (Neoklassiker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Die Beziehung zur empirischen Welt: die andere Bedeutung von „Vorhersage“ 71 Die Runden des Methodenstreits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Erste Runde: Carl Menger versus Deutsche Historische Schule . . . . . . . . . . . . . 75 Zweite Runde: Böhm-Bawerk versus John Bates Clark (sowie versus Marshall und Marx) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Dritte Runde: Mises, Hayek und Mayer versus Sozialismus, Keynes und die Neoklassiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Vierte Runde: Neo-Österreicher versus Mainstream und methodologischen Nihilismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Antwort auf einige Kritiken und Kommentare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Schlussfolgerung: Bewertung von Erfolg und Misserfolg der beiden Ansätze . . . . . 92 3. Über die konjekturale Geschichtsschreibung hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 4. Die unternehmerische Funktion und die ökonomische Analyse des Sozialismus 100 Das Wesen der unternehmerischen Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Unternehmerisches Handeln und Wachsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Information, Wissen und die unternehmerische Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Subjektives und praktisches, nicht-wissenschaftliches Wissen . . . . . . . . . . . . . . 102 Privates und verstreutes Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

Inhaltsverzeichnis

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Stillschweigendes, unartikuliertes Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Die hauptsächlich kreative Natur der unternehmerischen Funktion . . . . . . . . . . 106 Die Schaffung von Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Die Übermittlung von Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Der Lerneffekt: Koordination und Anpassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Das wesentliche Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Die unternehmerische Funktion und das Konzept des Sozialismus . . . . . . . . . . . . . . 111 Sozialismus als intellektueller Fehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Die Unmöglichkeit des Sozialismus aus gesellschaftlicher Perspektive . . . . . . . . . . 116 Das „statische“ Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Das „dynamische Argument“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Die Unmöglichkeit des Sozialismus aus Sicht der kontrollierenden Instanz . . . . . . 119 Kritik an alternativen Sozialismuskonzepten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Sozialismus und Interventionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 5. Die Krise des Sozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 6. Die unternehmerische Funktion und die Theorie des marktwirtschaftlichen Umweltschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Zwang, Eigentumsrechte und die Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Der Umweltschutz und die Unmöglichkeit der sozialistischen Wirtschaftsrechnung 141 Die unternehmerische Lösung für Umweltprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 7. Eine Theorie des liberalen Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Konzept und Eigenschaften der Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Wesentliche Prinzipien des liberalen Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Ökonomische und soziale Vorteile des liberalen Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Die Rolle des Staates im liberalen Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Liberaler Nationalismus versus sozialistischer Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Ist es dem nationalen Sozialisten möglich, vom liberalen Nationalismus überzeugt zu werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Schlussfolgerung: Für einen liberalen Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

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Inhaltsverzeichnis

8. Eine libertäre Theorie der freien Immigration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Die reine Theorie des Personenverkehrs in einem libertären Umfeld . . . . . . . . . . . . 163 Probleme durch staatliche Zwangsintervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Lösungen für die Probleme heutiger Migrationsströme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Grundlagen gegenwärtiger Immigrationsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 9. Krise und Reform der sozialen Absicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Diagnose des Problems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Technische Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Ethische Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Der inhärente Widerspruch in der Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Das ideale Modell einer Sozialversicherung aus libertärer Perspektive . . . . . . . . . . . 183 Strategie zur Reform der Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Einige grundsätzliche Strategieprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Reformschritte in der Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Grundsätze für ein kurzfristiges libertäres Politikprojekt zur Reform der Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Andere strategische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Das Problem der medizinischen Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 10. Eine kritische Analyse der Zentralbanken und des Systems der teilgedeckten Bankfreiheit aus Sicht der Österreichischen Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Die Debatte zwischen den Theoretikern der Bankfreiheit und der Zentralbanken . . 202 Die Entwicklung des Bankensystems und der Zentralbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Das Teildeckungsbankwesen: die Zentralbank und die Konjunkturzyklentheorie . . 207 Das Geld- und Bankensystem in einer freien Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 11. Die Ethik des Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Das Versagen des Konsequenzialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Die Bedeutsamkeit einer ethischen Grundlage der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Über die Möglichkeit, eine Theorie der sozialen Ethik zu bilden . . . . . . . . . . . . . . . 215

Inhaltsverzeichnis

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Moralität und Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Israel Kirzners Beitrag zur Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Die Soziallehre der katholischen Kirche und Kirzners Beitrag . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Einige kritische Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Kirzner und der angebliche Relativismus ethischer Prinzipien unter Berücksichtigung historischer Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Kirzners Theorie des Unternehmertums und ihre Anwendung auf die Entstehung von Institutionen und moralischem Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 12. Eine Hayekianische Strategie zur Einführung marktwirtschaftlicher Reformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Die vorgeschobenen Gründe der angeblich unmöglichen Marktwirtschafts‑ reformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Historische Beispiele, die den Pessimismus widerlegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Die drei Handlungsebenen, die für Reformen notwendig sind: theoretisch, historisch und ethisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Handlungen auf der theoretischen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Handlungen im ethischen Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Handlungen im historischen Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Die Rolle der Politiker bei libertären Reformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Wieviel sollten Politiker lügen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 13. Die Zukunft des Liberalismus. Die Dekonstruktion des Staates durch die ­direkte Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Politiker gegen Wähler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Die notwendige Bedingung der direkten Demokratie: das Recht auf Sezession . . . . 252 Die Dekonstruktion des Staates durch direkte Demokratie und Sezession . . . . . . . . 253 Privateigentums-Anarchismus in einem freien Markt: das asymptotische Ideal einer direkten Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 14. Juan de Mariana und die spanischen Scholastiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256

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Inhaltsverzeichnis

15. Neues zur Vorgeschichte der Bankentheorie und der Schule von Salamanca . . 266 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Die Entwicklung der Banken in Sevilla . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Die Schule von Salamanca und das Bankgeschäft: der ursprüngliche Beitrag von ­Saravia de la Calle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Martín de Azpilcueta Navarro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Der Beitrag von Tomás der Mercado . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Die Fälle Domingo de Soto, Luis de Molina und Juan de Lugo . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Die Banking- und Currency-Richtungen der Schule von Salamanca . . . . . . . . . . . . 278 Schluss: Die zeitgenössischen Positionen der Jesuiten Bernard W. Dempsey und Francisco Belda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 16. Ludwig von Mises’ Human Action als volkswirtschaftliches Lehrbuch . . . . . . . 287 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Die wesentlichen komparativen Vorteile von Human Action . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Typische Unzulänglichkeiten heutiger ökonomischer Lehrbücher . . . . . . . . . . . 288 Über die Bedeutung der Abhandlungen zu den Grundlagen und Prinzipien der Wirtschaftswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Der Autor und sein Werk: Mises’ wichtigste Beiträge zur Wirtschaftswissenschaft . . 295 Ludwig von Mises und die Theorie des Geldes, der Kredite und der Konjunktur­ zyklen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Mises’ Analyse der Unmöglichkeit des Sozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Die Theorie des Unternehmertums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Die aprioristisch-deduktive Methodologie und die Kritik am szientistischen Posi­ tivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 Ökonomie als Theorie dynamischer Gesellschaftsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Eine kurze Biographie zu Ludwig von Mises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Die sukzessiven Auflagen von Human Action . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Nationalökonomie: Der deutsche Vorläufer von Human Action . . . . . . . . . . . . . 310 Englische Ausgaben von Human Action . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Übersetzungen von Human Action in andere Sprachen als Spanisch . . . . . . . . . 312 Die acht spanischen Auflagen von Human Action . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Der Impuls von Human Action auf die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaft . . 316 Mises und die Evolutionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Inhaltsverzeichnis

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Die Theorie des Naturrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 Der Unterschied zwischen praktischem Wissen und wissenschaftlichem Wissen 319 Die Monopoltheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Der Sozialismus und die Theorie des Interventionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Die Kredittheorie und das Bankensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Die Bevölkerungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Human Action als Vorläufer der Public-Choice-Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Methode für Forschung und Lehre von Human Action . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Die potentielle Leserschaft dieser Abhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Human Action in Lehrveranstaltungen zur Politischen Ökonomie . . . . . . . . . . 325 Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 17. In memoriam Murray N. Rothbard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 18. Hayeks bester Test für einen guten Ökonomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 19. Der Ricardo-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 20. Interview zu den spanischen Wurzeln der Österreichischen Schule . . . . . . . . . . 337 21. Die Verteidigung des Euro: ein Österreichischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Einleitung: das ideale Geldsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Die Österreichische Tradition der Verteidigung fester Wechselkurse gegen einen mone­tären Nationalismus und flexible Wechselkurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Der Euro als „Proxy“ des Goldstandards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Die heterogene und bunte „Antieurokoalition“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 Die wirklichen Kapitalvergehen Europas und der fatale Fehler der Europäischen Zentralbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 Euro vs. Dollar (und Pfund) und Deutschland vs. U. S. A. (und U. K.) . . . . . . . . . . . 370 Schlussfolgerung: Hayek versus Keynes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 22. Liberalismus versus Anarchokapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Der fatale Fehler des klassischen Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Der Staat als unnötige Körperschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 Warum der Etatismus theoretisch unmöglich ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379

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Inhaltsverzeichnis Die Unmöglichkeit, die Staatsgewalt zu beschränken: ihr „letaler“ Charakter in Verbindung mit der menschlichen Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Der Anarchokapitalismus als das einzig mögliche und mit der menschlichen Natur wirklich vereinbare System sozialer Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Konklusion: revolutionäre Konsequenzen des neuen Paradigmas . . . . . . . . . . . . . . . 384 Grafischer Anhang und kurzer Kommentar zur anarchistischen Tradition in Spanien 387

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406

1. Die Theorie der dynamischen Effizienz Einleitung Die traditionellen Pareto-Kriterien allokativer Effizienz, die bis heute in der Wirtschaftswissenschaft dominieren, erweisen sich aufgrund ihres statischen Charakters als ungeeignet. Sie können nicht als normative Leitlinien für die vielfältigen Dynamiken der sozialen Institutionen der Wirklichkeit genutzt zu werden.1 Folglich ist es notwendig, die traditionellen Standards der Effizienz durch ein alternatives Kriterium zu ersetzen, das die großen Lücken im bisherigen Verständnis Paretos zu schließen vermag und problemlos auf den Bereich der sozialen Institutionen angewandt werden kann. Wir werden diesen alternativen Standard das „Kriterium der dynamischen Effizienz“ nennen. Dieser Aufsatz besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil werden wir den Entstehungsprozess des paretianischen Effizienzkonzepts betrachten. Dieser Standard bildete sich nach dem Modell des Prinzips der Energieeffizienz heraus, das in den physikalischen und mechanischen Wissenschaften des 19. Jahrhunderts entstand. Dieser Umstand erklärt, warum das traditionelle Effizienzkriterium Paretos, das zum Dreh- und Angelpunkt jeder wohlfahrtswirtschaftlichen Doktrin und vieler der wirtschaftlichen Analysen des Rechts wurde, durch komparative Statistiken stark beschränkt ist und nicht ohne weiteres auf die vielfältigen Dynamiken der Institutionen angewandt werden kann. Im zweiten Teil werden wir das alternative Konzept der dynamischen Effizienz darstellen. Es entsprang auf natürliche Weise der Theorie des Marktprozesses, der von der schöpferischen und koordinierenden Fähigkeit des Unternehmertums angetrieben wird. Obwohl das dynamische Effizienzkriterium bisher noch keinen Eingang in den Mainstream unserer Disziplin gefunden hat, haben einige Autoren zu seiner Entstehung beigetragen. Führende Wirtschaftswissenschaftler wie Mises, Hayek und Schumpeter, aber auch andere jüngere Theoretiker wie Rothbard, Kirzner und North (mit seinem Konzept der „adaptiven Effizienz“) und auch Leibenstein (mit seinem Konzept der „X-Effizienz“), haben alternative Kriterien entwickelt und vorgeschlagen, die in unterschiedlichem Ausmaß mit unserer Idee der dynamischen Effizienz übereinstimmen. In diesem Abschnitt werden wir die verschiedenen Beiträge dieser Autoren untersuchen und miteinander vergleichen. Der dritte und letzte Teil dieses Aufsatzes beinhaltet das, was wir als einen der bedeutsamsten und meistversprechenden Beiträge erachten, nämlich eine 1

Vgl. Huerta de Soto (2011a, 2011b).

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1. Die Theorie der dynamischen Effizienz

Analyse der engen Verbindung, die u. E. zwischen dem vorgeschlagenen dynamischen Effizienzkriterium und dem Rahmen ethischer Prinzipien besteht, den jede Gesellschaft hat. Ein großes und vielversprechendes Forschungsfeld, das sich zukünftigen Wirtschaftswissenschaftlern eröffnet, besteht in der systematischen Anwendung des dynamischen Effizienzkriteriums auf alle (rechtlichen, moralischen und wirtschaftlichen) Institutionen der Gesellschaft und der daraus folgenden Beurteilung jeder dieser Institutionen aufgrund eines anderen Standards als dem des Pareto-Kriteriums. Außerdem erlaubt uns unsere Analyse jene ethischen Prinzipien ausfindig zu machen, welche die dynamische Effizienz ermöglichen und als Ergebnis den Fortschritt und die koordinierte Entwicklung von Gesellschaft und Zivilisation erlauben. Wir haben darüber hinaus die Absicht, eine direkte Verbindung zwischen Wirtschaft und Ethik herzustellen, um auf diese Weise eine höchst produktive Beziehung zwischen den beiden sich gegenseitig stärkenden Disziplinen zu fördern.

Eine kritische Analyse der Evolution des statischen Effizienzkriteriums Historische Vorläufer Der Begriff „Effizienz“ hat seinen etymologischen Ursprung im lateinischen Wort efficiens, das sich wiederum vom lateinischen Verb ex facio ableiten lässt und so viel bedeutet wie „etwas von etwas erreichen“.2 Die Anwendung dieses Effizienzverständnisses (als die Fähigkeit „etwas von etwas [zu] erreichen“) auf die Ökonomie geht vor das römische Zeitalter zurück und kann bis in das antike Griechenland zurückverfolgt werden, wo der Ausdruck „Wirtschaft“ (οικονομία) zum ersten Mal im Bezug auf die effiziente Verwaltung des Haushalts oder des Familienbesitzes verwendet wurde. In seinem Werk Wirtschaft aus dem Jahre 380 Jahre vor Christus schreibt Xenophon Sokrates die Aussage zu, Wirtschaft sei „ein Teil der Erkenntnis“, durch die „der Mensch Besitz vermehren kann“, Grund und Boden „dem gesamten Besitz eines Menschen gleichkomme“ und Besitz „das Nützliche für den Unterhalt einer Lebensgrundlage“ sei.3 Xenophon geht, nachdem er eine sehr moderne und subjektivistische Definition von Wirtschaft vorgelegt hat, noch weiter und erklärt in den nachfolgenden Dialogen, dass es zwei verschiedene Wege gebe, um seinen Besitz zu vermehren, und dass diese letztlich den zwei verschiedenen Aspekten der Effizienz entsprächen. Ein Aspekt entspricht dem der „statischen Effizienz“ und besteht aus der vernünftigen Verwaltung der verfügbaren (oder „gegebenen“) Ressourcen, um deren Verschwendung zu verhindern. Nach Xenophon erreicht man diese effiziente Ver 2 3

Blánquez Fraile (1998), S. 567, Bedeutung 2. Xenophon (1979), 6.4.

Eine kritische Analyse der Evolution des statischen Effizienzkriteriums 

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waltung am besten, indem man das Haus gut in Ordnung4 hält, die Behandlung seiner Güter sorgfältig überwacht und so gut wie möglich auf sie achtet und für sie sorgt. Xenophon fasst die notwendigen Fähigkeiten für die effiziente Verwaltung der „gegebenen“ Ressourcen in der weisen Antwort zusammen, die der große König der Barbaren bekam, der „ein gutes Pferd erhielt und es so schnell wie möglich fett machen wollte. So fragte er e­ inen, der den Ruf hatte, gut mit Pferden umgehen zu können, was denn der schnellste Weg wäre, ein Pferd fett zu machen. ‚Das Auge des Herrn‘, antwortete der Mann. Ich glaube, dass wir diese Antwort im Allgemeinen anwenden dürfen, Sokrates, und sagen können, dass des Herren Auge hauptsächlich die gute und wertvolle Arbeit tut.“5

Nichtsdestotrotz führt Xenophon neben diesem Aspekt der Effizienz, den wir als „statisch“ bezeichnet haben, den ergänzenden „dynamischen“ Aspekt ein. Dieser besteht nämlich im Bestreben, den eigenen Besitz durch unternehmerisches Handeln und Geschäftemachen zu vermehren. Was hier im Mittelpunkt steht, ist der Versuch, die eigenen Güter durch unternehmerische Kreativität zu vermehren, d. h. durch Handel und Spekulation, und weniger die Anstrengung, die Verschwendung der sich bereits im eigenen Besitz befindlichen Güter zu verhindern. Xenophon gibt zwei Beispiele spezifischer Aktivitäten, um diese Aufgabe auf der Grundlage des unternehmerischen Handelns zu illustrieren. Ein Beispiel ist der Kauf von unfruchtbarem oder brachem Land mit dem Ziel, es zu verbessern und später zu einem viel höheren Preis zu verkaufen.6 Ein anderes Beispiel dynamischer Effizienz, welche die Vermehrung des eigenen Besitzes und die Anhäufung neuer Ressourcen ermöglicht, lässt sich in der Aktivität jener Händler erkennen, die Weizen dort kaufen, wo er im Überfluss vorhanden und daher billig ist, und ihn dorthin transportieren und verkaufen, wo Trockenheit oder schlechte Ernten zu Mangel und Hunger geführt haben.7

4 „Mein Lieber, es gibt nichts, das so angenehm und so gut für den Menschen ist, wie die Ordnung“, Xenophon (1979), 83. 5 Xenophon (1979), 12.18. 6 „Andererseits gibt es keine schnellere Einkommensquelle für den Mann, der vorsichtig ist und eifrig das Land bestellt, als die Landwirtschaft. Mein Vater hat mir dies gelehrt und es durch sein Handeln bewiesen. Denn er hat mir nie erlaubt, ein gut bewirtschaftetes Land zu kaufen, sondern mich dazu gedrängt, irgendein unkultiviertes und unbepflanztes Land zu kaufen, das aufgrund der Nachlässigkeit oder Unfähigkeit seines Besitzers so geworden ist. „Gut bewirtschaftetes Land“, würde er sagen, „kostet eine große Summe Geld und kann nicht verbessert werden.“ … Nun gibt es nichts, was sich mehr entwickelt, als ein landwirtschaftliches Gut, das aus dem Zustand der Wildnis in fruchtbare Felder verwandelt wurde. Ich versichere dir, Sokrates, dass wir oft einem Bauernhof den hundertfachen Wert hinzugefügt haben.“ Vgl. Xenophon (1979), 20.22–24. 7 „So groß ist die Liebe der Händler zum Korn, dass sie, wenn sie Berichte über dessen Überfluss in anderen Teilen der Welt hören, sich auf den Weg dorthin machen, um es zu erlangen: Sie werden die Ägäis überqueren, das Schwarze Meer und das Sizilianische Meer; und wenn sie so viel wie möglich davon bekommen haben, transportieren sie es über das Meer und stauen es im Schiff, das sie selbst steuern. Und wenn sie Geld haben wollen, dann werfen

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1. Die Theorie der dynamischen Effizienz

Die traditionelle Unterscheidung der beiden verschiedenen Dimensionen der Effizienz, nämlich die statische und die dynamische, bestand sogar bis ins Mittelalter. So machte z. B. der Heilige Bernhardin von Siena darauf aufmerksam, dass das Einkommen des Händlers wegen dessen industria und pericula gerechtfertigt war: durch die vernünftige und achtsame Verwaltung seiner (gegebenen) Ressourcen, d. h. durch das gewissenhafte Verhalten, das darauf ausgerichtet ist, die Verschwendung zu verhindern (statische Effizienz), und durch das Eingehen von Risiken und Gefahren (pericula), die sich aus jeder unternehmerischen Spekulation ergeben (dynamische Effizienz).8

Der Einfluss der mechanischen Physik Doch trotz dieser hoffnungsvollen Anfänge verdunkelte sich das Konzept der wirtschaftlichen Effizienz mit dem Aufkommen der Neuzeit und beschränkte sich letztendlich ausschließlich auf den rein statischen Aspekt, nämlich auf das sorgfältige Handeln mit dem Ziel, die Verschwendung „gegebener“ Ressourcen zu vermeiden. Diese reduktionistische Entwicklung führte vor allem zur Verarmung des Effizienzkonzeptes, dessen beiden verschiedenen Dimensionen bereits von Xenophon miteinander verbunden wurden, wobei besonders die Entstehung und Entfaltung der mechanischen Physik seit dem 19. Jahrhundert einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des wirtschaftlichen Denkens ausübte. In der Tat löste zu Beginn der Neuzeit die Physik die Astronomie als „Wissenschaft par excellence“ ab und entstand auf dem abstrakten Energiekonzept, über das alle Physiker reden und diskutieren, obwohl sie angesichts fehlender empirischer Evidenz zu den in Form von Kraft oder Bewegung auftretenden Auswirkungen der Energie darüber uneins sind, was Energie denn eigentlich genau sei.9 In diesem Sinn nahm der „Energieerhaltungssatz“ eine führende Rolle in der Entwicklung der Physik ein, dessen wesentlich statischen Charakter wir nicht übersehen dürfen. („Energie kann weder erschaffen noch zerstört, sondern nur umgewandelt werden.“) Später präzisierte der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, dass in jedem physischen Prozess ein Teil der Energie, z. B. in Form von Wärme, verlorengeht und die physischen Systeme daher nicht umkehrbar sind. Beide Gesetze spielen in der Entwicklung der Physik im 19. Jahrhundert die Hauptrolle. Dieser Umstand erklärt, warum die meisten Wissenschaftler die physikalischen Phänomene fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der „Energie“ verstehen. Darüber hinaus spiegelt sich die wichtigste praktische Anwendung der Naturwissenschaften in sie das Korn nicht wahllos irgendwo hin, sondern bringen es zu dem Ort, von dem sie hören, dass das Korn dort am meisten geschätzt wird und liefern es an die Menschen, die dafür am meisten zu zahlen bereit sind.“ Vgl. Xenophon (1979), 20.27–28. 8 Rothbard (1995a). 9 Der Ausdruck „Energie“ lässt sich etymologisch ins Griechische zurückverfolgen und bedeutet „kraftvolles Handeln“.

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der Entwicklung des Maschinenbaus wider. Dieser beruht ausschließlich auf dem (statischen) Konzept der Energieeffizienz, welche die Ingenieure als „Minimierung des Energieverbrauchs“ definieren. Ein sehr anschauliches Beispiel dafür bietet die Dampfmaschine, die zum klassischen Investitionsgut der Industriellen Revolution wurde. Die Dampfmaschine dient der Umwandlung von Wärme in Bewegung und dem Heben von Gewichten, wobei das Ziel eines jeden Maschinenbauers darin besteht, einen maximalen (statischen) Wirkungsgrad, d. h. größtmögliche Bewegung bei geringstmöglichem Verbrauch bzw. Verlust von Energie, zu erreichen. Diese reduktionistische Auffassung der (statischen) Effizienz beherrscht letztlich auch die Umgangssprache. So bezeichnet das englischsprachige Webster’s Dictionary all jene Handlungen als „effizient“, welche die „Verschwendung minimieren“.10 Im Spanischen ist der Effizienzbegriff auf das Engste mit der Fähigkeit verbunden, einen gewissen Effekt oder eine bestimmte Leistung zu erzielen, und im Diccionario de la Lengua Española wird der Ausdruck „Leistungsfähigkeit“ als das „proportionale Verhältnis zwischen dem Endprodukt bzw. dem erzielten Resultat und der eingesetzten Mittel“11 definiert (wobei man davon ausgeht, dass sowohl das eine als auch die anderen gegeben bzw. bekannt sind). Doch vielleicht ist es an dieser Stelle am wichtigsten, den negativen Einfluss hervorzuheben, den das statische Verständnis der Energieeffizienz auf die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaft hatte. So haben Hans Mayer12 und Philip ­Mirowski darauf hingewiesen, dass sich das neoklassische Wirtschaftsdenken unter technisch-formalen Gesichtspunkten als eine Kopie der mechanischen Physik des 19. Jahrhunderts entwickelte und an Stelle des Energiekonzepts jenes des Nutzens stellte und dabei die gleichen Prinzipen der Erhaltung, der Leistungssteigerung und der Verlustminimierung anwandte.13 Der bekannteste und wohl charakteristischste Autor, der den Einfluss der Physik auf die Wirtschaftswissenschaft veranschaulicht hat, ist Léon Walras. In seinem Aufsatz „Wirtschaft und Mechanik“ aus dem Jahre 1909 behauptet er, dass die physisch-mathematische Wissenschaft und seine Elemente einer reinen Wirtschaftstheorie die gleichen mathematischen Formeln verwenden, wobei er die Parallelen zwischen den Konzepten von Kraft und rareté (die Walras als Vektoren betrachtete) einerseits und den Begriffen von Energie und Nutzen (die Walras als skalare Größen verstand) andererseits hervorhob.14 10

„Marked by ability to choose and use the most effective and least wasteful means of doing a task or accomplishing a purpose“ (Hervorhebung vom Autor), Webster (1981), Vol. I, S. 725. 11 „La proporción entre el producto o resultado obtenido y los medios utilizados“, Diccionario (1992), S. 559 und 1254. 12 Mayer (1994). 13 Mirowksi (1989). Später verfeinerte Mirowksi (2002) seine kritische Analyse des Mechanizismus der neoklassischen Schule, die er als „Cyborg-Einfall in die Wirtschaftswissenschaft“ bezeichnete. 14 „Aussi-a-t-on déjà signalé celles des forces et des raretés comme vecteurs, d’une part, et celles des énergies et des utilités comme quantités scalaires, d’autre part“, Walras (1909), S. 318; zitiert nach Mirowksi (1989) S. 220.

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1. Die Theorie der dynamischen Effizienz

Zusammenfassend können wir sagen, dass die mechanische Physik zur Ausblendung der schöpferischen und spekulativen Dimension führte, die von Anfang an zum Konzept der wirtschaftlichen Effizienz gehörte, und dass nur mehr die reduktionistische und statische Dimension übrig blieb, die sich gänzlich auf die Verlustreduzierung einiger (bekannter oder gegebener) wirtschaftlicher Ressourcen konzentrierte. Als Beispiel erinnern wir an die Definition von „Allokationseffizienz“, die The New Palgrave Dictionary of Economics unter Berufung auf Stanley Reiter vorschlägt: „Maximierung der Bedürfnisbefriedigung, welcher der Beschränkung [gegebener] Ressourcen und [gegebener] Technologien unterworfen ist“.15 Es ist ebenso entlarvend wie entmutigend, dass der Artikel über die wirtschaftliche Effizienz im zweifellos wichtigsten Wörterbuch unserer Disziplin in gar keiner Weise die dynamische Dimension des Wirtschaftlichkeitskonzeptes erwähnt. Das gilt vor allem, wenn man daran denkt, dass im realen Leben weder Ressourcen noch Technologien „gegeben“ sind, sondern nur variieren können und sich aufgrund der unternehmerischen Kreativität tatsächlich unablässig verändern. Und da sie variieren, ist es offensichtlich, dass es eine komplette, altgediente Dimension des Effizienzkonzeptes gibt (die dynamische Dimension, die, wie wir sahen, bis auf Xenophon zurückverfolgt werden kann), die man nur zu einem sehr hohen Preis für die wirtschaftliche Analyse der Realität außer acht lassen kann. Mit dem Aufkommen des Taylorismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahm das reduktionistische Konzept der statischen Effizienz auch großen Einfluss auf die Welt der Unternehmensorganisation. In der Tat tritt Frederick W. Taylor in seinem bekannten Buch The Principles of Scientific Management (1911) dafür ein, in allen Industriezweigen eine Abteilung für „Produktionseffizienz“ einzurichten und folgende Ziele zu verfolgen: erstens, die Arbeiter zu überwachen; zweitens, deren Arbeitszeiten zu messen; und drittens, jede Art von Vergeudung zu verhindern.16 Diese reduktionistische Auffassung der statischen Effizienz wurde tatsächlich zu einer Art Götze, dem anscheinend alles geopfert werden sollte. Diese Versessenheit (die vielleicht besser als „Kult“ bezeichnet werden könnte) auf die statische Effizienz weitete sich sogar auf das Gebiet der politischen Ideologie aus. Ein interessantes Beispiel für dieses Phänomen geben die fabianistischen Sozialisten Sydney und Beatrice Webb ab. Beide Eheleute waren über die angeblichen „Vergeudungen“ des kapitalistischen Systems entsetzt und nahmen dies zum Anlass, die London School of Economics zu gründen. Ihr Ziel war es, die Reform des Wirtschaftssystems voranzutreiben, um so die Vergeudung der Ressourcen zu verhindern und das Wirtschaftssystem „effizient“ zu gestalten. Später machten sie aus ihrer Bewunderung für die „Effizienz“, die sie im sowjetischen Russland zu sehen glaubten, kein Geheimnis, und Beatrice ging sogar so weit, zu behaupten, sie habe „sich in den sowjetischen Kommunismus verliebt“. Ein bekannter Autor, 15 „Going as far as possible in the satisfaction of wants within resources and technological restraints“, Palgrave Dictionary of Economics, S. 107. 16 Taylor (1967), S. 69. (Erstmals veröffentlicht im Jahr 1911).

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der ebenso in die Fänge der statischen Auffassung der wirtschaftlichen Effizienz geriet, war John Maynard Keynes, der in seinem Vorwort zur deutschen Erstausgabe der Allgemeinen Theorie aus dem Jahre 1936 ausdrücklich darauf hinwies, dass seine wirtschaftspolitischen Vorschriften „viel leichter den Verhältnissen eines totalen Staates angepasst werden können“. Zudem lobte Keynes ohne Vorbehalt das Buch Soviet Communism, das 1933 vom Ehepaar Webb veröffentlicht worden war.17

Das statische Effizienzkonzept und die „Wohlfahrtsökonomie“ Die im vorhergehenden Absatz beschriebene Entwicklung gipfelte in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts darin, dass das statische Effizienzkonzept zum Mittelpunkt der Forschung wurde,18 um das herum sich eine völlig neue Disziplin entwickelte, die schließlich den Namen „Wohlfahrtsökonomik“ erhielt und aus einer Reihe von unterschiedlichen Auffassungen hervorging. Folgt man Pigou, dann erreicht man die maximale Effizienz, sobald die Grenznutzen der verschiedenen Faktoren sich ausgleichen. Zu diesem Zweck müsse man das Einkommen solange umverteilen, bis die letzte monetäre Einheit jedes handelnden Subjekts jedem einzelnen den gleichen Grenznutzen bringe. Mit Pigou erreichte die von Jeremy Bentham begründete und von den leichtgläubigen Marginalisten (Sax, Sidgwick usw.) weiterentwickelte Tradition des strengen Utilitarismus ihren Höhepunkt. Da die Auffassung von Pigou ganz offensichtlich einen interpersonalen Vergleich von Nutzen und die Einführung meta-wissenschaftlicher Werturteile erforderte, wurde sie im Allgemeinen bald durch die Auffassung Paretos ersetzt. Nach dem paretianischen Verständnis befindet sich ein wirtschaftliches System in einer effizienten Situation, wenn es nicht mehr möglich ist, ein Individuum besser zu stellen, ohne dabei den Zustand eines anderen zu verschlechtern. Auch wenn diese Auffassung weiterhin statisch ist, schien sie die Notwendigkeit interpersonaler Nutzenvergleiche zu umgehen und erlaubte verschiedenen „Züchtern“ der Wohlfahrtsökonomie (Lerner usw.) die Formulierung des „ersten Theorems der Wohlfahrtsökonomie“. Dem Theorem zufolge kann das System der perfekten Konkurrenz eine effiziente Zuteilung im Sinne Paretos erreichen. Der nächste Schritt bestand darin, eine Reihe von sogenannten „Marktversagen“ ausfindig zu machen. Diese würden angeblich (im statischen Sinne) Ineffizienz erzeugen, indem sie das Wirtschaftssystem vom Modell der „perfekten Konkurrenz“ entfernten. (So spricht man in erster Linie vom Monopol und den äußeren Folgen, um anschließend kompliziertere Zustände der Ineffizienz zu analysieren, wie z. B. jene 17

„Are more easily adapted to the conditions of a totalitarian state“, Keynes (1973), Band 7, S. 26, und Band 28, S. 333–334. Keynes wiederholte auch die Behauptungen jener Intellektuellen, deren Denken durch die wirtschaftlichen „Errungenschaften“ der Sowjetunion verblendet waren („Ich habe die Zukunft gesehen und es hat funktioniert“). Siehe auch Raico (1997). 18 Vgl. den folgenden Abschnitt.

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1. Die Theorie der dynamischen Effizienz

der asymmetrischen Information, des moralischen Risikos bzw. moral hazard, der unvollständigen Märkte usw.) Parallel dazu, und auf alternative Art und Weise, bietet sich das Konzept von Kaldor-Hicks an, aufgrund dessen das analytische Prinzip der „potentiellen Kompensation“ eingeführt wurde: Situation II betrachtet man effizienter als Situation I, wenn die Gewinner den Verlierern eine angemessene Kompensation bieten können (Kaldor); oder wenn die Verlierer der Situation II jene, die von einem Übergang von I zu II profitieren, „bestechen“ können, damit diese den Wechsel nicht vornehmen (Hicks).19 Später wurde das „zweite grundlegende Theorem der Wohlfahrtsökonomie“ ausformuliert, nach dem die Pareto-Effizienz mit den verschiedenen Zuständen anfänglicher Ausrüstung vereinbar ist. Dieses Theorem bringt mit sich, dass die Effizienz- und Gerechtigkeitskriterien voneinander losgelöst betrachtet und nach verschiedenen Proportionen miteinander verbunden werden können. Bergson und Samuelson führten ihrerseits die „Wohlfahrtsfunktion“ (welfare function) ein. Obwohl auch sie den interpersonalen Nutzenvergleich notwendig macht, soll es mit ihrer Hilfe möglich sein, die Unmöglichkeit zu beseitigen, vor der man steht, wenn man den Punkt der maximalen Effizienz (unter allen möglichen pareto-­effizienten Punkten auf der Produktionsmöglichkeitenkurve)  festlegen will. Später bewies Arrow die Unmöglichkeit einer Wohlfahrtsfunktion, die in der Lage wäre, eine ganze Reihe von Anforderungen in durchaus vernünftiger Übereinstimmung zu befriedigen („dritter Hauptsatz der Wohlfahrtsökonomie“). In die gleiche Richtung argumentierend, zeigte auch Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya K. Sen, dass man sich unmöglich eine Wohlfahrtsfunktion vorstellen kann, die sowohl das ­Pareto-Optimum als auch die traditionellen Kriterien des Liberalismus gleichzeitig erfüllt. Dies ist schlicht und einfach deshalb nicht möglich, weil die individuellen Rankings ordinalen Nutzens sich nicht „aggregieren“ lassen. Daher ist keine Wohlfahrtsfunktion in der Lage, alle individuellen Präferenzen zufriedenstellend zu erfüllen.20

Kritik der Wohlfahrtsökonomie und der Begriff der statischen Effizienz Natürlich können wir nicht im Detail auf jede einzelne Kritik der verschiedenen wohlfahrtsökonomischen Effizienzkriterien eingehen. Diese Auffassungen wurden bereits in einer reichhaltigen Literatur, die wir hier nicht wiedergeben können, kritisch analysiert. Nichtsdestotrotz werden wir hier die einschlägigen Einwände zusammenfassen und sie mit dem Einwand konfrontieren, der uns mit Abstand als der wichtigste erscheint und bis heute praktisch in Vergessenheit geraten ist. 19

Zur stets praktischen Unmöglichkeit, das Kriterium von Kaldor-Hicks anzuwenden, siehe Stringham (2001). 20 Für eine Zusammenfassung über den aktuellen Stand des Problems siehe Gamir (1996).

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Erstens, die verschiedenen statischen Effizienzkriterien, die im wohlfahrtsökonomischen Denken verwendet werden, implizieren die mehr oder weniger stillschweigende Einführung von Werturteilen, die jeglicher wissenschaftlichen Objektivität entbehren. Am deutlichsten ist dies in Pigous Ansatz und bei der Wohlfahrtsfunktion der Fall. Um überhaupt einen operativen Inhalt zu haben, verlangen beide die Durchführung interpersonaler Nutzenvergleiche, über deren wissenschaftliche Illegitimität sich die meisten Wirtschaftswissenschaftler seit Lionel Robbins einig sind. Aber nicht nur das! Genauso unklar bleibt die Frage, ob Nutzenvergleiche von einem Individuum selbst und für sich selbst durchgeführt werden können, da sie sich auf verschiedene zeitliche Momente in einem sich ständig verändernden Umfeld jeweils anderer Handlungen beziehen. Obwohl es sich immer um die gleiche Person handelt, würde man in diesem Fall versuchen, die nur schwer miteinander vergleichbaren Dimensionen verschiedener und heterogener Fälle einander gegenüberzustellen. Andererseits kann man, vom Standpunkt der interpersonalen Nutzenvergleiche aus betrachtet und entgegen allem Anschein, selbst über das paretianische Konzept nicht sagen, es sei Werturteilen gegenüber neutral: ein Neider, z. B., könnte sich im Falle einer Pareto-Verbesserung (in der jemand gewinnt, ohne dass dabei „angeblich“ irgendjemand – ausgenommen der Neider – schlechter gestellt wird), tatsächlich schlechter fühlen. Zweitens, die verschiedenen wohlfahrtsökonomischen Ansatzpunkte leiden an einem ernsthaften Defekt. Sie gehen von der Annahme aus, die individuellen Rankings des Nutzens und die verschiedenen Alternativen, die sich jedem Handelnden eröffnen, seien „gegeben“, d. h. bekannt und unveränderlich. Oder, anders ausgedrückt, sie setzen immer die Existenz von „Nutzenfunktionen“ voraus, die angeblich konstant und bekannt sind. Diese Annahme ist vor allem bei Pigou besonders enggefasst und kritisierbar. Der normative Ansatz Pigous bezüglich der Einkommensumverteilung bringt nicht nur die Durchführung interpersonaler Nutzenvergleiche mit sich. Die praktische Umsetzung der Nutzenvergleiche ruft überdies eine radikale Veränderung in den „Nutzenfunktionen“ hervor, die sich – und dies wiegt, wie wir später sehen werden, noch viel schwerer – gänzlich auf den Koordinationsprozess des Unternehmertums auswirken. Drittens, die Kriterien statischer Effizienz stehen weiterhin unter dem starken Einfluss des technischen Effizienzverständnisses der physikalischen Mechanik, und dies trotz aller Anstrengungen, die renommierte Ökonomen (Robbins, Lipsey, ­Alchian, Allen usw.) unternommen haben, um die technische bzw. technologische Effizienz von der wirtschaftlichen Effizienz ein für allemal zu unterscheiden.21 So hat man argumentiert, dass die technische oder technologische Effizienz darin bestehe, den verwendeten Input an physikalischen Größen zu minimieren (z. B. Tonnen von Kohle, Barrels von Erdöl usw.), um ein bestimmtes Ergebnis zu erreichen. Die wirtschaftliche Effizienz bestehe ebenso in der Minimierung des Inputs, jedoch nicht in physikalischen Einheiten, sondern in Kosteneinheiten 21

Robbins (1972), S. 36–37; Lipsey (1966); Alchian / Allen (1964), S. 435–437.

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1. Die Theorie der dynamischen Effizienz

(d. h. Einheiten von Input multipliziert mit deren Marktpreis). Nun gut, wenn man von der Annahme ausgeht, dass die Technologien und die Marktpreise „gegeben“ sind – d. h. sie sind bekannt und verändern sich nicht –, dann scheint es eindeutig zu sein, dass der modus operandi der wirtschaftlichen Effizienz (in seiner statischen Version) und der technischen Effizienz identisch sind: beide bestehen demnach aus einer rein mathematischen Maximierungsoperation, die bekannten Einschränkungen unterworfen ist. Daraus lässt sich schließen, dass im Gebiet der Wohlfahrtsökonomie eine formale Ähnlichkeit zwischen dem Konzept der technischen Effizienz und dem statischen Konzept der Wirtschaftseffizienz besteht. Oder, anders ausgedrückt: Die statische Auffassung der Wirtschaft beschränkt das Konzept der Wirtschaftlichkeit auf ein rein technisches Maximierungsproblem. Dieses Problem ließe sich in allen Fällen auf völlig einfache Weise lösen, indem alle Informationen, die in den Modellen statischer Effizienz als bekannt angesehen werden, in einen Computer eingegeben würden.22 Die bisher aufgeführten kritischen Bemerkungen berücksichtigen jedoch trotz ihrer Bedeutsamkeit nicht in vollem Ausmaße jene Kritik, die wir deshalb als die fundamentalste Kritik der verschiedenen wohlfahrtsökonomischen Effizienzkriterien erachten, weil diese nur einen der beiden Aspekte des Effizienzbegriffs berücksichtigen. Sie berücksichtigen nämlich ausschließlich die statische Dimension wirtschaftlicher Effizienz, in der einerseits vorausgesetzt wird, dass die Ressourcen gegeben und unveränderbar sind, und andererseits angenommen wird, dass das grundlegende Wirtschaftsproblem darin besteht, die Vergeudung jener Ressourcen zu verhindern. Wenn es z. B. um die Beurteilung eines Unternehmens, einer sozialen Institution oder eines ganzen Wirtschaftssystems geht, dann übersehen diese Kriterien die dynamische Effizienz vollkommen – wobei dynamische Effizienz deren Kapazität meint, unternehmerische Kreativität und Koordination zu fördern. Gemeint ist die unternehmerische Fähigkeit zur Suche, Entdeckung und Überwindung verschiedener sozialer Fehlanpassungen. Unserer Meinung nach geht es nicht darum, das Wirtschaftssystem mit der Produktionsmöglichkeitenkurve (die als „gegeben“ angesehen wird) in Einklang zu bringen, sondern darum, das dynamische Effizienzkriterium systematisch anzuwenden. Das Hauptaugenmerk des dynamischen Effizienzkriteriums liegt auf der Fähigkeit des Wirtschaftssystems, die Produktionsmöglichkeitenkurve immer weiter nach rechts zu „verschieben“. Es ist daher besonders wichtig, die traditionellen statischen Wirtschaftlichkeitskriterien durch einen alternativen, umfassenderen Standard zu ersetzen, mit dem man der dynamische Dimension eines jeden Wirtschaftssystems besser gerecht wird. Im nächsten Teil dieser Arbeit werden wir eine detaillierte Untersuchung des von uns vorgeschlagenen Kriteriums dynamischer Effizienz vornehmen.

22 Nachdem ich diesen Aufsatz geschrieben hatte, bemerkte ich, dass James Buchanan (1979), S. 25, die gleiche Idee vertritt.

Der ökonomische Begriff der dynamischen Effizienz

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Der ökonomische Begriff der dynamischen Effizienz Die dynamische Effizienz und das unternehmerische Handeln Das Kriterium dynamischer Effizienz ist untrennbar mit dem Konzept des unternehmerischen Handelns verbunden. Um das nun vorzustellende ökonomische Konzept der dynamischen Effizienz umfassend verstehen zu können, muss man zunächst, wenn auch nur kurz, auf das Konzept und die grundlegenden Eigenschaften des unternehmerischen Handelns (d. h. die grundlegende Fähigkeit, die Kreativität und die spontane Koordination des Marktgeschehens zu fördern) eingehen. Der etymologische Ursprung des Begriffs „Unternehmertum“ (entrepreneurship) kommt vom Lateinischen in prehendo, und bedeutet so viel wie „entdecken“, „sehen“, „auf [etwas] aufmerksam werden“. In diesem Sinne können wir das Unternehmertum (entrepreneurship) als die typisch menschliche Fähigkeit, die Profitmöglichkeiten des Umfeldes zu erkennen und im Hinblick auf deren Nutzung entsprechend zu handeln, definieren. Das Unternehmertum beinhaltet somit auch einen bestimmten wachsamen Scharfsinn (auf Spanisch perspicacia), den das Diccionario de la Real Academia Española (Wörterbuch der Königlich Spanischen Akademie) als „sehr scharfen und weitreichenden Blick“ definiert. Auf das Konzept des Unternehmertums kann auch ohne weiteres der Begriff spekulieren angewandt werden. Der lateinische Ursprung specula bezeichnet die Wachtürme, von denen aus die Wächter weit in die Ferne blicken und somit alles Herannahende von weitem erkennen konnten.23 Die wichtigsten Eigenschaften des oben genannten Begriffs des Unternehmertums im Hinblick auf die dynamische Effizienz sind: 1.  Das Unternehmertum schafft immer neue Information, d. h., jede unternehmerische Handlung basiert auf der Entdeckung einer neuen Information, die der Handelnde zuvor noch nicht besaß, nämlich die Entdeckung einer Profitgelegenheit, die bisher unbeachtet blieb. Das Wissen, das die Unternehmer durch ihr Handeln fortwährend erzeugen, ist subjektiv, praktisch (insofern es nur durch das unternehmerische Handeln und in dessen entsprechendem Umfeld geschaffen wird), verstreut (da jeweils ein winziger Bruchteil im Verstand eines jeden einzelnen Menschen vorhanden ist) und unausgesprochen (da es nur sehr schwer auf formale Weise ausgedrückt werden kann). 2. Aufgrund seiner Natur ist das Unternehmertum grundsätzlich kreativ, d. h., jede Art von sozialem Missverhältnis stellt eine Profitmöglichkeit dar, die bis zu ihrer Entdeckung durch den Unternehmer verborgen bleibt. Wenn z. B. B die Ressource R gering achtet und unbenutzt lässt, A sie jedoch dringend braucht, so besteht ein eindeutiges soziales Missverhältnis, das gleichzeitig eine Profitmög 23 Über das Unternehmertum und dessen wichtigsten Bestandteile und Eigenschaften siehe Huerta de Soto (2013), Kapitel 2.

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lichkeit verkörpert: Es genügt, dass der Unternehmer C auf dieses Missverhältnis aufmerksam wird, um R günstig von B zu kaufen und teuer an A zu verkaufen und auf diese Weise einen „reinen Unternehmensgewinn“ zu erwirtschaften. Wenn ein Unternehmer auf eine bisher unbeachtete Profitgelegenheit aufmerksam wird, schafft er in seinem Geist eine zuvor nicht-existierende Information, die nach Durchführung der unternehmerischen Handlung zu einem reinen Unternehmensgewinn führt. 3. Unternehmerisches Handeln übermittelt Information. Wenn Unternehmer C die Ressource R billig von B erwirbt, der viel von ihr hat und sie kaum nutzt, und C dann die Ressource an A, der R dringend braucht, zu einem hohen Preis verkauft, dann übermittelt C an A und B die Information, dass R verfügbar ist und bewahrt werden sollte. In aufeinanderfolgenden Wellen übermittelt er auch an den ganzen Markt die Information, dass R verfügbar ist und es potentielle Käufer gibt, die bereit sind, einen guten Preis für R zu bezahlen (Marktpreise sind starke Signale, die viele Informationen zu geringen Kosten übermitteln). 4. Unternehmerisches Handeln übt eine koordinierende Wirkung aus. Die oben beschriebene Handlung des Unternehmers hat zur Folge, dass A und B ihr Verhalten in Bezug auf die Bedürfnisse der anderen Marktteilnehmer abstimmen bzw. koordinieren: Sobald die soziale Fehlanpassung erkannt und beseitigt ist, spart B die Ressource R auf, um sie an A weiterzugeben, der sie dringend benötigt. 5. Das Unternehmertum beruht auf dem Wettbewerb. Das Wort „Wettbewerb“ (auf English: competition; auf Spanisch: competencia) kommt vom Lateinischen cum petitio und bezeichnet das Zusammentreffen mehrerer Kaufgesuche für ein und dasselbe Objekt, dem ein Besitzer zugeteilt werden muss. Das Unternehmertum ist deshalb wettbewerbsorientiert, weil eine Profitgelegenheit, die ein anderer Unternehmer bereits entdeckt bzw. geschaffen und genutzt hat, mit ihren spezifischen zeitlichen und räumlichen Koordinaten von keinem anderen Unternehmer mehr entdeckt, geschaffen und genutzt werden kann. Darum ist das unternehmerische Handeln in erster Linie ein ausdrücklich rivalisierender Wettbewerbs­prozess, in dem die Unternehmer miteinander darum konkurrieren, vor allen anderen die Profitmöglichkeiten ihres Umfeldes zu entdecken und zu nutzen. Der Duden definiert Wettbewerb als „etwas, woran mehrere Personen im Rahmen einer ganz bestimmten Aufgabenstellung und Zielsetzung in dem Bestreben teilnehmen, die beste Leistung zu erzielen, Sieger zu werden“ und als „Kampf um möglichst gute Marktanteile, hohe Profite, um den Konkurrenten zu überbieten, auszuschalten“.24 Unser Wettbewerbsbegriff hat natürlich nichts mit dem „Modell des vollkommenen Wettbewerbs“ zu tun, in dem die vielen Konkurrenten das Gleiche machen und das Gleiche zum gleichen Preis verkaufen – ein Modell, in dem paradoxerweise niemand wirklich konkurriert.

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Duden online, http://www.duden.de/rechtschreibung/Wettbewerb, 28. Februar 2012.

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6. Der unternehmerische Prozess wird nie unterbrochen und geht nie zu Ende. Entgegen der denkbaren These, der vom Unternehmertum vorangetriebene soziale Prozess könne einen Gleichgewichtszustand erreichen – mit anderen Worten, er würde enden, sobald die Unternehmer alle sozialen Fehlanpassungen und somit alle darin enthaltenen Gewinnmöglichkeiten entdeckt und ausgeschöpft hätten (und in der Tat sehen die meisten Gelehrten unserer Disziplin im „endgültigen Gleichgewichtszustand“ das einzig relevante Studienobjekt) –, besteht kein Zweifel daran, dass der unternehmerische Koordinierungsprozess sowohl ununterbrochen als auch unerschöpflich ist. Die Wahrheit ist, dass die unternehmerische Handlung koordiniert und neue Informationen erzeugt, die ihrerseits die allgemeine Erkenntnis von Zielen und Mitteln aller involvierten Unternehmer innerhalb des Marktes verändern. Daraus entstehen neue soziale Fehlanpassungen, welche die Unternehmer wiederum entdecken und beseitigen. Auf diese Weise bewirken sie in einem andauernden Schöpfungs- und Wissenserweiterungsprozess die Koordinierung der Gesellschaft. Ein stetiger Bevölkerungszuwachs unterstützt diesen Prozess, der in jeder geschichtlichen Epoche soweit koordiniert ist, wie es menschlich gesehen möglich ist (der koordinierte soziale „Big Bang“). Nachdem wir die grundlegenden Eigenschaften des unternehmerischen Prozesses beschrieben haben, sind wir nicht nur in der Lage, das wirtschaftliche Konzept der dynamischen Effizienz, sondern auch die Positionen der verschiedenen Autoren, die sich im Laufe der ökonomischen Ideengeschichte mit diesem Thema auseinandergesetzt haben, besser zu verstehen.

Das ökonomische Konzept der dynamischen Effizienz: Kreativität und Koordination Aus dynamischer Sicht ist ein Individuum, ein Unternehmen, eine Institution oder ein ganzes Wirtschaftssystem umso effizienter, je mehr es in der Lage ist, die oben beschriebene Kreativität und Koordinationsfähigkeit des Unternehmertums zu fördern. In der Auffassung der Theorie der dynamischen Effizienz geht es nicht so sehr darum, die Vergeudung bekannter und „gegebener“ Ressourcen zu vermeiden (darin besteht das Hauptziel aus Sicht des statischen Effizienzverständnisses), sondern vielmehr um die stetige Entdeckung und Schaffung neuer Ziele und Mittel. Es geht also um die Förderung der Koordination, wobei hingenommen wird, dass jede unternehmerische Handlung neue Fehlanpassungen hervorruft und darum in einer Marktwirtschaft immer ein gewisses Maß an nicht zu vermeidenden Verlusten besteht. Folglich können wir behaupten, dass der dynamische Aspekt der Effizienz der wichtigere ist. Auch wenn die Leistung eines Wirtschaftssystem mit keinem der Punkte auf der Produktionsmöglichkeitenkurve übereinstimmt, können alle Mit-

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glieder dieses Systems Gewinne erzielen, wenn die unternehmerische Tätigkeit die Kurve immer weiter hinausschiebt und somit für jeden die Profitmöglichkeiten verbessert, und zwar durch einen kontinuierlichen und schöpferischen Zufluss an neuen Zielen und Mitteln, die vor der unternehmerischen Entdeckung noch völlig unbeachtet waren. Es ist ebenso wahr und von größter Bedeutung, dass der dynamische Aspekt der wirtschaftlichen Effizienz den statischen Aspekt einschließt: Dieselbe unternehmerische Kraft, welche die dynamische Effizienz durch die Entdeckung und Schöpfung neuer Profitgelegenheiten voranbringt, ist auch die Triebkraft, die zum höchsten Grad statischer Effizienz führt, die dem Menschen immer dann möglich ist, wenn er bis dato bestehende Fehlanpassungen koordiniert. (Aufgrund des endlosen Flusses neuer Fehlanpassungen kann die Pareto-Optimalität in einer echten Marktwirtschaft jedoch nie gänzlich erreicht werden, und die Möglichkeit, dass bestehende Ressourcen verlorengehen, kann nicht vollständig beseitigt werden). Im Folgenden werden wir die Beiträge verschiedener Autoren, die sich aus der einen oder anderen Perspektive heraus mit dem Konzept der dynamischen Effizienz auseinandergesetzt haben, kommentieren. Es ist nicht verwunderlich, dass gerade die Tradition der Österreichischen Schule der Nationalökonomie (die, wenn überhaupt, vor allem für ihre Betonung des dynamischen Marktverständnisses und der führenden Rolle des Unternehmertums innerhalb der Marktprozesse bekannt ist) auf viele dieser Autoren einen starken Einfluss ausübte. Für eine ausführlichere Behandlung dieser Sichtweisen verweisen wir den Leser auf das, was Mises und Hayek in ihren Hauptwerken über den Markt als ein vom Unternehmertum vorangetriebener dynamischer Prozess (Mises) und den Wettbewerb als Entdeckungsprozess (Hayek) geschrieben haben.25

Israel M. Kirzner und die Idee der dynamischen Effizienz Kirzner ist der große Gelehrte der Gegenwart, der auf den Spuren von Mises und Hayek eine ausführliche Analyse des Unternehmertums durchgeführt hat. Als einer der bedeutendsten Theoretiker hat er sich mit dem dynamischen Effizienzkonzept auseinandergesetzt, das er als „die Fähigkeit, die unternehmerische Wach­samkeit (alertness) für nützliches Wissen, dessen Existenz im Vorhinein nicht einmal geahnt werden konnte, zu fördern,“ versteht. Kirzner hält die unternehmerische Handlung für außergewöhnlich koordinierungsfähig und versteht die soziale Koor­dination nicht in statischer oder paretianischer, sondern in dynamischer Weise, d. h. als einen „Prozess, in dem die Marktteilnehmer beiderseitige Gewinnmöglichkeiten erkennen und durch die Wahrnehmung solcher Gelegenheiten die früheren Fehler korrigieren“.26 25 26

Huerta de Soto (2011a), Kapitel 5 und 6. Kirzner (1997a), S. 67.

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Zudem hat Kirzner ausdrücklich auf den gänzlich wertfreien Charakter dieses auf Kreativität und Unternehmertum beruhenden dynamisch-effizienten Kriteriums hingewiesen: Wenn jemand die soziale Koordination fördern möchte, dann muss er freies Unternehmertum unterstützen; wenn jedoch jemandem die sozialen Fehlanpassungen und Konflikte lieber sind, so muss er dem Unternehmertum alle möglichen Hindernisse in den Weg legen.27 Eine reine Wirtschaftstheorie kann Ziele nie als gut oder schlecht bezeichnen, auch wenn dies den Menschen ohne Zweifel helfen würde, sich der ethischen Entscheidungen, die sie zu treffen haben, bewusst zu werden und leichter eine moralisch fundierte Position einzunehmen. Kirzners Idee der dynamischen Effizienz bleibt von den anderen Kritiken, die wir im Bezug auf die bisher vorherrschenden Kriterien statischer Effizienz dargestellt haben, unberührt. Schließlich zeigt Kirzner auf, dass der dynamische Aspekt der Effizienz für analytische Zwecke ein außerordentlich nützliches Werkzeug ist, um vergleichende Analysen von Institutionen und legislativen Alternativen auszuarbeiten. Tatsächlich ermöglicht eine dynamisch-effiziente Analyse eine Beurteilung, die zu einer viel eindeutigeren Position führt, die sich in vielen Fällen grundlegend von der unterscheidet, zu der eine rein statisch-effiziente Analyse normalerweise führt.28

Murray N. Rothbard und der Mythos der statischen Effizienz: Roy E. Cordatos Versuch einer Synthese Auch Rothbard hat einen wertvollen Beitrag zur dynamisch-effizienten Analyse geleistet. Er hat betont, dass es sich bei dem Ideal „statischer Effizienz“, dem die Theoretiker der Wohlfahrtsökonomie in ihren Studien höchste Wichtigkeit beimessen, um nichts anderes als um einen Mythos handelt, denn es bedürfe, um operativ verwaltet zu werden, eines Umfeldes von Zwecken und Mitteln, das es unter den ständig wechselnden sozialen Umständen der wirklichen Welt so nie geben werde und noch viel weniger erkannt werden könne. Rothbard ist zudem wohl der einzige Autor, der die Verbindung zwischen dem Konzept dynamischer Effizienz und dem Bereich der Ethik derart ausführlich beleuchtet hat. In Anbetracht unserer fehlenden Kenntnis von Zwecken, Mitteln und Nutzenfunktionen, die es in der Gesellschaft tatsächlich gibt, erachtet Rothbard es als zwingend erforderlich, zuerst die passenden ethischen Rahmenbedingungen zu schaffen, mit denen die dynamische Effizienz stimuliert werden kann. Dieser ethische Rahmen enthält eine Reihe von Regeln, welche die Eigentumsrechte und den freiwilligen Handel, in dem die wahren Präferenzen der verschiedenen wirtschaftlichen Subjekte zum Ausdruck kommen, steuern. Rothbard ist der Meinung, dass aus-

27 28

Kirzner (1998). Kirzner (1997a), S. 64.

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1. Die Theorie der dynamischen Effizienz

schließlich die ethischen Prinzipien als Effizienzkriterien für Entscheidungen dienen können.29 Roy E. Cordato hat ein interessantes Buch veröffentlicht, in dem er aus wohlfahrtsökonomischer Sicht die wichtigsten Beiträge aus der Schule der Österreichischen Nationalökonomie im Allgemeinen, und die von Mises, Rothbard, Hayek und Kirzner im Besonderen, untersucht hat. Cordato kommt zu dem Schluss, dass das wichtigste Ziel in einer Marktwirtschaft nicht darin besteht, „optimale“ Resultate (das Ziel statischer Effizienz) zu erreichen, sondern vielmehr in der Festigung der Vorherrschaft eines passenden institutionellen Rahmens, der die unternehmerische Entdeckung und Koordination zu fördern in der Lage ist. Wirtschaftspolitik muss sich auf die Identifikation und Abschaffung künstlicher Hindernisse, die in den freiwilligen Handel und den unternehmerischen Prozess eingreifen, konzentrieren.30 Der Versuch Cordatos ist besonders verdienstvoll, weil er darauf abzielt, die Fenster der bereits überholten und tief in statischen Postulaten verwurzelten Wohlfahrtsökonomie weit aufzureißen und das subjektivistische und dynamische Marktverständnis, das bisher fast ausschließlich unter der Führung der Theoretiker der Österreichischen Schule ausgearbeitet wurde, durch sie hineinzulassen.

Joseph Alois Schumpeter und der „Prozess schöpferischer Zerstörung“ Joseph Alois Schumpeter ist vielleicht einer der bekanntesten Autoren, wenn es um die Anwendung eines besonderen Konzepts der dynamischen Dimension auf die Analyse der wirtschaftlichen Effizienz geht. Schumpeter begann seine Forschungen in diesem Bereich bereits im Jahre 1911, als er die erste deutsch­sprachige Auflage seiner Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung31 veröffentlichte. In diesem Buch folgt Schumpeter einer dezidiert Österreichischen Forschungslinie und beschreibt den Unternehmer als innovativ, insofern er neue Güter, neue Güterkombinationen und Versorgungsquellen erfindet und entdeckt, sowie technologische Innovationen einführt und neue Märkte schafft bzw. bestehende erweitert. Dreißig Jahre später, im Jahre 1942, führte Schumpeter diese Forschungslinie in seinem Buch Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie32 und besonders in den Kapiteln 7 und 8 desselben fort. Im siebten Kapitel, dessen Überschrift „Der Prozess schöpferischer Zerstörung“ lautet, beschreibt der Autor den wirtschaftlichen Entwicklungsprozess, der den Fortschritt des Kapitalismus ermöglichte und dadurch die innere Spannung zwischen den beiden Dimensionen der Effizienz, der dynamischen und statischen, ankündigte. Schumpeter kritisiert das traditionelle 29

Rothbard (1979), S. 95; Rothbard (1997), S. 211–254. Cordato (1992). 31 Schumpeter (1911). 32 Schumpeter (1946). Mark Blaug (1998), S. 7, hat ausdrücklich den Begriff „dynamische Effizienz“ im Hinblick auf Schumpeters Sichtweise verwendet. 30

Der ökonomische Begriff der dynamischen Effizienz

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Konzept statischer Effizienz, das in der neoklassischen Wirtschaftstheorie Verwendung findet, und kommt zu dem Schluss, dass der perfekte Wettbewerb nicht nur unmöglich, sondern auch unterlegen ist und somit kein Recht hat, als Vorbild idealer Effizienz dargestellt zu werden.33 Unsere Hauptkritik an Schumpeter richtet sich darauf, dass er das Gleichgewichtsmodell weiterhin als grundlegenden Referenzpunkt wirtschaftlicher Analyse betrachtet, denn er meint, die wirtschaftliche Welt befände sich ohne die Unternehmer „normalerweise“ in einem Zustand gleichmäßigen Fließens. Schumpeter sieht den Unternehmer deshalb als einen ausschließlich verzerrenden bzw. gleichgewichtsstörenden Faktor. Mit anderen Worten, Schumpeter konzentriert sich nur auf einen Aspekt des unternehmerischen Prozesses, nämlich auf jenen, den er mit dem inzwischen geläufigen Ausdruck „Prozess schöpferischer Zerstörung“ bezeichnet hat. Schumpeter übersieht jedoch, dass sich die wirtschaftliche Analyse, wie bereits dargelegt wurde, auf den dynamischen Prozess des Unternehmertums konzentrieren muss, und nicht auf das Gleichgewichtsmodell. Der echte Marktprozess verfügt nämlich neben der Fähigkeit zur „schöpferischen Zerstörung“ (die einzige Eigenschaft, über die Schumpeter spricht) auch über eine Fähigkeit, die hauptsächlich koordiniert und den Gesellschaftsprozess einem Gleichgewichtszustand näher bringt, der sich jedoch aufgrund neuer, annäherungsbedingter Fehlanpassungen nie gänzlich erreichen lässt. Schumpeter versteht den unternehmerischen Prozess als eine Art explosiver Gewalt, die durch die unternehmerische Schöpfungskraft die bestehende Ordnung verzerrt, bemerkt aber nicht, dass die gleiche Kraft, welche die schöpferische Zerstörung bewirkt, dazu tendiert, das System zu koordinieren und somit den sozialen „Big Bang“ unter jedweden historischen Bedingungen so harmonisch wie möglich zu gestalten. Im Gegensatz zu Schumpeter, der den Unternehmer als ausschließlich gleichgewichtsstörenden Faktor betrachtet, beginnt unser Verständnis dynamischer Effizienz mit der Vorstellung des Unternehmertums als einer sowohl schöpferischen als auch koordinieren Triebkraft, die den Markt und die Zivilisation andauernd vorwärts bringt.

Harvey Leibensteins Konzept der X-Effizienz Der Begriff X-Effizienz wurde erstmals von Harvey Leibenstein in seinem Aufsatz „Allocative Efficiency vs. X-Efficiency“ aus dem Jahre 1966 verwendet.34 Dort beschreibt Leibenstein die X-Effizienz als den Grad der Ineffizienz, die im Marktgeschehen auftrete, weil viele der die unternehmerischen Beziehungen regelnden Verträge unvollständig seien und obendrein die Aufgaben jedes einzelnen nicht ausreichend präzise festlegten. Als Ursachen der Ineffizienz betrachtet Leiben­ stein auch den psychischen Druck, dem die verschiedenen wirtschaftstreibenden 33 34

Vgl. Schumpeter (1946), Kapitel 8. Leibenstein (1966).

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1. Die Theorie der dynamischen Effizienz

Subjekte ausgeliefert sind, sowie die Last der Gewohnheit, Trägheit und Routine, die dazu führte, dass viele Aufgaben, deren Resultate verbessert werden könnten, in einem auf unbestimmte Zeit ineffizienten Zustand verblieben. Wir sollten auf den zumindest anfänglich recht zweideutigen Charakter des von Leibenstein formulierten X-Effizienz-Konzeptes hinweisen. Es scheint, als ob Leibenstein eine wichtige Einsicht erahnt hätte (die Existenz einer Art Ineffizienz, die in Gleichgewichtsmodellen völlig unbeachtet bleibt), doch letztlich zu deren eindeutigen Formulierung unfähig war. Zehn Jahre später antwortete Stigler (1976)35 unter dem ironisch gewählten Titel „The Existence of X-Efficiency“ auf Leibensteins Aufsatz mit der Aussage, die Menge an Ignoranz und Trägheit im Markt wäre in jedem Fall immer optimal, denn der Anstrengung, diese zu überwinden, würde genau dann ein Ende gesetzt werden, wenn die marginalen Kosten den erwarteten Gewinn überschritten. Leibenstein wurde später von Kirzner mit dem Argument unterstützt, dass es immer zumindest eine wichtige Quelle der X-Ineffizienz gibt: den echten Fehler des Unternehmers, nämlich eine Profitgelegenheit auf dem Markt zu übersehen, die somit unbeachtet bleibt und darauf wartet, in der Zukunft von anderen Unternehmern wahrgenommen zu werden.36 Anders ausgedrückt, Kirzner bringt es auf den Punkt, wenn er behauptet, dass wir dann, wenn wir per definitionem die Inexistenz der X-Ineffizienz in einem Umfeld von Gleichgewicht und perfekter Information einräumen (darin und in nichts anderem bestand das offenkundig irrelevante Argument Stiglers), das Konzept der X-Effizienz in einem analytischen und operativen Sinne nur retten können, indem wir es mit dem bereits ausführlich erläuterten Konzept der dynamischen Effizienz gleichsetzen. Diese Idee schien Leibenstein letztlich selbst akzeptiert zu haben. Ironischer Weise sah sich der Vater der X-Effizienz zum Eingeständnis genötigt, dass sein ursprünglich konfuses und vage formuliertes X-Effizienz-Konzept nur dann seinen (hohen) Grad an Relevanz bewahren kann, wenn wir es von seinen Unklarheiten und seiner Verschwommenheit befreien und als das Konzept der dynamischen Effizienz, wie es hier beschrieben wurde, identifizieren.37

Douglas C. North und sein Konzept der „adaptiven Effizienz“ Der Wirtschaftsnobelpreisträger Douglas C.  North bemängelt das rein allokative Konzept der Pareto-Effizienz, welches unter neoklassischen Wirtschaftswissenschaftlern vorherrscht, und schlägt die alternative Idee der anpassungsfähigen (adaptativen) Effizienz vor. Gemeint ist „die Fähigkeit einer Gesellschaft, sich Wissen anzueignen, zu lernen, Neuerungen einzuführen, Risiken auf sich zu

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Stigler (1976). Kirzner (1979). 37 Zur X-Effizienz siehe auch Frantz (1988). 36

Der ökonomische Begriff der dynamischen Effizienz

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nehmen und kreative Handlungen aller Art durchzuführen, und die Probleme und Engpässe der Gesellschaft im Laufe der Zeit zu lösen“.38 North schließt ganz offensichtlich eine Reihe von Attributen, die gänzlich mit jenen der von uns bereits analysierten dynamischen Effizienz übereinstimmen, in seine Definition mit ein: die Erlangung von Wissen, Kreativität, Innovation usw. Außerdem, und das ist vielleicht das, was North am meisten charakterisiert, konzentriert der Autor sich auf den institutionellen Rahmen jener Leitlinien, die sowohl die Kreativität als auch die Anpassungsfähigkeit der verschiedenen Gesellschaften fördern, und nennt als historische Beispiele von Flexibilität und Anpassungsfähigkeit die Gesellschaften Europas und Nordamerikas. Unsere hauptsächliche Kritik an Douglas C. North bezieht sich darauf, dass er es unterlassen hat, ausdrücklich das Unternehmertum als die vitale Kraft hinter jedem Marktprozess zu erfassen, d. h., North bezieht sich fast ausschließlich auf die allgemeine Fähigkeit einer Gesellschaft, sich an „externe“ Veränderungen und Schocks anzupassen, welche die Gesellschaft von außen her beeinflussen. Aus diesem Verständnis heraus legt uns North die Verwendung des Ausdrucks „adaptive Effizienz“ nahe. Der Zugang Norths ist darum eher reaktiv als pro-aktiv. North scheint sich tatsächlich nicht bewusst zu sein, dass genau jener unternehmerische Impuls, der die dynamische Effizienz und ihre koordinierende Fähigkeit ausmacht, die (endogenen und darum nicht exogenen) Veränderungen und Schocks auslöst, die wiederum jene Probleme hervorrufen, denen sich die Gesellschaften anpassen müssen. North fällt darum genau in das entgegengesetzte Extrem, das von Schumpeter vertreten wird. Während dieser nur den Aspekt der unternehmerischen Kreativität und ihrer zerstörerischen Kraft (der Prozess „kreativer Zerstörung“) sieht, konzentriert sich North ausschließlich auf den anderen Aspekt, nämlich auf die adaptive bzw. koordinierende Fähigkeit des Unternehmertums und übersieht dabei dessen gleichzeitig immer auch kreative Dimension. In diesem Sinne kann man behaupten, dass unsere Theorie der dynamischen Effizienz, die vom Unternehmertum angeheizt wird, auf angemessene Weise die kreative und die koordinierende Dimension miteinander verbindet. Schumpeter und North haben diese jeweils getrennt, nur teilweise und auf reduktionistische Weise untersucht und dabei jeweils wichtige Elemente ausgeschlossen.

38 North (1990), S. 80–82, 99, 136; North (1999), S. 17 f. Stromberg (2002) bietet die beste kritische Auseinandersetzung mit North aus Sicht der Österreichischen Schule.

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1. Die Theorie der dynamischen Effizienz

Dynamische Effizienz und die Transaktionskostentheorie von Ronald H. Coase Es scheint nun angebracht zu sein, einiges zur möglichen Verbindung des Konzeptes dynamischer Effizienz mit der Transaktionstheorie von Ronald H. Coase, die in vielen Bereichen der wirtschaftlichen Analyse bedeutenden Einfluss gewonnen hat, anzumerken.39 Der wahrscheinlich entscheidende Unterschied der beiden Ansätze wurde von Israel Kirzner aufgezeigt. Kirzner sieht das größte Hindernis für die dynamische Effizienz nicht so sehr in den Transaktionskosten, sondern vielmehr in dem, was er den „reinen oder echten unternehmerischen Fehler“ bezeichnet und der dann im Markt vorkomme, wenn ausreichende unternehmerische Wachsamkeit fehle.40 Mit anderen Worten, auch wenn wir uns ein hypothetisches Nirwana41 oder eine „ideale Welt ohne Transaktionskosten“ vorstellen könnten, so wäre ein derartiges System dennoch unfähig, das Ideal dynamischer Effizienz zu erreichen, wenn viele Profitmöglichkeiten aufgrund reiner bzw. echter unternehmersicher Fehler unentdeckt blieben bzw. nicht geschaffen oder wahrgenommen würden. Entgegen allem Anschein weist der Transaktionskostenansatz letztlich viele jener Mängel auf, die wir im Bezug auf die statische Dimension der Effizienz behandelt haben. Insbesondere setzt eine vergleichende Analyse der Institutionen (die auf den Transaktionskosten jeder einzelnen Institution beruht) voraus, dass diese Kosten gegeben und bekannt sind und außerdem die Möglichkeit besteht, eine Institution neu zu gestalten und die Transaktionskosten in jeder einzelnen Situation zu verändern. Nichtsdestotrotz kann sich die gesamte Transaktionskostenstruktur, die als Bezugsrahmen für die Analyse gewählt wurde, ohne Vorwarnung radikal verändern, wenn ein rein unternehmerischer Schöpfungsakt zur Entdeckung neuer Alternativen, Produktionsmöglichkeiten und, allgemein, zu neuen Lösungen führt, die von den Unternehmern bislang unbeachtet blieben. Wie wir später noch im Detail sehen werden, kann die ursprüngliche Verteilung von Eigentumsrechten aus Sicht der dynamischen Effizienz, die in der unternehmerischen Kreativität und Koordination verwurzelt ist, nie irrelevant sein (auch nicht im Extremfall gänzlich fehlender Transaktionskosten, wovon das Theorem von Coase fälschlicherweise ausgeht). In der Tat ist es die Verteilung von Eigen 39

Zu den jüngsten Erörterungen des Themas siehe Zerbe (2001). Kirzner (1973), S. 225–234. 41 Harold Demsetz (1989), Kapitel 1, kritisiert am Nirwana-Zugang vieler neoklassischer Wirtschaftstheoretiker (Arrow und andere) – der darin bestehe, gegenwärtige mit idealen In­ stitutionen, die in der realen Welt niemals existieren könnten, zu vergleichen –, dass die Transaktionskosten einer Übertragung des bestehenden Systems in ein „Nirwana“ untragbar wären. Auch wenn wir die Position von Demsetz als einen verdienstvollen Fortschritt im Realismus der Analyse betrachten, so ist sie dennoch nicht gänzlich passend, weil sie übersieht, dass das wesentliche Problem nicht so sehr eine Frage der Transaktionskosten, sondern vielmehr rein unternehmerischer Natur ist. 40

Der ökonomische Begriff der dynamischen Effizienz

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tumsrechten innerhalb jenes ethischen Rahmens, den wir später untersuchen werden, in dem die dynamische Effizienz erst möglich wird, die zu jeder spezifischen Zeit und an jedem spezifischen Ort bestimmt, wer von den einzelnen Anreizen motiviert wird, die wiederum für die Erweckung der unternehmerischen Tätigkeit mit ihren beiden Dimension (Kreativität und Koordination) notwendig sind. Mit anderen Worten, sieht man es vom Standpunkt der auf dem Unternehmertum basierenden dynamischen Effizienz, dann ist das Theorem von Coase, unabhängig davon, wie es interpretiert wird, wissenschaftlich ungültig, da die Verteilung der Eigentumsrechte selbst in einem hypothetischen Institutionenszenario, in dem es keine Transaktionskosten gibt, nicht irrelevant wird, sofern die dynamische Effizienz das Ziel ist.42

Das Konzept der dynamischen Effizienz in ökonomischen Fachbüchern Der dynamische Aspekt der wirtschaftlichen Effizienz wurde von den meisten Fachbuchautoren regelrecht ausgeblendet. Dies offenbart wieder einmal die vorherrschende Fixierung der Wirtschaftswissenschaft auf die Komparative Statik und das Gleichgewichtsmodell, die wiederum zeigt, wie dringend und notwendig ein Paradigmenwechsel ist, in dem die dynamische Marktanalyse sowie das dynamische Effizienzkonzept Berücksichtigung finden. Nur vier von zwanzig der bekanntesten Wirtschaftshandbücher in Englisch, Spanisch, Französisch, Deutsch oder Italienisch beinhalten einen ausdrücklichen Hinweis auf die dynamische Effizienz. Die meisten dieser rühmlichen Ausnahmen bieten jedoch nur eine spärliche Behandlung des Themas. Es fehlt eine zusammenhängende Einbindung der Debatte im Rahmen einer Gesamtdarstellung, die eine Bewertung der in den Lehrbüchern behandelten diversen Institutionen und Alternativen nach den Kriterien der dynamischen Effizienz ermöglichen würde. Es folgt nun ein Überblick der interessantesten Annäherungen an die dynamische Effizienz.43 Obwohl das Lehrbuch von Gwartney und Stroup Economics: Private and P ­ ublic Choice44 den Begriff „dynamische Effizienz“ nicht ausdrücklich beinhaltet, so 42 Die These von Coase bezüglich der Irrelevanz der eigentumsrechtlichen Struktur (ohne jegliche Transaktionskosten) wurde von Gary North als die „Don Corleone Theorie der Eigentumsrechte“ bezeichnet und widerspricht grundsätzlich unserem Standpunkt, der auf der Verbindung von Ethik und dynamischer Effizienz beruht. Siehe North (2002). 43 Die Auswahl der von uns konsultierten Handbücher schließt die wohlbekannten Werke folgender Autoren ein: Samuelson; Lipsey; Friedman (Milton); Friedman (David); Stiglitz; Kreps; Fisher-Dornbusch-Schmalense; Mankiw; Wonnacott und Wonnacott; Alchian und Allen; Sloman; Boulding; Bresciani-Turroni; Gwartney und Stroup; Dolan und Lindsey; Barre; Kasper und Streit; Hardwick-Khal-Langmead; Gimeno und Guirola; González Paz; Mochón; O’Driscoll und Rizzo. 44 Gwartney / Stroup (1983), 416–419.

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1. Die Theorie der dynamischen Effizienz

wird darin dennoch erklärt, dass sich die Welt aufgrund des unternehmerischen Handelns und der Konkurrenz unter den Unternehmern in einem Zustand stetiger Veränderung befindet. Die Autoren meinen, dass diese ständige Veränderung die Wirtschaftswissenschaftler dazu zwinge, die traditionellen Grundkenntnisse statischer Effizienz neu zu bewerten. Dolan und Lindsey45 stellen eine viel explizitere Analyse der dynamischen Effizienz zur Verfügung, besonders im Hinblick auf die bestehenden Unterschiede zwischen der statischen und der dynamischen Effizienz, die sie als „die Fähigkeit eines Wirtschaftssystems, die Produktionsmöglichkeitenkurve nach rechts zu verschieben“ bezeichnen. Im Gegensatz dazu bezeichnen sie die statische Effizienz als „die Fähigkeit eines Wirtschaftssystems, auf der Produktionsmöglichkeitenkurve zu stehen bzw. sich dort zu situieren.“ Außerdem beziehen sich Dolan und Lindsay auf die bahnbrechenden Beiträge Schumpeters im Bereich der dynamischen Effizienz und betrachten die Innovation und die technologischen Erfindungen als deren treibenden Kräfte, auch wenn sie die schöpferische Fähigkeit des Unternehmertums unablässig als den wesentlichen Beitrag der Österreichischen Schule angeben. Die Verfasser dieses Lehrbuches gehen sogar so weit, die möglichen Verluste an statischer Effizienz für die US-amerikanische Wirtschaft vom 2. Weltkrieg bis heute zu schätzen und beziffern diese auf durchschnittlich 2,5 % des amerikanischen Bruttoinlandproduktes. Zudem glauben die Autoren nach eigenem Bekunden, dass diese Verluste bei Weitem durch die Gewinne an dynamischer Effizienz, die im gleichen Zeitraum als Ergebnis der schöpferischen und koordinierenden Fähigkeit des amerikanischen Unternehmertums erzielt wurden, ausgeglichen werden konnten. Im Jahre 1998 veröffentlichten Wolfgang Kasper und Manfred E.  Streit ein wichtiges Handbuch zur ökonomischen Analyse der Institutionen. Die Autoren definieren in ihrem Buch die dynamische Effizienz als „eine innewohnende Eigenschaft, sich neuem Wissen anzupassen, auf neues Wissen zu antworten oder neues Wissen zu entwickeln“.46 Wie man sieht, nähern sich Kasper und Streit in ihrem Lehrbuch stark der Theorie der dynamischen Effizienz. Außerdem kritisieren die Autoren, ebenso wie Demsetz, den für die neoklassische Methodologie typischen „Nirwana-Ansatz“, der darin besteht, die Realität mit der Utopie statischer Effizienz zu vergleichen. Kasper und Streit kommen zu dem Schluss, dass viele der sogenannten „Marktversagen“ von einem dynamischen Gesichtspunkt her nicht als solche betrachtet werden können, da sie entweder Kreativität und die Einführung neuer Technologien fördern (wie im Falle von sogenannten „Monopolen“), oder die grundlegenden Eigenschaften realer Märkte darstellen (wie im Falle der „asymmetrischen Information“ oder des nicht versicherbaren jedoch eng mit dem Unternehmertum verknüpften moral hazard usw.). Aus diesem Grund sind diese Autoren der Meinung, dass der Analytiker wirkliche Institutionen nicht mit idealen 45 46

Dolan / Lindsay (1988), S. 489–692. Kasper / Streit (1998), S. 58.

Der ökonomische Begriff der dynamischen Effizienz

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und außer Reichweite stehenden Modellen (wie die Theoretiker der Wohlfahrtsökonomie es bisher getan haben), sondern nur mit alternativen Institutionen, die tatsächlich verwirklicht werden können und sowohl die Kreativität als auch die Koordinationsfähigkeit des Unternehmertums fördern, vergleichen kann. Mithin ergänzen Kasper und Streit Demsetz’ Intuitionen um die Theorie Hayeks zur Entstehung und die Schaffung des Wissens, welches die Unternehmer andauernd im Marktprozess entdecken. In ähnlicher Weise argumentieren O’Driscoll und Rizzo in ihrem Buch The Economics of Time and Ignorance, dass es unangebracht sei, den wirklichen Marktprozess dafür zu kritisieren – wie es die neoklassischen Autoren oft tun –, nicht auf der Produktionsmöglichkeitenkurve zu stehen, d. h., aufgrund der Existenz sogenannter „Marktversagen“ nicht statisch effizient sein zu können. Nach Meinung dieser Autoren geht derlei Kritik davon aus, man könne jene Informationen er­kennen, die nur im realen Marktprozess entstehen und die, wenn sie a priori erkannt werden könnten, den Prozess unnötig und überflüssig machen würden. Mit anderen Worten, niemand kann die Produktionsmöglichkeitenkurve kennen, weil sie nicht gegeben ist, sondern durch die unternehmerische Tätigkeit ständig unterbrochen und nach rechts verschoben wird. Den Markt als fehlerhaft zu bezeichnen, weil er nicht jene Grenze zu erreichen vermag, die niemand kennt und sich ständig verändert, stellt nicht nur einen schwerwiegenden methodologischen Fehler dar, sondern kann auch zu der absurden Rechtfertigung regulativer Wirtschaftspolitik führen, die letztlich den realen Marktprozess hindert, obwohl gerade dieser Prozess die treibende Kraft hinter der fortwährend quantitativen und qualitativen Steigerung der Produktionsmöglichkeitenkurve darstellt.47 Wir wollen unsere Übersicht zu den Lehrbüchern, die, wenn auch nur oberflächlich, den Begriff der dynamischen Effizienz behandelt haben, aber nicht abschließen, ohne den interessanten Fall des Werkes von Wonnacott und Wonnacott erwähnt zu haben. Die Autoren beharren auf ihrer grundsätzlich „statischen“ Definition der „dynamischen Effizienz“ als die „optimale Rate technologischer Veränderung“. Das Kriterium, mithilfe dessen bestimmt werden kann, ob sich ein Wirtschaftssystem der „optimalen“ Rate nähert, wird nicht erläutert. Nach Meinung dieser Autoren ist es das Modell der perfekten Konkurrenz, das die dynamische Effizienz stimuliert, weil es die Unternehmen dazu zwinge, immer schneller neue Technologien auf den Markt zu bringen. Das Buch verweist auch auf die Debatte darüber, ob es die Konkurrenz oder das Monopol jenes Systems sei, das die Schöpfung und Entdeckung neuer Technologien am meisten fördert. In jedem Fall ist der Ansatz von Wonnacott und Wonnacott in Bezug auf die dynamische Effizienz nicht nur gänzlich abhängig von deren statischem Wirtschaftsverständnis, sondern auch ziemlich verwirrend (und besorgniserregend). Es scheint so, als ob die Autoren ihrem Lehrbuch den entsprechenden Paragraphen hinzugefügt hätten, um ein als wichtig erachtetes Thema abzuhandeln, dann aber verabsäumt 47

O’Driscoll / Rizzo (1998). S. 88 ff.

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1. Die Theorie der dynamischen Effizienz

hätten, es mit einer dynamischen Analyse der wirklichen, vom Unternehmertum angetriebenen Marktprozesse zu unterlegen.48 Um diesen kurzen Überblick der im Lehrbetrieb am häufigsten verwendeten wissenschaftlichen Literatur abzuschließen, können wir behaupten, dass die Wirtschaftswissenschaftler, trotz vereinzelter Ausnahmen, die wir weiter oben zitiert haben, generell noch weit davon entfernt sind, das Prinzip der dynamischen Effizienz zu akzeptieren und dieses sowie die Schlussfolgerungen, die sich aus der dynamischen Dimension der wirtschaftlichen Effizienz ziehen lassen, systematisch anzuwenden. Sobald sie es aber tun – und kein Studienbereich der angewandten Wirtschaftswissenschaften schließt die dynamische Effizienz aus –, wird die dynamische Analyse möglicherweise in allen Lehrbüchern Eingang finden und so als grundlegendes Standardmaterial in allen von Studenten weltweit verwendeten Wirtschaftshandbüchern behandelt werden.

Das Verhältnis von Ethik und dynamischer Effizienz Einführung Wie wir bereits im zweiten Kapitel angedeutet haben, werden Effizienz und Ethik von dem im statischen Rahmen neoklassischer Theorie formulierten „zweiten Grundsatz der Wohlfahrtsökonomie“ als zwei verschiedene Dimensionen betrachtet, die sich unterschiedlich miteinander kombinieren lassen.49 Aus wohlfahrtsökonomischer Sicht existieren tatsächlich viele pareto-optimalen Situationen (jedes Pareto-Optimum wird von jeweils einem Punkt auf der Produktionsmöglichkeitenkurve dargestellt), wobei jeder dieser Punkte einem jeweils anderen ethischen Umverteilungsmodell entspricht. In der Version von Bergson-Samuelson könnte z. B. eine hypothetische „Sozialwohlfahrtsfunktion“ das gesellschaftlich akzeptierte Umverteilungsmodell in sich aufnehmen und somit das optimum optimorum dort bestimmen, wo sich Produktionsmöglichkeitenkurve und Wohlfahrtsfunktion kreuzen. Diese Art von Analyse hat viele Denker zu der Annahme geführt, die Theorie sei zu vage, um ein wirtschaftliches System zu beurteilen, denn sie behaupten, eine derartige Beurteilung hänge letztlich von Werturteilen ab, die außerhalb des wirtschaftstheoretischen Bereichs lägen. Das gesamte Mainstream-Paradigma bricht gänzlich in sich zusammen, sobald man dem dynamischen Konzept der Wirtschaftlichkeit Eintritt verschafft, denn nicht alle ethischen Umverteilungssysteme sind mit der dynamischen Effizienz (verstanden als unternehmerische Kreativität und Koordinationsfähigkeit)

48

Wonnacott / Wonnacott (1986), S. 492, 771. Wie wir bereits gesehen haben, kann man aufgrund des Theorems von Coase zu einem ähnlichen Schluss kommen. 49

Das Verhältnis von Ethik und dynamischer Effizienz

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vereinbar. Es eröffnet sich darum dem Wirtschaftstheoretiker ein faszinierendes Forschungsgebiet, wenn er herausfinden will, welche Prinzipien der Sozialethik bzw. der Verteilungsgerechtigkeit mit den (für die dynamische Effizienz charak­ teristischen) Marktprozessen vereinbar sind und auf diese eine stimulierende Wirkung ausüben.

Die Ethik als notwendige und hinreichende Voraussetzung für die dynamische Effizienz Die meisten der bisher vorherrschenden Positionen zu Sozialethik und Verteilungsgerechtigkeit bilden das „ethische Fundament“ wichtiger politischer und sozialer Bewegungen („sozialistischer“ oder „sozialdemokratischer“ Natur) und sind in einem statischen Verständnis der Effizienz verwurzelt. Das etablierte Paradigma neoklassischer Wirtschaftstheorie beruht auf der Annahme, der objektive und (sicher oder wahrscheinlich) gegebene Charakter der Information erlaube eine darauf basierende Kosten-Gewinn-Rechnung. Außerdem behauptet das neoklassische Paradigma, dass es keinerlei Verbindung zwischen dem Gebiet der Nutzenmaximierung und der Moral gebe und diese beiden somit in beliebigen Proportionen miteinander kombiniert werden könnten. Die dominierende statische Sichtweise führte außerdem unausweichlich zu dem Schluss, dass die Ressourcen in gewisser Hinsicht gegeben und bekannt seien und folglich das wirtschaftliche Problem ihrer Verteilung vom Problem ihrer Herstellung gänzlich losgelöst betrachtet werden könne. Angenommen, die Ressourcen wären tatsächlich gegeben, dann wäre es von höchster Wichtigkeit herauszufinden, wie die Ressourcen, die verfügbaren Produktionsmittel und das Endergebnis der verschiedenen Produktionsprozesse unter den Menschen verteilt werden müssen. Dieses ganze Gedankenwerk fällt im Lichte des neuen dynamischen (auf der Theorie des Unternehmertums und der dynamischen Effizienz beruhenden) Verständnisses der Marktprozesse wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Von ihm aus gesehen, besitzt jede menschliche Person eine ihr innewohnende schöpferische Kraft, die es ihr ermöglicht, die in ihrem Umfeld entstehenden Profitmöglichkeiten zu erkennen und zu entdecken und im Hinblick auf deren Nutzung zu handeln. Das Unternehmertum besteht darum aus der zutiefst menschlichen Fähigkeit, ständig neue Ziele und Mittel zu schaffen und zu entdecken. Insofern sind die Ressourcen nie gegeben, sondern werden sowohl Ziele als auch Mittel von den Unternehmern im unentwegten Streben nach neuen Zielen, in denen sie einen Wert entdecken, immer wieder ex novo ausgedacht. Gleichzeitig verbindet sich die schöpferische Kraft des Unternehmertums mit dessen Koordinationsgabe. Wenn also die Ziele, Mittel und Ressourcen nicht „gegeben“ sind, sondern ständig aufs Neue durch das unternehmerische Handeln der Menschen als solche geschaffen werden, versteht es sich von selbst, dass das grundlegende ethische Problem nicht mehr in der gerechten Verteilung „des Gegebenen“ besteht, sondern in der mit der menschlichen

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1. Die Theorie der dynamischen Effizienz

Natur in Einklang stehenden Förderung der unternehmerischen Kreativität und Koordinationsfähigkeit. Im Bereich der sozialen Ethik kommen wir daher zu dem grundlegenden Schluss, dass das Bild vom Menschen als ein kreativ und koordinierend handelndes Wesen die axiomatische Anerkennung des Prinzips einschließt, dass jede Person das Recht hat, sich die Ergebnisse ihrer unternehmerischen Kreativität anzueig­ nen, d. h., die private Aneignung der Früchte der unternehmerischen Schöpfung und Entdeckung ist ein naturrechtliches Prinzip. (Wenn ein handelndes Subjekt nicht in der Lage wäre, das, was es geschaffen oder entdeckt hat, für sich zu beanspruchen, dann würde seine Fähigkeit, Profitmöglichkeiten zu entdecken, zum Stillstand kommen und jeglicher Handlungsanreiz verschwinden.) Außerdem handelt es sich um ein universales Prinzip, das auf alle Menschen, zu jeder Zeit und an jedem erdenklichen Ort angewendet werden kann. Das soeben erläuterte Moralprinzip stellt die ethische Grundlage für jede Marktwirtschaft dar und bietet zudem noch andere charakteristische Vorteile. Erstens besitzt es eine starke, intuitive und universale Anziehungskraft: Es scheint ganz selbstverständlich zu sein, dass jemand, der etwas aus dem Nichts heraus erschafft, auch das Recht hat, es in Besitz zu nehmen, weil damit niemandem geschadet wird.50 (Das, was eine Person erschuf, existierte nicht, bevor es von ihr erschaffen wurde. Somit schadet die Erfindung niemandem, nützt aber zumindest dem Erfinder, vielleicht auch vielen anderen Menschen.) Zweitens ist das oben beschriebene Prinzip ein universal gültiges Moralprinzip, das eng mit dem traditio­ nellen Grundsatz des römischen Rechts bezüglich der ursprünglichen Aneignung von Ressourcen, die bisher niemandem gehörten (occupatio rei nullius), verbunden. Außerdem bietet es eine Lösung für das paradoxe Problem im sogenannten „Lockeschen Proviso“. Dieses setzt der ursprünglichen Aneignung nämlich folgende Grenze: eine „ausreichende Anzahl“ von Ressourcen muss für die restlichen Menschen übrig gelassen werden. Das Prinzip, das wir verteidigen, beruht auf der Kreativität, wodurch das „Lockesche Proviso“ nicht notwendig ist: Kein Produkt menschlicher Kreativität existiert, bevor es auf unternehmerische Wese entdeckt bzw. erschaffen wurde, und seine Aneignung kann daher niemandem schaden. Die Auffassung Lockes ist daher nur sinnvoll in einem statischen Umfeld, in dem die „Gegebenheit“ bereits existierender Ressourcen, die sich nicht verändern und auf eine im Vorhinein festgelegte Anzahl an Personen aufgeteilt werden müssen, vorausgesetzt wird. Wenn wir die Wirtschaft als einen dynamischen und unternehmerischen Prozess verstehen, dann muss das regulative Moralprinzip jeder sozialen Interaktion auf der Ansicht beruhen, dass die gerechteste Gesellschaft jene ist, die am energischsten die unternehmerische Kreativität aller ihrer Mitglieder fördert. Damit 50 Unser Beispiel einer asozialen Person, die patholgisch neidisch ist, konstituiert einen Ausnahmefall.

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dieses Ziel erreicht werden kann, muss eine Gesellschaft jedem ihrer Mitglieder von vornherein garantieren, dass es die Früchte seiner unternehmerischen Kreativität zu eigenen machen darf und niemand ihm diese teilweise oder ganz wegenehmen darf, auch nicht von staatlicher Seite. Mithin müssen wir zu dem Schluss kommen, dass das bereits genannte Moralprinzip, das auf dem privaten Eigentum all dessen beruht, was auf unternehmerische Weise geschaffen oder entdeckt wurde, und somit auf dem freiwilligen Austausch aller Güter und Dienstleistungen gründet, sowohl die notwendige als auch die hinreichende Bedingung dynamischer Effizienz ist. Dieses Prinzip ist deshalb eine notwendige Bedingung, weil die Missachtung des Privateigentums an den Früchten einer jeden menschlichen Handlung nicht nur den stärksten Anreiz für die Schaffung und Entdeckung von Profitmöglichkeiten zerstört, sondern auch die eigentliche Quelle von Kreativität und Koordination, welche die dynamische Effizienz des Systems in Gang hält (und die entsprechende Produktionsmöglichkeitenkurve nach rechts verschiebt). Die Ethik des Privateigentums konstituiert jedoch nicht nur die notwendige, sondern auch die hinreichende Bedingung dynamischer Effizienz. In Anbetracht des Lebenstriebes, der allen Menschen eigen ist, bildet ein freiheitliches Umfeld, in dem es keinen Zwang gibt und Privateigentum respektiert wird, eine hinreichende Bedingung für die Entwicklung des unternehmerischen Schöpfungs- und Entdeckungsprozesses, der für die dynamische Effizienz charakteristisch ist. Menschen in ihren freien Handlungen zu hindern (egal in welchem Maße), indem man ihr Recht, das in Besitz zu nehmen, was auf unternehmerische Weise erschaffen wurde, beugt, ist nicht nur dynamisch ineffizient (weil es die schöpferische und koordinierende Fähigkeit blockiert), sondern auch grundsätzlich unmoralisch, weil eine derartige Nötigung das handelnde Subjekt davon abhält, das zu entwickeln, was seinem natürlichen Wesen zutiefst entspricht, nämlich seine innewohnende Fähigkeit, neue Ziele und Mittel zu schaffen, zu entdecken und entsprechend zu handeln, um seine Ziele zu erreichen. Indem der staatliche Zwang das unternehmerische Handeln des Menschen unterbindet, wird die kreative Fähigkeit der Menschen eingeschränkt und kann die für die soziale Koordination notwendige Information weder entstehen noch entdeckt werden. Aus diesem Grund sind der Sozialismus und der wirtschaftliche Interventionismus nicht nur dynamisch ineffizient, sondern auch ethisch verwerflich.51 Genau wegen der oben erläuterten Gründe ist der Sozialismus nicht nur ein intellektueller Irrtum, der die Menschen davon abhält, jene Informationen zu schaffen, welche die Planbehörde braucht, um die Gesellschaft mittels Zwangsbefehlen zu koordinieren, sondern auch aus ethischer Sicht unannehmbar, weil er mit der menschlichen Natur in Konflikt gerät. Mit anderen Worten, mittels der bisherigen Analyse kann man zeigen, dass das sozialistische und interventionistische ­System 51

Siehe Huerta de Soto (2013).

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1. Die Theorie der dynamischen Effizienz

amoralisch ist, weil es auf Gewaltanwendung gründet, die jede Person davon abhalten soll, das Ergebnis ihrer eigenen unternehmerischen Kreativität für sich zu beanspruchen. Insofern sehen wir, dass der Sozialismus nicht nur theoretisch unmöglich und dynamisch ineffizient, sondern gleichzeitig auch ein zutiefst unmoralisches Sozialsystem ist, weil er die intimste Seite der menschlichen Natur in Abrede stellt, wenn er Menschen vom freien Handeln abhält, ihnen die Früchte ihrer eigenen unternehmerischen Kreativität streitig macht und sie so hindert, ihre Möglichkeiten auszuschöpfen.52 Unserer Analyse entsprechend gibt es also nichts (dynamisch) Effizienteres als die Gerechtigkeit (in ihrem eigentlichen Sinne). Wenn wir den Markt als dynamischen Prozess verstehen, dann entspringt die dynamische Effizienz (verstanden als Koordination und Kreativität) dem Verhalten jener menschlichen Wesen, die sich gewissen moralischen Gesetzen (wie dem Respekt vor dem Leben, dem Privateigentum und der Vertragseinhaltung) verpflichtet fühlen. Auf diese Weise ermöglicht die menschliche Handlung, die jenen Moralprinzipien unterworfen ist, die Entfaltung eines dynamisch-effizienten Gesellschaftsprozesses, wie wir ihn beschrieben haben. In Anbetracht dieser Tatsachen können wir nun verstehen, warum die Effizienz aus dynamischer Sicht nicht mit verschiedenen Gerechtigkeitsmodellen vereinbar ist (wie es der zweite wohlfahrtsökonomische Grundsatz fälschlicherweise behauptet), sondern ausschließlich aus einem Gerechtigkeitsmodell hervorgehen kann (nämlich jenem, das auf dem Respekt vor Privateigentum und Unternehmertum gründet). Aus diesem Grund ist der Gegensatz von Effizienz und Gerechtigkeit schlicht und einfach falsch. Das Gerechte kann weder ineffizient, noch das Effiziente ungerecht sein. Die dynamische Analyse offenbart, dass Gerechtigkeit und Effizienz zwei Seiten einer einzigen Wirklichkeit sind, was wiederum die vollständige und zusammenhängende Ordnung im sozialen Universum bestätigt. Folglich erlaubt uns die Analyse der dynamischen Effizienz, nicht nur herauszufinden, welche moralischen Prinzipien diese Art von Effizienz möglich machen. Eigentlich ist es viel bedeutsamer und anspruchsvoller, dass die Analyse der dynamischen Effizienz uns obendrein erlaubt, alle sozialen Probleme in gleicher Weise objektiv und wissenschaftlich zu behandeln.53 52 Die Triebfeder der unternehmerischen Kreativität offenbart sich auch im Bereich der Nächstenhilfe und der ihr vorausgehenden Suche und systematischen Aufspürung jener Situationen, in denen andere Hilfe brauchen. Die unternehmerische Suche nach akuten Fällen menschlicher Not und nach Möglichkeiten, in denen man seinem Nächsten, der in Not ist, helfen kann, werden durch Zwangsmaßnahmen des Staates, die typische Mechanismen des sogenannten Wohlfahrtsstaates darstellen, neutralisiert und stark blockiert. Auf diese Weise ertränkt der eingreifende Staat die natürliche Sehnsucht des Menschen, seinem Nächsten zu helfen, und blockiert jene Handlungen, deren Ziel es ist, Bedürftigen durch freiwillige und spontane Kooperationen, die vielen Menschen sehr am Herzen liegen, zu helfen. Papst Johan­ nes Paul II. hat dieses und andere Themen in seiner Enzyklika Centesimus Annus eindringlich angesprochen; Papst (1991), Kapitel 4, Punkt 49. 53 Für eine auführliche Untersuchung der vorhergehenden Betrachtungen siehe Huerta de Soto (2013), Kapitel 8.

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Dynamische Effizienz und die persönlichen Moralprinzipien Wir haben bisher die grundlegenden Prinzipien der Sozialethik, in deren Rahmen die dynamische Effizienz möglich wird, besprochen. Außerhalb dieses Bereichs finden wir die innigsten Prinzipien der persönlichen Moral. Der Einfluss solcher Prinzipien auf die dynamische Effizienz wurde bisher nur wenig untersucht, und in jeder Hinsicht werden die persönlichen Moralprinzipien als ein von der Sozialethik gänzlich verschiedener und getrennter Bereich verstanden. Nichtsdestotrotz glauben wir, dass diese Separierung völlig ungerechtfertigt ist. In der Tat sind viele ethische und moralische Prinzipien für die dynamische Effizienz der sozialen Prozesse äußerst wichtig. Hinsichtlich dieser Standards entsteht folgendes Paradoxon: Wenn man diesen Standards auf der persönlichen Ebene nicht gerecht wird, dann entstehen mit Blick auf die dynamische Effizienz enorme Kosten. Wie auch immer, aus dynamischer Sicht führt es auch zu einer schwerwiegenden Ineffizienz, wenn man mit Behördengewalt versucht, den Menschen die Standards aufzuzwingen. Folglich kommt einigen sozialen Institutionen mehr Bedeutung zu, wenn es darum geht, die persönlichen Moralprinzipien, die aufgrund ihrer Natur nicht erzwungen werden können, für die dynamische Effizienz aber lebenswichtig sind, weiterzugeben und deren Befolgung zu fördern. So lernen die Menschen beispielsweise durch die Religion und die Familie diese Prinzipien zu verinnerlichen, permanent hochzuhalten und der nächsten Generation weiterzugeben.54 Die Prinzipien bezüglich der Sexualmoral, der Schaffung und uneingeschränkten Bewahrung der Institution Familie, der ehelichen Treue und Kinderbetreuung, der Zügelung atavistischer Triebe und insbesondere der Überwindung und Beschränkung ungesunden Neides usw.: für das erfolgreiche Funktionieren des gesellschaftlichen Schöpfungs- und Koordinationsprozesses und für die bestmögliche Förderung der dynamischen Effizienz in der Gesellschaft sind sie alle von entscheidender Bedeutung. Wenn ein Individuum an der Befolgung der Moralprinzipien scheitert, dann führt dies ausnahmslos immer zu beängstigenden Kosten, die nicht nur die verursachende Person betreffen, sondern auch eine große, mit ihr in mittelbarer oder unmittelbarer Verbindung stehende Gruppe Dritter. Derlei Verhalten kann die dynamische Effizienz eines ganzen Sozialsystems enorm beeinträchtigen. Viel schwerwiegender ist jedoch die Verbreitung unmoralischen Verhaltens durch einen systematischen Prozess sittlicher Korruption, der schlussendlich und auf vollständige Weise den gesunden und effizienten Sozialprozess lähmen kann. Aus diesem Grund eröffnet aus Sicht der Theorie dynamischer Effizienz die Erforschung der persönlichen Moralprinzipien sowie der verschiedenen sozialen Institutionen, welche die Einhaltung und Erhaltung der moralischen Prinzipien in der Gesellschaft 54 Diese Institutionen (die Familie, die Religion) spielen auch dann eine unverzichtbare Rolle, wenn es darum geht, den Menschen die Befolgung der allgemeineren Normen der Sozialethik (welche die Eigentumsrechte betreffen) anzugewöhnen.

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ermöglichen und fördern, ein äußerst wichtiges Forschungsfeld. Von ihm hoffen wir, dass es in der Zukunft einen entscheidenden Einfluss ausüben wird. Um die Möglichkeit und den Wert der Erforschung persönlicher Moralprinzipien zu illustrieren, wollen wir nun das Verhalten untersuchen, das Eheleute im ständigen Bemühen anstreben und entwickeln sollten, damit ihre Ehe lebendig und die Institution der Familie zu ihrem eigenen Wohl, und vor allem zu dem ihrer Kinder, erhalten bleibt. Wenn z. B. ein Familienvater seiner mehr oder weniger frivolen Sehnsucht nach einer attraktiven und jungen Begleitung nachgibt, dann wird es höchstwahrscheinlich zur Scheidung von seiner Ehefrau kommen, vor allem wenn diese älter ist und die Kinder fast erwachsen sind. Wenn sich ein derartiges Verhalten ausbreitet und zur Gewohnheit wird, dann werden sich Frauen vor einer möglichen Eheschließung und Familiengründung ernsthaft mit dem Risiko auseinandersetzen, dass sie von ihrem Mann nach vielen Jahren, die sie der Pflege und Erziehung der Kinder gewidmet haben, und zu einem Zeitpunkt, zu dem sie aufgrund ihres Alters und ihrer Fähigkeiten viele Nachteile auf dem Arbeitsmarkt in Kauf nehmen müssen, verlassen werden. Das Ergebnis wird nicht nur das Zerbrechen vieler Ehen und Familien sein, sondern auch, was noch schwerer wiegt, dass die Zahl der neuen Eheschließungen und Familiengründungen abnehmen wird und Frauen ihr Single-Dasein so lange wie möglich führen werden, um ihre berufliche Karriere und einen unabhängigen Lebensunterhalt zu sichern. All dies wird letztlich zu einem drastischen Geburtenrückgang führen. Mangels Immigration, die den Geburtenrückgang und den damit verbundenen Alterungsprozess der Bevölkerung ausgleichen könnte, wird der soziale Kreativitäts- und Koordinationsprozess des Unternehmertums, der die dynamische Effizienz anheizt, leiden. Sowohl der Fortschritt der Zivilisation als auch die wirtschaftliche und so­ ziale Entwicklung erfordern eine ständig wachsende Bevölkerung, die in der Lage ist, angesichts einer immer größeren Anzahl von Menschen den anschwellenden Umfang sozialer Informationen, den die unternehmerische Kreativität erzeugt, sicherzustellen. Die dynamische Effizienz hängt letztlich von der Kreativität und Koordinationsfähigkeit der Menschen ab. Bei gleichbleibenden Verhältnissen und wachsender Bevölkerung tendiert sie dazu, zu wachsen. Dies kann nur in einem bestimmten Rahmen moralischer Gesetze geschehen, welche die familiären Beziehungen regeln. Man kann sich leicht vorstellen, dass die persönlichen Moralprinzipien im Bereich der familiären Beziehungen für die dynamische Effizienz von entscheidender Bedeutung sind. Nichtsdestotrotz ist es ebenso wahr und nur scheinbar widersprüchlich, dass der Staat solche Prinzipien in keinem Fall durch Zwangsgewalt verordnen kann, wie es z. B. im Bereich des Strafrechts geschieht. Die strafrechtlichen Regeln beziehen sich hauptsächlich auf das Verbot gewisser Verhaltensweisen, die kriminelle Gewaltanwendung oder Betrug gegenüber anderen Menschen einschließen, d. h. Gewalt bzw. Gewaltandrohung, oder die Umsetzung krimineller Ziele durch Betrug oder Diebstahl. Im Vergleich dazu würde sich die Erzwingung persönlicher Moralprinzipien auch auf die dynamische Effizienz negativ

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auswirken: Nehmen wir die persönlichen Beziehungen innerhalb einer Familie! Sie gehören zum intimsten Bereich des menschlichen Lebens. Für einen außenstehenden Beobachter ist es praktisch unmöglich, alle notwendigen Informationen einzuholen, um ein wohlbegründetes Urteil über sie zu fällen. Noch weniger ist ihm möglich, anfallende Probleme zu lösen, wenn die betroffenen Parteien kein ausreichendes Interesse an deren Lösung haben. Würde der gesamte Rahmen persönlicher Moralprinzipien  – insofern diese überhaupt durch Gewaltanwendung durchgesetzt werden könnten – mit den rechtlichen Normen auf eine Stufe gesetzt werden, dann würde dies nur zu einer geschlossenen und inquisitorischen Gesell­ schaft führen, in der es praktisch keine persönlichen Freiheitsrechte mehr gäbe, auf denen das Unternehmertum beruht, das im ganzen Gesellschaftsprozess als einziges in der Lage ist, die dynamische Effizienz hervorzurufen. Die bisherigen Überlegungen beweisen, wie wichtig es ist, alternative und nicht auf Zwang beruhende Vorgehensweisen sozialer Kontrolle zu entwickeln, die es dem Menschen ermöglichen, die grundlegenden Normen persönlicher Moral zu erkennen, zu verinnerlichen und zu erfüllen. Religiöse Gefühle und Prinzipien, die in jungen Jahren in der Familie erlernt werden, spielen in dieser Hinsicht (gemeinsam mit dem sozialen Druck seitens anderer Mitglieder der Familie und der Gemeinschaft) eine unersetzbare Rolle. Religiöse Vorschriften sind für das Handeln des Menschen richtungsweisend, helfen ihm, seine atavistischsten Impulse zu kontrollieren, und dienen ihm als Orientierungshilfe bei der Auswahl jener Personen, mit denen er intime Beziehungen eingehen, eine Familie gründen oder den Rest seines Lebens verbringen will. Ceteris paribus sollten Personen umso mehr wertgeschätzt werden, desto robuster und ausdauernder ihre Moralprinzipien erscheinen.55

Die Evolution ethischer Prinzipien: Institutionen als Voraussetzung für die dynamische Effizienz An anderer Stelle haben wir den Begriff „Institution“ als „eine verallgemeinerte Verhaltensregel“56 definiert. In diesem Sinne und aufgrund der bisher durchgeführten Analyse lässt sich nun recht einfach ableiten, dass der soziale Schöpfungs- und Koordinationsprozess, aus dem die dynamische Effizienz besteht, geregelt sein muss, d. h., er muss der Ethik und dem Recht bzw. einer Reihe von Moralprinzi­ pien und juristischen Normen unterstellt sein.

55 Tief verwurzelte religiöse Überzeugungen und eine entsprechende Handlungsweise stellen eine Art „Garantiezertifikat“ für die zukünftige Erfüllung familiärer Pflichten dar. Eine derartige „Garantie“ mindert die Unsicherheit (auch wenn sie diese nicht gänzlich eliminiert), die jeder Entscheidung zur Ehe innewohnt. Und obwohl sie nicht ausschließt, dass Erwartungen enttäuscht werden, fördert sie die Anpassung und die Koordination, die eine prosperierende und dynamisch effiziente Gesellschaft ermöglichen. 56 Huerta de Soto (1992), S. 69, Anm. 37.

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1. Die Theorie der dynamischen Effizienz

Wie wir bereits gesehen haben, besteht die grundlegende Handlung des Unternehmers tatsächlich darin, billig zu kaufen und teuer zu verkaufen, um so eine Profitmöglichkeit zu nutzen und das ursprünglich fehlangepasste Verhalten der sozialen Akteure zu koordinieren. Diese Unternehmung würde scheitern bzw. nicht ausgeführt werden können, wenn nicht alle Teilnehmer die Erfüllung ihrer Verpflichtungen garantieren würden; oder wenn z. B. ein gewisser Umstand einen Vertrag ungültig machen würde; oder wenn einer der Vertragspartner bei seiner Einwilligung betröge oder täuschte, sei es hinsichtlich Bezahlung, Lieferung oder Qualität des Gutes. Daher bilden die grundlegenden Rechtsprinzipien wie der Respekt vor dem Leben, dem friedlich angeeigneten Besitz und der Einhaltung von Verträgen, und, ganz allgemein, die Achtung der Rechtsnormen, die auf Brauchtum beruhen und sowohl das Zivil- als auch das Strafrecht umfassen, die grundlegende institutionelle Struktur der dynamischen Effizienz. Gleiches kann von den persönlichen Moralprinzipien, vom natürlichen Recht auf privates Eigentum und von dessen Implikationen behauptet werden, denn alle diese bilden die Grundlage für die soziale Ethik, auf die sich die ganze dynamische Effizienz stützt. Trotz der evolutiven Entstehung dieser Prinzipien können wir von ihnen behaupten, dass sie Teil der menschlichen Natur sind. Mit anderen Worten, die menschliche Natur äußert sich in einem Evolutionsprozess, und dank seiner Vernunft kann der Mensch diese Prinzipien im Nachhinein analysieren und von ihren logischen Fehlern und Widersprüchen befreien, um sie so zu stärken und, durch exegetische Auslegung, auf die neuen Bereiche und Herausforderungen, die in der Gesellschaft entstehen, anzuwenden. Jede wissenschaftliche Analyse der dynamischen Di­mension sozialer Effizienz muss mit der Erkenntnis beginnen, dass sie nie in einem Umfeld institutionellen Vakuums durchgeführt werden kann, d. h., die theoretische Analyse der dynamischen Effizienz ist untrennbar mit der Untersuchung des institutionellen Rahmens, in dem die unternehmerischen Handlungen stattfinden, verbunden. Wir sollten daher gegenüber den bestehenden NirwanaWirtschafts­theorien der neoklassischen Wohlfahrtsökonomen eine besonders kritische Haltung einnehmen, denn die meisten dieser Wirtschaftstheoretiker beharren darauf, die realen Marktprozesse innerhalb eines völligen institutionellen Vakuums, d. h. unter gänzlicher Missachtung menschlicher Interaktionen im Alltag, zu analysieren. Es eröffnet sich daher den Spezialisten der angewandten Wirtschaftswissenschaften ein weites Forschungsfeld, in dem jede einzelne soziale Institution (wirtschaftlicher, rechtlicher, moralischer, ethischer und sogar linguistischer Art) auf ihre Fähigkeit hin (die dynamische Effizienz hervorzurufen und zu fördern) untersucht und neu bewertet werden kann. An anderer Stelle haben wir dargestellt, dass der Theoretiker, der sich auf diese Aufgabe einlässt, besonders präzise und vorsichtig arbeiten muss. Dazu ist er vor allem deswegen verpflichtet, weil er versucht, höchst komplexe und auf dem wirklichen Leben beruhende Eigenschaften der Gesellschaft zu untersuchen. Diese haben sich nämlich im Laufe der Zeit entwickelt, enthalten eine großen Menge an Erfahrungen und Informationen, bilden

Einige praktische Anwendungen

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die menschliche Natur und sind mit den konzeptuellen Werkzeugen des Forschers kaum zu erfassen.57 Im nächsten und letzten Abschnitt dieses Aufsatzes werden wir einige Beispiele praktischer Anwendungen aufzählen, um die Richtung aufzuzeigen bzw. anzudeuten, in die sich die wirtschaftliche Analyse der sozialen Institution in der Zukunft möglicherweise entwickeln wird, sofern das dynamische Konzept der wirtschaftlichen Effizienz, das wir vorgestellt haben, richtig angewendet wird.

Einige praktische Anwendungen Wir werden nun einige Spezialbereiche berühren, die unserer Meinung nach durch eine systematische Anwendung der dynamischen Effizienztheorie, wie wir sie in diesem Aufsatz erläutert haben, bereichert werden können. Logischerweise versuchen wir hier weder eine endgültige noch umfassende Analyse durchzufüh­ ren. Unser einziges Ziel ist es, ein paar vorläufige Ideen im Bezug auf einige vielversprechende Forschungslinien aufzuzeigen. Diese stehen den künftigen Anstrengungen jener Gelehrten offen, die letztlich darüber entscheiden werden, ob das Studium des dynamischen Konzepts wirtschaftlicher Effizienz produktiv und ansprechend sein wird. 1.  Steuertheorie. Der maßgeblichen Rolle, die (reine)  unternehmerische Gewinne (und Verluste) spielen, wenn sie die kreativen und koordinierenden Handlungen der Unternehmer lenken, haben wir bereits unsere Aufmerksamkeit geschenkt. Die Profite sind nämlich die Schlüsselsignale, die den Marktprozess (welcher zu dynamischer Effizienz führt) leiten und antreiben. Wenn also die unternehmerischen Gewinne aufgrund steuerlicher Maßnahmen manipuliert werden, so kann dies schwerwiegende Auswirkungen auf den gesamten dynamischen Effizienzprozess (d. h. der Kreativität und der Koordination) haben und somit hohe Kosten durch den Verlust dynamischer Effizienz verursachen. Diese Kosten kämen zu jenen Kosten hinzu, die einige Theoretiker als „exzessive Lasten“ bezeichnen und aus Sicht der Gleichgewichtstheorie dem Verlust statischer Effizienz entsprechen. Einzig und allein dieser Verlust wurde bisher von der Theorie der optimalen Besteuerung58 in Betracht gezogen. Folglich besteht das ideale Ziel darin, die Besteuerung des reinen Unternehmergewinns zu vermeiden, um so die dynamische Effizienz zu fördern. Dieses wirtschaftspolitische Ziel bringt wichtige Probleme praktischer Natur mit sich, da die reinen unternehmerischen Gewinne beinahe 57

Vgl. Kapitel 3 in diesem Buch. Die traditionelle statische Analyse setzt voraus, dass die Angebot- und Nachfragekurven konstant und bekannt sind und es somit möglich ist, die entsprechenden Elastizitäten, die für die operative Anwendung der Ramsay-Pigou-Regel notwendig sind, zu errechnen. (Gemeint ist die These, dass der optimale Steuersatz in umgekehrter Proportionalität zur Nachfrageelastizität eines jeden Gutes steht, kompensiert durch dessen Preis.) 58

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1. Die Theorie der dynamischen Effizienz

unter allen realen Umständen untrennbar mit anderen Einkommensquellen (Arbeit, Kapital, Grund usw.) verbunden sind. Nichtsdestotrotz sollten diese Schwierig­ keiten jene Analytiker und Forscher reizen, die den Wunsch haben, die dynamische Effizienz zu fördern. Sie sollten sie auch ermutigen, nach neuen Arten der Besteuerung zu suchen und Steuerreformen zu entwickeln, welche die negativen Auswirkungen auf die reinen Unternehmensgewinne und damit auch auf die unternehmerische Kreativität und Koordinationsfähigkeit minimieren.59 2. Die Theorie der Regulierung und des Interventionismus, d. h. die wirtschaftliche Analyse der institutionellen Zwangsgewalt, kann durch eine systematische Anwendung des dynamischen Verständnisses bereichert werden. Das Ziel besteht darin, alle regulativen Maßnahmen und Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen (die sich in der Einschränkung der freien Ausübung des Unternehmertums äußern) zu untersuchen und auf diese Weise ihre möglichen Auswirkungen im Hinblick auf die dynamische Ineffizienz zu erforschen. Ebenso sollte die Diagnose jener Ineffizienzprobleme, die durch den wirtschaftlichen Interventionismus ausgelöst werden, zur Ausarbeitung möglicher Reformen beitragen, welche mehr oder weniger schrittweise umgesetzt werden können und deren Zweck darin besteht, die bestehenden Hindernisse für Kreativität und Koordination zu beseitigen und somit die dynamische Effizienz des Systems zu fördern. 3. Die Antitrust-Gesetzgebung kann dank der Theorie dynamischer Effizienz aus einem ganz anderen Blickwinkel betrachtet werden. Aus Sicht der dynamischen Marktprozesse, die vom Unternehmertum angetrieben werden, und in Abwesenheit institutioneller Behinderungen des freien menschlichen Handelns in jeglichem unternehmerischen Umfeld kann der Rivalitätsprozess unter den Unternehmern zu einem gewissen Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort oftmals zur temporären Vorherrschaft einiger weniger Produzenten (oder sogar nur eines einzigen) führen. Weit davon entfernt, auf ein vermutetes „Marktversagen“ hinzudeuten, wäre dies der eindeutige Beweis für den Erfolg eines Unternehmers, die Bedürfnisse der Konsumenten besser als irgendjemand anderer befriedigen zu können, d. h. neue und bessere Produkte zu entdecken und zu erzeugen und zu immer niedrigeren Preisen auf den Markt zu bringen. Eine einschränkende Gesetzgebung, deren angebliches Ziel die „Verteidigung“ des Wettbewerbs ist, könnte im Sinne dynamischer Effizienz hohe Kosten verursachen, da potentielle Unternehmer davon ausgehen, dass ihnen im Erfolgsfalle (wenn sie eine gewisse Innovation einführen, ein Produkt auf den Markt bringen oder den Markt erobern) die Behörden die Früchte ihrer Kreativität beschlagnahmen oder teilweise bzw. ganz wegnehmen könnten. Die Fälle von Microsoft und anderer stehen uns äußerst aktuell vor Augen, so dass wir nicht 59 Im Bereich der öffentlichen Finanzen offenbart die vorgestellte Theorie, dass es in dynamischer Hinsicht keine öffentlichen Güter gibt (da die Probleme des gemeinsamen Angebots und des Ausschlusses des Konsums dazu tendieren, von der unternehmerischen Kreativität entdeckt und gelöst zu werden) und somit das verschwindet, was bisher als die wichtigste theoretische Rechtfertigung der Existenz des Staates galt.

Einige praktische Anwendungen

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weiter auf sie eingehen müssen. Eine ähnliche Beobachtung kann hinsichtlich vie­ ler anderer Vorgehensweisen gemacht werden, wenn es um Preisabsprachen unter Herstellern, Aufteilung von Marktanteilen, gemeinsamer Verkauf gewisser Güter, exklusive Vertriebsverträge usw. geht. Auch wenn diese Praktiken aus statischer Sicht, welche die Antitrust-Gesetzgebung bisher geprägt hat, als einschränkende Maßnahmen gesehen werden, können sie aus der Perspektive der dynamischen Effizienz, die eine zentrale Rolle in den realen Marktprozessen spielt, als durchaus sinnvoll erachtet werden.60 4. In der Entwicklungsökonomie spielt die Theorie der dynamischen Effizienz eine wichtige Rolle. Das primäre Ziel besteht darin, mögliche Reformen ins Auge zu fassen, um in den Entwicklungsländern Hindernisse zu beseitigen und das Unternehmertum zu fördern. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Unternehmer zweifellos die führende Persönlichkeit in jedem wirtschaftlichen Entwicklungsprozess ist. Aus diesem Grund darf sich niemand über die vielen und völlig umsonst produzierten Seiten in der Entwicklungstheorie wundern, denn deren Verfasser haben die Schlüsselfunktion des Unternehmers für die sowohl kreative als auch koordinierende Dimension wirtschaftlicher Wachstumsprozesse völlig übersehen. In diesem Sinne sind die neoklassischen Lehrer der Wachstums- und Unterentwicklungstheorie zum größten Teil für das Versagen vieler wirtschaftspolitischer Anstrengungen in den Entwicklungsländern verantwortlich, denn sie haben es unterlassen, die notwendigen Maßnahmen für den Schutz, die Förderung und Ermutigung sowohl einheimischer als auch ausländischer Unternehmer umzusetzen. Doch gerade diese Länder, deren Bewohner nur knapp über dem Existenzminimum leben, sind auf jene ausländischen Unternehmer angewiesen, die sich dazu entscheiden, ihre unternehmerische Fähigkeit in einem dieser Länder auszuüben. 5. Der Bereich der Makroökonomie im Allgemeinen und jener der Geldtheorie im Besonderen können durch die Anwendung der Theorie der dynamischen Effizienz bereichert werden. Schon seit Carl Menger wissen wir, dass das Geld auf evolutive und gewohnheitsbedingte Weise entsteht und durch die unternehmerische Genialität einiger weniger angetrieben wird, welche vor allen anderen entdeckt haben, dass sie ihre geplanten Ziele besser erreichen, indem sie für ihre Güter und Dienstleistungen ein auf dem Markt leicht zu handelndes Tauschmittel verlangen. Diese Verhaltensweise wurde nach und nach üblich und ließ das Geld zu dem von allen akzeptierten Tauschmittel werden. In einem hypothetischen Gleichgewichtsmodell, das sowohl widerkehrend als auch statisch und perfekt effizient ist, wäre das Geld nicht notwendig, denn unter solch irrealen Umständen wäre die Zukunft keineswegs ungewiss und es würde daher für nicht notwendig erachtet, sich eine Geldreserve anzulegen. Wie auch immer, das wirkliche Leben kann nicht vorher­ gesehen werden, und dies zum größten Teil aufgrund der unternehmerischen Kreativität, die ständig neue Informationen erzeugt und somit alle Parameter des 60 Kirzner (1999). Zur dynamisch-effizienten Natur der Kollusion, die nicht direkt oder indirekt vom Staat angeregt wurde, siehe Salin (1996a).

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Marktes verändert. Es ist darum für die Menschen von grundlegender Notwendigkeit, sich Liquiditätsreserven anzulegen, um eine sich ständig verändernde und unsichere Zukunft bewältigen zu können. Der Ursprung des Geldes liegt mithin in der Ungewissheit, welche die unternehmerische Kreativität mit sich bringt, und gleichzeitig ermöglicht das Geld den Menschen, ihr kreatives und koordinierendes Unternehmertum auszuüben, denn es erlaubt dem Menschen immer wieder, die ungewisse Zukunft mit einer großen Zahl offener Alternativen zu bewältigen. Insofern ist es sehr wichtig, dass die Geldinstitutionen den unternehmerischen Koordinationsprozess nicht hindern und in der Folge das Ziel der dynamischen Effizienz unerreichbar machen. Wenn z. B. die Geldschöpfung in Form einer Kreditausweitung die anfängliche Finanzierung von Investmentprojekten, die in disproportionalem Verhältnis zur wirklichen Spartätigkeit stattfindet, ermöglicht, dann produziert sich zwischenzeitlich eine schwerwiegende Diskoordination und eine Fehlanpassung zwischen dem Verhalten von Investoren und Konsumenten. Diese Fehlanpassung offenbart sich anfänglich in einer Spekulationsblase, die durch Vertrauensinflation finanziert wird und schlussendlich eine unverhältnismäßige Steigerung der Preise der Kapitalgüter verursacht. Dieser Spekulationsblasenprozess kehrt sich jedoch früher oder später in eine wirtschaftliche Rezession um, in der die begangenen unternehmerischen Fehler und die Notwendigkeit, die fehlerhaften Investitionsprozesse umzuwandeln und umzustrukturieren, offenbar werden.61 Damit eröffnet sich ein interessantes Forschungsfeld, in dem die gegenwärtigen Geld- und Kreditinstitutionen im Lichte der dynamischen Effizienz beurteilt werden können. Dies wird möglicherweise zur Ausarbeitung von einer Reihe von Reformen führen, die nicht nur die unternehmerische Kreativität fördern, sondern auch die zwischenzeitliche Koordination antreiben, um so die künstlich erzeugten Fehlanpassungen zu verhindern, welche sich auf die Marktwirtschaften auswirken, seitdem sich das moderne, auf der Teilreserve basierende Bankwesen zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt hat. 6. Die wirtschaftliche Analyse des Rechts, der rechtlichen Normen und der sozialen Institutionen wurde bisher nur aufgrund der traditionellen Postulate der wirtschaftlichen Gleichgewichtsanalyse betrieben und bedarf, wahrscheinlich mehr als jeder andere wirtschaftswissenschaftliche Bereich, einer vollständigen Überarbeitung. Diese müsste jene neuen Beiträge und Institutionen einbeziehen, die nur das dynamische Verständnis zur Verfügung stellen kann. Auf diese Weise können 61 Mein Buch Geld, Bankkredit und Konjunkturzyklen habe ich ganz der Untersuchung dieses Phänomens gewidmet. Nebenbei bemerkt, die Zurückweisung der Hypothese, auf den Kapitalmärkten herrsche Effizienz und Gleichgewicht, ist ein willkommener Anlass für die Neuformulierung der inzwischen hinfälligen Theorie der Finanzmärkte, die als theoretisches Fundament der letzten Spekulationsblase großen Schaden in der Ära der „New Economy“ angerichtet hat. Die neue Theorie muss, im Gegensatz dazu, die Börsenmärkte als dynamische Prozesse unternehmerischer Kreativität deuten, die niemals jenes Ideal statisch-effizienter Perfektion erreichen, jedoch immer zur dynamischen Effizienz neigen, und zwar im Sinne der Entdeckung und Schöpfung von Profitmöglichkeiten und der unternehmerischen Koordination. Siehe Huerta de Soto (2011b), besonders Kapitel 5 und 6.

Schlussfolgerungen

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die verschiedenen rechtlichen Normen und sozialen Institutionen in einer völlig neuen Form, d. h. im Hinblick auf ihre Fähigkeit die unternehmerische Kreativität und Koordination zu fördern, beurteilt werden. So würde die ökonomische Analyse des Vertragsrechts, der zivilen Verantwortung, des Patent- und Markenrechts, sowie des Copyright, der Institution Familie usw. durch den dynamischen Ansatz bedeutend bereichert werden. Im Allgemeinen würde das Gleiche mit jeder anderen ökonomischen Analyse der Rechte und Institutionen passieren, die in unmittelbarer Nähe zum gegebenen sozialen Umfeld stehen, das aufgrund seiner Natur grundsätzlich immer dynamisch ist. Logischerweise können die oben genannten Beispiele und Veranschaulichungen die möglichen Anwendungen der dynamischen Konzeption wirtschaftlicher Effizienz nicht annähernd erschöpfend wiedergeben. Vielmehr handelt es sich bei der Konzeption um einen Ansatz, der in allen Bereichen der Wirtschaftswissenschaft sowohl theoretisch als auch praktisch angewandt werden kann und soll. Wir hoffen, dass diese Erläuterungen junge Studenten und Forscher unserer Wissenschaft motivieren werden, und wünschen ihnen, dass sie, als Ergebnis ihrer Anstrengung, ihr akademisches Wirken bereichert und mit Erfolg gekrönt sehen werden.

Schlussfolgerungen In diesem Aufsatz sind wir zu folgenden Schlüssen gekommen: 1.  Die dynamische Effizienz ist die Fähigkeit eines Wirtschaftssystems, die unternehmerische Kreativität und Koordination zu fördern. 2. Nichtsdestotrotz wurde die dynamische Effizienz bisher vom Großteil der professionellen Ökonomen zumeist völlig übersehen, da sich diese fast ausschließlich auf die rein allokative oder statische Dimension der wirtschaftlichen Effizienz konzentriert haben. 3. Wie dem auch sei, die dynamische Effizienz bleibt der wichtigste Aspekt des wirtschaftlichen Effizienzkonzeptes, insbesondere in der wirklichen Welt, in der es nie zu einem Zustand des Gleichgewichts kommt und in der die Ideale der allokativen und statischen Effizienz per definitionem unerreichbar sind. 4. Viele Verhaltensweisen und Institutionen, die sich aufgrund kurzfristiger allokativer und statischer Kriterien als ineffizient erweisen, haben eigentlich die Fähigkeit, auf energische Weise die dynamische Effizienz zu stimulieren. Diese Idee eröffnet den Gelehrten und Forschern ein interessantes Feld und fordert sie heraus, die möglichen Kompromisse zwischen den beiden Dimensionen der wirtschaftlichen Effizienz zu analysieren und letztlich Reformen anzubieten, welche die Förderung der unternehmerischen Kreativität und Koordination zum Ziel haben. 5. Dynamische Effizienz kann bei weitem nicht mit jedem ethischen Verhaltensmodell vereinbart werden, sondern kann ausschließlich in jenem ethischen Rah-

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men, der das private Eigentum und vor allem die Aneignung der Ergebnisse der unternehmerischen Kreativität respektiert, zu Stande kommen. In diesem Sinne scheinen Ethik und Effizienz zwei Seiten einer Medaille zu sein. Darüber hinaus haben wir das originelle Argument vorgebracht, dass auch die grundlegenden Prinzipien der persönlichen Moralität, die sich im Laufe der Menschheitsgeschichte gebildet haben, die dynamische Effizienz fördern. Unsere dynamische Sichtweise der wirtschaftlichen Analyse erlaubt mithin eine einheitliche und wissenschaftliche Behandlung aller sozialen Probleme. In diesem Zusammenhang stehen Effizienz und Gerechtigkeit als Größen nicht separat für sich. Vielmehr sind sie selbsterklärende und sich gegenseitig bestärkende Größen. 6. Alles in allem glauben wir, dass keine Analyse der wirtschaftlichen Effizienz die dynamische Dimension ausschließen sollte. Mit anderen Worten, in allen angewandten Wirtschaftswissenschaften sollten die Forscher immer aus einem dynamischen Blickwinkel heraus im Auge behalten, welche möglichen Auswirkungen die gegenwärtige Praxis bzw. Institution oder die anstehenden Reformvorschläge haben. Auf diese Weise wird die dynamische Effizienz als Schlüsselfaktor jeder wirtschaftlichen Studie berücksichtigt werden. Dies eröffnet den künftigen Gelehrten unserer Disziplin nicht nur einen weiten und hoffentlich sehr fruchtbaren Forschungsbereich. Wir sind auch sicher, dass dies zu einer viel fruchtbareren und dynamisch-effizienteren Entwicklung unserer Disziplin im Dienste der Menschheit führt.

2. Der anhaltende Methodenstreit der Österreichischen Schule1 „Was die Österreichische Schule auszeichnet und ihr unsterblichen Ruhm verleihen wird, ist die Tatsache, dass sie eine Theorie der ökonomischen Handlung und nicht des ökonomischen Gleichgewichtes oder der Nicht-Handlung aufgestellt hat.“ Ludwig von Mises2

Einleitung Der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus vor einigen Jahren und die Krise des Wohlfahrtsstaates haben dem hauptsächlich neoklassisch geprägten Forschungsprogramm, das die sogenannte Sozialtechnologie bis heute unterstützt, einen kräftigen Schlag versetzt. Gleichzeitig scheinen sich die Schlussfolgerungen der Österreichischen Schule hinsichtlich der Unmöglichkeit des Sozialismus größtenteils zu bestätigen. Obendrein konnte man 1996 den 125. Geburtstag der Österreichischen Schule feiern, die, wie wir wissen, mit Carl Mengers Werk Grundsätze der Volkswirthschaftslehre3 entstanden ist. Es scheint daher der richtige Zeitpunkt zu sein, zu einer Analyse der Gegensätze zwischen den beiden Ansätzen, dem Österreichischen und dem Neoklassischen Ansatz, zurückzukehren. Dies soll durch einen Vergleich ihrer Vorteile im Lichte sowohl der aktuellen Geschehnisse als auch der neuesten Entwicklung ökonomischen Denkens erfolgen. Die Abschnitte in diesem Aufsatz sind wie folgt unterteilt. Zuerst werden die Merkmale, die die beiden Ansätze unterscheiden, detailliert erklärt und diskutiert.

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Dieser Aufsatz wurde auf Anregung von Gary Becker verfasst, der mich fragte, ob ich auf einer Podiumsdiskussion die Österreichische Position repräsentieren würde, die dort mit dem neoklassischen Standpunkt verglichen wurde. Die Diskussion fand während der Hauptversammlung der Mont Pèlerin Society statt, die im September 1996 in Wien abgehalten wurde. An der Diskussion nahmen auch Sherwin Rosen, Leland Yeager und Erich Streissler teil. Eine Zusammenfassung der wesentlichen Aspekte ist in unterschiedlichen Aufsätzen von Rosen und Yeager im Journal of Economic Perpectives, Band 2, Nummer 4 (1997), S. 153–165, erschienen. Die ursprüngliche englische Fassung meines Aufsatzes erschien unter dem Titel „The Ongoing Methodenstreit of the Austrian School“ im Journal des économistes et des études humaines, Band III, Nummer 1 (März 1998), S. 75–113. 2 Mises (1978a), S. 36. 3 Menger (1871).

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2. Der anhaltende Methodenstreit der Österreichischen Schule 

Zweitens wird eine zusammenfassende Betrachtung des Methodenstreits präsentiert, den die Österreichische Schule seit 1871 bis heute führt. In ihr werden die unterschiedlichen „Runden“ des Streits und deren Implikationen diskutiert. Eine Antwort auf die gängigsten Kritiken am Österreichischen Ansatz und eine Bewertung der jeweiligen Vorteile der zwei Sichtweisen runden den Aufsatz ab.

Die wesentlichen Unterschiede zwischen der Österreichischen und der Neoklassischen Schule Einer der vielleicht wichtigsten Aspekte, der in den Programmen der Ökonomie der volkswirtschaftlichen Fakultäten fehlt, ist der, dass sie bis heute keine vollständige Gegenüberstellung der zentralen Elemente des modernen Österreichischen Paradigmas vis-à-vis dem Neoklassischen Ansatz anbieten. In Tabelle 2.1 habe ich versucht, diese Lücke in einer Art zu füllen, die nicht nur vollständig, sondern auch klar und präzise ist, so dass man die unterschiedlichen Punkte der beiden Ansätze, die ich im Folgenden kurz diskutieren werde, auf Anhieb verstehen kann. Tabelle 2.1 Wesentliche Unterschiede zwischen der Österreichischen und der Neoklassischen Schule Vergleichspunkt

Österreichisches Paradigma

Neoklassisches Paradigma

1

Das ökonomische Konzept (als wesentliches Prinzip)

Theorie der menschlichen Handlung als ein dynamischer Prozess (Praxeologie)

Entscheidungstheorie: rational, basierend auf Maximierung unter Beschränkungen

2

Methodologischer Ansatz

Subjektivismus

Stereotyp des methodologischen Individualismus (objektivistisch)

3

Protagonist des gesellschaftlichen Prozesses

Der kreative Entrepreneur

Homo oeconomicus

4

Möglichkeit, dass der Akteur a priori irrt, und Natur des unternehmerischen Gewinns

Der reine unternehmerische Fehler und ein ex post Bedauern existieren. Die reinen unternehmerischen Gewinne entspringen der Wachsamkeit.

Es gibt keine zu bedauernden Fehler, weil alle vergangenen Entscheidungen mit den Begriffen der Kosten-Nutzen-Analyse nachvollziehbar sind. Gewinne werden als Zahlungen eines Produktionsfaktors interpretiert.

Unterschiede zwischen der Österreichischen und der Neoklassischen Schule 

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Vergleichspunkt

Österreichisches Paradigma

Neoklassisches Paradigma

5

Die Natur der Information

Wissen und Information sind subjektiv, verstreut, und verändern sich ständig (unternehmerische Kreativität). Klare Unterscheidung zwischen wissenschaftlichem Wissen (objektiv) und praktischem Wissen (subjektiv)

Es werden vollständige, objektive und konstante Informationen über Ziele und Mittel vorausgesetzt. Es gibt keine Unterscheidung zwischen praktischem und wissenschaftlichem Wissen.

6

Referenzpunkt

Ein allgemeiner Prozess mit einer koordinierenden Tendenz. Es gibt keine Unterscheidung zwischen der Mikro- und der Makroebene. Alle ökonomischen Probleme werden in Relation zueinander studiert.

Gleichgewichtsmodell (allgemein oder partiell), Unterscheidung zwischen Mikround Makroökonomie

7

Wettbewerbs­ konzept

Prozess der unternehmerischen Rivalität

Situation oder Modell des „perfekten Wettbewerbs“

8

Kostenverständnis

Subjektiv (abhängig von der Wachsamkeit des Unternehmers für die Entdeckung neuer alternativer Ziele)

Objektiv und konstant (können von einem Dritten gewusst und gemessen werden)

9

Formalismus

Verbale Logik (abstrakt und formal), die die Integration subjektiver Zeit und mensch­ licher Kreativität erlaubt

Mathematischer Formalismus (symbolische Sprache, die für die Analyse konstanter, zeitloser Phänomene typisch ist)

10

Beziehung zur empirischen Welt

Aprioristisch-deduktive Argumentation, radikale Trennung und gleichzeitig Koordination von Theorie (Wissenschaft) und Geschichte (Kunst). Geschichte kann keine Theorien beweisen.

Empirische Widerlegung von Hypothesen (zumindest rhetorisch)

11

Möglichkeiten spezifischer Vorhersagen

Unmöglich, da das, was passieren wird, von der Zukunft unternehmerischen Wissens abhängt, dass noch nicht kreiert wurde. Höchstens qualitative und theoretische „Mustervorhersagen“ über die fehlkoordinierenden Konsequenzen des Interventionismus können erstellt werden.

Vorhersagen sind ein explizites Forschungsziel.

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2. Der anhaltende Methodenstreit der Österreichischen Schule 

Vergleichspunkt

Österreichisches Paradigma

Neoklassisches Paradigma

12

Wer ist für die Vorhersage verantwortlich?

Der Unternehmer

Der ökonomische Analytiker (Sozialingenieur)

13

Gegenwärtige Situation des Paradigmas

Bemerkenswerte Renaissance in den letzten 30 Jahren (insbesondere nach der Krise des Keynesianismus und dem Scheitern des real existierenden Sozialismus)

Situation einer beschleunigten Krise und Veränderung

14

Menge des investierten „Human­ kapitals“

Minoritär, aber wachsend

Mehrheit, die Anzeichen der Zerstreuung und Teilung zeigt

15

Typ des inves­ tierten „Human­ kapitals“

Multidisziplinäre Theoretiker und Philosophen, radikale Libertäre

Spezialisten der ökonomischen Intervention (schrittweises Eingreifen von Sozialingenieuren), sehr wechselhafter Grad der Verpflichtung zur Freiheit

16

Aktuellste ­Beiträge

–– Kritische Analyse von institutionellem Zwang (Sozialismus und Interventionismus) –– Theorie des free-banking und der Konjunkturzyklen –– Evolutionäre Theorie der Institutionen (juristisch und moralisch) –– Theorie der unternehmerischen Funktion –– Kritische Analyse der „sozialen Gerechtigkeit“

–– Public-Choice-Theorie –– Ökonomische Analyse der Familie –– Ökonomische Analyse des Rechts –– Neue klassische Makroökonomie –– Infomationsökonomie

17

Autoren mit jeweils eigenen Positionen

Rothbard, Mises, Hayek, ­Kirzner

Coase, Demsetz-Blaug, Buchanan-Samuelson, ­Stiglitz-Friedman-Becker

Theorie der Handlung (Österreicher) versus Theorie der Entscheidung (Neoklassiker) Theoretiker der Österreichischen Schule verstehen die Wirtschaftswissenschaft als eine Theorie der Handlung und nicht als eine Theorie der Entscheidung. Dies ist unter allen Merkmalen dasjenige, das sie am deutlichsten von ihren neoklassischen Kollegen unterscheidet. An und für sich beinhaltet das Konzept mensch-

Unterschiede zwischen der Österreichischen und der Neoklassischen Schule 

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licher Handlung bereits das Konzept individueller Entscheidung, und nicht nur das. Zunächst einmal beinhaltet – aus Sicht der Österreicher – das maßgebliche Konzept der Handlung nicht nur den hypothetischen Prozess einer Entscheidung, die inmitten des vorhandenen Wissens über Ziele und Mittel stattfindet, sondern darüber hinaus auch – und das ist das wichtigste Merkmal – ein Verständnis für den Rahmen der Ziele und Mittel, in dem die Allokation und Ökonomisierung stattfindet.4 Der wichtigste Faktor für die Österreicher ist nicht, dass eine Entscheidung getroffen wird, sondern dass sie die Form menschlicher Handlung innerhalb eines Prozesses annimmt, in dem mehrere Interaktionen und Koordinierungen stattfinden. Für die Österreicher liegt genau hier das Forschungsinteresse der Wirtschaftswissenschaft. Für sie ist die Ökonomie daher nicht eine Theorie der Entscheidung, sondern eine Theorie über die Prozesse sozialer Interaktion, die mal mehr, mal weniger ko­ordiniert werden, je nachdem welche Wachsamkeit die verschiedenen Akteure bei den jeweiligen unternehmerischen Handlungen an den Tag legen.5 Konsequenterweise sind die Österreicher besonders misstrauisch gegenüber dem engen Ökonomieverständnis, das von Robbins und seiner bekannten Definition stammt, derzufolge die Ökonomie als Wissenschaft die Nutzung knapper Ressourcen untersucht, die zu verschiedenen Zwecken eingesetzt werden können, um menschliche Bedürfnisse zu befriedigen.6 Robbins’ Ansatz impliziert gegebenes Wissen über die Mittel und Ziele. Das ökonomische Problem wird so auf ein rein technisches Problem der Allokation, Maximierung oder Optimierung reduziert, das bereits bekannten Begrenzungen unterliegt. Mit anderen Worten, Robbins’ Ökonomieverständnis entspricht im Kern dem neoklassischen Paradigma und ist aus heutiger Sicht der Methodologie der Österreichischen Schule vollkommen fremd. Eigentlich ist der Robbinsianische Mensch die Karikatur eines menschlichen Wesens, das nur passiv auf Geschehnisse reagiert. Entgegen diesem Konzept sollte die Position von Mises, Kirzner und den anderen Österreichern hervorgehoben werden. Für sie ist das, was Menschen wirklich tun, kein Verteilen von gegebenen Mitteln auf gegebene Ziele. Aus ihrer Sicht suchen die Menschen ständig neue Mittel und Ziele, lernen aus der Vergangenheit und nutzen ihr Vorstellungsvermögen, um die Zukunft durch Handlungen zu entdecken und zu kreieren. Österreicher integrieren die Ökonomie in eine weitaus allgemeinere und breitere Wissenschaft menschlicher Handlung (nicht menschlicher Entscheidung). Folgt man Hayek, dann sollte man diese allgemeine Wissenschaft menschlicher Handlung praxeologische Wissenschaft nennen – so wie sie Ludwig von Mises oft und genau beschrieben hat.7

4

Kirzner (1973), S. 33. Kirzner (1992). 6 Robbins (1932). 7 Hayek (1952a), S. 209. 5

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2. Der anhaltende Methodenstreit der Österreichischen Schule 

Subjektivismus (Österreicher) versus Objektivismus (Neoklassiker) Der zweite Aspekt von größter Wichtigkeit für die Österreicher ist der Subjektivismus.8 Für die Österreicher besteht der subjektivistische Ansatz in dem Versuch, Wirtschaftswissenschaft auf der Grundlage echter Menschen aus Fleisch und Blut aufzubauen, welche als kreative und führende Akteure in allen sozialen Prozessen betrachtet werden. Für Mises ist deshalb „die Ökonomie kein Thema von Sachen und gegenständlichen, materiellen Dingen. Die Ökonomie handelt vom Menschen, dessen Wertschätzungen und Handlungen. Güter, ­Waren und Wohlstand sowie alle anderen verhaltensbeeinflussenden Elemente sind nicht Teil der Natur, sondern Gegenstände menschlicher Bedeutung und menschlichen Verhaltens. Derjenige, der sich mit ihnen beschäftigen möchte, darf nicht auf die externe Welt schauen, sondern muss nach ihrer Bedeutung für den handelnden Menschen fragen.“9

Anders als für die Neoklassiker, sind für die Österreicher Beschränkungen in der Ökonomie weitestgehend nicht durch objektive Phänomene oder materielle Faktoren der externen Welt (wie z. B.  Ölreserven) vorgegeben, sondern durch menschliches, unternehmerisches und subjektives Wissen. (So hat z. B. die Entwicklung eines Vergasers, der die Effizienz eines Verbrennungsmotors verdoppelt, ökonomisch gesehen dieselbe Wirkung wie die Verdopplung aller Ölreserven.)

Entrepreneur (Österreicher) versus Homo oeconomicus (Neoklassiker) Die unternehmerische Funktion ist die Kraft, die in der Österreichischen Theorie die führende Rolle spielt. Ganz anders in der Neoklassischen Ökonomie! Dort glänzt sie durch Abwesenheit. Die unternehmerische Funktion ist ein typisches Phänomen der realen Welt, die sich immer in einem Ungleichgewicht befindet und daher keine Rolle in den Gleichgewichtsmodellen spielen kann, welche die Aufmerksamkeit neoklassischer Autoren binden. Neoklassiker verstehen Unternehmertum schlicht als einen weiteren Produktionsfaktor, der in Übereinstimmung mit den voraussichtlichen Kosten und Gewinnen zugeteilt werden kann. Dabei wird nicht realisiert, dass ein unauflösbarer logischer Widerspruch entsteht, wenn die unternehmerische Funktion in dieser Weise analysiert wird. Um unternehmerische Ressourcen gemäß ihrer erwarteten Gewinne oder Kosten zu verteilen, wird der Glaube vorausgesetzt, dass bereits heute Informationen über die wahrscheinlichen Kosten und Gewinne in der Zukunft vorliegen, also bevor sie durch 8

Mithilfe des subjektivistischen Ansatzes der Österreicher kann man die Ökonomie in eine allgemeine Wissenschaft vom menschlichen Handeln verwandeln, die volle objektive Validität genießt. Das ist nur scheinbar paradox. 9 Mises (1996), S. 92.

Unterschiede zwischen der Österreichischen und der Neoklassischen Schule 

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die unternehmerische Funktion erst geschaffen werden. Anders formuliert: Die unternehmerische Funktion besteht hauptsächlich in der Schaffung und Entdeckung neuer Informationen, die vorher nicht existierten und daher nicht bekannt sein können. Dies bedeutet, dass es menschlich unmöglich ist, irgendwelche neoklassischen Entscheidungen über die Allokation auf der Basis erwarteter Kosten und Gewinne zu treffen. Inzwischen sind auch alle Österreicher einhellig der Meinung, dass der Glaube, der unternehmerische Gewinn sei Folge von Risikoannahmen, ein Irrtum ist. Risiko ist vielmehr ein weiterer Kostenpunkt im Produktionskostenprozess und hat nichts mit dem reinen unternehmerischen Gewinn zu tun.10

Unternehmerischer Fehler (Österreicher) versus ex post Rationalisierung aller vergangenen Entscheidungen (Neoklassiker) Die unterschiedliche Rolle, die das Verständnis eines Fehlers in der Österreichischen und in der Neoklassischen Schule spielt, findet eher selten Beachtung. Für die Österreicher ist die Möglichkeit, einen reinen unternehmerischen Fehler11 zu begehen, gegeben, sobald eine Gewinnmöglichkeit durch den Unternehmer im Markt unberücksichtigt bleibt. Die Existenz genau dieser Art von Fehler eröffnet die Möglichkeit zum reinen unternehmerischen Gewinn. Für die Neoklassiker dagegen kann es nie reine unternehmerische Fehler geben, die man im Nachhinein bedauern könnte (bedauernswerte Fehler). Dies ist der Tatsache geschuldet, dass Neoklassiker alle Entscheidungen im Nachhinein mit dem Verweis auf die Kosten-Nutzen-Analyse, die im Rahmen der Maximierung erstellt wurde, rechtfertigen. Reine unternehmerische Gewinne haben daher in der neoklassischen Welt keine Existenzberechtigung und werden, wenn sie denn erwähnt werden, nur als Zahlung für Produktionsfaktoren oder als Einnahme unter der Annahme eines Risikos interpretiert.

Subjektive Information (Österreicher) versus objektive Information (Neoklassiker) Unternehmer generieren ständig neue Informationen, die im Wesentlichen subjektiv, praktisch, verstreut und schwierig zu artikulieren sind.12 Die subjektive Wahrnehmung von Informationen ist daher ein wesentliches Element in der Öster­ reichischen Methodologie, das in der Neoklassischen Ökonomie fehlt. Letztere be 10

Mises (1996), S. 809 ff. Kirzner (1994a). 12 Siehe Huerta de Soto (1995). 11

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2. Der anhaltende Methodenstreit der Österreichischen Schule 

handelt Informationen als objektiv. Die meisten Ökonomen realisieren eigentlich nicht, dass Österreicher und Neoklassiker sich letztlich auf völlig verschiedene Sachen beziehen, wenn sie den Begriff Information verwenden. Für Neoklassiker sind Informationen wie gleichförmige Wirtschaftsgüter, die objektiv zu fassen sind und auf dem Markt als Ergebnis einer Maximierungsentscheidung verkauft werden können. Diese „Informationen“, welche vielleicht auf unterschiedlichen Medien gespeichert werden können, sind keinesfalls Informationen in der subjektiven Art der Österreicher: relevantes praktisches Wissen, das von einem Akteur im Kontext einer bestimmten Handlung geschaffen, interpretiert und genutzt wird. Die Österreicher kritisieren deshalb an Stiglitz und anderen neoklassischen Theoretikern, die zum Thema Informationen arbeiten, dass diese nicht in der Lage seien, ihre Informationstheorie in eine Theorie der unternehmerischen Funktion zu integrieren. Desweiteren ist für die Österreicher klar, dass Stiglitz nicht in vollem Ausmaß versteht, dass Informationen immer subjektiv sind. Die Märkte, die er „unvollkommen“ nennt, generieren statt Ineffizienzen Gewinnmöglichkeiten, die der Unternehmer im Koordinationsprozess entdeckt und nutzt und die den Markt kontinuierlich stimulieren.13

Unternehmerische Koordination (Österreicher) versus allgemeines oder partielles Gleichgewicht (Neoklassiker) Die Gleichgewichtsmodelle neoklassischer Ökonomen ignorieren üblicherweise die koordinierende Kraft, welche die unternehmerische Funktion in den Augen der Österreicher besitzt. Diese Kraft erschafft und übermittelt nicht nur Informationen, sondern koordiniert das unabgestimmte Verhalten der Akteure in einer Gesellschaft. Jede gesellschaftliche Fehlkoordination manifestiert sich in einer Gewinnmöglichkeit, die latent existiert, bis sie durch einen Unternehmer entdeckt wird. Sobald der Unternehmer die Gewinnmöglichkeit wahrnimmt und so handelt, dass er einen Vorteil aus ihr zieht, verschwindet sie und es entsteht stattdessen ein spontaner Prozess der Koordination, welcher einen Trend hin zu einem Gleichgewicht darstellt, der in jeder Marktwirtschaft besteht. Zudem ist die koordinierende Natur der unternehmerischen Funktion der einzige Faktor, der es der ökonomische Theorie ermöglicht, als Wissenschaft zu existieren. Wissenschaft soll hier verstan­den werden als ein theoretischer Korpus von Koordinationsgesetzen, der den sozialen Prozess erklärt.14 Dieses Verständnis erklärt, warum sich Österreichische Ökonomen dafür interessieren, das dynamische Konzept des Wettbewerbs 13 In Bezug auf die Österreichische Kritik der Informationstheorie von Grossman und Stiglitz siehe Thomsen (1992) und Kirzner (1997b). 14 Rothbard und Kirzner haben den extremen Subjektivismus kritisiert, den Theoretiker wie Lachmann oder Shackle vertreten. Sie glauben, dass es keine koordinierende Tendenz im Markt gebe. Dieser Irrtum entspringt der Missachtung der koordinierenden Kraft, die in allen unternehmerischen Handlungen steckt. Siehe dazu Rothbard (1995b), vor allem S. 56–59, und Kirzner (1995).

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(verstanden als ein Prozess der Rivalität) zu erforschen, während die Ökonomen der Neoklassik sich ausschließlich auf Gleichgewichtsmodelle konzentrieren, die für die komparative Statik (perfekter Wettbewerb, Monopol oder monopolistischer Wettbewerb) typisch sind.15 Wie wir anhand des Zitats zu Beginn dieses Aufsatzes sehen können, ergibt die Konstruktion einer Wirtschaftswissenschaft auf der Basis eines Gleichgewichtsmodells für Mises keinen Sinn, weil in diesem angenommen wird, dass alle relevanten Informationen, die man für das Zeichnen der entsprechenden Funktionen von Angebot und Nachfrage braucht, gegeben sind. Das grundsätzliche ökonomische Problem ist für die Österreicher ein ganz anderes. Es gilt, den dynamischen Prozess sozialer Koordination zu studieren, in dem die unterschiedlichen Individuen ständig neue Informationen schaffen (die nie gegeben sind), sobald sie Ziele und Mittel suchen, die sie im Kontext ihrer Handlung als relevant erachten. Ohne es zu bemerken, etablieren sie auf diese Art einen spontanen Prozess der Koordination. Für die Österreicher ist das grundsätzliche ökonomische Problem weder ein technisches noch ein technologisches, wie es normalerweise die Theoretiker des neoklassischen Paradigmas voraussetzen, wenn sie annehmen, dass die Mittel und Ziele bereits gegeben sind, und damit das ökonomische Problem so interpretieren, als handelte es sich schlicht um das technische Problem der Maximierung. Anders ausgedrückt: Für die Österreicher besteht das eigentliche ökonomische Problem nicht in der Maximierung einer bekannten Zielfunktion, die bestimmten Beschränkungen unterliegt, die ebenfalls gegeben sind. Im Gegenteil, für sie ist das Problem strikt ökonomisch: Es entsteht, sobald viele Mittel und Ziele existieren, die untereinander konkurrieren, und das Wissen um sie weder gegeben noch konstant, sondern auf die Köpfe zahlloser Menschen verteilt ist, die wiederum ständig aus dem Nichts neue Informationen schaffen. Alle möglichen Alternativen, die bestehen, und alle, die in der Zukunft geschaffen werden, aber auch die relative Intensität, mit der jede von ihnen verfolgt wird, kann nie gewusst werden.16 15

Meine Kollegen in der Österreichischen Schule beziehen sich häufig auf die Tatsache, dass der unternehmerische Prozess das System zu einem Gleichgewicht führen würde, obwohl sie auch zugestehen, dass dieses nie erreicht wird. Ich rede lieber von einem anderen Modell, das ich als den „sozialen Bing Bang“ bezeichnet habe, der unbegrenztes Wachstum und Zivilisierung auf eine Art erlaubt, die so angepasst und harmonisch verläuft (also koordiniert), wie es in der jeweiligen historischen Situation menschenmöglich ist. Dies ist so, weil der unternehmerische Prozess der gesellschaftlichen Koordination nie endet oder sich erschöpft. Mit anderen Worten, unternehmerisches Handeln besteht im Wesentlichen daraus, neue Informa­ tionen zu schaffen und zu übertragen, die zwangsläufig die allgemeine Wahrnehmung von Zielen und Mitteln bei allen Akteuren in der Gesellschaft verändert. Dies wiederum führt zu einem unbegrenzten Auftreten neuer Unordnungen, die wiederum neue Möglichkeiten für einen unternehmerischen Gewinn entstehen lassen, die alsbald von Unternehmern entdeckt und koordiniert werden. Dieser Prozess wiederholt sich immer wieder von selbst, und zwar in einem nie endenden dynamischen Prozess, der dafür sorgt, dass sich Zivilisationen ständig weiterentwickeln (Modell des koordinierten „sozialen Big Bang“). Siehe Huerta de Soto (1992), S. 76 f. 16 Endres (1991), S. 281, Anm. 5, spricht auch vom „Mengerschen Prinzip der Nichtmaximierung“.

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2. Der anhaltende Methodenstreit der Österreichischen Schule 

Darüber hinaus muss man auch zur Kenntnis nehmen, dass selbst diejenigen menschlichen Handlungen, die reines maximierendes oder optimierendes Verhalten darzustellen scheinen, immer auch eine unternehmerische Komponente in sich tragen, da der betreffende Akteur vorher realisiert haben muss, dass der Handlungsplan, der so automatisch und mechanisch daherkommt, letztendlich derjenige ist, der angesichts der spezifischen Umstände, in denen der Akteur sich befindet, sich am ehesten empfiehlt. Anders gesagt: Der neoklassische Ansatz ist schlicht ein spezifischer Fall von geringer Bedeutung. Er ist im Österreichischen Ansatz, der viel allgemeiner und reichhaltiger ist und mehr von der realen Welt erklärt, bereits enthalten bzw. subsumiert. Außerdem liegt für die Österreicher in der Einteilung von Mikro- und Makroökonomie in zwei strikt voneinander getrennte Bereiche, wie es in der Neoklassischen Ökonomie üblich ist, kein Sinn. Im Gegenteil, ökonomische Probleme sollten gemeinsam auf einer zusammenhängenden Grundlage erforscht werden, ohne zwischen ihren mikro- und makroökonomischen Aspekten zu unterscheiden. Die radikale Trennung zwischen mikro- und makroökonomischen Aspekten der Wirtschaftswissenschaft ist eine der auffälligsten Unzulänglichkeiten, die man in den neueren Lehrbüchern der Wirtschaftspolitik finden kann. Statt einen einheitlichen Ansatz für ökonomische Probleme zu präsentieren, so wie es Mises und die Österreicher versuchen, führen die Neoklassiker in die Wirtschaftswissenschaft immer so ein, als bestünde sie aus zwei unterschiedlichen Disziplinen, der Mikroökonomie und der Makroökonomie, die keinerlei Verbindung untereinander hätten und deshalb getrennt voneinander studiert würden. Zu recht meint Mises, dass diese Trennung aus dem Gebrauch von Konzepten entsteht, die, wie etwa das allgemeine Preisniveau, es versäumen, die subjektivistische Grenznutzentheorie auf Geld anzuwenden, und dabei auf einer vorwissenschaftlichen Entwicklungsstufe der Ökonomie verharren. Damals hat man noch versucht, Untersuchungen unter Annahme globaler Aggregate oder Güterklassen vorzunehmen, und nicht im Sinne der inkrementellen oder marginalen Einheiten, die diese haben. Dies erklärt auch, warum man bis auf den heutigen Tag eine ganze „Disziplin“ darauf ausrichtet, die mechanischen Beziehungen, die angeblich zwischen makroökonomischen Aggregaten bestehen, zu untersuchen, wobei die Verbindung zwischen diesen und dem Handeln der Individuen kaum oder gar nicht zu verstehen ist.17 Auf jeden Fall haben die Ökonomen der Neoklassik das Gleichgewichtsmodell zum Schwerpunkt ihrer Forschung erkoren. Im Rahmen dieses Modells nehmen sie an, dass alle Informationen gegeben sind (entweder sicher oder mit einer be 17 „Moderne Ökonomen fragen nicht, was mehr wert ist, Brot oder Eisen, sondern wieviel eine bestimmte Menge Brot oder Eisen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort kostet. Bei Geld kann man nicht auf die gleiche Weise verfahren. Die Tauschgleichung ist mit den Grundprinzipien des ökonomischen Denkens unvereinbar. Sie ist ein Rückschritt in das Denken des Zeitalters, in dem man praxeologische Phänomene nicht verstehen konnte, weil man an holistischen Begriffen festhielt. Wie schon damals, so ist es auch heute nutzlos, über den Wert von Brot oder Eisen im Allgemeinen nachzudenken.“ Siehe Mises (1996), S. 400.

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stimmten Wahrscheinlichkeit) und die verschiedenen Variablen perfekt zueinander passen. Aus Sicht der Österreichischen Schule liegt der hauptsächliche Nachteil dieser Methodologie darin, dass man leicht zu Fehlschlüssen kommt, was Ursache und Wirkung verschiedener ökonomischer Phänomene betrifft. Das Gleichgewicht dient also als eine Art Schleier, der den Theoretiker davon abhält, die wahre Richtung, die zwischen Ursache und Wirkung in den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten besteht, zu entdecken. Für den neoklassischen Ökonomen bestehen gegenseitige (zirkuläre) Bestimmungen zwischen unterschiedlichen Phänomenen statt Tendenzgesetzen, die in eine bestimmte Richtung weisen. Der eigentliche Ursprung dieser Tendenzen (menschliche Handlungen) bleibt verborgen oder wird als unwichtig erachtet.18

Subjektive Kosten (Österreicher) versus objektive Kosten (Neoklassiker) Ein anderes wesentliches Element der Österreichischen Methodologie ist ihr rein subjektives Kostenverständnis. Viele Autoren glauben, es wäre nicht schwierig, dieses Verständnis in das neoklassische Paradigma einzubauen. Die Neoklassiker fügen die subjektive Natur von Kosten allerdings nur rhetorisch ein und arbeiten trotz der Erwähnung der Wichtigkeit von Opportunitätskosten in ihren Modellen immer mit einer objektivistischen Form. Wie auch immer, für die Österreicher stellen Kosten einen subjektiven Wert dar, den der Akteur seinem Ziel zuordnet. Dieses gibt er auf, wenn er sich dazu entscheidet, einen anderen Handlungsplan umzusetzen. Mit anderen Worten, es gibt keine objektiven Kosten. Kosten müssen vielmehr im Rahmen unternehmerischer Wachsamkeit durch jeden Akteur selbst entdeckt werden. Wahrscheinlich bleiben viele mögliche Alternativen unentdeckt, aber sobald sie entdeckt werden, verändern sie die subjektive Wahrnehmung der Kosten auf Seiten des Unternehmers radikal. Objektive Kosten, die den Wert von Zielen bestimmen, existieren daher nicht. Die wirkliche Situation ist das genaue Gegenteil. Kosten werden als subjektiver Wert wahrgenommen. (Insofern sind sie bestimmt.) Sie hängen vom subjektiven Wert des Ziels ab, das der Akteur verfolgt (Konsumgüter). Für den Ökonomen der Österreichischen Schule ist der finale Preis 18

Mises nennt das Gleichgewicht eine „gleichmäßig rotierende Wirtschaft“ und hält es für eine geistige Konstruktion, die nur instrumentellen Wert hat, nämlich den, das analytische Verständnis von genau zwei Problemen in unserer Wissenschaft zu verbessern: das Entstehen des unternehmerischen Gewinns in einem dynamischen Umfeld und die Beziehung, die zwischen den Preisen für die Konsumgüter und für die zur Produktion notwendigen Produktionsfaktoren bestehen. In diesem Punkt würde ich sogar weiter gehen als Mises, da ich glaube, dass es möglich ist, das Entstehen unternehmerischer Gewinne und den Trend zur Festlegung der Produktionsgüterpreise im Einklang mit dem diskontierten Wert der Grenzproduktivität ohne eine Referenz zum Gleichgewichtsmodell herzuleiten und stattdessen sich des dynamischen Prozesses zu bedienen, der zu etwas hinführt, das Mises den „finalen Ruhezustand“ („final state of rest“) nennt (der niemals erreicht wird). Siehe Mises (1996), S. 248.

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eines Konsumgutes die Materialisierung subjektiver Bewertungen im Markt und der Faktor, welcher die Kosten bestimmt, die der Akteur zu tragen bereit ist, um das Konsumgut zu produzieren. Neoklassische Ökonomen unterstellen immer wieder das Gegenteil.

Verbaler Formalismus (Österreicher) versus mathematischer Formalismus (Neoklassiker) Ein weiterer interessanter Aspekt ist, dass die beiden Schulen die Nutzung mathematischer Formeln in der ökonomischen Analyse unterschiedlich sehen. Von Anfang an stellte Carl Menger als Gründer der Österreichischen Schule mit Nachdruck klar, dass der Vorteil einer verbalen Sprache darin liege, das Wesen eines ökonomischen Phänomens beschreiben zu können, etwas, das die mathematische Sprache nicht könne. So fragte Menger Walras in einem Brief, den er ihm 1884 schrieb: „Wie können wir Wissen über das Wesen mithilfe mathematischer Methoden erzielen, z. B. über das Wesen des Wertes oder das Wesen einer Pacht oder das Wesen eines unternehmerischen Gewinns oder der Arbeitsteilung etc.?“19 Mathe­matischer Formalismus ist insbesondere geeignet, Gleichgewichtszustände zu beschreiben, die von neoklassischen Ökonomen erforscht werden. Aber er lässt keinen Platz für die subjektive Wahrnehmung von Zeit und, noch weniger, für die unternehmerische Kreativität. Beide sind wesentliche Bestandteile in der analytischen Argumentation der Österreicher. Hans Mayer fasste die Unzulänglichkeiten des mathematischen Formalismus in der Ökonomie wahrscheinlich besser zusammen als jeder andere, als er folgendes schrieb: „Im Grunde genommen gibt es eine immanente, mehr oder weniger versteckte Fiktion, die den mathematischen Gleichgewichtstheorien zugrunde liegt: Sie verknüpfen in simultanen Gleichungen nicht simultane Größenordnungen, die sich in genetisch kausalen Sequenzen abspielen, als ob sie zur gleichen Zeit existieren würden. Ein Zustand wird im statischen Ansatz synchronisiert, obwohl wir uns in Wirklichkeit in einem Prozess befinden. Man kann aber nicht einfach einen generativen Prozess statisch als einen festen Zustand begreifen, ohne dabei genau das auszublenden, was ihn letztendlich ausmacht.“20

Für die Österreicher bedeutet das, dass viele Theorien und Schlussfolgerungen der neoklassischen Analyse über Produktion und Konsum keinen Sinn ergeben. Dies betrifft z. B. das sogenannte Gesetz vom Ausgleich der (durch Preise) gewichteten Grenznutzen, dessen theoretische Grundlage sehr zweifelhaft ist. Dieses Gesetz unterstellt nämlich, dass ein Akteur in der Lage sei, den Nutzen aller ihm zur Verfügung stehender Güter simultan zu bewerten, und ignoriert dabei die Tatsache, dass jede Handlung sequenziell und kreativ ausgeführt wird und Güter nicht gleichzeitig bewertet werden und somit auch kein Ausgleich ihrer angeblichen Grenz 19 20

Walras (1965), S. 3 Mayer (1994), S. 92.

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nutzen stattfindet. Stattdessen wird im Kontext unterschiedlicher Handlungs­ abschnitte ein Gut nach dem anderen bewertet. Ihre entsprechenden Grenznutzen sind also möglicherweise verschieden, aber nicht vergleichbar.21 Kurzum, aus Sicht der Österreicher kann man die Mathematik in der Ökonomie kaum brauchen, weil sie Größenordnungen synchron miteinander verbindet, die im Hinblick auf Zeit und unternehmerische Kreativität heterogen sind. Aus dem gleichen Grund ergeben für Ökonomen der Österreichischen Schule auch die axiomatischen Kriterien der Rationalität, die von den Ökonomen der Neoklassik oft gebraucht werden, keinen Sinn. Im Ergebnis ist es gut vorstellbar, dass ein Akteur a gegenüber b präferiert und b gegenüber c, aber trotzdem c gegenüber a präferiert, ohne dabei inkonsistent oder irrational zu handeln, da er auch schlicht seine Meinung geändert haben kann (selbst wenn diese Änderung nur für den Bruchteil einer Sekunde anhält).22 Für die Österreicher stellt das neoklassische Kriterium der Rationalität eine Konfusion der Konzepte von Konstanz und Konsistenz dar.

Die Beziehung zur empirischen Welt: die andere Bedeutung von „Vorhersage“ Zu guter Letzt gibt es noch etwas, worin das Paradigma der Österreichischen Schule dem der Neoklassiker diametral entgegensteht: Man hat eine andere Vorstellung davon, wie die Beziehung zur empirischen Welt aussieht und welcher Art Vorhersagen sein können. Die Tatsache, dass der „beobachtende“ Wissenschaftler nicht die praktischen Informationen erhalten kann, die der „beobachtete“ Unternehmer andauernd dezentral schafft und entdeckt, erklärt, warum jede Form empirischer Verifikation in der Ökonomie theoretisch unmöglich ist. Die Öster­reicher meinen, dass die Gründe, mit denen man die theoretische Unmöglichkeit des Sozialismus erklären kann, auch die sind, die zeigen, dass sowohl der Empirismus als auch die Kosten-Nutzen-Analyse bzw. der Utilitarismus im engeren Sinne in unserer Wissenschaft keinen Platz haben. Es ist dabei irrelevant, ob nun Wissenschaftler oder Staatslenker krampfhaft versuchen, praktische Informationen zu erhalten, die je nach dem entweder Theorien verifizieren oder Befehlen eine koordinierende Eigenschaft verleihen sollen. Wenn derlei möglich wäre, dann wäre es auch ratsam, diese Informationen zu nutzen, entweder um eine Gesellschaft 21

Hans Mayer sagt uns, dass dann, wenn „alle der nach Art oder Qualität unterschiedlichen Bedürfnisse nicht reziprok vorhanden sind, das Postulat vom Gesetz der gleichen Grenznutzen in der realen Welt der Psyche unmöglich wird.“ Sehr anschaulich fügt er in einem Kommentar über die theoretische Absurdität der erzwungenen Synchronisierung von Nutzenschätzungen hinzu: „Das ist so, als ob man versuchen würde, die Erfahrung des ästhetischen Wertes beim Hören einer Melodie – erzeugt durch die sukzessive Erfahrung individueller Noten – mit Hilfe des ästhetischen Wertes der simultanen Harmonisierung aller Noten, aus denen die Melodie besteht, zu erklären.“ Mayer (1994), S. 81 ff. Eine sehr ähnliche kritische Analyse könnte in Bezug auf Indifferenzkurven vorgebracht werden. Siehe dazu Salin (1996b). 22 Mises (1996), S. 102 ff., Rothbard (1990a), S. 228 ff.

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durch Zwangsbefehle zu koordinieren (Sozialismus oder Interventionismus) oder empirische Wirtschaftstheorien zu verifizieren. Wie auch immer, vom Standpunkt der Österreichischen Theorie aus sind sowohl das sozialistische Ideal als auch das positivistische oder strikt utilitaristische Ideal aus eben jenen Gründen unmöglich: erstens aufgrund der immensen Menge der in Frage stehenden Informationen, zweitens aufgrund des Wesens der relevanten Informationen (verteilt, subjektiv und stillschweigend), drittens aufgrund der dynamischen Natur des unternehmerischen Prozesses (Informationen, die durch Unternehmer im Prozess der ständigen Wissensschaffung noch nicht generiert wurden, können auch nicht übertragen werden) und schließlich viertens aufgrund des Effektes von Zwang und wissenschaftlicher Beobachtung selbst (der die unternehmerische Funktion stört, korrumpiert, verhindert oder schlicht unmöglich macht). Die gleichen Argumente sind auch anwendbar, um die Österreichische Ansicht zu begründen, es sei in der Wirtschaftstheorie unmöglich, spezifische Vorhersagen zu treffen (etwa in Bezug auf bestimmte Zeit- und Ortsangaben eines entsprechend quantitativ definierbaren empirischen Inhalts). Was morgen passieren wird, kann uns heute nicht wissenschaftlich bekannt sein, da es zum großen Teil von Wissen und Informationen abhängt, die noch gar nicht unternehmerisch geschaffen wurden und deshalb heute auch noch nicht bekannt sein können. In der Ökonomie können deshalb nur allgemeine Trendvorhersagen aufgestellt werden (Hayek nannte sie Mustervorhersagen). Diese sind notwendigerweise theoretischer Natur und beziehen sich bestenfalls auf die Unordnungen und sonstigen Effekte sozialer Fehlkoordination, die durch institutionelle Zwänge auf dem Markt hervorgerufen werden (Sozialismus oder Interventionismus). Wir müssen uns zudem in Erinnerung rufen, dass objektive Tatsachen, die man in der externen Welt beobachten mag, nicht existieren. Folgt man der subjektivistischen Auffassung der Österreichischer, dann ist das durch den Umstand begründet, dass in der Wirtschaftswissenschaft „Fakten“ einfach nur die Vorstellungen sind, die andere von dem haben, was sie tun und anstreben. Sie können vielleicht nie direkt beobachtet werden, sondern nur historisch interpretiert werden. Um eine gesellschaftliche Situation zu interpretieren, die einen geschichtlichen Zustand darstellt, braucht man zunächst eine Theorie. Außerdem braucht man eine nicht-wissenschaftliche Beurteilung ihrer Relevanz (Verstehen). Diese ist nicht objektiv, sondern kann von Historiker zu Historiker variieren und damit ihre Disziplin (Geschichte) in eine echte Kunst verwandeln. Schließlich sind die Österreicher der Ansicht, dass empirische Phänomene ständig variabel sind, so dass es keine Parameter oder Konstanten in sozialen Geschehnissen geben kann. Dies macht das grundsätzliche Ziel von Ökonometrie sowie jede Form eines positivistischen, methodologischen Programms schwierig (angefangen beim naiven Verifikationismus bis hin zum ausgeklügelten Falsifikationismus von Popper), wenn nicht sogar unmöglich. Entgegen dem positivistischen Ideal der Neoklassiker versuchen die Ökonomen der Österreichischen Schule ihre

Unterschiede zwischen der Österreichischen und der Neoklassischen Schule 

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Disziplin durch Apriorismen und Deduktion aufzustellen. Das Ziel ist, kurzum, ein komplettes logisch-deduktives Arsenal23 auf der Basis von selbsterklärendem Wissen anzulegen (in der Hauptsache Axiome wie z. B. das subjektivistische Verständnis menschlicher Handlungen), das entweder durch Introspektion oder die persönliche Erfahrung des Wissenschaftlers entsteht oder für evident erklärt wird, weil niemand gegen das Axiom argumentieren kann, ohne dabei sich selbst zu widersprechen.24 Dieses theoretische Arsenal ist für die Österreicher unverzichtbar, um scheinbar nicht miteinander in Beziehung stehende komplexe historische Phänomenen, welche die soziale Welt ausmachen, adäquat zu erklären, die Geschichte nachzuzeichnen und Vorhersagen für die Zukunft zu treffen, die halbwegs Beständigkeit, Sicherheit und Erfolgsaussichten haben (eine typische Aufgabe für den Unternehmer). Nun kann man verstehen, warum den Österreichern die Geschichte als Disziplin generell sehr wichtig ist und warum sie versuchen, Wirtschaftstheorie und Geschichte voneinander zu trennen und angemessen aufeinander zu beziehen.25 Hayek nennt die unpassende Verwendung der naturwissenschaftlichen Methode im Felde der Sozialwissenschaften Szientismus. Es gibt in der natürlichen Welt Konstanten und funktionale Beziehungen, die eine Anwendung der mathematischen Sprache und die Durchführung quantitativer Experimente in einem Labor erlauben. Wie auch immer, für die Österreicher gibt es in der Ökonomie – anders als in der Physik und in den Naturwissenschaften – keine funktionalen Beziehungen (und deshalb auch keine Funktionen von Angebot, Nachfrage, Kosten oder irgendeiner anderen Größe). Erinnern wir uns daran, dass in der Mengenlehre eine Funktion lediglich das Verhältnis der Elemente zweier Mengen beschreibt, die „Anfangsmenge“ und „Endmenge“ genannt werden. Aufgrund der angeborenen kreativen Fähigkeit des Menschen, der in allen Situationen – seine Ziele vor Augen und die notwendigen Mittel zu ihrer Umsetzung in Reichweite – handelt und so ständig neue Informationen schafft und entdeckt, leuchtet es ein, dass keines der drei notwendigen Elemente für eine funktionale Beziehung existiert. Erstens, die Elemente der Anfangsmenge sind nicht gegeben oder konstant. Zweitens, die Elemente, welche die Endmenge ausmachen, sind weder gegeben noch konstant. Und 23 Ein herausragendes Beispiel ist die Demonstration des Gesetzes abnehmender Grenz­ nutzen mit ausschließlich logischen Begriffen (Überschrift 2 in Kapitel 7 von Human Action). Diese logische Demonstration basiert auf der Tatsache, die aus dem Umkehrschluss folgt: Wenn das erwähnte Gesetz in der Welt menschlicher Handlungen nicht gelten würde, dann hätten die vermeintlich fixen Produktionsfaktoren unbegrenzte Möglichkeiten und wären somit freie Güter. Karl Menger, der Sohn des großen Österreichischen Ökonomen, hat unserer Meinung nach erfolglos versucht, Mises’ Theorem über die strikt praxeologische Natur des Gesetzes abnehmenden Grenznutzens zu widerlegen. Siehe K. Menger (1979). 24 Die erste Position wurde von Rothbard vertreten, die zweite von Mises. Sie ist die Zusammenfassung der methodologischen Positionen der Österreichischen Schule durch Hans-­ Hermann Hoppe. Vgl. Hoppe (1995) sowie den aktuellen und klärenden Aufsatz von Barry Smith (1996). 25 Eine gewogene und unaufgeregte Erklärung des methodologischen Paradigmas der Österreichischen Schule findet man in Caldwell (1994), S. 117–138. Die wichtigsten Arbeiten zum Verhältnis von Theorie und Geschichte stammen von Mises (1957) und Hayek (1952).

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drittens – und am wichtigsten –, auch die Verhältnisse zwischen den Elementen sind nicht gegeben, sondern variieren infolge der Handlungen und der kreativen Kapazität des Menschen unentwegt. Folgt man den Österreichern, dann erfordert der Gebrauch von Funktionen in unserer Disziplin, dass den Informationen Konstanz unterstellt wird. Damit eliminiert man den Protagonisten des gesamten sozialen Prozesses: den Menschen mit seiner angeborenen kreativen unternehmerischen Fähigkeit. Das große Verdienst der Österreichischer besteht im Nachweis, ein gesamtes Theoriegebäude logisch aufbauen zu können,26 ohne Funktionen nutzen oder Konstanz annehmen zu müssen, die der kreativen Natur des Menschen konträr entgegenstehen. Der Mensch ist der einzig wahre Protagonist aller sozialen Prozesse, die in der Ökonomie erforscht werden. Selbst die bekanntesten neoklassischen Ökonomen mussten anerkennen, dass es wichtige ökonomische Gesetzmäßigkeiten gibt, die nicht empirisch verifiziert werden können (etwa die Evolutionstheorie und die Theorie der natürlichen Selektion).27 Die Österreicher haben stets betont, dass empirische Studien allein nicht reichen, um die Wirtschaftstheorie voranzubringen. Im Grunde genommen liefern empirische Studien höchstens einige Informationen zu bestimmten Aspekten der Resultate sozialer Prozesse, die in der Realität stattfinden. Sie bieten aber keine Informationen über die formale Struktur besagter Prozesse. Aber genau darin besteht das Forschungsobjekt der Wirtschaftstheorie. Mit anderen Worten, Statistiken und empirische Studien können kein theoretisches Wissen liefen (der Fehler der Deutschen Historischen Schule des 19. Jahrhunderts, in unserer Zeit unter den Ökonomen der neoklassischen Schule weit verbreitet). Außerdem – wie Hayek so treffend in seiner Rede anlässlich der Nobelpreisverleihung sagte – ergeben Aggre­ gate, die statistisch gemessen werden können, oft keinen theoretischen Sinn und, umgekehrt, können viele Konzepte von großer theoretischer Bedeutung nicht empirisch gemessen werden.28 Kurzum, die wesentlichen Vorwürfe, welche die Österreicher an die Neoklassi­ ker richten, sind folgende: Erstens, sie konzentrieren sich ausschließlich auf Gleichgewichtszustände und verwenden dabei ein Maximierungsmodell, das voraussetzt, dass die Akteure alle Informationen über die Zielfunktion und deren Beschränkungen haben. Zweitens, ihre meist zufällige Wahl von Variablen und Parametern der Zielfunktion und deren Beschränkungen schließt in der Regel die offensichtlichsten ein und lässt andere außen vor, obwohl diese ebenfalls von großer Bedeutung sind, allerdings sehr viel schwieriger empirisch kontrollierbar bleiben (moralische Werte, Gewohnheiten etc.). Drittens, die Neoklassiker konzentrieren sich auf Gleichgewichtsmodelle, die sie mit mathematischem Formalismus bearbeiten, und übersehen dabei die wahren Ursachen und Wirkungen. Viertens, sie erklären 26

Man sollte besser „praxeologisch“ sagen. Gemäß Mises kann Logik von Praxeologie getrennt werden, weil erstere konstant und nicht zeitlich ist, während letztere Zeit und Kreativität einschließt. Vgl. Mises (1996), S. 99 f. 27 Siehe Rosen (1997) 28 Hayek (1989).

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zu theoretischen Schlussfolgerungen, was eigentlich nur Interpretationen historischer Situationen sind, die keine allgemeine theoretische Gültigkeit haben, auch wenn sie in einigen Fällen relevant sein mögen. Die obigen Betrachtungen führen nicht dazu, dass alle Schlussfolgerungen neoklassischer Analyse notwendigerweise falsch sind. Im Gegenteil, eine große Anzahl von ihnen trifft wahrscheinlich zu. Der einzige Punkt, auf den die Österreicher aufmerksam machen wollen, ist, dass es keine Garantie für die Gültigkeit der Schlussfolgerungen gibt, zu denen die neoklassischen Ökonomen gelangen, und dass diejenigen, die gültig sind, auch sehr gut aus der dynamischen Analyse gezogen werden können, für die die Österreicher stehen. Deren Form der Analyse hat zudem den Vorteil, fehlerhafte Theorien (von denen es auch viele gibt) zu isolieren, da sie die Defekte zutage fördern, welche der empirischen Methode, basierend auf Gleichgewichtsmodellen, verborgen bleiben.

Die Runden des Methodenstreits Die Österreichische Schule hat ihre methodologische Position seit ihrer Gründung im Jahr 1871 bis heute weiterentwickelt  – mit anderen Worten, innerhalb einer sehr langen Zeitperiode –, fast immer angetrieben durch zahlreiche doktrinäre Debatten, an denen sie teilgenommen hat. Man sollte bedenken, dass der Methodenstreit sich seit den Anfängen der Österreichischen Schule hinzieht und seither die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaft beeinflusst. Wir werden nun die wichtigsten der bisherigen Etappen des Methodenstreits der Österreichischen Schule rekapitulieren.

Erste Runde: Carl Menger versus Deutsche Historische Schule29 Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass die Österreichische Schule der Nationalökonomie 1871 mit der Publikation von Mengers Buch Grundsätze der Volkswirthschaftslehre entstanden ist. Die originellste und wichtigste Idee in Mengers Traktat bestand in dem Versuch, die Ökonomie so zu konstruieren, dass der Mensch – verstanden als kreativer Akteur und Protagonist – in allen gesellschaftlichen Prozessen als Ausgangspunkt dient (Subjektivismus). Die Früchte dieses Verständnisses sind die zwei wichtigsten Ideen von Menger. Zum einen entwarf Menger als erster in der Wirtschaftswissenschaft eine Theorie auf der Basis des Handlungsprozesses, der sich in einer Reihe von Zwischenstufen vollzieht (ökonomische Güter der höheren Ordnung), die der Akteur unternimmt. Der Handelnde führt seine Handlungspläne aus und versucht, sie zu kulminieren, bis 29 Obwohl sie nicht vollständig mit unserer Beschreibung der unterschiedlichen Kontro­ versen zwischen der Österreichischen Schule und den Neoklassikern übereinstimmt, sollte die Zusammenfassung von Lawrence A. White (1984a) zu Rate gezogen werden.

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das Ziel, das letztendliche Konsumgut, erreicht ist (ökonomische Güter der ersten Ordnung). Menger kommt zum Schluss: „Wenn wir über die complementären Güter irgend einer höheren Ordnung verfügen, so müssen diese Güter vorerst in solche der nächst niederen und so stufenweise fort verwandelt werden, bis dieselben zu Gütern erster Ordnung gestaltet sind, welche letzteren wir erst der Befriedigung unserer Bedürfnisse in unmittelbarer Weise zuführen können.“30

Mengers zweiter wesentlicher Beitrag ist seine ökonomische Theorie zur Entstehung gesellschaftlicher Institutionen. Menger entdeckte, dass Institutionen das Ergebnis eines gesellschaftlichen Prozesses sind, der durch eine Vielzahl menschlicher Handlungen geformt wird und an dessen Spitze Menschen (Unternehmer) stehen, die es verstehen, an ihrem Ort und zu ihrer Zeit vor allen anderen zu entdecken, dass sie ihre Ziele einfacher erreichen, wenn sie ein bestimmtes Verhaltensmuster befolgen. Auf diese Weise entsteht ein dezentralisierter Prozess von Versuch und Irrtum, in dem die Verhaltensmuster, die am ehesten Koordination in die gesellschaftliche Unordnung bringen, am Ende obsiegen. Durch einen unbewussten Prozess des Lernens und Imitierens färbt das Beispiel der Kreativsten und Erfolgreichsten auf die anderen Mitglieder der Gesellschaft ab. Auf diese Weise entstehen Institutionen – verstanden als regelgebundenes Verhalten, das Leben in Gesellschaft ermöglicht – im Felde der Ökonomie (Geld), der Legalität (Regeln und moralisches Verhalten) und der Linguistik.31 Die Tatsache, dass unter den Professoren der Deutschen Historischen Schule Mengers Beitrag nicht nur nicht verstanden wurde, sondern auch für eine gefährliche Attacke gegen den Historizismus gehalten wurde, muss für Menger sehr frustrierend gewesen sein. Anstatt zu erkennen, dass Menger die notwendige theoretische Grundlage für das evolutionäre Verständnis gesellschaftlicher Prozesse lieferte, argwöhnten sie, dass die abstrakte und theoretische Natur seiner Analyse mit der engen Auslegung des Historizismus, die ihnen lieb war, unvereinbar wäre. Dies war der Beginn der ersten und wohl berühmtesten Auseinandersetzung, in welche die Österreicher verwickelt waren. Der Methodenstreit (Disput I) nahm Mengers geistige Energie für einige Jahrzehnte in Anspruch.32 30

Siehe insbesondere die Überschriften zwei, drei und vier in Kapitel 1 von Menger (1871). Das Zitat aus dem Text findet sich dort auf Seite 22. 31 Die brillanteste und präziseste Erklärung von Mengers Theorie kann in seinem Aufsatz nachgelesen werden, der im Englischen unter dem Titel „On the Origin of Money“ veröffentlicht wurde (Economic Journal, Juni 1892, S. 239–255). Dieser Aufsatz wurde von Israel M. Kirzner (1994b) neu herausgegeben; Band 1, S. 91–106, insbesondere S. 98 f. 32 Der Begriff „Historizismus“ hat mindestens drei verschiedene Bedeutungen. Die erste ist mit der Historischen Schule des Rechts verbunden (Savigny, Burke), steht dem cartesianischen Rationalismus entgegen und wird von der Österreichischen Schule bei der theoretischen Analyse der Institutionen verteidigt. Die zweite Bedeutung bezieht sich auf die Historische Schule der Ökonomie, vertreten von deutschen Professoren des 19. Jahrhunderts und von den amerikanischen Institutionalisten des 20. Jahrhunderts. Sie verneinen die Möglichkeit der Existenz einer universell gültigen ökonomischen Theorie, wie sie von Menger und den Österreichischen Ökonomen vertreten wird. Die dritte Form des Historizismus findet man im Fun-

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Eines der wichtigsten Nebenergebnisse des Methodenstreits war Mengers früher Entwurf einer Methodologie, die zur Wirtschaftswissenschaft passte. Seine Methodologie besteht aus einer Reihe von Theorien. Diese konstituieren die „Form“ (im aristotelischen Sinne), die das Wesen ökonomischer Phänomene zum Ausdruck bringt. Diese Form wird durch den Vorgang der inneren Reflexion (Introspektion) zutage fördert, der sich im Laufe eines logischen und auf deduktiven Schlussfolgerungen gründenden Prozesses bildet. Geschichte begleitet Theorie und besteht aus empirischen Fakten, die den „Stoff“ (im aristotelischen Sinne) liefern. Aus der Geschichte kann keine Theorie direkt abgeleitet werden. Im Gegenteil, eine vorangehende Theorie ist notwendig, um Geschichte angemessen zu interpretieren. Auf diesem Weg legte Menger die Grundlagen von dem, was als die traditionelle Methodologie der Österreichischen Schule bezeichnet werden kann.33 Wie neuere Studien gezeigt haben, griff Menger, über Say, auf eine ältere Denktradition zurück, die, dank des negativen Einflusses von Adam Smith und der Englischen Klassischen Schule, in Vergessenheit geraten war. Ich meine die kontinentale katholische Tradition, die auf weltlicher Basis alle wesentlichen Elemente erstellt hat, die das Paradigma der Österreichischen Schule von heute konstituieren. Was die spontane Entstehung der Institutionen angeht, so kann man sie, wie Bruno Leoni gezeigt hat, weit zurückverfolgen. Man entdeckt sie in der Rechtstradition der Römer,34 bei den spanischen Scholastikern,35 wie Juan de Lugo und Juan de Salas,36 sowie bei den französischen Theoretikern Balesbat 1692, Marquis dament des methodologischen Positivismus oder Szientismus. Hier wird versucht, mit Hilfe von emprischen Beobachtungen (Geschichte) Theorien zu verifizieren oder zu falsifizieren. Gemäß Hayek handelt es sich dabei um eine andere Form des cartesianischen Rationalismus, der von den Österreichern so stark kritisiert wird. Siehe Cubbedu (1993). 33 Zu Say als Vorgänger der Österreichischen Methode siehe insbesondere Rothbard (1995a), Band II, S. 12–18. 34 Leoni (1991). 35 Unter anderem haben folgende Wissenschaftler die Beiträge der spanischen Scholastiker für die ökonomische Theorie erforscht: Rothbard (1976) und Rothbard (1995a), Band 1, Kapitel 4; Beltrán (1996); Grice-Hutchinson (1952, 1993); Chafuen (1986); Huerta de Soto (1996), Kapitel 14 und 15 im vorliegenden Buch. Der geistige Einfluss der spanischen Theoretiker der Schule von Salamanca auf die Österreichische Schule ist kein reiner Zufall der Geschichte. Er entstand aus der engen historischen, politischen und kulturellen Beziehung, die seit der Herrschaft von Karl V. und seinem Bruder Ferdinand I. zwischen Spanien und Österreich bestand und für mehrere Jahrhunderte anhielt. Außerdem spielte Italien in dieser Beziehung eine wichtige Rolle, da es als eine authentische, kulturelle, ökonomische und finanzielle B ­ rücke zwischen den beiden am weitesten entferntesten Punkten des Reiches (Spanien und Wien) fungierte. Siehe hierzu Bérenger (1990). 36 Ersterer fragte sich, was den Gleichgewichtspreis ausmache, und kam zu der Schlussfolgerung, dass dieser von einer so großen Anzahl spezifischer Umstände abhänge, dass nur Gott dazu in der Lage sei, diesen zu kennen. („Pretium iustum mathematicum licet soli Deu notum“, Disputationes de Iustitia et Iure, Lyon: Sumptibus Petri Prost, 1642, Band II, D.26, S. 4, N.40, S. 312); sowie Juan de Salas, der sich zu der Möglichkeit äußerte, spezifische Informationen über den Markt zu wissen und meinte, dass dieser so komplex sei, dass „quas exacte comprehendere et ponderare Dei est non hominum“ (Commentarii in Secundam Secundae D. Thomas de Contractibus, Lyon: Sumptibus Horatij Lardon, 1617, IV, Nummer 6, S. 9).

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D’Argenson 1751 und, vor allem, Turgot, der lange vor Adam Smith die Natur des verteilten Wissens in, als spontane Ordnungen begriffenen, gesellschaftlichen Institutionen beschrieb. 1759 kam Turgot zu dem Schluss: „Man muss nicht beweisen, dass der Einzelne am besten darüber richten kann, wie er sein Land und seine Arbeit am vorteilhaftesten nutzt. Er allein hat das spezielle Wissen, ohne das selbst der aufgeklärteste Mensch nur blind urteilen könnte. Er lernt durch wiederholte Versuche, durch seine Erfolge und Niederlagen, und erlangt dadurch ein Gespür, das viel klüger als das theoretische Wissen des unbeteiligten Beobachters ist, da der Wille es bewegt.“37

Turgot verwies auch darauf, dass es vollkommen unmöglich ist, angesichts starrer Regeln und ständiger Kontrollen Transaktionen in großer Zahl durchzuführen, die man schon alleine aufgrund ihrer Anzahl nicht vollständig überblicken kann und die zudem von einer Reihe sich ändernder Umstände abhängen, die nicht vorhersehbar sind.38 Die subjektive Werttheorie wurde auch durch die spanischen Scholastiker des 16. Jahrhunderts, insbesondere durch Diego de Covarrubias y Leyva, entwickelt.39 Luis Saravia de la Calle wies als erster nach, dass Preise Kosten bestimmen und nicht umgekehrt. Die spanischen Scholastiker haben dieses subjektivistische Verständnis auch auf die Geldtheorie übertragen (Azpilcueta Navarro sowie Luis de Molina). Außerdem verfügten sie über ein Verständnis der unternehmerischen Funktion, das zuvor durch San Bernardino von Siena und den Heiligen Antonius von Florenz entwickelt wurde und später in den Mittelpunkt der Forschungen von Cantillon, Turgot und Say rückte. Die negativen Auswirkungen der protestantischen Reformation nahmen dieser Tradition ihren Einfluss vollständig weg und erklären auch bis zu einem gewissen Grad den Rückschritt, den Adam Smith auslöste und den Leland B. Yeager in seiner Rezension zu Rothbards posthum erschienenem Buch über die Geschichte des ökonomischen Denkens mit folgenden Worten beschrieb: „Smith vernachlässigte frühere Beiträge zum subjektiven Wert, der unternehmerischen Funktion sowie zur Hervorhebung realer Märkte und Preise. Er ersetzte dies alles mit einer Arbeitswertlehre und überlagerte es, indem er den Fokus auf den „natürlichen Preis“ und dessen langfristiges wie unveränderliches Gleichgewicht richtete. Die unternehmerische Funktion existierte in dieser Welt einfach nicht. Smith verwechselte Calvinismus mit Ökonomie, als er Zinswucherverbote unterstützte und zwischen produktiven und unproduktiven Beschäftigungen unterschied. Er ließ von den verschiedenen Laissez-faire-Ökonomen des 18. Jahrhunderts ab und führte viele Missverständnisse ein. Sein Werk war unsystematisch und von Widersprüchen durchzogen.“40 37

Turgot (2011), S. 109. Vgl. Rothbard (1995a), Band I, S. 268, 369 und 387 f. 39 Covarrubias Arbeit über Geld wird von Carl Menger (1871) auf S. 257 der ersten Auflage seiner Grundsätze zitiert. 40 Yeager (1996), S. 183. Ich kann nicht verstehen, wie jemand, der die beiden Bände von Rothbard gründlich gelesen hat, weiterhin die These vertreten kann, Adam Smith sei ein Vorläufer der Österreichischen Schule gewesen. Wenn Rothbard richtig liegt, dann gibt es gute 38

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Zweite Runde: Böhm-Bawerk versus John Bates Clark (sowie versus Marshall und Marx) Der führende Vertreter der Österreichischen Schule in der zweiten Runde des Methodenstreits war Böhm-Bawerk. Die zweite Runde manifestierte sich in einem Streit, der aus unserer Sicht äußerst wichtig ist (der Streit mit John Bates Clark, Disput II) sowie die Debatten von geringerer Wichtigkeit mit Marshall (Disput III) und Marx (Disput IV). John Bates Clark widersprach dem dynamischen Handlungskonzept, das Menger eingeführt hatte, sowie dem Mengerschen Handlungsbegriff, den dieser stufenweise entwickelt hatte, energisch. Folgerichtig interpretierte Clark Kapital als ein homogenes Gut, das sich von selbst reproduziere, so dass Produktion (also menschliches Handeln) unmittelbar und nicht mit der Zeit stattfinde. Ohne diese These hätte Clark nicht schlussfolgern können, dass der Zins durch die marginale Produktivität von Kapital bestimmt wird. Diese These verlangt nicht nur, dass Kapital als ein Fonds verstanden wird, der sich selbst sofort reproduziert, sondern auch als ein perfekt angepasstes statisches Umfeld (im Gleichgewicht), das die Kapitalwerte mit deren historischen Produktionskosten erklärt. Clark selbst erkannte, dass seine These nur in einem vollkommen angepassten und im Gleichgewicht befindlichen statischen Umfeld Sinn ergibt, als er schrieb: „Unter den dynamischen Umständen einer Gesellschaft wird Zeit benötigt, bevor irgendein Gut Konsumgut sein kann. Innerhalb dieser Zeit müssen die Eigentümer auf ihre ersehnten Produkte warten. Die normale Wirkung von Kapital offenbart sich, sobald die Reihe der Güter in ihren verschiedenen Produktionsstufen eingetreten ist.“41

Böhm-Bawerk kritisierte Clarks These,42 nannte sie mystisch und mythologisch. Er zeigte, dass sie nicht nur einen radikalen Angriff auf Mengers dynamische Konzeption bedeutete, sondern auch die endgültige Inthronisierung des statischen Gründe, um die These zu verteidigen, dass die Österreichische Schule an ihren Wurzeln eine spanische Schule war und die deutschen Vorläufer von Menger nicht von Smith beeinflusst waren, sondern von der katholischen Tradition des Subjektivismus, die sie durch Jean-Baptiste Say, Hufeland und andere kannten. 41 Clark (1893), S. 312. 42 Böhm-Bawerk (1895). In weiser Voraussicht weist Böhm-Bawerk auch darauf hin, dass die Theorie des Unterkonsums, die ältere Ökonomen längst widerlegt hatten, wieder auftauchen würde, wenn Clarks statische Sicht sich durchsetzen sollte. So geschah es ja auch mit dem Keynesianismus, der sich aus der neoklassischen Sicht von Marshall entwickelte: „Wenn man Clark in der Sache folgt, dann erscheint einem der Satz, Kapital könne nicht konsumiert werden, auch nur noch wie eine schöne, aber ungenaue Redewendung, die nicht allzu wörtlich genommen werden sollte. Jeder, der diesen Satz zu wörtlich nimmt, begeht einen schweren Fehler, den die Wissenschaft wahrlich schon mal begangen hat. Ich beziehe mich auf die bekannte und früher weit verbreitete Doktrin, dass Sparen für die Gesellschaft schlecht sei, die Verschwender aber eine nützliche Funktion in der Gesellschaft erfüllten, weil das Gesparte nicht ausgegeben würde und die Produzenten folglich keine Märkte finden würden.“ Böhm-­ Bawerk (1895), S. 137.

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Paradigmas vom Gleichgewicht in der Welt der Ökonomie. Nach Böhm-Bawerks Auffassung, die sich im Nachhinein als faktisch richtig herausstellte, hatte dies ernsthafte Konsequenzen für die künftige Entwicklung der Ökonomie. Auch die neoklassischen Autoren, die Clark folgten, begriffen, dass sie – um ihr Theoriegebäude vollständig zu erhalten – das dynamische Verständnis von Handlung, das sich in einer Reihe zeitlicher Abschnitte konstituiert, zerstören mussten. So erging es auch z. B. Frank H. Knight, der Gründer der Chicagoer Schule, als er in den 1930er Jahren die Auseinandersetzung, die zwischen Clark und Böhm-Bawerk Ende des 19. Jahrhunderts stattgefunden hatte, mit Hayek und Machlup erneut führte.43 Clarks Einfluss auf die weitere Entwicklung des ökonomischen Denkens war sehr nachteilig. An sich vertrat er gegen die amerikanischen Institutionalisten eine Position, die einzuräumen schien, dass die Österreicher im Disput mit der Deutschen Historischen Schule richtig lagen. In Wirklichkeit aber brachte die neoklassische Verteidigung des Gleichgewichtsparadigmas und der frontale Angriff auf Mengers dynamisches Handlungskonzept den Mainstream in unserer Wissenschaft vom Weg ab und führte sie in eine ganz andere Richtung als jene, welche die Österreicher eingeschlagen hatten. Außer in die Auseinandersetzung mit Clark (die wir Disput II nennen, um sie von Disput I zwischen Menger und den Vertretern des Historizismus zu unterscheiden) war Böhm-Bawerk in zwei weitere Debatten involviert, eine mit Marx und eine andere mit Marshall. Beide spiegeln verschiedene Aspekte der Österreichischen Schule wider. Mit Marx ging es um die Tatsache, dass er nicht die Subjektivität der Zeitpräferenz einbezog, die der marxistischen Analyse des Mehrwertes und der Ausbeutung ihre Möglichkeiten nahm.44 In der Auseinandersetzung mit Marshall ging es darum, dass Letzterer Ricardo rehabilitieren wollte, zumindest in Bezug auf die Angebotsseite. Marshall verteidigte die Auffassung, bei Ricardo hätten vor allem Betrachtungen zu den historischen Kosten der Produktion im Vordergrund gestanden. Marshall war nicht in der Lage, das Österreichische Konzept der subjektiven Opportunitätskosten mit all seinen Implikationen einzubeziehen.45 43

Frank H. Knight z. B. ist der Meinung, dass Mengers Theorie zu den ökonomischen Gütern der ersten oder höheren Ordnung (Idee der menschlichen Handlung, die aus verschiedenen Ebenen besteht) einer seiner weniger wichtigen Beiträge zur Ökonomie war. Siehe dazu den „Prolog“, den er für die erste englische Auflage von Principles of Economics geschrieben hat, Menger (1959). Was die wichtigsten Beiträge in der Debatte mit der Chicagoer Schule angeht, so sind zu nennen: Machlup (1935) und Hayek (1936). 44 Böhm-Bawerk (1959), Band I, S. 241–321, und Böhm-Bawerk (1962), S. 201–302. 45 Siehe Böhm-Bawerk (1959), Band  III, Kapitel VIII, S. 97–115, sowie Böhm-Bawerk (1962), S. 303–370. Das subjektivistische Verständnis von Opportunitätskosten wurde ursprünglich von Friedrich von Wieser im Jahr 1876 entwickelt. Siehe Wieser (1994a). Mises hat gezeigt, dass Wieser das Mitglied der Österreichischen Schule war, das dem neoklassischen Paradigma der Schule von Lausanne am nächsten stand: „Wieser war kein kreativer Denker und hat im Prinzip eher geschadet als genutzt. Er hat nie wirklich die Idee hinter dem Sub­jektivismus der Österreichischen Schule verstanden. Diese Einschränkung hat ihn viele unglück­liche Fehler machen lassen. Seine Theorie über die Zurechnung ist haltlos. Seine Ideen zur Berechnung von Werten würden die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass er eigentlich kein

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Dritte Runde: Mises, Hayek und Mayer versus Sozialismus, Keynes und die Neoklassiker Die dritte Runde der methodologischen Auseinandersetzungen der Österreicher begann mit der dritten Generation der Österreichischen Schule, angeführt durch Mises. In dieser Phase war der wichtigste Streitpunkt der durch Mises initiierte Disput über die theoretische Unmöglichkeit des Sozialismus (Disput V). Für Mises war das Theorem der theoretischen Unmöglichkeit des Sozialismus eine direkte Folge der subjektivistischen und dynamischen Konzeption, die durch die Österreichischen Ökonomen entwickelt wurde. Wenn die Quelle aller Wünsche, Bewertungen und Kenntnisse tatsächlich in der kreativen unternehmerischen Kapazität der Menschen zu finden ist, dann muss jedes System, das wie der Sozialismus auf dem Gebrauch von Zwang gegen freie menschliche Handlungen beruht, die Schaffung und Übermittlung von Informationen verhindern, die notwendig sind, um die Gesellschaft zu koordinieren. Mises war sehr wohl klar, dass die neoklassischen Ökonomen deshalb nicht in der Lage sind, das Theorem der Unmöglichkeit des Sozialismus zu verstehen, weil sie es ihnen nie möglich war, das Österreichische Verständnis von Subjektivität und Dynamik zu akzeptieren. Für Mises „hat die Illusion, dass in einer Gesellschaft, die auf Gemeineigentum von Produktionsmitteln basiert, eine rationale Ordnung durch ökonomisches Management möglich sei, ihren Ursprung in der Werttheorie der klassischen Ökonomen und in der Beharrlichkeit, mit der viele moderne Ökonomen daran scheitern, die subjektivistische Theorie bis in ihre letzten Einzelheiten von Grund auf zu durchdenken. … Tatsächlich waren es die Fehler dieser Schule, die den sozialistischen Ideen zur Blüte verhalfen.“46

Als Beispiel sei noch einmal an den Gründer der Chicagoer Schule erinnert, Frank H. Knight, der sogar meinte, der Sozialismus sei ein politisches Problem, das man mit Begriffen der Sozialpsychologie und politischen Psychologie zu diskutieren habe und zu dem die Wirtschaftstheorie wenig beizutragen habe.47 Auch die neoklassischen Ökonomen unserer Tage verstehen die tiefreichenden theoretischen Gründe, die für die Unmöglichkeit des Sozialismus sprechen, nicht wirklich und haben bestenfalls versucht, den Zusammenbruch des Sozialismus a posteriori zu erklären: entweder als einen Fehler bei der Interpretation statistischer Daten, der den Systemen des real existierenden Sozialismus unterlaufen und von der Zunft der Ökonomen unkritisch hingenommen worden sei, oder mit dem Argument, dass man die Rolle der Anreize im ökonomischen Leben nicht richtig eingeschätzt habe.48 Mitglied der Österreichischen Schule, sondern eher ein Mitglied der Schule von Lusanne ist (Léon Walras et al. und die Idee des ökonomischen Gleichgewichts)“. Siehe Mises (1978a), S. 36. 46 Mises (1996), S. 206. 47 Knight (1938). 48 Das waren, um ein Beispiel zu nennen, die einzigen Erklärungen, die Gary Becker in seiner „Presidential Address“ beim Regionaltreffen der Mont Pèlerin Society gab, das vom 3.–6. November 1991 in Prag stattfand. Der Titel lautete: „In Search of a Transition to a Free Society“.

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Glücklicherweise haben die früheren sozialistischen Ökonomen die Tatsachen besser erkannt als ihre neoklassischen Kollegen im Westen und zur Kenntnis genommen, dass Oskar Lange und die anderen neoklassischen Sozialisten es nie geschafft haben, der Österreichischen Herausforderung gerecht zu werden.49 Es lässt allerdings hoffen, wenn man sieht, dass neuerdings ein neoklassischer Autor vom Formats eines Joseph E. Stiglitz letztlich eingestanden hat, dass die Standard­ modelle der Neoklassik an der desaströsen Lage, in der sich so viele osteuropäische Länder wiedergefunden haben, eine Mitschuld tragen. Man könne mit Fug und Recht behaupten, dass wirtschaftstheoretische Ideen unsägliches Leid über die Hälfte der Weltbevölkerung gebracht hätten.50 Die Auseinandersetzung mit den Makroökonomen, insbesondere mit Keynes und den Theoretikern aus Cambridge (Disput VI), die auf der Seite der Österreicher im Prinzip von Hayek bestritten wurde, entsprang ebenfalls ganz natürlich aus einer Gegenüberstellung der jeweiligen Auffassungen: Auf der einen Seite untersuchte man ausschließlich makroökonomische Aggregate und auf der anderen setzte man auf die von den Österreichern entwickelte dynamische Konzeption des Marktes. Natürlich können wir uns hier nicht mit der jeweiligen Entwicklung sämtlicher Dispute befassen,51 aber Tabelle 2.2 zeigt eine Zusammenfassung dessen, worin sich die Österreichische Schule und die Neoklassische Schule in makroökonomischer Hinsicht unterscheiden. (Für unsere Zwecke setzt sich letztere aus Monetaristen und Keynesianern und deren jeweiligen Erben zusammen.)52 Die Theoriediskussionen, die zwischen den beiden Weltkriegen stattfanden, bestärkten die Österreicher in der Annahme, dass ihr vermeintlicher Erfolg in der ersten Runde des Methodenstreits mit der Deutschen Historischen Schule ein Pyrrhussieg war und sie dasselbe durchlebt hatten wie die Theoretiker der Currency School 1844 mit Peels Gesetz. Eines der wichtigsten Nebenergebnisse in der Ausein­ andersetzung um die Unmöglichkeit des Sozialismus war also, wie Kirzner einmal bemerkte, dass die Österreicher gezwungen wurden, ihre methodologische Position noch weiter zu verfeinern, deren weitreichende Implikationen zur Kenntnis zu nehmen und sich über den methodologischen Graben klar zu werden, der sie von den Neoklassikern trennte.53 So gerieten die Österreichischen Ökonomen Schritt für Schritt in eine zweite Auflage des Methodenstreits. Diesmal ging es um das 49

Brus / L aski (1985), S. 60. Selbst Robert L. Heilbroner kam zu der Schlussfolgerung: „Mises hatte recht. Der Sozialismus war die große Tragödie dieses Jahrhunderts“. Siehe Heilbroner (1989, 1990a) und Heilbroner (1990b), insbesondere S. 98. 50 Stiglitz (1994), S. ix–xii. 51 Siehe z. B. Hayek (1995). 52 Es handelt sich um eine leicht korrigierte und erweiterte Version der Grafik, die sich bei Hayek (1976b), S. 47 ff., findet; siehe auch Skousen (1990), S. 370. 53 Dieser Prozess brauchte Zeit, was auch den Ausspruch von Fritz Machlup erklärt, wonach der wahre Triumph der Österreicher darin liege, dass ihre Beiträge Teil des ökonomischen Mainstreams wurden, so dass niemand mehr merkte, dass sie eigentlich aus der Österreichischen Schule kamen. Überraschenderweise sagte Mises 1932 etwas Ähnliches. Siehe Israel Kirzners „Introduction“ in Kirzner (1994), S. xvif.

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aufkommende neoklassische Paradigma und begann es mit einer Neufindung der methodologischen Positionen, die sich im Grunde in den Werken von Mises, ­Mayer und Hayek finden, die in den 30er, 40er und 50er Jahren des 19. Jahrhunderts erschienen sind (Disput VII). Mises spezifizierte und etablierte eine Methodologie, die sich gegen den Gebrauch der Mathematik in der Ökonomie und gegen den Positivismus richtete und sich in den diversen methodologischen Arbeiten findet, die er im ersten Teil von Human Action zusammengefasst hat. Hans Mayer übte eine niederschmetternde Kritik an der Funktionsanalyse und mathematischen Analyse der neoklassischen Preistheorie. Die Reaktion auf seine ausführliche Arbeit steht bis heute aus. Dank Israel M. Kirzner konnte Mayers Aufsatz endlich vor kurzem auf Englisch erscheinen, und zwar unter dem Titel „The Cognitive Value of Functional Theories of Price: Critical and Positive Investigations Concerning the Price Problem“.54 Schlussendlich hat Hayek in seinem 1952 erschienenen Buch The Counter-Revolution of Science (Missbrauch und Verfall der Vernunft)55 seine methodologische Kritik sowohl an dem auf Saint-Simon zurückgehenden Empirismus als auch an dem engen Utilitarismus der neoklassischen Kosten-Nutzen-Analyse vorgelegt. Unglücklicherweise legte Milton Friedman im darauffolgenden Jahr seinen Aufsatz Essays in Positive Economics56 vor, dem große Popularität zuteil wurde. Dies bescherte dem Einsatz positivistischer Methodologie in unserer Wissenschaft einen großen Aufschwung. Obwohl Hayek in seinem oben genannten Werk die wichtigsten Aspekte aus Friedmans fast gleichzeitig erschienenem Buch in großen Teilen vorwegnimmt, beantwortet und kritisiert, räumte er später ein: „Etwas von dem, das ich in der Öffentlichkeit oft gesagt habe, ist, dass zu den Sachen, die ich am meisten bedaure, das Versäumnis gehört, meine Kritik an Keynes Traktat (Die Allgemeine Theorie) wiederaufzunehmen. Das gilt nicht weniger für meine ausgebliebene Kritik an Milton Friedmans Essays in Positive Economics, die auf ihre Art ein ziemlich gefährliches Werk abgeben.“57 54 Kapitel 16 in Kirzner (1994), S. 55–168. Es handelt sich um die englische Übersetzung des Aufsatzes von Hans Mayer aus dem Jahr 1932 mit dem Titel „Erkenntniswert der funktionellen Preistheorien“, enthalten in Mayer (1932) Band II, S. 147–239. 55 Hayek (1952a). 56 Friedman (1953). 57 Hayek (1994), S. 145. An anderer Stelle machte Hayek seine methodologischen Unterschiede zu Friedman und den Neoklassikern noch deutlicher: „Friedman ist erzpositivistisch. Er meint, dass nichts in ein wissenschaftliches Argument gehört, das nicht empirisch belegbar ist. Mein Argument ist, dass wir so viele ökonomischen Details kennen, dass es unsere Aufgabe ist, dieses Wissen zu ordnen. Wir brauchen keine neuen Informationen. Wir müssen erstmal verdauen, was wir bereits wissen. Schlauer werden wir nicht durch bessere Statistiken, sondern durch den Gewinn neuer Informationen über spezifische Umstände in bestimmten Situationen. Auf der theoretischen Ebene bringen uns Statistiken nicht viel weiter. (…) Miltons Monetarismus und der Keynesianismus haben mehr gemeinsam als ich mit beiden zusammen. Die Chicagoer Schule denkt im Wesentlichen in „makroökonomischen“ Begriffswelten. Sie versuchen Aggregate und Mittelwerte, Gesamtgeldmengen, Preisniveaus, Arbeitslosigkeit und all diese statistischen Größen zu analysieren. Nehmen sie Friedmans „Quantitätstheorie“. Ich habe vor 40 Jahren geschrieben, dass ich starke Vorbehalte gegen die Quantitätstheorie hege, weil es sich bei ihr um einen sehr kruden Ansatz handelt, der

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2. Der anhaltende Methodenstreit der Österreichischen Schule  Tabelle 2.2 Zwei unterschiedliche Wege, Makroökonomie darzustellen Österreichische Schule

Neoklassische Schule (Monetaristen und Keynesianer)

1

Zeit spielt eine zentrale Rolle.

Der Einfluss der Zeit wird ignoriert.

2

Kapital wird als heterogenes Set aus Kapitalgütern betrachtet, die ständig aufgebraucht und reproduziert werden müssen.

Kapital wird als homogener Fonds betrachtet, der sich selbst reproduziert.

3

Der Produktionsprozess ist dynamisch und auf viele vertikale Stufen verteilt.

Man geht von einer horizontalen und eindimensionalen Produktionsstruktur im Gleichgewicht aus.

4

Geld beeinflusst den Prozess, indem es die Struktur der relativen Preise ­modifiziert.

Geld beeinflusst das allgemeine Preisniveau. Änderungen der relativen Preise bleiben unberücksichtigt.

5

Erklärt makroökonomische Phänomene im mikroökonomischen Sinne (ändert die relativen Preise)

Die makroökonomischen Aggregate verhindern die Analyse der ihnen zugrundliegenden mikroökonomischen Situationen.

6

Hat eine Theorie zu den endogenen Ursachen ökonomischer Krisen, die deren wiederkehrenden Charakter erklären

Hat keine endogene Zyklentheorie. Krisen entstehen aus exogenen Gründen (psychologische Fehler und / oder Fehler der Geldpolitik.

7

Hat eine entwickelte Kapitaltheorie

Hat keine Kapitaltheorie

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Sparen spielt eine entscheidende Rolle und bestimmt die longitudinale Änderung in der Produktionsstruktur und den Typus der verwendeten Technologie.

Sparen ist nicht wichtig. Kapital reproduziert sich selbst lateral (mehr von einer Sache) und die Produktionsfunktion ist durch den Stand der Technik bestimmt und vorgegeben.

9

Kapitalgüternachfrage variiert invers zur Konsumgüternachfrage. (Jede Investition erfordert Sparen und bedeutet daher einen zeitlichen Konsumverzicht.)

Die Nachfrage nach Kapitalgütern variiert in dieselbe Richtung wie die nach Konsumgütern.

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Es wird angenommen, dass die Produktionskosten subjektiv und nicht vorgegeben sind.

Produktionskosten sind objektiv, real und werden als gegeben angenommen.

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Es wird angenommen, dass die Marktpreise die Produktionskosten bestimmen, und nicht umgekehrt.

Man geht davon aus, dass die historischen Produktionskosten dazu tendieren, den Marktpreis zu bestimmen.

viele wichtige Dinge ausblendet. Ich bedauere sehr, dass ein derart erfahrener Mann wie Milton Friedman diese Theorie nicht als einen ersten Ansatz begreift, sondern glaubt, sie wäre bereits die ganze Geschichte. Im Endeffekt sind es tatsächlich die methodologischen Standpunkte, die uns unterscheiden.“ Pool / Postrel (1993).

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Österreichische Schule

Neoklassische Schule (Monetaristen und Keynesianer)

Die Zinsrate wird als ein Marktpreis betrachtet, der von den subjektiven Bewertungen der Zeitpräferenz bestimmt ist. Sie wird benutzt, um den gegenwärtigen Wert der künftig fließenden Gewinne zu diskontieren, zu dem der Marktpreis eines jeden Kapitalguts tendiert.

Die Zinsrate tendiert dazu, von der Grenzproduktivität bzw. Effizienz des Kapitals bestimmt zu sein. Sie wird als interne Gewinnrate betrachtet, die den künftigen Gewinnfluss mit den historischen (als gegeben und invariabel gehaltenen) Produktionskosten der Kapitalgüter gleichsetzt. Die Zinsrate wird vor allem als monetäres Phänomen gesehen.

Vierte Runde: Neo-Österreicher versus Mainstream und methodologischen Nihilismus Die letzte Runde der methodologischen Diskussion fand in den letzten 25 Jahren statt. In ihr wurde den Österreichern klar, dass ihre Position korrekt ist und sie nachgewiesen hatten, wie die neoklassischen Modelle des allgemeinen Gleich­ gewichts dazu benutzt worden waren, die theoretische Möglichkeit des Sozialismus zu rechtfertigen. Außerdem haben viele positivistische Neoklassiker geglaubt, dass für die Entscheidung zwischen Kapitalismus oder Sozialismus letzten Endes nur empirische Überlegungen ausschlaggebend sein konnten.58 Die A priori-Lehren der Österreichischen Schule, mit denen die Unmöglichkeit des Sozialismus nachgewiesen wurde, haben sie aufs Gröbste missachtet. Große Teile der Menschheit waren so für viele Jahrzehnte des letzten Jahrhunderts ohne Not zu enormem Leid verdammt. Für die Österreicher zeichnen nicht nur viele Mitglieder der Neoklassischen Schule für dieses Leid verantwortlich, weil sie den Kern der Österreichischen Analyse hinsichtlich der Unmöglichkeit des Sozialismus ignoriert haben. Schuldig ist auch der Positivismus, der unsere Wissenschaft nach wie vor beeinflusst und predigt, dass nur theorieunabhängige Erfahrungen in der Lage seien, die Erfolgswahrscheinlichkeiten eines Gesellschaftssystems aufzuzeigen. All dies erklärt die beachtliche Renaissance der Österreichischen Schule in den letzten 25 Jahren; dies und auch die Anstrengungen, die Mitglieder der Schule unternommen haben, um die wichtigsten Beiträge unserer Disziplin mit der von Menger initiierten subjektivistischen Methodologie und dem dynamischen An 58 Daher ist George Stigler der Meinung, dass beide Seiten in der Debatte über den Sozialismus darin versagt hätten, die „empirischen“ Konsequenzen ihrer jeweiligen Positionen zu überdenken. Es sei nur die empirische Evidenz, die Differenzen unter den Fürsprechern des Kapitalismus und denen des Sozialismus beilegen könnte. Siehe dazu sein Buch The Citizen and the State, Stigler (1975), S. 1–13, sowie den kritischen Kommentar zu Stigler von Barry (1984).

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2. Der anhaltende Methodenstreit der Österreichischen Schule 

satz in Einklang zu bringen und von den Fehler zu befreien, die das positivistische Paradigma der Gleichgewichtsanalyse klammheimlich in den Kanon unserer Wissenschaft eingeführt hat. Die Ausbreitung des neuen methodologischen Nihilismus, die seit den Lehren von Karl Popper stattfindet, führte zu einer neuen Auseinandersetzung (Disput VIII), diesmal ausnahmsweise innerhalb der Mauern der Österreichischen Schule. Der Triumph des methodologischen Pluralismus schien anfangs ein Vorteil für die Österreicher zu sein, da ihre Methode, die bei einem großen Teil der Wissenschaftsgemeinde in Vergessenheit geraten ist, wieder „respektiert“ wurde (so wie jede andere auch). Trotzdem haben viele Österreicher schließlich erkennen müssen, dass das modische „alles ist möglich“ in der Methodologie dem Kriterium methodologischer Rigorosität und dem Interesse an der Erforschung wissenschaftlicher Wahrheit, das die Österreicher traditionell verteidigt haben, diametral entgegensteht. Dies erklärt auch die zahlreichen jüngeren Reaktionen Österreichischer Ökonomen auf den Nihilismus und methodologischen Pluralismus, die der hermeneutischen postmodernistischen Position entspringen. Deren Autoren, wie etwa Deirdre McCloskey und Don Lavoie, glauben, dass die wissenschaftliche Wahrheit zu großen Teilen vom kulturellen Kontext abhänge, in dem die Protagonisten ihre Auseinandersetzung führen. Israel Kirzner59 und Hans-Hermann Hoppe60 verweisen darauf, dass die Ausbreitung der Hermeneutik in der ökonomischen Methodologie in gewisser Weise eine Auferstehung der alten Fehler der Deutschen Historischen Schule bedeute, und so das Kriterium wissenschaftlicher Wahrheit von externen kontingenten Verhältnissen abhängig gemacht werde.

Antwort auf einige Kritiken und Kommentare Wir werden nun auf einige kritischen Kommentare zum Österreichischen Paradigma eingehen. Sie werden regelmäßig vorgebracht und sind u. E. aus Gründen, die wir noch näher erläutern werden, grundlos. Die häufigste Kritik an den Österreichern ist die folgende: Die beiden Ansätze (Österreichisch und Neoklassisch) schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern sind komplementär. Diese These wird von vielen neoklassischen Autoren vertreten, die gerne eine eklektische Position verteidigen, um nicht in einen offenen Konflikt mit der Österreichischen Schule zu geraten. Die Österreicher glauben allerdings, dass diese These ein missglücktes Resultat des Nihilismus darstellt. Dieser ist für den methodologischen Pluralismus typisch, der jede Methode akzeptiert und für den das einzige Problem der Wirtschaftswissenschaft darin besteht, für jedes Problem die

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Siehe Kirzner (1994), S. 328. Hoppe (1995), S. 54, Rothbard (1989, 1996).

Antwort auf einige Kritiken und Kommentare

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passende Methode zu finden. Aus unserer Sicht ist diese These nichts anderes als der Versuch, das neoklassische Paradigma wirksam gegen die Kritik der Österreichischen Methodologie zu immunisieren. Die Kompatibilitätsthese wäre begründet, wenn die neoklassische Methode (basierend auf der Gleichgewichtsanalyse, konstanten Präferenzen und einem engen Rationalitätsbegriff) der Art und Weise, auf die der Mensch handelt, tatsächlich entspräche und die theoretische Analyse der Österreicher nicht entkräftete. Aus diesem Grund ist es enorm wichtig, die theoretischen Schlussfolgerungen der Neoklassik mit Hilfe der subjektiven und dynamischen Methodologie der Österreicher zu überarbeiten. So kann man herausfinden, welche dieser Schlussfolgerungen Bestand haben und welche man aufgrund von Theoriefehlern verwerfen sollte. Die neoklassische Methode ist aus Sicht der Österreicher fehlerhaft, birgt ernsthafte Risiken und Gefahren für den Analytiker und entfernt diesen von der Wahrheit.61 Wir sollten uns schließlich in Erinnerung rufen, dass gemäß der hayekianischen Theorie, derzufolge die Komplexität einer spontanen Ordnung deren Platz in der Hierarchie bestimmt, eine komplexe Ordnung vergleichsweise einfache Ordnungen erklären, inkludieren und darstellen kann. Umgekehrt ist es aber nicht möglich, dass eine relativ einfache Ordnung andere Ordnungen erklären und wiedergeben kann, die aus komplexeren Kategorien zusammengesetzt sind.62 Wenn diese hayekianische Einsicht auf das Gebiet der Methodologie angewendet wird, dann kann man sich vorzustellen, dass der relativ reichhaltige, komplexe und realistische Österreichische Ansatz den neoklassischen Ansatz inkludieren und subsumieren könnte. Letzterer könnte immer noch für die relativ seltenen Fälle in Betracht kommen, in denen die Menschen sich eher reaktiv und nutzenmaximierend verhalten, so wie es den Neoklassikern vorschwebt. Wir können aber nicht versuchen, menschliche Realitäten wie z. B. die kreative unternehmerische Funktion, die den Vorstellungsrahmen neoklassischer Kategorien sprengt, in eben dieses neoklassische Paradigma zu übertragen. Der Versuch, die von den Österreichern erforschten subjektiven Realitäten der Menschen in ein neoklassisches Korsett zu zwängen, führt unvermeidlich zu einer kruden Charakterisierung menschlichen Verhaltens oder zu dem heilsamen Versagen des Neoklassischen Ansatzes, dem der komplexere und erklärungsmächtigere Ansatz der Österreichischen Schule um Längen voraus ist.

61

Aus diesem Grund können wir auch die These von Barry Smith (1994), S. 330 f., nicht akzeptieren. Nach Smith ist die Österreichische Methodologie richtig, um die Grund­prinzipien der Wissenschaft festzulegen, und ist es die vorrangige Aufgabe des neoklassischen Em­ pirismus, die Probleme der angewandten Ökonomie zu lösen. Barry Smiths Ansatz wäre zutreffend, wenn die szientistische Methode der Neoklassiker nicht dazu führen würde, die wirklich interessanten Probleme zu verkennen, indem in der theoretischen Analyse Fehler produziert werden, die in erheblichem Ausmaße die Gültigkeit der Schlussfolgerungen beeinträchtigen. 62 Hayek (1952b), S. 184–194.

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2. Der anhaltende Methodenstreit der Österreichischen Schule 

Die Österreicher sollten die Neoklassiker nicht dafür kritisieren, dass sie vereinfachte Annahmen treffen, die dazu dienen, die Realität zu verstehen. Die Österreichischen Ökonomen antworten auf dieses häufig vorgebrachte Argument, indem sie sagen, die Vereinfachung einer Annahme sei eine Sache, und deren vollkommen verzerrte Darstellung eine andere. Die Österreicher werfen den Neoklassikern nicht vor, dass ihre Annahmen die Dinge vereinfachen, sondern dass sie der empirischen Realität des menschlichen Verhaltens (dynamisch und kreativ) widersprechen. Es ist daher im Kern die Irrealität (nicht die Ver­einfachung) der neoklassischen Annahmen, die aus Österreichischer Sicht die Validität der theoretischen Schlussfolgerungen gefährdet, zu denen die Neoklassiker bei der Erforschung von Problemen der angewandten Ökonomie zu gelangen glauben. Die Österreicher versagen, wenn es darum geht, ihre theoretischen Sätze zu formalisieren. Dies ist z. B. das einzige Argument gegen die Österreichische Schule, das Stiglitz in seiner kritischen Abhandlung über die Modelle des allgemeinen Gleichgewichts vorbringt.63 Wir haben bereits die Gründe dargelegt, warum Österreichische Ökonomen dem Gebrauch der mathematischen Sprache in unserer Wissenschaft von Anfang an misstrauisch gegenüberstanden. Für die Österreicher ist das Anwenden des mathematischen Formalismus eher eine Sünde als eine Tugend, da er aus einer symbolischen Sprache besteht, die man erdacht hat, um den Anforderungen zu genügen, die den Welten der Naturwissenschaften, der Ingenieurwissenschaften und der Logik entspringen. Bezeichnenderweise fehlt in all diesen Welten die subjektive Zeit und die unternehmerische Kreativität. Der mathematische Formalismus neigt daher dazu, die wesentlichen Merkmale des Menschen – der ja der Protagonist aller gesellschaftlichen Prozesse ist, die der Ökonom erforschen soll – zu ignorieren. So gesteht z. B. selbst Pareto den Nachteil des mathema­tischen Formalismus ein, wenn er zugibt, dass alle seine Analysen ohne Rücksicht auf den eigentlichen Protagonisten sozialer Prozesse (den Menschen) stattfinden, um der mathematisch-ökonomischen Analyse zu genügen: „Das Individuum kann verschwinden, vorausgesetzt, es lässt uns eine Fotographie seiner Geschmacks­ richtungen zurück.“64 Den gleichen Fehler begeht Schumpeter, wenn er festhält: 63 Stiglitz betitelt sogar einen Abschnitt seines Buches mit „Hayek versus Stiglitz“, Stiglitz (1994), S. 24 ff. Unglücklicherweise versucht Stiglitz, neoklassische Modelle zu rekonstruieren, und benutzt dazu eine statische Methodologie, die mit Gleichgewichten und formalisierter Sprache arbeitet. Aus Österreichischer Sicht begeht er damit den gleichen Fehler wie diejenigen, deren Modelle er kritisieren möchte. Siehe dazu Sullivan (1996). 64 Pareto (1971), S. 120. Pareto bezieht sich insbesondere auf das Instrument der Indifferenzkurven. Der Nutzen ist aus unserer Sicht für die Wirtschaftswissenschaft sehr negativ. Die Kurven beachten nicht, dass menschliche Handlungen sequentiell und nicht-synchron ablaufen. Es wird außerdem nicht beachtet, dass Menschen nur die Handlungsoptionen einbeziehen, von denen sie glauben, dass sie am geeignetsten sind, ein bestimmtes Ziel zu erreichen (eine Indifferenzkurve enthält nicht eine einzige menschliche Handlung). Schließlich wird die elementarste Eigenschaft von Gütern, die Komplementarität, nicht aufgezeigt.

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„Man muss nur die Nutzenfunktionen für das Konsumgut von Individuen erfragen und erhält bei der Gelegenheit alles andere.“65 Auf jeden Fall steht die Antwort der Mathematiker immer noch aus, wenn es (per impossibile) darum geht, eine ganz neue „Mathematik“ zu entwickeln, die es erlaubt, die kreativen Fähigkeiten der Menschen mit all ihren Implikationen einzubeziehen, ohne dabei auf die Annahme der Konstanz, die sich aus der Welt der Physik ergibt und die der Antrieb hinter der mathematischen Sprache ist, zurückzugreifen. Unseres Erachtens ist die ideale wissenschaftliche Sprache zur Berücksichtigung kreativer Fähigkeiten genau jene, welche die Menschen spontan entwickelt haben und in ihrem täglichen Unternehmersein praktizieren. Die Sprache manifestiert sich in den verschiedenen verbalen Sprachen und Ausdrucksformen, die es in der Welt heute gibt. Die Österreicher führen kaum empirische Studien durch. Dies ist der geläufigste Vorwurf, den die Empiristen den Österreichern machen. Obwohl die Österreicher der Rolle der Geschichte einen außerordentlichen Stellenwert beimessen, haben sie begriffen, dass ihr Bereich der wissenschaftlichen Theoriebildung, den man kennen muss, bevor man die Theorien auf die Realität anwendet oder anhand von historischen Fakten veranschaulicht, ein ganz anderer ist. Aus Sicht der Österreicher gibt es vielmehr einen Überfluss in der Produktion empirischer Arbeiten und eine relative Knappheit theoretischer Studien, die uns ermöglichen, das, was wirklich passiert, zu verstehen und zu interpretieren. Außerdem und obwohl die methodologischen Annahmen der Neoklassischen Schule (Gleichgewicht, Maximierung und Konstanz der Präferenzen) scheinbar die empirischen Studien und die „Verifikation“ bestimmter Theorien vereinfachen, verschleiern sie häufig die richtigen theoretischen Zusammenhänge und können daher jederzeit und in jeder beliebigen historischen Situation ernsthafte theoretische Fehler und mangelhafte Interpretationen dessen, was wirklich passiert, verursachen. Die Österreicher lehnen Vorhersagen im ökonomischen Bereich ab. Wir haben bereits gesehen, dass die Österreichischen Theoretiker sehr bescheiden und sorgfältig in Bezug auf die Möglichkeiten des Aufstellens wissenschaftlicher Vorhersagen sind, welche Aussagen darüber treffen, was im sozialen oder gesellschaftlichen Gebiet passiert. Sie sind eher damit beschäftigt, ein Schema theoretischer Ansätze und Gesetze zu konstruieren, die es erlauben, Realität zu interpretieren, und handelnden Akteuren dabei helfen, Entscheidungen zu treffen, die mehr als andere Aussicht auf Erfolg haben. Obwohl die Österreicher nur „Vorhersagen“ treffen, die qualitativ und theoretischer Natur sind, ist es in der Praxis paradoxerweise so, dass ihre Schlussfolgerungen und Theorien – im Vergleich zu den Möglichkeiten der Neoklassischen Schule – mit deutlich höherer Wahrschein 65 Siehe Schumpeter (1908), S. 227. Die beste Kritik an Schumpeters szientistischem Buch wurde von Friedrich von Wieser (1994b) verfasst.

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lichkeit zu erfolgreichen Vorhersagen auf dem Gebiet menschlicher Handlungen führen, weil sie in ihren Untersuchungen mit Annahmen arbeiten (dynamischer und kreativer unternehmerischer Prozess), die weitaus realistischer sind.66 Die Österreicher haben keine empirischen Kriterien, um ihre Theorien zu vali­dieren. Folgt man dieser Kritik, die häufig von Empirikern vorgebracht wird, die unter dem Komplex des Heiligen Apostels Thomas leiden („Ich glaube nur, was ich sehe.“), dann kann man nur durch die empirische Realität wissen, welche Theorien korrekt sind und welche nicht. Wie wir gesehen haben, verkennt diese Sichtweise die Tatsache, dass es in der Ökonomie keine unumstößliche „­Evidenz“ gibt, da sie auf komplexe historische Situationen rekurriert. Solche Situationen erlauben keine Experimente im Labor, in dem die relevanten Phänomene isoliert werden und alle Aspekte, die einen Einfluss nehmen könnten, konstant gehalten werden. Mit anderen Worten, ökonomische Gesetze sind immer ceteris ­paribus-Gesetze, während in der Realität die Dinge nie „unter sonst gleichen Bedingungen“ bleiben. Nach Auffassung der Österreicher ist es sehr gut möglich, eine Theorie durch ständige Eliminierung von Fehlern in der Kette der logisch-deduktiven Begründungen zu validieren. Dabei sollte man vor Anwendung der Theorie auf die Realität mit größter Sorgfalt die notwendige Einschätzung vornehmen, ob die der Theorie unterstellten Annahmen in dem zu analysierenden historischen Fall existieren oder nicht. Eine einheitliche logische Struktur des menschlichen Geistes vorausgesetzt, reicht die ständige Validierung, die von den Österreichern vorgeschlagen wird, mehr als aus, um unter den verschiedenen Protagonisten der wissenschaftlichen Forschung eine Übereinstimmung zu erzielen. Entgegen manchem Anschein ist es in der Praxis schwieriger, diese Übereinstimmung zu erreichen, wenn es um empirische Phänomene geht, die in Anbetracht ihrer komplexen Natur immer Gegenstand kontroverser Interpretationen sind. Die Österreicher sind dogmatisch. Es handelt sich hier um einen Vorwurf, der vor allem dank der erstaunlichen Renaissance der Österreichischen Schule und dank der Tatsache, dass sie von den 66 Zwei Beispiele dafür sind die „Vorhersage“ über den Niedergang des real existierenden Sozialismus, die in der Österreichischen Analyse zur theoretischen Unmöglichkeit des Sozialismus enthalten ist, und die Warnung der Österreicher vor der großen Depression von 1929. Keines dieser sehr bedeutenden geschichtlichen Ereignisse wurde durch neoklassische Ökonomen vorhergesehen. Siehe dazu Skousen (1993). Lionel Robbins bezieht sich in seiner „Introduction“ zur ersten Auflage von Hayeks Prices and Production, Hayek (1931), S. xii, auf Mises’ und Hayeks Vorhersage des unvermeidbaren Eintritts einer großen Depression als Ergebnis der Kreditexzesse, die in den 1920er Jahren begonnen wurden. Diese Vorhersage hat Hayek ausdrücklich in seinem Aufsatz, den er 1929 veröffentlicht hat, getroffen (Monatsberichte des österreichischen Institutes für Konjunkturforschung). Diese Österreichische Vorhersage stand im Kontrast zum Optimismus vieler Neoklassiker (Keynes und Monetaristen wie Fisher), die noch wenige Tage vor dem Crash öffentlich bekräftigten, der Boom der 1920er Jahre und der ihn widerspiegelnde hohe Stand der Börsenindizes gingen noch ewig weiter.

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Ökonomen inzwischen besser verstanden wird, glücklicherweise nicht mehr so oft gemacht wird. Nichtsdestotrotz konnten in der Vergangenheit viele neoklassische Ökonomen der Versuchung nicht widerstehen, das gesamte Österreichische Paradigma pauschal zu diskreditieren und als „dogmatisch“ zu beschreiben, ohne seine verschiedenen Bestandteile genauer zu analysieren oder auch nur ansatzweise auf die hervorgerufene Gegenkritik zu antworten.67 Bruce Caldwell sieht die Haltung der Neoklassiker besonders kritisch, weil sie sich nicht einmal mit den Positionen der Österreichischen Methodologen auseinandersetzen und sie gleichermaßen für dogmatisch und unwissenschaftlich halten. Er kommt zu dem Schluss, dass diese Haltung aus wissenschaftlicher Sichtweise nicht gerechtfertigt ist. Bezugnehmend auf Samuelsons Haltung fragt Caldwell verwundert: „Was ist der Grund für diese fast antiwissenschaftliche Antwort auf die Praxeologie? Es gibt natürlich eine ganz praktische Sorge: Das Humankapital der meisten Ökonomen würde drastisch reduziert, wenn die Praxeologie in der gesamten Disziplin eingesetzt würde. Aber der eigentliche Grund für die Ablehnung der Methodologie von Mises ist nicht so selbst­ bezogen. Einfach gesagt, die Vertiefung der Praxeologen in die ultimativen Grundlagen der Wirtschaftswissenschaft muss einem Ökonomen, der seine Methodologie pflichtbewusst von Friedman gelernt hat und daher der festen Überzeugung ist, dass nicht die Annahmen zählen, sondern die Vorhersagen der Schlüssel sind, sinnlos wenn nicht sogar widersinnig vorkommen. … Ungeachtet ihrer Ursachen ist eine solche Reaktion selbst dogmatisch und in ihrem Kern antiwissenschaftlich.“68

Neoklassische Ökonomen präsentieren das, was sie im Kern für den ökono­ mischen Blickwinkel halten, üblicherweise weitaus arroganter und dogmatischer. Sie gründen ihre Analyse ausschließlich auf die Grundlagen von Gleichgewicht, Maximierung und Konstanz der Präferenzen. Sie versuchen damit, ein Monopol auf den „ökonomischen Blickwinkel“ zu erheben und andere Ansätze zum Schweigen zu bringen, darunter den Österreichischen Ansatz, der das Feld der wissenschaftlichen Forschung mit einem sehr viel reichhaltigeren und realistischeren Paradigma versieht. Wir wünschen der künftigen Entwicklung unserer Disziplin, dass dieser Dogmatismus nach und nach verschwinden wird.69 67

Siehe z. B. die unfreundlichen Einschätzungen von Samuelson, der sich sogar zu der Behauptung verstieg, dass ihn bereits die Existenz Österreichischer Ökonomen „an der Reputation des Fachs zweifeln ließen.“ Samuelson (1972), S. 761. Siehe auch die Anschuldigungen von Mark Blaug (1980), S. 91 ff. Wir werden allerdings später sehen, dass Mark Blaug in letzter Zeit seine Einstellung leicht geändert hat und sich der Österreichischen Schule annähert, wenn auch nicht bei der Anwendung der deduktiven Methodologie, dann doch bei der Akzeptanz des dynamischen unternehmerischen Ansatzes und der Kritik am Paradigma des an Walras orientierten neoklassischen Gleichgewichtsmodells. 68 Caldwell (1994), S. 118 f. 69 Ein Beispiel für die neoklassische Angewohnheit, sich im exklusiven Besitz des „korrekten“ Verständnisses des „ökonomischen Blickwinkels“ zu befinden, ist Gary Beckers Rede anlässlich seines Nobelpreises „The Economic Way of Looking at Behaviour“, erschienen als Kapitel 26 in Becker (1995), S. 633–658.

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Glücklicherweise haben neuerdings einige neoklassische Autoren damit begonnen, die Enge und Beschränktheit ihrer traditionellen Vorstellung vom „ökonomischen Blickwinkel“ zu erkennen. So meint Stiglitz: „[D]ie Kritik an der Neoklassischen Ökonomie besteht nicht nur darin, dass sie weder die weitläufigen Konsequenzen der ökonomischen Organisation noch die Natur der Gesellschaft und des Individuums in Betracht zieht, sondern auch, dass sie ihren Blick auf bestimmte menschliche Charakterzüge verengt – Eigeninteresse und rationales Verhalten.“70

Dieses etwas offenere Verständnis hat sich jedoch noch nicht allgemein etabliert. Daher darf man den Neoklassikern zu recht „wissenschaftlichen Imperialismus“ vorwerfen, wenn sie versuchen, das enge Verständnis von Rationalität auf andere Bereiche auszuweiten, wie etwa auf die Familie, die Kriminalität und die ökonomische Analyse des Rechts. In diesem Zusammenhang meinte Israel M. Kirzner vor kurzem, dass moderne Ökonomen es offenbar zugelassen hätten, mithilfe von enggefassten Rationalitätsannahmen Gesellschaftspolitik zu diktieren, was aus Sicht ihrer Kritiker eine sehr gefährliche Mode sei. Es sei daher nicht überraschend, dass diese Entwicklung auch scharfe kritische Reaktionen hervorgerufen habe.71

Schlussfolgerung: Bewertung von Erfolg und Misserfolg der beiden Ansätze Was wir bis jetzt gesagt haben, bedeutet nicht, dass die theoretischen Schlussfolgerungen der neoklassischen Ökonomen allesamt oder zumindest größtenteils abgelehnt werden sollten. Unser Hinweis soll eher zu einer kritischen Überprüfung und, falls notwendig, zu einer Aufarbeitung der neoklassischen Doktrin mithilfe des Österreichischen Ansatzes führen. Auf diese Weise könnten die wichtigen und zutreffenden Schlussfolgerungen, die von Vertretern der Neoklassischen Schule erarbeitet wurden, untermauert werden und die nach wie vor vorhandenen Fehler, die der theoretischen „Brille“ des neoklassischen Forschers verborgen blieben, ans Tageslicht befördert werden. Wir haben bisher noch nicht erwähnt, was vor allem libertären Ökonomen wichtig sein dürfte, die daran interessiert sind, Forschungen im Bereich der Theorie und Praxis menschlicher Freiheit anzuregen. Tatsache ist, dass die neoklassische 70

Stiglitz (1994), S. 273. Kirzner (1992), S. 207. Der Imperialismus-Vorwurf ist nicht gerechtfertigt, wenn er sich ausschließlich auf die Ausbreitung der Wirtschaftswissenschaft bezieht und nicht auf die Anwendung des neoklassischen Ansatzes: Auch aus Sicht der Österreicher sind die Lehren der Ökonomie auf alle Bereiche anwendbar, in denen menschliches Handeln stattfindet, gerade weil die Ökonomie eine Wissenschaft von menschlichem Verhalten ist. Nur wenn ein Modell angewendet wird, das auf dem streng rationalen homo oeconomicus beruht, ist der Vorwurf des Imperialismus gerechtfertigt. Es geht nur um den neoklassischen Versuch, den strikt rationalen Ansatz auf alle Bereiche des menschlichen Handelns zu übertragen, nicht um den richtig verstandenen ökonomischen Blickwinkel. 71

Schlussfolgerung: Bewertung von Erfolg und Misserfolg der beiden Ansätze 

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Methodologie – die auf einem engen Rationalismusbegriff, der utilitaristischen Kosten-Nutzen-Analyse und der Annahme, dass die notwendigen Informationen (im deterministischen oder probabilistischen Sinne) konstant und stets voll verfügbar sind, aufbaut – so oder so leicht darin endet, die mit Zwangsmaßnahmen einhergehenden staatlichen Interventionen zu rechtfertigen. Mit anderen Worten, der typische Ansatz des „Sozialingenieurs“, den die Neoklassiker wie selbstverständlich anwenden, lässt diese fast unbemerkt zu „Analytikern“ werden, die bei ihren Diagnosen zu den Problemen dieser Welt allzu gern mit interventionistischen Vorschriften aufwarten. Genau das, was den Anschein größeren operationalen Erfolgs verleiht, dient der Neoklassischen Schule oftmals zur Rechtfertigung größerer Staatseingriffe. Dieses Problem betrifft inzwischen auch unsere neoklassischen Verbündeten in der Chicagoer Schule, die zweifellos mit Hingabe und Leidenschaft für die Freiheit streiten, auch wenn ihre theoretischen Schlussfolgerungen oft fern von dem sind, was die libertäre Sichtweise nahelegen würde. Beeinflusst vom Wissenschaftsverständnis der Neoklassischen Schule, folgen sie demselben – sofern überhaupt möglich – mit noch größerer Hingabe. Bereits 1830 zeigte Menger in seiner Kritik an Adam Smith, warum jene, die sich wissenschaftlich an der Erschaffung und Verbesserung gesellschaftlicher Institutionen versuchen, zu interventionistischen Schlussfolgerungen neigen.72 Erst vor kurzem meinte ein angesehenes Mitglied der Mont Pèlerin Society, es sei frustrierend, wenn unsere Verbündeten aus Chicago ihre Talent dazu verwendeten, dem Staat zu helfen, das, was er eigentlich gar nicht oder weniger tun sollte, effizienter zu gestalten.73 Tat­sache ist, dass die neoklassischen Theoretiker, die auch noch Libertäre sein möchten, häufig Opfer des sogenannten „Paradoxes des libertären Sozialingenieurs“ werden: Im Prinzip teilen sie das wissenschaftliche Paradigma der neoklassischen Sozialingenieure ganz und gar und versuchen gleichzeitig, mit demselben analytischen Instrumentarium ein Mehr an angeblich libertärer Politik zu rechtfertigen, die mit den Grundprinzipien der Freiheit regelmäßig im Konflikt steht. Auf lange Sicht enden sie häufig damit, den (für den Interventionsstaat typischen) institutionellen Zwang zu fördern, ohne es merken oder zu wollen. Dies passiert nicht nur, weil die von ihnen angeregten Analyseinnovationen in den Händen der Theoretiker, die der Freiheit weniger verpflichtet und skrupelloser sind, leicht dazu missbraucht werden, Maßnahmen des Interventionismus zu rechtfertigen. Sie enden aber auch deshalb so, weil sie, wie weiter oben von Crane erwähnt, gern selbst Rezepte vorschlagen, die zunächst scheinbar in die richtige Richtung führen, aber am Ende den Staat in seiner interventionistischen Rolle bestärken. Diese Spannungen zwischen dem Libertarianismus und dem wissenschaftlichen Ansatz der Neoklassiker taucht immer wieder in der Geschichte des ökonomischen Denkens auf. Das vielleicht 72 Für Menger führt dieser (neoklassische) Ansatz entgegen der Absicht seiner Vertreter unweigerlich in den Sozialismus; vgl. Menger (1883), S. 207 f. 73 Crane (1996). Siehe auch das exzellente Buch von Hutt (1981). Dort werden verschiedene Beispiele von libertären Neoklassikern aufgelistet, die direkt oder indirekt interventionistische Maßnahmen gerechtfertigt haben.

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2. Der anhaltende Methodenstreit der Österreichischen Schule 

anschaulichste Beispiel ist Jeremy Bentham, der trotz seiner ursprünglichen libertären Sympathien am Ende wichtige Maßnahmen des Interventionismus rechtfertigte.74 Es ist auf jeden Fall offenkundig, dass der Ansatz des Sozialingenieurs, der durch das neoklassische Paradigma gefördert wurde, in großem Ausmaß die Ausweitung des Staates im letzten Jahrhundert zu verantworten hat. Insofern sollten wir uns fragen, ob Hans-Hermann Hoppe nicht doch recht hat, wenn er meint, die neoklassisch-positivistische Methodologie habe sich häufig am Ende als geistiges Deckmäntelchen des Sozialismus entpuppt.75 Der Niedergang des real existierenden Sozialismus und die Krise des Wohlfahrtsstaates, die man als die ambitioniertesten Versuche des Sozialingenieurtums ansehen kann, die von Menschen im 20. Jahrhundert unternommen wurden, werden die künftige Entwicklung des neoklassischen Paradigmas entscheidend beeinflussen. Es ist offensichtlich, dass etwas mit der Neoklassischen Ökonomie nicht stimmt, weil sie außerstande war, jene bedeutenden historischen Ereignisse im Vorfeld zu erforschen bzw. vorherzusagen. Der Neoklassiker Sherwin Rosen musste zugeben, dass „der Zusammenbruch der Planwirtschaft im letzten Jahrzehnt für die meisten von uns überraschend gekommen ist.“76 Stiglitz’ kritische Kommentare zum Standardmodell der Neoklassiker, die er in Whither ­Socialism? vorgebracht hat, kennen wir ja bereits. Zum Glück ist es nicht notwendig, methodologisch ganz von vorne anzufangen: Das analytische Instrumentarium, das notwendig ist, um die Wirtschaftswissenschaft auf einen realistischeren Weg zu führen, haben die Theoretiker der Österreichischen Schule schon großenteils in den zurückliegenden Kontroversen mit der Gegenseite im Zuge permanenter Argumentationsverbesserungen ausgestaltet und perfektioniert. Einige der jüngeren Vertreter des neoklassischen Paradigmas, wie etwa Mark Blaug, haben – was großen Mut beweist – neuerdings erklärt, das Modell des allgemeinen Gleichgewichts sowie das statische und an Walras angelehnte neoklassische Paradigma aufzugeben. Blaug schlussfolgert: „Ich bin langsam und sehr widerwillig zu der Ansicht gekommen, dass sie (die Österreichische Schule) richtig und wir alle falsch lagen.“77 Inzwischen haben sich in einer Reihe von Forschungsgebieten auch die gegenwärtigen Umstände spürbar günstig auf das Mainstream-Paradigma aus­gewirkt 74

Murray N. Rothbard bezog sich auch darauf, inwieweit „der Fall Jeremy Bentham für jene Ökonomen instruktiv sein kann, die versuchen, die utilitaristische Philosophie mit der Lehre vom freien Markt zu verbinden.“ Rothbard (1995a), Band 2, S. 55. 75 Hoppe (1988). 76 Rosen (1997), S. 145. Ein anderer überraschter Ökonom war Ronald H. Coase (1997), S. 45: „Nichts, das ich las oder wusste, deutete darauf hin, dass der Kollaps vor der Tür stand.“ 77 Siehe Blaug / Marchi (1991), S. 508. Erst noch vor kurzem nahm Blaug im Economic Journal (November 1993, S. 1517), Bezug auf das neoklassische Paradigma, und zwar im Hinblick auf dessen Verwendung zur Rechtfertigung des Sozialismus, der „verwaltungstechnisch so naiv ist, dass man nur darüber lachen kann. Nur wer von der Idee trunken war, dass die statische Gleichgewichtstheorie wettbewerbsfähig sei, konnte diesen Unsinn glauben. Ich war einer von denen, die ihn als Studenten in den 50er Jahren geschluckt haben, und kann im Nachhinein nur über meine damalige Begriffsstutzigkeit staunen.“

Schlussfolgerung: Bewertung von Erfolg und Misserfolg der beiden Ansätze 

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(Auktionstheorie, Finanzmarkttheorie, Informationsanalyse, Theorie der industriellen Organisation sowie Spieltheorie und Theorie strategischer Interaktion). Nichtsdestotrotz sind einige Worte der Warnung zu diesen mehr oder weniger aktuellen Entwicklungen angebracht: In dem Ausmaß, in dem sie nur einige ansatzweise realistischere Annahmen ins Spiel bringen, während sie die neoklassische Methodologie intakt lassen, ist es sehr gut möglich, dass wir zum Zeugen eines Austauschs werden, bei dem eine Reihe von methodologisch fehlerhaften Modellen durch eine andere Reihe gleichermaßen irreführender Modelle ersetzt wird. Unserer Meinung nach kann die Fortentwicklung der Wirtschaftswissenschaft nur dann einen fruchtbaren Stimulus erfahren, wenn man zu Beginn der neuen Ära in die neuen Forschungszweige des dynamischen Ansatzes einführt; des Ansatzes, der auf Marktprozesse, Subjektivismus und unternehmerische Kreativität gründet und von den Österreichern entwickelt wurde. Die Bewertung der Erfolge der unterschiedlichen Paradigmen wird normalerweise durch die neoklassischen Ökonomen vorgenommen, und zwar dem Wesen ihrer methodologischen Auffassung entsprechend auf strikt empirische und quantitative Weise. So sehen sie z. B. in der Anzahl der Wissenschaftler, die einer methodologischen Sichtweise folgen, das den „Erfolg“ bestimmende Kriterium. Sie verweisen auch gerne auf die Zahl der Probleme, die sie angeblich „gelöst“ haben wollen. Nichtsdestotrotz sind derlei „demokratische“ Argumente, die sich nach der Anzahl der Wissenschaftler richten, die einem bestimmten Paradigma folgen, nicht sehr überzeugend. Nicht nur, dass in der Geschichte des menschlichen Denkens die Mehrheit der Wissenschaftler selbst in den Naturwissenschaften oft falsch lag. Im Felde der Ökonomie gibt es zudem das Problem, dass die empirische Evidenz nie unumstößlich ist und so fehlerhafte Doktrinen nicht sofort identifiziert und beiseitegelegt werden. Außerdem, sobald eine (auf der Gleichgewichtsthese fußende)  theoretische Analyse eine empirische Bestätigung zu erhalten scheint, wird sie trotz einer eventuell fehlerhaften Theorie lange Zeit für richtig gehalten. Selbst dann, wenn schließlich der theoretische Fehler ans Licht kommt, bleibt er der Mehrheit nach wie vor verborgen, sofern das ökonomische Problem nicht länger aktuell ist und die Theorie nur auf die operationale Lösung des betreffenden historischen Pro­ blems zugeschnitten war. Wenn wir außerdem noch berücksichtigen, dass nach wie vor eine irrwitzige, aber äußerst bedeutsame Nachfrage vieler gesellschaftlicher Akteure (gemeint sind öffentliche Autoritäten, Meinungsführer der Gesellschaft und Bürger im Allgemeinen) nach spezifischen Vorhersagen und „operationalen“ Analysen bezüglich der zu ergreifenden Maßnahmen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik besteht, dann ist klar, dass diese Nachfrage (ähnlich wie die Nachfrage für Horoskope und Sterndeutungen) im Markt durch das Angebot von Analytikern und Sozialingenieuren befriedigt werden wird, die ihren Kunden mit einem Anstrich wissenschaftlicher Seriosität und Legitimität das geben, was diese wollen. Mises schrieb zu recht:

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2. Der anhaltende Methodenstreit der Österreichischen Schule  „Die Entwicklung des Berufsstandes des Ökonomen ist ein Nebenprodukt des Interventionismus. Der professionelle Ökonom ist der Spezialist, der dort dient, wo Entscheidungen über Eingriffe des Staates in das Geschäftsleben zu treffen sind. Er ist ein Experte auf dem Gebiet der Wirtschaftsgesetzgebung, das heute unablässig darauf abzielt, die Funktion der Marktwirtschaft zu behindern.“78

Wenn es letztlich das Verhalten der Mitglieder eines Standes von Interventionsspezialisten ist, das über ein Paradigma zu urteilen hat, das – wie das der Österreicher – die fehlende Legitimität der interventionistischen Maßnahmen aufzeigt –, dann verliert das „demokratische“ Argument seine Gültigkeit. Wenn außerdem erkannt wird, dass im ökonomischen Bereich – anders als auf den Gebieten der Ingenieure und Naturwissenschaftler – statt ständigen Fortschritten auch manchmal gravierende Rückschritte79 und Fehler vorkommen, die eine lange Zeit brauchen, um identifiziert und korrigiert zu werden, dann kann man auch die Anzahl der scheinbar erfolgreichen „operationalen“ Lösungen nicht als ausschlaggebendes Kriterium akzeptieren, weil das, was heute richtig zu sein scheint, uns schon morgen als ein Kind fehlerhafter Theorien erscheinen kann. Anstatt des empirischen Erfolgskriteriums80 schlagen wir ein alternatives qualitatives Kriterium vor. Gemäß diesem alternativen Kriterium ist jenes Paradigma erfolgreicher, das der größeren Anzahl richtiger theoretischer Erklärungen zum Durchbruch verholfen hat, die für die Entwicklung der Menschheit wichtig waren. In dieser Hinsicht ist der Österreichische Ansatz dem Neoklassischen Ansatz erkennbar deutlich überlegen. Die Österreicher waren in der Lage, eine Theorie über die Unmöglichkeit des Sozialismus aufzustellen. Hätte man sie rechtzeitig anerkannt, wäre der Menschheit ein enormes Leid erspart geblieben. Der historische Untergang des real existierenden Sozialismus hat zudem veranschaulicht, wie genau die Österreichische Analyse sein kann. Etwas Ähnliches geschah mit Blick auf die große Depression von 1929 und auch in vielen anderen Bereichen, in denen die Österreicher ihre dynamische Analyse der fehlkoordinierenden Effekte staatlicher Interventionen angewendet haben. Dies gilt z. B. für den Bereich der Geld- und Kredittheorie, die Theorie des Konjunkturkreislaufs, die Neufassung der dynamischen Theorie des Wettbewerbs und der Monopole, die Untersuchung zur Interventionismustheorie, die Suche nach neuen Kriterien der dynamischen Effizienz als Ersatz für das traditionelle Pareto-Kriterium, die kritische Analyse der Idee „sozialer Gerechtigkeit“, die auf Grundlage des statischen neoklassischen Paradigmas entwickelt wurde; kurzum, es gilt für alle Bereiche, die ein besseres 78

Mises (1996), S. 869. Beispiele für einen Rückschritt in der Entwicklung des ökonomischen Denkens wären etwa das Wiederaufleben der objektiven Werttheorie durch die Neo-Ricardianische Schule, die keynesianische Ökonomie, das Vernachlässigen der Zeitdimension und der Kapitaltheorie in der modernen Makroökonomie sowie das enge Verständnis von Rationalität, Maximierung und Gleichgewicht, auf dem die neoklassische Analyse aufbaut. 80 Zusätzliche Argumente gegen den sogenannten Markttest für die Österreichische Schule findet man in der brillanten Arbeit von Yeager (1997). 79

Schlussfolgerung: Bewertung von Erfolg und Misserfolg der beiden Ansätze 

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Verständnis des Marktes als Prozess der sozialen Interaktion, angetrieben durch die unternehmerische Funktion, anstreben. Sie alle sind Beispiele erheblicher Qualitätserfolge des Österreichischen Ansatzes, die im krassen Kontrast zu den schwerwiegenden Unzulänglichkeiten (bzw. Fehlern) des Neoklassischen Ansatzes stehen; insbesondere zu dessen Unfähigkeit, die Unmöglichkeit und schädlichen Folgen des sozialistischen Wirtschaftssystems zeitnah zu erkennen. Gewiss gibt es die ständige Nachfrage in der Gesellschaft nach speziellen Vorhersagen, Interventionsrezepten und empirischen Studien, die leicht zu akzeptieren sind, auch wenn sie aus theoretischer Sicht unter erheblichen Fehlern leiden, die in einem empirischen Umfeld, in dem man kaum unumstößliche Beweise für die vorgelegten Schlussfolgerungen finden kann, unerkannt bleiben. Um ihrer Schwerkraft zu entkommen, wird es notwendig sein wird, den subjektiven und dynamischen Prozess der Österreichischen Schule weiter und tiefer in unsere Wissenschaft hineinzutragen. In diesem Zusammenhang sollten wir uns die vielzitierte Aussage Hayeks in Erinnerung rufen, dass man wohl kaum übertreibe, wenn man sage, jeder wichtige Fortschritt in der Wirtschaftstheorie während der letzten hundert Jahre sei ein weiterer Schritt hin zur konsequenten Anwendung des Subjektivismus gewesen.81 Wenn Hayek richtig liegt, dann kann nur eine konsistente Anwendung der subjektivistischen Methode der Österreichischen Schule künftig ökonomischen Fortschritt auslösen. Der anhaltende Methodenstreit wird weitergehen, und die Menschen werden weiterhin Doktrinen bevorzugen, die sie befriedigen, statt solche, deren Theorie richtig ist. Die verhängnisvolle rationalistische Anmaßung lässt den Menschen auch weiterhin glauben, er besitze in jeder einzelnen historischen Situation Informationen, die sehr viel größer als die sind, die er eigentlich besitzen kann. Diesen gefährlichen Neigungen im menschlichen Denken, die unvermeidbar immer wieder auftauchen, können wir nur die realistischere, reichhaltigere und humanistischere Methodenlehre entgegensetzen, die von den Theoretikern der Österreichischen Schule entwickelt wurde und der in größtmöglicher Zahl beizutreten ich an dieser Stelle die freiheitsliebenden Wissenschaftler herzlich einlade.

81

Hayek (1952a), S. 31. Hayek fügt in Fußnote 24 (S. 210) hinzu, dass der Subjektivismus „wahrscheinlich am konsistentesten von Ludwig von Mises vorgetragen wurde, und ich glaube, dass viele Besonderheiten seiner Ansichten, die vielen Lesern eigenartig und nicht akzeptabel erscheinen, in der Tatsache begründet liegen, dass er bei der konsistenten Entwicklung des subjektivistischen Ansatzes seinen Zeitgenossen lange weit voraus war.“

3. Über die konjekturale Geschichtsschreibung hinaus1 Professor Hayek schreibt auf Seite 20 seines Werkes The Fatal Conceit: „So schwer uns die Einsicht auch fallen mag: Wir werden nie ein allgemein gültiges Moralsystem kennenlernen“. In diesem kurzen Kommentar haben wir uns zum Ziel gesetzt, diese Behauptung von Professor Hayek zu kritisieren und eine Theorie vorzustellen, derzufolge ein und dieselbe menschliche Realität auf drei kompatiblen Zugangsebenen erforscht werden kann. Die erste Zugangsebene würde in dem bestehen, was Hayek im Anschluss an Hume „konjekturale Geschichte“ nennt.2 Konjekturale Geschichtsschreibung bedeutet, Evolutionsprozesse zu interpretieren und deren Ergebnisse (Bräuche, Sitten, Gesetze und Institutionen) zu analysieren. Dieser erste Forschungsbereich wurzelt in der Tradition, die mit Montesquieu und Hume ihren Anfang nahm und in Hayeks wichtigsten Werken und insbesondere in The Fatal Conceit seinen Höhepunkt erreichte. Diese Zugangsebene ist höchst multidisziplinär und muss soziologische, politologische, anthropologische und sonstige Studien einschließen. Kurz, diese Zugangsebene zur Erforschung der menschlichen Realität ist die erste ihrer Art in der Geschichte wissenschaftlichen Denkens, und ihr Ziel ist es, die Entstehung und Entwicklung von „realem oder positivem Recht“ zu erklären. Die größte Gefahr für den Forscher in diesem Bereich liegt darin, dass es sehr leicht ist, die Phänomene der geschichtlichen Evolution sowohl implizit als auch explizit zu missinterpretieren, insbesondere bei Verwendung einer fehlerhaften Theorie. Die zweite Zugangsebene für das Studium der menschlichen Realität ist erst viel später entstanden, nämlich mit der Entstehung der Wirtschaftswissenschaft gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Die weitere Entwicklung der Wirtschaftswissenschaft fand ihren Höhepunkt in den Beiträgen der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, deren wissenschaftliches Forschungsprogramm vornehmlich dem formalen Studium der spontanen und dynamischen Prozesse menschlicher Interaktionen galt und gilt. Deshalb geht es auf dieser Ebene um die Entwicklung einer formalen Theorie sozialer Prozesse oder, wenn man so will, um den Versuch, diese sozialen Prozesse detailliert und rational zu erklären. Dieses zweite Forschungsfeld führte zur Entstehung der Praxeologie (einer formalen Theorie sozialer Prozesse), die mit Menger angefangen hat, mit Mises weiter ging und sogar von Hayek selbst in seinen frühen Werken und seit kurzem auch von den Mitgliedern der Neo-Österreichischen Schule weiterentwickelt wurde. Mit den Worten Montesquieus könnte man sagen, dass diese Ebene das Ziel hat, die Gesetze der 1 2

Veröffentlicht in Humane Studies Review 6.2, Winter 1988–1989, S. 10. Hayek (1988), S. 69.

3. Über die konjekturale Geschichtsschreibung hinaus

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Natur im sozialen Bereich auf rationale Weise zu entdecken. Die größte Gefahr auf dieser zweiten (wirtschaftswissenschaftlichen) Zugangsebene liegt in dem, was Hayek Konstruktivismus nennt. Dem Wirtschaftswissenschaftler kann nämlich leicht der Fehler unterlaufen, sich nicht auf die logische und formale Interpretation und Untersuchung der sozialen Prozesse zu beschränken, sondern stattdessen in eine verhängnisvolle Anmaßung zu verfallen und zu glauben, es sei möglich und ratsam, das gewonnene Wissen zu verwenden, um die Gesellschaft neu zu konstruieren und ex novo zu gestalten. Schließlich würde die dritte Zugangsebene darin bestehen, eine formale Theorie sozialer Ethik zu entwickeln. Diese Zugangsebene ist genau das, was Hayek im Zitat zu Beginn dieses Kommentars zu leugnen scheint. Dennoch glauben wir daran, dass wir gewisse Fortschritte bei der rationalen Formalisierung sozialer Ethik erzielen können, so wie wir auch große Fortschritte in der Rationalisierung sozialer (wirtschaftlicher) Prozesse machen. Wir hätten uns daher mit der Ent­deckung und Rechtfertigung des „Naturgesetzes“ zu befassen und würden der Tradition von Locke, die heute von Autoren wie Nozick und Rothbard weitergeführt wird, folgen. Natürlich liegt auch für diese dritte Zugangsebene, ähnlich wie es für die Wirtschaftswissenschaft der Fall ist, die größte Gefahr im Konstruktivismus. Wie dem auch sei, all dies sollte uns nicht gleich dazu führen, alle Versuche zur Formulierung einer rationalen Theorie der sozialen Ethik, die ja in unserem Aufgabenbereich liegt, aufzugeben. Somit verfügt man über die Ebenen des realen bzw. positiven Rechts, der Naturgesetze und des Naturrechts, wie sie (jeweils) von der konjekturalen Geschichtsschreibung, der Praxeologie und der formalen Theorie der Ethik verstanden werden. Alle Ebenen ergänzen einander, bringen aber auch Gefahren mit sich (theoretische Fehler auf der ersten Ebene und Konstruktivismus auf der zweiten und der dritten Ebene). Insofern kann eine wichtige praktische Regel die sein, auf der Hut zu sein, wann immer die rationalistischen Konklusionen der zweiten und dritten Ebene im offenen Widerspruch zu den Schlussfolgerungen der ersten Ebene (konjekturale Geschichtsschreibung) stehen. In diesem Fall ist höchste Vorsicht geboten, um nicht in den Konstruktivismus zu verfallen. Hayeks Werk verdient für seine Beiträge sowohl im Bereich der zweiten Ebene (Wirtschaftstheorie) als auch im Bereich der ersten Ebene (Evolutionstheorie und Kritik des Konstruktivismus) großes Lob. Wie dem auch sei, wir haben den Eindruck, dass sein Werk noch reichhaltiger hätte ausfallen können, wenn Professor Hayek seinen großen Wissensschatz auch auf den Bereich der dritten Ebene (Theorie der sozialen Ethik) angewandt hätte.

4. Die unternehmerische Funktion und die ökonomische Analyse des Sozialismus1 In diesem Aufsatz möchte ich aufzeigen, warum die Theorie der unternehme­ rischen Funktion, wie sie von Israel M. Kirzner entwickelt wurde, in keiner Analyse zur Unmöglichkeit des Sozialismus fehlen darf. Als Ergebnis meiner Untersuchung präsentiere ich eine neue Definition des Sozialismus, basierend auf dem Verständnis der unternehmerischen Funktion, welche allgemeiner und analytisch weiter zu führen scheint als die standardmäßige Definition. Im ersten Abschnitt erkläre ich meine Interpretation des Wesens der unternehmerischen Funktion und stelle im zweiten Abschnitt meine eigene Definition des Sozialismus vor. Danach entwickle ich die Analyse seiner Unmöglichkeit aus der Theorieperspektive der unternehmerischen Funktion. Der letzte Abschnitt enthält eine Kritik an den neueren und traditionellen Konzepten des Sozialismus.

Das Wesen der unternehmerischen Funktion In einem allgemeinen und weit gefassten Sinne fallen die Funktion des unternehmerischen Handelns und menschliches Handeln zusammen.2 In diesem Sinne könnte man sagen, dass unternehmerisches Handeln von jeder Person vollzogen wird, die handelt, um ihre Situation zu verändern und in der Zukunft liegende Ziele zu erreichen. Diese Definition mag auf den ersten Blick zu weit gefasst erscheinen und stimmt nicht mit dem heutigen Begriff des „Unternehmers“ überein. Man sollte jedoch bedenken, dass diese Definition einer Konzeption von Unternehmertum entspricht, die von der Wirtschaftswissenschaft zunehmend analysiert und weiterentwickelt wird.3 Dieses Konzept stimmt mit der eigentlichen etymologischen

1 Ursprünglich veröffentlicht als Kapitel  14 des Buches New Perspectives on Austrian Economics, Gerrit Meijer (Hrsg.), London und New York 1995, S. 228–253. 2 Zum Konzept menschlicher Handlung und ihrer wesentlichen Elementen siehe insbesondere Mises (1966), S. 11–29 und 251–256. Mises führt dort aus, dass „jeder Akteur immer Unternehmer und Spekulant ist“ (S. 252) und dass „Unternehmer bedeutet, auf sich verändernde Umstände im Markt zu reagieren“ (S. 254). 3 Der wichtigste Autor, den wir hier in Bezug auf die unternehmerische Funktion diskutieren, ist Israel M. Kirzner, Professor für Ökonomie an der New York University. Kirzner ist Verfasser einer Trilogie (Competition and Entrepreneurship, Opportunity and Profit sowie Discovery and the Capitalist Process, erschienen in Chicago 1973, 1979 und 1985). In ihr analysiert und erweitert er unterschiedliche Aspekte jenes Konzepts der unternehmerischen Funktion, das ursprüngich von Ludwig von Mises und Friedrich A. von Hayek entwickelt

Das Wesen der unternehmerischen Funktion

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Bedeutung des Terminus entrepreneur für Unternehmer vollkommen überein. Tatsächlich haben sowohl das englische Wort enterprise (französisch: entreprise, spanisch: empresa)  als auch das französische und englische entrepreneur ihre etymologischen Wurzeln in dem lateinischen Verb in prehendo -endi -ensum, das entdecken, sehen, empfinden, wahrnehmen bedeutet. Darüber hinaus impliziert der lateinische Ausdruck in prehensa eindeutig die aktive Handlung und meint ergreifen, nehmen oder die Gelegenheit nutzen. In Frankreich bezeichnete man so bereits im Hochmittelalter Menschen, die mit der Verantwortung für wichtige Aufgaben, die meist mit der Kriegsführung zusammenhingen, betraut waren oder die Aufgabe hatten, große Kathedralen zu errichten. Im Englischen definiert The Oxford English Dictionary das Wort enterprise als action of taking in hand und auch als das bold, arduous or momentous undertaking.4 Im Spanischen ist eine der Bedeutungen des Wortes empresa, die das Wörterbuch der Königlich-Spanischen Akademie vorschlägt, eine anstrengende und schwierige Handlung, die tapfer begonnen wird. Im Mittelalter benutzte man das Wort auch, um sich auf die Insignien eines bestimmten Ritterordens zu beziehen, die von der unter Schwur geleisteten Verpflichtung zeugten, eine bestimmte bedeutsame Handlung durchzuführen. Auf jeden Fall ist das Verständnis der Unternehmung als eine Handlung untrennbar und notwendigerweise mit einer unternehmerischen Einstellung verbunden, die aus dem kontinuierlichen Bestreben besteht, neue Ziele und Mittel zu suchen, zu entdecken, zu kreieren oder zu identifizieren (all das in Übereinstimmung mit der oben erwähnten etymologischen Bedeutung von in prehendo).

Unternehmerisches Handeln und Wachsamkeit Strenggenommen besteht die Rolle des Unternehmers darin, Möglichkeiten zum Erreichen von Zielen zu entdecken oder – wenn man so will – einen Gewinn zu erzielen, den das Umfeld bietet, und seine Handlungen auf die Realisierung dieses Gewinns auszurichten. Kirzner hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die Ausübung der unternehmerischen Aktivität eine spezielle Wachsamkeit (alertness) impliziere (im spanischen perspicacia), also das ständige Alarmiertsein, das es dem Menschen ermöglicht, zu entdecken und sich darüber bewusst zu werden, was um ihn herum geschieht.5 Wahrscheinlich benutzt Kirzner den englischen Begriff alertness, weil der Begriff entrepreneurship französischen Ursprungs ist und im Englischen nicht unmittelbar die in romanischen Sprachen enthaltene Idee von prehendo einschließt. Jedenfalls ist die im Spanischen verwendete Bezeichnung perspicaz bestens geeignet, um die unternehmerische Funktion zu wurde. Kirzner ist auch Autor von Discovery, Capitalism and Distributive Justice, Oxford 1989 – ein Buch, in dem es um die Implikationen des Bildes geht, das Kirzner von der unternehmerischen Funktion im Bereich der Sozialethik zeichnet. 4 Oxford English Dictionary (1989), S. 293, im Sinne von 3 und 1. 5 Kirzner (1973), S. 65–69.

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4. Unternehmerische Funktion und ökonomische Analyse des Sozialismus

beschreiben, weil man diese Bezeichnung – gemäß dem Wörterbuch der Königlich-Spanischen Akademie  – für den scharfsinnigen Blick verwendet. Desweiteren leitet sich das Wort Spekulant etymologisch von dem lateinischen Begriff specula ab, was so viel heißt wie Wachturm oder hoher Aussichtspunkt, von dem aus man weit schauen kann. Diese Idee passt hervorragend zu der Aktivität eines Unternehmers, der über die auszuführenden Handlungen entscheidet und deren Folgen für die Zukunft abschätzt. Wachsam sein ist ein akzeptables Merkmal der unternehmerischen Funktion, da es die Idee der Aufmerksamkeit und Vorsicht impliziert.

Information, Wissen und die unternehmerische Funktion Man kann die Natur der unternehmerischen Funktion in ihrer ganzen Tiefe, die sie für die Österreichische Schule besitzt, nicht verstehen, wenn man nicht begreift, auf welche Weise der Unternehmer die Informationen oder das Wissen, über das der Akteur verfügt, modifiziert. Einerseits bedeutet das Schaffen, das Wahrnehmen und das Bemerken neuer Mittel und Ziele eine Modifizierung des Wissens des Handelnden in dem Sinne, dass er neue Informationen entdeckt, die vorher nicht existierten. Auf der anderen Seite modifiziert die Entdeckung die „Landkarte“ oder den Informationskontext, über den das Subjekt als Akteur verfügt. Daraus ergibt sich unmittelbar folgende Frage: Welche Eigenschaft hat die Information oder das relevante Wissen für die Ausübung der unternehmerischen Funktion? Wir betrachten hier sechs grundlegende Eigenschaften des unternehmerischen Wissens genauer: (1.) Es handelt sich bei ihm um ein subjektives Wissen, das praktischer und nicht wissenschaftlicher Natur ist. (2.) Es ist ein privates oder exklusives Wissen. (3.) Es ist über die Köpfe der Menschen verstreut vorhanden. (4.) Es handelt es sich bei ihm größtenteils um stillschweigendes, nicht artikulierbares Wissen. (5.) Es ist ein Wissen, das ex nihilo durch unternehmerisches Handeln geschaffen wird. (6.) Wir haben es mit übertragbarem Wissen zu tun, das größtenteils in unbewusster Weise durch höchst komplizierte soziale Prozesse übermittelt wird und dessen Erforschung Gegenstand der Wirtschaftswissenschaft ist.

Subjektives und praktisches, nicht-wissenschaftliches Wissen Das Wissen, das wir analysieren, ist für das Ausführen menschlicher Handlungen von höchster Bedeutung. Es handelt sich in erster Linie um ein subjektives Wissen, das praktischen, unwissenschaftlichen Charakter hat. Praktisches Wissen ist solches, das nicht auf eine formale Weise dargestellt werden kann. Es ist das einzelne Subjekt, das sich dieses Wissen durch die Praxis aneignet und erlernt, und zwar durch die Ausführung menschlicher und kontextgebundener Handlungen. Wie Hayek anmerkt, handelt es sich dabei um Wissen, das sich auf alle möglichen Umstände beziehen kann, die sich durch die subjektiven Raum-Zeit-Koordinaten

Das Wesen der unternehmerischen Funktion

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ergeben.6 Wir reden hier also von einem Wissen über spezifische menschliche Einschätzungen und meinen damit sowohl die angestrebten Ziele des Akteurs als auch die Kenntnis, die der Akteur von den Zielen hat, die s. E. andere anstreben bzw. verfolgen. Gleichzeitig handelt es sich um ein praktisches Wissen hinsichtlich der Mittel, über die der Akteur beim Verfolgen seiner Handlung zu verfügen glaubt, und ganz besonders um die Kenntnis aller persönlichen oder unpersönlichen Umstände, die der Akteur innerhalb eines konkreten Handlungszusammenhangs als relevant betrachtet.7

Privates und verstreutes Wissen Praktisches Wissen ist exklusiv und verstreut zugleich. Jeder handelnde Mensch besitzt sozusagen nur ein paar „Atome“ oder „Bits“ der Informationen, die auf der gesellschaftlichen Ebene weltweit geschaffen und übertragen werden. Paradoxerweise besitzt aber nur der Einzelne derlei Informationen, das heißt, nur er kennt und interpretiert sie bewusst. Jeder Mensch, der unternehmerisch handelt, tut dies daher auf eine sehr persönliche und nicht wiederholbare Art und Weise. Denn es ist davon auszugehen, dass der Versuch, bestimmte Ziele und Mittel zu erreichen oder zu erhalten, gemäß eines Wissens und einer Sicht der Dinge geschieht, die in ihrer ganzen Vielfalt und Nuanciertheit nur dem Einzelnen bekannt und in identischer Form für keinen anderen Menschen wiederholbar sind. Aus diesem Grund ist das Wissen, von dem wir hier sprechen, nicht gegeben oder für irgendjemanden in einer Art Informationsspeicher (wie z. B. in Zeitungen, Fachzeitschriften, Büchern, Statistiken, Computern etc.) verfügbar. Ganz im Gegenteil: Das für menschliches Handeln relevante Wissen ist eindeutig ein unternehmerisches Wissen, praktischer und privater Art. Dieses Wissen „befindet“ sich verstreut in den Köpfen von unternehmerisch handelnden Akteuren, aus denen sich die Menschheit zusammensetzt. In Abb. 1 stellen wir ein paar Strichmännchen dar, die nur den Zweck haben, uns zu helfen, unsere Analyse etwas anschaulicher zu präsentieren.

6

Der heilige Thomas von Aquin definiert bestimmte Umstände als „accidentia individualia humanorum actuum“ (die individuellen Zufälle menschlicher Handlung) und führt aus, dass unabhängig von Zeit und Ort der wichtigste spezifische Umstand sich auf das Ziel bezieht, das der Akteur verfolgt. („principalissima est omnium circumstantiarum illa quae attingit actum ex parte finis“ – „Also jener Umstand ist der hauptsächlichste, der die Handlung berührt von seiten des Zweckes.“). Siehe Aquin (1886 ff.). Iª-IIae q. 7 a. 4 co. Zusätzlich muss herausgestellt werden, dass wir die Unterscheidung zwischen „praktischem Wissen“ und „wissenschaftlichem Wissen“ Michael Oakeshott verdanken. Sein Buch Ratio­ nalism in Politics, Oakeshott (1962), wurde unter dem Titel Rationalism and Politics and Other Essays, Oakeshott (1991a), erweitert und neu herausgegeben. S. 12 und 15 sind besonders relevant. Genauso wichtig ist Oakeshotts Buch On Human Conduct von 1975, das auch 1991 neu herausgegeben wurde, Oakeshott (1991b). Siehe S. 23 ff., 36, 78 f. und 119 ff. 7 Siehe insbesondere die wichtigen Aufsätze von Friedrich August von Hayek „Economics and Knowledge“ (1937) und „The Use of Knowledge in Society“ (1945).

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4. Unternehmerische Funktion und ökonomische Analyse des Sozialismus

X B

A Y Abb. 1

In dieser Abbildung möchten wir zwei echte Menschen aus Fleisch und Blut darstellen, die wir A und B nennen. Jede dieser Personen besitzt ihr eigenes exklusives Wissen, also ein Wissen, das der andere nicht hat. Aus der Perspektive eines externen Beobachters könnten wir sogar sagen, dass ein Wissen existiert, das wir als Beobachter nicht kennen und das auf A und B in einer Weise verteilt ist, dass Person A einen Teil und Person B einen anderen Teil besitzt. Nehmen wir z. B. an, dass die Information, die A hat, darauf abzielt, Ziel X zu erreichen (dargestellt mit einem Pfeil über ihrem Kopf, der auf X zeigt). Nehmen wir weiter an, dass sie in Bezug auf das Erreichen dieses Zieles bestimmte praktische Informationen besitzt, welche im Kontext ihrer Handlung relevant sind (dieses Wissen wird repräsentiert durch den Schein, den A um ihren Kopf herum trägt). Der Fall von B ist ähnlich, außer dass sie in ihrem Fall ein ganz anderes Ziel erreichen möchte, nämlich Y (das durch den Pfeil dargestellt wird, der von ihren Füßen auf Y zeigt). Die praktischen Informationen, die B im Kontext der Handlung für relevant hält, werden ebenfalls durch einen Schein um ihren Kopf herum dargestellt. Bei manchen einfachen Handlungen besitzt der Handelnde Informationen, die notwendig sind, um das entsprechende Ziel zu erreichen, ohne dabei auf andere Handelnde angewiesen zu sein. In diesen Fällen ist die Frage, ob die durchgeführte Handlung einer wirtschaftlichen Kalkulation entspringt oder einer Schätzung, die der Handelnde vornimmt, indem er abwägt und dabei den subjektiven Wert, den er dem angestrebten Ziel zuordnet, direkt mit dem subjektiven Wert der Kosten bzw. des Wertes vergleicht, die er dem Ziel beimisst, das er aufgibt, wenn er sein auserkorenes Ziel verfolgt. Allerdings gibt es nur sehr wenige Handlungen, bei denen der Akteur diese Art von Entscheidung treffen kann. Die Mehrheit der Handlungen, in die wir involviert sind, sind – wie wir nun darlegen wollen – weitaus komple-

Das Wesen der unternehmerischen Funktion

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xer. Stellen wir uns die Situation in Abb. 1 so vor, dass A den großen Wunsch hat, Ziel X zu erreichen. Voraussetzung dafür ist die Existenz des Mittels M, über das Person A nicht verfügt und von dem sie auch nicht weiß, wo oder wie man es bekommen kann. Nehmen wir gleichzeitig an, dass Person B sich an einem anderen Ort aufhält und ein ganz anderes Ziel (Y) erreichen möchte, dem sie ihre ganze Kraft widmet. Sie kennt eine große Menge des Mittels M, beziehungsweise hat dieses zur Verfügung, betrachtet es aber nicht als besonders nützlich oder hilfreich, um ihr Ziel zu erreichen. Zufälligerweise handelt es sich genau um das Mittel, das A braucht, um ihr Ziel zu erreichen (X). Es sollte außerdem betont werden, dass es sich, wie so oft im wirklichen Leben, um zwei widersprüchliche Ziele handelt. Das heißt, jeder Handelnde verfolgt unterschiedliche Ziele mit unterschiedlicher Intensität und unterschiedlichem Ausmaß an Wissen in Bezug auf Mittel und Ziele innerhalb seines Wirkungsbereiches, die nicht seinen eigenen Bedürfnissen angepasst sind (was die unzufriedenen Gesichtsausdrücke erklärt, die wir unseren Strichmännchen verpasst haben). Später werden wir sehen, wie die Ausübung der unternehmerischen Funktion es ermöglicht, diese Form des widersprüchlichen und unkoordinierten Verhaltens zu lösen.

Stillschweigendes, unartikuliertes Wissen Praktisches Wissen ist zu einem großen Teil stillschweigendes (verborgenes), unartikuliertes Wissen. Das bedeutet, dass der einzelne Akteur zwar weiß, wie bestimmte Handlungen durchzuführen sind („know how“), er aber nicht weiß, welches die Elemente oder Teile dessen sind, was er tut, und ob diese korrekt oder falsch sind („know that“).8 Wenn eine Person z. B. lernt, Golf zu spielen, lernt sie nicht die Gesamtheit objektiver, wissenschaftlicher Regeln, die ihr erlauben, die notwendigen Bewegungen als Ergebnis der Anwendung einer Reihe von Formeln der mathematischen Physik auszuüben. Vielmehr besteht der Lernprozess in der Aneignung einer Reihe praktischer Verhaltensregeln. Betrachten wir wie Polanyi z. B. eine Person, die das Fahrradfahren lernt. Sie versucht das Gleichgewicht durch den Gebrauch des Lenkers zu halten, um die Zentrifugalkraft auszubalancieren. Dadurch wird sie dazu befähigt, das Fahrrad aufrecht zu halten. Dies geschieht ohne Kenntnis oder Bewusstsein der physikalischen Gesetze, auf denen die Geschicklichkeit des Lernenden beruht. Im Gegenteil: Der Fahrradfahrer benutzt vielmehr seinen „Gleichgewichtssinn“, der ihm in jedem Moment sagt, wie er sich zu verhalten hat, damit er nicht hinfällt. Polanyi behauptet sogar, dass das stillschweigende Wissen (tacit knowledge) tatsächlich das vorherrschende Prinzip allen Wissens sei.9 Selbst das im höchsten Maße formalisiert-wissenschaftliche Wissen ist stets das Ergebnis einer Intuition oder eines schöpferischen Aktes, die 8 Diese Unterscheidung wurde Gemeingut, nachdem Gilbert Ryle (1949) sie mit seinem bekanntem Aufsatz „Knowing How and Knowing That“ eingeführt hatte. 9 Polanyi (1959), S. 24 f.

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beide nichts anders sind als eine Manifestation stillschweigenden Wissens. Davon abgesehen ist das neue, formalisierte Wissen, das wir aus Formeln, Büchern, Abbildungen, Karten etc. erlangen, vor allem deshalb von so großer Bedeutung, weil es uns dabei hilft, unsere Informationskontexte von anderen, ergiebigeren und aussichtsreicheren Standpunkten aus zu reorganisieren, was uns neue Möglichkeiten in der Ausübung der kreativen Intuition eröffnet. Eine Art des nicht artikulierbaren Wissens, das eine essenzielle Rolle in der Entwicklung der Gesellschaft spielt, besteht aus der Gesamtheit von Gewohnheiten, Traditionen, Institutionen und rechtlichen bzw. moralischen Regeln. Erst diese Gesamtheit ermöglicht die Bildung einer Gesellschaft. Die Menschen lernen diese Regeln und Traditionen zu befolgen, ohne dass sie im Stande wären, detailliert theoretisch zu begründen oder zu artikulieren, welche Aufgabe die Regeln und Institutionen in den verschiedenen Situationen und sozialen Prozessen erfüllen, in die sie eingreifen. Das gleiche gilt für die Sprache oder die Finanzbuchhaltung und Kostenrechnung, die der Unternehmer für seine Wirtschaftsrechnung benutzt und die ihn bei seinen Entscheidungen leiten. Bei der Finanzbuchhaltung und Kostenrechnung handelt es sich um ein Konglomerat von Wissen oder praktischen Techniken, das – im Kontext der Marktwirtschaft verwendet – den Unternehmer bei seinem Handeln leitet und ihm dazu dient, seine Ziele zu erreichen. Der Großteil der Unternehmer wäre allerdings nicht fähig, eine wissenschaftliche Theorie der Buchführung zu formulieren. Und er könnte sogar noch weniger erklären, auf welche Weise die Buchhaltung dabei hilft, die komplizierten, sozialen Prozesse zu koordinieren, die das gesellschaftliche und ökonomische Leben erst ermöglichen.10 Wir können daraus folgern, dass sich die Ausübung der unternehmerischen Funktion, so wie wir sie definiert haben (die Fähigkeit, Gewinnchancen zu entdecken bzw. wahrzunehmen und sie durch bewusstes Verhalten auszunutzen), sich in stillschweigendem, nicht artikulierbarem Wissen manifestiert.

Die hauptsächlich kreative Natur der unternehmerischen Funktion Um unternehmerisch handeln zu können, ist kein Mittel nötig, d. h., es setzt keinerlei Kosten voraus und ist im Kern kreativ. Die kreative Natur unternehmerischen Handelns spiegelt sich in Gewinnen wider, die in gewisser Weise aus dem Nichts resultieren und die aus diesem Grunde reine unternehmerische Gewinne 10

Lavoie (1985). Lavoie fügt hinzu, dass die Entscheidungsfindung im ökonomischen Leben auf den Gehorsam gegenüber einer Reihe vollständig artikulierbarer und spezifischer Regeln begrenzt werden könnte, wenn es möglich wäre, die Kosten allgemein, objektiv und wissenschaftlich aufzustellen. Nimmt man allerdings an, dass die Kosten subjektiv sind und nur durch den Handelnden im Kontext jeder jeweiligen Handlung gewusst werden können, dann kann die Ausübung der unternehmerischen Funktion weder im Detail artikuliert, noch durch irgendein objektives wissenschaftliches Kriterium ersetzt werden; ebenda, S. 103 f.

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Das Wesen der unternehmerischen Funktion

genannt werden können. Um unternehmerische Gewinne zu erzielen, ist es daher nicht erforderlich, bereits über ein Mittel zu verfügen, sondern nur notwendig, unternehmerisch gut zu handeln. Diese Tatsache können wir anhand der Situation schildern, die in Abb. 1 dargestellt ist. Es genügt die Bewusstmachung, dass in einer Situation ein Mangel an Anpassung oder Koordination zwischen A und B vorliegt, und schon entsteht eine Gelegenheit zu einem reinen unternehmerischen Gewinn. X

A C

B

Abb. 2

Somit kann in Abb. 2 eine dritte Person, in diesem Falle C, welche die unternehmerische Funktion ausübt, die inhärente Gewinnmöglichkeit entdecken, die sich aus der Diskoordination in Abb. 1 ergibt. (Den Umstand, dass C sich dieser Gelegenheit bewusst wird, stellen wir durch eine „leuchtende Glühbirne“ dar.) Selbstverständlich kann die unternehmerische Funktion in der Praxis auch durch A oder B ausgeübt werden, auch wenn wir in unserem Falle aus Gründen der Anschauung annehmen, dass sie durch eine dritte Person C durchgeführt wird. Tatsächlich genügt es, wenn C mit B in Kontakt tritt und ihr anbietet, sagen wir für drei Geldeinheiten diejenige Ressource zu kaufen, über die B reichlich verfügt und die für sie praktisch keinen Wert besitzt. B wird darüber sehr erfreut sein, da sie sich nicht vorstellen konnte, so viel für ihre Ressource zu erhalten. Nach diesem Tausch kann C A kontaktieren und ihr die Ressource verkaufen, die diese so dringend für das Erreichen ihrer Ziele benötigt. C könnte A die Ressource z. B. für neun Geldeinheiten verkaufen (falls C nicht über das Geld verfügt, könnte sie jemanden überzeugen, es ihr temporär zu leihen). Als Resultat der Ausübung unternehmerischen Handelns erhält C ex nihilo einen reinen unternehmerischen Gewinn in Höhe von sechs Geldeinheiten. Hier ist es besonders wichtig hervorzuheben, dass die oben beschriebene unternehmerische Handlung drei besonders wichtige Effekte verursacht hat. Erstens

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4. Unternehmerische Funktion und ökonomische Analyse des Sozialismus

hat das unternehmerische Handeln eine neue Information kreiert, die zuvor nicht existierte. Zweitens wurde diese Information auf den Markt übertragen und verbreitet. Drittens hat diese unternehmerische Handlung die Marktteilnehmer gelehrt, ihr Verhalten auf das der anderen einzustellen. Diese Konsequenzen der unternehmerischen Funktion sind so bedeutsam, dass es sich lohnt, sie im Einzelnen genau zu untersuchen.

Die Schaffung von Informationen Jeder unternehmerische Akt impliziert die Schaffung neuer Informationen ex nihilo. Das Kreieren solcher Informationen findet im Denken derjenigen Person statt – in unserem Beispiel die von Strichmännchen C repräsentierte Person –, die zuerst die unternehmerische Funktion ausübt. Wenn C realisiert, dass eine Situation, wie sie zwischen A und B beschrieben wurde, besteht, ist eine neue Information in ihren Gedanken geschaffen worden, über die sie vorher nicht verfügte. Sobald C handelt und A und B kontaktiert, entsteht außerdem eine neue Information in deren Köpfen. Somit realisiert A, dass die Ressource, die sie nicht besaß und so dringend benötigte, um ihr Ziel zu erreichen, an anderer Stelle am Markt in größerer Menge, als sie dachte, vorhanden war. Nun kann sie die Handlung durchführen, die sie zuvor aufgrund des Mangels an der Ressource nicht begonnen hatte. Auf der anderen Seite realisiert B, dass die Ressource, die sie reichlich zur Verfügung hatte und die für sie keinen Wert besaß, von anderen Leuten dringend nachgefragt wird und dass sie diese daher zu einem guten Preis verkaufen kann. Außerdem ist ein Teil der neuen Information, die beim unternehmerischen Handeln von C in dessen Geist entsteht und dann auf A und B überspringt, in einer summarischen Form in einer Serie von Preisen oder historischen Tauschverhältnissen enthalten (d. h., B verkaufte für drei Geldeinheiten und A kaufte für neun).

Die Übermittlung von Informationen Die unternehmerische Erzeugung von Information impliziert deren simultane Übermittlung an den Markt. Jemandem etwas zu übermitteln, bedeutet in Wirklichkeit, dass diese Person in ihrem eigenen Kopf den Teil der Information generiert, den wir zuvor geschaffen oder entdeckt haben. Genaugenommen wurde im vorherigen Beispiel an B die Information übermittelt, dass ihre Ressource wichtig sei und nicht verschwendet werden sollte. An A wurde übermittelt, dass sie das Ziel nun weiter verfolgen könne, das sie zunächst nicht in Angriff genommen hat, da ihr dazu die nötigen Ressourcen fehlten. Die Marktpreise haben in diesem Sinne eine wichtige Transmissionsfunktion, weil sie zu niedrigen Kosten über die ganze Gesellschaft bzw. den ganzen Markt hinweg Informationen übermitteln, vor allem die, dass die jeweilige Ressource aufbewahrt und wirtschaftlich verwendet werden sollte, da es eine Nachfrage für sie gibt. Zugleich können alle diejenigen,

Das Wesen der unternehmerischen Funktion

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die keine Handlungen unternahmen, weil sie dachten, dass die entsprechende Ressource nicht existierte, sich diese nun verschaffen und ihre Pläne weiter verfolgen. Logischerweise ist die relevante Information immer subjektiv. Sie existiert nicht jenseits der Personen, die sie entdecken und interpretieren können. D. h., es sind immer Menschen, die sie kreieren, wahrnehmen und übermitteln. Die irrige Vorstellung, der zufolge Informationen etwas Objektives sind, hat ihren Ursprung in der Tatsache, dass die von Unternehmern geschaffene, subjektive Information sich in „objektiven“ Signalen (Preise, Institutionen, Regeln, „Firmen“) widerspiegelt. Diese „objektiven“ Zeichen werden vom Subjekt in seinem spezifischen Handlungszusammenhang entdeckt und subjektiv interpretiert, wodurch es möglich wird, immer reichere und komplexere neue Informationen zu schaffen. Entgegen diesem Anschein ist die Übermittlung sozialer Informationen stillschweigend und subjektiv, d. h. unartikuliert und stark komprimiert, weil in Wirklichkeit nur das für eine Koordination des sozialen Prozesses notwendige Minimum subjektiv ermittelt und erfasst wird. Dies erlaubt es den Menschen, aus der begrenzten Fähigkeit des menschlichen Geistes, konstant neue Informationen zu kreieren, zu entdecken und zu übertragen, den größtmöglichen Nutzen zu ziehen.

Der Lerneffekt: Koordination und Anpassung Zuletzt müssen wir die Aufmerksamkeit darauf richten, wie A und B gelernt haben, ihre Handlungen aufeinander abzustimmen. Als Folge der von Person C unternommenen Handlung verschwendet B die ihr zur Verfügung stehende Ressource nicht, sondern bewahrt sie in ihrem eigenen Interesse. Sobald Person A über die besagte Ressource verfügt, kann sie ihr Ziel erreichen und die Handlungen durchführen, die sie zuvor nicht vollziehen konnte. Beide Personen lernen deshalb auf eine koordinierte Art und Weise zu handeln, das heißt, ihr Verhalten auf das der anderen Menschen einzustellen. Sie lernen aber noch mehr, und das auf die bestmögliche Art, nämlich ohne sich dieses Lernprozesses bewusst zu sein und motu propio. D. h., sie lernen freiwillig und im Rahmen eines Plans, der jeden die eigenen Interessen verfolgen lässt. Dies allein ist der Kern des ebenso wunderbaren wie einfachen Prozesses, der das Leben in einer Gesellschaft erst ermöglicht. Schließlich beobachten wir, dass die Ausübung der unternehmerischen Funktion durch C nicht nur die Koordination der Handlungen von A und B – die vorher nicht existierte – ermöglicht. Diese Ausübung erlaubt außerdem, dass beide eine Wirtschaftsrechnung über ihre Handlung aufstellen und dabei auf Daten und Informationen zurückgreifen können, die vorher nicht vorhanden waren und deren jetzige Existenz ihnen gestattet, ihren jeweiligen Zielen mit höherer Erfolgswahrscheinlichkeit nachzugehen. Zusammengefasst ist es die durch den Prozess unternehmerischen Handelns geschaffene Information, die die Wirtschaftsrechnung aller Akteure ermöglicht. Anders ausgedrückt, ohne die Ausübung der unternehmerischen Funktion wird die Information nicht geschaffen, die jeder Akteur benötigt, um den Wert verschiedener Handlungsalternativen zu berechnen und

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4. Unternehmerische Funktion und ökonomische Analyse des Sozialismus

abzuschätzen. Das bedeutet, ohne die unternehmerische Funktion ist keine Wirtschaftsrechnung möglich.11 Unsere Beobachtungen sind für den Kern der sozialwissenschaftlichen Lehre elementar und überaus wichtig. Sie erlauben uns die Schlussfolgerung, dass die unternehmerische Funktion zweifellos die soziale Funktion schlechthin ist, weil erst sie das Zusammenleben in einer Gesellschaft durch die Anpassung und Koordination des individuellen Verhaltens ihrer Mitglieder ermöglicht. Ohne die unternehmerische Funktion ist es nicht möglich, die Existenz einer Gesellschaft zu begreifen.

Das wesentliche Prinzip Was von einem theoretischen Standpunkt aus gesehen wirklich von Bedeutung ist, ist nicht, wer die unternehmerische Funktion tatsächlich ausübt (obwohl in der Praxis genau das das Wichtigste ist), sondern dass es keine institutionellen oder rechtlichen Restriktionen bei ihrer freien Ausübung gibt. Somit ist jede Person frei, ihre unternehmerischen Fähigkeiten so gut wie möglich zu nutzen und damit neue Informationen zu schaffen und einen Vorteil aus der exklusiven praktischen Information zu ziehen, die in einer bestimmten Situation entdeckt wurde. Es ist nicht die Aufgabe des Ökonomen, sondern eher die des Psychologen, die angeborene Fähigkeit des Menschen zu untersuchen, die ihn motiviert, in allen Lebensbereichen unternehmerisch zu handeln. An dieser Stelle soll uns nur interessieren, das wesentliche Prinzip hervorzuheben: Der Mensch neigt dazu, die Informationen zu entdecken, die ihn interessieren. Wenn Freiheit bei der Verfolgung von Zielen und Interessen besteht, dann dienen diese Ziele ihm dabei als Anreiz und erlauben ihm, stets die relevante und praktische Information für das Erreichen seiner gewählten Ziele wahrzunehmen und freizulegen. Wenn umgekehrt, aus welchem Grunde auch immer, der Spielraum für die Ausübung der Unternehmerfunktion in einem bestimmten Bereich des gesellschaftlichen Lebens begrenzt ist (durch gesetzlichen oder institutionellen Zwang), dann werden die Akteure ihre Möglichkeiten und Ziele im verbotenen bzw. beschränkten Bereich erst gar nicht in Betracht ziehen. Wenn aber ein Ziel nicht erreichbar ist, wird es auch nicht als Anreiz dienen, und somit wird der Akteur die relevante Information für das unerreichbare Ziel weder wahrnehmen noch freilegen. Mehr noch: Unter derlei Umständen werden die betroffenen Akteure sich des enormen Wertes und der Anzahl der Gelegenheiten, die infolge der institutionellen Restriktionen unerreichbar sind, noch nicht einmal bewusst. Das bedeutet, wie Abb. 1 und 2 zeigen, dass die „unternehmerische Glühbirne“ in jedem Fall von sozialer Diskoordination aufleuchtet, wenn Freiheit bei der Ausübung der menschlichen Handlungen besteht, 11

Das Wort „Kalkulation“ leitet sich etymologisch aus dem lateinischen calx, calcis ab, das u. a. Kreide bedeutet und damit auch die Kreide des antiken Abakus meint.

Die unternehmerische Funktion und das Konzept des Sozialismus 

111

und einen Prozess der Erzeugung und Übertragung von Informationen auslöst, der Raum für die Beseitigung mangelhafter Koordination bietet. Mit der Koordination wiederum wird Leben in der Gesellschaft möglich. Wenn indes die Ausübung der unternehmerischen Funktion in einem bestimmten Bereich verhindert wird, dann wird das „Aufleuchten der unternehmerischen Glühbirne“ unmöglich. Das heißt, dann wird es für den Unternehmer unmöglich, eine vorhandene Situation des Ungleichgewichts zu entdecken. Dieselbe bleibt so womöglich für immer unverändert oder verschlimmert sich sogar.

Die unternehmerische Funktion und das Konzept des Sozialismus Unsere Erörterung des Sozialismus im ersten Abschnitt war notwendig, weil wir eine neue Definition von Sozialismus vorschlagen, die auf der Konzeption der unternehmerischen Funktion aufbaut. Als „Sozialismus“ bezeichnen wir jedes System institutioneller Aggression gegen die freie Ausübung der unternehmerischen Funktion. Unter „Aggression“ oder „Zwang“ verstehen wir jede Form physischer Gewalt oder Androhung physischer Gewalt, die von anderen Personen oder Personengruppen ausgeht und gegen eine Person gerichtet ist. Die Folge des Zwangs ist, dass die Person, die ihre unternehmerische Funktion ansonsten frei wahrgenommen hätte, dazu gezwungen wird, sich anders zu verhalten, als sie es sonst getan hätte, um Schlimmeres zu verhindern. Sie muss daher ihr Verhalten den Wünschen der Person oder Personengruppe anpassen, die den Zwang anwendet bzw. anwenden.12 Die so definierte Aggression ist damit die inhumane Handlung schlechthin, da der Zwang die Person von der Ausübung ihrer unternehmerischen Funktion abhält. D. h., Zwang hält sie davon ab, die von ihr entdeckten Ziele zu verfolgen und die Mittel einzusetzen, die sie gemäß ihrer Information für einsetzbar hält und die ihr dazu dienen, die Ziele zu erreichen. Aggression ist also ein Übel,

12

Das Diccionario (1992) der Königlich Spanischen Akademie definiert „Zwang“ als „Kraft oder Gewalt, die gebraucht wird, um jemanden dazu bringen, etwas zu tun“ (spanisch: coacción). Der Begriff leitet sich aus dem lateinischen Wort cogere ab, jemanden antreiben, und von coactionis, das sich auf Steuereintreibung bezieht. Zu unserem Konzept von Zwang und dessen Effekten auf den Akteur siehe Hayek (2005), S. 27 f. Murray N. Rothbard (1991a), S. 33, definiert „Aggression“ folgendermaßen: „Aggression ist dabei als die Verwendung von physischer Gewalt oder die Drohung mit ihr gegen irgendeine Person oder deren Eigentum definiert.“ Es gibt drei Arten von Zwang oder Aggression: autistische, binäre und trianguläre Aggression. Autistische Aggression meint einen Befehl in Bezug auf ein Subjekt, einen Befehl, der das Verhalten des gezwungenen Akteurs verändert, ohne dessen Interaktionen mit anderen Personen zu beeinflussen. Im Falle binärer Aggression zwingt eine staatliche Instanz den Akteur, ihr etwas gegen seinen Willen zu geben; d. h., die staatliche Instanz zwingt den Akteur zu einem Austausch mit ihr zu ihren Gunsten. Triangulärer Zwang bedeutet, dass eine staatliche Instanz einen Austausch zwischen zwei verschiedenen Akteuren per Befehl erzwingen will. Wir verdanken diese Klassifikation Murray N. Rothbard (1970b), S. 9 f.

112

4. Unternehmerische Funktion und ökonomische Analyse des Sozialismus

da sie den Menschen von einer Tätigkeit abhält, die für ihn äußerst charakteristisch ist und die seiner Natur entsprechend von größtem Nutzen ist. Es gibt zwei Arten von Aggression: systematische oder auch institutionelle sowie unsystematische beziehungsweise nicht institutionelle. Die zweite Art von Zwang ist verstreut, zufällig und schwieriger vorauszusagen. Zwang dieser Art beeinträchtigt die Ausübung der unternehmerischen Funktion so, dass der Handelnde es für mehr oder weniger wahrscheinlich hält, im Kontext einer bestimmten Handlung von einer dritten Partei angegriffen zu werden, und mit dem Verlust der Früchte seiner eigenen unternehmerischen Kreativität rechnen muss. Unsystematische Ausbrüche von Aggression gegen die unternehmerische Funktion können je nach Umständen unterschiedliche Ausmaße annehmen. Institutionelle oder systematische Aggressionen, die unserer Definition von Sozialismus im Kern entsprechen,13 sind weitaus bedenklicher. Was den institutionellen Zwang auszeichnet, sind seine hohe Verlässlichkeit und sein sich ständig wiederholendes, methodisches und organisiertes Wesen. Die hauptsächliche Folge dieser systematischen Aggression gegen die unternehmerische Funktion ist, dass sie diese in großem Ausmaß verhindert und in allen Bereichen des sozialen Lebens, in den die Aggression wirksam ist, pervertiert. Abb. 3 zeigt eine typische Situation, die sich bei systematischer Zwangsausübung einstellt.

Y

A C

B X

Abb. 3 13

Mit dem im Text charakterisierten Zwang meinen wir allerdings nicht jenes Minimum von institutionalisiertem Zwang, das notwendig ist, um sich gegen die negativen Effekte willkürlicher, nicht-institutionalisierter und asymmetrischer Gewalt zu schützen. Dieses Minimum institutionalisierter Gewalt wird selbst von dem nicht-institutionalisierten Aggressor befürwortet, damit er die Vorteile aus seinen Handlungen ungestört genießen kann.

Die unternehmerische Funktion und das Konzept des Sozialismus 

113

In Abb. 3 wird angenommen, dass in einem bestimmten Bereich des sozialen Lebens die freie Handlung von C in Bezug auf A und B in systematischer und organisierter Weise durch Zwang verhindert ist. Dies wird durch die vertikalen Balken angezeigt, die C von A und B trennen. Infolge des systematischen Zwangs in Form eines angedrohten ernsthaften Übels ist es C unmöglich, Gewinnmöglichkeiten zu entdecken und auszunutzen, die ihr möglich gewesen wäre, wenn sie mit B und A hätte frei interagieren können. Es ist dabei sehr wichtig, klar zu verstehen, dass die Aggression nicht nur Handelnde davon abhält, Gewinnmöglichkeiten zu nutzen, sondern auch die bloße Entdeckung solcher Möglichkeiten ausschließt. Wie im vorherigen Kapitel dargelegt, dient die Aussicht auf einen möglichen Gewinn dem Handelnden als Anreiz, nach derlei Gelegenheiten Ausschau zu halten. Wird also ein bestimmter Bereich des sozialen Lebens durch systematischen Zwang eingeschränkt, dann stellen die Akteure sich auf diese Situation ein und erkennen oder kreieren nicht einmal die latenten Gewinnmöglichkeiten. Dieser Umstand ist in Abb. 3 mit der durchgestrichenen Glühbirne veranschaulicht, die das eigentlich kreative Element der unternehmerischen Funktion darstellt. Wenn die Gewalt einen gesellschaftlichen Bereich systematisch erfasst und der Akteur infolgedessen seine unternehmerische Funktion dort nicht weiter wahrnehmen kann, dann kann logischerweise auch keiner der typischen Effekte unternehmerischen Handelns eintreten, die wir weiter oben analysiert haben. Zunächst wird also keine neue Information erzeugt oder zwischen den Handelnden ausgetauscht, außerdem bleibt (was noch beunruhigender ist) die notwendige Anpassung in Fällen sozialer Diskoordination aus. Da den Handelnden die Entdeckung von Gewinnmöglichkeiten verwehrt ist, gibt es für sie auch keinen Anreiz, auf künftige gesellschaftliche Fehlanpassungen zu achten. Kurzum, es werden keine Informationen geschaffen und zwischen Akteuren ausgetauscht, und die Individuen lernen nicht, ihr Verhalten an dem ihrer Mitmenschen auszurichten. Wir sehen also in Abb. 3, dass dann, wenn C ihre unternehmerische Funktion nicht mehr ausüben kann, das System dauerhaft unkoordiniert bleibt: A kann ihr Ziel Y nicht verfolgen, da ihr die Ressource fehlt, die B wiederum im Überfluss besitzt, für die sie aber keinen Nutzen hat. B wiederum, ohne zu wissen, dass A existiert und die Ressource dringend braucht, verschwendet dieselbe. Unserer Analyse folgend können wir also festhalten, dass das Hauptproblem des Sozialismus, so wie wir ihn definiert haben, in der Verhinderung koordinierender und kreativer Kräfte liegt, die das Leben in Gesellschaft ermöglichen. Bedeutet dies, dass Befürworter des Sozialismus für eine chaotische und unkoordinierte Gesellschaft kämpfen? Das Gegenteil trifft zu. Von einigen Ausnahmen abgesehen, verteidigen die Unterstützer sozialistischer Ideale ihr System, da sie erklärter- oder unerklärtermaßen annehmen, die Ordnung gesellschaftlicher Koordination werde durch die systematische Aggression, die sie befürworten, nicht nur nicht gestört, sondern im Gegenteil sehr viel effektiver, da der systematische Zwang einem Staat nutze, dem unterstellt wird, ein weitaus besseres Wissen und Urteilsvermögen zu

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4. Unternehmerische Funktion und ökonomische Analyse des Sozialismus

besitzen, als es den unterdrückten Akteuren auf der individuellen Ebene überhaupt möglich ist. Vor diesem Hintergrund können wir nun die Definition vervollständigen, die wir zu Beginn dieses Abschnitts angeboten haben: Sozialismus ist jeder systematische oder institutionelle Zwang, der die freie Ausübung der unternehmerischen Funktion in einem bestimmten gesellschaftlichen Bereich einschränkt und der von einem Staatsorgan vollzogen wird, das für die gesellschaftliche Koordination in diesem Bereich verantwortlich ist. Der folgende Abschnitt betrachtet, inwiefern der Sozialismus als ein intellektueller Fehler anzusehen ist oder nicht.

Sozialismus als intellektueller Fehler Leben in der Gesellschaft ist möglich, weil Individuen spontan und unbewusst lernen, ihr Verhalten nach den Bedürfnissen anderer auszurichten. Dieser unbewusste Lernprozess ergibt sich ganz natürlich, wenn der Mensch seine unternehmerische Funktion wahrnimmt. Indem eine Person mit anderen interagiert, initiiert sie einen Prozess der Koordination, in dem andauernd stillschweigendes, praktisches und verstreutes Wissen kreiert, entdeckt und an andere Menschen übertragen wird. Wir wissen, dass Sozialismus hauptsächlich in der institutionellen Aggression gegen die freie Ausübung menschlicher Handlung als unternehmerische Funktion besteht. Die Frage, die der Sozialismus damit aufwirft, ist folgende: Kann man auch mit einem Zwangsmechanismus einen Prozess in Gang setzen, der das Verhalten der Menschen aufeinander abstimmt und koordiniert, so wie es für das Leben in der Gesellschaft unerlässlich ist? Und kann all das in einem Umfeld stattfinden, in dem die Menschen kontinuierlich neues praktisches Wissen entdecken bzw. kreieren und somit der Zivilisation ermöglichen, voranzuschreiten und sich zu entwickeln. Der Sozialismus hat sich ein sehr anspruchsvolles Ideal zum Ziel gesetzt.14 Es wird nicht nur von der Überzeugung getragen, dass der Mechanismus gesellschaftlicher Koordination und Anpassung durch ein staatliches Organ, das institutionellen Zwang anwendet, wirksam funktioniert, sondern auch von dem Glauben, dass diese Anpassung durch Gewalt sogar verbessert wird. Abb. 4 gibt das Konzept des Sozialismus so wieder, wie wir es definiert haben. Auf der „unteren Ebene“ der Abbildung finden wir Menschen, die praktisches Wissen besitzen und daher versuchen, frei untereinander zu interagieren, obwohl institutioneller Zwang derlei Interaktionen in gewissen Gebieten ausschließt. Die 14 Bereits Ludwig von Mises hatte betont, dass „die Idee des Sozialismus gleichzeitig grandios und einfach ist. Man könnte sogar sagen, dass der Sozialismus zu den ehrgeizigsten Schöpfungen des menschlichen Geistes zählt. Er ist so groß und verlockend, dass er zu recht so viel Bewunderung erfahren hat. Wenn wir die Welt von der Barbarei befreien wollen, dann müssen wir den Sozialismus widerlegen, aber nich unbedacht beiseite wischen.“ Mises (1981b), S. 40.

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Sozialismus als intellektueller Fehler

ser Zwang ist durch die vertikalen Balken illustriert, welche die Strichmännchen in jeder Dreiergruppe voneinander separieren. Auf der „oberen Ebene“ befindet sich das Staatsorgan, das die institutionelle Gewalt in bestimmten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ausübt. F

„Obere Ebene“ (institutionalisierter Aggressor)

Zentrales Zwangsorgan (Kontrollorgan von dem die Zwangsbefehle ausgehen)

Befehle

Yn

Y1 Y2 „Untere Ebene“ (Gesellschaft)

A1

A2

An C2

C1

Cn B2

B1

X2

X1

Bn Xn

Spezifischer Bereich der Gesellschaft, die Objekt institutionalisierter Gewalt ist

Abb. 4

Die vertikalen Pfeile, die an den Seiten der Strichmännchen nach oben und unten zeigen, illustrieren fehlerhaft angepasste persönliche Pläne, ein typisches Zeichen für gesellschaftliche Diskoordination. Solche Fälle von Diskoordination können nicht durch die unternehmerische Funktion entdeckt und eliminiert werden, da die institutionelle Gewalt Barrieren dagegengesetzt hat. Die Pfeile, die vom Kopf des regierenden Strichmännchens zu den Menschen auf der unteren Ebene führen, stehen für die Zwangsbefehle und verdeutlichen die institutionelle Aggression, die für den Sozialismus typisch ist und den Bürger dazu bringen soll, auf koordinierte Weise Ziel „F“ zu verfolgen, das vom Staatsorgan als „richtig“ eingestuft wird. Ein Befehl wird definiert als eine spezifische Anweisung oder Regel mit klar definiertem Inhalt, die ungeachtet ihrer formal rechtlichen Gestalt Menschen dazu zwingt oder untersagt, in bestimmten Situationen bestimmte Handlungen auszuführen. Ein Befehl ist durch die Tatsache gekennzeichnet, dass er Menschen daran hindert, ihre unternehmerische Funktion in einem gegebenen sozialen Umfeld auszuüben. Außerdem sind Befehle willkürliche Entscheidungen von staatlichen Organen, die institutionelle Gewalt anwenden. Diese Befehle sind gedacht, um Handelnde dazu zu zwingen, nicht ihre eigenen Ziele zu verfolgen, sondern die der staatlichen Autoritäten.

116

4. Unternehmerische Funktion und ökonomische Analyse des Sozialismus

Insofern ist der Sozialismus deshalb ein intellektueller Fehler, weil es der für den institutionellen Zwang zuständigen Behörde theoretisch unmöglich ist, an die notwendigen Informationen zu kommen, an denen sie ihre Befehle so ausrichten könnte, dass diese in der Lage wären, die Gesellschaft zu koordinieren. Dieses einfache Argument wollen wir nun in seinen Einzelheiten noch etwas genauer betrachten. Man kann es von zwei verschiedenen, aber komplementären Standpunkten aus weiterverfolgen: erstens vom übergeordneten Standpunkt der Menschen, welche die Gesellschaft darstellen und gezwungen werden, und zweitens aus der Perspektive der gewaltsamen Organisation, die systematisch aggressiv vorgeht. Im Folgenden werden wir das Problem des Sozialismus von beiden Warten aus beleuchten.

Die Unmöglichkeit des Sozialismus aus gesellschaftlicher Perspektive Das „statische“ Argument Jeder der Menschen, die untereinander agieren und die Gesellschaft ausmachen (die „untere Ebene“ in Abb.  4) besitzt exklusive Teile der praktischen und verstreuten Informationen, die meistens stillschweigender Natur sind und daher nicht artikuliert werden können. Es ist also logisch unmöglich, solche Informationen an staatliche Stellen weiterzuleiten (die „obere Ebene“ in Abb. 4). Das Gesamtvolumen des praktischen Wissens, das in den Händen und Köpfen der Menschen auf der individuellen Ebene verarbeitet wird, ist so umfänglich, dass man sich nicht vorstellen kann, eine Kontrollbehörde könne es gezielt übernehmen. Viel entscheidender ist aber etwas anderes: Die Gesamtheit der Informationen ist über die Köpfe aller Menschen verstreut, und zwar in Form stillschweigender Informationen, die nicht artikulierbar sind und daher einem Kontrollzentrum nicht formal dargestellt oder explizit übertragen werden können. Im zweiten Abschnitt haben wir bereits gesehen, dass gesellschaftliche Akteure Informationen erzeugen und übermitteln, die aufgrund ihrer impliziten, dezentralisierten und verstreuten Weise für das soziale Leben wichtig sind. Mit anderen Worten, sie sind auf unbewusste und unabsichtliche Weise wichtig. Die verschiedenen Akteure lernen so, ihr Verhalten in Bezug auf andere zu zügeln, aber ohne explizit zu realisieren oder zu merken, dass sie eine Schlüsselrolle in diesem Lernprozess spielen. Sie sind sich nur bewusst, dass sie handeln. Das bedeutet, sie versuchen ihre eigenen Ziele zu erreichen, indem sie die Mittel einsetzen, von denen sie glauben, dass sie ihnen zur Verfügung stehen. Das fragliche Wissen ist also nur für Menschen verfügbar, die in der Gesellschaft handeln, und kann aufgrund seiner Natur nicht an eine zentrale Behörde übermittelt werden. Weil dieses Wissen für die gesellschaftliche Koordination der individuellen Verhaltensweisen wesentlich ist, und so die Gesellschaft erst möglich macht, und weil es nicht artikuliert und

Die Unmöglichkeit des Sozialismus aus gesellschaftlicher Perspektive 

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an eine Kontrollbehörde übertragen werden kann, ist der Glaube an ein funktionierendes sozialistisches System absurd.

Das „dynamische Argument“ Sozialismus ist unmöglich, nicht nur weil die im Besitz von Akteuren befindlichen Informationen ihrem Wesen nach nicht übertragbar sind, sondern auch weil die Menschen – sieht man es von einem dynamischen Standpunkt aus – bei der Ausübung ihrer unternehmerischen Funktion kontinuierlich neue Informationen schaffen und entdecken. Es wäre äußerst schwierig, einer Regierungsbehörde Informationen oder Wissen zu vermitteln, das noch gar nicht erschaffen ist, sondern erst nach und nach im gesellschaftlichen Prozess soweit zustandekommt, wie dieser unverfälscht bleibt. „Obere Ebene“ (institutionalisierter Aggressor)

Befehle

„Untere Ebene“ (Gesellschaft)

t1

t2

Entwicklung der „subjektiven“ Zeit

tn

t3

Zukunft

Abb. 515

15

Wenn die Befehle die „Zeitkapseln“ t2 bis tn (in der unteren Reihe der Abb.) nicht passie­ ren, dann kann das Kontrolorgan nicht die praktischen Informationen beziehen, die es für überlegte Koordinierungsmöglichkeiten braucht.

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4. Unternehmerische Funktion und ökonomische Analyse des Sozialismus

Abb. 5 zeigt die Handelnden, die im gesellschaftlichen Prozess neue Informationen schaffen und entdecken. Im Zeitablauf (Zeit so verstanden, wie bereits gezeigt, als subjektive Einheit im Sinne von Bergson) erkennen die Akteure, die in der Interaktion mit anderen eine unternehmerische Funktion ausüben, unentwegt neue Gewinnmöglichkeiten, die sie zu nutzen versuchen. Im Ergebnis verändert sich die Information, die jeder besitzt, kontinuierlich. Dies wird in der Skizze mithilfe der verschiedenen Glühbirnen angezeigt, die im Verlaufe der Zeit aufleuchten. Es ist klar, dass ein staatliches Organ unmöglich alle wichtigen Informationen erhalten kann, um die Gesellschaft über Befehle zu koordinieren; nicht nur, weil diese Informationen verstreut, exklusiv und unartikulierbar vorhanden sind, sondern auch, weil sie sich ständig verändern und ex nihilo im Zeitablauf entstehen, während die Handelnden ihre unternehmerische Funktion frei ausüben. Zudem wäre es unmöglich, einer staatlichen Stelle Informationen – und solche braucht es zur Koordinierung der Gesellschaft immer – zu übermitteln, die noch nicht einmal durch einen unternehmerischen Prozess erzeugt worden sind und wegen institu­ tioneller Zwangsanwendung auch nie erzeugt werden können. Stellt ein Bauer z. B. bei Tagesanbruch fest, dass es regnen oder das Wetter sich sonstwie verschlechtern wird, dann wird ihm augenblicklich klar, dass er seine Entscheidung darüber, was tagsüber zu tun ist, ändern muss; auch wenn er nicht in Lage ist, die Gründe für sein Handeln formal zu artikulieren. Es wäre dem Bauern daher auch unmöglich, sein Wissen, das ein Produkt langjähriger Erfahrung und Arbeit auf seinem Bauernhof ist, einer hypothetischen Behörde (etwa dem Landwirtschafts­m inisterium in der Hauptstadt) mitzuteilen, um dann auf entsprechende Anweisungen zu warten. Das Gleiche lässt sich über jeden anderen sagen, der seine unternehmerische Funktion in einem gegebenen Umfeld ausübt, ob es nun um die Entscheidung geht, in eine bestimmte Firma oder Branche zu investieren, bestimmte Aktien oder Wertpapiere zu kaufen oder verkaufen, oder darum, bestimmte Leute zu entlassen oder einzustellen, um mit ihnen zusammenzuarbeiten usw. Wir können also praktische Informationen als eingekapselt betrachten, in dem Sinne, dass sie für höhere Autoritäten, die institutionellen Zwang ausüben, nicht erreichbar sind. Vielmehr verändert sich diese Information ständig und erscheint in immer neuen Formen, weil die Akteure die Zukunft Schritt für Schritt gestalten. Und noch etwas sollten wir bedenken: Je kontinuierlicher und effektiver sozialistischer Zwang ausgeübt wird, desto stärker wird die freie Verfolgung individueller Ziele verhindert und den Akteuren der Anreiz genommen, jene praktischen

Aber auch dann, wenn die Befehle die einzelne „Zeitkapseln“ passieren, kann das Kontrollorgan die benötigten praktischen Informationen nicht beziehen. Wenn der unternehmerische Prozess attackiert wird und die individuellen Ziele nicht verfolgt werden können, dann handeln die Individuen nicht, weil es keine Anreize für die Entdeckung der Informationen und folglich auch keine Entdeckungen gibt.

Die Unmöglichkeit des Sozialismus aus Sicht der kontrollierenden Instanz 

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Informationen zu entdecken oder zu produzieren, die für die Koordinierung der Gesellschaft so wichtig sind. Die Kontrollbehörde steht somit vor einem unauflöslichen Dilemma: Sie ist auf die Informationen angewiesen, die der gesellschaftliche Prozess erzeugt, kann sie aber nicht bekommen. Wenn der Staat gewaltsam in den Prozess eingreift, zerstört der die Fähigkeit der Gesellschaft, diese Informationen zu erzeugen; greift er aber nicht ein, erhält er die Informationen ebenfalls nicht. Wir können also zusammenfassend folgendes schlussfolgern: Aus Sicht des Gesellschaftsprozesses ist der Sozialismus ein intellektueller Fehler. Es ist unvorstellbar, dass eine zuständige Kontrollbehörde mit Befehlen einschreiten könnte, um die für die Koordinierung der Gesellschaft notwendigen Informationen zu bekommen. Folgende Gründe sind dafür ausschlaggebend: Erstens, einer intervenierenden Körperschaft ist es unmöglich, den enormen Umfang praktischen Wissens aufzunehmen, das auf die einzelnen Köpfe verteilt ist. Zweitens, das notwendige Wissen kann keiner Zentralbehörde übermittelt werden, weil es seinem Wesen nach stillschweigend vorhanden und nicht artikulierbar ist. Drittens, Wissen, das noch nicht entdeckt oder geschaffen wurde und nur durch die freie Ausübung der unternehmerischen Funktion entstehen kann, kann nicht übermittelt werden. Viertens, die Ausübung von Zwang verhindert den unternehmerischen Prozess, der die Entdeckung und Schaffung von Informationen anregt, die für die Koordination der Gesellschaft wichtig sind.

Die Unmöglichkeit des Sozialismus aus Sicht der kontrollierenden Instanz Aus Sicht der „oberen“ Ebene – so haben wir sie in unseren Skizzen genannt –, also aus Sicht der mehr oder weniger organisierten Personen oder Personenkreise, die systematisch mit institutioneller Aggression gegen die freie Ausübung der unternehmerischen Funktion vorgehen, lassen sich eine Reihe von Beobachtungen anstellen, die sogar – sofern überhaupt möglich – in noch größerem Maße bestätigen, dass der Sozialismus schlicht ein intellektueller Fehler ist. Beginnen wir wie Mises16 mit der Annahme, dass die Staatslenker (etwa ein Diktator oder militärischer Anführer, eine Elite, eine Gruppe von Wissenschaftlern oder Intellektuellen, ein Ministerkabinett, eine Gruppe von demokratisch vom „Volk“ gewählten Repräsentanten oder kurzum jede mehr oder wenige komplexe Kombination mit allen oder einzelnen dieser Elemente) mit den größtmöglichen geistigen und technischen Ressourcen sowie Erfahrung und Weisheit ausgestattet sind und die denkbar besten menschlichen Absichten mitbringen. (Wir werden schnell sehen, warum diese Annahmen nicht gerechtfertigt sind.) Trotzdem kann man unmöglich annehmen, dass die Staatslenker übermenschliche Fähigkeiten oder die Gabe

16

Mises (1996), S. 696.

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4. Unternehmerische Funktion und ökonomische Analyse des Sozialismus

der Allwissenheit17 besäßen, also die Fähigkeit, gleichzeitig alle Informationen zu erfassen, zu verarbeiten und zu interpretieren, die verstreut und exklusiv in den Köpfen aller Handelnden der Gesellschaft vorhanden sind, Informationen, die diese Menschen ständig ex novo erzeugen. In Wirklichkeit hat die Staatsführung, die manchmal auch zentrale Planungsbehörde genannt wird, größtenteils nur vage oder gar keine Vorstellungen von dem Wissen, das verstreut in den Köpfen der Weisungsempfänger steckt. Es ist also äußerst unwahrscheinlich, dass der Planer weiß, was er wo suchen soll und wo er die Anteile des verstreuten Wissens findet, die im gesellschaftlichen Prozess erzeugt werden und die er so dringend braucht, um den Prozess zu kontrollieren und zu koordinieren. Mehr noch, die Zwang anwendende Institution besteht notgedrungen aus Menschen, die – mit all ihren Stärken und Schwächen wie alle anderen Handelnden auch  – ihre eigenen Ziele, Interessen und Anreize haben, die für ihre Zwecke nützlichen Informationen zu entdecken. So beschaffen, werden sie sich z. B. die Informationen und Erfahrungen besorgen, die sie brauchen, um an der Macht zu bleiben und ihre Handlungen gegenüber sich und anderen zu rechtfertigen bzw. 17

Mises (1996), S. 696 schreibt sogar, dass der Direktor (oder das Kontrollgremium) „das gesamte technische Wissen seiner Zeit zur Verfügung stehen hat. Außerdem steht ihm ein Inventar der materiellen Produktionsfaktoren und eine Liste mit allen einsetzbaren Arbeitern vollständig zur Verfügung. Die Experten und Spezialisten, die dort in ihren Amtsstuben sitzen, können ihm dazu perfekte Informationen zusammenstellen und auf alle Fragen die richtigen Antworten liefern. Ihre umfangreichen Berichte türmen sich zu einem hohen Stapel auf seinem Schreibtisch.“ Wenn Mises allerdings auf perfekte Informationen und die Verfügbarkeit eines vollständigen Inventars aller Produktionsfaktoren abstellt, dann muss das im technischen Sinne („das gesamte technische Wissen seiner Zeit“) und als Konzession an den ersten Grund gegen den Sozialismus verstanden werden, der im Haupttext genannt wurde (die Unmöglichkeit, die gesamte Menge von Wissen, die in der Gesellschaft verteilt herumliegt, zu erfassen, selbst wenn dieses korrekt – also fehlerlos – artikuliert werden könnte). Aber Mises macht keine Konzessionen in Bezug auf die drei anderen Gründe, die für die Unmöglichkeit des Sozialismus sprechen; eine Unmöglichkeit, die nur durch vollständiges Wissen (im neoklassischen Sinne) aufgelöst werden könnte. Gemeint ist die Fähigkeit zur Allwissenheit im Hinblick auf (1) unartikuliertes Wissen, (2) noch nicht durch die unternehmerische Funktion geschaffenes Wissen und (3) Wissen, das nur dann geschaffen werden kann, wenn die unternehmerische Funktion nicht unterdrückt wird. Mises sagt ausdrücklich, dass es nichts weniger als reine Dummheit sei, anzunehmen, der Direktor sei allwissend und unfehlbar. In Bezug auf die Frage, ob ein sterblicher Mensch, ausgestattet mit einem menschlichen Geist, den Anforderungen an einen Direktor eines sozialistischen Wirtschaftssystems gerecht werden könne, schlussfolgert Mises: „Es wäre müßig, sich der Hoffnung hinzugeben, die Organe einer kollektivistischen Ökonomie wären allgegenwärtig und allwissend. In der Praxeologie befassen wir uns nicht mit allgegenwärtigen und allwissenden Gottheiten, sondern nur mit den Handlungen von Menschen, die mit einem menschlichen Geist ausgestattet sind. Ein solcher Geist kann ohne Wirtschaftsrechnung nicht planen.“ Mises (1996), S. 710. Diese längere Fußnote war notwendig, da in letzter Zeit einige Österreichische Ökonomen in ihrer fixen Idee, Mises und Hayek voneinander zu separieren, zu dem Schluß gekommen sind, Mises sei der Meinung gewesen, dass der Sozialismus selbst unter der Annahme perfekten Wissens (allwissende Umstände) unmöglich wäre. Sie tun so, als würde Mises’ Argument ein reines Computerproblem innerhalb des statischen Rahmens der reinen Wahllogik darstellen. Siehe Salerno (1990a, 1990b, 1993) und Rothbard (1991a, 1992a).

Die Unmöglichkeit des Sozialismus aus Sicht der kontrollierenden Instanz 

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dementsprechend zu begründen. Sie werden den Zwang immer geschickter und effektiver anwenden und die Aggression gegenüber den Bürgern als unvermeidbar oder attraktiv verkaufen. Anders ausgedrückt, trotz der eingangs unterstellten „Wohlgesinntheit“ werden die genannten Anreize der Normalfall sein und Vorrang vor den anderen Motiven genießen, insbesondere vor dem Interesse, das notwendige spezifische Wissen zu entdecken, das allzeit in der Gesellschaft in verstreuter Form existiert und für eine funktionierende Koordinierung der Gesellschaft mittels Befehlen gebraucht wird. Die fehlende Motivation hindert die kontrollierenden Instanzen daran, das Ausmaß ihrer unvermeidlichen Ignoranz zu bemerken und lässt sie sich sukzessive immer weiter von der gesellschaftlichen Realität, die sie eigentlich zu kontrollieren versuchen, entfernen. Die Kontrollorgane werden zudem unfähig sein, irgendeine Form von Wirtschaftsrechnung aufzustellen, da sie, ungeachtet ihrer Ziele (diese mögen auch noch so „menschlich“ und „moralisch hochstehend“ sein), unter keinen Umständen wissen, ob die Kosten höher sind als der subjektive Wert, den sie dem Ziel beimessen. Kosten sind der subjektive Wert, welcher der Handelnde dem zuordnet, was er aufgibt, wenn er für ein bestimmtes Ziel arbeitet. Kontrollorgane können das Wissen oder die Informationen gar nicht generieren, die sie brauchen, um die tatsächlichen Kosten zu ermitteln, die ihrer Werteskala entsprechend anfallen, weil das für die Kostenabschätzung notwendige Wissen über die spezifischen Umstände von Zeit und Raum auf die Köpfe der Akteure verteilt ist, die den sozialen Prozess ausmachen und unter dem Zwang der Kontrollinstanz (demokratisch gewählt oder nicht) stehen, die für die systematische Aggression in der Gesellschaft zuständig ist. Wenn wir dementsprechend Verantwortung als das Kennzeichen einer Handlung definieren, die von jemandem ausgeführt wird, der sich durch Wirtschaftsrechnung bewusst ist, welche Kosten seine Handlung impliziert, dann können wir schlussfolgern, dass die Kontrollinstanz, ungeachtet ihrer Struktur, Selektionsmethode und Werturteile, unverantwortlich handelt, weil sie unfähig ist, Kosten einzuschätzen. Es entsteht daher ein unlösbares Paradox: Je mehr ein Kontrollorgan auf die Planung oder Kontrolle eines gesellschaftlichen Bereiches besteht, desto unwahrscheinlicher erreicht sie ihre Ziele, weil sie nicht die notwendigen Informationen besitzt, um eine Gesellschaft zu organisieren und zu koordinieren. Stattdessen produziert sie schlimmere Fehlanpassungen und Störungen, da sie durch die Anwendung von Zwang die unternehmerische Fähigkeit der Menschen einschränkt. Demzufolge ist festzuhalten, dass es ein schwerwiegender Fehler ist, zu glauben, dass ein Kontrollorgan fähig wäre, Wirtschaftsrechnung auf die gleiche Weise durchzuführen, wie es individuelle Unternehmer können. Ganz im Gegenteil, je höher die Hierarchieebene in einem sozialistischen System, desto größer der Verlust an dem für die Wirtschaftsrechnung notwendigen Praxiswissen; solange bis die Rechnung absolut unmöglich wird. Das Staatsorgan, das institutionelle Gewalt ausübt, blockiert die Wirtschaftsrechnung genau in dem Maße, wie es freiem menschlichen Handeln in die Quere kommt.

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Kritik an alternativen Sozialismuskonzepten Sozialismus wird traditionell als ein System gesellschaftlicher Organisation de­finiert, das auf dem Eigentum des Staates an den Produktionsmitteln beruht. Diese Bedeutung, die in der Praxis mit der Definition des real existierenden Sozialismus übereinstimmt, wurde lange Zeit allgemein akzeptiert, und zwar aus historischen und politischen Gründen. Sie ist die Definition, die Mises ursprünglich 192218 in seiner kritischen Abhandlung über den Sozialismus benutzte und nachher von ihm und anderen seiner Schule in der anschließenden Debatte über die Unmöglichkeit des Sozialismus als Ausgangspunkt verwendet wurde. Wie auch immer, diese Definition war von Anfang an nicht zufriedenstellend. Zum einen war sie rein statischer Natur, da sie von der Existenz oder Nichtexistenz einer bestimmten gesetzlichen Institution (Eigentumsrechte) und deren Verhältnis zu einer spezifischen ökonomischen Kategorie (Produktionsmittel) abhing. Der Gebrauch dieser Definition benötigte vorab eine Erklärung darüber, was man unter Eigentumsrechten verstehen sollte und welche Implikationen dieses Verständnis für die Ökonomie hätte. Außerdem offenbarte die Debatte über die Unmöglichkeit des Sozialismus, dass die beteiligten Wissenschaftler erhebliche Kommunikationsschwierigkeiten hatten, insbesondere wegen der unterschiedlichen Bedeutungen, die sie implizit dem Konzept der Eigentumsrechte unterstellten. Schließlich schien die traditionelle Definition Interventionismus und Wirtschaftsregulierungen auszuschließen. Obwohl der Interventionismus keine Verstaatlichung der Produktionsmittel brauchte, produzierte er doch diskoordinierende Effekte, die denen des Sozialismus qualitativ ähnelten. Aus all diesen Gründen schien es ratsam, die Suche nach einer Definition von Sozialismus fortzusetzen und eine Lösung zu finden, die ins Herz des Problems vordrang, von mehrdeutigen Vorstellungen und Fehlinterpretationen so frei wie möglich war und eine entschieden dynamische Natur besaß, wie jene Prozesse, auf die man sie anwenden wollte. Eine der wichtigsten Konsequenzen der Debatte über die Unmöglichkeit der sozialistischen Wirtschaftsrechnung war die (von Österreichischen Ökonomen wie Mises, Hayek und insbesondere Kirzner vollzogene) Entwicklung und Ausarbeitung einer Theorie der unternehmerischen Funktion, einer Theorie, welche den Unternehmer als eine führende kreative Kraft hinter gesellschaftlichen Prozessen darstellt. Die Richtung, die einzuschlagen war, um ein wirklich wissenschaftliches Konzept des Sozialismus zu formulieren, war letztendlich vorgegeben, und zwar durch die Entdeckung, dass die dem Menschen gegebene unternehmerische Fähig­keit in Form seiner kreativen Handlungen genau das ist, was das Leben in 18 Laut Mises (1981b), S. 211, bedeutet Sozialismus genau das: „Alle Produktionsmittel befinden sich in der exklusiven Kontrolle organisierter Gesellschaften. Das und nur das ist Sozialismus. Alle anderen Definitionen sind irreführend.“ Ähnlich Mises (1983), S. 172. Aus den Gründen, die wir im Text ausgeführt haben, sind wir der Meinung, dass Mises geirrt hat, als er diese empathische Aussage getätigt hat.

Kritik an alternativen Sozialismuskonzepten

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der Gesellschaft möglich macht, da es gesellschaftliche Fehlanpassungen aufdeckt und zur Erschaffung und Übermittlung wichtiger Informationen führt, die jeder Akteur braucht, um zu lernen, sein Verhalten an das der anderen anzupassen. 198919 unternahm Hans-Hermann Hoppe den nächsten wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer passenden Definition von Sozialismus. Hoppe legte dar, dass das wesentliche Merkmal des Sozialismus darin liege, auf der institutionalisierten Aggression gegen die Eigentumsrechte zu gründen. Seine Definition ist dynamischer und daher sehr viel operativer als die traditionelle Definition. Sie arbeitet nicht mit der Existenz oder Nichtexistenz von Eigentumsrechten, sondern stattdessen mit der Frage, ob der Zwang oder die physische Gewalt institutionell, also organisiert und repetitiv dazu benutzt werde, Eigentumsrechte zu verletzen. Obwohl Hoppes Definition als ein Durchbruch angesehen werden kann, ist sie doch nicht vollständig zufriedenstellend, da sie voraussetzt, ab initio zu spezifizieren oder zu definieren, was unter Eigentumsrecht zu verstehen ist. Außerdem erwähnt sie nicht einmal die unternehmerische Funktion als treibende Kraft hinter jedem gesellschaftlichen Prozess. Wenn wir Hoppes Idee, jeder Sozialismus bedeute einen systematischen Gebrauch von Gewalt, mit Professor Kirzners Beiträgen zur Theorie der unternehmerischen Funktion verbinden, dann können wir schlussfolgern, dass die am besten geeignete Definition des Sozialismus diejenige ist, die wir in diesem Kapitel verwenden und unter Sozialismus jede organisierte Form institutioneller Aggression gegen die unternehmerische Funktion der menschlichen Handlungen subsumiert. Zunächst einmal hat diese Definition den Vorteil, von jedem leicht verstanden zu werden und vorab keine detaillierte A priori-Erklärung zu Inhalt und Bedeutung der Eigentumsrechte zu brauchen. Jeder begreift, dass eine menschliche Handlung sowohl aggressiv als auch nicht aggressiv sein kann und dass sie dann, wenn sie es nicht ist (und auch im Sonderfall der Selbstverteidigung gegen willkürliche Aggressionen Dritter), zu den persönlichsten und typischsten Merkmalen des Menschen gehört und als etwas vollkommen Legitimes zu respektieren ist. Anders formuliert, aus unserer Sicht ist die hier vorgeschlagene Definition von Sozialismus deshalb die am besten geeignete, weil sie auf die menschliche Handlung rekurriert und damit auf das intimste Moment, das die Menschheit in ihrem Kern auszeichnet. Außerdem deutet sie den Sozialismus als einen institutionalisierten Angriff auf genau jene Kräfte, die das Leben in der Gesellschaft erst ermöglichen. In diesem Sinne ist die Feststellung, nichts sei antisozialer als das sozialistische System selbst, nur scheinbar paradox. Einer der größten Vorteile unserer Definition ist, dass sie diese Zustände ans Licht bringt. Ohne Zweifel benötigt der Prozess aggressionsloser sozialer Interaktionen die Befolgung einer ganzen 19

Hoppe (1989), S. 2. Hoppe führt aus, der „Sozialismus, der auf keinen Fall eine Erfindung des Marxismus aus dem 19. Jahrhundert, sondern sehr viel älter ist, muss als institutionalisierte Intervention oder Aggression gegen das Privateigentum und die in seinem Namen erhobenen Ansprüche verstanden werden.“

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Reihe von Regeln, Gesetzen und Verhaltensgewohnheiten. Zusammen bilden sie das Gesetz im traditionellen Sinne, also den Rahmen, innerhalb dessen menschliche Handlungen friedlich vollzogen werden können. Dieses Gesetz entsteht aber nicht, bevor es zur der Ausübung menschlicher Handlungen kommt, sondern tritt infolge der Evolution und der Gepflogenheiten eben jenes Prozesses gesellschaftlicher Interaktionen auf. Gemäß unserer Definition ist der Sozialismus also kein System institutioneller Aggression gegen das evolutionäre Ergebnis der unternehmerischen Funktion (Eigentumsrechte), sondern ein System der Aggression gegen die unternehmerische Funktion menschlicher Handlung selbst. Diese Definition des Sozialismus ermöglicht uns, die Theorie der Gesellschaft direkt mit der Theorie des Rechts sowie deren Ursprüngen, Entwicklung und Evolution zu verbinden. Außerdem stellt sie uns vollkommen frei, auf einer theoretischen Ebene zu fragen, welche Eigentumsrechte aus einem zwangsfreien gesellschaftlichen Prozess entstehen, welche Eigentumsrechte gerecht sind und bis zu welchem Grad Sozialismus ethisch oder sonstwie zulässig ist.

Sozialismus und Interventionismus Ein anderer Vorteil unserer Definition des Sozialismus ist, dass sie auch das gesellschaftliche System des Interventionismus im Auge behält. Egal ob man den Interventionismus für eine typische Manifestation des Sozialismus oder, was üb­ licher ist, für ein Mittelding aus real existierendem Sozialismus und freiem Gesellschaftssystem hält, eines dürfte ziemlich klar sein: Alle interventionistischen Maßnahmen stellen einen Zwangsakt institutioneller Aggression gegen einen gewissen Gesellschaftsbereich dar. Daher ist der Interventionismus – unabhängig von seiner Intensität, Art und Motivation – aus Sicht unserer Definition Sozialismus. Die Gleichsetzung der Begriffe Sozialismus und Interventionismus ist von einer ungerechtfertigten Ausweitung der Wortbedeutungen, die die Begriffe normalerweise haben, weit entfernt und eine analytische Voraussetzung für die Theorie der gesellschaftlichen Prozesse. Obwohl die ersten Österreichischen Theoretiker, die sich mit dem Interventionismus befasst haben, ihn zunächst nicht als eine Form des Sozialismus verstanden haben,20 verschwamm im Verlaufe der Debatte über die Unmöglichkeit der sozialistischen Wirtschaftsrechnung die Grenze zwischen den beiden Konzepten. Mittlerweile ist den heutigen Vertretern der Theorie der unternehmerischen Funktion klar geworden, dass zwischen Sozialismus und Interventionismus keine qualitativen Unterschiede bestehen.21 Gleichwohl mag man 20 Der erste, der den Begriff Interventionismus in einem ökonomischem Zusammenhang benutzte, war Ludwig von Mises (1925) in seinem Buch Kritik des Interventionismus. Siehe auch Lavoie (1982). 21 Don Lavoie (1981), S. 5, schlussfolgert z. B., „dass man aufgrund der gleichen Argumente, die Mises gegen die vollständig zentralisierte Planwirtschaft vorgebracht hat, den Interventionismus als selbstzerstörerisch und irrational entlarven kann. Die schrittweisen Eingriffe

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es im alltäglichen Sprachgebrauch durchgehen lassen, mal den einen, mal den anderen Begriff zu verwenden, um unterschiedliche Grade der selben Realität zu beschreiben. Außerdem kann die Wissenschaft dank der vorgeschlagenen Definition bei der Enttarnung der heute in Politik, Gesellschaft und Kultur üblich gewordenen Immunisierungsversuche mitwirken. Mit derlei Versuchen will man den Interventionismus vor den natürlichen und unvermeidlichen Effekten bewahren, die infolge des ökonomischen, sozialen und politischen Zusammenbruchs seines Vorgängers und Mentors, des „real existierenden Sozialismus“, auf ihn einwirken. Real existierender Sozialismus und Interventionismus sind schlicht und ergreifend zwei unterschiedlich intensive Ausprägungen ein und derselben Realität institutionellen Zwangs. Sie unterliegen beide demselben geistigen Grundirrtum und haben dieselben schädlichen Konsequenzen für die Gesellschaft.

des Staates in das Preissystem sind für den Entdeckungsprozess offenkundig ähnlich störend und behindern zugleich die Generierung von Wissen. Insofern kann man mit dem Kalkulationsargument viele der beinahen Totalausfälle erklären, die der staatlichen Flickschusterei am Preissystem entspringen; und zwar auf dieselbe Weise, mit der man den wirtschaftlichen Zusammenbruch erkären kann, der dem Versuch, das Preissystem abzuschaffen, unweigerlich folgen muss.“ Israel Kirzner hat mehrfach auf die Parallelen zwischen Interventionismus und Sozialismus verwiesen. Siehe seine Ausführungen in Kapitel 6 von Kirzner (1985), S. 121 ff. Wir müssen die Idee, dass eine Wirtschaftsrechnung in interventionistischen Systemen möglich sei, kritisieren. Auch wenn Mises sie manchmal verteidigt hat, genau in den Bereichen, in denen der Interventionismus stattfindet, ist sie nicht möglich. Kommt es aber dennoch zu einer Wirtschaftsrechnung, dann deshalb, weil die Intervention nicht auf die ganze Gesellschaft ausgeweitet wird (zumindest nicht in dem Ausmaß, das für den real existierenden Sozialismus kennzeichnend ist).

5. Die Krise des Sozialismus1 Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie. Ich versuche deshalb auf theoretische Weise zu erklären, was der Sozialismus ist und warum er einen intellektuellen Fehler und eine wissenschaftliche Unmöglichkeit darstellt. Ich werde zeigen, warum er (zumindest der real existierende Sozialismus) kollabiert ist und warum der Sozialismus, der immer noch in Form des ökonomischen Interventionismus in westlichen Ländern existiert, der hauptsächliche Grund für die Spannungen und Konflikte ist, die wir erleben. Wir leben in einer Welt, die im Wesentlichen sozialistisch ist und in der wir trotz des Falls der Berliner Mauer weiter unter den Effekten leiden, die gemäß unserer Theorie für den Staatsinterventionismus im gesellschaftlichen Leben typisch sind. Um Sozialismus zu definieren, müssen wir zunächst das Konzept der unternehmerischen Funktion verstehen. Wirtschaftstheoretiker begreifen die unternehmerische Funktion als eine angeborene menschliche Fähigkeit. Ich beziehe mich dabei nicht auf den typischen Unternehmer, der ein eigenes Geschäft eröffnet; ich beziehe mich auf die angeborene Fähigkeit aller Menschen, die in ihrer Umgebung entstehenden Gewinnmöglichkeiten zu entdecken, zu schaffen und zu erkennen, sowie entsprechend zu handeln, um einen Vorteil aus ihnen zu ziehen. Etymologisch steckt in dem Wort Unternehmer auch „der Entdecker“, also jemand, der etwas realisiert und versteht. Er ist die Glühbirne, die aufleuchtet. Die unternehmerische Funktion ist die primäre menschliche Kapazität. Die Fähigkeit, Mittel und Ziele zu schaffen und zu entdecken, ist das, was uns von Natur aus am meisten von den Tieren unterscheidet. Im allgemeinen Sinne ist der Mensch eher ein homo empresario als ein homo sapiens. Wer also ist ein Unternehmer? Z. B. Mutter Theresa aus Kalkutta. Ich rede nicht nur von Henry Ford oder Bill Gates, die gewiss zu den großen Unternehmern ihrer Branche bzw. des Wirtschaftslebens gehören. Die Mission von Mutter Theresa war es, den Bedürftigsten zu helfen. Die Mittel beschaffte sie auf kreative Weise, indem sie die Anstrengungen und Ziele vieler unterschiedlicher Menschen förderte und harmonisierte. All dies macht Mutter Theresa aus Kalkutta zu einem Musterbeispiel von Unternehmer. Lassen Sie uns die unternehmerische Funktion als das intimste Charakteristikum unserer menschlichen Natur verstehen. Bei ihr handelt es sich um eine Qualität, die für das Entstehen einer Gesellschaft, die aus einem äußerst komplexen Netzwerk von Interaktionen besteht, zuständig ist. Derlei Interaktio 1

Professor Pascal Salin hat seine lange akademische Laufbahn der Analyse und der Verteidigung der Prinzipien des freien Marktes und des Libertarianismus gewidmet. Diese Ausführungen zur Krise des Sozialismus wurden ihm zu Ehren geschrieben.

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nen zeigen sich in zwischenmenschlichen Austauschbeziehungen. Sie entstehen deshalb, weil wir irgendwie erkennen, dass sie uns helfen. Ihre treibende Kraft ist unser unternehmerischer Geist. Jede unternehmerische Handlung beinhaltet drei Schritte. Der erste Schritt besteht in der Schaffung von Informationen. Wenn ein Unternehmer neue Ideen entdeckt oder kreiert, generiert er in seinem Kopf Informationen, die vorher nicht bestanden. Daraufhin werden diese Informationen in aufeinanderfolgenden Wellen transportiert und verteilt. Dies führt uns zum zweiten Schritt: Hier sehe ich eine billige Ressource, die nur selten genutzt wird, dort entdecke ich einen dringenden Bedarf für die gleiche Ressource. Ich kaufe billig und verkaufe teuer. Damit transportiere ich die Information. Schließlich (dritter Schritt) lernen die ökonomische Akteure, die bis dahin auf unkoordinierte Art und Weise handelten, hinzu. Sie entdecken, dass sie eine Ressource sparen sollten, weil ein anderer sie brauchen könnte. Dies sind die drei Schritte, die den Prozess komplettieren: die Schaffung der Information, die Übertragung der Information und, am wichtigsten, die Folge der Koordinierung und Anpassung. Von dem Moment an, in dem wir aufwachen, bis zu dem Moment, da wir abends ins Bett gehen, disziplinieren wir unser Verhalten in Bezug auf die Bedürfnisse von Menschen, die uns noch nicht einmal begegnen. Und wir tun dies aus eigenem Antrieb, weil wir dann, wenn wir in unserem eigenen unternehmerischen Interesse handeln, erkennen, dass dies zu unserem Vorteil ist. Es war wichtig, zuerst diese Idee zu präsentieren, weil wir nun, als Kontrast, das Wesen des Sozialismus betrachten werden. Die Definition von Sozialismus kann nur heißen: alle methodischen Systeme institutioneller Aggression gegen die freie Ausübung der unternehmerischen Funktion. Sozialismus besteht in der gewaltsamen Durchsetzung mit staatlichen Zwangsmitteln. Ein sozialistisches Regime mag bestimmte Ziele in einem positiven Licht darstellen, aber es muss sie gewaltsam durchsetzen und damit aggressiv in den Prozess der gesellschaftlichen Koordination eingreifen, an dessen Spitze die Unternehmer stehen. In einem sozialistischen System handelt der Staat also durch den Gebrauch von Zwang. Dies ist das Hauptcharakteristikum des Sozialismus. Man sollte dies stets in Erinnerung behalten, weil die Sozialisten ständig versuchen, das Wesensmerkmal ihres Systems, d. h. die gewaltsame Seite, zu kaschieren. Zwang besteht im Gebrauch von Gewalt, um jemanden dazu zu bringen, etwas zu machen. Es gibt zwei Arten von Zwang: der Zwang der Kriminellen, die Menschen auf der Straße ausrauben, und staatlicher Zwang, der den Sozialismus kennzeichnet. Im Falle des unsystematischen Zwangs hat der Markt, so gut es geht, Mechanismen bereitzustellen, um eine Definition der Eigentumsrechte und eine Bekämpfung der Kriminalität zu gewährleisten. Im Falle der systematischen, institutionellen Gewalt durch den Staat mit allen seinen ihm zur Verfügung stehenden Machtwerkzeugen haben wir jedoch wenig Hoffnung, ihr zu entgehen oder etwas entgegensetzen zu können. Genau in diesem Moment zeigt der Sozialismus sein wahres Wesen in all seiner Brutalität. Ich definiere Sozialismus nicht anhand der Frage, ob das Eigentum an den Produktionsmitteln öffentlich oder privat ist. Das wäre eine archaische Sichtweise. Das

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Wesen des Sozialismus ist Gewalt, institutionalisierte Staatsgewalt, durch welche die Staatslenkung die Aufgaben bewältigt, die notwendig sind, um eine Gesellschaft zu koordinieren. Hier geht die Verantwortung vom normalen Menschen (dessen Aufgabe es ist, die unternehmerische Funktion auszuüben, und zwar durch die Auswahl von Zielen und die Herstellung von Umständen, die den Zielen bestmöglich dienen) auf die Staatsorgane über, die „von oben“ gewaltsam versuchen, ihre spezifische Weltsicht oder deren Einzelziele durchzusetzen. Irrelevant für die Definition von Sozialismus ist auch die Frage, ob die Regierung demokratisch gewählt wurde oder nicht. Das Theorem der Unmöglichkeit des Sozialismus bleibt intakt und vollkommen unverändert. Ob die Regierung, die sich an der gewaltsamen Koordinierung der Gesellschaft versucht, einen demokratischen Ursprung hat, spielt dabei keine Rolle. Nun, da ich den Sozialismus definiert habe, werde ich erklären, warum er ein intellektueller Fehler ist. Der Sozialismus ist ein intellektueller Fehler, weil es der verantwortlichen Staatsmacht unmöglich ist, die Informationen zu erhalten, die sie unbedingt braucht, um ihre Befehle auf koordinierende Art und Weise zu erteilen. Dies ist das Problem des Sozialismus, es ist ein großes Paradox. Er benötigt Informationen, Wissen und Daten für das gewünschte Zwangsergebnis – die Organisation der Gesellschaft –, um erfolgreich zu sein. Aber die Staatslenkung kann niemals derlei Informationen erhalten. Die Theoretiker der Österreichischen Schule der Nationalökonomie Mises und Hayek stellten in diesem Zusammenhang vier Hauptargumente auf, die sie in der Debatte, die sie mit den Theoretikern der neoklassischen Ökonomie im 20. Jahrhundert führten, vorbrachten. Die Neoklassiker waren nie in der Lage, das Problem zu begreifen, das sich durch den Sozialismus stellte. Warum waren sie dazu nicht in der Lage? Die Antwort ist, dass sie glaubten, die Ökonomie funktioniere so, wie sie in einem Lehrbuch der Volkswirtschaftslehre für Erstsemester erklärt wird. Was jedoch in diesen Lehrbüchern zur Funktionsweise der Marktwirtschaft ausgeführt wird, ist vollkommen falsch. Ihre Autoren erklären den Markt mit mathematischen Begriffen und perfekter Anpassung. Das bedeutet, dass sie den Markt als eine Art Computer verstehen, der automatisch und perfekt die Wünsche der Konsumenten und die Handlungen der Produzenten so angleicht, wie es dem Modell des vollkommenen Wettbewerbs entspricht, den Walras mit dem System simultaner Gleichungen beschrieben hat. In meiner ersten Ökonomievorlesung als Student begann der Professor mit einem überraschenden Statement: „Nehmen wir einmal an, dass alle Informationen gegeben sind“. Daraufhin begann er die Tafel mit Funktionen, Kurven und Formeln zu füllen. Das ist die Annahme, die alle Neoklassiker benutzen. Alle Informationen sind gegeben und verändern sich nicht. Diese Annahme ist jedoch ausgesprochen unrealistisch. Sie widerspricht dem typischsten Charakterzug des Marktes: Informationen sind niemals gegeben. Das Wissen über Daten entsteht ständig als Ergebnis kreativer Aktivität von Unternehmern: immer neue Ziele und neue Mittel. Diese Annahme konnte keine

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Basis für eine valide ökonomische Theorie bieten. Die neoklassischen Ökonomen betrachteten den Sozialismus als möglich, weil sie annahmen, alle Daten, die notwendig sind, um ein Gleichungssystem zu formulieren und dessen Lösung zu finden, seien gegeben. Sie waren nicht in der Lage, die tatsächlichen Vorkommnisse in der realen Welt, die sie wissenschaftlich erforschen sollten, zu begreifen. Sie konnten einfach nicht sehen, was tatsächlich passierte. Einzig die Österreichische Schule – angeführt durch Ludwig von Mises – folgte einem anderen Paradigma. Die Österreicher haben niemals angenommen, dass Informationen gegeben sind. Sie habe den ökonomischen Prozess als einen Vorgang angesehen, der durch die unternehmerische Funktion angetrieben wird, die ständig neue Informationen schafft und entdeckt. Nur die Mitglieder der Österreichischen Schule kamen zu der Erkenntnis, dass der Sozialismus ein intellektueller Fehler ist. Ihre Position basiert auf vier Argumenten, zwei „statischen“ und zwei „dynamischen“. Das erste besagt, dass die Staatslenkung schon allein aus Gründen des Umfangs sich nicht alle notwendigen Informationen besorgen kann, die sie braucht, um ihren Befehlen einen koordinierenden Effekt zu geben. Die Menschen verwalten eine immense Masse von Informationen. Was 7 Milliarden Menschen in ihrem Kopf haben, kann unmöglich kontrolliert werden. Dieses Argument mögen die Neoklassiker vielleicht verstehen. Aber es ist das schwächste und das unwichtigste. Immerhin sind die Computer, die uns heute zur Verfügung steht, dank ihrer Kapazität in der Lage, eine große Menge von Informationen zu verarbeiten. Das zweite Argument ist sehr viel profunder und überzeugender. Die Informationen, mit denen die Menschen im Markt arbeiten, sind nicht objektiv. Sie sind nicht vergleichbar mit den Informationen, die in einem Telefonbuch stehen. Die unternehmerische Information hat eine vollkommen andere Natur. Sie ist subjektiv und nicht objektiv, sie ist stillschweigend. Mit anderen Worten, wir wissen etwas, das know how, aber wir wissen nicht im Detail, woraus es besteht, das know that. Oder, um es wiederum anders auszudrücken, es ist wie das Wissen darüber, wie man ein Fahrrad fährt. Ein Mensch könnte versuchen, das Fahrradfahren zu erlernen, indem er die Formeln der mathematischen Physik studierte, die das Gleichgewicht beschreiben, das den Fahrradfahrer während der Fahrt aufrecht hält. Das Wissen darüber, wie man ein Fahrrad fährt, kann man aber auf diesem Wege nicht erlangen, sondern nur durch einen Lernprozess, der in der Regel auch Rückschläge bedeutet, aber irgendwann dem Fahrradfahrer zeigt, wie man das Gleichgewicht hält, und ihn lehrt, sich in die Kurve zu legen, um in Kurven nicht zu stürzen. Höchstwahrscheinlich sind Lance Armstrong die Gesetze der Physik, die ihn die Tour de France sieben Mal gewinnen ließen, unbekannt. Trotzdem weiß er, wie man ein Fahrrad fährt. Stillschweigendes Wissen kann nicht auf formalisierte, objektivierte Art artikuliert werden und erst recht nicht einer staatlichen Stelle übermittelt werden. Nur unmissverständliche Informationen können übermittelt, aufgenommen und gebraucht werden und den Befehlen des Staates eine koordinierende Qualität

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verleihen. Nichtsdestotrotz sind die meisten Informationen, von denen der Erfolg in unserem Leben abhängt, nicht objektiv. Es handelt sich nicht um die Informationen, die Telefonbücher füllen, sondern um subjektives, stillschweigendes Wissen. Die beiden Argumente, dass die Informationen eine große Masse bilden und stillschweigender Natur sind, reichen aber noch nicht aus. Es gibt zwei weitere Argumente, die dynamisch und weitaus überzeugender darin sind, die Unmöglichkeit des Sozialismus herausstellen. Wir Menschen sind mit einer angeborenen Kreativität ausgestattet. Wir entdecken ständig neue Dinge, neue Ziele und neue Mittel. Informationen oder Wissen, das von Unternehmern noch nicht „geschaffen“ wurde, kann einem Staatsorgan wohl schwerlich übermittelt werden. Letzteres ist dazu bestimmt, mithilfe von Zwang und Staatsanzeiger ein gesellschaftliches Nirwana zu bilden. Um das zu tun, muss es wissen, was morgen passiert. Was allerdings morgen passiert, hängt von den unternehmerischen Informationen ab, die heute noch keiner geschaffen hat und somit heute auch nicht übermittelt werden können, damit unsere Autoritäten uns morgen effektiv koordinieren können. Dies ist das dritte Argument, das Paradox des Sozialismus. Dies ist aber noch nicht alles. Es gibt ein viertes, das entscheidende Argument. Der Sozialismus – dessen Wesen, wie beschrieben, im Zwang an der gesamten Zivilgesellschaft besteht – verhindert genau dort, wo er die Gesellschaft beeinflusst, und genau in dem Ausmaß, in dem er die Gesellschaft beeinflusst, die Schaffung unternehmerischer Informationen, welche die Autoritäten brauchen, um ihre koordinierenden Befehle auszugeben. Dies ist die wissenschaftlich formulierte Erklärung der theoretischen Unmöglichkeit des Sozialismus: Die Autoritäten können nicht die Informationen zusammentragen, die sie brauchen, um koordinierende Befehle zu erteilen. Dies ist die Erkenntnis einer rein wissenschaftlichen und objektiven Analyse. Es wäre also verfehlt anzunehmen, das Problem des Sozialismus bestünde darin, dass „schlechte Menschen an der Macht sind“. Selbst die bestgeeignete Person der ganzen Welt, die mit den besten Absichten und dem größten Wissen, könnte keine Gesellschaft so organisieren, dass sie dem Zwangsmodell des Sozialismus entspräche. Sie würde die Gesellschaft in eine Hölle verwandeln, da die menschliche Natur es schlicht unmöglich macht, sozialistische Ziele und Ideale zu verwirklichen. Alle diese Charakteristika des Sozialismus haben Konsequenzen, die wir in unserem täglichen Leben erfahren dürfen. Beginnen wir damit, dass der Sozialismus attraktiv ist. Im innersten Wesen unserer Natur liegt die Gefahr, sich dem Sozialismus unterzuordnen, da uns sein Ideal dazu reizt, gegen unsere eigene Natur zu rebellieren. In einer Welt mit einer unsicheren Zukunft zu leben, stört uns. Und die Möglichkeit, diese Zukunft zu kontrollieren und damit die Unsicherheit abzuschaffen, zieht uns an. In seinem Buch Die verhängnisvolle Anmaßung schreibt Hayek, der Sozialismus sei eigentlich die soziale, politische und ökonomische

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Manifestation der menschlichen Ursünde, des Stolzes. Der Mensch wäre gerne Gott, also allwissend. Deshalb müssen wir uns von Generation zu Generation gegen den Sozialismus schützen und akzeptieren, dass unsere Natur kreativ und unternehmerisch ist. Der Sozialismus ist nicht einfach ein Akronym politischer Parteien in bestimmten historischen Kontexten. Er wird sich immer in Gemeinschaften, Familien, Nachbarschaften und in konservativen wie liberalen Parteien breitmachen. Wir müssen dem Drang zum Etatismus widerstehen, weil er die ursprünglichste aller Gefahren ist, denen wir uns als Mensch stellen müssen; die größte Versuchung, die uns glauben lässt, wir wären Gott. Der Sozialismus glaubt von sich selbst, er könne das, was ihn als System grundsätzlich diskreditiert, abschaffen: das Problem der radikalen Ignoranz. Der Sozialismus ist daher immer das sündige Ergebnis des Hochmuts. In jedem Sozialisten steckt eine anmaßende Persönlichkeit, ein hochmütiger Intellektueller. Darüber hinaus hat der Sozialismus Charakterzüge, die man „peripher“ nennen könnte: gesellschaftliche Diskoordination und Unordnung. Die reine unternehmerische Handlung koordiniert, aber der Sozialismus stört sie durch Gewalt und verursacht Diskoordination. Der Unternehmer realisiert eine Gewinnmöglichkeit. Er kauft billig und verkauft teuer. Er überträgt Informationen und koordiniert. Zwei Menschen, die ursprünglich gegen ihre jeweiligen eigenen Interessen handelten, ohne es zu merken, handeln nun auf koordinierte und angepasste Weise. Da der Sozialismus gewaltsam diesen Austausch verhindert, verursacht er Fehlanpassungen in größerem oder kleinerem Ausmaß. Obendrein verlangen Sozialisten, nachdem sie die von ihnen verursachten Fehlanpassungen, wie Diskoordination und Problemverschlimmerung beobachtet haben, zusätzliche sozialistische Maßnahmen und mehr institutionelle Gewalt, anstatt die von uns aufgezeigten vernünftigen Schlussfolgerungen zu ziehen. So werden wir Teil eines Prozesses, in dem die Probleme nicht gelöst, sondern verschlimmert werden und ein weiteres Anwachsen des staatlichen Einflusses hervorrufen. Das sozialistische Ideal erfordert, dass die Tentakel des Staates in jede Lücke der Gesellschaft hineinreichen, und löst damit einen Prozess aus, der in den Totalitarismus führt. Ein anderer Charakterzug des Sozialismus ist die fehlende Rigorosität. Kriterien werden ausprobiert und verändert, die Verschärfung von Problemen beobachtet. Danach werden neue politische Richtungen eingeschlagen und der Zwang unberechenbar. Warum? Weil die Folgen der Interventionen in der Regel nicht mit den gewünschten Konsequenzen übereinstimmen. Der Mindestlohn z. B. soll den Lebensstandard erhöhen. Das Ergebnis? Mehr Arbeitslosigkeit und mehr Armut. Die am schlimmsten Betroffenen? Soziale Gruppen, die den Arbeitsmarkt zum ersten Mal betreten, also junge Menschen, Frauen, ethnische Minderheiten und Immigranten. Ein anderes Beispiel: Die gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union führt dazu, dass der Markt durch Subventionen mit Produkten zu politischen Preisen geflutet wird. Der Konsument zahlt höhere Preise, und die armen Länder sind im Nachteil, weil die EU ihre Überschussware auf den internationalen Märkten zu Preisen anbietet, mit denen sie nicht konkurrieren können.

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Der Sozialismus wirkt außerdem wie eine Droge, wie Opium. Er schafft schlechte Investments, da er die Zeichen stört, die anzeigen, wo Investitionen getätigt werden sollten, wenn man die Wünsche des Konsumenten befriedigen will. Sozialismus schafft Knappheitsprobleme und provoziert die Regierungen systematisch zu unverantwortlichem Handeln. Weil es unmöglich ist, die für ein verantwortliches Handeln notwendigen Informationen zusammenzutragen, können die Kosten nicht erkannt werden. Die Autoritäten können nur eigensinnig handeln und ihren Wunschzettel im Staatsanzeiger hinterlassen. Wie aber Hayek feststellte, handelt es sich dabei aber nicht um RECHT (in Großbuchstaben), sondern um Gesetzgebung und Regeln, die normalerweise überflüssig und nutzlos sind, selbst wenn sie mit dem Anspruch einhergehen, auf objektiven Daten zu beruhen. Lenin war der Meinung, dass die gesamte Wirtschaft wie ein Postbüro organisiert werden sollte und die wichtigste Institution in einem sozialistischen System das nationale Statistikbüro sei. Das Wort Statistik leitet sich etymologisch von dem Wort Staat ab. Mit diesem Wort müssen wir also vorsichtig umgehen, wenn wir den Sozialismus vermeiden wollen. Jesus wurde nur deshalb in Bethlehem geboren, weil der Kaiser angeordnet hatte, statistische Erhebungen zum Zwecke der Steuererhebung durchzuführen. Die erste Pflicht jedes großen Libertären sollte es sein, die Abschaffung des nationalen Statistikbüros zu fordern. Das wird den Staat nicht davon abhalten können, Schaden anzurichten. Wir sollten jedoch zumindest dafür sorgen, ihm die Augen zu verschließen, so dass der Schaden zufälliger auftritt, wenn er – was unvermeidbar ist – sich irrt. Der Sozialismus führt auch zu furchtbaren Folgen für die Umwelt. Der einzige Weg, die Umwelt zu schützen, ist der, Eigentumsrechte festzulegen und effektiv zu schützen. Niemand klingelt an der Tür seines Nächsten und wirft ihm seinen Müll ins Gesicht. Derlei passiert nur im öffentlichen Raum. Ein altes spanisches Sprichwort sagt: „Lo que es del común es del ningún.“ (Was allen gehört, gehört niemandem.) Die, erstmalig 1940 von Ludwig von Mises beschriebene, Tragödie der Allmende  – sei es das verschmutzte Wasser, die geschlossene Schule oder das aussterbende Rhinozeros – ist immer das Ergebnis staatlicher Eingriffe in die für eine Marktwirtschaft so notwendigen Eigentumsrechte. Jagd gibt es z. B. dort, wo die Jagdgründe privatisiert sind, nicht, wo sie öffentlich sind. Elefanten überleben dort, wo sie privatisiert werden. Kampfstiere überleben, weil die Unternehmer des Stierkampfes auf sie aufpassen. Der einzige Weg, die Umwelt zu schützen, besteht in der Marktwirtschaft, in einem kapitalistischen System, das wohldefinierte Eigentumsrechte voraussetzt. Verschwinden diese Prinzipien, dann leidet die Umwelt. Englische Flüsse sind privatisiert, sie sind sauber und es gibt eine Fische­rei. Die Mitglieder der dortigen Fischereivereine können zu hohen, niedrigen oder moderaten Preisen in ihnen angeln. Aber versuchen Sie einmal, in spanischen Flüssen einen Fisch zu fangen. Außerdem gibt es Korruption. Sozialismus ist Korruption. Wer mit den sozialistischen Wirtschaftssystemen hinter der Berliner Mauer seine Erfahrungen machen musste, dem wurde schnell klar, dass deren Welt eine einzige große Lüge

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war. Wir sollten uns aber nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen und glauben, dass diese Welt hinter uns läge und die große Lüge keine Macht mehr hätte. Sie ist immer noch präsent, nur in einem anderen Ausmaß. Warum korrumpiert der Sozialismus? Aus verschiedenen Gründen. Unter Zwang erkennen die Menschen in einem sozialistischen System sehr schnell, dass es für sie besser wäre, sich zur Erreichung ihrer Ziele auf die liebedienerische Beeinflussung der Autoritäten zu konzentrieren, anstatt nach Gewinnmöglichkeiten Ausschau zu halten. Darin liegt der Ursprung spezieller Interessengruppen, die danach streben, die staatlichen Entscheidungen zu beeinflussen. Die sozialistische Staatslenkung zieht perverse und korrumpierende Einflüsse aller Art wie ein Magnet an. Der Sozialismus setzt auch einen Machtkampf in Gang. In einer sozialistischen Welt ist die Frage, wer an der Macht ist, ob es jemand aus „meiner Gruppe“ ist oder nicht, von entscheidender Bedeutung. Eine sozialistische Gesellschaft ist immer hoch politisiert, im Gegensatz etwa zur Schweiz, wo die Menschen meistens noch nicht einmal den Namen ihres ­Verteidigungsministers oder Präsidenten kennen. Ihnen bedeutet diese Kenntnis kaum etwas, weil die Frage, wer gerade an der Macht ist, für sie nicht entscheidend ist. Die Menschen sollten die meiste Zeit dazu nutzen können, sich anzustrengen und ein erfolgreiches Leben ohne ständige Interventionen dieser Art zu führen. Der Prozess des Machtkampfes und des Interventionismus führt zu einer graduellen Veränderung im Moralverhalten der Menschen. Diese nehmen Verhaltensmuster an, die immer amoralischer und immer weniger prinzipienorientiert sind. Unser Verhalten wird zunehmend aggressiver. Das Ziel dabei ist, die Macht zu erhalten, um unsere Wünsche anderen aufzudrücken. Dies gilt auch für das nachahmende Verhalten der Individuen. D. h., wir disziplinieren unser Verhalten immer weniger und ignorieren den gewohnten Rahmen moralischer Gesetze. Die Moral ist der Autopilot der Freiheit. All dies ist ein weiterer Beleg für den korrumpierenden Einfluss des Sozialismus. Außerdem: Je mehr der Sozialismus dominiert, desto stärker entwickelt sich der Schwarzmarkt. Wie die Menschen in Osteuropa zu sagen pflegten, ist in einem sozialistischen Umfeld die Schattenwirtschaft nicht das Problem, sondern die Lösung. Im Moskau der Sowjetunion gab es z. B. kein Benzin. Jeder wusste aber, dass in einem bestimmten Tunnel Benzin schwarz verkauft wurde. Das Ergebnis war, dass die Menschen Auto fahren konnten. Natürlich können sozialistische Regierungen all diese Kritik nicht einfach akzeptieren und setzen ihr politische Propaganda entgegen. Es wird behauptet, dass der Staat jedes Problem zeitnah erkenne und sofort löse. Immer und immer wieder wird auf allen Kanälen systematisch politische Propaganda gestreut, um die Kritik auszuschalten. In der Folge wird eine Kultur des Staates geschaffen, eine Kultur, die den Bürger irre und orientierungslos macht und so glauben lässt, der Staat kümmere sich um alles, sobald ein Problem auftrete. Dieses sozialistische Gedankengut wird von Generation zu Generation durch das Bildungssystem weitergereicht, das natürlich immer durch den Staat kontrolliert wird.

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5. Die Krise des Sozialismus

Propaganda führt zu Megalomanie. Bürokratische Organisationen, Beamte, Politiker etc. müssen sich keiner Gewinn- und Verlustrechnung unterziehen. Für sie bedeutet eine schlechte Leistung keinen Ausschluss vom Markt. Behörden und Beamte verantworten nur ihre Budgets und Verordnungen. Sie erleiden keinen persönlichen Verlust, zumindest nicht notwendigerweise. Sie sind genauso wie jeder andere von uns, aber in dem institutionellen Umfeld, in dem sie leben, sind ihre Handlungen pervers. Ihre Aktivitäten innerhalb des Staates lassen sie ständig größere Budgets und mehr Beamte anfordern und lassen sie glauben, ihre Handlungen für den Staat seien entscheidend. Fällt Ihnen ein Beamter, Politiker oder Bürokrat ein, der nach eingehender Analyse zum Schluss gekommen wäre, dass die Behörde, für die er arbeitet, nutzlos ist oder Kosten verursacht, die den Nutzen für die Öffentlichkeit übersteigen, oder seinem Vorgesetzten vorgeschlagen hätte, das entsprechende Budget zu streichen? Nicht einer! Ganz im Gegenteil, in jeder Regierung sieht der Beamte seine eigene Rolle im Staat unweigerlich als unverzichtbar an. Der Sozialismus ist megalomanisch und infiziert damit die gesamte Gesellschaft. Die Kultur, die sich in eine politische Kultur verwandelt, ist nur ein Beispiel. Ein angesehener Repräsentant der Europäischen Union sagte einmal treffend zu einem Parteifreund, der gleichzeitig Kulturminister seines Landes war: „Lots of public money, lots of parties for the young people and awards for the pals.“ („Viele öffentliche Gelder, viele Parties für die jungen Leute und viele Preise für die Kumpanen.“) Darüber hinaus führt der Sozialismus dazu, dass die Ideen von Recht und Gerechtigkeit sich prostituieren. Recht im klassischen Sinne ist schlicht eine Reihe von abstrakten Regeln und Gesetzen, die universell und auf alle gleich angewendet werden. Gerechtigkeit zeigt sich im Urteil darüber, ob die fraglichen Verhaltensweisen im Rahmen jener objektiven und abstrakten Gesetze stattgefunden haben. Es handelt sich um blinde Gesetze. Justitia wird traditionell mit verbundenen Augen porträtiert. In Levitikus 19,15 lesen wir: „Ihr sollt in der Rechtsprechung kein Unrecht tun. Du sollst weder für einen Geringen noch für einen Großen Partei nehmen; gerecht sollst du deinen Stammesgenossen richten.“ In dem Moment, in dem wir allgemeine rechtliche Prinzipien verletzen, selbst dann, wenn wir es für eine gute Sache tun (weil uns die Begründung für eine unbezahlte Miete bewegt oder weil ein kleiner Diebstahl in einem großen Kaufhaus keinen signifikanten Einfluss auf das Einkommen der betroffenen Firma hat), fügen wir der Gerechtigkeit einen großen Schaden zu. Richter, die auf diese Weise handeln und die Anwendung des Rechtes verweigern, verfallen in den verhängnisvollen Fehler intellektueller Anmaßung und halten sich für Gott. Anstelle des Rechts setzen sie ihre Eindrücke von den jeweiligen Umständen des Falls und öffnen jenen die Tür, die den Richter emotional rühren wollen, damit die Gerechtigkeit nicht walte. Jede Klage wird zum Lotterieschein, der vielleicht ein Gewinn ist, wenn man vor Gericht Glück hat. Außerdem wird so ein Schneeballeffekt ausgelöst. Dieser überfordert die Richter, die immer schlechtere Urteile erlassen und den Effekt mit ihrer Willkür zusätzlich verstärken. Die Rechtssicherheit verschwindet und die Gerechtigkeit ist korrumpiert.

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Natürlich ist es keine Lösung, das Rechtssystem mit größeren Ressourcen auszustatten, aber genau das wird von den Staatsdienern gefordert. Der schlimmste unter den perversen Effekten der sozialistischen Korruption ist der nachhaltige Einfluss im Bereich der moralischen Handlungen des Einzelnen. Für viele gutgläubige Menschen ist der Sozialismus sehr attraktiv. Sobald ein Problem auftritt, sorgt der Staat für die notwendigen Ressourcen und löst das Problem. Wer könnte einem solch löblichen und wertvollen Ansinnen widersprechen? Das Problem dabei ist die Ignoranz, die den Kern dieser Denkweise bildet. Der Staat kann gar nicht wissen, was er wissen müsste, um auf die besagte Art zu handeln. Er ist nicht Gott, auch wenn das manche zu glauben scheinen. Dieser Glaube stört den unternehmerischen Prozess und verschlimmert die Probleme. Anstatt automatisch und gemäß der dogmatischen Prinzipien des Rechts zu handeln, agiert der Staat willkürlich. Das ist es, was die Gesellschaft am meisten demoralisiert und korrumpiert. Der illegale Kampf, der in Spanien damals gegen die Terroristen ausgetragen wurde, als die spanische Arbeiterpartei an der Macht war, gibt ein perfektes Beispiel ab. Er war ein kolossaler Fehler. Prinzipien sind kein Hindernis, das uns vom Erreichen der gewünschten Ziele abhält, sondern der einzig mögliche Weg, der uns zu ihnen führt. Das englische Sprichwort lautet: „Honesty is the best policy“. D. h., Ehrlichkeit ist ein Ziel, das immer verfolgt werden sollte. Genau hier versagt der Sozialismus, da im sozialistischen Modell die Anführer Gott spielen, um die beste Kombination von Mitteln und Zielen zu erreichen, und die Verletzung moralischer Prinzipien für den „optimalen“ Handlungsplan halten. Der Sozialismus ist nicht nur ein intellektueller Fehler, sondern auch eine zutiefst antisoziale Kraft. Sein Innerstes besteht aus gewaltsamen Restriktionen der unternehmerischen Freiheit des Menschen und deren kreativer und koordinierender Funktion. Da diese Freiheit das Herausstellungsmerkmal der menschlichen Natur ausmacht, ist der Sozialismus ein unnatürliches Sozialsystem, das mit der wahren Natur und den Sehnsüchten des Menschen in Konflikt steht. In seiner Enzyklika Centesimus Annus schreibt Papst Johannes Paul II. zur Frage, ob der Kapitalismus das zur menschlichen Natur am besten passende System sei: „Wird mit „Kapitalismus“ ein Wirtschaftssystem bezeichnet, das die grundlegende und posi­tive Rolle des Unternehmens, des Marktes, des Privateigentums und der daraus folgenden Verantwortung für die Produktionsmittel, der freien Kreativität des Menschen im Bereich der Wirtschaft anerkennt, ist die Antwort sicher positiv.“

Nichtsdestotrotz fügt er sofort ein „Aber …“ hinzu. Warum? Weil Papst Johannes Paul II. sein Leben damit verbrachte, vor den Folgen eines ungezähmten Kapitalismus zu warnen, der losgelöst von Moral, ethischen und rechtlichen Prinzipien daherkommt. Wir sollten allerdings bedenken, dass der wahre Kapitalismus in Bezug auf Egoismus und Immoralität schlimmstenfalls neutral ist. Tatsächlich fördert ein System des freiwilligen Austausches Moralität und die Unterscheidung zwischen gut und böse, im Gegensatz zu der moralischen Korruption, die immer mit dem Sozialismus einhergeht.

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Was ist schließlich mit dem Sozialismus passiert? Hat er versagt? Ist er verschwunden? Hat er sich in Luft aufgelöst? Ja und nein. Dies ist sicherlich das Schicksal des „real existierenden“ Sozialismus, aber unsere Gesellschaften sind immer noch vom Sozialismus tief durchdrungen. Die Unterschiede zwischen linken und rechten Parteien sind dabei graduell. Spanien hat zwischen 1996 und 2004 unter der Führung der rechten Partido Popular (Volkspartei) einige Fortschritte in Sachen Freiheit gemacht. Als Erstes wäre das Verbot der Sklaverei des 20. Jahrhunderts, die Militärdienstpflicht, zu nennen. Der Militärdienst wurde freiwillig und das ist von größter Wichtigkeit. Ist es ein Zufall, dass die Sozialisten diese Änderung abgelehnt haben? Zweitens, es gab kleinere Steuererleichterungen und die Etablierung des Prinzips ausgeglichener Haushalte sowie einige Liberalisierungen und Privatisierungen. Es gab nicht wirklich viel, das euphorisch stimmte. Wir müssen uns aber vor Augen halten, dass selbt die große Mehrheit jener 11 oder 12 Millionen Menschen, die für die Volkspartei gestimmt haben, im Sinne unserer Definition sozialistisch sind. Mehr war einfach nicht drin. Es liegt nun an uns, den Universitätsprofessoren, Intellektuellen und „Zweit­ verwertern“ von Ideen. Es liegt in unserer Verantwortung, den Zeitgeist gra­duell zu verändern, insbesondere unter den jungen Menschen, die willens sind, die Ideen auf die Straße zu tragen und ihre Ideale zu verteidigen. Heute herrscht der Sozialismus weiter vor. Zwischen 40 % und 50 % des Bruttoinlandsproduktes der Länder in der modernen westlichen Welt liegen in den Händen des Staates. Unsere Hoffnungen ruhen, wie immer, auf der Macht der Ideen und der intellektuellen Redlichkeit der Jugend.

6. Die unternehmerische Funktion und die Theorie des marktwirtschaftlichen Umweltschutzes1 Professor Jacques Garellos lange und erfolgreiche Anstrengungen, Studien zur Freiheit mit der Analyse des marktwirtschaftlichen Umweltschutzes und deren diversen Implikationen zu verbinden, haben in meinem Leben eine wichtige Rolle gespielt. Mein erster persönlicher Kontakt mit Professor Garello kam am Rande eines von ihm organisierten Seminars zu diesem Thema zustande, das im September 1985 in Aix-en-Provence stattfand und zu dem der Autor die Ehre hatte, eingeladen worden zu sein.2 Insofern könnte ich mir keine bessere Hommage an Professor Garello vorstellen als eine Zusammenfassung und Neubewertung der wesentlichen Punkte und Implikationen der modernen Theorie des marktwirtschaftlichen Umweltschutzes aus heutiger Sicht, mehr als zehn Jahre nach dem Seminar.

Einführung Marktwirtschaftlicher Umweltschutz3 ist eine neue Disziplin, die ursprünglich zu Beginn des letzten Jahrzehnts entstand und die heute, zwanzig Jahre später, einen erstaunlichen Entwicklungsstand erreicht hat.4 1 Beitrag zur Festschrift in Honour of Jaques Garello, Kurt R. Leube, Angelo M. Petroni und James Sadowsky (Hrsg.), Turin: La Rosa Editrice, 1997, S. 175–188. 2 Dieses Seminar wurde durch den Liberty Fund im Rahmen der Huitième Université d’Été de la Nouvelle Économie organisiert und fand vom 5.–14. September 1985 in Aix-enProvence (Law School der Universität von Aix-Marseille) statt. Neben dem Autor nahmen folgende Professoren am Seminar teil: John Baden (Universität Montana), Baudouin Bouckaert (Universität Gent), Jean-Pierre Centi (Universität Aix-Marseille), Jaques Garello (Universität Aix-Marseille), Michel Glais (Universität Rennes), Jean-Louis Harouel (Universität Poitiers), Jean-Dominique Lafay (Universität Poitiers), Henri Lepage (Paris Business Institute), Leonard P.  Liggio (Institute for Humane Studies), Jean-Philippe Mangin (RIP) (Universität Nizza), Christian Mouly (Uncitral International Center Wien), Pascal Salin (Universität Paris Dauphine), Alain Siaens (Universität Leuven) und Richard Stroup (Universität Montana). 3 Das entspricht dem Originaltitel von Anderson / L eal (1991). Die Autoren betrachten den marktwirtschaftlichen Umweltschutz als eine neue sozio-politische Bewegung, die sich der Verteidigung der Natur durch Märkte und freiem Unternehmertum verschreibt. 4 Wie Richard Stroup betont, begann die intellektuelle Bewegung für den marktwirtschaftlichen Umweltschutz in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre, als im Umfeld der Universität von Montana, der Universität von Kalifornien in Los Angeles (UCLA) und dem Public Choice Center eine Gruppe junger, naturliebender Ökonomen zusammenfand, die sich um die Umwelt sorgten. Diese Gruppe von Ökonomen ermöglichte das Entstehen einer neuen Disziplin, die unter dem Namen „New Natural Research Economics“ firmiert und auf drei komplementäre Theorien zurückgreift: erstens, die Theorie der Österreichischen Schule der Nationalökono-

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Was die Vertreter des marktwirtschaftlichen Umweltschutzes letzten Endes entwickelt haben, ist eine Theorie, in der die engen Beziehungen zwischen Ökonomie und Umweltschutz erklärt werden. Diese Beziehungen sind offensichtlich, vor allem wenn man bedenkt, dass nach der neuesten Definition die Wirtschaftswissenschaft in der theoretischen Erforschung der dynamischen Prozesse zwischenmenschlicher Interaktion besteht,5 während man den Umweltschutz als die Wissenschaft definieren könnte, die sich mit den Beziehungen der Menschen untereinander und mit ihrer Umwelt beschäftigt.6 Es zeigt sich, dass die Konzeptionen dieser beiden Wissenschaften perfekt zueinander passen, genauso wie die Subjekte, die sie studieren. Die Ökonomie basiert dabei auf der Analyse von Märkten, die als dezentralisierte spontane Ordnung verstanden werden, und der Umweltschutz auf dem Studium und Überwachen von Ökosystemen, die – genauso wie der Märkte – evolutionäre und dezentralisierte Prozesse sind, in denen die jeweiligen Individuen spontane Anpassungen und Veränderungen durchleben, und zwar im Einklang mit einer Vielzahl örtlicher und zeitlicher Besonderheiten, die niemand vollständig vorhersagen oder wissen kann.7 Die bedeutendste Entdeckung der Theoretiker des marktwirtschaftlichen Umweltschutzes besteht im Nachweis spontaner Prozesse, die durch die kreative Kraft menschlichen Unternehmertums verstärkt werden und auf diese Weise der ökonomischen und sozialen Entwicklung der menschlichen Spezies dienen, so dass wir uns wirkungs- und respektvoll mit den übrigen Spezies und Elementen der natürlichen Umwelt abstimmen können. Kurzum: Man fand heraus, dass die größten Aggressionen gegen die natürliche Umwelt (die Probleme der Luftverschmutzung, die Gefahr der Auslöschung vieler Spezies, die Zerstörung natürlicher Ressourcen und der Umwelt im Allgemeinen) weit davon entfernt sind, das unvermeidbare Ergebnis einer ökonomischen Entwicklung, der Funktion des Marktes und des spontanen Systems der auf freiem Unternehmertum basierenden gesellschaftlichen Organisation zu sein, und stattdessen dann auftauchen, wenn der Staat systematisch mit institutionellem Zwang interveniert und im größeren oder kleineren Ausmaß den spontanen Prozess der mie und deren Erforschung der Prozesse sozialer Interaktion, die aus der schöpferischen Kraft der unternehmerischen Funktion hervorgehen; zweitens, die Public-Choice-Schule und ihre theoretischen Analysen der Anreizstrukturen, der Begrenzungsfaktoren und der Ergebnisse kombinierter Handlungen von Politikern, Bürokraten und Wählern und, drittens, die ökonomische Theorie der Eigentumsrechte sowie deren Grundlagen und Entwicklung. Siehe Stroup (1990), S. 132. Diese Ideen erreichten Europa über das weiter oben und mittlerweile historische Seminar in Aix-en-Provence im September 1985. 5 Siehe Huerta de Soto (2013). 6 Erste Definition des Begriffs „ecologia“ im Diccionario de la Lengua Española (1992), S. 555. 7 Walter Block führt aus, dass es keine einfache Analogie zwischen dem Markt und einem Ökosystem gebe, sondern dass die Gesetze der Evolution und der Interaktion in beiden Prozessen sehr ähnlich seien und man deshalb davon sprechen könne, dass der Umweltschutz Teil der ökonomischen Wissenschaft ist (das ermöglicht den Begriff marktwirtschaftlicher Umweltschutz). Wenn man möchte, dann kann man umgekehrt auch sagen, dass die Ökonomie selbst eine Disziplin sein kann, die sich in der anderen, breiteren Disziplin namens Umweltschutz eingliedert. Siehe Block (1990), S. 289.

Zwang, Eigentumsrechte und die Umwelt

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Koordination und Anpassung verhindert, der aus dem Markt heraus entsteht, und zwar durch die freie Ausübung der unternehmerischen Funktion auf allen Gebieten, in denen die Menschen Beziehungen untereinander und zu anderen Spezies und Naturressourcen unterhalten.

Zwang, Eigentumsrechte und die Umwelt Es sollte betont werden, dass die Probleme der Umweltzerstörung von dieser Warte aus ein Paradebeispiel für die perversen Effekte des institutionellen Zwangs darstellen, der an den Handlungen der Menschen und am Unternehmertum systematisch vollzogen wird.8 Die von Eingriffen und Zwängen freie Ausübung der unternehmerischen Funktion ist der Ort, an dem die Institutionen, verstanden als etablierte Verhaltensmuster, die aus dem unternehmerischen Prozess selbst hervorgehen und denselben zugleich ermöglichen, spontan und reihenweise entstehen können.9 Das Privatrecht im Allgemeinen und das Vertrags- und Eigentumsrecht im Besonderen gehören, neben der Sprache und dem Geld, wohl zu den wichtigsten dieser gesellschaftlichen Institutionen – die genau wie die Ökosysteme auf evolutionäre, dezentrale und adaptive Weise entstehen und wachsen. Eigentlich würden nur wenige menschliche Handlungen vollzogen, wenn deren Produktionsergebnisse nicht vom Handelnden selbst, sondern von einer dritten Seite mit Zwang angeeignet würden (z. B. durch jemanden, dessen Handlungen nicht gesetzeskonform sind), oder wenn andere Personen durch solche Handlungen angegriffen oder verletzt würden, wie es der Fall ist, wenn die Opportunitätskosten nicht vollständig berücksichtigt werden. Es ist daher ein zentraler Bestandteil des institutionellen Netzwerks im System des freien Unternehmertums und somit essentiell, für alle Dinge, die jemals im Hinblick auf das Erreichen von Zielen knapp werden könnten, die notwendigen Eigentumsrechte einzurichten. Die Eigentumsrechte erlauben erstens, die externen Kosten zu internalisieren, die durch eine Handlung auftreten,10 und garantieren zweitens, dass jeder unternehmerische Akteur die Ziele erreichen 8

An anderer Stelle habe ich dafür argumentiert, Sozialismus als jede Form institutioneller Aggression gegen die freie Ausübung der unternehmerischen Funktion zu definieren. Ich habe dabei zu zeigen versucht, dass derartige Aggressionen die Schaffung und Entdeckung jener praktischen Informationen verhindern, die notwendig sind, um menschliches Verhalten anzupassen, zu koordinieren und so die Entwicklung der Zivilisation zu ermöglichen. Wenn in anderen gesellschaftlichen Bereichen, insbesondere in denen, welche die natürliche Umwelt betreffen, die Freiheit der menschlichen Handlung behindert wird, dann führt das zu einem paradoxen Ergebnis: Die Menschen können einfach nicht erkennen, dass sie ineffizient und unkoordiniert handeln. Das bedeutet, dass viele Möglichkeiten sozialer Anpassung unentdeckt bleiben und die schlimmsten Fälle von Umweltzerstörung weder entdeckt noch beseitigt werden. Siehe dazu Huerta de Soto (2013), insbesondere Kapitel 2 und 3. 9 Die Theorie der evolutionären Entwicklung von Institutionen geht auf Carl Menger (1883), S. 182, und Huerta de Soto (2013) zurück. 10 Siehe insbesondere Mises umsichtige Pionierarbeit zu „The Limits of Property Rights and the Problem of External Costs and External Economies“ in Mises (1996), Kapitel 23.6.

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kann, die im Rahmen der etablierten Eigentumsregeln unternehmerisch entdeckt, kreiert und angestrebt werden.11 Es fällt ins Auge, dass die Umwelt genau dort, wo die Definition und / oder Verteidigung von entsprechenden Eigentumsrechten und die daraus folgende freie Ausübung der unternehmerischen Funktion Gegenstand der traditionellen Prinzipien des Privatrechts sind, vor den tragischen Effekten der Zerstörung und Ausbeutung der Umwelt, die von den Naturliebhabern so vehement kritisiert werden, geschützt ist. Wenn wir eine theoretische Definition von zerstörter oder gefährdeter natürlicher Umgebung geben müssten, würden wir sagen, dass es sich bei ihr um eine Kombination der folgenden zwei natürlichen Ressourcen oder Ressourcenarten handelt: Als erstes sind die Ressourcen zu nennen, die bis jetzt relativ üppig vorhanden sind, dann aber umstandsbedingt und aus der Sicht bestimmter Handlungen mehr oder weniger knapp werden. Gemeint sind z. B. die Ressourcen, die genau zwischen den sogenannten „freien Gütern“ und jenen Ressourcen liegen, die im Hinblick auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse relativ knapp und deshalb unweigerlich ökonomisch verteilt werden müssen. Wo die Herausbildung von Eigentumsrechten in Bezug auf diese „Grenzressourcen“ verhindert wird (was bei traditionell freien Ressourcen, die knapp werden – z. B. die Prärien im amerikanischen Westen des 19. Jahrhunderts –, oft der Fall ist), gibt es einen tragischen Übernutzungs- und Zerstörungseffekt, den Garrett Hardin mit dem inzwischen allgemein akzeptierten Ausdruck „Tragödie der Allmende“ beschreibt.12 Zur zweiten Ressourcenart gehören all jene Ressourcen, die tatsächlich bereits knapp sind und 11 Zu den Grundprinzipien des Eigentumsrechts, die für das Funktionieren einer freien Marktwirtschaft notwendig sind, und deren spezifische Anwendung auf Fälle des Umweltrechts siehe die inspirierenden Ausführungen von Rothbard (1990b). In seinem Aufsatz plädiert Rothbard dafür, die traditionellen Prinzipien der Eigentumsrechte, die sich – wie weiter oben gezeigt – im Zuge der Evolution und in Ausübung der unternehmerischen Funktion entwickelt haben, auf die neuen Umstände, die unvorhergesehen eintreten, anzuwenden. Er befreit sie von ihren historischen Ungereimtheiten und logischen Fehlern und empfiehlt, sie auf die neuen Gegegebenheiten anzuwenden, die das Ergebnis der zivilisatorischen Evolution sind. Rothbard erklärt so die großen Vorteile, die in der Privatisierung von Straßen, Luftkorridoren und in der alternativen Nutzung der Ozeane, der Luft und des Erdreichs liegen. Mit großer Raffinesse und Vorstellungskraft skizziert er, wie dergleichen technisch und rechtlich in die Praxis umgesetzt werden könnte. 12 Obwohl der wörtliche Ausdruck von Garrett Hardin stammt, war Mises der Erste, der die „Tragödie der Allmende“ analysierte, und zwar 1940 in seiner Analyse „Die Grenzen des Sondereigentums und das Problem der externen Kosten“, Mises (1980) S. 599–605. Garett Hardins Beitrag „Die Tragödie der Allmende“ wurde fast 30 Jahre später veröffentlicht, Hardin (1968). Seine Analyse bietet kaum mehr als die von Mises und kommt zudem zu bestimmten neo-malthusianischen Schlussfolgerungen, die wir nicht teilen können und die zeigen, dass Hardin eher ein Biologe als ein Ökonom war. Insbesondere ignoriert Hardin die Tatsache, dass mehr Kinder zu haben Kosten impliziert, die von den Eltern a priori mehr oder weniger explizit diskontiert werden. Desweiteren habe ich an anderer Stelle für die Idee plädiert, Bevölkerungswachstum sei eine notwendige Bedingung ökonomischer und gesellschaftlicher Entwicklung und das Problem der gegenwärtig unterentwickelten Gesellschaften werde nicht durch die Bevölkerungsgröße, sondern durch die Institutionen und ökonomischen Systeme (Sozialismus

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die der Staat aus bestimmten Gründen dem privaten Vertrags- und Eigentumsrecht entzieht. Folgerichtig werden sie rechtlich und verwaltungstechnisch als „öffentliches Eigentum“ betrachtet. Diese beiden Ressourcentypen, die unweigerlich zur Übernutzung der natür­ lichen Umwelt führen, können ihren Ursprung entweder dort haben, wo ein staatliches Privileg bestimmten privaten Entitäten garantiert, ungestraft fremde Eigentumsrechte zu verletzen (dies ist oft bei industriellen Umweltverschmutzern der Fall, die im Namen eines falsch verstandenen industriellen Fortschritts von den Konsequenzen ihrer Aggressionen verschont bleiben), oder wo man eine irreführende Doktrin „öffentlicher Güter“13 entwickelt, und zwar in Bezug auf bestimmte knappe Ressourcen. Mit dieser Doktrin rechtfertigt man dann, dass die spontane Privatisierung der knappen Ressourcen gebremst und der unternehmerische Geist an der angemessenen Nutzung derselben gehindert wird. Auf diese Weise wird es unmöglich, all die technologischen Innovationen zu entdecken und einzuführen, die man bräuchte, um die entsprechenden Eigentumsrechte korrekt zu definieren und zu schützen.

Der Umweltschutz und die Unmöglichkeit der sozialistischen Wirtschaftsrechnung Auf diese Weise wird die Kraft der unternehmerischen Funktion zerstört und ihr kreativer Geist in die falschen Bahnen gelenkt. Klar ist auch, dass Umweltprobleme einen Spezialfall darstellen, der die Theorie der Unmöglichkeit sozialistischer Wirtschaftsrechnung perfekt abbildet. Sozialismus wird dabei, wie wir gesehen haben, als ein Gewalt anwendendes System definiert, das die freie Ausübung der unternehmerischen Funktion mehr oder weniger systematisch behindert. Zunächst einmal unterbindet die Existenz von Bereichen, die als öffentliches Eigentum deklariert werden, jegliche Wirtschaftsrechnung, die notwendig wäre,

und Interventionismus) hervorgerufen, die keine kreative Ausübung der unternehmerischen Funktion und keine koordinierte Entwicklung von freien und effizienten Märkten erlauben. Siehe Huerta de Soto (2013). 13 Wie Mises (1996), S. 917, zu recht betont, entsteht das Problem öffentlicher Güter durch die Existenz positiver externer Effekte in Bezug auf die Ressourcen, für die es ein gemeinsames Angebot und keine Rivalität im Konsum gibt. Derlei Fälle sind in ihrem Kern ganz andere als jene, in denen externe Kosten immer dann entstehen, wenn verhindert wird, dass Eigentumsrechte an natürlichen Ressourcen festgelegt und geschützt werden, und dadurch eine „Tragödie der Allmende“ ermöglicht wird. Es ist daher analytisch falsch, das Konzept der öffentlichen Güter auf das Problem der Umweltzerstörung anzuwenden, mit dem wir es zu tun haben. Bezeichnenderweise habe ich an anderer Stelle argumentiert, dass öffentliche Güter in einer interventionsfreien Ökonomie vollkommen inhaltslos wären und daher die statische Analyse ihrer angeblichen Existenz nicht dazu benutzt werden kann, die Existenz des Staates zu rechtfertigen. Siehe Huerta de Soto (2013).

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um den Ressourcen das notwendige Faktenwissen zuzuordnen.14 Wir sollten unter Wirtschaftsrechnung eine Werteinschätzung der verschiedenen Handlungsabläufe verstehen. Wenn also das Wirken des freien Marktes verhindert wird und Eigentumsrechte nicht zugeteilt werden, dann kann die für rationales Handeln notwendige Information nicht geschaffen werden. Selbst der radikalste Umweltschützer weiß nie mit Sicherheit, ob die spezifischen Maßnahmen, die er fordert, nicht einen viel größeren Umweltschaden hervorrufen als jenen, den er zu verhindern sucht. Wie können wir z. B. sicher sein, dass das Aufstellen verbindlicher SO2-Filter für kohleverarbeitende Fabriken nicht indirekt Effekte hervorruft, die für die Umwelt größere Kosten verursachen. Es könnte ja sein, dass die Produktion und Installation von SO2-Filtern im Sinne der verbrauchten ökonomischen und natürlichen Ressourcen sehr viel kostspieliger wären als die Alternativen, die unternehmerisch entdeckt werden könnten, wenn es den Unternehmern gestattet wäre, in einem Umfeld wohldefinierter und geschützter Eigentumsrechte zu experimentieren (z. B. könnte man, statt Filter zu installieren, Kohle mit geringerem Sulfidgehalt nutzen). Die Ausweitung des Rechtskonzepts „öffentliches Eigentum“ auf die Ressourcen der Natur unterbindet aber nicht nur – wie wir gesehen haben – die rationale Wirtschaftsrechnung, sondern lenkt auch die Ausübung der unternehmerischen Funktion in falsche Bahnen, da sie im Allgemeinen die Anreize modifiziert, nach denen der Unternehmer handelt. Wenn die Luft zum öffentlichen Gut erklärt wird, dann – soviel ist klar – kann man keine Eigentumsrechte mehr an ihr festlegen. Folglich kann dann jeder sie so stark verschmutzen, wie er will. Also wächst für alle Unternehmer der Anreiz, sie zu verschmutzen. Diejenigen mit dem größeren Umweltgewissen, die sich entscheiden, kostspielige Filter zu installieren, sind nicht mehr in der Lage, mit jenen zu konkurrieren, die die Luft schlichtweg verschmutzen. D. h., sie verschwinden vom Markt. Das Phänomen der „Tragödie der Allemende“, die alle Bereiche betrifft, in denen die Ausübung der unternehmerischen Funktion untersagt ist, wo Eigentumsrechte nicht angemessen definiert und geschützt werden oder wo mit Zwang in das freie Wirken des Marktes eingegriffen wird, ist damit vollkommen erklärt. Sobald irgendein Bereich zum Gemeingut erklärt wird, internalisiert jeder Handelnde die Profite, die sich aus der Nutzung des Gutes ergeben, ohne die anfallenden Kosten zu bedenken oder zu tragen. Dieselben werden noch nicht einmal erkannt oder entdeckt und verteilen sich auf alle derzeitigen und künftigen Nutzer. Das bedeutet, dass es immer einen Anreiz zur Übernutzung geben wird. Der Volksmund sagt: „Was jedem gehört, gehört nieman 14

„Es ist richtig, dass sobald ein großer Teil der Kosten externe Kosten sind, die Wirtschaftsrechnung aus der Sicht des handelnden Individuums oder des Unternehmens grundsätzlich fehlerhaft wird und damit die Ergebnisse irreführend sind. Es handelt sich aber dabei nicht um das Produkt angeblicher Unzulänglichkeiten eines Systems, basierend auf dem privaten Eigentum an den Produktionsmitteln. Wir sehen im Gegenteil die Konsequenz von Schlupflöchern, die das System bereitstellt. Sie könnten durch eine Reform des Haftungsrechts in Bezug auf die Schäden beseitigt werden, welche durch institutionelle Grenzen entstehen, die das volle Wirken von Eigentumsrechten behindern.“ Mises (1996), S. 657 f.

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dem.“ Wenn ein Wilderer den Büffel oder Elefanten heute nicht tötet, um ihm die Haut oder die Stoßzähne wegzunehmen, dann weiß er, dass ein anderer Wilderer es morgen machen wird. Das unvermeidliche Ergebnis öffentlichen Eigentums ist das Verschwinden des Elefanten, des Büffels, der Wale und der sonstigen natürlichen Ressourcen im öffentlichen Besitz. Außerdem ergibt es wenig Sinn, wenn man versucht, die im öffentlichen oder kommunalen Besitz befindlichen Ressourcen ohne Festlegung entsprechender Eigentumsrechte und stattdessen mit staatlich regulierten Nutzungsrichtlinien zu erhalten. Das ergibt sich aus dem Umstand, dass – wie die Analyse der PublicChoice-Schule zu recht und im Detail gezeigt hat – die Arbeitsweise des politischen Systems höchst ineffizient ist. Staatliche Entscheidungen ersetzen das offene Netzwerk freiwilliger Verträge, in dem alle Beteiligten gewinnen (wenn nicht, würden die Verträge nicht geschlossen werden). An dessen Stelle tritt die politische Auseinandersetzung der Interessengruppen, in der einige verlieren und andere gewinnen („Nullsummenspiel“). Die öffentliche Verwaltung ist ein undurchschaubares Netzwerk oder Wirrwarr an Gesetzen. Sie gestaltet die Ressourcenverwaltung unglaublich ineffizient; nicht nur, weil sie das Ergebnis eines politischen Kompromisses ist, sondern auch, weil sie von Natur aus willkürlich ist; vor allem aber wegen der unwiderruflichen Ignoranzsituation, in der sich der Gesetzgeber oder Bürokrat in Abgrenzung zum individuellen Akteur immer und überall befindet. Alle Informationen, die sich auf ein gesellschaftliches Phänomen und insbesondere auf natürliche Spezies und Ressourcen beziehen, sind exklusiv verstreut, subjektiv und kaum zu artikulieren. Sie variieren mit jeder Raum- und Zeitkoordinate und können nur insoweit „gewusst“ werden, als ein individueller Unternehmer sie im Kontext seiner Handlung entdeckt und interpretiert. Es ist daher unmöglich, solche Informationen den kontrollierenden Staatsorganen zu übermitteln. Aber nicht nur das! Die Zwangseingriffe der öffentlichen Verwaltung unterbinden auch die Ausübung der unternehmerischen Funktion und blockieren so das Entstehen der notwendigen Informationen zur angemessenen Verteilung und Verwaltung natürlicher Ressourcen. Woher wissen wir z. B., welche Zusammensetzung von Babywindeln unter Umweltschutzgesichtspunkten die beste ist? Wenn für die Sammlung und Behandlung von Müll eine steuerfinanzierte öffentliche Behörde zuständig ist, dann gibt es für den Konsumenten keine Möglichkeit mehr, die Kosten der Behandlung unterschiedlichen Mülls zu internalisieren. Dies bedeutet, dass der Windelproduzent keinen Anreiz hat, Umweltaspekte bei seinem Produkt zu berücksichtigen. Dies gilt für alle Bereiche, in die der Staat interveniert, auch wenn wir dies in den meisten Fällen nicht zur Kenntnis nehmen.15 15 Diejenigen, die die Theorie der öffentlichen Güter verteidigen, begeben sich in einen unauflöslichen logischen Widerspruch, wenn sie versuchen, das Management jener Güter durch das demokratische politische System zu regeln. Das ist deshalb der Fall, weil sie just in dem Moment versuchen, ein Problem der externen Effekte zu lösen, in dem sie ein anderes ähnliches Problem schaffen, das sehr viel größer ist. Weil die Anstrengung, Informationen über politische Themen zu erhalten und dementsprechend zu handeln und zu wählen, am Ende der

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6. Unternehmerische Funktion und Theorie des Umweltschutzes 

Die unternehmerische Lösung für Umweltprobleme  Wie können also die Umweltprobleme, die uns heute bedrohen, gelöst werden? Eine der größten Stärken marktwirtschaftlicher Umweltökonomen ist, dass sie immer wieder betonen, die einzig echte und definitive Lösung, die für Umwelt­ probleme tauge, sei eine institutionelle Lösung. Mit anderen Worten: Das, was wirklich zählt, ist, dass der unternehmerische Prozess, mit dem man derlei Probleme lösen kann, in Gang kommt. D. h., dass spezifisch technische Rezepte nicht verordnet werden können, sondern entdeckt werden müssen, wobei für jedes einzelne Umweltproblem die vorliegenden Umstände von Ort und Zeit zu berücksichtigen sind. Dies geschieht durch die Kraft der unternehmerischen Funktion, und zwar im Rahmen des freien Unternehmertums und einer angemessenen Definition und Wahrung der Eigentumsrechte.16 An sich kann nur die unternehmerische Kreativität Lösungen zur Einführung jenes technologischen Fortschritts finden, den man braucht, um Eigentumsrechte in den Bereichen zu definieren und zu schützen, in denen dies bisher nicht möglich war. Vielleicht mag viele in diesem Zusammenhang das Beispiel privater Straßen überraschen, aber sie sind aus technologischer Sicht eine perfekte Option. Sie würden nicht nur eine enorme Steigerung der Sicherheit bedeuten, sondern auch die akustische und atmosphärische Sauberkeit verbessern. Auf gleiche Weise könnten auch die mit den sonstigen natürlichen Ressourcen verbundenen Probleme systematisch analysiert werden, angefangen bei den Naturschutzgebieten bis hin zu Wasser, Luft, Müll, Umweltverschmutzung und vom Aussterben bedrohte Arten. Die auf der unternehmerischen Funktion gründende, dynamische Theorie des Marktprozesses könnte auf alle diese Bereiche angewendet werden. Hinweise auf mögliche Lösungen könnten sich aus Analogieschlüssen zu dem ergeben, das bereits in anderen Bereichen unternehmerisch geleistet wurde. Sie könnten sich aber auch dort ergeben, wo Unternehmer bereits zaghafte Versuche unternommen haben und in der Lage wären, tragfähige gesamten Gesellschaft zugute kommt, entstehen jedem Akteur hohe individuelle Kosten. So entsteht ein typischer Fall von positiven externen Effekten. Er führt die Menschen allgemein dazu, den demokratischen Prozess zu ignorieren, die notwendigen Informationen nicht zu sammeln und nicht an Wahlen teilzunehmen. Wie wollen die Demokraten diesen Widerspruch, der ihrem System innewohnt, lösen? Indem sie institutionellen Zwang auf die Bürger ausüben, damit diese sich die notwendigen Informationen beschaffen und im demokratischen System wählen? Wäre das nicht gleichbedeutend mit dem Tod des demokratischen Systems und dem Aufkommen einer eisernen Diktatur? Offensichtlich ist der Versuch, öffentliche Güter durch den politischen Prozess zu bestimmen und zu handhaben, ein noch viel größeres Problem der öffentlichen Güter, das durch politische Mittel nicht gelöst werden kann. 16 Laut Israel M. Kirzner können wir heute nicht das Wissen haben, das erst morgen von Unternehmern geschaffen wird, die in einem entsprechenden institutionellen Umfeld handeln und versuchen, Probleme zu lösen und Herausforderungen anzunehmen, die sich durch die Umwelt stellen. Paradoxerweise ist genau das, was uns daran hindert, eine spezifische Lösung anzuwenden (unternehmerische Funktion), auch das, was uns sicher sein lässt, dass man jederzeit die besten Lösungen für die anstehenden Umweltprobleme übernimmt. Siehe Kirzner (1985), S. 168.

Die unternehmerische Lösung für Umweltprobleme  

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Lösungen zu entwickeln und zu implementieren, um die uns heute bedrohenden Probleme zu lösen.17 Die praktische Strategie zum Schutze der Umwelt basiert daher vor allem auf der Privatisierung von öffentlichem Eigentum und einer neudefinierten Rolle des Staates, der alles dafür tun sollte, damit auch für die knappen Ressourcen im öffentlichen Besitz und für die Grenzressourcen, die bisher frei waren, aber nun knapp werden18, Eigentumsrechte festgelegt und geschützt werden. Wenn der Staat die Umwelt schützen und verbessern möchte, sollte er für entsprechend definierte Eigentumsrechte sorgen, ein effektives Rechtssystem etablieren und die richtig definierten Eigentumsrechte angemessen schützen.19 Kurzum, die neue Theorie des marktwirtschaftlichen Umweltschutzes hat den theoretischen Nachweis erbracht, dass öffentliches Eigentum an natürlichen Ressourcen ungerechtfertigt ist. Die Probleme, die dessen Existenz angeblich rechtfertigen, schaffen einen extrem starken Anreiz für eine Lösung durch unternehmerische Kreativität. Aus Sicht der dynamischen Theorie heißt das folgendes: Sobald die Umstände einsetzen, die das 17

Zweitbeste Lösungen werden, zumindest zeit- oder ersatzweise, für die Bereiche in Betracht gezogen, in denen eine sofortige Privatisierung wenig realistisch erscheint. Sie basieren im Allgemeinen auf der Einrichtung von „Märkten“, auf denen Verschmutzungszertifikate oder Jagdlizenzen usw. gehandelt werden. Derlei Systeme könnten in einigen Fällen effizienter sein als das gegenwärtige, obwohl sie bürokratischen Interventionen viel Raum lassen, um z. B. die Preise und die Gesamtmenge der Verschmutzung oder der Fischerei zu bestimmen. Es sollte aber betont werden, dass zweitbeste Lösungen immer zeitlich begrenzt sein sollten und nie die Sicht auf das langfristige Ziel verstellen sollten, das darin besteht, die freie Ausübung der unternehmerischen Funktion zu ermöglichen, dank derer die kreativen technischen Innovationen und Lösungen entwickelt werden, die man braucht, um entsprechende Eigentumsrechte zu definieren und zu schützen. Zweitbeste Lösungen ähneln den Reformen des Marktsozialismus, die in den ehemaligen kommunistischen Ländern Osteuropas so kläglich versagt haben. Zu den theoretischen Gründen für das Versagen zweitbester Lösungen und des Marktsozialismus siehe Huerta de Soto (2013). 18 Es tut weh, wenn man sieht, dass in Spanien die Tendenz immer noch genau in die entgegengesetzte Richtung zeigt als die, die durch einen freien marktwirtschaftlichen Umweltschutz vorgegeben wäre. Wir müssen nur an das von der sozialistischen Regierung ver­ abschiedete Wassergesetz denken, mit dem die bestehenden Eigentumsrechte am Grundwasser abgeschafft wurden. Wir hoffen, dass sich diese Tendenz in der Zukunft ändert, insbesondere in den nicht sozialistischen Kommunen, die sich auf weniger dogmatische Weise mit Umweltproblemen beschäftigen. Es wäre z. B. sehr einfach, mit einer Reihe von Privatisierungen öffentlicher Güter zu beginnen (Zoos, Naturschutzgebiete, Müllabfuhr etc.). Es wäre ebenfalls relativ einfach, hier und da zweitbeste Lösungen einzuführen, z. B. Verschmutzungsrechte für Kohle- und Ölheizungen in den Gebäuden größerer spanischer Städte, insbesondere in Madrid. Dies sind Maßnahmen mit geringen politischen Kosten, die schnell durchgeführt werden könnten und deren Vorteile es einfacher machen würden, weitere Schritte – die heute noch problematisch erscheinen – zu unternehmen, die den Reformprozess in Richtung Privatisierung natürlicher Ressourcen und Umweltzonen voranbrächten. 19 Das wesentliche politische Prinzip, das verteidigt werden muss, ist daher nicht, dass derjenige, der verschmutzt, zahlt – wie es in politischen Parteien engstirnig heißt –, sondern eher das Prinzip, dass derjenige, der verschmutzt, denjenigen, der verschmutzt wird, entschädigen muss oder durch das Strafrecht belangt wird, sobald seine Schuld am Schaden feststeht und eine außergerichtliche Einigung der betroffenen Parteien nicht erreicht werden kann.

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6. Unternehmerische Funktion und Theorie des Umweltschutzes 

sogenannte kommunale Eigentum hervorrufen, kommen die spontanen Kräfte, die es tendenziell zerstören, zum Einsatz. Das bedeutet auch, dass diese Art des öffentlichen Eigentums als solche ihren Inhalt verliert.20 Ich schreibe diese Zeilen meines Aufsatzes in Formentor, einem der schönsten Ökosysteme Spaniens. Die mich umgebende Realität beobachtend (die Übernutzung der Küste durch Boote, Waldbrände, die Millionen von Kiefern in ihrer Existenz gefährden, überfüllte Strände und Gewässer, die – obwohl immer noch sauber – zunehmend in Gefahr sind), wird mir unter Anwendung der Theorie des marktwirtschaftlichen Umweltschutzes klar, dass diese bevorzugte Refugium auf Mallorca nur dann – rein, frei von Missbrauch und zunehmend umsorgter – für künftige Generationen gewahrt werden kann, wenn seine Ausbeutung in Überein­ stimmung mit den typischen Kriterien des freien Marktes erlaubt ist und alle natürlichen Ressourcen so privatisiert werden, dass es zu ihnen Eigentumsrechte gibt, die von den öffentlichen Organen klar festgelegt und geschützt werden. Ich bin davon überzeugt, dass alle wohlmeinenden Naturliebhaber, die diesen Aufsatz unvoreingenommen lesen, mit den Theoretikern des marktwirtschaftlichen Umweltschutzes übereinstimmen und zum gleichen Schluss kommen werden wie ich.

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Ein anderer großer Vorteil der Theorie des marktwirtschaftlichen Umweltschutzes besteht darin, dass sie die gesamte Forschung im Namen der nachhaltigen Entwicklung obsolet macht – eine Forschung, die bis heute dominiert und die Unterstützung vieler Umweltaktivisten und Naturwissenschaftler genießt, die von Wirtschaftstheorie keine Ahnung haben.

7. Eine Theorie des liberalen1 Nationalismus2 Einführung Das Problem des Nationalismus und die Existenz von Nationen lösen bei den liberalen Denkern der Gegenwart im Allgemeinen ein großes Unbehagen aus. Auf der einen Seite nehmen sie zur Kenntnis, dass der Nationalismus eine führende Rolle dabei gespielt hat, eine günstige Atmosphäre für den Untergang der kommunistischen Regime in Osteuropa zu schaffen, und bei vielen historischen Gelegenheiten dem Interventionismus und zentralistischen Etatismus entgegentrat. Wichtige liberale Denker Europas haben die Rolle der Nation als unersetzbares Element im Kampf gegen Interventionismus und zentralistische Tendenzen verteidigt. Dies wird z. B. im Prozess der europäischen Einigung offensichtlich. Außerdem kann man beobachten, wie aus nationalistischer Dezentralisierung ein Prozess des spontanen Wettbewerbs entsteht, der die regulatorischen und interventionistischen Maßnahmen reduziert, die zum Großteil dem Arsenal der Zentralorgane des Staates entspringen.3 Auf der anderen Seite muss man zugestehen, dass der Nationalismus häufig weitreichende Konsequenzen mit sich brachte, die mit der Freiheit der Menschen unvereinbar sind. Wir müssen dabei nicht nur auf die Tragödie schauen, die sich aus dem Entstehen des Nationalsozialismus in Deutschland und Italien in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts ergab. Wir können uns auch die Tragödie in Erinnerung rufen, die durch den Krieg zwischen den Nationen im ehemaligen Jugoslawien hervorgerufen wurde, oder die Art, wie die Wahlfreiheit in der Bildung durch die gegenwärtige katalanische Regierung eingeschränkt wird. Es ist daher notwendig, eine Theorie des Nationalismus zu entwickeln, die es uns erlaubt, die angesprochenen Probleme zu erklären, und es Liberalen ermöglicht, eine konsistente Meinung zu den Problemen zu entwickeln, die sich aus dem Verständnis von Nation, Nationalismus und den Beziehungen zwischen verschiedenen Nationen ergeben. 1 Ich benutze den Begriff „liberal“ im traditionellen spanischen Sinn (nicht im amerika­ nischen). 2 Veröffentlicht in Il Politico, Pavia: University of Pavia, Jahrgang LX, Nummer 4 (175), Oktober-Dezember 1995, S. 583–598. 3 Als Beispiel mag dienen, wie das autonome Finanzministerium im Baskenland, dem Vorbild der kommunalen Gesetzgebung von Navarra folgend, die Erbschaftsteuer unter baskischen Verwandten de facto abgeschafft hat; eine wichtige Verbesserung im Vergleich zur Situation der Bürger im übrigen Spanien.

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7. Eine Theorie des liberalen Nationalismus

Konzept und Eigenschaften der Nation Die Nation kann als Untergruppe der zivilen Gesellschaft definiert werden. Sie ist eine spontane und lebendige Ordnung menschlicher Interaktionen, die durch eine bestimmte Reihe von Verhaltensmustern in Form von Kultur, Sprache, Geschichte, Religion und – weitaus weniger wichtig – Ethnie konstituiert wird. Von allen Verhaltensmustern, die das nationale Wesen ausmachen, ist die Sprache, die eine nationale Gruppe teilt, das wichtigste Zeichen nationaler Identität. Das ­Wesen des Konzeptes der Nation, das wir gerade beschrieben haben, stimmt mit der Theorie über den Ursprung und die Entwicklung sozialer Institutionen, die wir der Österreichischen Schule der Ökonomie verdanken, vollkommen überein.4 Die Österreichische Schule deutet das evolutionäre und spontane Entstehen sozialer Institutionen (ethische, moralische, ökonomische und linguistische) als das Ergebnis eines dezentralisierten Prozesses menschlicher Interaktionen, an deren Spitze Menschen stehen, die in den jeweiligen historischen Situationen die größte unternehmerische Wachsamkeit und Weitsicht beweisen, indem sie die Verhaltensformen entdecken, mit denen sie ihre Ziele bestmöglich erreichen können. Diese Verhaltensformen, die im sozialen Prozess von Versuch und Irrtum getestet werden, verteilen sich durch den gesellschaftlichen Mechanismus von Lernen und Imitation in der Gesellschaft. Das bedeutet, dass die sozialen Institutionen ständig einem evolutionären Wandel unterworfen sind und im speziellen Fall der Nation zusammen mit den kulturellen und linguistischen Zeichen, die die Nation konstituieren, dauernd im Wandel sind und mit anderen nationalen Ordnungen konkurrieren, die ebenfalls ständig entstehen, wachsen, stagnieren oder eventuell sogar verschwinden, wenn sie durch andere Nationalitäten und Sprachen absorbiert werden, die entweder fortgeschrittener, reicher oder offener sind. Kurzum: Nationen sind schlicht evolutionäre, soziale Realitäten, die hauptsächlich durch eine gemeinsame Sprache und andere historische und kulturelle Eigenschaften miteinander verbunden sind. Sie entstehen spontan und durch Evolution. Sie stehen ständig in einem Wettbewerb, in einem „Markt“ der Nationen. Es gibt keine Möglichkeit, a priori zu wissen, was das historische Schicksal einer Nation sein wird, und noch weniger, welche einzelnen Nationen in der Zukunft überleben werden.5

4 Zur Österreichischen Theorie gesellschaftlicher Institutionen und zum Konzept der Gesellschaft, verstanden als spontaner Prozess, siehe Menger (1985), S. 158. 5 Zum Verständnis der Nationen als spontane Ordnungen oder Untergruppen der Zivil­ gesellschaft, die im sozialen Prozess mit anderen nationalen Ordnungen konurrieren, siehe Mises (1983). Mises (1983) ist die englische Übersetzung des von Ludwig von Mises kurz nach dem 1. Weltkrieg veröffentlichten Buches Nation, Staat und Wirtschaft: Beiträge zur Politik und Geschichte der Zeit, Wien und Leipzig 1919. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass dieses einflussreiche Buch vor kurzem auch auf Italienisch erschienen ist, und zwar unter dem Titel Stato, Nazione e Economia, Turin 1994. Mises’ vielsagende Ideen zum Nationalismus wurden später in seinem bemerkenswerten Buch Omnipotent Government: The Rise of the Total State and Total War, New York 1969, veröffentlicht (die erste Auflage erschien 1944 bei Yale

Konzept und Eigenschaften der Nation 

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Es ist wichtig zu erkennen, dass eine intime Beziehung zwischen den rechtlichen und ökonomischen Institutionen und jener Untergruppe ziviler Gesellschaften, die wir Nation nennen, besteht. In der Tat ist die Gesellschaft schlichtweg ein sehr komplexer Prozess menschlicher Interaktionen, die im Grunde Handelsbeziehungen sind, die Menschen gleicher Sprache führen und die sie häufig verbinden und so die Grundlage einer Nation bilden. Außerdem werden menschliche Interaktionen in Übereinstimmung mit Standards, Regeln oder Verhaltensgewohnheiten ausgetragen, die nicht nur das Recht in seinem materiellen Sinne konstituieren, sondern die gesamte Verhaltenskonstellation aus Moral, Benimmregeln, Höflichkeit, Kleiderordnung, Glauben usw. Dies alles bildet letztlich das Konzept einer Nation und ist Teil von ihm. Diejenigen gesellschaftlichen Gruppen, die das gelenkte Verhalten am besten anwenden, um ihre Ziele zu erreichen, werden sich über die anderen durch einen selektiven und spontanen Prozess hinwegsetzen. Dieser Prozess wiederum ist ständig dem Wandel und der Evolution unterworfen. Menschen besitzen nicht die notwendigen Informationen, um diesen komplexen gesellschaftlichen Prozess bewusst entwerfen zu können, der eine große Menge von Informationen und praktischem Wissen enthält, das sich aus dem zusammensetzt, was die Menschen, die in der Gesellschaft handeln, ständig erlernen und entdecken. Die Anwendung von Zwang oder physischer Gewalt zur Durchsetzung bestimmter Verhaltensvorschriften auf nationaler Ebene ist zum Scheitern verurteilt, und zwar aus den gleichen Gründen, die es, aus theoretischer Perspektive betrachtet, unmöglich machen, das gesellschaftliche Leben durch Befehle zu koordinieren. Mit anderen Worten, das Theorem der Unmöglichkeit des Sozialismus, das die Theoretiker der Österreichischen Schule (Mises und Hayek) entdeckt haben, ist auf das Ziel, ein bestimmtes Ergebnis des gesellschaftlichen Prozesses im Bereich der Nationalitäten gewaltsam durchzusetzen, komplett anwendbar.6 Die vorangegangene Erklärung und die stets dynamische Natur nationaler Realität machen es unmöglich, das Prinzip zu akzeptieren, dass jeder politische Staat mit klar abgesteckten Grenzen genau einer Nation entsprechen muss. Wenn wir stattdessen die Nation als eine Untergruppe der zivilen Gesellschaft verstehen, die ständig experimentiert und sich entwickelt, dann wird klar, dass es immer eine bestimmte Anzahl von Menschen in diesem Prozess gibt, die in mehr oder weniger großem Ausmaß von unterschiedlichen nationalen Verhaltensmustern beeinflusst sind, ohne dass man dabei erkennen könnte, ob sie nun zu der einen oder anderen Kultur gehören oder nicht doch eventuell eine eigene aufbauen. Wir wissen, dass Nationen ständig im Wettbewerb stehen, sich wandeln, entwickeln und miteinander verkehren, was sie – sofern man eine Nationalität als eine historische Realität mit dynamischer Natur begreift – davon abhält, rigide und reglos auf einen bestimmten geographischen Ort festgelegt zu sein. Jeder Versuch, solch University Press). Mises war ein besonders qualifizierter Zeitzeuge zahlreicher Ereignisse, die im letzten Jahrhundert zu zwei Weltkriegen geführt haben und die er in den zwei oben genannten Büchern auf seine für ihn typische Art mit großer Tiefe erklärt und kommentiert hat. 6 Siehe Kapitel 4 im vorliegenden Buch.

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7. Eine Theorie des liberalen Nationalismus

eine sich wandelnde soziale Realität innerhalb vorgesetzter Grenzen gewaltsam zu fixieren, würde nur unlösbare Konflikte und Kriege heraufbeschwören, die hohe menschliche und gesellschaftliche Kosten hätten und letzten Endes die Existenz der nationalen Realität selbst in Gefahr brächten. Im Gegenteil, Nationalitäten, verstanden als Untergruppen der zivilen Gesellschaft, können wohl nur in einem internationalen Wettbewerbsprozess, der sich in einer Kultur der Freiheit gebildet hat, überleben – und mit den Grundprinzipien des Regierens, die wir im nächsten Abschnitt analysieren.

Wesentliche Prinzipien des liberalen Nationalismus Es gibt im Grunde drei Prinzipien, die eine gesunde, friedliche und spontane Beziehung zwischen den Nationen herbeiführen: das Prinzip der Selbstbestimmung, das Prinzip der vollkommenen Handelsfreiheit unter den Nationen und das Prinzip der freien Emigration und Immigration. Wir werden jedes dieser Prinzipien im Folgenden analysieren. Das Prinzip der Selbstbestimmung bedeutet, dass jede nationale Gruppe zu jeder Zeit wählen darf, in welchem politischen Staat sie eingebunden sein möchte. Anders formuliert: Jede Untergruppe der zivilen Gesellschaft muss frei entscheiden können, zu welcher politischen Gruppe sie gehören möchte. Es ist also möglich, dass eine Nation in Übereinstimmung mit dem frei geäußerten Willen seiner Mitglieder auf viele Staaten verstreut ist. Dies trifft z. B. auf die angelsächsische Nation zu, die derzeit wohl modernste, lebendigste und erfolgreichste Nation. Sie ist auf verschiedene politische Staaten verteilt, von denen die Vereinigten Staaten von Amerika und das Vereinigte Königreich ohne Zweifel die wichtigsten sind. Die deutschsprachige Nation sollte auch genannt werden. Ihre mehr als 100 Millionen Mitglieder sind auf drei wichtige europäische Staaten verteilt: Deutschland, Österreich und die (deutschsprachige) Schweiz. Möglich ist auch, dass verschiedene Nationen einen einzigen Staat formen. Die Schweiz setzt sich aus einer Reihe von Kantonen zusammen, die drei verschiedenen Nationen angehören, der deutschen, der französischen und der italienischen. Genauso sind im Falle von Spanien mindestens drei nationale Gruppen zu erwähnen: die Kastilianer, die Katalanen und die Basken.7 Im Hinblick auf das Prinzip der Selbstbestimmung sollte man noch zwei Beobachtungen hinzuzufügen: Zum einen muss die Entscheidung, ob man Teil eines politischen Staats sein möchte oder nicht, nicht unbedingt eine explizite Entscheidung sein. (Wir sollten aber nicht die Idee verwerfen, dass unter bestimmten his 7 Vielleicht ist die Diagnose von Fernando Pessoa exakter, da er in Betracht zieht, dass es drei verschiedene Nationen auf der Iberischen Halbinsel gibt, Kastilien, Katalonien sowie die gallizisch portugisische Nation, die sich auf zwei Staaten aufteilt, Spanien und Portugal. Pessoa bezieht sich nicht auf die baskische Nation, vielleicht weil er meint, dass sie eine Nation im Untergang sei, die fast vollständig verschwunden sei und sich auf andere aufgeteilt habe. Siehe Pessoa (1986), S. 979–1009 und S. 1125–1136.

Wesentliche Prinzipien des liberalen Nationalismus 

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torischen Umständen eine Sezession durch ein Referendum entschieden werden kann, so wie es kürzlich im Falle von Tschechien und der Slowakei passiert ist.) Oft ist die Entscheidung, Teil eines bestimmten Staates zu sein, durch Gewohnheit festgelegt, also durch den entsprechenden Wunsch einer bestimmten Nation, an den sich die Mehrheit der Mitglieder auf Dauer hält. Die zweite Beobachtung ist, dass das Selbstbestimmungsprinzip nicht nur gelten sollte, damit Menschen einer bestimmten Region entscheiden können, ob sie im Einklang mit nationaler Zugehörigkeit einem bestimmten Staat angehören wollen. Das Selbstbestimmungsprinzip muss auch im Allgemeinen gelten; auf allen Ebenen und für alle Untergruppen der zivilen Gesellschaft, ob sie nun durch ihre Nationalität verbunden sind oder nicht. D. h., dass Nationen, die sich frei zur Aufteilung auf verschiedene Staaten entscheiden, dem Prinzip der Selbstbestimmung vollkommen genügen und man akzeptieren muss, wenn sich innerhalb einer Nation und eines Staates Minderheiten nach Belieben dazu entscheiden, sich loszusagen, zu separieren oder einem anderen Staat beizutreten. Man sollte also tunlichst die Situation vermeiden, dass eine bestimmte nationale Gruppe, die entschieden hat, sich von einem Staat zu trennen, in dem sie eine Minorität darstellte, genau die systematische Gewalt, die sie früher selbst erlitten hat, anwendet, um nationale Minderheiten innerhalb ihrer eigenen Gruppe zu unterdrücken. Das zweite Grundprinzip, das die Beziehung zwischen den Nationen lenken sollte, ist die vollständige Handelsfreiheit zwischen ihnen. Wenn Nationen dazu entschlossen sind, bestimmte geographische Grenzen festzulegen, die sie voneinander trennen, Handelsbarrieren aufzubauen und protektionistische Maßnahmen zu ergreifen, dann führt dies unweigerlich zu der Notwendigkeit, ihre Ökonomien und Gesellschaften jeweils auf Grundlage des Prinzips der selbstgenügenden Autarkie zu organisieren. Ökonomisch betrachtet und vor dem Hintergrund der hochentwickelten Arbeitsteilung, die heute auf internationaler Ebene herrscht, ist Autarkie nicht mehr praktikabel. Kein Landstrich besitzt alle notwendigen Ressourcen, um eine moderne Volkswirtschaft zu erhalten. D. h., dass eine protektionistische Nation ständig dazu gedrängt wird, ihre Grenzen zu erweitern, um immer mehr ökonomische, materielle und menschliche Ressourcen zu gewinnen. Daraus folgt, dass der Protektionismus im nationalen Bereich zwangsläufig die Logik von Konflikten und Kriegen fördert, die mit dem Hinweis gerechtfertigt werden, die Grenzen seien auszudehnen und mehr Märkte und produktive Ressourcen zu erschließen. Nationaler Protektionismus zerstört also nationale Realitäten. Er opfert sie in einem unvermeidbaren Krieg aller Nationen. Es ist leicht einzusehen, dass die großen Kriege immer aus einem protektionistischen Nationalismus heraus entstanden sind und alle derzeitigen nationalen Konflikte verschwänden (Jugoslawien, der Mittlere Osten etc.), sobald man ein Umfeld hätte, in dem es gemeinsame Märkte mit vollständiger Handelsfreiheit unter allen beteiligten Nationen gäbe. Im Hinblick auf dieses Prinzip ist das folgende ökonomische Gesetz zu beachten. Ceteris paribus fällt es kleinen Staaten schwerer als großen, einen zentralistischen Protektionismus durchzusetzen. Die generierten Konflikte nötigen sie

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7. Eine Theorie des liberalen Nationalismus

früher, Freihandel zu akzeptieren. Dies ist deshalb so, weil die Einwohner eines kleineren Staates, der keine vollständige Handelsfreiheit kennt, die Unmöglichkeit, Zugang zu ausländischen Märkten und Ressourcen zu haben, stärker spüren. Umgekehrt gilt: Je größer die staatliche Organisation – sowohl geographisch als auch mit Blick auf die Bevölkerungszahl –, desto einfacher wird es, eine autarke Wirtschaft zu organisieren, ohne dass die Bewohner in der Lage wären, alles zu erkennen, das ihnen durch die Abwesenheit des Freihandels entgeht. Dieses wichtige ökonomische Gesetz ist ohne Zweifel ein prima facie-Argument zugunsten der Dezentralisierung und der politischen Organisation von Nationen in der kleinstmöglichen Form.8 Handelsfreiheit reicht nicht aus, wenn es nicht parallel zu ihr eine vollständig freie Emigration und Immigration gibt. Wenn es keine Emigrations- und Immigrationsfreiheit gibt, dann können erhebliche Einkommensunterschiede unter den Gesellschaftsschichten dauerhaft bestehen bleiben. Derlei Disparitäten sind der Existenz protektionistischer Monopole auf dem Arbeitsmarkt geschuldet (die sich aus den Grenzen und Regulierungen ergeben, mit denen die Immigrationsfreiheit verhindert wird). All dies könnte erhebliche Störungen und Gewalt unter den sozialen Gruppen hervorrufen. Die Freiheit der Emigration und Immigration muss aber auch Gegenstand einer Reihe von Regeln und Prinzipien sein, die sie davor beschützen, für interventionistische Ziele, die im Gegensatz zur freien Interaktion der Nationen stehen, missbraucht zu werden. Immigration darf also nicht vom Wohlfahrtsstaat subventioniert werden. Menschen, die immigrieren, müssen auf eigenes Risiko einwandern. Wenn dies nicht der Fall ist, dann werden die erzwungenen Einkommenstransfers unter den Gesellschaftsgruppen die künstliche Immigration wie ein Magnet anziehen. Das wird nicht nur den Umverteilungsprozess stoppen, sondern auch schwerwiegende gesellschaftliche Konflikte hervorrufen. Die große Gefahr der Immigration für den Wohlfahrtsstaat ist genauso nachvollziehbar wie die Tatsache, dass der moderne Wohlfahrtsstaat der Immigration künstliche Hürden setzt. Die einzige Lösung für die politische Zusammenarbeit unter den Nationen besteht daher im Abbau des Wohlfahrtsstaates und in der Etablierung vollständiger Immigrationsfreiheit.9 Immigrationsfreiheit darf auch nicht bedeuten, dass dem Immigranten schnell eine Wählerstimme zuteil wird. Dies würde zur politischen Ausnutzung durch jene Nationalitäten führen, die in den jeweiligen Immigrationströmen vertreten sind. Diejenigen, die immigrieren, müssen sich bewusst sein, was sie tun, wenn sie in eine neue kulturelle Umgebung einwandern, um ihre Lage zu verbessern. Ihr Schritt sollte ihnen nicht das Recht geben, Mechanismen des politischen Zwangs (auf dem Weg der demokratischen Wahl) nutzen zu dürfen, um den spontanen 8

Siehe zu diesem Aspekt den interessanten Aufsatz von Hans-Herrmann Hoppe (1993a) und Rothbard (1994). 9 Zu den vorteilhaften Konsequenzen von Bevölkerungswachstum und Immigration siehe die Arbeiten von Julian L. Simon, insbesondere Simon (1990) und Simon (1991).

Ökonomische und soziale Vorteile des liberalen Nationalismus  

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Prozess der inländischen Märkte, in die sie eintreten, zu verändern. Erst wenn sie nach einer sehr langen Zeit die kulturellen Prinzipien der Gesellschaft vollständig aufgenommen haben, kann man die Übertragung des entsprechenden Wahlrechts in Betracht ziehen.10 Überdies müssen Immigranten in der Lage sein, zu zeigen, dass sie sich der gesellschaftlichen Gruppe, der sie beitreten, anpassen können, um ihre Arbeit, ihre technologischen oder unternehmerischen Fähigkeiten überhaupt beisteuern zu können. Mit anderen Worten, sie müssen zeigen, dass sie unabhängige Mittel haben, von denen sie leben können, und keine Last für die Wohlfahrt werden, sondern sich im Prinzip selbst versorgen können. Das letzte und wichtigste Prinzip, das die Immigration lenken sollte, ist folgendes: Immigranten müssen das materielle Recht (insbesondere das Strafrecht) der gesellschaftlichen Gruppe, die sie empfängt, vorbehaltlos respektieren; vor allem aber die geltenden Eigentumsrechte ihrer neuen Gesellschaft. Auf diese Weise wird das Phänomen massiver Okkupation vermieden (wie etwa in den Favelas in Brasilien, die immer auf Grundstücken gebaut werden, die dritten Parteien gehören). Die offensichtlichsten Probleme der Immigration entstehen normalerweise aus der Tatsache, dass es vor Ort keine klaren Regeln gibt, nach denen die Eigentumsrechte festgelegt und geschützt werden. Dies bedeutet, dass die ankommenden Menschen unweigerlich jenen, die schon da sind, erhebliche externe Kosten verursachen, was schließlich zum Ausbruch von Fremdenhass und Gewalt und damit zu hohen gesellschaftlichen Kosten führt. Diese Konflikte können in dem Maße vermieden werden, in dem die Privatisierung aller bestehenden Ressourcen in der Gesellschaft voranschreitet.

Ökonomische und soziale Vorteile des liberalen Nationalismus Wenn die Prinzipien, die wir im vorangegangenen Abschnitt herausgearbeitet haben, umgesetzt werden, dann sind die Ideen von Nation und Nationalität – weit entfernt davon, der sozialen Interaktion abträglich zu sein – aus liberaler Sicht sehr positiv zu bewerten, da sie den spontanen und friedensstiftenden Prozess der sozialen Kooperation bereichern, verstärken und vertiefen. Stellen wir uns z. B. ein Umfeld vor, in dem die drei Grundprinzipien angewendet werden, insbesondere die Prinzipien der Handelsfreiheit und Immigrationsfreiheit, so wie es derzeit in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (heute Europäische Union) der Fall ist.

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Dies entspricht der Einstellung der Bevölkerungsmehrheit in Katalonien und insbesondere im Baskenland, deren Nationalität hauptsächlich kastilianisch ist und deren politischen Rechte unbestritten sind, da sie in dieser Region seit vielen Jahren, wenn nicht Generationen leben.

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7. Eine Theorie des liberalen Nationalismus

Es leuchtet ein, dass in diesem Umfeld keine Staatsnation alleine interventionistische Maßnahmen oder Maßnahmen des institutionellen Zwangs anwenden kann. Wir erleben, dass der Nationalismus in Europa wie ein Sicherheitsventil wirkt und die sozialistischen und interventionistischen Kräfte lähmt, für die Jacques Delors und andere Eurofanatiker in den zentralen Bereichen der Eurokratie stehen. Wir dürfen nicht vergessen, dass in dem Moment, in dem man in einem Mitgliedsstaat versucht, restriktivere Regulierungen und höhere Steuern durchzusetzen, die Investitionen und Bürger die Flucht antreten und Zuflucht bei anderen Staaten oder Nationen suchen, wo die Regeln weniger interventionistisch und somit vorteilhafter sind. Dies passierte z. B. vor kurzem im französischen Dijon. Neue Arbeitsgesetze und Steuerregulierungen veranlassten dort die wichtigsten Firmen und Fabriken, ihre Wirkungsstätten zu verlassen, um in vorteilhaftere Regionen der Europäischen Gemeinschaft zu ziehen, wie etwa Schottland oder andere Teile des Vereinigten Königreichs. Die Tatsache, dass eine so herausragende Liberale wie Margaret Thatcher, Kopf der sogenannten euroskeptischen Liberalen (zu denen ich auch mich zähle), den liberalen Nationalismus dem Brüsseler Zentralismus in der Europäischen Gemeinschaft vorzieht, ist daher kein Widerspruch – weil der Wettbewerb der Nationen im Umfeld des Freihandels dazu führt, dass die meisten der liberalen Maßnahmen und Regulierungen in den jeweiligen Mitgliedsstaaten sich ausdehnen und von den anderen übernommen werden, und zwar dank des zwischen ihnen herrschenden Wettbewerbs.11 Andererseits kann man nun die Absicht der Sozialisten und Interventionisten, die für die Schaffung eines mächtigen europäischen Bundesstaates eintreten, besser erkennen. Keine interventionistische Maßnahme (im Bereich des Arbeitsrechtes, des Sozialstaates oder im steuerlichen Bereich) wird mehr erfolgreich sein, wenn sie nicht gleichzeitig in allen Staaten und Nationen, die zur Europäischen Gemeinschaft gehören, durchgesetzt wird. Die Sozialisten haben daher keine andere Wahl, als das Gravitätszentrum politischer Entscheidungen, weg von den Nationalstaaten, ins Zentrum Europas zu verlegen. Dies gibt den Brüsseler Behörden zunehmend mehr Kompetenzen und Vorrechte auf Kosten der Nationalstaaten, aus denen sich die Gemeinschaft zusammensetzt. Interessant ist, wie kurzsichtig viele sozialistische Politiker sind und dass sie, wie z. B. Felipe Gonzáles, noch nicht verstanden haben, dass in einem vollkommen zentralisierten Bundesstaat die Bedeutung ihres eigenen Staates auf ein Minimum schrumpft. Hat irgendjemand schon mal etwas vom Gouverneur von Texas gehört? Sollten die zentralistischen Kräfte zugunsten Brüssels, die vom interventionistischen Geist des Sozialismus genährt werden, letztendlich obsiegen, dann wird uns in einigen Jahrzehnten die Rolle des Staatschefs oder Königs von England oder Spanien genauso absurd vorkommen.

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Dieses Phänomen ist genau das, was die Anführer der europäischen Sozialisten vermeiden wollen, wenn sie versuchen, einen sozialen und interventionistischen Staat Europa zu kreieren. Man denke z. B. an Felipe Gonzáles, wenn er despektierlich vom „Europa der Kaufleute“ spricht, die den Vertrag von Rom entworfen hätten.

Die Rolle des Staates im liberalen Nationalismus 

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Aber auch Spanien selbst ist ein Beispiel für ein Umfeld des Freihandels, in dem unterschiedliche Nationen untereinander konkurrieren. Es ist klar, dass es Freihandel und Immigrationsfreiheit unter den Regionen und Nationalitäten Spaniens gibt. Dies hat dazu geführt, dass in vielen Bereichen, in denen die spanischen Regionen untereinander konkurrieren, ein gewisses Maß an Deregulierung eingesetzt hat, allerdings kein sehr großes, weil die sehr zentralistisch und interventionistisch agierende sozialistische Partei nach wie vor in allen Regionen Spaniens eine große Rolle spielt. Vor kurzem hat das baskische Finanzministerium die Erbschaftsteuer abgeschafft, der alle übrigen Bürger Spaniens unterliegen (außer in Navarra). Außerdem hat es – unter gröbster Missachtung der fiskalischen Gier, die der sozialistische Zentralismus in Madrid an den Tag legt – die Neuaufstellung der Bilanzen zugelassen. Erwähnenswert ist auch der Fall Navarra. Die Autonome Gemeinschaft hat aus historischen Gründen eine einzige lokale Verwaltung und zieht ihre eigenen Steuern ein. Gleichwohl hat Navarra seine historischen Vorrechte bislang sehr bedacht eingesetzt und ist eigentlich das Idealmodell einer vollkommen dezentralisierten Verwaltung, das so rasch wie möglich von allen Regionen und Nationalitäten Spaniens nachgeahmt werden sollte.

Die Rolle des Staates im liberalen Nationalismus Das Modell des Wettbewerbs der Nationen in einem Umfeld, das sich nach den drei genannten Prinzipien richtet (Selbstbestimmung, Freiheit des Handels und Freiheit der Immigration) sollte auf sämtliche unteren und oberen Ebenen staatlicher Organisation ausgeweitet werden. Nach oben ist dies der Fall, wenn es um die Binnenbeziehungen der Nationalstaaten geht, welche die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft bilden. Das Modell des liberalen Wettbewerbs der Nationen wurde, wie wir gesehen haben, von Margaret Thatcher verteidigt. Der Wettbewerb der Nationen wird unaufhaltsam zu einer wachsenden Liberalisierung führen, die dem regulatorischen Sozialismus in Brüssel immer mehr Grenzen setzen und Probleme bereiten wird. Aber die Anwendung des Modells muss auch nach unten verteidigt werden, also im Hinblick auf die Regionen und Nationen, welche die Staaten von Europa konstituieren. Dies würde z. B. in Spanien den Prozess der autonomen Kommunen betreffen, der u. E. damit enden müsste, dass es in jeder Region des Landes vollkommen dezentralisierte Verwaltungen gäbe, so man dort wollte (in inhaltlicher Übereinstimmung mit dem Modell der Autonomen Gemeinschaft Navarra, die zweifellos so dezentralisiert wie möglich ist). Was wäre also demnach die Rolle des Staates in dem von uns beworbenen liberalen System aus miteinander konkurrierenden Nationalitäten? Wenn der Staat überhaupt eine Rolle spielen soll, dann die der rechtlichen Inkarnation der Grundprinzipien, die eine freie und friedliche Kooperation der unterschiedlichen Nationen ermöglicht. Im Falle Spaniens werden die Krone und der Staat nur dann ihre Daseinsberechtigung finden, wenn sie die wesentlichen Prinzipien des Liberalis-

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7. Eine Theorie des liberalen Nationalismus

mus garantieren und schützen. Gemeint ist die vollkommene Freiheit von Handel, Unternehmen und Migration innerhalb und zwischen den Gebieten. Blickt man weiter, dann könnte man das Gleiche über die Europäische Union sagen, deren einzig legitime Daseinsberechtigung darin besteht, vollkommen im Einklang mit dem ursprünglichen Gründungsgeist zu stehen, der im Vertrag von Rom niedergelegt ist. Verteidigen sollte man auch das Prinzip, demzufolge keine staatliche Organisation das Recht hat, Kompetenzen an sich zu ziehen, die von kleineren Organisationen auf niedrigeren Ebenen wahrgenommen werden können. Gemäß der hier vertretenen Prinzipien bedeutet das folgendes: Je höher wir auf der staatlichen Skala steigen, desto stärker sollte der spezifische politische Inhalt der staatlichen Organisation abnehmen, während die rein juristischen Kompetenzen zunehmen. (Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist hauptsächlich dazu da, die Prinzipien der unternehmerischen Freiheit und der Handelsfreiheit zu schützen und zu wahren.) Den Rechtsprechungskompetenzen könnte man, als zusätzliches Sicherheitsventil, weitere Kompetenzen an die Seite stellen; Kompetenzen zur Einführung von Obergrenzen für Regulierungen und Steuern, die von den niederen politischen Organisationen erlassen werden dürfen. Kurzum, es geht darum, dezentrale Regionen davon abzuhalten, ihre Bürger ungestraft zu unterdrücken, wie es z. B. trotz formal bestehender Handels- und Migrationsfreiheit in Katalonien passiert ist. Es ist daher ratsam, neben dem spontanen Prozess des Wettbewerbs der Nationen, der interventionistische Regelungen normalerweise verhindert, Obergrenzen für Regulierungen und Steuern einzuführen, welche durch den Staat bzw. die höhere politische Organisation festgelegt werden. In Bezug auf Steuern und Regulierungen sollte nur ein Wettbewerb nach unten erlaubt sein, damit dezentrale Entitäten unter keinen Umständen das staatlich festgelegte Maximum an Steuern und Regulierungen überschreiten.12 Der Prozess der in der Europäischen Gemeinschaft herrschenden Harmonisierung des Rechts, durch den die interventionistischen Maßnahmen eines jeden Landes in der Regel auch auf die anderen Staaten übergehen, muss abgeschafft und vom Prozess eines deregulierenden Wettbewerbs der Nationen abgelöst werden, in dem die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft nur eine Rechtsprechungsrolle einnimmt (Schutz der Persönlichkeitsrechte und Überwachung der Handels- und Immigrationsfreiheit). Auf jeden Fall sollten den ökonomischen, sozialen und fiskalischen Interventionen und Regulierungen der Staaten Obergrenzen gesetzt werden.

12 Der Auftrag der Staaten – und in der Rechtsprechung geht es ja nur um die Verteidigung der persönlichen Rechte und des freien Handels – ist es, z. B. Begrenzungen von Geschäftszeiten und andere interventionistische Zwangsmaßnahmen zu verhindern. Solche Beschränkungen wurden vor kurzem in Katalonien und anderen spanischen Regionen eingeführt und ihrer Natur gemäß vor den vorteilhaften Effekten des interregionalen Wettbewerbs in Schutz genommen.

Liberaler Nationalismus versus sozialistischer Nationalismus 

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Liberaler Nationalismus versus sozialistischer Nationalismus Aus den genannten Gründen kann man leicht nachzuvollziehen, dass die gegenwärtigen Übel, die man im Allgemeinen mit dem Nationalismus in Verbindung, dem Versagen entspringen, jene drei Grundprinzipien anzuwenden, die wir weiter oben erläutert haben. Mit anderen Worten, der Nationalismus kann den fried­fertigen Prozess der sozialen Kooperation nicht länger positiv stärken – wie man derzeit mehr oder weniger im Falle der katalanischen Regierung beobachten kann – und wird zur Brutstätte von Konflikten, wenn er aufhört, liberal zu sein, und sich in einen interventionistischen oder sozialistischen Nationalismus verwandelt. Der Fehler liegt also im Sozialismus, im Interventionismus und der systematischen Anwendung von Zwang und nicht im Nationalismus per se. Man sollte auch zur Kenntnis nehmen, dass die Interventionisten und Sozialisten bei vielen Gelegenheiten die Idee der Nation missbrauchen, um ihre eigenen Zwangsmaßnahmen zu rechtfertigen. Dass der Ursprung der Konflikte im Sozialismus und Interventionismus liegt und nicht im Nationalismus, erkennt man aber auch, wenn man Fälle nationaler Konflikte analysiert. Der Krieg in Jugoslawien würde sofort enden, wenn eine vollkommene Immigrationsfreiheit eingeführt würde, zusammen mit einem gemeinsamen Markt für Güter und Dienstleistungen, in dem die Eigentumsrechte respektiert werden. Der Konflikt, den die katalanische Regierung im Bildungssektor hervorrief, ist der Tatsache zu verdanken, dass die schulische Erziehung ein öffentliches, aus Steuermitteln finanziertes Gut ist, und die Entscheidung, in welcher Sprache der Unterricht stattfindet, eine politische ist, wodurch weite Teile der Bevölkerung systematisch unterdrückt werden. Fände die schulische Erziehung in einem freiheitlichen Umfeld statt (etwa durch Schulgutscheine oder durch ein ähnliches System, das die freie Wahl der Bürger sicherte), dann würde der gesamte Sprachkonflikt, den die katalanische Regierung ver­ ursacht hat, komplett verschwinden.13

13 Mit den Worten von Mises (1983), S. 96: „Der Weg zum ewigen Frieden führt nicht über die Stärkung des Staates und der zentralisierten Macht, wie es der Sozialismus versucht. Je größer das Ausmaß, in dem der Staat das Leben der Individuen zu bestimmen trachtet, und je wichtiger die Politik für jeden einzelnen wird, desto größer sind die Spannungen, die sich daraus für Gebiete mit einer gemischten Bevölkerung ergeben. Die Begrenzung der Staatsmacht auf ein Minimum, wie es der Liberalismus möchte, würde diese Spannungen zwischen unterschiedlichen Nationen, die Seite an Seite im gleichen Gebiet leben, spürbar abbauen. Die einzig wahre nationale Autonomie ist die Freiheit des Individuums gegenüber dem Staat und der Gesellschaft. Die „Verstaatlichung“ des Lebens und der Ökonomie führt notwendigerweise zu Konflikten zwischen den Nationen.“

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7. Eine Theorie des liberalen Nationalismus

Ist es dem nationalen Sozialisten möglich, vom liberalen Nationalismus überzeugt zu werden? Nationale Sozialisten und der liberale Nationalismus Die Analyse des liberalen Nationalismus, die wir bisher vorgenommen haben, hat auch den Vorteil, den Verteidigern eines nationalistischen Ideals, die dessen Voraussetzungen bislang falsch eingeschätzt und den Nationalismus mehr oder weniger als Interventionismus und Sozialismus gedeutet haben, wirksame Argumente an die Hand zu geben. Man könnte also einem Nationalisten, der die Idee der Nation wirklich liebt, darlegen, dass es nur zwei Modelle der Kooperation unter Nationen gibt: entweder das bereits skizzierte Modell, das auf den Prinzipien von Freihandel, freier Immigration und Selbstbestimmung basiert, oder das Modell, das auf Protektionismus, Interventionismus und systematischen Zwang baut. Man kann einem Nationalisten auch leicht zeigen, dass das gegen andere Nationen gerichtete Modell der Zwangsprotektion und -intervention letztendlich zum Scheitern verurteilt ist. Die Autarkie, die es hervorruft, löst eine Dynamik des Krieges und der Zerstörung aus, welche die Nation letztendlich mehr schwächt als schützt. Das protektionistische Modell ist daher für zwischenstaatliche Beziehungen nicht ratsam. Die einzig mögliche Alternative, die auch die Nationalisten so langsam erkennen, ist die, dass die Nationen auf einer Ebene miteinander konkurrieren, und zwar auf den Prinzipien freien Handels und freier Immigration. Sobald der Nationalist die Handelsfreiheit und die Freiheit der Immigration unter den Nationen akzeptiert, kann man ihm in einem nächsten Argumentationsschritt erklären, was passiert, wenn er sich dazu entscheidet, innerhalb seiner eigenen Nation als Interventionist oder protektionistischer Nationalist (also mehr oder weniger als Sozialist) aufzutreten: Seine Regulierungsmaßnahmen werden zum Scheitern verurteilt sein, es sei denn, sie kämen simultan auch in allen anderen Nationen, mit denen seine Nation konkurriert, zur Anwendung. Mit anderen Worten, es ist absurd, nur in einem einzigen Land (z. B. in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft) regulatorische und interventionistische Maßnahmen einzuführen, ohne sie durch eine Direktive oder Regel aus Brüssel auch den übrigen Ländern und Regionen der Gemeinschaft aufzubürden. Der Nationalist mit interventionistischen Vorlieben wird letztendlich nur erreichen, dass das Gravitätszentrum politischer und ökonomischer Entscheidungen der Nation, die er zu verteidigen vorgibt, verlagert wird; und zwar in die Mitte des politischen Dachverbands, dem seine Nation angehört (z. B. Madrid oder B ­ rüssel). Wir sehen wieder einmal, dass Leute wie Jacques Delors, Felipe Gonzáles und andere Eurofanatiker mit ihrer sozialistischen Intuition richtig liegen, weil sie letztlich ständig versuchen, die Macht in Brüssel zu stärken. Offenbar wirklich paradox ist, dass viele nationalistische Anführer in Verfolgung ihrer eigenen Interventionsinteressen den Zentralismus gefördert haben, sehr zum Schaden ihrer eigenen Nation.

Nationale Sozialisten und der liberale Nationalismus 

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Insofern kann man ohne Bedenken sagen, dass die Verantwortung für den Zentralismus in Madrid zum großen Teil beim katalanischen Nationalismus liegt, der in der Vergangenheit keinen Zweifel daran ließ, dass er, um ihm genehme Vorrechte (protektionistischer und sonstiger Natur) einzuheimsen, gerne Madrid aufsuchte, um dort „Pakte“ zu schließen und Rechte zu erhalten, die allen spanischen Regionen zugutekamen. Dies führte schließlich zu einer wachsenden Bedeutung der Hauptstadt zum Schaden der Nation, um die es eigentlich ging.14 Deshalb liegt die historische Verantwortung für den Madrider Zentralismus bei den kurzsichtigen katalanischen Nationalisten selbst.15 Dieses Geschichtsparadox scheint sich nun auf der Bühne der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu wiederholen. Auf sie schauen die Anführer der verschiedenen Regionen und Nationalitäten in dem Glauben, dass es zu einer Reduktion der nationalstaatlichen Macht komme, ohne dabei zu erkennen, dass die bundesstaatliche Macht zu einer Expansion der zentralistischen Macht führt, also zu mehr Macht in Brüssel, was letztlich sehr viel schlimmer sein dürfte. Die unbedarften Nationalisten, die zum Schaden ihrer Nationalstaaten für eine Ausweitung der Brüsseler Befugnisse eintreten, und die unbedarften Europaenthusiasten (wie z. B.  Felipe Gonzáles und andere), deren sozialistische Intuition sie die Macht in Brüssel stärken lässt, bilden ein selt­sames Paar, das nicht wahrnimmt, dass all dies die Idee der spanischen Nation und ihrer wichtigsten Symbole, wie z. B. die Monarchie, zusehends schwächt und dem nationalen Ideal auf regionaler Ebene (deren Entscheidungen im Vergleich zu jenen, die auf Gemeinschaftsebene getroffen werden, immer unwichtiger werden) die Kraft nimmt. Hier wie auch anderenorts sehen wir, wie die fehlerhaften und unbedarften Interessen der Nationalisten und Sozialisten verschmelzen und den wahren liberalen Geist beschädigen, der die friedlichen, harmonischen und fruchtbaren Beziehungen der Nationen leiten sollte. Auf jeden Fall dürfen wir in der Debatte mit den interventionistischen Nationalisten nicht aufhören, rational zu argumentieren. Diejenigen, die das nationalistische Ideal über die interventionistische Ideologie stellen, sollen endlich erkennen, dass das, was der von ihnen vertretenen Idee der Nation am meisten zuwiderläuft,

14 Genau das geschah, historisch gesehen, als der katalanische Protektionismus das frei handelnde Kastilien traf; oder als das Insolvenzrecht nach der Pleite der Bank von Barcelona so harmonisiert wurde, dass es den katalanischen Forderungen entsprach; oder als man, wie jüngst geschehen, dem interventionistischen und korrupten Regime, das momentan in Madrid an der Macht ist, sehr zum Schaden des übrigen Spaniens politische Unterstützung gewährte; dem katalanischen Nationalismus sei Dank. 15 Ludwig von Mises (1969), S. 268 ff., hat gezeigt, dass innerhalb eines Interventionismussystems die Abwesenheit zwischenstaatlicher Handelsbarrieren das politische Gravitationszentrum auf die Bundesebene hievt. Er erläutert in seinem Buch auch die Gründe, warum aus Sicht der ökonomischen Theorie die Maßnahmen der Intervention und Sozialisierung – die den Staat konstituieren und dem politischen Zentrum im Staat zum Vorteil gereichen – in einem Umfeld des freien Handels den Nationen schaden.

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7. Eine Theorie des liberalen Nationalismus

die überall (ökonomisch, kulturell, linguistisch etc.) stattfindende Interventionspolitik ist, der sie immer noch den Vorzug geben. Die plausibelste Erklärung für den interventionistischen Nationalismus liegt vielleicht darin, dass viele Nationen an einem Minderwertigkeitskomplex und einem Mangel an Selbstbewusstsein leiden. Daher sind die Nationen mit den größten Problemen und dem kleinsten Selbstbewusstsein auch diejenigen, die am meisten mit ihrem Schicksal hadern. Grundsätzlich können wir sagen: Je höher der Regressionsgrad einer Nation (infolge der Absorption durch eine reichere oder dynamischere Nation), desto heftiger ihr Todeskampf (wie z. B. der Fall der baskischen Nation gezeigt hat und, wenn auch in geringerem Ausmaß, der Fall der Katalanen, als es um linguistischen Interventionismus ging). Eine Nation, die an sich selbst und ihre Zukunft glaubt und sich nicht vor einem Wettbewerb auf gleicher Ebene mit anderen Nationen fürchtet, wird eine Nation sein, in der sich der Geist liberaler Kooperation, den wir hier beschrieben haben, festsetzt.16

Schlussfolgerung: Für einen liberalen Nationalismus Die Schlussfolgerung unser Analyse des liberalen Nationalismus verschafft uns Klarheit darüber, inwieweit die von Margaret Thatcher angeführten Euroskeptiker innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft – im Gegensatz zu den unbedarften Enthusiasten unter den europäischen Politikern mit sozialistischen Tendenzen (Felipe Gonzáles, Jacques Delors etc.) – eine konsistente und richtige Politik verfolgen. Lasst uns dafür einstehen, dass die Nationen in einem von Freihandel, freien Märkten und freier Immigration geprägten Umfeld leben, die beste Lebensversicherung gegen Kontrolle, Zwang und Interventionismus. Und lassen wir auch die kurzsichtigen Nationalisten aller Länder erkennen, dass alles, was nicht die Entwicklung des nationalen Ideals im Umfeld vollständiger Freiheit fördert, letztendlich auf die Idee der Nation, für die sie angeblich einstehen, zerstörerisch wirkt. Fehlendes Selbstbewusstsein und mangelndes Vertrauen in die Werte der kulturellen und linguistischen Prinzipien ihrer Nationalität lässt sie linguistischen, kulturellen und ökonomischen Protektionismus mit Zwang durchsetzen. Das 16 „Eine Nation, die an sich und die eigene Zukunft glaubt, eine Nation, die betont, dass ihre Mitglieder nicht nur aufgrund der Zufälligkeit ihrer Geburt miteinander verbunden sind, sondern auch durch die gemeinsame Teilhabe an einer Kultur, die jeder wertschätzt, wäre zweifellos in der Lage, unbeeindruckt zu bleiben, wenn einzelne Personen zu anderen Nationen wechseln würden. Menschen, die an ihren eigenen Wert glauben, würden auch davon Abstand nehmen, andere gewaltsam daran zu hindern, wegzuziehen, und sie gewaltsam an die nationale Gemeinschaft zu binden, wenn sie nicht von alleine bleiben wollten. Der Stolz einer Nation ist es, die Attraktivität der eigenen Kultur im freien Wettbewerb mit anderen Völkern zu beweisen. Alleine das wäre eine wahrhaft nationale und kulturelle Politik. Die Mittel der Macht und der politischen Regeln bräuchte es dafür nicht.“ Mises (1983), S. 76. Selten wurden die Idee und das Ideal des liberalen Nationalismus so zufriedenstellend, ermutigend und genau beschrieben wie von Ludwig von Mises.

Schlussfolgerung: Für einen liberalen Nationalismus 

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schwächt ihre eigene Nation und gefährdet den liberalen Wettbewerb mit anderen Nationen. Eine Nation kann sich nur in einem Umfeld von Freiheit entwickeln. Je eher den Nationalisten diese Prinzipien klar werden, desto schneller werden sie von der verheerenden Politik ablassen, die sie bisher angewendet haben; zum Schaden ihrer eigenen Nation und dem anderer Nationen, denen sie diese Politik aufgezwungen haben. Der liberale Nationalismus ist nicht nur das einzige Konzept von Nationalismus, das der Entwicklung der Nationen zuträglich ist, sondern das auch einzige Prinzip, nach dem künftig alle gesellschaftlichen Gruppen harmonisch, friedlich und fruchtbar kooperieren können.

8. Eine libertäre Theorie der freien Immigration1 Die Probleme, die sich durch das freie Aus- und Einwandern von Menschen ergeben, haben unter libertären Theoretikern und Liebhabern der Freiheit oft für Verwirrung gesorgt. Zunächst einmal hat die libertäre Doktrin sich traditionell bedingungs- und vorbehaltslos für das Prinzip vollständiger Emigrations- und Immigrationfreiheit ausgesprochen. Diese Position basiert auf der Erkenntnis, dass das Errichten politischer Grenzen eindeutig einen Akt des Interventionismus und des institutionellen Zwangs von Seiten des Staates darstellt, der die freie Bewegung von Menschen behindert oder sogar verhindert. Außerdem sind viele Grenzkontrollen und Einwanderungsgesetze das Ergebnis der politischen Initiative privilegierter Interessengruppen (z. B. der Gewerkschaften), die darauf abzielen, das Angebot an Arbeitskräften gering und die Löhne künstlich hoch zu halten. Da interventionistische Regeln zur Emigration und Immigration freiwillige Vereinbarungen zwischen den Parteien (Inländer und Ausländer) behindern oder verhindern, verletzen sie zweifellos die Grundprinzipien, die eine libertäre Gesellschaft leiten sollte. Interventionistische Einwanderungspolitik betrifft vor allem die Bewohner fremder Länder, weil das Prinzip des freien Personenverkehrs innerhalb eines Staates im Allgemeinen akzeptiert wird. Die Zwangsmaßnahmen eines Staates zeigen sich nicht nur in der Behinderung des freien Personenverkehrs, sondern auch dort, wo die Integration bestimmter Personengruppen gegen den Willen der Einheimischen eines Staates oder einer Region forciert wird. Sie finden sowohl international als auch intranational statt. Innerhalb einer Nation werden Maßnahmen zur Integration einer bestimmten Minderheit oft durch Gewalt umgesetzt, wie etwa durch Antidiskriminierungsgesetze und gesetzliche Förderungsmaßnahmen. Auf internationaler Ebene gibt es andere Maßnahmen. Viele Staaten öffnen ihre Grenzen entweder legal oder de facto für Ausländer und lassen sie ihre öffentlichen Güter gratis benutzen (Straßen, Parks, Strände, das öffentliche Gesundheitssystem, Bildungs- und Wohlfahrtsleistungen). Auf diese Weise generiert der Staat beachtliche externe Kosten für die Einheimischen und verpflichtet sie, die erzwungene Integration von Ausländern gegen ihren Willen oder zu Bedingungen, die sie so nicht möchten, zu akzeptieren.2 1 Dieser Aufsatz erschien unter dem Titel „A Libertarian Theory of Free Immigration“ im Journal of Libertarian Studies, Band 13, Nummer 2, Sommer 1998, S. 187–197. Es handelt sich um meinen Beitrag für ein Symposium zum Thema Immigration, an dem auch Ralph Raico, Julian Simon, John Hospers, Tibor Machan, Gary North und Hans-Hermann Hoppe teilnahmen. 2 Auf das Problem, das eine erzwungene Immigration auf internationaler Ebene hervorruft, wurde Murray Rothbard wie folgt aufmerksam: „Ich habe angefangen, meine Sichtweise

Die reine Theorie des Personenverkehrs in einem libertären Umfeld  

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Im Lichte ihrer offenkundig widersprüchlichen Natur zeigen die vorangegangenen Probleme, wie wichtig es ist, ihrem wahren Ursprung auf den Grund zu gehen und anschließend eine libertäre Theorie der Immigration aufzustellen, die klarstellt, nach welchen Prinzipien die Prozesse der Emigration und Immigration in einer freien Gesellschaft ablaufen sollten.

Die reine Theorie des Personenverkehrs in einem libertären Umfeld Wir sollten Murray Rothbard folgen und unsere Analyse mit einem rein anarchokapitalistischen Modell beginnen, also einem Modell, in dem kein noch so kleines Stückchen Land öffentlich ist. Jeder Quadratmeter, ob von Straßen, Plätzen oder Vierteln, ist privatisiert.3 In einer solchen Welt kann offensichtlich keines der im vorherigen Abschnitt diagnostizierten Immigrationsprobleme bestehen. Die Umstände, Anzahl und Dauer persönlicher Besuche werden von denjenigen entschieden und vereinbart, die als Parteien involviert sind. Es ist sogar vorstellbar, dass Arbeitskräfte massenhaft einwandern. Es braucht nur einen Arbeitgeber, der ihnen einen Job gibt, so dass sie genug Geld für ihre Unterkunft haben. Vielleicht trägt er auch ihre Reisekosten etc. Kurzum, es sind vielerlei Verträge unter den involvierten Parteien denkbar. Ihre Vielfalt ergibt sich aus den Besonderheiten der jeweiligen Situationen. Unter diesen Umständen floriert die Migration, ohne der ökonomischen und sozialen Entwicklung zu schaden. Migrationsströme werden hier zum Motor der Zivilisation. Das Argument, ein Überfluss an neuen Arbeitskräften sei für die Arbeiterklasse des Einwanderungslandes notwendigerweise schlecht, ist unhaltbar. Menschliche Wesen sind kein einförmiger Produktionsfaktor und verhalten sich dann, wenn es um knappe Ressourcen geht, nicht ausschließlich biologisch, so wie z. B. Ratten oder andere Tiere es tun, deren Populationswachstum immer mit einem Rückgang der jedem Individuum zur Verfügung stehenden Ressourcen einhergeht. Im Gegenteil, Menschen sind mit einer angeborenen, kreativen, unternehmerischen Fähigkeit ausgestattet, von der sie – sofern der institutionelle Rahmen passend ist – Gebrauch machen. In einem dynamischen Umfeld erlaubt ein Bevölkerungswachstum stets die Entdeckung und Ausnutzung neuer Möglichkeiten. Dies wiederum ermöglicht einen unbegrenzt wachsenden Lebensstandard. Der menschliche Verstand hat eine begrenzte Kapazität, um Informationen oder Wissen aufzunehmen. Der soziale Prozess, angetrieben durch die unternehmerische Funktion, produziert eine ständig wachsende Menge von Informationen. Der zum Thema Immigration zu überdenken, als die Sowjetunion zusammenbrach und es deutlich wurde, dass ethnische Russen dazu ermutigt wurden, Estland und Litauen zu fluten, um die Kultur und die Sprache dieser Menschen zu zerstören.“ Siehe Rothbard (1994), S. 7. 3 Rothbard (1994), S. 6.

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8. Eine libertäre Theorie der freien Immigration

Fortschritt der Zivilisation bedarf daher einer ständigen Ausdehnung und Vertiefung der Arbeitsteilung oder, wenn man so will, der Wissensteilung. Das bedeutet schlicht und ergreifend, dass der Entwicklungsprozess in vertikaler Hinsicht ein zunehmend tieferes, spezielleres und detailreicheres Wissen impliziert, das, um sich horizontal auszudehnen, eine steigende Anzahl von Menschen benötigt, also ein ständiges Bevölkerungswachstum. Ein langfristiges Bevölkerungswachstum findet überall dort statt, wo die Zahl der Geburten die der Sterbefälle übersteigt. Kurzoder mittelfristig ist eine schnelle und effektive Antwort auf die ständig erforderlichen Anpassungen an die ökonomischen und sozialen Veränderungen nur durch Immigrationsströme möglich. Diese Ströme ermöglichen ein schnelles Vertiefen der Arbeitsteilung und überwinden damit die begrenzte Fähigkeit jedes menschlichen Verstandes, indem sie die Anzahl der involvierten Menschen im sozialen Prozess rapide steigern.4 Hayek sagt zu recht: „Wir wurden zivilisiert, weil unsere Zahl anstieg, aber genauso richtig ist, dass unsere Zahl anstieg, weil die Zivilisation dafür sorgte. Wir können wenige sein und wild, oder viele und zivilisiert.“5 Die Entwicklung der Städte als Zentren des Wohlstands und der Zivilisation illustriert den Prozess der immigrationsbedingten Wissensausweitung sehr deutlich. Die anhaltende Landflucht und die massenhafte Abwanderung der Arbeiter in die Ballungszentren hat zur Fortentwicklung der Städte geführt, und nicht etwa zu deren Verarmung. Der kumulative Prozess, in dem sich dies vollzog, ist der bei weitem charakteristischste Ausdruck menschlichen Fortschritts seit der industriellen Revolution. Ein- und Auswanderungsströme in einer libertären Umwelt – und um ein solches geht es uns hier – tendieren dazu, die Vielfalt und Auswahl möglicher Lösungen für jede Art von Problemen um ein Vielfaches zu mehren. All dies fördert die kulturelle Auswahl sowie den ökonomischen und sozialen Fortschritt, da alle Wanderbewegungen als Ergebnis freiwilliger Übereinstimmung stattfinden und die Betroffenen, sollten die Umstände sich ändern, die Möglichkeit haben, auszuwandern oder zu Firmen an anderen Standorten zu wechseln.6 Zum Schluss sollten wir die Tatsache festhalten, dass in einem libertären Umfeld, in dem alle Ressourcen und Güter, die heutzutage als „öffentlich“ angesehen werden, privatisiert sind, keiner der negativen Effekte, die wir weiter oben für die Fälle erzwungener Integration ausgemacht haben, eintritt. Antidiskriminierungsgesetze, positive Diskriminierungen oder auch nur die Immigrantenströme hier und da: all das würde auf ein Minimum reduziert werden. Migrationen würden mittels privater Transportmittel stattfinden, immer zu marktüblichen Preisen und gemäß der vertraglichen Bedingungen, die mit den Eigentümern vereinbart wur 4

Dieser Prozess wird detailliert erklärt in Huerta de Soto (2013). Hayek (1988), S. 133. 6 Man sollte wissen, was technologische Revolutionen im Bereich der Computerkommunikation (Internet etc.) bedeuten: Um seine Ziele zu erreichen, muss der Mensch immer seltener reisen. Eine gute Zusammenfassung weiterer Migrationsvorteile, die auf die Bedeutung der unternehmerischen Fähigkeiten unter den Immigranten hinweist, m. E. aber zu sehr der neoklassischen ökonomischen Analyse verpflichtet ist, findet man bei Simon (1996), S. 263–303. 5

Probleme durch staatliche Zwangsintervention 

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den. Verschiedene Agenturen würden sich darauf spezialisieren, die Reiseroute zu organisieren, und den Zugang zu den Transportmitteln garantieren. In ihrem eigenen Interesse würden sie darauf achten, dass die Reisenden überall ihre Anschlüsse bekämen und nirgends als unerwünschte Gäste stranden würden. Dieser Prozess würde sich in sozialen Arrangements sowie juristischen und ökonomischen Institutionen fortsetzen, die in ihrer Vielfalt heute kaum vorstellbar sind, da der Markt und die unternehmerische Kreativität nicht bei Gütern wirken dürfen, die heutzutage für öffentliche Güter gehalten werden. Wir können daher schlussfolgern, dass Emigration und Immigration als solche, sofern sie den allgemeinen Rechtsprinzipien in einem Umfeld, in dem alle Ressourcen privat sind, unterliegen, nicht nur frei von allen Problemen und externen Kosten der zwangsweisen Integration sind, sondern vielmehr wichtige Faktoren in der ökonomischen und sozialen Entwicklung sowie in der Reichhaltigkeit und Vielfalt von Kultur und Zivilisation darstellen.7

Probleme durch staatliche Zwangsintervention Dank unserer Analyse können wir den wahren Ursprung der mit der Emigration und Immigration verbundenen Probleme freilegen und identifizieren. Alle entspringen staatlichen Zwangseingriffen auf verschiedenen Ebenen. Zunächst einmal errichten solche Interventionen Grenzen, die jenen Personenverkehr be- oder verhindern, der in gegenseitiger Übereinstimmung verhandelt wurde. Darüber hinaus besteht der Staat auch auf der Einführung verschiedener Integrationsmaßnahmen, seien es direkte (durch sogenannte Antidiskriminierungsgesetze, Gesetze zum Zwecke positiver Diskriminierung etc.) oder indirekte, indem man wichtige Territorien (Straßen, Plätze, Parks) zu öffentlichen Zonen erklärt, die allen frei zugänglich sind. Der Staatsinterventionismus ist der Urheber aller Probleme und Konflikte, die es derzeit in diesem Bereich gibt, weil er die relevanten Eigentumsrechte von „Fremden“ und „Einheimischen“ nicht angemessen festlegt. Die Zwangsmaßnahmen des Staates treten auf zwei Ebenen auf: Erstens kommt es innerhalb der Grenzen eines jeden Nationalstaates unweigerlich zu den typischen Problemen erzwungener Integration und negativer Externalitäten, sobald die Privatisierung von öffentlichen Ressourcen verhindert wird. Zweitens zeigt sich der Staatsinterventionismus auch auf der internationalen Ebene, und zwar durch 7

Wir können uns vorstellen, dass viele unternehmerische Lösungen spontan entstehen würden, wenn man schlicht vergleichend beobachtete, wie man mit den großen Touristenströmen umgeht, die es überall auf der Welt gibt. Transportmittel, Hotels, die Freizeitindustrie, Reiseagenturen und Zwischenhändler aller Art, die Migrantenreisen organisieren und garantieren: sie alle entstünden in einem anarchokapitalistischen Zustand. Wir sollten uns in Erinnerung rufen, dass die Zahl der Touristen und Geschäftsreisenden enorm hoch ist. Spanien z. B., mein eigenes Land, empfängt jedes Jahr mehr als 40 Millionen Touristen, also mehr Menschen, als das Land Einwohner hat.

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8. Eine libertäre Theorie der freien Immigration

die Regulierung grenzüberschreitender Migrationsströme. Der Interventionismus wirkt also auf zwei Arten, die einander widersprechen. Auf der einen Seite legt man den freiwilligen Wanderbewegungen, die zwischen den privaten Parteien vereinbart wurden (Einheimische eines Landes und Ausländer), Steine in den Weg. Auf der anderen Seite fördert man internationale Massenwanderungen durch Subventionen und Vorteile, die der Wohlfahrtsstaat bereithält. Wir erhalten dadurch eine paradoxe Situation. Diejenigen, die das Gesetz vorbehaltlos befolgen möchten, erhalten für ihre Migration keine Erlaubnis, obwohl alle beteiligten Parteien dies gerne hätten. Gleichzeitig ziehen die Existenz öffentlicher Güter und der freie Zugang zu wohlfahrtsstaatlichen Leistungen wie ein Magnet massenhaft (oftmals illegal einreisende) Immigranten an, was zu erheblichen Konflikten und Kosten führt. All dies fördert Ausländerfeindlichkeit und führt zu weiteren interventionistischen Maßnahmen, die das Problem noch verschärfen. Die Bürger sind bei alledem nicht in der Lage, den eigentlichen Ursprung der Schwierigkeiten zu erkennen. In diesem Klima der Verwirrung werden sie leicht Opfer der Demagogie und bleibt ihnen nichts weiter übrig, als Maßnahmen zu unterstützen, die nicht nur widersprüchlich, sondern auch ineffizient und schädlich sind. Schließlich sollten wir nicht vergessen, dass zumindest in Bezug auf die Immigrationsfrage die gegenwärtigen Probleme in der Regel auf der internationalen Ebene sehr viel schwerer wiegen als auf der intranationalen Ebene. Innerhalb eines Nationalstaates kommt es mit der Zeit zu einer spürbar großen ökonomischen, sozialen und kulturellen Homogenisierung. Dadurch sinken die Anreize für interne Massenwanderungen. Auf internationaler Ebene sind die Einkommensunterschiede sehr viel größer, und die enorme Entwicklung der Kommunikationsund Transportmittel macht es einfacher und billiger, von Land zu Land zu reisen. Heute kann man in nur wenigen Stunden von Neu Delhi nach New York oder von Lateinamerika nach Spanien fliegen. Im Falle einer Emigration sind die anfallenden Reisekosten von Nordafrika nach Europa oder von Mexiko in die Vereinigten Staaten sogar noch geringer.

Lösungen für die Probleme heutiger Migrationsströme Die ideale Lösung für all diese Probleme wäre die vollständige Privatisierung aller Ressourcen, die heute als öffentlich angesehen werden, und das Verschwinden jeglicher Staatsintervention auf allen Ebenen der Migrationsfrage. Anders ausgedrückt: Da die hier identifizierten Probleme der schädlichen Wirkung staatlicher Zwangsintervention entspringen – und nicht der Emigration und Immigration per se –, würde ein rein anarchokapitalistisches System den größten Teil der Probleme aus dem Weg räumen. Aber solange Nationalstaaten existieren, müssen wir prozedurale Lösungen finden, die uns erlauben, die Probleme unter den gegenwärtigen Umständen zu beheben.

Grundlagen gegenwärtiger Immigrationsprozesse  

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Dazu haben erst jüngst einige libertäre Theoretiker ein Modell der Sezession und Dezentralisierung entwickelt. Es sieht eine Aufteilung der derzeit hochgradig zentralisierten Nationalstaaten in immer kleinere politische Einheiten vor, die sich günstig auf den Rückgang des Staatsinterventionismus auswirken würde. Der Rückgang ergäbe sich aus dem Wettbewerb der Staaten um neue Bürger und Investitionen (oder um den Verbleib der heimischen). Die inhärente Dynamik dieser Situation würde die Staaten dazu nötigen, sich immer mehr libertärer Politik zu befleißigen. Im Wettbewerb dieser immer kleiner werdenden und dezentralisierteren Staaten spielten Immigrationsströme eine wesentliche Rolle. Sie stellten eine „Abstimmung mit den Füßen“ dar. Sie würden vom Staat verlangen, immer größere Teile seines Steuer- und Interventionsapparates aufzugeben. Hans-Hermann Hoppe schreibt dazu: „Was eine Welt aus zehntausenden eigenständigen Ländern, Regionen und Kantonen und hunderttausenden freien Städten, wie den heutigen „Kuriositäten“ Monaco, Andorra, San Marino, Liechtenstein, Hong Kong und Singapur, und das von ihnen ausgehende Plus an Möglichkeiten ökonomisch motivierter Migration kennzeichnen würde, wären kleine liberale Regierungen, die wirtschaftlich durch Freihandelsabkommen und ein internationales Warengeld wie etwa Gold verbunden wären. Es wäre eine Welt bisher unbekannten ökonomischen Wachstums und unerhörter Prosperität.“8

Die Identifikation sowohl der idealen als auch der prozeduralen Lösungen dieser Probleme befreit uns aber nicht von der Verpflichtung, die Grundlagen zu erforschen, nach denen die Migrationsströme unter den gegenwärtigen Umständen, d. h. angesichts stark interventionistischer Nationalstaaten, stattfinden sollten. Diese Grundlagen sollten mit libertären Idealen kompatibel sein. Gleichzeitig sollten sie den real existierenden Schwierigkeiten und Widersprüchen Rechnung tragen, die mit der Existenz der Nationalstaaten einhergehen. Der folgende Abschnitt analysiert diese Prinzipien.

Grundlagen gegenwärtiger Immigrationsprozesse Aus verschiedenen Gründen ist es unerlässlich, einige Prinzipien aufzustellen, die mit libertären Ideen kompatibel sind und gegenwärtig als Orientierung dienen können. Selbst wenn der von Rothbard, Hoppe und vielen anderen vorgeschlagene Prozess der Staatsauflösung schon auf den Weg gebracht wäre, hätte man keine Garantie dafür, dass die von den jeweiligen dezentralen Regierungen ergriffenen Maßnahmen aus libertärer Sicht korrekt wären. Laut Hoppe löst die „Sezession dieses Problem, da die kleineren Territorien ihre eigenen Zulassungsstandards haben und jeweils unabhängig voneinander bestimmen, wen sie auf ihrem eigenen

8 Hoppe (1996), S. 101. Zum selben Thema siehe auch Rothbard (1994) sowie Kapitel 7 im vorliegenden Buch.

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8. Eine libertäre Theorie der freien Immigration

Territorium zulassen und mit wem sie lieber aus der Ferne kooperieren möchten.“9 Es ist aber gut möglich, dass sich diese Standards auch als interventionistisch herausstellen und Wanderbewegungen verhindern, auf die sich Einheimische und Ausländer geeinigt haben. Nicht nur das! So lange ein Staat (so klein er auch sein mag) besteht und es dort öffentliche Straßen und Flächen sowie unzureichend definierte und schlecht geschützte Eigentumsrechte gibt, kann es dort auch weiterhin Integrationszwang oder andere Formen der Massenokkupation geben. Man denke an die Favelas in Brasilien, die beträchtliche externe Kosten verursachen und die Eigentumsrechte der Einheimischen ernsthaft verletzen. Schließlich müssen die vorgestellten Lösungen nicht nur in die richtige Richtung führen und mit libertären Prinzipien kompatibel sein, sondern auch so praxisnah, dass sie auf die drängendsten Fragen der Gegenwart Antworten liefern (z. B. die Emigration von Mexiko in die USA oder von Nordafrika nach Europa). Kurzum, man sollte eine Reihe von Regeln entwerfen, damit die Immigration nicht für interventionistische Zwecke benutzt wird, die mit der freien Interaktion zwischen Nationen und Individuen im Konflikt stehen. Das erste dieser Prinzipien ist, dass Menschen, die immigrieren, dies auf eigenes Risiko tun. Das bedeutet, dass Immigration auf keinen Fall durch den Wohlfahrtsstaat subventioniert werden darf, etwa durch steuerfinanzierte Leistungen seitens des Staates. Zu derlei Leistungen gehören nicht nur die traditionellen Wohlfahrtsleistungen (Bildung, Gesundheit, Sozialversicherung etc.), sondern auch die kostenlose Nutzung aller öffentlichen Güter. Solche Leistungen – letztendlich das Ergebnis erzwungener Einkommenstransfers unter den gesellschaftlichen Gruppen – werden zu einem künstlichen Magneten, der viele Immigranten anzieht. Damit die negativen Effekte wahr werden, reicht es aus, dass einige (nicht notwendigerweise alle)  Emigrantengruppen die zu erwartenden Leistungen des Wohlfahrtsstaates in ihre Entscheidungsfindung einbeziehen. Unser Argument widerspricht somit nicht der von einigen Autoren vorgebrachten These, die Emigranten trügen sehr viel mehr bei, als der Gesamtwert der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, die sie erhalten (insbesondere in den ersten Jahren ihres Aufenthaltes im neuen Land) betrage. Es reicht vollkommen, wenn bestimmte Gruppen – selbst wenn diese in der Minderheit sind – sich für subventioniert halten. Allein das lässt den widersinnigen Effekt des künstlichen Immigrationsanreizes auftreten, der dann den Bürgern des aufnehmenden Landes zum Schaden gereicht. Der erste Grundsatz ist also, Immigranten kein Anrecht auf irgendwelche wohlfahrtsstaatlichen Leistungen zu geben. Dies wird einige Gruppen davon abhalten, Subventionen für ihre Reise zu erhalten. In Fällen, in denen man annimmt, dass die Beiträge der Immigranten höher sind als die Leistungen, die sie erhalten, sollten sie, um vor Ausbeutung durch das System geschützt zu sein, dazu verpflichtet werden, 9

Hoppe (1996), S. 101.

Grundlagen gegenwärtiger Immigrationsprozesse  

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einen bestimmten Versicherungsschutz abzuschließen. Dies sollte aber auf eigene Verantwortung mit privaten Institutionen geregelt werden. Auf diese Weise würden zwei libertäre Ziele erreicht: die Vermeidung künstlicher Immigrationsförderung durch staatliche Umverteilungspolitik und eine schnellere Enttarnung staatlicher Sozialsicherungsprogramme auf Grundlage des Prinzips der Umlagefinanzierung. Dies würde ebenfalls die Entwicklung privater Systeme fördern, die auf Sparen und Kapitalisierung setzen und Immigranten als neue Kunden anzuwerben versuchen.10 Der zweite Grundsatz, der die aktuelle Politik inspirieren sollte, ist, von allen Immigranten den Nachweis zu fordern, genügend Unterstützung aus eigenen Quellen zu haben und dem Steuerzahler nicht zur Last zu fallen. Mit anderen Worten, Immigranten müssen belegen können, dass sie sich einer neuen sozialen Gruppe anschließen, um dort mit ihrer Arbeit sowie ihren technischen und unternehmerischen Talenten und Ressourcen einen Beitrag zu leisten. Es gibt verschiedene Wege, dieses Prinzip umzusetzen. Keiner davon ist perfekt. Vielleicht wäre es am besten, wenn für jeden Immigranten (und dessen Versorgung) eine einheimische Person oder private Institution bürgen würde, indem sie ihm einen Arbeitsvertrag gäbe, der als Einlage einer bestimmten Geldsumme diente und die Versorgung rechtlich bindend erklärte. Die Marktflexibilität legt es nahe, dass man ausländischen Arbeitern, die gekündigt wurden oder gekündigt haben, vor ihrer Rückführung eine vernünftige Frist setzt, in der sie sich einen neuen Job suchen können. Der dritte Grundsatz fordert, unter keinen Umständen Immigranten das politische Wahlrecht schnell zu gewähren, da dies die Gefahr der politischen Ausbeutung durch Immigrantengruppen mit sich brächte. Diejenigen, die in ein neues Land ziehen, werden voraussichtlich ihre Lebensumstände verbessern; aber sie haben kein Recht, die Mechanismen des politischen Zwangs zu nutzen – die demokratische Wahl –, um eine Politik der Einkommensumverteilung zu unterstützen, oder in den spontanen Prozess der nationalen Märkte einzugreifen, denen sie beitreten. Je stärker das Aufteilen in immer kleinere Staaten voranschreitet, umso mehr verlieren das Wahlrecht und der Stellenwert politischer Wahlen an Bedeutung. Beide werden zunehmend von der „Abstimmung mit den Füßen“ ersetzt. Aber solange der Prozess der Dezentralisierung noch währt, ist das automatische Gewähren politischer Rechte für Immigranten eine Zeitbombe, die im schlimmsten Fall von einer wählenden Mehrheit genutzt werden kann, um den Markt, die Kultur und die Sprache des Empfängerlandes zu zerstören. Erst nach einer langen Zeit, nachdem die Immigranten die kulturellen Prinzipien ihrer neuen Gesellschaft (aller Voraussicht nach) vollständig aufgenommen haben, sollte man erwägen, ihnen die volle 10 Paradoxerweise ist Julian Simon bei aller Begeisterung, mit der er die freie Immigration und deren positiven Effekte rechtfertigt, willens, den Immigranten große ökonomische Nachteile zuzumuten, und zwar nicht nur für den Fall, dass sie in die öffentlichen Sozialversicherungssysteme mehr einzahlen müssen, als sie zurückerhalten, sondern auch für den Fall, dass das (von ihm gutgeheißene) Auktionssystem für Immigrationsrechte „einen großen Teil des Gewinns aus den Taschen der Immigranten in die Taschen der Inländer umverteilt“. Simon (1996), S. 293.

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8. Eine libertäre Theorie der freien Immigration

Staatsbürgerschaft inklusive Wahlrecht zu geben. Das Prinzip der Europäischen Union, wonach Bürger anderer EU-Staaten bei Kommunalwahlen dort wählen gehen, wo sie wohnen, ist in diesem Zusammenhang sehr fragwürdig. Diese Regel könnte die Atmosphäre und Kultur vieler Ortschaften vollkommen stören, und zwar überall, wo eine Mehrheit ausländischer Residenten lebt, wie z. B. in Teilen Spaniens, wo ältere Menschen aus dem Vereinigten Königreich, Deutschland etc. ihren Lebensabend verbringen. Erst nachdem Residenten in ihrer neuen Heimat ein paar Jahre gelebt und dort Eigentumsrechte (an Häusern und anderen Immobilien) erworben haben, wäre es gerechtfertigt, ihnen das Wahlrecht einzuräumen. Der wichtigste Grundsatz besagt schließlich, dass Immigranten allzeit das Gesetz der sozialen Gruppe, die sie aufnimmt, beachten müssen. Vor allem müssen sie die dort geltenden Eigentumsrechte vorbehaltlos respektieren. Jede Verletzung dieser Rechte sollte nicht nur durch die Strafen geahndet werden, die im entsprechenden Strafrecht vorgesehen sind, sondern auch durch die Ausweisung des straffällig gewordenen Immigranten. Auf diese Weise würde das Phänomen der Massenbesetzung (man denke an die bereits erwähnten Favelas in Brasilien, die im Allgemeinen auf Land gebaut wurden, das anderen Leuten gehört) vermieden werden. Wir sehen also, dass die offenkundigsten Probleme der Immigration der Tatsache geschuldet sind, dass es keine klare Festlegung und strikte Wahrung der Eigentumsrechte gibt. Das bedeutet, dass Immigranten oft hohe externe Kosten für die Einheimischen verursachen. Dies führt zu ernsthaften Ausbrüchen von Ausländerfeindlichkeit und Gewalt, die wiederum hohe soziale Kosten mit sich bringen und rechtliche wie politische Ergebnisse produzieren, deren Kosten von Unschuldigen getragen werden müssen. Derlei Konflikte würden minimiert, wenn Eigentumsrechte effektiv umgesetzt und auf Ressourcen ausgedehnt würden, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt als öffentliche Ressourcen angesehen werden. Bis die vollständige Privatisierung umgesetzt ist, muss die Nutzung öffentlicher Güter reguliert werden, um die Probleme der Massenmigration, die wir erwähnt haben, zu verhindern.11

11 Das oben genannte Prinzip sollte heute sowohl auf die intranationale als auch auf die internationale Immigration angewendet werden. Innerhalb der Grenzen der heutigen Nationalstaaten dürfte eine größere kulturelle und ökonomische Uniformität im Allgemeinen zwar sehr wohl bedeuten, dass die Probleme keine großen sind und ein Großteil der externen Kosten (durch Bettler und Landstreicher) durch die konsistente Anwendung der genannten Prinzipien gedeckt werden könnten. Aber im Kontext internationaler Immigration ist die rasche Umsetzung der genannten Prinzipien ein drängendes Problem. Auf jeden Fall sind alternative Maßnahmen, die manchmal – auch von angeblich libertären Theoretikern – vorgeschlagen werden und Einwanderungsquoten oder Auktionen für Einwanderungsrechte vorsehen, nicht zu empfehlen, da sie im Widerspruch zu den libertären Idealen stehen.

Schlussfolgerung  

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Schlussfolgerung Die Maßnahmen, die wir hier präsentiert haben, werden nicht alle derzeitigen Probleme, die sich durch Immigrationsströme ergeben, lösen können. Sie werden diese aber reduzieren und in die Richtung führen, die von den Freunden der Freiheit gewünscht wird. Wie auch immer, die endgültige Lösung dieser Probleme wird erst erreicht sein, wenn die heutigen Staaten in kleine politische Einheiten aufgeteilt sind, in denen die öffentlichen Güter vollständig privatisiert sind.

9. Krise und Reform der sozialen Absicherung1 Einleitung Die Probleme, die von den öffentlichen Systemen sozialer Absicherung auf­ geworfen werden, können in zwei große Bereiche unterteilt werden. Als erstes wäre das Problem der Pensionen zu nennen, die bei Ruhestand, Verwitwung, Verwaisung und Behinderung anfallen, also reguläre Zahlungen im Falle von Überleben, Behinderung und Tod. An zweiter Stelle kommt das Problem medizinischer Unterstützung, das ebenfalls von großer Bedeutung ist. Wir werden diese beiden Probleme getrennt voneinander behandeln und dabei dem Thema der Pensionen besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen, da dies vielleicht das gravierendste Problem in den westlichen Ländern darstellt, und zwar mit Blick auf die Größe der Verbindlichkeiten und auf die Schwierigkeiten, die mit den bisherigen Reformversuchen auf diesem Gebiet verbunden sind. Wir werden daher den ersten Abschnitt der Diagnose des Problems widmen, das sich durch die soziale Absicherung auf dem Gebiet der Pensionen stellt. Wir berücksichtigen dabei sowohl technische als auch ethische Standpunkte. Wir werden zweitens schlussfolgern, dass es in allen staatlichen Sicherungssystemen einen inhärenten Widerspruch gibt, und drittens ein libertäres Modell sozialer Absicherung präsentieren, das wir für angemessener halten. Viertens werden wir einen Reformprozess vorschlagen, der sich an unserem Ziel orientiert und die Spannungen minimiert, die Reformen naturgemäß aufwerfen. Wir werden darüber hinaus aus verschiedenen Blickwinkeln analysieren, welche Strategie die beste ist, um die Reform zum Erfolg zu führen. Schließlich werden wir einen separaten Abschnitt ausschließlich dem Problem öffentlicher Krankenversicherung widmen.

Diagnose des Problems Die Krise der öffentlichen Sozialversicherung, die kaum mehr bezweifelt wird, ist zweifacher Natur. Auf der einen Seite handelt es sich um eine technische Krise ökonomischer und versicherungsmathematischer Natur, auf der anderen Seite haben wir es mit einer ethischen Krise zu tun.

1

Dieser Aufsatz wurde auf dem Regionaltreffen der Mont Pèlerin Society in Rio de Janeiro (5.–9. September 1993) präsentiert und im Journal des économistes et des études humaines, Paris und Aix-en-Provence, Band 5, Nummer 1, März 1994, S. 127–155, veröffentlicht.

Diagnose des Problems 

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Technische Probleme Erstens, am einfachsten zu erkennen sind zunächst die technischen Probleme. Man sollte vor allem darauf hinweisen, dass das umlagefinanzierte System der sozialen Absicherung dazu führt, die Sparquote eines Landes substanziell zu senken. Dem ist deshalb so, weil die jährlich ausgezahlten Pensionen durch Steu­ ern finanziert werden, aber auch durch die Sozialversicherungsabgaben, die jedes Jahr zwangsweise von den Beitragszahlern einbehalten werden. Dies erschwert das Sparen, und zwar nicht nur weil die Belastungen in Form von Steuern und Sozialabgaben in vielen Fällen fast untragbar sind, sondern auch weil viele Bürger im Allgemeinen glauben oder zumindest bis jetzt geglaubt haben, künftige Generationen würden in der gleichen Art und Weise fortfahren, wie sie es bisher gemacht haben.2 Es ist sehr schwer, den schädlichen Einfluss, den die soziale Absicherung auf die Sparquote der einheimischen Wirtschaft bis heute aufgestaut hat, zu minimieren. So zeigt z. B. die spanische Sparquote in Relation zum Bruttoinlandsprodukt einen prozentualen Rückgang von etwa 27 % für 1975 auf 19 % für 1992.3 Der Rückgang der Ersparnisse dürfte bei der Entstehung und Zuspitzung aktueller und früherer Wirtschaftskrisen eine große Rolle gespielt haben. Das gilt vor allem für neue Investmentprojekte, die an Profitabilität verloren haben, weil es an (zins) günstigen Darlehen mangelt, die es aufgrund unzureichender Ansparungen nicht gibt. Wäre die Sparquote signifikant höher gewesen, hätten viele Investmentprojekte, die entweder aufgegeben oder umstrukturiert werden mussten, umgesetzt werden können, und zwar dank des Überschusses an finanziellen Ressourcen, der jedem Anstieg realer Ersparnisse folgt und der sowohl dem Handel wie auch der Industrie günstige Finanzierungen zu niedrigen Zinssätzen ermöglicht.4 Zweitens sollte man  – auch aus technischen und ökonomischen Gründen  – klarstellen, dass der Glaube, die Unternehmensbeiträge zur sozialen Absicherung würden vom Arbeitgeber bezahlt, ein Irrtum ist. Unabhängig davon, wie das System rein rechtlich funktioniert, wird, ökonomisch gesehen, dieser Beitragsanteil letztlich immer von den Arbeitnehmern bezahlt. Da dieser Beitragsanteil einen Teil 2

Dieses theoretische Prinzip wurde 1971 von Martin Feldstein (1974) anhand des amerikanischen Sozialsystems empirisch illustriert. Außerdem legen Simulationsstudien nahe, dass das beobachtete Ausmaß, das die ungedeckten Sozialversicherungssysteme vieler Industrienationen der 1980er Jahre hatten, den langfristigen Kapitalstock dieser Länder um 20–30 % reduzieren könnte; siehe Kotlikoff (1979) und Auerbach / Kotlikoff (1987). Gary Becker indes bezweifelt, dass die Sozialversicherung die Sparrate privater Haushalte reduziere; siehe ­Becker (1986), S. 9. In Anmerkung 13 kritisieren wir Beckers neoklassische Rationalisierung öffentlicher Sozialversicherungssysteme. 3 Siehe meinen Aufsatz Huerta de Soto (1985), S. 328, wo ich mich ebenfalls auf die Literatur beziehe, die sich mit der Schweiz, Frankreich und Japan auseinandersetzt. 4 An anderer Stelle habe ich versucht, die Effekte der Rentenplanersparnisse in die Österreichische Theorie der Konjunkturzyklen, wie sie von Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek entwickelt wurde, zu integrieren. Siehe dazu Huerta de Soto (1984) und Huerta de Soto (1980).

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9. Krise und Reform der sozialen Absicherung

der absoluten Arbeitskosten des Arbeitgebers ausmachen, macht es für ihn keinen Unterschied, ob er ihn dem Arbeitnehmer direkt ausbezahlt oder an dessen statt in das staatliche Sozialversicherungssystem einbezahlt. Diese wichtige ökonomische Erkenntnis verdanken wir Ludwig von Mises, der 1922 schrieb: „Denn die Versicherungsbeiträge gehen immer zu Lasten des Lohnes, egal ob sie von den Unternehmen oder von den Arbeitern erhoben werden. Auch das, was der Unternehmer für die Versicherung aufwenden muss, belastet die Grenzproduktivität der Arbeit und schmälert damit den Arbeitslohn.“5

Drittens, und eher von einer technischen und versicherungsmathematischen Warte aus betrachtet, wirkt die Last, welche die soziale Absicherung mit sich bringt, für die arbeitende Generation wie ein Schneeball. Dies ist das unvermeidliche Ergebnis der graduellen Bevölkerungsalterung, die wir in den meisten westlichen Ländern beobachten, und ergibt sich, weil das Zahlenverhältnis von Rentnern und Berufstätigen sich kontinuierlich zugunsten der Ruheständler verschiebt. So konnte man für 1993 angeben, dass in Spanien zwei Arbeitnehmer auf einen Pensionär kamen. Wenn das gegenwärtige System der sozialen Absicherung beibehalten wird, dann ist für den Beginn des 21. Jahrhunderts zu erwarten, dass jeder Arbeitnehmer einen Ruheständler unterstützen muss. Zudem drängt die Inflation ständig dazu, die zu zahlenden Renten neu zu bewerten.6 5

Siehe Mises (1922), S. 442. Fast dreißig Jahre später wendete Mises (1966), S. 617, die gleiche Idee sehr detailliert auf alle „sozialen Gewinne“ an und setzte sich auch mit der Frage auseinander, wer die Kosten des öffentlichen Sozialsystems zu tragen habe; siehe Mises (1974), S. 83–86. Erwähnt sei auch eine interessante empirische Illustration dieser wichtigen Argumentation, die John A. Prittain (1971) mithilfe historische Daten verschiedener Länder erstellte. 6 Dieser Trend gleicht denen in anderen entwickelten Ländern, obwohl es einige Unterschiede gibt. So kamen z. B. 1974 in Frankreich vier Beitragszahler auf einen Rentner und nur zehn Jahre später, 1984, ging das Verhältnis auf 3,4 Beitragszahler pro Rentner zurück. Die Geschwindigkeit, mit der diese Relation schrumpft, nimmt derzeit zu. In den Vereinigten Staaten kamen 1950 siebzehn Arbeiter auf einen Rentner, 1970 lag das Verhältnis bei 3:1. Es wird geschätzt, dass zu Beginn des nächsten Jahrhunderts das Verhältnis auf 2:1 fallen wird. Für 2040 wird erwartet, dass zwei Fünftel der Gesamtbevölkerung in der USA über 64 Jahre sein werden; siehe Kotlikoff (1987), S. 415. Dieser Trend ist auch in den weniger entwickelten Ländern zu beobachten. Im Rahmen ihres ökonomischen und kulturellen Wachstums steigen dort der Lebensstandard und das Niveau der Gesundheitsvorsorge, während die Geburtenrate nach und nach sinkt. Es ist offenbar so, dass der Anstieg der Lebenserwartung und die Überalterung der Bevölkerung mit dem Reifeprozess der ökonomischen Entwicklung einhergehen; siehe Huerta de Soto (1988). Schließlich sollte man hervorheben, dass das Sozialversicherungssystem schon immer dem Wunsch entsprang, diejenigen zu bevorteilen, die kurz vor der Verrentung standen. Immer dann, wenn man die Überalterung der Bevölkerung nicht so spürte, gab man dieser Personengruppe ein lebenslanges Rentenanrecht, obwohl sie keinerlei Beiträge gezahlt hatte. Die demagogische Ausnutzung des Sozialversicherungssystems (das in den ersten Jahren immer vergleichsweise niedrige Kosten aufwarf), die inflationsbedingte Zerstörung der menschlichen Spargewohnheiten und die keynesianische Wirtschaftspolitik sind die Hauptursachen dafür, dass das öffentliche Sozialversicherungssystem in fast allen Länder Fuß fassen konnte; siehe Mises (1974), S. 86–93.

Diagnose des Problems 

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All dies erklärt, warum die pensionsverusachte Last der arbeitenden Bevölkerung untragbar wird. Das gilt nicht nur für jedes Land im Allgemeinen, sondern auch für die Steuerzahler im Besonderen, weil ihnen die Wirtschaftsrezession und die wachsende Steuerlast zu schaffen machen. Es ist daher immer zweifelhafter, ob das öffentliche Sozialversicherungssystem in der Lage sein wird, die Pensionen pflichtgemäß zu zahlen. Es ist durchaus vorstellbar, dass wir eine Zeit erleben werden, in der die arbeitende Bevölkerung sich mehr oder weniger von ihren „Verpflichtungen“ gegenüber denen, die bereits im Ruhestand sind, lossagt, weil sie die finanzielle Last, die diese bedeuten, nicht mehr tragen kann. Es ist daher notwendig, eine tiefgreifende Reform der gegenwärtigen Sozialversicherungs­ systeme durchzuführen, schrittweise ein neues einzuführen, in dem nicht arbeitende Gruppen, die in Ruhestand gehen, in der Lage sind, sich selbst zu versorgen, ohne zwangsweise von den finanziellen Beiträgen der jüngeren Generationen abhängig zu sein, die noch zur Arbeit gehen. Das vierte und vielleicht wichtigste Argument der Wirtschaftstheorie gegen die soziale Absicherung richtet sich gegen deren Zwangscharakter. In der Tat konstituiert das öffentliche Sozialversicherungssystem einen der wichtigsten Fälle allgemeiner institutioneller Aggression gegen die Bürger der westlichen Länder.7 Es ist unmöglich, die perversen Effekte dieses Zwangs zu minimieren. Das System stört die freien und spontanen menschlichen Interaktionen und die kreative Entwicklung der unternehmerischen Funktion. Das gilt für alle Akteure, die von diesem System betroffen sind (Firmen, Arbeiter, Rentner, Waisen, Verwirtwete, Behinderte, Kranke, Versicherungsunternehmen, Finanzinstitute, Krankenhäuser, Ärzte, Sparer und Investoren).8 Zuammen mit den Vorbehalten gegen das Sparen 7 Siehe – neben Kapitel 4 in diesem Buch – Huerta de Soto (2013), wo ich vorschlage, unter Sozialismus jede Form der institutionalisierten Aggression gegen die unternehmerische Funktion zu verstehen, und eine integrierte Theorie zur theoretischen Unmöglichkeit des Sozialismus und des Interventionismus entwickle, die auch die unvermeidbaren Effekte berücksichtigt, die infolge der Abwesenheit von Kreativität und Koordination entstehen, nämlich Korruption und moralischer Verfall. Meine Sozialismustheorie entstand ganz natürlich, und zwar durch die Verschmelzung der Österreichischen Theorie der unternehmerischen Funktion, wie sie hauptsächlich von Kirzner entwickelt worden ist, mit der Theorie des Zwangs als Hauptmerkmal des Sozialismus, die insbesondere Murray N. Rothbard und Hans-Hermann Hoppe (1989), S. 2, zu verdanken ist. Übrigens kann man unschwer erkennen, dass – folgt man dem bekannten Klassifikationsschema zur Einteilung der Interventionsarten, das wir Rothbard verdanken – das Sozialversicherungssystem ein typischer Fall binärer Aggression ist, in dem der Staat mit Gewalt einen Austausch zwischen ihm und dem Bürger durchsetzt; siehe Rothbard (1970b), S. 9 und 135 f. 8 Folgt man Friedman / Friedman (1980), S. 102, dann wird die Sozialversicherung „von allen Seiten angefeindet. Die Leistungsempfänger beschweren sich, dass die Auszahlungen nicht für den Lebensstandard ausreichen, den sie glaubten, halten zu dürfen. Die Menschen, die in das Sozialversicherungssystem einzahlen, beschweren sich, dass sie eine schwere Last zu tragen haben. Die Arbeitgeber beschweren sich, dass die Kosten der Sozialversicherung, die sie dem Arbeitnehmer in Rechnung stellen müssen, dessen Einkommen schmälern und ihm so den Anreiz nehmen, die Arbeit überhaupt anzunehmen. Und die Steuerzahler beschweren sich, dass die ungedeckten Forderungen des Sozialversicherungssystems auf viele Billionen

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9. Krise und Reform der sozialen Absicherung

verursacht der Zwang nicht nur massive Fehlallokationen von Arbeit und Kapital9, sondern – und dies ist sogar viel wichtiger – verhindert auch unternehmerische Entdeckungen sowie die kreative Schaffung und Übermittlung notwendiger Informationen, um neue Lösungen für die unzähligen Probleme auszuprobieren, die durch die Institution öffentlicher Sozialversicherungssysteme begünstigt werden. Auf diesem Wege werden soziale Ungleichheiten ständig verschärft und bleiben individuelle Pläne unkoordiniert.10

Ethische Probleme Die technischen, ökonomischen und versicherungsmathematischen Probleme, die wir im vorangegangenen Abschnitt diskutiert haben, stehen nicht alleine, sondern werden von signifikanten und ernsthaften Problemen ethisch-politischer Natur begleitet. Hinzu kommt, dass das soziale Sicherungssystem auf einem veralteten Paternalismus fußt und in der Sache nicht weiterhilft, weil es Konflikte zwischen den Generationen schürt. Aufgrund seiner Inflexibilität beeinträchtigt es die Möglichkeiten älterer Bürger, sich menschlich und beruflich fortzubilden. Außerdem basiert es auf Konzepten wie „soziale Gerechtigkeit“ und „Einkommensumverteilung“, die Libertäre nicht gutheißen können. Wir werden jedes dieser Probleme getrennt voneinander diskutieren. Erstens, das soziale Sicherungssystem basiert auf der paternalistischen Idee, derzufolge Menschen ihrer Natur gemäß nicht vorausschauend sind, was es notwendig mache, ein verpflichtendes und allumfassendes soziales Sicherungssystem zu etablieren. Diese Idee ist aber in der heutigen Zeit vollkommen unbegründet. Es Dollars ansteigen und dass selbst die derzeit hohen Steuern dafür bald nicht mehr reichen. In der Tat sind alle Beschwerden gerechtfertigt.“ Auf S. 106 distanzieren sich die Friedmans von Beckers Analyse, die wir in Fußnote 13 kritisieren werden, und sprechen ein grundsätzliches Phänomen an: „Der Unterschied zwischen der Sozialversicherung und früheren Absicherungen ist der, dass die Sozialversicherung verpflichtend und unpersönlich ist. Frühere Absicherungen waren freiwillig und persönlich. Moralische Verantwortung ist ein individuelles Thema, kein gesellschaftliches Thema. Kinder halfen ihren Eltern aus Liebe und Pflichtgefühl, jetzt unterstützen sie die Eltern eines anderen, unter Zwang und aus Angst. Früher stärkten die Transferleistungen die Familienbande, das Zwangssystem schwächt sie.“ 9 Zu den Effekten der Sozialversicherung auf die Allokation von Kapital und Arbeit vgl. die Analyse von Roger W. Garrison (1983). 10 Siehe Hayek (2005), Kapitel 19. Hayek schlussfolgert dort auf S. 395: „Es kann wirklich kaum ein Zweifel darüber bestehen, dass für Aufgaben von der Größenordnung beispielsweise des Gesundheitsdienstes für eine ganze Nation, die einzige umfassende Organisation nicht die leistungsfähigste ist, nicht einmal für die Nutzung des verfügbaren Wissens; noch weniger förderlich ist sie einer raschen Entwicklung und Verbreitung neuer Kenntnisse. Wie auf vielen anderen Gebieten erfordert die Komplexität der Aufgabe eine Koordinationstechnik, die nicht auf einer bewussten Meisterung und Kontrolle der Teile durch eine leitende Behörde beruht, sondern durch einen unpersönlichen Mechanismus geleitet wird.“ Vgl. dazu auch ­Israel M. Kirzner (1991), der in seiner tiefschürfenden Analyse ähnlich argumentiert und das Thema noch genauer abhandelt.

Diagnose des Problems 

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ist schwer zu verstehen, warum man einerseits den Menschen für reif genug hält, seine Regierung zu wählen, ihn andererseits aber für unfähig hält, das Problem seines eigenen Ruhestandes selbst zu lösen. Mit anderen Worten, die paternalistischen Argumente für eine soziale Absicherung in einem demokratischen Umfeld wie dem unseren bergen eindeutig ein Paradox: Die öffentlichen Angelegenheiten werden in Übereinstimmung mit den Wünschen des Wählers geregelt, von dem der Gesetzgeber wiederum meint, er könne die eigenen Belange nicht regeln.11 Die Rolle des Staates könnte also zumindest auf ein Minimum sozialer Hilfe für jene Minderheit reduziert werden, die aus verschiedenen Gründen (Mangel an Voraussicht, Unglück etc.) später ins Alter kommen, ohne für ihre Belange selbst vorgesorgt zu haben. Was aber heutzutage passiert, ist offenkundig absurd: Weil eine Minderheit der Bevölkerung nicht beizeiten für den Ruhestand vorsorgen kann, wird der ganzen Bevölkerung die Zwangsteilnahme am staatlichen Sozialsystem verordnet. So wird sie daran gehindert, große Teile ihrer Ressourcen für ihr Alter so anzulegen, wie sie es für profitabel und angemessen hält. Soziale Absicherung ist daher immer ein Angriff auf die Freiheit aller Bürger. Genauso bedenklich wäre es, wenn man aufgrund der Tatsache, dass eine Minderheit nur mühsam zu ihren Mahlzeiten kommt, ein System einführte, das die gesamte Bevölkerung dazu verpflichtete, in der Kantine zu essen. Besonders schwer wiegt jedoch der Mangel an Ethik. Man bedenke nur, wie bereits erwähnt wurde, dass die soziale Absicherung letztendlich vollständig vom Arbeitnehmer bezahlt wird, und man daher sagen kann, dass diese um einen erheblichen Teil ihres Lohns gebracht werden, den sie nicht dazu benutzen können, ihren Ruhestand so abzusichern, wie sie es angesichts ihrer persönlichen Umstände für optimal halten.12 Zweitens müssen wir daran erinnern, dass immer dann, wenn eine freie Wirtschaft durch regulierende Staatseingriffe mit Gewalt gestört wird, Konflikte und Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen geschürt werden, die mehr oder weniger die Stelle jenes Netzwerks freiwilliger und friedlicher Austauschbeziehungen einnehmen, das für die freie Gesellschaft so typisch ist. Dies ist insbesondere im Falle der sozialen Absicherung offenkundig. Eigentlich hatte man lange, bevor das öffentliche Sozialversicherungssystem aufkam – das auf der Umlagefinanzierung und der Idee gründet, junge Leute, die arbeiten, die Pensionen derjenigen 11 Ludwig von Mises (1996), S. 613, schrieb 1949 als erster über diese Idee. Friedrich A. von Hayek (2005), S. 393, hat sie vollständig übernommen und schrieb elf Jahre später, das Sozialversicherungssystem „schafft die paradoxe Situation, dass dieselbe Mehrheit des Volkes, dessen angebliche Unfähigkeit, für sich selbst vernünftig zu wählen, den Vorwand dafür bildet, einen Großteil ihres Einkommens für sie zu verwalten, nun als Kollektiv aufgefordert wird, zu entscheiden, wie die individuellen Einkommen verwendet werden sollen.“ 12 Ludwig von Mises (1996), S. 617, schlussfolgert, dass die „Sozialversicherung die Arbeitgeber nicht dazu anreizt, mehr Arbeiter zu beschäftigen. Stattdessen zwingt sie den Lohnempfänger, auf einen Teil des ihm zur Verfügung stehenden Einkommens zu verzichten. Sie nimmt dem Arbeitnehmer die Freiheit, seinen Haushalt gemäß seiner eigenen Entscheidungen zu führen.“

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9. Krise und Reform der sozialen Absicherung

bezahlen zu lassen, die im Ruhestand sind –, das Problem der Altersvorsorge auf verschiedenen selbstgewählten Wegen gelöst. Diese haben keine Konflikte und Spannungen zwischen den Generationen verursacht. Intergenerationelle Konflikte wiegen vor allem heutzutage schwer, und es scheint sehr schwierig zu sein, irgendeine politische Entscheidung über das soziale Absicherungssystem zu treffen, ohne Spannungen zwischen der arbeitenden Generation und der Generation im Ruhestand zu provozieren. Da das System aus finanziellen und technischen Gründen nicht beibehalten werden kann, schiebt man den schwarzen Peter vor allem den Pensionären zu, deren Finanzierung zunehmend schwieriger wird.13 13

Ich stimme nicht mit Gary Beckers neoklassischer Rationalisierung des öffentlichen Sozialversicherungssystems überein. Gemäß Becker wären Kinder froh darüber, einen Sozialvertrag mit ihren Eltern einzugehen. Sie würden – im Gegenzug für die Verpflichtung der Eltern, ihren Kindern das Maß an öffentlichem Wohl zu geben, das diese derzeit erfahren – ihre Eltern, sollten diese einst alt sein, gerne im gleichen Umfang bedenken; siehe Becker (1991), S. 373. Unseres Erachtens ist Beckers Analyse aus den gleichen Gründen methodologisch fehlgeleitet, die einige Theoretiker der Österreichischen Schule der Nationalökonomie (in ihrer kritischen Analyse des an Walras orientierten neoklassischen Paradigmas) in der Debatte zur Unmöglichkeit der Wirtschaftsrechnung im Sozialismus dargelegt haben. Wir kritisieren insbesondere die Verkürzungen der statischen Gleichgewichtsanalyse und das von Becker verwendete Rationalitätsverständnis, aber auch den Maximierungsansatz von Robbins, dem die Akteure in Beckers Theorie der Familie folgen. Dieser für die Chicagoer Schule typische methodologische Ansatz wurde von Israel M. Kirzner (1990) brillant kritisiert. Beckers Analyse scheint eine reine Ad-hoc-Rationalisierung einiger Phänomen zu sein. Sie entspringt der Ansicht, dass Menschen das kriegen, was sie wollen. Eine dynamische Theorie des gesellschaftlichen Prozesses, der von unternehmerischer Kreativität und von Anstrengungen zur Koordination angetrieben wird, d. h. von lebenden Menschen mit einer großen Bandbreite an Gefühlen, Überzeugungen, Zielen und Wertmaßstäben, fehlt in Beckers Analyse völlig. Das erklärt, warum in der typisch szientistischen Tradition der Chicagoer Schule die institutionalisierte Aggression, auf der die Sozialversicherung gründet, von Becker nicht einmal erwähnt wird und ihn überhaupt nicht zu kümmern scheint. Außerdem glaubt er, dazu beigetragen zu haben, dass man heute das weitverbreitete Eingreifen des Staates in familiäre Angelegenheiten besser versteht; und auch, wie öffentliche Ausgaben für ältere Menschen und die Erziehung der Kinder dazu beitragen, die Lücke zu füllen, die der Zusammenbruch gesellschaftlicher Normen hinterlassen hat. Becker scheint den Kern der von Hayek herausgearbeiteten Unterscheidung zwischen dem Familienrecht im materiellen Sinne, das sich evolutionär herausgebildet hat, und der Gesetzgebung für staatliche Befehle, mit denen ein öffentliches Sozialversicherungssystem eingerichtet wird, zu verkennen. Ersteres ist das spontane und nicht intendierte Ergebnis gesellschaftlicher Interaktionen, während letztere die typische Verkörperung institutionalisierter und willkürlicher Aggression (Sozialismus) gegen eine bestimmte Stelle am Gesellschaftskörper darstellt. Wir sehen hier die typischen Effekte der theoretischen Unmöglichkeit, bestimmte Ziele zu erreichen, weil es keine Koordination gibt und auch keinen kreativen Versuch, neue Lösungen zu finden, dafür aber eine systematische Korruption der Moral. Aus diesen Gründen bleiben wir dabei, dass die Wirklichkeit genau das Gegenteil der von Becker unterstellten Realität ist. Die Sozialversicherung füllt also nicht die Lücke, die der Zusammenbruch sozialer Normen verursacht hat, sondern ist einer der Gründe, die zu Korruption und Zerstörung moralischer Werte und sozialer Normen führen. Die Sozialversicherung, sowie der Sozialismus in all seinen Farben, lässt sich also viel besser mit dem szientistischen Fehler des Konstruktivismus und dem politischen Druck einschlägiger Interessengruppen erklären als mit dem spontanen Verschwinden traditioneller Familienwerte (siehe auch den letzten Abschnitt in Fußnote 8).

Diagnose des Problems 

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Die Situation ähnelt der, die entsteht, wenn die Freiheit auf dem Arbeitsmarkt endet und es infolge aller Arten institutioneller und gewerkschaftlicher Einschränkungen zu Arbeitslosigkeit kommt. Dann entstehen Konflikte und Spannungen zwischen den unterschiedlichen sozialen Gruppen, weil die Personen, die arbeiten, glauben, ihre Jobs wären von jungen Leuten und denen, die nicht in den Ruhestand treten möchten, bedroht. Es gibt einen ständigen Druck, Regeln aufzustellen, die das Alter für Berufsanfänger anheben und das Rentenalter verbindlich senken. Dies beeinträchtigt die betroffenen sozialen Gruppen (junge Leute, Arbeitslose, ältere Leute) ernsthaft. Wir können also schlussfolgern, dass die soziale Absicherung ein destabilisierendes Instrument moderner Gesellschaften ist, das deren harmonischen und friedlichen Fortschritt gefährdet und zu schwerwiegenden Spannungen und Konflikten führt, die man unmöglich lösen kann. Drittens, die Situation der Menschen, die rigide und unflexibel in Übereinstimmung mit den Regeln der Sozialversicherung in den Ruhestand verabschiedet werden, ist besonders verstörend. Einer der höchst negativen Aspekte des staatlichen Sozialsicherungssystems ist, dass ihre inflexible und uniforme Natur für die gesamte Bevölkerung gilt. Man kann nicht verstehen, warum es keiner Firma, Institution und Einzelperson freisteht, den Übergang vom Arbeitsleben in den Ruhestand auf die Art und Weise zu gestalten, wie sie es unter den gegebenen Umständen für angemessen oder am wenigsten nachteilig hält. In einer freien Gesellschaft würden Ruhestandsregelungen spontan entstehen und jedem Bürger erlauben, die bestmögliche Art des Übergangs in den Ruhestand zu wählen. Es würden Institutionen entstehen, die den Rentnern schrittweisen Ruhestand oder Teilzeitarbeit anböten, damit schwere psychologische und physische Traumata gelindert würden, die viele ältere Menschen in unserer Gesellschaft erleiden, wenn das öffentliche Sozialversicherungssystem sie zwingt, in den Ruhestand zu treten. Hayek brachte es auf den Punkt, als er schrieb: „Es ist bedeutsam, daß wir in den beiden Hauptgebieten, die der Staat zu monopolisieren droht – in der Altersversorgung und in der Krankenversorgung – überall dort, wo der Staat noch nicht die völlige Kontrolle in der Hand hat, Zeugen der raschesten spontanen Entwicklung neuer Methoden sind, einer Vielfalt von neuen Experimenten, die fast sicher neue Lösungen für allgemeine Probleme bringen werden, Lösungen, die sich kein Vorausplanen vorstellen kann.“14

Viertens und letztens müssen wir die Idee kritisieren, die soziale Absicherung sei gut für das Ideal der „sozialen Gerechtigkeit“, da es die Einkommen zugunsten der am wenigsten begünstigten sozialen Gruppen umverteile. Es sollte zunächst aus ökonomischer Sicht hervorgehoben werden, dass die Effekte der Einkommensumverteilungspolitik vor allem den weniger begünstigten Gruppen der Gesellschaft schaden. Das ist deshalb so, weil es in einer freien Gesellschaft unmöglich ist, die 14

Hayek (2005), S. 396.

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Prozesse der Produktion von denen der Einkommensumverteilung zu separieren. In einer Marktwirtschaft wird die Produktion im Hinblick auf die erwarteten Gewinne organisiert. Folglich ist es unmöglich, die Ergebnisse durch eine Politik der Einkommensumverteilung zu modifizieren, ohne dabei den Produktionsprozess selbst ernsthaft zu beeinträchtigen. Einkommensumverteilungspolitik entzieht den Produktionsagenten eines Landes Energie und macht so das ganze Land ärmer, vor allem die weniger bevorteilten Klassen. Außerdem weist die Einkommensumverteilungspolitik nichts Fortschrittliches auf, weil sie die Menschen mit den geringsten Einkommen davon abhält, auf der Einkommensleiter nach oben zu steigen. Wie Hayek zu recht gezeigt hat, ist das Ideal der sozialen Gerechtigkeit besonders gefährlich und muss daher Gegenstand libertärer Kritik sein. Zunächst einmal ist das Konzept der sozialen Gerechtigkeit bedeutungsleer und mit den Prinzipien, nach denen eine freie Gesellschaft leben sollte, inkompatibel. Wie wir bereits erwähnt haben, ermöglicht eine freie Gesellschaft eine harmonische und dynamische Wirtschaftsentwicklung, führt aber auch zu einer ungleichen und ständig wechselnden Einkommensverteilung. Versuche, die Ergebnisse des freiheitlichen Prozesses anzugleichen, können nur einmal ausgeführt werden, da sie den Prozess selbst zerstören – und mit ihm die Grundlagen der freien Gesellschaft, die wir verteidigen sollten. Außerdem gewährt das Ideal der sozialen Gerechtigkeit dem Staat eine enorme Macht über seine Bürger, die mit unserer Vorstellung von Freiheit unvereinbar ist. In einer freien Gesellschaft sollte es keine andere Gerechtigkeit geben als die, die durch allgemeine Gesetze konstituiert wird, welche ohne Ansehen der Person auf alle Bürger angewendet werden und kein a priori-Wissen darüber erlauben, wie deren Interaktionen im Einzelfall ausgehen werden. Die einzige Gleichheit, die Libertäre verteidigen sollten, ist also die Gleichheit vor den Augen des Gesetzes, so wie wir sie gerade definiert haben. Niemals sollten sie für eine Gleichheit der Ergebnisse eintreten, die mit der Freiheit grundsätzlich unvereinbar ist und die auf dem irrigen Konzept der sozialen Gerechtigkeit basiert.15

Der inhärente Widerspruch in der Sozialversicherung16 Das öffentliche Sozialversicherungssystem enthielt von Anfang an einen unauflösbaren Widerspruch, der für die meisten seiner Probleme die Hauptursache ist. Es sollte gleichzeitig Versicherungssystem und Wohlfahrtssystem in einem sein. Doch beide Systeme sind überhaupt nicht miteinander zu vereinbaren. Die Sozialversicherung funktioniert als Versicherung, wenn sie die Leistungen in Übereinstimmung mit dem Vertrag auszahlt, der bestimmt, dass höhere Pensio­ nen denjenigen ausgezahlt werden, die über einen längeren Zeitraum hinweg hö 15

Hayek (1976a). Das entspricht in etwa dem Titel des Buches von Peter J. Ferrara (1980), das dieser im Untertitel The Inherent Contradiction nannte. 16

Diagnose des Problems 

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here Beiträge eingezahlt haben. Diese Zahlungen werden dem Leistungsempfänger unabhängig davon ausgezahlt, ob er sie braucht oder nicht. Dieses Charakteristikum (Leistungen in Abhängigkeit der Beiträge und Zahlungen unabhängig von der tatsächlichen Notwendigkeit) teilen das Sozialversicherungssystem und die privaten Versicherungsinstitute. Beide gründen in dieser Hinsicht auf den selben Prinzipien. Aber das System der sozialen Absicherung will gleichzeitig auch als Wohlfahrtssystem fungieren. Es nimmt dessen Funktion in dem Moment wahr, in dem es Leistungen an Gruppen zahlt, die als bedürftig angesehen werden, ohne dass Rücksicht auf die Summe und den Zeitraum der gezahlten Beiträge genommen würde. Außerdem versucht das System in Übereinstimmung mit seiner sozialen Funktion Einkommensumverteilungen zu bewirken, die für fair gehalten werden und, wie erwähnt, aus libertärer Sicht nicht akzeptiert werden können. In der Fachliteratur spricht man auch gerne davon, dass es bei dem einen der beschriebenen Ziele um individuelle Gleichheit (Versicherung) gehe, und beim anderen um soziale Gleichheit (Wohlfahrt). Wie auch immer, beide Funktionen sind strikt und grundsätzlich unvereinbar. Wenn man versucht, beide Funktionen derselben Institution öffentlicher Sozialversicherung anzuvertrauen, dann heißt das im Endergebnis, dass die Institution aus Sicht des Individuums eine höchst mangelhafte Versicherung ist, und aus sozialer Sicht ein sehr unzulängliches und unfaires Instrument sozialer Wohlfahrt. Das ist deshalb so, weil es unmöglich ist, zwei widersprüchliche Ziele gleichzeitig zu verfolgen: das eine, das private Versicherungen verfolgen, die nach dem Prinzip der Beitragsgerechtigkeit ihre Leistungen ohne Ansehen der Bedürftigkeit des Leistungsempfängers gewähren, und das andere, das der soziale Gerechtigkeit und Einkommensumverteilung gilt und dementsprechend vorsieht, dass Leistungen an bedürftige Menschen ausgezahlt werden, unabhängig davon, ob sie in das System eingezahlt haben oder nicht. Der Wunsch, das Ziel der sozialen Gerechtigkeit unter Anwendung des Sozialversicherungssystems zu verfolgen, beeinträchtigt das Prinzip der individuellen Gleichheit (Versicherung) enorm, da, wie wir gesehen haben, die Umlagefinanzierung der Sozialversicherung einen höchst negativen Effekt auf die Sparquote eines Landes hat und eine Dynamik schafft, die es unmöglich macht, eingegangene Verpflichtungen zu erfüllen. Angesichts der wachsenden finanziellen Belastung durch die Arbeitslosen wird der Zeitpunkt kommen, zu dem die Sozialversicherung ihre Leistungen reduzieren muss und die Renten, welche die langjährigen Einzahler erwarten, nicht länger zahlen kann. Letztere erhalten auch nicht anteilig die Gewinne, die sie bei einer echten privaten Altersversicherung aus den Ressourcen erhalten würde, die man dort für sie angespart hätte, um ihren Ruhestand abzusichern.17

17

Dieses theoretische Prinzip wird von Ferrara / L ott (1985) veranschaulicht.

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9. Krise und Reform der sozialen Absicherung

Dieser Mangel an Gleichheit zwischen dem, was beigetragen wurde, und dem, was man aus dem System erhält, bedeutet, dass so ein System notgedrungen auf Zwang aufbaut, der alle Bürger in die Pflicht nimmt. Dem ist dehalb so, weil niemand erwartet, dass ein System wie die Sozialversicherung funktionieren würde, wenn es den Leuten frei stünde, beizutragen oder nicht. Wer eine größere Summe erhielte, als er eingezahlt hat, würde dem System treu bleiben, während der, der mehr zahlt als er erhielte, ausstiege. Das finanzielle Gleichgewicht bliebe somit nicht erhalten. Außerdem bedeutet die Tatsache, dass die staatliche Sozialversicherung Zwang impliziert, für die meisten Menschen, dass die einzig angemessene Instanz, sie zu führen, die Regierung ist. Dies setzt das System einer Reihe politischer Einflüsse aus, die es im Grunde instabil machen. Politiker neigen dazu, das System für ihre eigenen Ziele zu nutzen, oft auf Kosten der Beitragszahler und der Wirtschaft des Landes im Allgemeinen. In den meisten westlichen Demokratien gehört der kurzfristige Stimmenkauf, der mit demagogischen Veränderungen, Reformen oder verbesserten Sozialleistungen bezahlt wird, längst zur gängigen Praxis. Man muss sich auch darüber im Klaren sein, dass diese Tendenz sowohl den machthabenden politischen Parteien als auch der Opposition zu eigen ist.18 Zudem erreicht die soziale Absicherung nicht die Ziele sozialer Wohlfahrt, da die Zahlungen unabhängig davon vorgenommen werden, ob die Empfänger sie brauchen oder nicht. Oft fällt es jungen Menschen niederer Einkommensgruppen schwer, den Unterhalt für ihre Familie aufzubringen, weil sie einen wesentlichen Teil ihres Einkommens hergeben müssen, damit man die Renten älterer Menschen bezahlen kann, die weniger Not leiden oder gleich mehrere Renten gleichzeitig beziehen.19

18 Gemäß Hayek (2005), S. 401, ist es „leicht zu sehen, wie diese völlige Aufgabe des Versicherungscharakters der Einrichtung und die Anerkennung des Rechtes aller über einem bestimmten Alter (und aller Familienangehörigen und Arbeitsunfähigen) auf ein „angemessenes“ Einkommen, das laufend von der Mehrheit festgesetzt wird (von der die Unterstützungs­ empfänger einen großen Teil bilden), das ganze System zu einem Werkzeug der Politik, zu einem Spielball für stimmenfangende Demagogen machen muß.“ 19 Milton und Rose Friedman haben noch etwas veranschaulicht: „Neben der Transferleistung von jung zu alt enthält die Sozialversicherung auch eine Transferleistung von den weniger gut Begüterten zu den besser Situierten. Zwar ist es richtig, dass das Leistungstableau vor allem Personen mit niedrigerem Einkommen bevorteilt, aber dieser Effekt wird durch einen anderen mehr als ausgeglichen. Kinder aus armen Familien beginnen ihr Arbeitsleben tendenziell früher als andere und fangen somit auch früher an, Steuern zu zahlen. Kinder aus Familien mit höherem Einkommen beginnen sehr viel später. Andererseits haben Menschen mit geringerem Einkommen im Durchschnitt eine geringere Lebenserwartung als Menschen mit höherem Einkommen. Im Endergebnis führt das dazu, dass Arme tendenziell länger Steuern zahlen, aber nicht solange Leistungen beziehen wie die Reichen – und das alles im Dienste, um den Armen zu helfen!“ Friedman / Friedman (1980), S. 106 f.

Das ideale Modell einer Sozialversicherung aus libertärer Perspektive  

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Am Ende wird deutlich, dass die Versicherungselemente der sozialen Absicherung systematisch das soziale Wohlfahrtsprogramm zerstören, das die Sozialversicherung umzusetzen versucht, und umgekehrt. Bevor die wesentlichen Widersprüche zwischen den beiden Zielen sozialer Absicherung nicht erkannt sind, können weder die Probleme der Sozialversicherung verstanden werden noch eine ernsthafte Reform umgesetzt werden. Es ist keine seriöse Reform der Sozialversicherung denkbar, die nicht auf dem Grundprinzip ruhte, die beiden Ziele voneinander zu trennen und durch unterschiedliche Institutionen zu erreichen. Das Ziel der sozialen Wohlfahrt könnte anfänglich20 durch ein staatliches System sozialer Wohlfahrt verfolgt werden, das aus dem Staatshaushalt finanziert würde (also ein System der Umlagefinanzierung) und die Leistungen an diejenigen zahlte, die sie benötigen. Dadurch könnte allen bedürftigen Bürgern eine Mindestrente garantiert werden. Im Gegensatz dazu sollten die Renten über dem Mindestniveau im Einklang mit den Wünschen und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Bürgers sowie in Abhängigkeit zur Anzahl der Jahre und der Gesamtsumme, die der Bürger eingezahlt hat, festgelegt werden, und zwar durch ein individuelles und kollektives System der privaten Altersvorsorge, d. h. auf Grundlage der traditionellen Prinzipien und Techniken, die im Sektor der privaten Lebensversicherungen üblich sind. Nur so können die beiden Ziele, die unserer Gesellschaft so wichtig sind, ohne Widersprüche oder ernsthafte ökonomische Probleme erreicht werden. Jede Teilreform der öffentlichen Sozialversicherungssysteme muss in dem Wissen ausgeführt werden, dass der bereits genannte Widerspruch die Wurzel aller Probleme ist. Der richtige Weg für die Reform besteht daher zunächst in der Identifizierung des Widerspruchs und in seiner schrittweisen Reduzierung und Auflösung.

Das ideale Modell einer Sozialversicherung aus libertärer Perspektive Die technischen und ethischen Probleme, die wir im vorigen Abschnitt diskutiert haben, könnten vermieden werden, wenn die finanziellen Ressourcen für die Zahlung von Altersrenten, Witwen- und Waisenrenten sowie Berufsunfähigkeitsrenten 20

Ich schreibe auch deshalb „anfänglich“, weil der Staat ineffizient ist, wenn es darum geht, bedürftigen Menschen zu helfen. In dieser Frage kann er weder technisch noch ökonomisch im Wettbewerb bestehen, in dem Unternehmer scharenweise untereinander konkurrieren und ihre Anstrengungen und Geschicklichkeit darauf fokussieren, Bedürfnisse armer Menschen zu entdecken und ständig neue Wege zu finden und zu testen, wie man diese Probleme unter den gegebenen räumlichen und zeitlichen Bedingungen lösen kann. Wenn es um mensch­ liche Solidarität geht, dann ist die freie menschliche Interaktion und die freie Ausübung der unternehmerischen Funktion, also die private Wohltätigkeit, sehr viel effizienter und ethisch ansprechender als der systematische Zwang des Staates (Sozialismus).

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9. Krise und Reform der sozialen Absicherung

aus drei unterschiedlichen Quellen stammen würden. Die erste Quelle wäre die Sozialhilfe, die der Mindestabsicherung dient und von Individuen bzw. subsidiär vom Staat finanziert wird, und zwar nur zugunsten derer, die – aus welchem Grund auch immer – nicht in der Lage sind, ihren Beitrag für dieses Minimum selbst aufzubringen. An zweiter Stelle stünde die Altersrente. Sie wäre die wichtigste Quelle und würde aus der privaten Altersvorsorge gespeist, die entweder individuell oder kollektiv organisiert wäre. An dritter Stelle wären die individuellen Ersparnisse zu erwähnen, die eine Person im Laufe ihres Lebens ansammelt. Private Pensionspläne sind private Systeme, die im Wesentlichen auf versicherungsmathematische Verfahren und Verträge aus der Lebensversicherungsbranche zurückgreifen. Im Zusammenspiel von Individuen, Firmen, Firmengruppen und Berufsvereinigungen wird ein Finanzfonds geschaffen, in den man ein Arbeitsleben lang einzahlt. Derlei Fonds sind in der Lage, dem Arbeitnehmer eine Betriebs­ rente für den Rest seines Lebens zu zahlen, sobald er in Ruhestand geht. Sie sehen auch Leistungen für den Fall von Tod oder Behinderung vor (Renten für den Verlust von Ehepartner, Eltern oder Arbeitsfähigkeit). Dieses so leicht zu beschreibende System ist spontan entstanden21 und hat sich in westlichen Industrieländern sehr weit entwickelt. Mit ihm können zwei ernste Probleme auf einen Schlag gelöst werden. Erstens kann so die inländische Sparquote rasch ansteigen, was der ökonomischen Entwicklung und dem Ende der Krise zuträglich wäre. Zweitens löst das System die bereits genannten technischen und ethischen Probleme der Sozialversicherung, die sich aus dem Umstand ergeben, dass die Umlagefinanzierung eine Generation für die andere verantwortlich macht. Die Vorteile des Spareffektes entstehen deshalb, weil die Beiträge der Arbeitnehmer, die derzeit in die Sozialversicherung eingezahlt und von dort direkt an die Ruheständler ausgezahlt werden, nun in einen Pensionsfonds fließen würden, der die Ressourcen, die dann der heimischen Wirtschaft zur Verfügung stünden, 21

„Es ist etwas paradox, dass der Staat heute seine Behauptung von der Überlegenheit der ausschließlichen, eingleisigen Entwicklung durch Behörden in einem Gebiet vorbringt, das vielleicht deutlicher als irgend ein anderes zeigt, dass neue Institutionen nicht aus einem Plan, sondern in einem allmählichen Entwicklungsprozess entstehen. Unsere moderne Vorstellung, durch Versicherungen gegen Risiken vorzusorgen, ist nicht dadurch entstanden, dass irgend jemand den Bedarf gesehen hat und eine rationale Lösung dafür ersonnen hätte. Uns ist die Wirkungsweise der Versicherung so vertraut, daß uns die Vorstellung naheliegt, ein gescheiter Mann würde nach etwas Überlegung ihre Prinzipien rasch entdecken. Tatsächlich ist aber die Art, in der sich das Versicherungswesen entwickelt hat, einer der sprechendsten Kommentare über die Anmaßung jener, die die künftige Entwicklung auf einen einzigen behördlich erzwungenen Weg beschränken wollen. Es ist mit Recht gesagt worden, … daß wir unsere gegenwärtige Technik einem allmählichen Entstehen verdanken, in dem die sukzessiven Schritte aus ungezählten Beiträgen anonymer oder historischer Einzelner schließlich ein Werk von solcher Vollkommenheit geschaffen haben, daß im Vergleich mit dem Ganzen all die gescheiten Entwürfe durch einzelne schöpferische Köpfe sehr primitiv scheinen müssen.“ Hayek (2005), S. 395.

Das ideale Modell einer Sozialversicherung aus libertärer Perspektive  

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enorm ansteigen ließe. Investitionen würden stimuliert und Firmen in die Lage versetzt, Projekte umzusetzen, die heute aufgrund mangelnder Ersparnisse nicht möglich zu sein scheinen. Ein System privater Pensionspläne würde mittelfristig folgendes ermöglichen: (1) die Finanzierung von Ruhestandszahlungen ohne Spannungen oder finanzielle Probleme und ohne negativen Effekt auf die heimische Sparquote eines Landes – ganz im Gegenteil, (2) eine Reduktion der Arbeitskosten und eine Senkung des inländischen Arbeitslosenniveaus durch ein Kapitalversicherungssystem, das geringere Beiträge fordert als jene, die gegenwärtig in das Sozialversicherungssystem fließen. Gleichzeitig kann die Beibehaltung des derzeitigen Rentenzahlungsniveaus garantiert werden. Dieser Effekt ist leicht erklärbar: Gegenwärtig gibt es keine Verzinsung der Sozialversicherungsbeiträge. Ein privater Pensionsplan würde aber eine finanzielle Rendite auf die Beiträge ergeben und damit die Kosten für die Leistungen entscheidend reduzieren. (3) Die realen Arbeitnehmerlöhne steigen. Dies wäre die Folge einer Wirtschaftsstimulierung, die der stärkeren Kapitalakkumulation zu verdanken wäre; und diese wiederum dem Überschuss an Finanzfonds, die nun zinsgünstig für produktive Investments zur Verfügung stünden.22 Außerdem würde ein privater Pensionsplan das Problem lösen, das momentan dadurch entsteht, dass eine Generation eine andere unterstützt. Die unvermeid­ lichen sozialen Spannungen und Konflikte, die aus dem Sozialversicherungssystem entstehen, könnten so vermieden werden. Wenn sich im Verlauf ihres Arbeitslebens ein Pensionsfonds aufbaut, dann sind die Angestellten bei Erreichen des Rentenalters nicht mehr von der nachfolgenden Generation abhängig, sondern können aus dem Fonds leben, den sie während ihrer Schaffenszeit aufgebaut haben. Es geht hier einfach nur um die Anwendung elementarer Prinzipien der Kostenrevision im öffentlichen Sektor. Kosten müssen erfasst werden, wenn sie anfallen, und nicht später. Anders gesagt, die Kosten für die Ruhestandsbezüge müssen auf die Produkte umgelegt werden, die produziert werden, während die Menschen arbeiten (System privater Pensionspläne), und nicht auf die Güter und Dienstleistungen, die später von anderen Menschen produziert werden, die nichts mit denjenigen zu tun haben, die in den Ruhestand getreten sind (Sozialversicherungssystem, das auf einer Umlagefinanzierung beruht). Wenn man jede Generation für sich selbst sorgen lässt, dann umgeht man Generationenkonflikte, für die es keine Lösung gibt und die nur das künstliche Resultat der Sozialversicherung sind.

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„Ein Mensch, der dazu gezwungen wird, auf eigene Rechnung für sein Alter vorzu­sorgen, muss einen Teil seines Einkommens sparen oder eine Versicherungspolice abschließen. Eine Nation kann nicht prosperieren, wenn ihre Mitglieder sich nicht darüber im klaren sind, dass das einzige, was ihre Umstände verbessern kann, mehr und hochwertigere Produktion ist. Das wiederum kann nur durch Sparen und Kapitalakkumulation erreicht werden.“ Mises (1974), S. 92–93.

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Schließlich eröffnen private Pensionspläne vielfältige Lösungen und Alterna­ tiven bei der Gestaltung der Verträge, die Pensionszahlungen, Rentenalter und System bestimmen. Private Pensionspläne stellen einen Mechanismus dar, mit dem man der Flexibilität genügen kann, die jede Firma und jedes Individuum wünscht, und der – aus Sicht des Arbeiters – gut passt, wenn es um einen flexibleren und humaneren Umgang mit der Ruhestandsfrage geht. Wie würde der Markt das Problem insgesamt lösen, das sich momentan durch das Sozialversicherungssystem ergibt? Grundsätzlich ist es sinnlos,  a priori zu theoretisieren, wie der Markt ein Problem lösen würde, um die Nachfrage für ein neues Gut oder eine neue Dienstleistung im Allgemeinen zu befriedigen.23 Wir können allerdings von den Erfahrungen profitieren, die sich spontan in den Institutionen der Lebensversicherungen entwickelt haben, sowie aus der Entwicklung der privaten Pensionspläne, die es in anderen Ländern gibt. Man kann allgemein zwei Gruppen von Instrumenten zur Finanzierung privater Pensionspläne unterscheiden, und zwar in Abhängigkeit davon, ob eine Lebensversicherungsfirma daran beteiligt ist oder nicht. Im ersten Fall regelt die Versicherungspolice bzw. der Versicherungsvertrag detailliert sämtliche Leistungen und Besonderheiten des Pensionsplans. Im zweiten Fall wird ein Pensionsfonds benutzt. Dieser kann, muss aber nicht, eine Rechtskörperschaft sein. Der Pensionsfonds wird von einem professionellen Manager verwaltet, und ein Finanzinstitut sorgt dafür, dass die entsprechenden Investitionen vorgenommen und hinterlegt werden. Diese Nichtversicherungspensionspläne sind in der Regel für Personengruppen gedacht, die groß genug sind, um die versicherungsmathematische Stabilität garantieren zu können, und denen die Versicherungsfrage daher nicht so wichtig ist. Die Hauptvorteile der Finanzierungsinstrumente, die Lebensversicherungsfirmen bereithalten, sind technischer und administrativer Natur. Was Ersteres betrifft, so sei daran erinnert, dass Lebensversicherungen bereits seit knapp 200 Jahren ein ähnliches Problem wie das der Pensionsfonds optimal lösen. Gemeint ist, dass sie für den Fall der Fälle (Überleben oder Tod) Kapitalzahlungen bzw. Pensionen garantieren. Die Lebensversicherung hat ihre Rolle als Institution trotz diverser widriger Umstände ökonomischer und historischer Provenienz mit großer Perfektion gespielt, auch dann noch, als andere Finanzinstitutionen nicht mehr in der 23 Natürlich können wir das Wissen, das morgen von Unternehmern geschaffen wird, nicht heute dazu nutzen, um alle Probleme und Herausforderungen in Bezug auf die vorgeschlagene Privatisierung der Sozialversicherung zu bewältigen. Trotzdem sind wir in diesem speziellen Feld in der glücklichen Lage, wichtige Hinweise entdecken zu können, wenn wir die Geschichte der Lebensversicherungen und privaten Vorsorgeinstitutionen studieren. Wie Kirzner klar herausgestellt hat, ist der „Umstand, der uns die Sicht auf die vermeintlich vorherbestimmte Zukunft des Kapitalismus verstellt, auch derjenige, der uns bei in der Ausübung der unternehmerischen Funktion nicht an ein Knappheitsschema bindet. Insofern ist es exakt die Abwesenheit der Vorherbestimmtheit und Vorhersehbarkeit, die uns paradoxerweise erklärt, warum wir langfristig in die Vitalität und den Fortschritt der kapitalistischen Ökonomie vertrauen können.“ Kirzner (1985), S. 168.

Strategie zur Reform der Sozialversicherung 

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Lage waren, ohne Finanzhilfe des Staates zu funktionieren. Dies wurde dank einer Reihe versicherungsmathematischer, finanzieller und vertraglicher Prinzipien möglich, die über viele Generationen hinweg entwickelt und getestet wurden und sich immer noch spontan weiterentwickeln.24 Verwaltungstechnisch besehen, ist es bei Lebensversicherungen üblich, für eine große Anzahl von Policen uniforme und computergestützte Prozesse zu benutzen. Zusammen mit dem entsprechenden versicherungsmathematischen Diensten können so wichtige Skaleneffekte im Management der Pensionspläne erzielt werden. Und schließlich bieten Lebensversicherungsfirmen ein sehr breites Spektrum privater Rentenverträge an, um die vielfältigen Bedürfnisse am Markt zu bedienen. Ungeachtet all dessen kann man sich viele spezielle Fälle denken, in denen ein versicherungsfreier Fonds, der unabhängig von der Firma gemanagt wird, am besten passt. Das wäre hauptsächlich bei großen Firmen der Fall, die einen Fonds anbieten könnten, der sich mit den größten Lebensversicherungen messen könnte. Man sollte aber betonen, dass es bei solchen Fonds notwendig ist, so zu tun, als ob er an eine Lebensversicherung gebunden wäre, obwohl er es nicht. Es gilt also, die versicherungsmathematischen und konservativen Finanzierungskriterien sowie die Liquiditätsregeln zu beachten, die zu dieser Art von Institution gehören.

Strategie zur Reform der Sozialversicherung Es ist an der Zeit, einige Überlegungen zu den Problemen anzustellen, die eine libertäre Politikstrategie aufwirft. Gemeint ist: Wie kann man eine angemessene Reform erreichen, und zwar sowohl im Bereich der Sozialversicherungen als auch in jedem anderen Bereich, der Teil des libertären Programms ist?

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Übrigens kann auch die traditionelle Institution der Lebensversicherung korrumpiert werden, insbesondere dann, wenn man die Prinzipien im Namen einer Deregulation oder einer Vermischung mit dem Bankgeschäft aufgibt. Ein historisches Beispiel dieser Korruption in der Lebensversicherungsbranche ist das von John Maynard Keynes in den Jahren, als er Vorstandsvorsitzender der National Mutual Life Assurance Society in London war. Unter seinem Vorsitz investierte man nicht länger in festverzinsliche Obligationen, sondern bevorzugte Ad-hocAktienbeteiligungen. Nicht nur das! Man bevorzugte auch unorthodoxe Buchführungsricht­ linien wie die Bewertung zum gegenwärtigen Marktwert und schüttete an Versicherungsnehmer Dividenden auf unrealisierte Gewinne aus. Alle diese typisch keynesianischen Attacken gegen traditionelle Prinzipien kosteten ihn fast die Insolvenz seiner Firma, als die große Depression aufkam. Keynes’ negativer Einfluss auf die britische Lebensversicherungsbranche ist teilweise bis heute spürbar und hat auch den amerikanischen Markt beeinflusst. Eine Rückbesinnung auf die traditierten Grundprinzipien der Lebensversicherungsbranche ist eine Vorbedingung für jede ernsthafte Reform, die eine Privatisierung des öffentlichen Sozial­ versicherungssystems anstrebt. Siehe Davenport (1975), S. 224 f.

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Einige grundsätzliche Strategieprinzipien Die größte Gefahr jeder libertären Strategie ist es, in einen alltäglichen politischen Pragmatismus zu verfallen und dabei die eigentlichen Ziele aus den Augen zu verlieren, nur weil man meint, es sei politisch unmöglich, sie kurzfristig zu erreichen. Diese Strategie ist sehr gefährlich und hat in der Vergangenheit der libertären Ideologie sehr geschadet. Pragmatismus hat immer bedeutet, dass man, nur um politisch an der Macht zu bleiben, systematisch Kompromisse einging und politische Entscheidungen akzeptierte, die oft dem widersprachen, was aus libertärer Sicht das eigentliche Ziel sein sollte. Über all die Diskussionen, die ausschließlich um das gingen, was kurzfristig politisch möglich ist, und die eigentlichen Ziele außen vorließen, wurden die notwendigen Detailstudien und die Verbreitung der Kernziele vergessen. All dies hatte einen kontinuierlichen Verlust der Inhalte unserer Ideologie zur Folge. In vielen Fällen wurden sie durch andere Programme und Ideologien vollkommen entstellt und verwässert. Die richtige Strategie für eine libertäre Reform muss daher auf einem Prinzip basieren, das eine duale Natur aufweist. Diese Strategie besteht einerseits darin, ständig weiter zu forschen und die Öffentlichkeit über die letztendlichen Ziele aufzuklären, die es mittel- bis langfristig zu erreichen gilt, und andererseits in der Umsetzung einer kurzfristigen Politik, die uns diesen Zielen näherbringt und mit ihnen in Einklang steht. Nur diese Strategie erlaubt es, das in der Zukunft zu ermöglichen, was heute politisch scheinbar nur schwer zu erreichen ist.25 Kehren wir nun zu unserem Thema der Sozialversicherung zurück. In den zwei folgenden Abschnitten werden wir einen Reformprozess vorschlagen, der so gestaltet ist, dass er der beschriebenen Strategie Rechnung trägt.

Reformschritte in der Sozialversicherung Tabelle 1 zeigt die vier grundsätzlichen Stufen einer Sozialversicherungsreform. Diese sind von rechts nach links zu lesen, im Sinne von „kaum bis sehr fortschrittlich“ aus libertärer Sicht. Die erste Stufe ist durch die Existenz einer klassisch staatlichen Sozialversicherung à la Bismarck charakterisiert.

25 Das Standardwerk dieser Argumentationslinie ist das hervorragende Buch des späten William H. Hutt (1971).

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Strategie zur Reform der Sozialversicherung  Tabelle 1 Reformstufen der Sozialversicherung 4. Stufe

3. Stufe

2. Stufe

1. Stufe

1. Sozialhilfe (Bedürftigkeitsnachweis und haushaltsfinanziert)

1. Mindestrente (haushaltsfinanziert)

Ebenen: 1. Mindestrente (haushaltsfinanziert)

Klassische staat­ liche Sozial­ versicherung.

2. private Lebensversicherung und Pensionsfonds (individuell bzw. kollektiv, auf freiwilliger Basis)

2. private Rentenversicherung (für 50–60 % des Gehalts obligatorisch, für den Rest freiwillig)

2. Beiträge zur Sozial­versicherung (für 60–70 % des Gehalts)

Ein Niveau (für 9­ 0–100 % des Gehalts)

3. Individuelle ­Ersparnisse

3. Individuelle ­Ersparnisse 4. private Rentenversicherung (kollektiv bzw. individuell) 5. Individuelle ­Ersparnisse

Tabelle 2 Relative Positionierung der verschiedenen Ländersysteme nach Fortschrittlichkeit (aus Sicht der individuellen Freiheit), absteigend Schweiz Großbritannien Frankreich Spanien Italien

Was die zweite Stufe (Tabelle 1) auszeichnet, ist eine Reduktion der garantierten Leistungen aus der staatlichen Sozialversicherung und, folgerichtig, ein erster Freiraum für die Entwicklung privater Pensionspläne. Es sollte auch bedacht werden, dass auf der zweiten Stufe eine Abkopplung bei der Finanzierung des Sozialversicherungssystems stattfindet. Das heißt, man spricht plötzlich über eine Min-

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9. Krise und Reform der sozialen Absicherung

destrente für alle Bürger, die über den Staatshaushalt finanziert werden soll. Und obendrauf kommen die garantierten Renten der staatlichen Sozialversicherung. Die Umstellung von der ersten auf die zweite Stufe scheinen einige sozialistische Regierungen in Europa, die momentan an der Macht sind (Spanien, Italien etc.), zu vollziehen, wenn auch zögerlich. Auf der dritten Stufe wird das System, obwohl dessen Einbindung in das öffentliche Vorsorgesystem verpflichtend bleibt, in zwei Ebenen unterteilt. Die erste Ebene zeichnet – wie schon zuvor die zweite Stufe – eine haushaltsfinanzierte und staatlich garantierte Mindestrente aus. Auf der zweiten Ebene kann es, wenn auch verpflichtend, private Pensionspläne geben, wobei das öffentliche Sozialversicherungssystem nur mehr eine subsidiäre Rolle (wie heute noch in England) oder gar keine Rolle (wie in der Schweiz) spielt. Die vierte Stufe entspricht dem letztendlichen Ziel, an dem wir uns orientieren sollten. Hier geht es – wie bereits dargelegt – darum, die Rolle des Staates so weit wie möglich zu reduzieren, und zwar durch Etablierung eines Wohlfahrtssystems, das Mindestleistungen garantiert, allerdings nur für Bedürftigkeitsfälle.26 Die restliche Vorsorge wäre privat (individuelle und kollektive Rentenpläne). Gemäß des oben genannten Plans ist es offensichtlich, dass die Reform der Sozialversicherung aus libertärer Perspektive folgende Charakteristika aufweisen muss: (1) Sie muss in unserer Tabelle immer von rechts nach links voranschreiten. Sie muss also immer in Richtung auf die vierte Stufe zeigen. (2)  Auf keinen Fall dürfen politische Entscheidungen getroffen werden, die einen Schritt in die entgegengesetzte Richtung bedeuten würden (Kriterium der Kohärenz mit den Endzielen). (3) Kurzfristig muss das Modell zur Reform der Sozialversicherung sicherlich wagemutiger sein als das, was viele Regierungen momentan planen. Will sagen, wir müssen eine kurzfristige Strategie zur Reform der Sozialversicherung ent­wickeln, die einen direkten Sprung von Stufe 1 zu Stufe 3 ermöglicht. Wir werden nun die grundsätzlichen Merkmale einer solchen Reform vorstellen.

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Eine fünfte Stufe könnte darin bestehen, selbst die Hilfe für Arme mit offensichtlicher Bedürftigkeit zu privatisieren und in die Hände der privaten Wohlfahrt zu legen. Aus Gründen, die in Fußnote 21 genannt wurden, wäre dieses vollkommen private System sehr viel ethischer und effizienter als die staatlichen Interventionen, selbst wenn es nur eine begrenzte und rein subsidiäre Rolle wahrnähme.

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Grundsätze für ein kurzfristiges libertäres Politikprojekt zur Reform der Sozialversicherung Die vorgeschlagene Reform zeigt, wie man von der ersten Stufe zur dritten gelangt. Einer späteren Studie bleibt es überlassen, herauszufinden, wie – sobald die Reform konsolidiert ist – das notwendige zweite Kapitel aussehen soll (der Übergang von der dritten zur vierten Stufe).27 Die Reform der Sozialversicherung sollte gemäß der folgenden groben Leitlinien durchgeführt werden: (1) Private Pensionspläne sollten erlaubt und unterstützt werden. Ihre Entwicklung sollte begünstigt werden und alle jungen Arbeitnehmer berücksichtigen, die am Anfang ihres beruflichen Lebens stehen. Auf diese Weise wird die derzeitige Gruppe der Ruheständler und Berufstätigen verschwinden und der Zuspitzung der gegenwärtigen Probleme eine Grenze gezogen. (2) Zunächst muss ein Rentenmindestniveau etabliert werden, das über den Haushalt finanziert wird (und etwa bei 50 % des Mindestlohnes liegen könnte). Die zweite Ebene mag vorläufig verpflichtend bleiben, und zwar bis zu einem bestimmten Niveau (nicht höher als 50 % des eigentlichen Gehalts). Das Management der zweiten Ebene sollte allerdings bei den privaten Pensionsplänen liegen. Nur die Firmen, die ihren Fonds nicht vertraglich auslagern wollen, tragen weiterhin zum staatlichen Sozialversicherungssystems bei und bleiben ein Teil desselben. Es ist logisch, dass private Pensionspläne Renten garantieren können, die über dem verpflichtenden Minimum der zweiten Ebene liegen. (3) Teile der Beiträge, die gegenwärtig in die Sozialversicherungen eingezahlt werden, dürfen für Einzahlungen in private Pensionspläne einbehalten werden. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen anderer Länder (Vereinigtes Königreich und Chile) können Firmen, die sich für das private Management auf der zweiten Ebene entscheiden, ihre Beiträge in das Sozialversicherungssystem herabsetzen, müssen aber weiterhin ihre reduzierten Beiträge leisten, um dabei zu helfen, die gegenwärtigen Pensionen zu zahlen, die solange ausgezahlt werden, bis sie auslaufen. (4) Der Staat muss weiterhin die Renten der bereits im Ruhestand befindlichen Rentner zahlen. Finanziert werden diese durch Steuern und die verbleibenden Beiträge, die nach wie vor in das Sozialversicherungssystem gezahlt werden. (5) Es wäre notwendig, den derzeit Berufstätigen freie Hand bei der Entscheidung zu lassen, ob sie im alten Sozialversicherungssystem bleiben oder in ein neues 27

Das ist die dringendste Reform in vielen kontinentaleuropäischen und südamerikanischen Staaten. In denjenigen Ländern, wo die notwendigen Reformen bereits weit vorangeschritten sind (z. B. Schweiz, USA, Chile), könnte der letzte Sprung auf die vierte und fünfte Stufe geplant werden.

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System, das auf privaten Pensionsplänen basiert, wechseln wollen. Um dies zu tun, müsste man dem Angestellten, der in der Mitte seines Berufslebens sich dazu entscheidet, in ein neues privates Versicherungssystem eingegliedert zu werden, einen Gutschein im Gegenwert zur buchhalterischen Summe der bisher geleisteten Beiträge zum staatlichen Sozialversicherungssystem zuerkennen. (6)  Die Gruppe der jetzigen Rentner würde innerhalb einer Generation verschwinden. Das bedeutet, dass die finanziellen Kosten der Systemumstellung in Zukunft graduell abnähmen. Dadurch würde eine steigende Anzahl von Sozialversicherungsbeiträgen frei werden, die dazu genutzt werden könnten, private Pensionspläne auszustatten. So würden die Gesamtkosten der Firmen und Arbeiternehmer gesenkt, die zwei Systeme unterhalten (das neue private Rentensystem und das langsam auslaufende alte System). (7) Unser Vorschlag sieht vor, dass Firmen, die sich dagegen entscheiden, private Pensionspläne für die Rentenregelung ihrer Angestellten einzuführen, weiter in das Sozialversicherungssystem einzahlen. Es scheint aber ratsam zu sein, die Schaffung privater Pensionspläne zu fördern (etwa durch entsprechende steuer­liche Behandlung28), damit das staatliche Sozialversicherungssystem tatsächlich zu einem Auslaufsystem wird, das absehbar endet, weil es immer weniger von Firmen und Individuen in Anspruch genommen wird (wie in Großbritannien). (8) Zum Schluss wird man entscheiden müssen, ob die Umstellung auf das neue System privater Pensionspläne das Ergebnis einer Entscheidung auf Firmenebene (wie in Großbritannien, wo die Firmen, die sich zur Einrichtung privater Pensionspläne entschlossen hatten, alle Angestellten eingliedern mussten, unabhängig davon, ob sie dem Rentenalter nahe waren oder nicht) oder einer Entscheidung auf der individuellen Ebene (wie in Chile – oder jetzt in England – das in dieser Hinsicht sehr viel progressiver ist) sein soll. Beide Systeme haben ihre Vor- und Nachteile und erfordern eine detaillierte Analyse der technischen und politischen Aspekte. Eine solche Analyse liegt jedoch deutlich außerhalb unseres Fokus.29 28

Ich stimme vollkommen mit Roger Garrison überein, wenn er ausführt, dass „politisch mögliche Reformen eigene Störungen hervorrufen, wie etwa Steuererleichterungen für Altersersparnisse. Diese Störungen, obwohl bedauerlich, sind die unvermeidbare Folge einer erfolgreichen Strategie, die darauf abzielt, das ineffiziente Sozialversicherungssystem abzuschaffen.“ Garrison (1983), S. 529. 29 Wir fassen nun die Charakteristika dieser beiden Modelle für die Reform des Sozial­ versicherungssystems zusammen. Sie weisen in die richtige Richtung. Vielleicht sind sie auch ein Ratgeber für die bald und weniger bald anstehenden Reformen in den europäischen und lateinamerikanischen Ländern. Das wichtigste Merkmal der Reform der britischen Sozial­ versicherung ist, dass sie die Möglichkeit geschaffen hat, einen großen Teil der Leistungen außerhalb des Sozialversicherungssystems auf privater Basis vertraglich zu regeln. Die Geschichte des politischen Kampfes für eine private Altersvorsorge begann 1960. Ursprünglich war die konservative Partei für eine Privatisierung, während die Labour Partei dagegen war. Sobald eine dieser Parteien an die Macht gelangte, führte sie ihr eigenes Programm für die Reform der Sozialversicherung durch und modifizierte dabei das System, das die jeweils andere Partei in der vorangegangenen Legislaturperiode implementiert hatte. Dies ging bis 1978

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so weiter, bis das umfangreichste System privater Altersvorsorge, das bis heute in Großbritannien existiert, als das Ergebnis eines Kompromisses zwischen der konservativen und der Labour Partei eingeführt wurde. Grundsätzlich hat Großbritannien zwei Formen von Sozialversicherungsleistungen. Auf der ersten Ebene, die verpflichtend ist, wird eine Grundrente ausgezahlt, die alle Arbeitnehmer ab Eintritt in den Ruhestand unabhängig von ihrem Einkommen und ihren Beitragszahlungen erhalten. Die zweite Ebene berechnet sich nach dem Einkommen. Das wichtigste Merkmal des britischen Systems besteht – wie gesagt – darin, dass es Firmen erlaubt, die zweite Ebene mit Leistungen außerhalb des staatlichen Sozialversicherungssystems durch private Rentenpläne sicherzustellen. Diese Möglichkeit wurde unter der Bedingung eingeräumt, dass die Pensionskassen der Firmen Leistungen bereitstellen, die mindestens so hoch wären wie diejenigen, die die Arbeiter erhalten hätten, wenn sie innerhalb des staatlichen Sozialversicherungssystems geblieben wären. Im britischen System erhält jeder Arbeiter, der über seine Firma die Sozialversicherungsleistung der zweiten Ebene durch eine private Versicherung sicherstellt, für seine Beiträge eine jährliche Reduktion von 227 Pfund. Im Austausch dafür verzichtet er auf das Recht auf Auszahlung staatlicher Versicherungsleistungen. Im April 1983, nach fünf Jahren, hatten bereits 45 % der britischen Arbeitnehmer eine private Altersvorsorge für die zweite Ebene abgeschlossen. Der britische Staat reduzierte seine künftigen Verpflichtungen durch Rentenzahlungen, zu denen er bereits verpflichtet war, um die Hälfte des gegenwärtigen Wertes. Dank der Anwendung privater Altersvorsorge kommt es über eine Periode von nur fünf Jahren zu einem Rückgang des gegenwärtigen Wertes zukünftiger Verbindlichkeiten aller Leistungen des britischen Sozialversicherungssystems auf schätzungsweise 30 %. Die Ergebnisse sind sehr ermutigend, da sie zeigen, dass die vielen Stimmen unrecht haben, die immer wieder sagen, dass die Etablierung einer kapitalgedeckten Altersvorsorge, die nicht auf mehrere Generationen verteilt stattfindet, aufgrund der hohen Kosten unmöglich ist. (Siehe etwa Michael T. Boskin, „Alternative Social Security Reform Proposals“, vorbereitetes Statement für die National Commission of Social Security Reform am 20. August 1982). Man muss dabei betonen, dass die Wahl, eine Sozialversicherung außerhalb des staatlichen Sozialversicherungssystems abzuschließen, ursprünglich keine individuelle war, sondern vom Arbeitgeber für die Arbeitnehmer getroffen wurde. Das heißt, der Arbeitgeber konnte die zweite Ebene der Sozialversicherungsleistungen durch private Anbieter sicherstellen lassen. In vielen Fällen war dies jedoch das Ergebnis kollektiver Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Die Arbeitgeber konnten nicht einen Teil ihrer Arbeitnehmer privat versichern und den anderen Teil im staatlichen Sozialversicherungssystem belassen. Wenn sie sich dafür entschieden hatten, private Altersvorsorge durchzuführen, mussten sie dies für alle tun, inklusive derer, die am meisten davon profitieren würden, da sie bereits näher am Ruhestand waren. Die Kosten für diese Personen sind in einem privaten Versicherungsplan sehr hoch. Schließlich sollte erwähnt werden, dass die Reduktion der Beiträge, die sich auf der zweiten Ebene durch die Leistungen außerhalb des Sozialsystems ergeben hat, für alle Arbeiter gleich ausfiel, unabhängig von ihrem Alter und ihrem Einkommensniveau. Der hauptsächliche Unterschied zwischen dem chilenischen und dem britischen System ist der folgende: Zum einen ist die Wahl, eine private Altersvorsorge zu wählen, in Chile, im Gegensatz zu Großbritannien, von jedem Arbeiter getroffen worden, und nicht auf Firmenebene als Resultat der Entscheidung des Arbeitgebers. Insofern war das chilenische System sehr viel fortschrittlicher als das britische. Zum anderen beträgt die Reduktion der Sozialversicherungsbeiträge für die Arbeiter, die sich für eine private Versicherung entscheiden, 10 %. Das bedeutet, dass Arbeiter, die in dem System bleiben, einen Beitrag von 27 % ihres Einkommens bezahlen, und diejenigen, die es vorziehen, sich außerhalb des staatlichen Systems zu versichern, 17 % bezahlen. Das bedeutet im Prinzip, dass die 10 % Unterschied dazu genutzt werden, um die Mittel für das private Pensionssystem zu bilden. Ein anderes wesentliches Merkmal des chilenischen Systems besteht darin, dass die Verwaltung Gut-

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9. Krise und Reform der sozialen Absicherung

Andere strategische Aspekte Offensichtlich wird es erst dann möglich sein, eine grundlegende Reform der Sozialversicherung durchzuführen, die so ist, wie wir sie vorschlagen und die Wirtschaft und die Gesellschaft sie brauchen, wenn einige soziale und politische Kräfte mobilisiert sind, die sie unterstützen. Den Weg dorthin muss man notwendigerweise richtig gestalten.30 Die wesentlichen Punkte einer spezifischen Strategie, die zu einer grundlegenden Reform der Sozialversicherung führt, müssen folgende sein: (1) Ein einfacher und klarer Plan davon, worauf alles hinauslaufen soll. Man braucht einen klaren Plan, der zeigt, wie das ideale System privater und öffentlicher Vorsorge aussehen sollte. Dieser Plan muss auf allen notwendigen versicherungsmathematischen, statistischen und ökonomischen Studien aufbauen und zu guter Letzt in jene elementaren Prinzipien münden, die wir bereits diskutiert haben und von denen folgende noch einmal hervorzuheben sind:

scheine herausgegeben hat, um den Wert der Beiträge zu decken, die seit dem Tag der Reform der Sozialversicherung angehäuft werden. Diese Gutscheine führen später zu Rentenzahlungen, die jene des privaten Systems ergänzen. Die Reform des chilenischen Sozialversicherungs­ systems war ein riesiger Erfolg, da sich bereits nach nur einem Jahr 50 % der Chilenen dazu entschieden hatten, eine private Altersvorsorge abzuschließen. Es muss hervorgehoben werden, dass das chilenische und das britische Modell eine signifikante Reduktion der Beiträge der Arbeiter bedeutete, die durch ihre Firma und für sich selber entschieden hatten, auf der zweiten Ebene eine private Sozialversicherung abzuschließen. Die Tatsache, dass die Reduktion der Beiträge sehr viel weniger ausmacht als aus versicherungstechnischer Sicht zu erwarten gewesen wäre, zeigt, dass die Mehrheit der Bevölkerung sowohl in Chile als auch in Großbritannien damit einverstanden war, höhere Beiträge zu zahlen, um dafür einen signifikanten Teil der Sozialleistungen aus einem privaten System zu beziehen. Das bedeutet, dass Menschen gerne zuzahlen, um aus dem staatlichen Sozialversicherungssystem herauszukommen. Das ist sehr von Vorteil, weil es so leichter fällt, den größeren Finanzierungsaufwand für die Übergangszeit zu betreiben und die Finanzierung der Pensionen jener dauerhaft sicherzustellen, die momentan Leistungsempfänger sind und für die die notwendige Reform zu spät kommt. 30 Siehe Buchanan (1986), S. 178–185. Ich stimme mit Buchanan darin überein, dass jede erfolgreiche Reform der Sozialversicherungssysteme darauf aufbauen muss, der Öffentlichkeit klarzumachen, dass eine Veränderung der gegenwärtigen Struktur jedem zu Gute kommt (oder zumindest, dass niemand verlieren wird), obwohl ich denke, dass die von mir vorgeschlagene Ausstiegsoption einfacher ist als sein Vorschlag, individuell alle Kapitalbeträge auszuzahlen und damit die ausstehenden Verbindlichkeiten zu begleichen, die durch zusätzlich Staatsschulden finanziert würden. Außerdem kann man anhand der Ausstiegsoption eindeutiger die sozialen Präferenzen erkennen, die es in Bezug auf die Sozialversicherung gibt; vor allem dann, wenn die Öffentlichkeit sich mehrheitlich bereit zeigt, freiwillig eine insgesamt größere Summe von Beiträgen zu zahlen, um im Gegenzug große Teile der Leistungen über ein privates System zu beziehen. So ist es im Falle von England und Chile passiert, wo die Mehrheit der Bevölkerung gezeigt hat, dass sie bereit ist, für den Ausstieg aus dem öffentlichen Sozialsystem zu zahlen.

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–– Die Probleme der Sozialversicherung entstehen, weil man versucht, zwei gegensätzliche Ziele gleichzeitig zu erreichen: individuelle Gleichheit und soziale Wohlfahrt. –– Das gegenwärtige Sozialversicherungssystem ist nicht das am besten geeignete, um die erwünschten Ziele sozialer Wohlfahrt zu erreichen. Diese Ziele müssen durch ein ausgereiftes System sozialer Wohlfahrt und privater Wohltätigkeit angestrebt werden. –– Der beste Weg, um das Ziel individueller Gleichheit zu erreichen, führt über die bereits am Markt vorhandenen privaten Institutionen, die mit Techniken der Lebensversicherung, beidseitigem Nutzen sowie privaten Pensionsfonds individueller und kollektiver Art arbeiten. –– Das subsidiäre System sozialer Wohlfahrt muss über den Haushalt finanziert werden. –– Das System der individuellen Vorsorge muss von den Teilnehmern finanziert werden (unabhängig davon, ob die entsprechenden Beiträge, rechtlich gesehen, von den Firmen oder den Arbeiternehmern zu entrichten sind). –– Die Reform sollte so schnell wie möglich vollzogen werden. Jeder Schritt, der in die Richtung eines dieser Prinzipien geht, ist positiv. –– Abstriche von diesen Prinzipien, um in politischen Verhandlungen kurzfristige Vorteile zu erzielen, sollten vermieden werden. (2) Die Bedenken der Menschen, die derzeit im Ruhestand leben, müssen zerstreut werden. Dies ist eine unverzichtbare Bedingung für den Erfolg jeder grundlegenden Reform. Die Beschwichtigung der jetzigen Rentner ist unverzichtbar. Als Gruppe sind sie durchaus in der Lage, jede demokratische Reform des staatlichen Sozialversicherungssystems zu vereiteln.31 (3) Die Öffentlichkeit muss informiert werden. Es muss eine Kampagne geben, die den Menschen erklärt, wie das Sozialversicherungssystem wirklich funktioniert. Die Menschen wissen nicht, dass die Beiträge, die sie einzahlen, jedes Jahr für die Renten verwendet werden, die an die ausgezahlt werden, die bereits im Ruhestand leben. Wenn es keine Reform der Sozialversicherung gibt, dann sind die künftigen Rentenbezieher einzig und allein von der herrschenden politischen Lage und dem Unterstützerverhalten der jüngeren Generationen abhängig.

31 „Die politischen Ökonomen werden ihrer wahren Aufgabe gerecht, wenn sie den Politikern zeigen können, dass es Wege gibt, die Exzesse des Wohlfahrtsstaates zu stoppen, ohne dabei Verträge zu verletzen, zu denen sich der Staat verpflichtet hat. Dieser Reformansatz wird nicht nur den üblichen Gerechtigkeitsvorstellungen gerecht, sondern ermöglicht auch, dass die politisch Verantwortlichen ihrer Aufgabe nachkommen und einen Konsens herstellen, der zur Herbeiführung eines institutionellen Wandels notwendig ist.“ Buchanan (1980), S. 184.

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9. Krise und Reform der sozialen Absicherung

Der arbeitenden Bevölkerung muss man mit Hilfe von Zahlen vor Augen führen, welche Kostenvorteile sie hätte, wenn ihre Beiträge in private Pensionspläne mit Kapitaldeckung fließen würden.32 Schließlich muss man auch erklären, wie es möglich ist, in der Zeit der Anpassung den notwendigen Teil der gegenwärtigen Sozialversicherung in den privaten Sektor zu überführen, ohne die aufgelaufenen Anrechte der jetzigen Rentner zu beeinträchtigen. Nur wenn die allgemeine Öffentlichkeit die wahre Situation erkennt und weiß, um was es geht, und wenn man ihr die Vor- und Nachteile der alternativen Systeme erklärt, wird sie das Opfer erbringen wollen, das mit dem Umstand einhergeht, dass man weiterhin jene unterstützt, die bereits Renten kassieren, und gleichzeitig zusätzliche Beiträge in ein privates System fließen. (4) Es muss nach und nach eine Interessenkoalition errichtet werden.33 Diese Koalition muss ausreichend groß und mächtig sein, um Druck auf die Sozialversicherungsreform ausüben zu können. Zu den wichtigsten Gruppen, die Teil dieser Koalition sein könnten, zählt die Gruppe der Geschäftsleute. Sie wäre die erste, die von der Reform profitieren würde, weil der große Zuwachs an Ersparnissen für ein größeres Angebot an Finanzressourcen sorgen würde. Die zusätzlichen Ersparnisse sorgen dafür, dass ein System privater Pensionspläne entsteht und die Finanzierung von Geschäftsprojekten einfacher und billiger wird. Es muss betont werden, dass genau darin das hauptsächliche Interesse der Geschäftswelt liegt, und nicht in der offenkundigen Reduktion der Kosten infolge sinkender Beiträge. Außerdem ist eine Reduktion der Beiträge kurzfristig kaum möglich, da diese in jedem Fall zunächst angehoben werden müssen, um die gegenwärtigen Auszahlungen und den Aufbau eines privaten Pensionsfonds gleichzeitig finanzieren zu können. Insofern ist nur für eine Sache gesorgt: die Übertragung 32 Siehe etwa das folgende Beispiel, das auf tatsächlichen Zahlen aus Spanien beruht (US Dollar: spanische Pesetas (Ptas) 1:100). Nehmen wir einen Arbeitgeber und die Sozialversicherungsbeiträge eines alleinstehenden Bankangestellten im Range eines Verwaltungsbeamten mit dreijähriger Berufserfahrung. Diese Person kostet die Firma 1.080.060 Ptas, erhält netto aber bloß 673.522 Ptas (16 Zahlungen à 41.231 Ptas plus Zulagen). Der Arbeitnehmer zahlt 45.500 Ptas in die Sozialversicherung und eine Einkommensteuer von 88.880 Ptas. Dies ergibt ein jährliches Bruttoeinkommen von 807.952 Ptas. Die Differenz zu 1.080.060 Ptas (272.108 Ptas) entspricht dem Beitrag des Arbeitgebers zur Sozialversicherung. Jetzt machen wir die einfache Annahme, dass der Arbeitnehmer solange arbeitet, bis er 65 Jahre alt ist (noch 45 Jahre). Wir unterstellen eine Investition seiner Beiträge (von ihm und der Firma getätigt) zu einem akkumulativen Zinssatz von 10 %, d. h. wir nehmen an, dass die Beiträge einen jährlichen Anstieg von 10 % verzeichnen, so dass seine Beiträge über die verbleibenden Jahre seines Arbeitslebens aufsummiert werden können und bis zu seinem Ruhestand mit 10 % verzinst werden. Im Ergebnis würde das so gebildete Kapital am Ende auf 574,9 Mill. Ptas anwachsen. Die Zahl wird dank der Zinsen erreicht. Es ist klar, dass diese Zahlen für den Arbeitnehmer einen starken Anreiz zur Privatisierung seiner Sozialversicherung darstellen würden, wenn er sie kennen würde. Dieses Beispiel entstammt Trigo Portela / Vázquez Arango (1983), S. 181–190. 33 Siehe den interessanten Aufsatz von Butler / Germanis (1983).

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der gegenwärtigen Beitragshöhe (ganz oder teilweise) aus dem öffentlichen in das private System. Insofern ist es wichtig, die eigentlichen Interessen der Geschäftsleute in der Sozialversicherungsbranche kennenzulernen, da es ernüchternd ist, wie sie die Dinge sehen und derzeit zum Thema stehen. In der Geschäftswelt sind es hauptsächlich die Lebensversicherungsgesellschaften und sonstigen Finanzinstitute, die sich für die Entwicklung der privaten Altersvorsorge interessieren. Das ist nicht nur deshalb so, weil die Expansion neuer Märkte für sie gut ist, sondern auch, weil sie naturgemäß die Institutionen sind, die in der Lage sind, den neuen Herausforderungen zu begegnen. Schließlich gibt es noch die Gruppe, die das größte Interesse an einer Reform hat. Zu ihr gehört die große Masse der Arbeiternehmer, die jung sind und immer noch einen langen Weg bis zu ihrem Ruhestand vor sich haben. Zweifellos sind sie es, die, eigentlich zu Unrecht, die zunehmend schwerere Last der Sozialversicherungsfinanzierung schultern müssen, wenn diese nicht reformiert wird. (5) Zu guter Letzt ist es notwendig, die Opposition zu schwächen. Es gibt keine bessere Möglichkeit, sie zu schwächen, als den, zunächst ein paar Schritte auf dem richtigen Weg zurückzulegen und der Öffentlichkeit die unvermeidlich negativen Konsequenzen des gegenwärtigen Systems sowie die Vorteile des Vorgeschlagenen vor Augen zu führen. Jede Reform der Sozialversicherung, die den richtigen Weg einschlägt, legt – auch wenn sie noch nicht sehr weit gekommen ist – die großen Vorteile offen, die man bereits in anderen Ländern sehen kann. Dort sind die privaten Pensionspläne bereits so weit gediehen, dass das gesellschaftliche Interesse an ihrer Beibehaltung ein Ausmaß erreicht hat, dass man sich ihm kaum entziehen kann. Außerdem könnte die Aufklärung der Öffentlichkeit gesellschaftliche Ansprüche wecken, die das gegenwärtige System von Grund auf erschüttern und seinen Widerstand schwächen würden. In jedem Fall ist es notwendig, die Aktionen nicht zu unterbrechen, selbst dann nicht, wenn die Parteien der Linken im Amt sind. Dem ist deshalb so, weil selbst sozialistische Regierungen gezwungen sind, unpopuläre Reformen durchzuführen, die zwar zögerlich, aber doch in die richtige Richtung führen. Außerdem ist es insbesondere in Zeiten der Opposition wichtig, Widerstandsstrategien sowie Konzepte und Ziele zu entwickeln, die zu einem späteren Datum in die Tat umgesetzt werden können.34

Das Problem der medizinischen Versorgung Oft wird behauptet, der Hauptgrund zur Einführung einer Krankenversicherungspflicht liege in der Wahrung einer guten Volksgesundheit, um das Ausbreiten infektiöser Krankheiten zu vermeiden und das Risiko zu minimieren, dass Bürger 34

Als Zusatzlektüre zu diesem Abschnitt ist Ferrara (1985) sehr zu empfehlen.

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9. Krise und Reform der sozialen Absicherung

aufgrund ihrer bedenklichen Gesundheitssituation zu einer öffentlichen Last werden. Obwohl die Analyse dieser Argumente außerhalb unseres Aufgabenbereichs liegt, sollte man bedenken, dass die Bedeutsamkeit einer Krankenversicherungspflicht auf keinen Fall impliziert, dass diese vom Staat und als Monopol angeboten werden muss. Im Gegenteil, es gibt starke Gründe gegen ein staatliches Krankenversicherungsmonopol und überzeugende Gründe gegen eine gebührenfreie allgemeine Gesundheitsversorgung. Die Argumente für eine freie medizinische Versorgung enthalten für gewöhnlich zwei erhebliche Grundirrtümer: Erstens basieren sie auf der Annahme, die Notwendigkeit medizinischer Hilfe könne objektiv begründet werden und solle in jedem Fall und unabhängig von ökonomischen Abwägungen gewährt werden. Zweitens glaubt man, die medizinische Behandlung sei aus finanzieller Sicht deshalb möglich, weil eine vollständige Gesundheitsversorgung in der Regel zur Wiederherstellung der Produktionskapazität und Effizienz führe und das System sich somit zweifellos selbst finanziere. Es sollte jedoch betont werden, dass es keine objektive Messlatte gibt, um die Betreuung und die benötigten Anstrengungen abzuschätzen, die in jedem einzelnen Fall benötigt werden.35 Der medizinische Fortschritt macht uns zunehmend bewusst, dass es auf die Frage, welchen Höchstbetrag man ausgeben sollte, um so viel wie objektiv möglich für die Gesundheit zu tun, keine Antwort gibt. Außerdem sollte betont werden, dass wir im Allgemeinen nicht immer glauben, dass alles, was einer besseren Gesundheit dient, absolute Priorität vor anderen Wünschen haben sollte. Wir wägen Dinge gegeneinander ab, akzeptieren ständig Risiken und entscheiden, ob eine bestimmte Vorsorge profitabel ist oder nicht. Und wir wägen ab, ob es besser ist, ein Risiko abzusichern oder lieber andere Bedürfnisse zu befriedigen. Selbst der reichste Mann nimmt nicht alles, was die medizinische Wissenschaft zu bieten hat, für seine Gesundheit in Anspruch. Auch andere Herausforderungen beanspruchen seine Zeit, Energie und Ressourcen. Im Einzelfall muss jeder selbst entscheiden, ob es die zusätzlichen Anstrengungen lohnt, wenn er zusätzliche Ressourcen zugunsten der eigenen Gesundheit einsetzt. Die entscheidende Frage ist also, ob die betroffene Person selbst darüber entscheiden darf, ob sie mehr opfert, um dementsprechend mehr Vorsorge zu haben, oder ob diese Entscheidung vom Staat und seinen Bürokraten getroffen werden sollte.36 35 Wieder war der erste Ökonom, der diese Tatsache festgestellt hat, Ludwig von Mises. Er führte aus, „dass es keine klare Grenze zwischen gesund und krank gibt. Krank sein ist kein Phänomen, das völlig unabhängig vom Bewusstsein und der Psyche des Unterbewusstseins stattfindet.“ Mises zog daraus den Schluss, „indem der Wille zur Arbeit geschwächt oder sogar vollkommen zerstört wird, schafft die Sozialversicherung Krankheit und die Unfähigkeit zu arbeiten. Kurzum, es handelt sich um eine Institution, die Krankheiten fördert und die physischen und psychischen Folgen von Unfällen und Krankheit intensiviert.“ Siehe Mises (1981b), S. 431 f. 36 „Auf einem Gebiet, das durch so rasche Fortschritte gekennzeichnet ist wie heutzutage die Medizin, können im Durchschnitt allenfalls mäßige Leistungen für alle in gleicher Weise zur Verfügung gestellt werden. … Unter Systemen der staatlichen Medizin finden wir allgemein,

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Aus libertärer Sicht ähnelt die ideale Lösung der medizinischen Vorsorge jener, die sich schon für die Sozialversicherung als vorteilhaft erwiesen hat. Ideal wäre es, wenn jede Person sich auf eigene Rechnung um die Gesundheitsvorsorge kümmerte, die sie – nach Abwägung der Kosten aller Alternativen, ihrer persönlichen Situation und Einschätzungen – für die am besten geeignete hält. Die Rolle des Staates sollte, wie immer, darauf reduziert werden, jenen ein vorab festgesetztes Mindestniveau öffentlicher Gesundheitsvorsorge bereitzustellen, die aufgrund mangelnder Ressourcen nicht selbst dafür sorgen können.37 Erfahrungen anderer Länder haben gezeigt, dass der Markt in der Lage ist, über Krankenversicherungsgesellschaften, Gesundheitszentren und private Krankenhäuser für einen privatmedizinischen Sektor zu sorgen, der frei arbeitet und ein sehr hohes Niveau an medizinischer Versorgung erreicht. Entsprechend diesem Idealplan der medizinischen Versorgung wäre es notwendig, über ein praktisches Reformprojekt nachzudenken, das auch kurzfristig politisch machbar wäre. In diesem Projekt könnte der Staat auch weiterhin das Gesundheitswesen in vielerlei Hinsicht vorantreiben, koordinieren und kontrollieren, solange er zulässt, dass das Management der medizinischen Versorgung in privaten Hände liegt. Ein staatliches Monopol im Gesundheitswesen ist nicht die beste Garantie für Effizienz, Flexibilität und Schnelligkeit. Was die Effizienz, Kosten und Qualität angeht, so wird der Preis, den man auf Dauer zu zahlen hat, sehr hoch sein. Umso mehr ist es notwendig, die Entstehung nicht-monopolistischer Organisationen zu fördern, deren interner Wettbewerb Effizienz garantiert und einen Effizienzvergleich der jeweiligen Systeme ermöglicht. Ein monopolistisches Gesundheitssystem stellt zweifellos immer eine Gefahr für die Freiheit dar. Exklusiv über die anzubietenden Leistungen und die Gesundheit der Individuen entscheiden zu können, impliziert immer ernsthafte Eingriffe in die Handlungsfreiheit der Individuen durch jene, die sie kontrollieren. In einem demokratischen System, in dem man den Individuen die Wahlmöglichkeit nimmt und sie in Gesundheitsfragen der strengen Vormundschaft des Staates unterwirft, greift man auch das Fundament des demokratischen Systems selbst an. Außerdem weiß man sehr wohl, dass ein staatsmonopolistisches Gesundheitssystem dem schnellen Fortschritt in der Medizin nicht zuträglich ist, weil die Entwicklung

daß diejenigen, die schnell zu voller Leistungsfähigkeit wiederhergestellt werden könnten, lange Zeit warten müssen, weil die Spitalseinrichtungen von Leuten in Anspruch genommen werden, die nie mehr etwas für ihre Mitmenschen leisten werden.“ Hayek (2205), S. 404 ff. 37 Um das öffentliche Gesundheitssystem zu privatisieren, könnte man einfach ein Gutscheinsystem oder ein Mischsystem aus Gutscheinen und Ausstiegsoptionen entwickeln. Ein solches System würde niemandem schaden, aber die derzeit exzessiven Kosten und Ineffizienzen abbauen. Die Literatur zu diesem Thema ist üppig. Folgende Beiträge seien hier erwähnt: Goodman / Musgrave (1992), Frech (1988), Bast / Rue / Wesburg (1992) und – bezogen auf die Situation in Großbritannien – alle Publikationen der Abteilung Health and Welfare aus dem Institute of Economic Affairs.

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9. Krise und Reform der sozialen Absicherung

und Erforschung neuer Technologien fast immer das Ergebnis privater und unternehmerischer Initiativen sind. Kurzum, libertäre Politik muss die Sozialisierung der Medizin ablehnen und sich dafür aussprechen, dass die medizinische Grundversorgung in den Händen privater Institutionen liegt, die auf dem Markt miteinander konkurrieren.

10. Eine kritische Analyse der Zentralbanken und des Systems der teilgedeckten Bankfreiheit aus Sicht der Österreichischen Schule1 Die Theorie von Geld, Bankkredit und Finanzmärkten stellt für die Wirtschafts­ wissenschaft die wichtigste theoretische Herausforderung zu Beginn des 21. Jahrhunderts dar. Man übertreibt wirklich nicht, wenn man behauptet, dass nun, nachdem mit der Analyse des Sozialismus eine wichtige theoretische Lücke geschlossen ist, die monetäre Ökonomie sowohl das am wenigsten bekannte als auch das wohl wichtigste Gebiet der Wirtschaftswissenschaft ist. Wie Friedrich August von Hayek zu recht bemerkt hat2, haben in diesem Feld methodologische Fehler, mangelhaftes Theoriewissen und der daraus resultierende systematische Zwang des Staates das Sagen. Tatsache ist, dass die gesellschaftlichen Beziehungen, in denen Geld eine Rolle spielt, bei weitem die abstraktesten und unverständlichsten sind. Das erklärt, warum der systematische Zwang, der vom Staat und der Zentralbank ausgeübt wird, bei weitem der gefährlichste und schädlichste ist. Zudem hat die geistige Unterentwicklung in der Geld- und Banktheorie folgenschwere Auswirkungen auf die Entwicklung der Weltwirtschaft. Momentan werden bei der Finanz- und Geldkontrolle trotz aller Einschnitte, die im Zuge der Neugestaltung westlicher Volkswirtschaften nach den Krisen der 1970er Jahre vorgenommen wurden, die gleichen Fehler noch einmal gemacht. Das führt unweigerlich zu neuen Wirtschaftsrezessionen enormen Ausmaßes. Die Tatsache, dass die jüngsten monetären und finanziellen Fehlentwicklungen der zweiten Hälfte der 1980er Jahre entspringen, und damit der Politik der an­ geblich konservativ libertären Regierungen in den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich, zeigt, wie wichtig es ist, theoretische Fortschritte zu erzielen und mit ihnen zu verhindern, dass sogar Regierungschefs aus dem libertären Lager, wie Ronald Reagan oder Margaret Thatcher, die gleichen Fehler begehen. Es ist wichtig, dass Staatslenker wie sie erkennen können, welches Geld- und Bankensystem als einziges wirklich mit einer freien Gesellschaft vereinbar ist. Kurzum, es ist notwendig, ein gesamtes Forschungsprogramm zu entwickeln, das 1

Ursprünglich veröffentlicht in der Review of Austrian Economics, Band 8, Nummer 2 (1995), S. 25–38. Der Autor widmet diesen Aufsatz in Dankbarkeit James Buchanan, der den Autor öffentlich unterstützt und verteidigt hat, als dieser die wichtigsten Ideen, die hier enthalten sind, auf dem Regionaltreffen der Mont Pèlerin Society im September 1993 vorgestellt hat. Der Autor dankt ebenfalls in besonderem Maße Professor Murray N. Rothbard, der sich große Mühe gegeben hat, die Ausführungen lesbarer zu machen. 2 Hayek (1988), S. 102 ff.

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10. Analyse der Zentralbanken und des Systems der teilgedeckten Bankfreiheit 

zeigt, wie ein Geld- und Bankensystem in einer nicht interventionistischen Gesellschaft aussehen sollte – ein System, das offensichtlich viele Libertäre ganz und gar nicht durchschauen. Im vorliegenden Aufsatz schlagen wir für die Probleme der Geld- und Banktheorie einen neuen Analyseansatz vor. Wir wollen damit unter den Anhängern der Bankfreiheit und den Befürwortern der Zentralbanken die Debatte um einige Streitpunkte neu entfachen. Vor allem wollen wir klären, inwiefern die Zentralbank als Institution kein spontanes und evolutionäres Ergebnis darstellt, das aus dem Markt heraus entsteht. Wir hoffen ebenfalls, Licht in das Dunkel einiger Sonderprobleme der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik zu bringen, vor allem im Hinblick auf die künftige Entwicklung des europäischen Währungssystems.

Die Debatte zwischen den Theoretikern der Bankfreiheit und der Zentralbanken Bevor wir mit dem Lehrstreit unter den Befürwortern des Zentralbanksystems und den Anhängern des Bankfreiheitssystems anfangen, sollten wir betonen, dass unsere Analyse nicht unbedingt auch auf die Kontroverse passt, die im 19. Jahrhundert zwischen den Theoretikern der Banking School und der Currency School ausgetragen wurde. Viele, die damals das Bankfreiheitssystem verteidigt haben, beriefen sich auf die irreführenden und fehlerhaften Inflationsargumente der Banking School, während die Mehrheit der Currency School-Theoretiker versuchte, ihre Ziele, wie Zahlungsfähigkeit und wirtschaftliche Stabilität, durch die Errichtung einer Zentralbank zu erreichen, die monetären Missbrauch stoppen sollte. Von Beginn an hielten einige namhafte Theoretiker der Currency School es für unmöglich und utopisch, zu glauben, eine Zentralbank würde die Probleme nicht noch schlimmer machen. Sie waren sich der Tatsache bewusst, dass der beste Weg, die Schaffung von Umlaufsmitteln zu stoppen und monetäre Stabilität zu erreichen, ein Bankfreiheitssystem ist, das wie alle anderen ökonomischen Institutionen auch Gegenstand traditioneller Prinzipien des Zivil- und Handelsrechts ist. Paradoxerweise begrüßten die meisten Befürworter der Banking School dann doch die Schaffung einer Zentralbank als Kreditgeber der letzten Instanz, der die Expansionsprivilegien der Privatbanken garantierte und verlängerte. Die privilegierten Bankiers versuchten auf diese Weise, ihre Verpflichtungen zu umgehen und sich so einem lukrativen Geschäft zu widmen: der Schaffung von Umlaufsmitteln durch die Expansion von Krediten. Dank der Unterstützung seitens der Zentralbanken mussten sie sich über Liquiditätsprobleme keine großen Gedanken machen. Man sollte betonen, dass die meisten Theoretiker der Currency School, deren theoretischen Beiträge im Kern richtig waren, nicht bemerkten, dass sie exakt die gleichen Fehler wiederholten, die sie zu recht der Bankfreiheit zuschrieben (gemeint ist die Emission von Umlaufsmitteln in Form von Scheingeld). Nur war der

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diesmal eingeschlagene Weg verschlungener und gefährlicher. Das „Geschäft“ bestand nun darin, expansiv Kredite auf Grundlage von Sichteinlagen zu vergeben. Ein großer Fehler dieser Theoretiker war auch der Vorschlag, eine Gesetzgebung zu etablieren, mit der man die Freiheit, Banknoten ohne Rücklagen auszugeben, abschaffte, und für eine Zentralbank einzutreten, um die Prinzipien der Zahlungsfähigkeit zu schützen. Nur Ludwig von Mises, der Tradition von Cernuschi, Hübner und Michaelis folgend, vermochte zu erkennen, dass die Empfehlung der Theoretiker der ­Currency School, eine Zentralbank zu etablieren, ein Fehler, war, und dass der beste und einzige Weg, ein glaubwürdiges Geldsystem einzurichten, am Bankfreiheitssystem, das ohne jeglichen Sonderstatus dem Privatrecht zu unterliegen habe, nicht vorbeiführen konnte. Das mehrheitliche Versagen der Vertreter der Currency School hatte fatale Auswirkungen. Es führte nicht nur zu der Tatsache, dass der Peel’s Act von 1844 trotz seiner guten Absichten und des Verbots der freien Banknotenausgabe im Endeffekt nicht die Schaffung von fiduziärem Kredit unterbinden konnte. Stattdessen führte der Peel’s Act letztlich zur Schaffung eines Zentralbankensystems, das schrittweise und vor allem durch den Einfluss von Theoretikern der Banking School, wie Marshall und Keynes, dazu genutzt wurde, eine Politik der laxen Geldkontrolle und des finanziellen Missbrauchs zu rechtfertigen und zu unterstützen. Beide wogen als Probleme sehr viel schwerer als die Probleme, die man eigentlich lösen wollte.

Die Entwicklung des Bankensystems und der Zentralbank Die Zentralbank ist kein natürliches Produkt, das sich aus der Entwicklung des Bankensystems heraus ergäbe.3 Im Gegenteil, sie wurde mit staatlichem Zwang dem Markt aufgedrückt. Derlei Handeln des Staates, das sich aus einer Reihe historischer Zufälle ergab, ließ ein Geldsystem aufkommen, das ganz anders aussieht als jenes, das sich spontan unter dem Regime eines privilegienlosen und privatrechtlichen Bankfreiheitssystems ohne Zwang durch eine staatliche Zentralbank entwickelt hätte. Man kann unmöglich ahnen, welches Wissen und welche Institutionen Bankunternehmer frei erschaffen hätten, wenn sie nur den allgemeinen Prinzipien des Rechtes unterworfen gewesen wären und nicht irgendeiner Art von Staatszwang.4 Wir können uns vielleicht ein allgemeines System von Investitionen vorstellen, in dem die vorhandenen „Einlagen“ angelegt und mit großer Liquidität ausgestattet wären, ohne Garantie dafür, den aktuellen Wert später wiederzuerhalten (dieser wäre Gegenstand der Marktentwicklung der entsprechenden Geldeinheit). Ein Netzwerk von Unternehmen, das Buchhaltungs- und Zahlungsdienstleistungen anböte, würde im freien Wettbewerb stehen und Gebühren für 3 4

Vera C. Smith (1990), S. 169. Kirzner (1985), S. 168.

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10. Analyse der Zentralbanken und des Systems der teilgedeckten Bankfreiheit 

ihren Service verlangen. Unabhängig davon gäbe es eine Reihe von Institutionen, die – ohne jede Verbindung zum Kreditgeschäft – sich dafür hergäben, gegen Gebühr unterschiedliche Formen privaten Geldes anzubieten.5 Eigentlich ist das gegenwärtige Zentralbankensystem einfach nur das logisch unvermeidbare Ergebnis einer schrittweisen und verstohlenen Einführung durch Privatbankiers, die in Komplizenschaft mit dem Staat ein Bankensystem installiert haben, das auf Teilreserven basiert. Jetzt ist es wichtig, dass unser Geist nicht in die gleiche Falle tappt wie die Mehrheit der Theoretiker, die das Bankfreiheitssystems verteidigt haben. Mit der rühmlichen Ausnahme von Mises und wenigen anderen,6 haben sie nicht erkannt, dass der einzige Weg, ein wirklich freies Bankensystem zu schaffen, in der Rückbesinnung auf das Rechtsprinzip liegt, das eine 100-prozentige Reserve der Geldmenge fordert, die als Sichteinlage zu führen ist. Schließlich bleibt die Frage nach der Anwendung von Hayeks bahnbrechender Idee, nach der immer dann, wenn traditionelle Verhaltensregeln verletzt werden – entweder durch institutionellen Zwang von Seiten des Staates oder durch dessen Vergabe spezieller Privilegien an bestimmte Personen oder Körperschaften  –, schädliche und ungewollte Konsequenzen früher oder später den spontanen gesellschaftlichen Prozess der Kooperation beeinträchtigen. Diese Idee gilt es, auf den Bereich des Geld- und Bankwesens anzuwenden. Die tradierte Verhaltensregel, die im Falle des Bankgeschäfts verletzt wird, ist das Rechtsprinzip, dem zufolge ein Vertrag über die Einlage von tauschbarem Geld (auch irreguläre Einlage genannt) die traditionelle Verwahrpflicht fordert (Kernpflicht für alle nicht-fungiblen Einlagen), eine 100-prozentige Reserve des erhaltenen tauschbaren Geldes dauerhaft vorzuhalten. Das bedeutet, dass alle Handlungen, die dieses Geld in Gebrauch nehmen, insbesondere die Vergabe von Krediten, eine Verletzung des Prinzips darstellen; kurz, eine illegale Handlung, weil unrechtmäßige Aneignung. In der kontinentaleuropäischen Rechtstradition gibt es ein althergebrachtes Prinzip, das auf das alte römische Recht zurückgeht, dem zufolge die Wertaufbewahrung einer irregulären Einlage genau darin besteht, sich zu verpflichten, immer die gleiche Summe vorzuhalten, die man vom Einleger erhalten hat. Der Wertauf 5 Hayek (1978), S. 119 f., schlussfolgert: „Ich vermute, dass bald entdeckt wird, dass das Geschäft der Geldproduktion mit der Kontrolle größerer Investmentportfolios oder selbst der Kontrolle größerer Teile der Industrie nicht gut zusammenpasst.“ Ich befürchte, dass Hayek einer Sache – die in Mises’ Geldtheorie eine zentrale Rolle spielt – zu wenig Aufmerksamkeit schenkt: Marktgeld muss ein Warengeld sein, und im Wettbewerb stehende Geldformen wirken sich dysfunktional auf den Zweck, Austauschmittel zu sein, aus, da der freie Markt immer zu einem universal angewendeten Warengeld neigt. 6 Der bedeutendste Autor vor Mises, der eine 100-prozentige Reservehaltung vertrat, war David Hume. In seinem Essay „Of Money“ von 1752 schrieb Hume (1985), S. 284 f., „keine Bank könnte von größerem Vorteil sein als jene, die das ganze Geld, das sie erhält, einschließt und nie in die Versuchung kommt, es in den Umlauf zu geben, indem sie, wie es üblich ist, Teile des Schatzes in den Handel zurückgibt.“

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bewahrer einer Einlage muss also immer die Quantität und Qualität zur Verfügung halten, die er von einer bestimmten Sache erhalten hat, unabhängig davon, ob sie ständig erneuert oder ersetzt wird. Dieses Forderung für fungible Güter wie Geld entspricht bei nicht-fungiblen Gütern dem Grundsatz, die Sache andauernd in inviduo aufzubewahren.7 Dieses allgemeine Rechtsprinzip, das für Bankgeschäfte eine 100-prozentige Rücklage verlangt, wurde noch in diesem Jahrhundert von der französischen und spanischen Rechtsprechung befolgt. Am 12. Juni 1927 verurteilte ein Gericht in Paris einen Bankier wegen unrechtmäßiger Aneignung von Geldern, weil er, wie es damals üblich war, Kundenein­ lagen anderweitig genutzt hat. Eine andere Entscheidung des gleichen Gerichts vom 4. Januar 1934 fiel genau so aus. Noch interessanter ist, wie das Gericht in erster Instanz entschied, das die Bankrotterklärung der Bank von Barcelona zu verhandeln hatte. Es befand, dass die Möglichkeit des Einlegers, Schecks auf sein Konto auszustellen, die kontoführende Bank verpflichte, immer das entsprechende Vermögen zur Verfügung zu halten. Es wurde als inakzeptabel angesehen, dass eine Bank die Bareinlagen auf einem Girokonto wie ihr eigenes Vermögen behandelte.8 Wir sollten an dieser Stelle hinzufügen, dass eine „ungerechtfertigte Aneignung“ in dem Moment passiert, in dem die unrechtmäßige Handlung (das Ausleihen der eingelegten Summe) begangen wird, und nicht in dem viel späteren Moment, in dem sie entdeckt wird (meistens dann, wenn der Einleger am Bankschalter sein Geld nicht zurückbekommt). Außerdem kann das banale Argument, dass das „Gesetz der großen Zahl“ Banken erlaube, sicher mit einem Teilreservesystem zu arbeiten, nicht akzeptiert werden, da das Ausmaß der Wahrscheinlichkeit untypischer Abgänge der Einlagen von sich aus kein unversicherbares Risiko darstellt. Die Österreichische Theorie der Konjunkturzyklen erklärt perfekt, wie das ­ ystem der Teildeckung endogen und wiederkehrend Wirtschaftsrezessionen herS vorruft und so die Notwendigkeit erzeugt, falsch begonnene Investmentprojekte zu liquidieren, schlechte Kredite zurückzuzahlen und Einlagen in großem Ausmaß auszuzahlen. Jeder Versicherungsmathematiker weiß, dass die Konsequenzen 7 Für die juristischen Betrachtungen der hier gemeinten traditionellen Rechtsprinzipien siehe nicht nur Titel 3, Buch 16 (insbesondere die Abschnitte 7 und 8 über den Bankrott von Bankiers) in „El Digesto de Justitiano“, D’Ors (1968), S. 606–617 und S. 112., sondern auch die feinen Argumente des spanischen Jesuiten Louis de Molina, für den der Bankier mit Teilreservehaltung sündigt, da er seine eigene Fähigkeit, die Schulden zurückzuzahlen, in Gefahr bringt, selbst wenn er langfristig keine rechtlichen Schwierigkeiten erleiden sollte, weil seine Spekulationen mit dem Geld der Kunden gut ausgegangen sind (zitiert nach Chafuen (1985), S. 146, Fußnoten 1–7). Siehe ebenfalls die Schlußfolgerungen von Pasquale Coppa-Zuccari, enthalten in dessen Hauptwerk „Il Deposito Irregolare“, Modena 1901, hier zitiert nach Gar­ rigues (1975), S. 365. Anwenden kann man alle diese Überlegungen aber auch auf die sogenannten finanziellen Operationen mit Rückkaufvereinbarung (repurchase agreement) zum Nennbetrag (nicht zu fluktuierenden Preisen auf Sekundärmärkten), da sie das Recht auf betrügerische Weise für einen Zweck benutzen, für den es nicht geschaffen war, und verdecken, dass es sich um Einlagen handelt. 8 Garrigues (1975), S. 367–368.

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10. Analyse der Zentralbanken und des Systems der teilgedeckten Bankfreiheit 

eines Vorfalls (untypischer Abzug von Einlagen), der von der „Versicherung“ selbst nicht vollkommen unabhängig ist (Teilreserve), aus Gründen des Moral Hazards technisch nicht versichert werden kann.9 Im Laufe der Geschichte neigten die Bankiers schnell dazu, die oben genannte Verhaltensregel zu verletzen und das Geld ihrer Einleger zu ihrem eigenen Nutzen einzusetzen.10 Das geschah zunächst verstohlen und geheim, da man sich bewusst war, unrechtmäßig zu handeln. So geschah es z. B. in der Bank von Amsterdam, dass man die Aktivitäten aus den genannten Gründen mit – wie Sir James Steuart formulierte – größtmöglicher Geheimhaltung11 vornahm. An dieser Stelle sollte angemerkt werden, dass das gesamte Prestige der Amsterdamer Bank auf dem Glauben basierte, dass man dort eine 100-prozentige Reserve halten würde; ein Prinzip, von dem David Hume knapp 15 Jahre vorher noch glaubte, dass es in Kraft wäre.12 Laut Adam Smith behauptete die Bank von Amsterdam auch noch 1776, eine Bargeldreserve von 100 % zu halten.13 Eine offene und legale Verletzung des traditionellen Rechtsprinzips war den Bankiers aber erst Jahre später möglich, als der Staat ihnen zu ihrem Glück das Privileg erteilte, einen Teil des Geldes der Anleger zu ihrem eigenen Nutzen einzusetzen (meistens in Form von Krediten, die am Anfang meistens an den Staat vergeben wurden). Auf diese Art wurde die Komplizenschaft und die Interessen­koalition geschmiedet, die sich zwischen Staat und Banken längst eingebürgert hatte und die das intime Einverständnis und Zusammenwirken der beiden Institutionsformen erklärt, die mittlerweile in allen westlichen Ländern auf allen Ebenen anzutreffen sind. Die Bankiers verstanden sehr schnell, dass die Verletzung der oben genannten traditionellen Rechtsprinzipien einen neuen Spielraum für finanziell sehr lukrative Aktivitäten schuf, gleichzeitig aber immer die Existenz eines Kreditgebers der letzten Instanz bzw. eine Zentralbank brauchte, um für schwere Zeiten, die es erfahrungsgemäß immer wieder gibt, die notwendige Liquidität zu haben.14 9 Zur objektiven Klassenwahrscheinlichkeit, die versicherbar ist, und zur Wahrscheinlichkeit eines Einzelereignisses, das von menschlichen Handlungen beeinflusst und abhängig ist, und damit nicht versicherbar, siehe Mises (1966), S. 106–115, sowie Huerta de Soto (2013). 10 Die Versuchung war groß und fast unwiderstehlich, da sie sehr lukrativ war. Wir müssen bedenken, dass das Teildeckungsbankwesen letztlich darin besteht, Kredite aus dem Nichts zu schaffen und zu verlangen, dass die Schuldner das Geld mit Zinsen zurückbezahlen. 11 Steuart (1767), S. 301. 12 Hume (1985), S. 284. 13 „Die Bank von Amsterdam leiht nicht Teile von dem aus, was bei ihnen eingelegt wird, sondern hält den Wert, der in ihren Büchern steht, auch im Tresor.“ Smith (1776), S. 72. 14 „Es ist interessant, zu beobachten, wie die Bankiers ihren gesamten Einfluss und ihre gesellschaftliche Macht (die in Anbetracht der großen Anzahl von Kreditnehmern und Aktieninhabern enorm ist) einsetzen, um die Einleger davon abzuhalten, ihre Einlagen abzuheben, in der vagen Hoffnung, damit die Krise zu vermeiden. Senator Condy Raguet aus Pennsylvania schlussfolgerte daher, dass der Druck fast unwiderstehlich war und dass „ein unabhängiger Mann, der weder Aktienbesitzer noch Schuldner war, der die Bank dazu gezwungen hätte, Gerechtigkeit walten zu lassen, riskiert hätte, als Feind der Gesellschaft verfolgt zu werden.“ Brief von Raguet an Ricardo, datiert vom 18. April 1821, veröffentlicht in David Ricardo,

Das Teildeckungsbankwesen  

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Das Teildeckungsbankwesen: die Zentralbank und die Konjunkturzyklentheorie Die unabsehbaren sozialen Konsequenzen des Privilegs, das den Bankiers zugestanden wurde (aber nicht irgendeinem anderen Individuum oder einer Körperschaft), wurden bis zur Entwicklung der Österreichischen Konjunkturzyklentheorie durch Mises und Hayek nicht vollständig verstanden.15 Die Österreichischen Theoretiker haben aus rechtlicher, vertraglicher und technisch-ökonomischer Sicht gezeigt, dass das Angebot eines Vertrags, der versucht, die besten Eigenschaften aus einem Investment (insbesondere die Möglichkeit, Zinsen auf die Einlagen zu erhalten) und einem traditionellen Einlagevertrag (der definitionsgemäß das Abheben zum Nennwert einschließt) in einem zu haben, früher oder später unweigerlich zu einer unkontrollierten Expansion des Geldangebots, einer Inflation und – auf der mikroökonomischen Ebene – allgemein zu inkorrekten Allokationen der produktiven Ressourcen führen muss. Im Ergebnis steht am Ende eine Rezession, ein Ausbügeln der Fehler, die sich durch die Kreditexpansion und die hohe Arbeitslosigkeit in der Produktionsstruktur eingeschlichen haben. Es ist wichtig, zu erkennen, dass das Privileg, das den Banken erlaubt, ihre Aktivitäten mit einer Teilreserve weiterzuführen, einen Angriff staatlicher Autoritäten auf die korrekte Festlegung und Verteidigung der Eigentumsrechte der Kontoinhaber darstellt. Dies wiederum führt unvermeidbarer Weise – wie immer, wenn Eigentumsrechte nicht richtig definiert sind – zum typischen Effekt der „Allmendetragödie.“ Das passiert deshalb, weil die Banken versuchen, ihre eigene Kreditbasis auszuweiten und sich von ihren Mitbewerbern abzusetzen. Ein auf Teildeckung basierendes Bankensystem wird immer dazu tendieren, mehr oder weniger unkontrolliert zu expandieren, selbst wenn es von einer Zentralbank kontrolliert werden sollte, die – anders als sonst – um die Etablierung der Grenzen tatsächlich besorgt wäre. In diesem Zusammenhang kommt Anna J. Schwartz zu der Schlussfolgerung, die viele moderne Theoretiker der Bankfreiheit nicht ganz verstehen: Das angedachte System zwischenbanklicher Verrechnungsstellen bremst die Kreditexpansion nicht, wenn alle Banken gleichzeitig entscheiden, ihre Kredite mehr oder weniger stark auszuweiten.16 Dieses Phänomen wurde bereits von Ludwig von Mises brillant erklärt und beschrieben.17 Für uns war es Anlass, eine Erklärung im typischen Prozess der „Tragödie der Allmende“ zu suchen: Der gesamte ­ inor Papers on the Currency Question 1805–1823, Jakob Hollander (Hrsg.), Baltimore 1932, M S. 199 ff.; zitiert nach Rothbard (1962), S. 10 f. 15 Eine kurze Erklärung der Österreichischen Konjunkturzyklentheorie zusammen mit einer Übersicht der wichtigsten Literatur zu diesem Thema kann in meinem Aufsatz „Die Österreichische Theorie der Konjunkturzyklen“, Huerta de Soto (1986), S. 241–256, nachgelesen werden. Siehe auch Huerta de Soto (2011b). 16 Siehe ihren Aufsatz „The Theory of Free Banking“, präsentiert auf dem Regionaltreffen der Mont Pèlerin Society in Rio de Janeiro im September 1993, insbesondere S. 5. 17 Mises (1996), S. 648–688.

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10. Analyse der Zentralbanken und des Systems der teilgedeckten Bankfreiheit 

Expansionsprozess entspringt, wie wir gesehen haben, einem Privileg, das den Eigentumsrechten zuwiderläuft. Jede Bank internalisiert ihre Gewinne aus dem wachsenden Kreditgeschäft, kann aber die entsprechenden Kosten komplett auf das gesamte Bankensystem übertragen. Aus diesem Grund ist leicht einzusehen, dass der Mechanismus des Interbankenzahlungsverkehrs vielleicht den individuellen, isolierten Expansionsstrategien in einem teilgedeckten Bankfreiheitssystem Einhalt gebietet, aber vollkommen nutzlos ist, wenn mehr oder weniger alle Banken bei der Kreditvergabe vom „Optimismus“ ergriffen werden. Der Vorschlag, ein Bankensystem mit einer 100 %-Reserve zu etablieren, finden wir bereits in der ersten Auflage des Buches Über die Theorie des Geldes und der Umlaufsmittel, das Mises 1912 veröffentlicht hatte. Der Autor kam dort zu folgender Schlussfolgerung: „Es leuchtet ein, daß menschlicher Einfluß aus dem Umlaufsmittelwesen nicht anders ausgeschaltet werden kann als durch die Unterdrückung der weiteren Ausgabe von Umlaufsmitteln. Der Grundgedanke der Peelschen Akte müßte wieder aufgenommen und durch Miteinbeziehung der in Form von Kassenführungsguthaben ausgegebenen Umlaufsmittel in das gesetzliche Verbot der Neuausgabe in vollkommenerer Weise durchgeführt werden, als dies seinerzeit in England geschah.“18

Mises behandelte dieses Thema expliziter 192819, insbesondere im Anhang ­Monetary Reconstruction, den er in die englische Ausgabe von The Theory of ­Money and Credit 1953 einfügte und wo er ausdrücklich schreibt, es gehe vor allem darum, „dass der Staat nicht länger in der Position sein sollte, die sich im Umlauf befindliche Geldmenge und die Summe jenes Scheckgeldes zu erhöhen, das nicht zu 100 % durch die Einlagen gedeckt ist, die die Bevölkerung eingezahlt hat.“20 Hayek bezog sich auf diesen Vorschlag bereits 1937,21 und es ist offensichtlich, dass auch er eine freie Wahl der Währung und des Bankensystems vorschlägt, mit dem Ziel, ein Bankensystem zu etablieren, das eine 100-prozentige Bargeldhaltung vorsieht.22 Nach Mises ist zweifellos Murray N.  Rothbard der energischste und brillanteste Autor der Moderne, der für die Eliminierung des heute üblichen Bankensystems eintritt.23 Auch Maurice Allais verteidigt das Prinzip einer 100 %-Reserve, wenn auch aus anderen Gründen. Er will es als Mittel zur Vereinfachung der staatlichen Geldpolitik, um die elastische und störende Expansion des teilgedeckten Bankensystems zu unterbinden.24 Maurice Allais folgt in diesem Punkt schlicht der Tradition der Chicagoer Schule, die eine 100 %-Reserve gutheißt, um 18

Mises (1912), S. 473. Mises (1978b), S. 167 f. 20 Mises (1981a), S. 481. 21 Hayek (1971), S. 81–84. 22 Hayek (1978), S. 119 f. (Vortrag vom 8. Februar 1975 mit dem Titel „Inflation, Misdirection of Labor and Unemployment“, gehalten an der Academia Nazionale dei Lincei de Roma zum 100. Geburtstag von Luigi Einaudi). 23 Siehe insbesondere Rothbard (1991a) und Rothbard (1983, 1988, 1992b). 24 Allais (1985). Siehe auch Allais (1993). 19

Das Geld- und Bankensystem in einer freien Gesellschaft 

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die Geldpolitik der Staaten effektiver und vorhersehbarer zu gestalten.25 Obwohl die Geldpolitik mit einer 100-prozentigen Bargeldhaltung kalkulierbarer wäre, glauben die Theoretiker aus Chicago, dass der Staat ein Interesse daran habe, eine stabile Geldpolitik durchzusetzen. Diese Unbedarftheit ist die gleiche wie die, die moderne Theoretiker des teilgedeckten Bankensystems zeigen, wenn sie den spontanen Mechanismen des Zahlungsausgleiches zutrauen, eine von der Mehrheit der Banken vereinbarte und simultan vollzogene Expansion stoppen zu können. Daher ist die einzig korrekte Lösung für eine von Privilegien und ökonomischen Zyklen freie Gesellschaft ein freies Bankwesen, das dem Gesetz unterliegt und eine Reserve von 100 % vorhält.

Das Geld- und Bankensystem in einer freien Gesellschaft Der eigentliche Fehler der Theoretiker, die für das freie Bankensystem eintreten, ist die Verkennung der Tatsache, dass die Forderung nach einer 100-prozentigen Reservehaltung mit ihrem Vorschlag unauflöslich verbunden ist. Vor allem haben sie noch nicht eingesehen, dass sämtliche Mängel, die der Zentralbankbefürworter dem freien Bankensystem vorhält, sich in Luft auflösten und komplett verschwänden, wenn dieses System auf der Basis traditioneller Rechtsprinzipien etabliert wäre. Oder, um es mit Mises’ Worten zu sagen, das Thema ist, Banken traditionellen Prinzipien des Zivil- und Handelsrechts unterzuordnen, denen zufolge jedes Individuum und jedes Unternehmen seinen Verpflichtungen nachkommen und alles erfüllen muss, das wörtlich im Vertrag steht.26 Dieser Fehler ist sehr verbreitet und vor allem in der interessanten und weitgefächerten Literatur zu finden, die infolge der großen Resonanz auf die Veröffentlichung von Hayeks Buch Denationalization of Money entstanden ist und im Zusammenhang mit der großen Wirtschafts- und Finanzkrise zu sehen ist, die Ende der 1970er Jahre auftrat. Mein wichtigster Kommentar zu all dieser Literatur – von ein paar Ausnahmen abgesehen – ist, dass man das Bankfreiheitssystems im Stile der alten Banking School begründet, deren Prinzipien schon vor langer Zeit als falsch nachgewiesen wurden. Außerdem lässt die gesamte Literatur (von White über Selgin bis Dowd)27 außer acht, dass der einzige Weg, die Zentralbank und ihre 25 Diese Tradition begann durch ein anonymes 26-seitiges Pamphlet zum Thema „Bankund Währungsreform“, das 1933 von Henry Simons, Aaron Director, Frank H. Knight, Henry Schultz, Paul H. Douglas, Albert G. Hart und anderen zirkuliert wurde. Die Ideen führten anschließend einige Autoren aus: Henry C. Simons (1936), Albert G. Hart (1936) und Irving Fisher (1936). Das Ganze gipfelte in Milton Friedmans Buch A Program for Monetary Stability, Friedman (1960). 26 Mises (1996), S. 443. Kurzum, laut Mises ist es notwendig, das Durcheinander der momentanen Bankengesetzgebung durch klare und einfache Artikel aus dem Handels- und Strafrecht zu ersetzen. 27 Siehe z. B. die Arbeiten von Lawrence H. White (1984b, 1989), George A. Selgin (1988, 1992), und Kevin Dowd (1989, 1992, 1993).

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10. Analyse der Zentralbanken und des Systems der teilgedeckten Bankfreiheit 

Exzesse loszuwerden, darin besteht, das Teildeckungsgprivileg, das die Banken momentan ausnutzen, abzuschaffen. Wenn man ein wirklich stabiles Finanzsystem für das nächste Jahrhundert haben will, das die Volkswirtschaften gegen Krisen und Rezessionen soweit wie menschenmöglich immunisiert, dann ist es erforderlich, drei Bedingungen herzustellen: 1. die vollständige Freiheit bei der Wahl der Währung, 2. ein freies Bankensystem und 3. und am wichtigsten, dass alle Akteure, die an dem freien Bankensystem teilnehmen, den traditionellen Rechtsregeln und Prinzipien unterworfen sind. Das gilt insbesondere für das Prinzip, nach dem niemand, nicht einmal ein Bankier, das Privileg erhalten darf, etwas zu verleihen, das bei ihm als Sichteinlage deponiert wurde (das bedeutet die Beibehaltung eines Bankensystems aufgrund einer 100 %-Reserve). Die modernen Theoretiker der Bankfreiheit glauben (unter anderem auch wegen des fehlenden juridischen Hintergrundes), dass die 100 %-Reservebedingung eine leicht zu vernachlässigende Störung individueller Freiheit darstelle. Sie verkennen, dass es nicht um die Implementierung eines systematischen Verwaltungszwangs geht, sondern schlicht und einfach um die Anwendung des traditionellen Prinzips der Eigentumsrechte. Mit anderen Worten, ihnen ist nicht klar, dass das berühmte, von Tooke zitierte Bonmot eines unbekannten Amerikaners, „Freie Banken sind gleichbedeutend mit freiem Schwindeln“28, auch auf das Bankfreiheitswesen anwendbar ist, das nicht dem Gesetz unterworfen ist (und deshalb Teilreserven hat). Die Verteidigung des Bankfreiheitswesens darf nicht ein Mittel sein, mit dem man die lukrativen Möglichkeiten der Kreditexpansion ausschöpfen kann. Vielmehr muss sie ein indirektes Mittel sein, mit dem man näher an das Idealmodell des Bankfreiheitswesens mit einer 100 %-Reserveklausel heranrückt. Das muss mit allen gesetzlichen Mitteln geschehen, die uns die Geschichte zur Verfügung stellt.29 Obwohl unsere wirtschaftspolitische Empfehlung vielleicht sehr utopisch sein mag, und fernab von den praktischen Problemen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, insbesondere hinsichtlich Entwurf und Handhabung eines europäischen Währungssystems, so weist sie doch für alle Zeit die richtige Richtung, die eine Reform nehmen sollte, und markiert die Gefahren, die verhindert werden müssen. Insofern dürfte klar sein, dass wir sowohl ein System monopolistischer Landeswährungen, die miteinander konkurrieren, verhindern sollten, als auch die Entwicklung hin zur Schaffung einer europäischen Zentralbank. Die vorgeschlagene Europäische Zentralbank würde den Wettbewerb der Währungen in einem großen Wirtschaftsraum verhindern. Sie würde sich weder den 28

Zitiert in Mises (1996), S. 446. Nur als ein indirektes Heranrücken an das Ideal sollten wir Cernuschis Position verstehen, als dieser 1865 meinte: „Ich glaube, dass das, was Bankfreiheit genannt wird, in einer vollständigen Unterdrückung der Banknoten in Frankreich enden würde. Ich möchte jedermann das Recht geben, Banknoten auszugeben, so dass niemand mehr Banknoten annehmen muss.“ 29

Das Geld- und Bankensystem in einer freien Gesellschaft 

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Herausforderungen einer Reform des Bankwesens stellen noch eine dauerhafte Geldstabilität garantieren, die mindestens so stabil ist wie die jeweils stärkste Landeswährung. Kurz und gut, sie wäre definitiv ein sehr großes Hindernis für nachfolgende Reformen in die richtige Richtung. Das vielleicht praktischste und zweckmäßigste Modell auf kurze Sicht ist, so gesehen, die Einführung vollständiger Wahlfreiheit unter allen öffentlichen und privaten Währungen in ganz Europa, wobei die nationalen Währungen aus historischen Gründen weiterhin am System fixer Wechselkurse festhalten würden. Die Wechselkurse würden die Geldpolitik jedes Landes disziplinieren und sich an dem Land orientieren, das jeweils die stabilste Geldpolitik, die möglich ist, betreibt. Auf diese Art stünde jedem Nationalstaat des europäischen Währungsraumes zumindest die Möglichkeit offen, entlang der drei skizzierten Linien einer Geld- und Bankenreform voranzuschreiten.30 Dadurch würden die Partner in der Gemeinschaft in die (richtige) Spur der monetären Führungswährung gezwungen. (Dies und nichts anderes dürfte im Kern das Projekt sein, für das Margaret Thatcher und ihre Anhänger, die fälschlicherweise „Euroskeptiker“ genannt werden, zum Wohle der monetären Zukunft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft eintreten. Der Autor ist Mitglied dieser Gruppe.) Es ist offensichtlich, dass vor dem Hintergrund der historischen Kontroversen zwischen den Befürwortern der Bankfreiheit und den Fürsprechern der Zentralbank das letzte Wort zur Geld- und Banktheorie noch längst nicht gefallen ist. Wir sind deshalb in Sorge, zumal es nicht ganz unrealistisch ist, davon auszugehen, dass die Welt auch weiterhin unter sich wiederholenden und sehr gefährlichen Rezessionen leiden wird, solange die Zentralbanken ihr Währungsmonopol und die Bankiers ihre staatlichen Privilegien behalten. So, wie auch schon zu Beginn dieses Aufsatzes, wagen wir zu behaupten, dass nach dem historischen, theoretischen und tatsächlichen Niedergang des Sozialismus die theoretische Herausforderung – sowohl für die professionellen Ökonomen als auch für die Liebhaber der Freiheit – bis weit in das nächste Jahrhundert hinein hauptsächlich darin bestehen wird, mit aller Stärke sowohl gegen die Zentralbank als Institution als auch gegen die Privilegien derjenigen, die das Privatbankgeschäft betreiben, zu kämpfen.

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Die praktischen Probleme, die beim Übergang des gegenwärtigen Geld- und Bankensystems zu einem System auftreten, das zumindest die Geldschöpfung und das Bankgeschäft vom Staat separiert, wurde unter anderem von Murray N. Rothbard (1983), S. 249–269, theoretisch analysiert und gelöst.

11. Die Ethik des Kapitalismus1 Einleitung Mit dem Selbstverständnis der Disziplin wandelte sich auch die Form der Studien zur Wirtschaftswissenschaft. Traditionelle Studien über das Naturrecht und die Gerechtigkeit sind inzwischen in den Hintergrund getreten. Stattdessen wird sehr eng und mechanisch versucht, eine Methodologie in den Sozialwissenschaften anzuwenden, die ursprünglich in den Naturwissenschaften und der Welt der Physik zuhause war. Gemäß dieses Ansatzes ist der „spezifische Unterschied“ der Wirtschaftstheorie die systematische Anwendung eines engen Verständnisses von „Rationalität“. Demnach können sowohl die individuellen menschlichen Handlungen als auch die Wirtschaftspolitik selbst durch Berechnungen und Bewertungen von Kosten und Nutzen bestimmt werden, und zwar mithilfe des Maximierungsprinzips, das es angeblich ermöglicht, Ziele auf der Grundlage gegebener Mittel „optimiert“ zu erreichen. Diesem Ansatz folgend schien es offensichtlich, dass Betrachtungen zu den ethischen Prinzipien als Orientierungshilfen für menschliches Verhalten nahezu irrelevant und bedeutungslos sind. Schließlich glaubte man, eine Universalanleitung für menschliches Verhalten gefunden zu haben, die auf allen Ebenen (individuell und gesellschaftlich) in die Praxis umgesetzt werden könne, und zwar durch Anwendung eines einfachen Kriteriums: Maximierung der nützlichen Konsequenzen, die sich aus den entsprechenden Handlungen ergeben. Man sah keine Notwendigkeit, in irgendeiner Form vorherbestimmte ethische Regeln zu beachten. Die Wissenschaft hatte es damit geschafft, jegliche Gerechtigkeitsüberlegungen zu eliminieren und überflüssig zu machen.

Das Versagen des Konsequenzialismus Das konsequenzialistische Ideal, das auf dem Glauben fußt, es sei möglich, Entscheidungen zu treffen, um die vorhergesagten positiven Konsequenzen auf der Grundlage gegebener und bekannter Mittel und Ziele zu maximieren, ist komplett gescheitert.2 Zunächst hat die Entwicklung der Wirtschaftstheorie gezeigt, dass es 1

Ursprünglich veröffentlicht in Journal of Markets & Morality, Band 2, Nummer 2, Herbst 1999, S. 150–163. 2 Papst Johannes Paul II. (1993), S. 97 f. In seiner Kritik am Konsequenzialismus sagt Johannes Paul II., (Nummer 78): „Im übrigen weiß jeder, wie schwierig – oder, besser, wie unmöglich – es ist, alle Folgen und alle im vor-moralischen Sinne guten bzw. schlechten Auswirkungen der eigenen Handlungen zu bewerten: ein erschöpfendes vernünftiges Kalkulieren ist nicht möglich. Wie soll man Proportionen ausmachen, die von einer Bewertung abhängen,

Das Versagen des Konsequenzialismus 

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theoretisch unmöglich ist, notwendige Informationen über die Kosten und Nutzen, die sich aus jeder menschlichen Handlung ergeben, zu kennen. Dieses Theorem der modernen Ökonomie basiert auf einer angeborenen kreativen Fähigkeit des Menschen. Er kann ständig neue Mittel und Ziele entdecken und damit für einen Fluss an neuen Informationen und neuem Wissen sorgen, der es unmöglich macht, spezifische Konsequenzen zu kennen, die sich erst in Zukunft aus den jeweiligen menschlichen Handlungen und politischen Entscheidungen ergeben.3 Außerdem hat auch das Versagen des real existierenden Sozialismus, verstanden als das ambitionierteste Experiment sozialer Mechanik, das jemals in der Menschheitsgeschichte durchgeführt wurde, die konsequenzialistische Doktrin in ihrem Mark erschüttert. Im Nachhinein weiß man, dass die immensen Ressourcen, die man in mehr als 70 Jahren dazu verwendet hat, politische Optionen nach Kosten und Nutzen zu bewerten und den Bürgern zwecks „optimaler“ Zielerreichung aufzuzwingen, nicht dazu in der Lage waren, die in sie gesteckten Erwartungen zu erfüllen. Dies führte zu einer erheblichen ökonomischen Unterentwicklung und vor allem zu großem menschlichen Leid. Aufgrund der fehlenden historischen Distanz sind wir uns nicht der weitreichenden Konsequenzen bewusst, die der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus für die Entwicklung der Wissenschaft und des menschlichen Denkens haben wird. Einige wichtige Erkenntnisse kann man allerdings jetzt schon nutzen. Als erstes sollte die Aufmerksamkeit auf die Entwicklung einer neuen Wirtschaftstheorie gelenkt werden. Sie sollte menschlicher und realistischer sein, den Menschen als einen kreativen Akteur verstehen und darauf abzielen, den dynamischen Prozess der sozialen Koordination zu studieren, der sich im Markt tatsächlich abspielt. Dieser Ansatz, der hauptsächlich aus der Österreichischen Schule der Nationalökonomie stammt, ist sehr viel weniger ambitioniert als das wissenschaftliche Paradigma, das bis zum heutigen Tage die Lehrbücher füllt und Generationen von Studenten verbiegt, indem man in Menschen Erwartungen weckt, die jenseits der Möglichkeiten unserer Disziplin liegen und folglich von dieser nicht erfüllt werden können. deren Kriterien im Dunkeln verbleiben? Wie könnte man aufgrund derart fraglicher rechnerischer Überlegungen eine absolute Inpflichtnahme rechtfertigen?“ Jeder Mensch kennt die Schwierigkeiten oder besser die Unmöglichkeit, alle guten und schlechten Effekte der eigenen Handlung abzuschätzen: Eine abschließende rationale Berechnung ist nicht möglich. Was sollte also getan werden, um Verhältnismäßigkeiten zu etablieren, deren Bewertung von Kriterien abhängen, die im Dunkeln bleiben? Wie kann man eine absolute Verpflichtung rechtfertigen, die aus einer derart fraglichen Abwägung entsteht?“ 3 Dieses Theorem wurde von den Theoretikern der Österreichischen Schule der Nationalökonomie entdeckt (Ludwig von Mises und Friedrich A. von Hayek) und im Verlauf einer langen Debatte über die Unmöglichkeit des Sozialismus, die im letzten Jahrhundert stattfand, ausgearbeitet und verfeinert. Die Österreicher erklärten auch die Krise des neoklassisch-walrasianischen Paradigmas sowie das statische Verständnis von Ökonomie, das unterstellt, dass Mittel und Ziele bekannt und gegeben sind und dass sich das ökonomische Problem als schlichte technische Frage der Maximierung darstellt. Siehe Lavoie (1985) und Kapitel 2 in diesem Buch.

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11. Die Ethik des Kapitalismus

Eine andere wichtige Folge war die Bildung einer evolutionären Theorie sozialer Prozesse. Auch sie wurde durch die Österreichische Schule der Nationalökonomie entwickelt. Sie hat gezeigt, dass die wichtigsten Institutionen des gesellschaftlichen Lebens (Sprache, Wirtschaft, Recht und Moral) spontan sowie nach und nach entstehen, und zwar durch Gewohnheit und unter Beteiligung einer großen Anzahl von Menschen, die allesamt unter individuellen Umständen von Raum und Zeit handeln. Auf diese Weise entstehen vielerlei Institutionen, die Informationsmengen enthalten, die so riesig sind, dass sie die Grenzen menschlichen Begreifens und Entwerfens weit übersteigen. Das dritte und letzte Ergebnis, das hervorgehoben werden sollte, ist die Wieder­ entdeckung der Ethik und der Gerechtigkeitsanalyse als überaus bedeutsame Forschungsfelder der Sozialwissenschaften. Das theoretische und historische Versagen des szientistischen Konsequenzialismus gab den auf moralischen Dogmen basierenden Regeln und Verhaltensweisen ihre Rolle als unersetzbare „Autopiloten“ für das Verhalten und die menschliche Freiheit zurück. So langsam beginnt man wieder mit deren Wertschätzung.

Die Bedeutsamkeit einer ethischen Grundlage der Freiheit Vielleicht war einer der wichtigsten Beiträge zur Theorie der Freiheit in diesem Jahrhundert der Nachweis, dass die konsequenzialistische Analyse von Kosten und Nutzen nicht ausreicht, um eine Marktwirtschaft zu rechtfertigen. Nicht nur ein großer Teil der bis heute entwickelten Wirtschaftswissenschaft basiert auf dem intellektuellen Fehler, einen statischen Rahmen aus vorhandenen Mitteln und Zielen anzunehmen. Auch der sehr viel realistischere und fruchtbarere analytische Ansatz der Österreichischen Schule, der von der kreativen Kapazität des Menschen und der theoretischen Analyse des dynamischen Prozesses sozialer Koordination ausgeht, kann nicht allein die Grundlage einer libertären Ideologie bilden. Selbst dann, wenn wir das statistische Kriterium der Pareto-Effizienz aufgeben und durch ein dynamischeres und auf Koordination bauendes Kriterium ersetzen, reichen die Effizienzbetrachtungen alleine nicht aus, um diejenigen zu überzeugen, denen Gerechtigkeitsüberlegungen wichtiger als irgendwelche Ideen zum Thema „Effizienz“ sind. Außerdem wird auch das Erkennen der Folgen sozialer Fehlkoordination (Ineffizienzen) – die langfristig aus dem systematischen Versuch entstehen, den spontanen Prozess menschlicher Interaktionen zu erzwingen – nicht die automatische Zustimmung all derjenigen garantieren, die eine so intensive Zeitpräferenz haben, dass sie trotz der kurz- und mittelfristigen negativen Interventionseffekte den kurzfristigen Vorteilen einen größeren Wert beimessen.4

4

Das sind im Kern die Argumente, die Murray N. Rothbard (1982), S. 201–213, für seine Mises-Analyse verwendet.

Über die Möglichkeit, eine Theorie der sozialen Ethik zu bilden  

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Kurzum, die Entwicklung ethischer Grundlagen ist aus folgenden Gründen für die Theorie der Freiheit unverzichtbar: 1. Die Sozialtechnik und insbesondere der Konsequenzialismus sind beide gescheitert und stammen beide aus dem neoklassisch-walrasianischen Paradigma, das bis heute die Wirtschaftswissenschaft dominiert. 2. Die theoretische Analyse von Marktprozessen, die auf der unternehmerischen Fähigkeit des Menschen gründen, reicht alleine nicht aus, eine Marktwirtschaft zu rechtfertigen, obwohl sie sehr viel mächtiger ist als die Analyse, die sich aus dem neoklassischen Paradigma ergibt. 3. Aufgrund der unvermeidbaren Ignoranz der Menschen und ihrer konstanten Fähigkeit, neue Informationen zu schaffen, brauchen sie für ihre Verhaltensprinzipien einen moralischen Rahmen, der automatische Vorgaben macht, nach denen sie sich richten können. 4.  Strategisch betrachtet motivieren vor allem moralische Überlegungen das reformerische Verhalten von Menschen, die bereit sind, große Opfer zu bringen, um das zu erreichen, was sie für moralisch gut und gerecht halten. Es ist sehr viel schwieriger, dieses Verhalten mittels kalter Kosten-Nutzen-Kalkulationen wachzurufen, zumal deren wissenschaftliches Potenzial höchst umstritten ist.

Über die Möglichkeit, eine Theorie der sozialen Ethik zu bilden Eine große Anzahl von Wissenschaftlern ist noch der Meinung, es sei nicht möglich, eine objektive Theorie der Gerechtigkeit und der moralischen Prinzipien aufzustellen. Die Entwicklung dieser Meinung wurde maßgeblich von der Evolution der szientistischen Ökonomie beeinflusst. Besessen vom Maximierungskriterium, hält diese Lehre nicht nur die Mittel und Ziele des Akteurs für subjektiv, sondern glaubt auch, dass die moralischen Prinzipien des Verhaltens vom subjektiven Ermessen des Entscheiders abhingen. Egal unter welchen Umständen: muss eine schnelle Entscheidung auf der Grundlage einer reinen Kosten-Nutzen-Analyse getroffen werden, dann ist die Existenz von Moralität, verstanden als ein Schema feststehender Verhaltensrichtlinien, nicht erforderlich. Das bedeutet, dass jedes Schema seiner Bedeutung beraubt und von der subjektiven Autonomie des Individuums festgelegt wird. Entgegen dieser bis heute vorherrschenden Position glauben wir, dass die (wirtschaftstheoretisch bewiesene) Subjektivität der Wertungen, Nutzen und Kosten eine Sache ist und die Frage, ob objektiv gültige Moralprinzipien existieren, eine ganz andere.5 5 „Die Wirtschaftstheorie informiert uns darüber, dass nicht moralische Prinzipien subjektiv sind, sondern Nutzen und Kosten.“ Rothbard (1982), S. 202.

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11. Die Ethik des Kapitalismus

Die Entwicklung einer wissenschaftlichen Theorie moralischer Prinzipien, die das menschliche Verhalten in gesellschaftlichen Interaktionen anleiten, ist nicht nur ratsam, sondern auch möglich. In den letzten Jahren sind einige sehr bedeutsame Werke zu diesem Thema erschienen. Besonders hervorgehoben sei hier der Beitrag von Israel M. Kirzner, der eine Neudeutung der kapitalistischen Verteilungsgerechtigkeit vorgeschlagen hat. Betonen sollte man dabei die Tatsache, dass dieser Vorschlag von einem der angesehensten Theoretikern der Österreichischen Schule stammt. Das zeigt, wie stark der Bereich der korrekt entwickelten Wirtschaftstheorie mit dem Feld sozialer Ethik verbunden ist. Tatsächlich hilft die Wirtschaftswissenschaft, selbst wenn sie wertfrei ist, nicht nur dabei, klarere ethische Positionen zu finden. Sie erleichtert auch das logisch-deduktive Argumentieren im Bereich der Sozialethik. Das hat Kirzner gezeigt. Auf diese Weise werden viele Fehler und Gefahren vermieden, die im Rahmen einer statischen Analyse der Wirtschaftstheorie, die irrigerweise von der Annahme vollständiger Informationen ausgeht, entstehen würden.6 Folgt man dem statischen Ansatz, dann sind Überlegungen über Effizienz und Gerechtigkeit tatsächlich zwei Seiten ein und derselben Medaille und eine Frage der Abwägung, die verschiedene Kombinationen mit unterschiedlichen Gewichtungen der beiden Elemente erlauben würde. Aus unserer Sicht führt nur Gerechtigkeit zu Effizienz und kann, umgekehrt, das Effiziente nie ungerecht sein. Beide Betrachtungen, sowohl die zu den moralischen Prinzipien als auch die zur ökonomische Effizienz, stärken und unterstützen einander und stehen nicht im Gegensatz zueinander.7

6

Der Wirtschaftstheorie wird aber nicht unterstellt, moralische Angelegenheiten bestimmen zu können. Daher ist die Kritik von Roland Kley (1994), S. 228, Anm. 9, an Israel Kirzner grundlos. 7 Eine Abwägung gäbe es höchstens zwischen zweigliedrigen Größen, nämlich zwischen dem, was gerecht und effizient ist, und dem, was ineffizient und ungerecht ist (wenn die freie Ausübung der unternehmerischen Funktion systematisch unterdrückt und die Nutznießung der Früchte menschlicher Kreativität unterbunden wird). Außerdem ist die Ineffizienz, die aus dem unmoralischen und systematischen Zwang des Staates auf die Ökonomie entsteht, etwas anderes als das, was die neoklassischen Ökonomen im statischen Paradigma der sogenannten Wohlfahrtsökonomie zu erkennen glauben. Für sie führen institutionelle Zwangsmaßnahmen (die erzwungene Umverteilung von Einkommen) zu Verzerrungen, die das ökonomische System von den Maximalpunkten der Produktionsmöglichkeitenkurve entfernen. Sie begreifen nicht, dass die so verursachten Schäden sehr viel tiefer reichen. Das ist deshalb so, weil derlei Maßnahmen dynamisch den Unternehmer davon abhalten, jene neuen Möglichkeiten zu entdecken und zu koordinieren, welche die Funktion der gesellschaftlichen Produktionsmöglichkeitenkurve beständig nach rechts verschieben.

Moralität und Effizienz 

217

Moralität und Effizienz Die Idee, dass Effizienz und Gerechtigkeit zwei unterschiedliche Dimensionen darstellen, die in variierenden Anteilen miteinander kombiniert werden können, ist eine der negativen Folgen, die aus dem neoklassischen Paradigma erwachsen, das die Wirtschaftswissenschaft bis heute beherrscht. Wenn man glaubt, auf Grundlage einer Kosten-Nutzen-Analyse entscheiden zu können, weil man annimmt, die notwendigen Informationen seien in einem statischen Kontext gegeben, dann ergibt sich demzufolge zweierlei: Niemand muss mehr einem vorgegebenen Schema moralischen Verhaltens folgen (außer dem Prinzip, den Ad-hoc-Nutzen zu maximieren). Man kommt auch leicht zu dem Schluss, dass jedes gewaltsam durchgesetzte Gleichheitsschema mit dem statischen Kriterium der Pareto-Effizienz kompatibel sei (was z. B. Teil des zweiten Wohlfahrtstheorems ist). Betrachtet man indes den sozialen Prozess als eine dynamische Realität, die durch die Interaktionen tausender Menschen, die von Geburt an kreative Fähigkeiten besitzen, entsteht, dann ist es unmöglich, die Kosten und Nutzen einer jeden Handlung im Detail zu kennen. Dies bedeutet, dass der Mensch eine Reihe von moralischen Handlungsprinzipien als eine Art Autopilot braucht. Derlei Prinzipien bewirken eine Koordinierung der menschlichen Interaktionen. Insofern generieren sie einen Koordinationsprozess, der in einem bestimmten Sinne dynamisch effizient genannt werden kann. Versteht man den Markt als einen dynamischen Prozess, dann entsteht Effizienz im Sinne von Koordination aus dem Verhalten der Menschen, die sich an bestimmte moralische Richtlinien halten. Umgekehrt ermöglicht das menschliche Handeln, das in Übereinstimmung mit diesen ethischen Prinzipien steht, dynamische Effizienz – verstanden als Koordination im Prozess der sozialen Interaktion. Wir können daher schlussfolgern, dass aus dynamischer Sicht Effizienz nicht mit mehreren Gleichheits- oder Gerechtigkeitsschemata kompatibel ist, sondern nur mit einem einzigen Schema. Wie wir bereits gesagt haben, ist es nicht zulässig, Effizienz und Gleichheit als gegensätzliche Kriterien aufzufassen. Eine polemische Aufrechnung der beiden Größen ist falsch und irreführend. Was gerecht ist, kann nicht ineffizient sein, und was effizient ist, kann nicht ungerecht sein. Aus Sicht der dynamischen Analyse sind Gleichheit bzw. Gerechtigkeit und Effizienz schlicht zwei Seiten einer Medaille; eine weitere Bestätigung der integrierten und konsistenten Ordnung, die im sozialen Universum besteht. Der angebliche Gegensatz zwischen den beiden Größen entsteht aus der Fehleinschätzung statischer Effizienz, die dem neoklassischen Paradigma der Wohlfahrtsökonomie und der abwegigen Idee der Gleichheit bzw. der „sozialen Gerechtigkeit“ geschuldet ist. Folgt man letzterer, dann können die Ergebnisse des sozialen Prozesses unabhängig vom individuellen Verhalten derjenigen bewertet werden, die an diesem Prozess teilnehmen. Die Theorieentwicklung der Wohlfahrtsökonomie, die sich am statischen Kriterium der Pareto-Effizienz orientierte, wurde von der Hoffnung getragen, man könne das Feld der Ethik vermeiden. Dank ihrer wurde es unmöglich, jene gravierenden

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11. Die Ethik des Kapitalismus

Probleme dynamischer Ineffizienz hinreichend zu würdigen, die entstehen, wenn der unternehmerische Prozess in beträchtlichem Maße institutionellem Zwang ausgesetzt ist. Das Verständnis von Ökonomie als Prozess erlaubt nicht nur, Effizienz im dynamischen Sinne zu definieren, sondern wirft auch ein großes Licht auf das Kriterium der Gerechtigkeit, die in gesellschaftlichen Beziehungen vorherrschen sollte. Dieses Kriterium basiert auf traditionellen Prinzipien der Moralität, die es erlauben, individuelles Verhalten vor dem Hintergrund allgemeiner und abstrakter Regeln gerecht oder ungerecht zu nennen. Gegenstand dieser Regeln sind im Grunde die Eigentumsrechte, die es den Menschen ermöglichen, die Früchte ihrer angeborenen unternehmerischen Kreativität zu ernten. Von dieser Warte aus gesehen sind andere Gerechtigkeitskriterien in ihrem Kern unmoralisch. Unter all diesen Alternativen steht vor allem das Konzept der „sozialen Gerechtigkeit“ in der Kritik. Es zielt darauf, bestimmte Ergebnisse des sozialen Prozesses als gerecht oder ungerecht zu bewerten, unabhängig davon, ob das Verhalten der Beteiligten mit den allgemeinen Rechts- und Moralregeln im Einklang stand oder nicht. „Soziale Gerechtigkeit“ ergibt nur in einer statischen Traumwelt einen Sinn; in einer Welt, in der die Güter und Dienstleistungen bereits gegeben sind und das einzige Problem in deren Verteilung liegt. In der wirklichen Welt hingegen, wo die Produktions- und Distributionsprozesse infolge unternehmerischen Handelns simultan auftreten, ergibt die „soziale Gerechtigkeit“ als analytisches Konzept keinen Sinn, kann aber im Kern auf dreierlei Arten für unmoralisch gehalten werden: (1) Aus evolutionärer Sicht kann sie in dem Ausmaß für unmoralisch gelten, in dem Prinzipien, die aus der Idee der „sozialen Gerechtigkeit“ abgeleitet werden, die traditionellen Regeln der Eigentumsrechte verletzen; Regeln, die sich aus dem Gewohnheitsrecht heraus ergeben und der modernen Zivilisation den Weg geebnet haben. (2) Aus theoretischer Sicht kann man sie für unmoralisch halten, weil es unmöglich ist, eine Gesellschaft auf der Basis „sozialer Gerechtigkeit“ zu organisieren. Der systematische Zwang, der zur Einkommensumverteilung notwendig ist, verhindert die freie Ausübung der unternehmerischen Funktion und damit die Kreativität und Koordination, die der Entwicklung der Zivilisation Raum geben. (3) Aus ethischer Sicht ist die soziale Gerechtigkeit in dem Maße unmoralisch, in dem das moralische Prinzip, dem zufolge alle Menschen ein natürliches Recht haben, die Früchte ihrer eigenen Kreativität zu ernten, verletzt wird. Es ist vorhersehbar, dass der institutionelle Zwang des Staates im Namen sozialer Gerechtigkeit Schritt für Schritt nachlassen wird, sobald die Bürger das zutiefst Unmoralische und die gravierenden Fehler begreifen, die dem fadenscheinigen Konzept „sozialer Gerechtigkeit“ anhängen.8

8

Siehe Hayek (1976a).

Israel Kirzners Beitrag zur Ethik 

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Israel Kirzners Beitrag zur Ethik Kirzners großes Verdienst besteht genau darin, gezeigt zu haben, dass die Meinung über Verteilungsgerechtigkeit, die heute mehrheitlich geteilt wird und die ethische Grundlage wichtiger politischer und gesellschaftlicher Bewegungen (Sozialisten und Sozialdemokraten) darstellt, ihren Ursprung im irreführenden statischen Verständnis von Ökonomie hat.9 Das neoklassische Paradigma basiert letztlich mehr oder weniger auf der Annahme, dass Informationen objektiv und gegeben sind (entweder sicher oder mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit). Auf dieser Basis sind Kosten-Nutzen-Analysen möglich. Wenn dies der Fall wäre, dann wäre es logisch, Überlegungen zur Nutzenmaximierung vollkommen unabhängig von moralischen Aspekten anstellen und beide Faktoren in unterschiedlichen Anteilen kombinieren zu können. Der statische Ansatz führt überdies unweigerlich zu der Annahme, dass Ressourcen gewissermaßen gegeben und bekannt sind. Das bedeutet, dass man das ökonomische Problem ihrer Verteilung von dem ihrer Produktion trennen kann. Wenn die Ressourcen gegeben sind, dann gewinnt die Frage, wie die Produktionsmittel und die Ergebnisse der Produktionsprozesse jeweils unter den Menschen zu verteilen sind, enorm an Bedeutung. Die Idee der Verteilungsgerechtigkeit hat sich jedoch durch das dynamische Verständnis des Marktprozesses, das von der Österreichischen Schule der Nationalökonomie im Allgemeinen und durch Israel M. Kirzners Analyse der unternehmerischen Funktion und ihrer ethischen Implikationen im Besonderen entwickelt wurde, völlig erübrigt. Für Kirzner besteht die unternehmerische Funktion in der angeborenen Fähigkeit aller Menschen, die sich in ihrer Umgebung zeigenden Gewinnmöglichkeiten zu entdecken und auszunutzen. Die unternehmerische Funktion besteht also in der typisch menschlichen Fähigkeit, ständig neue Mittel und Ziele zu schaffen und zu entdecken. Gemäß dieser Auffassung sind Ressourcen nicht gegeben. Stattdessen werden sowohl Mittel als auch Ziele ständig neu ausgedacht und von neuem interpretiert, und zwar von Unternehmern, weil sie darauf erpicht sind, neue Ziele zu entdecken, die einen höheren Wert haben. Wenn die Mittel und Ziele sowie die Ressourcen nicht gegeben sind, sondern ständig aus dem Nichts von der unternehmerischen Funktion des Menschen geschaffen werden, dann ist klar, dass der ethische Grundansatz nicht länger darin bestehen kann, wie etwas anteilig gleich zu verteilen ist, das bereits existiert, sondern vielmehr darin, einen Weg zu finden, auf dem die Kreativität stimuliert werden kann, die zum Menschen am besten passt. Genau hier entwickelt Kirzners Beitrag zur Sozialethik seine volle Kraft: Wenn man den Menschen als einen kreativer Akteur versteht, dann muss man es auch als ein Axiom hinnehmen, dass alle Menschen ein natürliches Recht auf die Früchte ihrer eigenen unternehmerischen Krea­ 9

Israel M. Kirzners Ideen zur Sozialethik formierten sich anfänglich in Abschnitt 4 (Kapitel 11–13) seines Buches Perception, Opportunity and Profit, Kirzner (1979) und konkretisierten sich in einem späteren Aufsatz hinsichtlich Unternehmertum, Gerechtigkeit und Freihheit, Kirzner (1988). Ihren Höhepunkt erreichen seine Ideen in Kirzner (1989).

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11. Die Ethik des Kapitalismus

tivität haben. Dies ist nicht nur deshalb so, weil die Früchte sonst kein Anreiz zur Stimulierung der unternehmerischen und kreativen Umtriebigkeit des Menschen wären, sondern auch deshalb, weil es sich um ein universelles Prinzip handelt, das auf alle Menschen in allen nur denkbaren Lagen anwendbar ist. Das hier dargelegte ethische Prinzip hat auch andere wichtige Vorteile. Zunächst sollte seine große und intuitiv wahrnehmbare Attraktivität hervorgehoben werden. Erstens liegt es auf der Hand, dass jemand ein Recht auf das haben sollte, das er aus dem Nichts geschaffen hat, da niemand sonst ein älteres Recht an ihm haben kann. Zweitens handelt es sich um ein universell ethisches Prinzip, eng verbunden mit dem Grundsatz aus dem Römischen Recht, das die ursprüngliche Inbesitznahme herrenloser Ressourcen regelt (occupatio rei nullius). Wie Kirzner gezeigt hat, basiert sein Prinzip auf der Kreativität, da kein Ergebnis existiert, bevor es unternehmerisch entdeckt oder erschaffen wird. Kirzner zeigt uns drittens, dass die meisten anderen Gerechtigkeitstheorien – insbesondere jene, die von John Rawls entwickelt wurde – auf dem Paradigma vollständiger Information basieren, das ein statisches Umfeld bereits existierender Ressourcen voraussetzt. Obwohl Rawls in seiner Analyse einen „Schleier der Unkenntnis“ bemüht, kommt er doch zu der Schlussfolgerung, dass das gerechteste System eines ist, in dem jeder Mensch, ohne seinen genauen Platz in der sozialen Rangordnung zu kennen, sicher sein kann, in einer unvorteilhaften Situation ein Maximum an Ressourcen zu erhalten.10 Es ist klar, dass die ethischen Prinzipien andere sein müssen, wenn man die Ökonomie als dynamischen, unternehmerischen Prozess versteht: Die gerechteste Gesellschaft ist diejenige, die am stärksten die unternehmerische Kreativität der in ihr lebenden Menschen unterstützt. Um das zu erreichen, ist es unumgänglich, allen Menschen von vornherein zu gewährleisten, dass sie die Früchte ihrer unternehmerischen Kreativität behalten können (Früchte, die in der Gesellschaft nicht existieren würden, wenn sie nicht durch einen individuellen Akteur entdeckt oder geschaffen worden wären). Der vierte Vorteil, den Kirzners Analyse bietet, liegt im Nachweis, dass der Sozialismus, verstanden als ein System institutioneller Aggression des Staates gegen die freie Ausübung der unternehmerischen Funktion, eine unmoralische Natur hat. Denn es ist der Zwang gegen einen Handelnden, der diesem verwehrt, das zu entwickeln, was für ihn das Natürlichste ist. Gemeint ist seine angeborene Fähigkeit, neue Ziele und Mittel zu entdecken und konsequent zu verfolgen. In dem Ausmaß, in dem der Staat unternehmerische Handlungen verhindert, wird die menschliche kreative Fähigkeit beschränkt. Es entstehen weder die benötigten Informationen, noch das notwendige Wissen, um die Gesellschaft zu koordinieren. Genau aus diesem Grund ist der Sozialismus ein intellektueller Fehler. Er macht es den Menschen unmöglich, jene Informationen zu schaffen, die der Staat braucht, um die Gesellschaft durch Befehle zu koordinieren. Kurzum, Kirzners Analyse kann darlegen, 10

Siehe Rawls (1972).

Die Soziallehre der katholischen Kirche und Kirzners Beitrag  

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dass das sozialistische System unmoralisch ist, weil es die Menschen durch Gewalt davon abhält, die Früchte ihrer unternehmerischen Kreativität zu ernten. Das heißt, der Sozialismus ist nicht nur als etwas anzusehen, dessen Theorie fehlerhaft und ökonomisch unmöglich ist, sondern auch als ein zutiefst unmoralisches System. Er verletzt die intimste unternehmerische Natur des Menschen und hindert uns an der Aneignung der Ergebnisse unserer eigenen unternehmerischen Kreativität.11

Die Soziallehre der katholischen Kirche und Kirzners Beitrag In der reformulierten Soziallehre der katholischen Kirche gibt es einige Passagen zugunsten der Marktwirtschaft. Die wichtigsten von ihnen dürften wohl dem großen Einfluss zu verdanken sein, den die Ideen der Österreichischen Schule der Nationalökonomie ausübten, insbesondere jene von Hayek und Kirzner; ersterer ein nicht praktizierender katholischer Agnostiker und letzterer ein tief religiöser und praktizierender Jude. Der katholische Denker Michael Novak überraschte die Welt vor einiger Zeit mit der Veröffentlichung eines langen persönlichen Gespräch zwischen Papst Johannes Paul II. und Hayek, das kurz vor Hayeks Tod stattge­ funden hatte.12 In seinem danach erschienenen Buch The Catholic Ethic and the Spirit of Capitalism betont Novak die weitreichenden Parallelen zwischen der Idee des kreativen Menschen, die der Papst in seiner Doktorarbeit The Acting Person erarbeitet hatte, und dem Ansatz der unternehmerischen Funktion, den wir ­K irzner verdanken.13 Johannes Paul II. hat sein Menschenbild in der Enzyklika Centesimus Annus präzisiert. Dort bezieht er sich ausdrücklich auf die unternehmerischen Fähigkeiten und die kreativen Handlungen des Menschen als Schlüsselfaktoren der Gesell 11 Die unternehmerische Kreativität zeigt sich dort, wo es um Beistand für Bedürftige bzw. um die vorherige Suche und systematische Erfassung von Notlagen geht. Zwang und Intervention durch die Mechanismen des Wohlfahrtsstaates neutralisieren und unterbinden weitgehend die unternehmerische Suche nach Notlagen und Möglichkeiten, anderen zu helfen. Damit wird der natürliche Wunsch nach gelebter Solidarität und Zusammenarbeit, der für viele Menschen sehr wichtig ist, unterwandert. Johannes Paul II. hat dies sehr gut verstanden, als er schrieb: „Der Wohlfahrtsstaat, der direkt eingreift und die Gesellschaft ihrer Verantwortung beraubt, löst den Verlust an menschlicher Energie und das Aufblähen der Staatsapparate aus, die mehr von bürokratischer Logik als von dem Bemühen beherrscht werden, den Empfängern zu dienen; Hand in Hand damit geht eine ungeheure Ausgabensteigerung. Wie es scheint kennt tatsächlich derjenige die Not besser und vermag die anstehenden Bedürfnisse besser zu befriedigen, der ihr am nächsten ist und sich zum Nächsten des Notleidenden macht.“ Papst Johannes Paul II. (1991), Nummer 48. 12 In den letzten Monaten seines Lebens hatte Hayek die Möglichkeit zu einer langen Unterhaltung mit Johannes Paul II. Es gibt Anzeichen für Hayeks Einfluss auf bestimmte Teile der Enzyklika des Papstes Centesimus Annus. Vor allem in den Nummern 31 und 32 finden sich hayekianische Einsichten wieder; vgl. Novak (1993a), S. 7. 13 Novak (1993a), S. 117; Wojtyla (1979).

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11. Die Ethik des Kapitalismus

schaft. Papst Johannes Paul II. begreift sowohl das wissenschaftliche als auch das praktische Wissen, das den Menschen ausmacht, als Voraussetzung dafür, die Bedürfnisse anderer wahrnehmen und befriedigen zu können. Der Papst betont, dass dieses Wissen den Menschen erlaube, ihre Kreativität auszudrücken, ihr Potenzial zu entwickeln und sich so in einem Netzwerk von Wissen und Kommunikation, das den Markt und die Gesellschaft konstituiere, zu positionieren. Für ihn nimmt die disziplinierte und kreative Arbeit des Menschen, insbesondere die darin zutage tretende unternehmerische Fähigkeit, eine zunehmend spürbare, ausschlaggebende Rolle ein.14 Die Enzyklika Centesimus Annus lässt zweifellos erkennen, wie sich das Verständnis des Autors für die Ökonomie modernisiert und einen großen wissenschaftlichen Satz nach vorne gemacht hat, was große Teile der früheren Ansichten der katholischen Soziallehre obsolet macht. Die Enzyklika übertrifft sogar in wichtigen Bereichen die Wirtschaftswissenschaft selbst, die bis heute von der Mechanik des neoklassisch-keynesianischen Paradigmas bestimmt wird und unfähig ist, die wichtige kreative und dynamische Natur der unternehmerischen Funktion in ihre Modelle zu integrieren. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte hat die Soziallehre der katholischen Kirche unter dem Einfluss der Österreichischen Schule der Nationalökonomie das Mainstream-Paradigma der Wirtschaftswissenschaft überholt, das immer noch den kreativen Menschen ignoriert und von einem statischen Verständnis von Markt und Gesellschaft dominiert wird.

Einige kritische Anmerkungen Auch gegen die besten Bücher können Einwände erhoben werden, und kleinere Fehler machen ein Buch – so wie den Menschen auch – erst richtig interessant. Deshalb will ich meine Anmerkungen zu Kirzners Arbeit über die Sozialethik nicht abschließen, ohne zwei Aspekte zu erwähnen, hinsichtlich derer seine Position m. E. verbessert werden könnte.

Kirzner und der angebliche Relativismus ethischer Prinzipien unter Berücksichtigung historischer Umstände Der erste Einwand, den wir gegenüber Kirzners Analyse erheben möchten, bezieht sich auf die unserer Meinung nach ungerechtfertigten Zugeständnisse, die er auf den Seiten 126 bis 127 und 176 bis 177 in seinem Buch Discovery, Capitalism and Distributive Justice macht. Dort schreibt er, dass die von ihm vorgeschlagenen Gerechtigkeitsprinzipien – die auf der Aneignung von Gütern und Dienstleistungen, die durch den Unternehmer entdeckt werden, gründen – ihre größte Relevanz dann hätten, wenn die Ungleichgewichte, die Unsicherheit und die Kreativität am 14

Siehe Papst Johannes Paul II. (1991), 25, Kapitel 9, Nummern 32–33.

Einige kritische Anmerkungen  

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größten seien.15 Und er schreibt weiter, dass sie in vergleichsweise stabilen Märkten und unter besonderen Umständen weniger relevant seien. Unserer Meinung nach hat die dynamische Gerechtigkeitsregel, die Kirzner vorschlägt, jedoch universelle Gültigkeit, unabhängig von den jeweiligen Umständen, die in einer Situation vorliegen mögen. Sobald institutioneller Zwang dazu benutzt wird, das Sozialprodukt zu verteilen, wird die kreative Fähigkeit, die zum Wesen des Menschen gehört, mehr oder weniger behindert. Das schadet den Möglichkeiten, Informationen zu schaffen und den gesellschaftlichen Prozess zu koordinieren. Außerdem ist es analytisch nicht möglich, Situationen, in denen ein relativ stabiler gesellschaftlicher Prozess die Anwendung alternativer Kriterien, die auf „sozialer Gerechtigkeit“ gründen, erlauben würde, von jenen zu unterscheiden, in denen die soziale Stagnation sich unmittelbar aus der staatlichen Gewalt – in der sich derlei alternative Kriterien manifestieren – ergibt. Kirzner selbst gibt zu bedenken, „dass das Ausmaß, in dem entdeckte Einsichten sowohl in die Ökonomie als auch in die Moralphilosophie eingeführt werden müssen, immer größer wird, je diffiziler und „offener“ der Kapitalismus wird.“16 Unser Dissens mit Kirzner ergibt sich also aus dem Umstand, dass das auf der unternehmerischen Funktion basierende Gerechtigkeitsprinzip – anders als Kirzner unterstellt – keine Ausnahmen zulässt. Das Prinzip ist universell und auf alle historischen Situationen anwendbar, in denen ein Mensch, ausgestattet mit der angeborenen unternehmerischen und kreativen Fähigkeit, involviert ist.

Kirzners Theorie des Unternehmertums und ihre Anwendung auf die Entstehung von Institutionen und moralischem Verhalten Vor kurzem hat Israel Kirzner in zwei leicht irritierenden Aufsätzen erneut die These vertreten, die Theorie der unternehmerischen Funktion, die er in seinem Oeuvre so brillant und überzeugend dargelegt hat, könne nicht unmittelbar genutzt werden, um die spontane Entwicklung und Verbesserung gesellschaftlicher Institutionen zu rechtfertigen.17 Das einzige Argument, das Kirzner zur Unterstützung dieser These vorbrachte, ist die vermeintliche Existenz einer „Externalität“, die institutionelle Verbesserungen daran hindere, auf die besagte Weise verwirklicht zu werden. Nach Kirzner findet der Prozess der unternehmerischen Kreativität und Entdeckung nicht im Bereich der Institutionen statt, da die Unternehmer dort nicht in der Lage seien, die Gewinne ihrer unternehmerischen Kreativität in Besitz zu nehmen. Kirzner bemerkt zu recht, dass das Auftreten einer „Gemeinwohl“-Situation im Markt nicht als Defekt interpretiert werden könne, da der Staat mit Gewalt verhindere, dass die Eigentumsrechte an diesen Gütern weder festgelegt noch geschützt werden. Es sei ja auch absurd, die Nichtexistenz einer utopischen Situation 15

Siehe Kirzner (1989), S. 126 f., 176 f. Kirzner (1989), S. 176. 17 Siehe Kirzner (1992), S. 163–179 und Kirzner (1993). 16

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11. Die Ethik des Kapitalismus

infolge institutioneller Unzulänglichkeiten als „Marktversagen“ zu klassifizieren. Kirzner fährt dann fort – und hier folge ich ihm nicht –, dass die institutionellen Unzulänglichkeiten auch aus einer unterstellten Gemeinwohlsituation heraus entund bestehen könnten, die, wie wir bereits erwähnt haben, laut Kirzner dafür sorgt, dass die unternehmerische Aktivität daran gehindert wird, den notwendigen institutionellen Wandel hervorzurufen.18 Wir können Kirzners paradoxe und einschränkende Haltung, die er im Hinblick auf die Anwendbarkeit seiner eigenen Theorie der unternehmerischen Funktion auf das Entstehen von Institutionen einnimmt, nicht teilen. Erstens, vor dem Hintergrund des dynamischen Marktprozesses glauben wir, dass Gemeinwohlprobleme nicht nur deshalb kein Marktversagen sind, weil sie infolge institutioneller Ineffizienz eintreten. Unserer Meinung nach ist das „Problem“ öffentlicher Güter nie ein Marktversagen. Immer dann, wenn eine Situation vorliegt, in der etwas gemeinsam bereitgestellt wird, ohne dass – mangels staatlichem Zwang – die Möglichkeit bestünde, Trittbrettfahrer vom Genuss auszuschließen, entstehen Anreize für unternehmerische Aktivität. In der Folge werden technische, rechtliche und institutionelle Innovationen entdeckt, welche die angebliche Problematik des öffentlichen Gutes beseitigen. Dies geschah z. B. mit Gemeingütern im amerikanischen Westen, wo es lange Zeit schwerwiegende Konflikte und Probleme in der gesellschaftlichen Koordination gab, bis es schließlich gelang, die jeweiligen Nutzer der Grundstücke (Farmer und Viehzüchter) mit den entsprechenden Eigentumsrechten auszustatten. Diese Situation war dann für die Unternehmer der auslösende Moment für eine wichtige technische Innovation: Stacheldraht. Er erlaubte es, Eigentumsrechte an großen Ländereien zu erschwinglichen Preisen anzuzeigen. Das löste das Gemeingutproblem. Ein anderes Beispiel sind die Leuchttürme als Navigationshelfer. In der Geschichte wurden sie meistens privat betrieben. Man erfand allerlei technische und institutionelle Prozeduren im Rahmen des unternehmerischen Prozesses. So lernte man die Präferenzen der Nutzer kennen und die Kosten abzuschätzen (z. B. sozialer Boykott von Trittbrettfahrern, Zusammenschlüsse von Fischern und Schiffseigentümern etc.). Wir müssen erst gar nicht die sonstigen technologischen Innovationen erwähnen. Man denke etwa an das Kabelfernsehen, das dank der unternehmerischen Kreativität das Gemeingutproblem, das dort noch bis vor kurzem bestand, löste. Wenn der Staat nicht interveniert, dann verschwindet – aus der dynamischen Perspektive heraus betrachtet – das Gemeingutproblem von alleine, und zwar als Ergebnis des kreativen Vermögens der unternehmerischen Funktion.

18

„Es scheint keinen offensichtlichen Weg zu geben, auf dem man dem Privatunternehmer die Überlegenheit des metrischen Systems schmackhaft machen könnte – sollte es überhaupt in seiner Macht stehen, sich überzeugen zu lassen. Die positive Externalität für die Gesellschaft, die sich aus einer Änderung im metrischen System ergäbe, blockiert offenbar jede Umsetzung dieser ungenutzten Möglichkeit – die allen gemeinsam offensteht – in konkete Möglichkeiten, die auch privat attraktiv genug sind, um unternehmerische Entdeckungen zu wecken.“ Kirzner (1992), S. 174.

Einige kritische Anmerkungen  

225

Es ist richtig, dass im Bereich der sozialen Institutionen (Recht, Moral, Ökonomie und Sprache) die Probleme, die mit der individuellen Aneignung der Früchte unternehmerischer Kreativität einhergehen, viel mühseliger und schwieriger sind. Das bedeutet aber nicht, dass es dort unmöglich wäre und es nicht dauernd zu Verbesserungen käme. Ohne die kreative Fähigkeit der unternehmerischen Funktion kann man weder den Prozess der Generierung, noch den der Entwicklung und Verbesserung der wichtigsten sozialen Institutionen begreifen. Genau das zeigte Menger in seiner Untersuchung zur evolutionären Entstehung sozialer Institutionen, insbesondere die des Geldes. Für Menger begann die Entstehung des Geldes damit, dass einige wenige aufmerksame Menschen die Initiative ergriffen und vor anderen erkannten, dass sie ihre Ziele einfacher erreichen würden, wenn sie im Austausch für ihre Güter und Dienstleistungen solche Güter und Dienstleistungen nachfragen würden, die auf dem Markt leichter kommerziell zu nutzen wären. Diese wurden dann zu Austauschmittel. Der Lernprozess sorgte dafür, dass sich dieses Verhalten auf dem Markt ausbreitete, bis schließlich das Austauschmittel allgemein gebräuchlich war und sich in Geld verwandelte.19 Ebenso klar ist, dass Sprachen sich ständig entwickeln und dass dank der Kreativität zahlreicher Akteure neue Begriffe eingeführt und alte verbessert werden, Grammatik- und Interpunktionsregeln verändert und vereinfacht werden. Wenn wir Schriftstücke aus verschiedenen Epochen vergleichen, dann können wir wichtige und bedeutsame Veränderungen im Detail erkennen. Nicht eine von ihnen könnte ohne die unternehmerischen Fähigkeiten und die Aufmerksamkeit der Nutzer der jeweiligen Sprache erklärt werden, die in den verglichenen Epochen gesprochen wurden. Schließlich dürfte klar sein, dass es kein objektives Kriterium gibt, das uns erlauben würde, eine rationale Institution zu etablieren, die aus Sicht des dynamischen und vom unternehmerischen Impetus geprägten Gesellschaftsprozesses effizienter ist als diejenige, die von der Evolution geformt wurde. Ist vielleicht Esperanto eine bessere oder „effizientere“ Sprache als Englisch oder Spanisch? Nach welchem Kriterium können wir beurteilen, ob das metrische System aus Sicht des dynamischen Koordinationsprozesses effizienter ist als irgendein anderes? Und was die wenigen wichtigen Rechtsprinzipien angeht, welche die soziale Koordination und die Ausübung der unternehmerischen Funktion ermöglichen, sie sind eindeutig das Resultat eines evolutionären Prozesses und auf folgende Punkte reduzierbar: Respekt vor dem Leben, vor dem Eigentum, vor friedlich angeeigneten Besitz­tümern und der Vertragseinhaltung. Die Idee, dass die von Kirzner entwickelte Theorie der unternehmerischen Funktion entgegen Kirzners Dafürhalten, das fehlende Glied sei, um die Österrei 19 „Dann konnten die einen von selbst auf die Idee verfallen, so vorzugehen, und die anderen konnten das Vorgehen jener nachahmen.“ Mises (1980), S. 366. Es gibt wohl kaum eine präzisere Form, um auf die dominante Rolle hinzuweisen, die unternehmerische Wachsamkeit und Kreativität bei der Entstehung von Institutionen spielen, als mit diesen Worten von Mises, die er in seinem Kommentar zu Mengers Beitrag schrieb.

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11. Die Ethik des Kapitalismus

chische Theorie zur Genese sozialer Institutionen angemessen darstellen zu können, bedeutet nicht, dass man über die Möglichkeiten zur „Verbesserung“ existierender sozialer Institutionen nicht theoretisieren könnte.20 Allerdings ist das eine Arbeit der immanenten „Kritik“, also Exegese, Verbesserung logischer Schnitzer und Anwendung von Prinzipien, die sich aus der Evolution anderer Bereiche ergeben, in denen unternehmerische Kreativität am Werk ist (man denke an die Anwendung traditioneller Prinzipien aus dem Vertragsrecht auf neuprivatisierte Bereiche wie Hochseefischgründe, Leihmutterschaften etc.) Wir kommen daher zum Schluss, dass Kirzner nicht kirznerisch genug darin ist, alle Möglichkeiten wahrzunehmen, die sich seiner Theorie der unternehmerischen Analyse böten, wenn man sie auf die Entstehung sozialer Institutionen anwendete.

Schlussfolgerung Die oben genannten Einwände mindern in keiner Weise die großen Verdienste, die Kirzner sich mit seiner Unternehmertheorie und deren Anwendung auf die Entwicklung und Grundlagenbildung einer vollständigen Theorie der Sozialethik erworben hat. Dank letzterer können wir die Ansprüche der „sozialen Gerechtigkeit“ fortan getrost beiseitelassen. Wir wissen nun, dass sie auf dem Analysefehler beruhen, eine statische Ökonomie mit gegebenen Ressourcen und Informationen anzunehmen. Das dynamische Verständnis der Marktwirtschaft macht es leichter, Stellung im ethischen Diskurs zu beziehen, und stärkt die Meinung, dass freie Märkte, die durch die unternehmerische Funktion angetrieben werden, aus dynamischer Sicht nicht nur effizienter, sondern auch die einzig gerechten sind. Es gibt daher keinen Grund für Unternehmer, sich in irgendeiner Weise schuldig zu fühlen, wenn sie – den traditionellen Prinzipien des Eigentumsrechts folgend – die Früchte ihrer kreativen Fähigkeit selbst ernten. Wer versteht, wie der unternehmerische Marktprozess funktioniert, für den ist es offensichtlich, dass die Grundprinzipien

20 Diese Überlegung rechtfertigt aber nicht die neoklassische Analyse des Rechts und der Gerichte, die hier gerne zur Erklärung herangezogen wird und dabei Konstanz, Gleichgewicht und eine strikte Rationalität der gewinnmaximierenden Akteure unterstellt. Der Widerspruch, der in der ökonomischen Analyse des Rechts enthalten ist, ist offensichtlich, da im statischen Rahmen Gesetze und Institutionen unnötig wären. Einfache Befehle, welche die vollständige Information bereits enthalten würden, reichten aus, um die Gesellschaft zu koordinieren. In Abgrenzung zu diesem Paradigma meinen wir, dass rechtliche Regeln und Institutionen nicht streng nach statischer Effizienz gemessen werden sollten; d. h., nicht nach einem Maßstab, der von Pareto stammt und die Kosten mit den angeblich bekannten Gewinnen vergleicht. Stattdessen sollte der Maßstab der dynamischen Effizienz angelegt werden. Mit anderen Worten, man sollte ermitteln, ob die unternehmerische Kreativität und die Koordination der Märkte gefördert und angeregt werden. Wir sollten also nicht à la Pareto nach „optimalen“ Case Law-Regeln und Entscheidungen suchen, sondern nach gerechten Case Law-Regeln und Entscheidungen Ausschau halten, die – aus Sicht der dynamischen Effizienz des unternehmerischen Marktprozesses – die Koordination antreiben.

Schlussfolgerung  

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der Gerechtigkeit und Ethik darauf basieren sollten, dass jeder Akteur die Ergebnisse seiner unternehmerischen Kreativität nutzen darf. Logischerweise steht es mit der unternehmerischen Kreativität auch vollkommen in Einklang, wenn man diese freiwillig dazu nutzt, um Notlagen anderer Menschen zu ent­decken und zu beseitigen.

12. Eine Hayekianische Strategie zur Einführung marktwirtschaftlicher Reformen1 In seinem lebenslangen wissenschaftlichen Einsatz für die Freiheit vergaß Friedrich August von Hayek nie, wie wichtig es ist, einer effektiven und konsistenten Strategie zur Implementierung marktwirtschaftlicher Reformen zu folgen. Es ist nun an uns, Hayeks Einsichten und Vorarbeiten in dieser praktischen Angelegenheit fortzusetzen und zu vervollkommnen, wenn wir den Erfolg libertärer Ideale in der Zukunft sehen wollen. Mit diesem Ziel vor Augen wurde der vorliegende Aufsatz zu Ehren von Dr. Gerrit Meijer geschrieben.

Einleitung Die Theorie der Freiheit hat sich in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts erheblich weiterentwickelt. Wir können heute zweifellos sagen, dass zumindest im Bereich der Wirtschaftswissenschaft die Prinzipien des freien Marktes vollends triumphieren. Mises, Hayek und andere Mitglieder der Österreichischen Schule der Nationalökonomie haben nicht nur gezeigt, dass der real existierende Sozialismus theoretisch unmöglich ist.2 Ihre Analysen zeigen zudem, dass auch die interventionistische Wirtschaftspolitik, die in der „gemischten“ Wirtschaftsform praktiziert wird, dem Untergang geweiht ist. Außerdem erscheinen ständig Studien, die die Krise des sogenannten Wohlfahrtsstaates dokumentieren. Wir können daher mit Fug und Recht sagen, dass heute zu Beginn des neuen Jahrhunderts die theoretische Debatte von denjenigen gewonnen wurde, die für die freie Marktwirtschaft eintreten. Nichtsdestotrotz liegt vor der praktischen Anwendung libertärer Prinzipien immer noch ein langer Weg. Obwohl der historische Untergang des real existierenden Sozialismus in Osteuropa die Unmöglichkeit des Kommunismus aufgezeigt hat und in anderen interventionistischen Ländern (die inkorrekt als Marktwirtschaft beschrieben werden) liberalisierende Reformen durchgeführt werden, sind nach wie vor viele Schwierigkeiten zu überwinden. Obwohl das Ziel aus theoretischer Sicht klar ist, scheint es doch sehr schwierig zu sein, die notwendigen Reformen anzustoßen und in die Praxis umzusetzen. Zwar haben sich marktwirtschaftliche 1

Ursprünglich veröffentlicht in J. Backhaus, W. Heijmann, A. Nantjes und J. von Ophem (Hrsg.), Economic Policy in an Orderly Framework: Liber Amicorum for Gerrit Meijer, Münster 2003, S. 231–254. 2 Huerta de Soto (2013).

Gründe der angeblich unmöglichen Marktwirtschaftsreformen  

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Reformen nicht nur aus theoretischer, sondern sogar aus moralischer Sicht als ratsam erwiesen, aber dennoch hört man das Argument oft, sie seien politisch unmöglich. In diesem Aufsatz schlagen wir deshalb vor, dem Einwand der angeblichen Unmöglichkeit der Weiterentwicklung libertärer Ideologie entgegenzutreten. Wir müssen angemessene Strategien und Taktiken entwerfen, um marktwirtschaftliche Reformen voranzutreiben. Dazu bedarf es auch einer Analyse der Beziehung, die zwischen libertären Wirtschaftstheoretikern und jenen Politikern besteht, die versuchen, die Gesellschaft Schritt für Schritt in die richtige Richtung zu lenken. Zunächst werden wir die Gründe darlegen, mit denen man üblicherweise zeigen will, dass die Implementierung marktwirtschaftlicher Reformen politisch unmöglich sei. Dazu werden wir eine Reihe neuerer historischer Beispiele beleuchten, die den Pessimismus in dieser Frage mal mehr, mal weniger deutlich widerlegen. Danach präsentieren wir eine Strategie, die wir als die angemessenste erachten, um die Hindernisse der gemutmaßten politischen Unmöglichkeit auf drei Wegen zu überwinden: dem theoretischen, dem ethischen und dem historischen Weg. Wir schlagen zudem eine Reihe von Aktivitäten vor, die man fördern kann und sollte, um eine Richtungsänderung in der öffentlichen Meinung zu erzeugen. Dabei betonen wir insbesondere die bedeutende Rolle der Politiker im Allgemeinen und die der libertären Politiker im Besonderen. Wir beschließen die vorliegende Arbeit mit einer Einteilung der Berufspolitiker in vier unterschiedliche Typen, gemessen an ihrem theoretischen und praktischen Engagement für die Freiheit. Außerdem fügen wir eine Analyse der wichtigsten Umstände an, die das Verhalten der Politiker beeinflussen, sowie eine Liste empfehlenswerter Praktiken für alle Libertäre, die sich entscheiden, in die Politik zu gehen.

Die vorgeschobenen Gründe der angeblich unmöglichen Marktwirtschaftsreformen Es gibt verschiedene gängige Gründe, um zu argumentieren, dass viele libertäre Reformen politisch nicht durchführbar seien, was die Beibehaltung des Status quo rechtfertige. So wird z. B. behauptet, dass die theoretischen Gründe zugunsten marktwirtschaftlicher Politik im Allgemeinen sehr abstrakt und schwer zu erklären seien. Es wird ebenfalls argumentiert, die Menschen hätten Vorbehalte gegen politischen Wandel, insbesondere dann, wenn dieser Wandel auf abstrakten Theorien beruhe und das Erreichen mittel- und langfristiger Ergebnisse zu Beginn Einschnitte erfordere, gleichwohl verstanden werde, dass sie für das langfristige Ziel erforderlich seien. Das führt dazu, dass Politiker normalerweise dazu tendieren, zu ängstlich und ohne Überzeugung hinter Reformen zu stehen, die in die richtige Richtung weisen. Libertäre Argumente stehen in dem Verdacht, einfacher Kritik zu viele Flanken zu bieten, insbesondere jener der sozialistischen Opposition, die in der Vergangenheit bewiesen hat, dass sie sich skrupellos demagogischer Instrumente bedient.

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Diesen und anderen Argumenten, die von den Politikern, die über marktwirtschaftliche Reformen nachdenken, üblicherweise vorgetragen werden, scheinen die Arbeiten der „Public-Choice-Schule“ nun ein theoretisches Fundament zu liefern. In der Tat bieten viele Analysen dieser von James M. Buchanan angeführten Schule eine theoretische Erklärung für die Schwierigkeiten bei der Umsetzung angemessener Reformen. So wird z. B. über den sogenannten „Effekt der rationalen Uninformiertheit“ gesprochen, dem zufolge der einzelne Wähler das Ergebnis einer Wahl nur begrenzt beeinflussen kann. Das heißt, das demokratische System motiviert bewusst oder unbewusst den Bürger dazu, sich den Aufwand zu sparen und die verschiedenen komplexen Themen, die auf der politischen Ebene diskutiert werden, nicht mit der notwendigen Tiefe zu analysieren.3 Im Kontrast zum fehlenden Interesse der Bürger steht das sehr starke Interesse der Lobby- und Interessengruppen an Sonderbereichen, in denen sie ihre Kräfte erfolgreich mobilisieren können, um auf öffentliche Stellen Druck und Einfluss auszuüben und auf Kosten der schweigenden Mehrheit, für die niemand eintritt, Privilegien zu erhalten. Desgleichen gibt es Theorien zur Kurzsichtigkeit staatlicher Politik, die auf das vorrangige Interesse der Politiker am Machterhalt zurückgeführt wird, was wiederum erkläre, dass ihre Entscheidungen vor dem Hintergrund einer kurzfristigen Zukunft (die nächsten Wahlen) getroffen würden. Es sei daher fast unvermeidbar, dass der langfristige Wohlstand der Gesellschaft dem Erhalt kurzfristiger politischer Vorteile geopfert werde. Schließlich konnte gezeigt werden, dass die Verwaltung dazu tendiert, ihre Kompetenzen ständig auszuweiten; immer auf der Suche nach Rechtfertigungen für ihre Existenznotwendigkeit und ihr Wachstum. Behörden hängen nicht von einer Gewinn- und Verlustrechnung ab und sind auch nicht gezwungen, wie ein privates Unternehmen ihre Dienstleistung auf dem Marktplatz zu behaupten. Die Existenz der Bürokratie wird durch den Staatshaushalt finanziert und durch ausreichende politische Unterstützung garantiert (bei zusätzlicher Unterstützung durch Interessengruppen). Wenn wir einmal das offenkundig wissenschaftliche Potential, das wir an dieser Stelle nicht weiter diskutieren, ausblenden, dann ist eines ganz offensichtlich: Es gibt ein erhebliches Risiko, dass die Analysen der Public-Choice-Schule einen Nihilismus unter denjenigen hervorrufen, die ihre Anstrengungen auf die Durchsetzung richtungsweisender politischer Reformen lenken wollen. Scheinbar erklärt und bekräftigt die Public-Choice-Theorie einen Teufelskreis in der Politik, der kaum zu durchbrechen ist. Die Theorie zeigt, dass der Politiker den bereits existierenden Status der öffentlichen Meinung mehr oder weniger nur einfangen kann, aber nicht kurzfristig in die richtige Richtung umlenken kann. Der Kombinationseffekt aus 3

Mit anderen Worten, demokratische Systeme generieren, in neoklassischer Terminologie gesprochen, ein gigantisches, unlösbares Problem der öffentlichen Güter oder Trittbrettfahrer, da jeder Wähler die hohen Kosten verantwortungsvollen Wählens internalisiert, während fast alle Vorteile seiner Handlung unter dem Rest der Mitbürger aufgeteilt werden. So ist es praktisch unmöglich, dass der individuelle Wähler die Vorteile für sich genießen kann, die sein Handeln als informierter und verantwortungsvoller Wähler mit sich brächte.

Historische Beispiele, die den Pessimismus widerlegen 

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der „rationalen Uninformiertheit“ und den Aktivitäten privilegierter Interessengruppen führt zu einer Reihe frustrierender Erfahrungen, denen sich der Politiker ausgesetzt sieht, wenn er versucht, marktwirtschaftliche Reformen umzusetzen. Es ist verständlich, dass jemand leicht zweifelt und mutlos wird, wenn er zu der Schlussfolgerung kommt, das Hindernis der politischen Unmöglichkeit sei kaum oder gar nicht zu überwinden, zumal es theoretisch fundiert sei.

Historische Beispiele, die den Pessimismus widerlegen Es gibt verschiedene historische Beispiele, die zeigen, wie man radikale Refor­ men selbst unter schwierigen Bedingungen umsetzen kann. Wir beziehen uns ausschließlich auf die bekanntesten Fälle seit dem Ende des 2. Weltkriegs.4 An erster Stelle sollten wir die liberalen Reformen erwähnen, die Ludwig Erhard in der Bundesrepublik Deutschland nach dem 2. Weltkrieg umgesetzt hat. Sie sind der Beweis für eine bewusste Abweichung von den interventionistischen Empfehlungen der ökonomischen Berater, die von den Siegermächten geschickt worden waren (Galbraith). Erhards liberale Reformen wurden 1948 auf einen Streich und überraschend umgesetzt. Sie führten zu dem spektakulären Wirtschaftswunder.5 Dreißig Jahre später hatte die „konservative Revolution“ in den Vereinigten Staaten, die Ronald Reagan in seinen zwei Amtszeiten (1980 bis 1988) vorantrieb, ebenfalls einen großen Einfluss. In dieser Zeit setzte Reagan eine wichtige Steuerreform durch, die den Grenzsteuersatz auf 28 % reduzierte und die staatlichen Regulierungen sowie das Gewicht der Verwaltung erheblich minderte. Dies führte zu einem ökonomischem Wachstum, das in der Schaffung von mehr als zwölf Millionen Arbeitsplätzen zum Ausdruck kam.6 Erwähnt sei auch die, geographisch nähergelegene, konservative Revolution von Margaret Thatcher im Vereinigten Königreich, die für die Dauer von fast zwölf Jahren ein ambitioniertes Programm zur Privatisierung staatlicher Unternehmen bedeutete, das bis heute in der Welt einzigartig ist. Thatcher verkaufte Millionen von Sozialwohnungen an deren Mieter und verwandelte so eine große soziale Klasse in kleine Eigentümer. Sie setzte auch eine grundlegende Steuerreform durch, senkte den Spitzensatz der Einkommensteuer auf 40 % und initiierte ein Programm der moralischen Erneuerung, das einen starken Einfluss auf die Volkswirtschaft aus 4

Wir könnten an dieser Stelle viele andere der früheren Freiheitsreformen aufzählen und sogar bis zu den gescheiterten Reformen zurückgehen, die Turgot im 18. Jahrhundert umzusetzen versuchte. Für unsere Zwecke reichen aber die Beispiele, die wir im Haupttext präsentiert haben. 5 Zu Erhards Reformen siehe dessen Buch Wohlstand für Alle, Erhard (1957), zusammen mit der Gesamtausgabe seine Werke Erhard (1992). Ebenfalls aufschlussreich ist die Arbeit von Brittan / Lilley (1977), Kapitel 4. 6 Zu Reagans Reformen und deren philosophischen Grundlagen siehe Anderson (1998) und Bartlett (1981).

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übte, die nach dem 2. Weltkrieg von einer jahrzehntelangen Interventionspolitik geprägt worden war; übrigens nicht nur durch sozialistische Regierungen, sondern auch durch verschiedene konservative Regierungen, die den strategischen Fehler des Pragmatismus begingen.7 In Anbetracht seiner großen historischen Bedeutung müssen wir auch auf den Untergang des real existierenden Sozialismus in Osteuropa verweisen, der das Ergebnis einer Reihe von im Allgemeinen gewaltlosen Revolutionen ist, die um das Jahr 1989 herum stattfanden. Diese Geschehnisse spielten sich zur großen Verwunderung der westlichen Welt ab und überraschten auch die führenden intellektuellen und politischen Akteure. Die Reformen, die in Lateinamerika, insbesondere in den Ländern Chile, Argentinien, Mexiko und Peru, von populistischen Politikern durchgeführt wurden, werden trotz einiger Maßnahmen in die richtige Richtung erst in Zukunft eine ähnliche Bedeutsamkeit entwickeln.8 Entgegen der oben genannten nihilistischen Versuchung zeigen diese und andere historische Beispiele, dass man selbst unter schwierigen historischen Bedingungen die Hürde der politischen Unmöglichkeit überwinden kann, die offenbar immer dann auftaucht, wenn der Versuch unternommen wird, marktwirtschaftliche Reformen auf den Weg zu bringen und in die Praxis umzusetzen. Wir werden nun die Strategien und Maßnahmen untersuchen, die notwendig sind, um dasjenige zu erreichen, was heute als sehr schwierig oder politisch unmöglich erscheint, aber aus gesellschaftlicher Sicht notwendig ist.

Die drei Handlungsebenen, die für Reformen notwendig sind: theoretisch, historisch und ethisch An anderer Stelle habe ich die These vertreten, dass es für jede politische, ökonomische und gesellschaftliche Situation drei unterschiedliche Ebenen gibt: eine theoretische Ebene, eine historische Ebene und eine ethische Ebene.9 Gemäß diesem Ansatz sollte man gesellschaftliche Phänomene von allen drei Standpunkten aus analysieren und interpretieren. Vor diesem Hintergrund leuchtet es ein, dass jede fehlerhafte Politik aus einer Reihe von Faktoren hervorgeht, die mit jeder der drei Ebenen in Beziehung steht. Eigentlich stecken hinter jeder schädlichen Politik gravierende Fehler und Trugschlüsse, und zwar auf wissenschaftlicher bzw. theoretischer Ebene. Ständig werden falsche Theorien bemüht, um eine abträgliche Inter 7 Zu Bedeutung und Einfluss der Revolution durch Thatcher siehe insbesondere Thatchers eigene Bücher The Downing Street Years sowie The Path to Power, Thatcher (1993, 1995). 8 Das ist z. B. bei Carlos Menem aus Argentinien der Fall. Die Liberalisierungsmaßnahmen in Chile waren sehr erfolgreich und dienten als Vorlage für andere lateinamerikanische Länder, obwohl sie unter der Diktatur von General Pinochet durchgeführt wurden. Die Chilenen waren aber klug genug, die Liberalisierungen, die ursprünglich von Pinochet durchgeführt wurden, beizubehalten oder sogar zu verstärken, als die Demokratie ins Land zurückkehrte. 9 Vgl. Kapitel 3 im vorliegenden Buch.

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ventionspolitik zu rechtfertigen. Manchmal entstehen diese Theorien unabhängig oder zufällig, bevor sie anschließend für eine Politik verwendet werden, welche die theoretischen Fehler gleich mit übernimmt. In anderen Fällen konstruiert man die fehlerhaften Theorien ad hoc, um im Nachhinein eine Politik zu rechtfertigen, über die im Vorfeld bereits entschieden wurde.10 Auf der historischen Ebene – d. h. auf der Ebene praktischer Alltagssituationen – ist einer der wichtigsten Faktoren fehlgeleiteter Politik die Intervention von Interessengruppen und privilegierten Lobbyverbänden, die von der Politik profitieren. Die Existenz bestimmter Personen oder sozialer Gruppen, die infolge eines bestimmten Politikansatzes besonders privilegiert oder bevorteilt werden, gehört zu den Konstruktionsfehlern auf der theoretischen Ebene. Für die ethische Ebene sollte man festhalten, dass eine schädliche Politik, die aus den Fehlern einer Theorie und der Unterstützung privilegierter Interessengruppen folgt, praktisch unvermeidbar ist, wenn die Moralprinzipien der Gesellschaft  – gemeint sind die Grundregeln, die unser Verhalten bestimmen – in der Krise stecken. Anders ausgedrückt: Der einzige Schutzschild, der einer Gesellschaft bleibt, in der theoretische Fehler und privilegierte Interessengruppen auftreten, ist der Bestand an moralischen Verhaltensregeln, den sich Bürger und Verantwortliche bewahren. Fällt auch er weg, dann ist die Gesellschaft verloren und ein willfähriges Opfer für Demagogen, Interventionisten und schädliche Politiker, die immer eine irreführende theoretische Rechtfertigung und die Unterstützung einer privilegierten Lobbygruppe finden. Dank der oben genannten Überlegungen können wir über eine passende Strategie nachdenken, damit das, was uns heute unmöglich erscheint, in Zukunft machbar ist. Anders gesagt, es geht um die Verhinderung bzw. den Austausch interventionistischer Politik gegen eine andere, die mit dem Ideal des freien Marktes leichter vereinbar ist. Wir werden daher eine Reihe von spezifischen Maßnahmen und Handlungen vorschlagen, die auf den drei Ebenen (theoretisch, historisch und ethisch) unternommen werden sollten, um das zu bewältigen, was heute als ein unüberwindbares Hindernis gilt: die politische Unmöglichkeit, Reformen mit libertärem Inhalt durchzuführen.

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Dies trifft z. B. auf die marxistische Theorie der Ausbeutung zu, auf die Karl Marx verfiel, um seine bereits vorher feststehende revolutionäre Meinung zu rechtfertigen. Ein weiteres Beispiel ist Keynes’ General Theory, die einen Großteil ihrer Popularität der Tatsache verdankt, dass sie das theoretische Fundament und die wissenschaftliche Respektabilität zu jenem Interventionismus lieferte, den der Staat in fiskalischen, monetären und kreditären Fragen schon immer an den Tag legte; und zwar entgegen aller Prinzipien einer korrekten Wirtschaftstheorie.

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Handlungen auf der theoretischen Ebene Im Kampf um die Freiheit spielt der reine Theoretiker eine wesentliche Rolle. Seine Rolle besteht im Kern in der radikalen Suche nach der wissenschaftlichen Wahrheit, ohne andere vorangestellte Verpflichtungen. Um den Teufelskreis der politischen Unmöglichkeit zu durchbrechen, spielt der Theoretiker auf lange Sicht die wichtigste Rolle. Es gibt keinen Zweifel daran, dass Ideen die Welt bestimmen und auf die eine oder andere Weise der Gesellschaft ihren Stempel aufdrücken. Nun sind vor allem in der Welt der libertären Theorien die Fortschritte besonders groß gewesen. Heute kann man durchaus sagen, dass die libertären Theorien einen Erdrutschsieg gegen jene Theorien davon getragen haben, die zur Rechtfertigung von Sozialismus und Interventionismus herangezogen werden. Es reicht, darauf zu verweisen, dass die von der Österreichischen Schule der Nationalökonomie (Mises und Hayek) aufgestellte These von der Unmöglichkeit des Sozialismus nach einigen Jahrzehnten der Auseinandersetzung nicht nur durch den Untergang des real existierenden Sozialismus in Osteuropa bewiesen wurde, sondern auch durch die scheinbar unlösbare Krise, in die der Wohlfahrtsstaat in der gesamten westlichen Welt geschlittert ist.11 Auf der theoretischen Ebene besteht das wichtigste Handlungsprinzip in der Suche nach der wissenschaftlichen Wahrheit, ohne Konzessionen, die im Gegenzug kurzfristige Vorteile oder politischen Einfluss brächten. Wie Hayek sagte: „Ich glaube nicht, dass die Arbeit des Politikers mit der des Gesellschaftsforschers vergleichbar ist. Mir scheint es eher so zu sein, dass man nur dann als Politiker erfolgreich ist oder zu einem politischen Anführer wird, wenn man keine originelle Idee zu gesellschaftlichen Fragen vorstellt, sondern nur das ausdrückt, was die Mehrheit denkt. … Ich glaube, dass der Ökonom vermeiden sollte, sich einer Partei zu verschreiben, oder auch nur einer guten Sache. Das verfälscht nicht nur seine Meinung, sondern hat auch einen Preis. Seinen Einfluss bezahlt er mit seiner intellektuellen Unabhängigkeit. Zu ehrgeizig eine bestimmte Sache durchsetzen oder seine Macht über eine bestimmte Gruppe behalten zu wollen,

11

Es ist faszinierend zu lesen, wie einer der renommiertesten unter den früheren Sozialismustheoretikern, nämlich Robert L. Heilbroner, das Versagen des Sozialismus und den Triumpf der Theorie der Österreichischen Schule einräumt und Mises darin zustimmt, dass der Sozialismus die große Tragödie des Jahrhunderts darstelle. Siehe Heilbroner (1990a), S. 1097 und 1010 f. Siehe ebenfalls seine im New Yorker erschienenen Aufsätze „The Triumph of Capitalism“ und „Reflections after Communism“, Heilbroner (1989, 1990b). Eine detaillierte Analyse der Kontroverse über die Unmöglichkeit des Sozialismus findet man in Huerta de Soto (2013). In jenem Buch erkläre ich auch, inwiefern der Fall der Berliner Mauer und das Scheitern des real existierenden Sozialismus einen großen Einfluss darauf haben, wie Ökonomie betrieben wird. Bis heute herrscht in der Ökonomie das szientistische, neoklassische Paradigma. Dessen Modelle und Theoriebausteine wurden oft dazu verwendet, eine interventionistische Wirtschaftspolitik zu rechtfertigen und zu argumentieren, dass der Sozialismus als System funktionieren könne. Siehe in diesem Zusammenhang auch Stiglitz (1994), S. xi–xii.

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hindert ihn bestimmt daran, unpopuläre Dinge zu sagen, die er sagen sollte. Das lässt ihn Kompromisse mit den herrschenden Ansichten eingehen, die auch dann akzeptiert werden müssen, wenn sie keiner ernsthaften Prüfung standhalten.“12

Kurzum, Hayek lässt uns auf der Hut sein, z. B. vor den Aktivitäten bestimmter libertärer Mitglieder der Chicagoer Schule, die Kompromisslösungen als wissenschaftliche Schlussfolgerungen ihrer Studien präsentieren. Dergleichen war bei vielen ihrer Vorschläge der Fall. Man denke an die Geldmengenregel, die flexiblen Wechselkurse, die negative Einkommensteuer, die Schulgutscheine, die Reform der Einwanderungsgesetze und an sonstige Vorschläge, die unter Wissenschaftlern und in weiten Teilen der Bevölkerung diskutiert wurden. Derlei Positionen zu präsentieren und zu vertreten, ohne die eigentlichen theoretischen Ziele explizit darzulegen oder zu erklären, half zwar, politisch akzeptable Kompromisse zu erzielen, ging aber zu Lasten des Prestiges, das sie in ihrer Rolle als Theoretiker der Freiheit genossen.13 Die Führungsrolle in der theoretischen Verteidigung marktwirtschaftlicher Prinzipien übernahm daher Schritt für Schritt die Österreichische Schule, die in ihrer Freiheitstheorie reiner ist – und der Suche nach kurzfristigen politischen Lösungen weitaus weniger verbunden. Um die genannten und sonstigen Risiken zu vermeiden, eignet sich auf der theoretischen Ebene am besten eine Doppelstrategie, wie sie William H. Hutt vorgeschlagen hat.14 Zunächst sollten die wesentlichen Prinzipien der marktwirtschaftlichen Theorie und deren Konsequenzen analysiert werden. Die übergeordneten Ziele, die auf lange Sicht erreicht werden sollen, müssen definiert und ihre wesentlichen theoretischen Implikationen ohne irgendeine Form vorgeschalteter Verpflichtungen offengelegt werden. Gleichzeitig sollte eine kurzfristige Politik entworfen werden, die uns diesen Zielen näherbringt, und auf die Konsistenz der kurz- und langfristigen Ziele geachtet werden. Kompromisslösungen, die in die entgegengesetzte Richtung führen oder die Bürger über die übergeordneten Ziele im Unklaren lassen, sollten vermieden werden. Nur diese Strategie ermöglicht es, mittel- oder langfristig die politischen Ziele zu erreichen, die heute noch als schwer erreichbar gelten. Die wesentlichen Punkte der dualen Strategie, die von allen libertären Theoretikern weiter ausgestaltet werden sollte, sind die folgenden:

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Hayek (1991), S. 45 f., (On Being an Economist). Vor kurzem meinte ein führendes Mitglied der Mont Pèlerin Society mit Bedauern, es sei frustrierend, dass die Mitstreiter aus Chicago ihre großen Talente damit verschwendeten, dem Staat dabei zu helfen, etwas effizienter zu erledigen, das dieser eigentlich gar nicht oder nur in sehr viel geringerem Ausmaß erledigen sollte. Siehe Crane (1996), S. 6. 14 Hutt (1971). Ich habe versucht, die Prinzipien der dualen Strategie auf den Sonderbereich der Krisenanalyse und Reform des Sozialsystems anzuwenden. Siehe Kapitel 9 im vorliegenden Buch. 13

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(1)  Erforschung der theoretischen Prinzipien und letztendlichen Konsequenzen, die sich ergeben, wenn man keine Konzessionen an kurzfristige politische Bedürfnisse macht. (2) Die oben genannte Aktivität nie aufgeben. Durch Bildung die theoretischen Kernprinzipien und deren Implikationen an die Bürger weitergeben. (3) Ohne die übergeordneten Ziele aus den Augen zu verlieren und ohne die Arbeit der Bildung aufzugeben, an dem theoretischen Design alternativer Übergangsprozesse arbeiten, die, ohne die theoretischen Prinzipien zu verletzen, immer in die richtige Richtung weisen. (4) Wenn die Akzeptanz einer kurzfristigen politischen Verpflichtung unvermeidbar ist, so muss diese immer den Test bestehen, ob sie die Kernprinzipien verletzt oder nicht (die Verpflichtung darf also nie bedeuten, sich von den Zielen weiter zu entfernen). Desweiteren wird es notwendig sein, den Bürgern zu erklären, dass es sich um ein kurzfristiges Zugeständnis aufgrund politischer Umstände handelt und nicht um ein theoretisches Prinzip, das logisch und unweigerlich aus libertären Ideen folgte. Auf der theoretischen Ebene können nur diejenigen Aktivitäten, die immer strikt diesen Prinzipien folgen, den marktwirtschaftlichen Strategen vor der größten der ihm drohenden Gefahren warnen. Dieselbe besteht in dem Fehler, politischen Pragmatismus zum Tagesgeschäft werden zu lassen. Dieser Fehler lässt Personen, die von den Schwierigkeiten überfordert sind, die kurzfristige politische Entscheidungen und eine angeblich undurchsetzbare Politik mit sich bringen, die eigentlichen Ziele aus den Augen verlieren. Der Pragmatismus ist das gefährlichste Laster des Libertären und hat in der Vergangenheit großen Schaden an der Ideenlehre angerichtet. Er führte dazu, dass politische Entscheidungen systematisch begrüßt oder übernommen wurden. Diese halfen zwar, an die Macht zu kommen oder dort zu bleiben, waren aber oft unvereinbar mit dem, was das eigentliche Ziel des Libertären sein sollte. (Sie führten genau in die andere Richtung). Und weil man oft nur darüber sprach, was kurzfristig politisch umsetzbar ist, und viele Wissenschaftler die eigentlichen Ziele zurückgestellt oder gar komplett vergessen hatten, kam es oft dazu, dass eine detailliertere Erforschung der theoretischen Prinzipien und der notwendige Prozess der Auseinandersetzung vernachlässigt wurden. All das bedeutete in der Vergangenheit für die marktwirtschaftliche Ideologie einen ständigen Verlust an Gehalt. Oft wurde sie von anderen Programmen, Interessen und Ideologien vollkommen verwässert. Glücklicherweise haben sich zum jetzigen Zeitpunkt die Umstände geändert. Die libertären Theoretiker befinden sich wieder in der Offensive und befassen sich mit den reinen theoretischen Prinzipien sowie der Frage, wie deren Inhalte und Implikationen der Bevölkerung näher gebracht werden können. Dies erklärt das große Comeback und den neuen Schwung der Marktwirtschaft und des Libertarianismus in der ganzen Welt.

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Handlungen im ethischen Bereich Bei aller Strategie, den Libertarianismus im Allgemeinen und die freie Marktwirtschaft im Besonderen zu verteidigen und zu stärken, ist die Ethik ganz in Vergessenheit geraten. Der Grund für diese bedauerliche Ausblendung dürfte der Vorherrschaft des engen „szientistischen“ Verständnisses in der Ökonomie geschuldet sein. Mit diesem Wissenschaftsbild hat man versucht, unsere Disziplin an eine Methodologie und wissenschaftliche Prozedur zu knüpfen, die in den Bereich der Physik und anderer Naturwissenschaften gehört. Daher gründen die neoklassischen Modelle, die bis heute die Ökonomie dominieren, auf einem reduktionistischen Verständnis menschlicher Rationalität. Man unterstellt ein geschlossenes Umfeld, in dem alle Mittel und Ziele vorhanden sind. Mit anderen Worten, man unterstellt vollständige Informationen (die man für gewiss oder auch nur für wahrscheinlich hält). In diesem Umfeld treffe der Mensch im Rahmen seiner Beschränkungen nur nutzenmaximierende Ad-hoc-Entscheidungen. Gemäß dieses Ansatzes ist es für den Menschen scheinbar nicht notwendig, sein Verhalten an irgendwelchen moralischen Richtlinien zu orientieren, weil seine richtige Entscheidung in jedem Fall allein durch das Kriterium, die bekannten Ziele zu optimieren, bestimmt wird (wobei all dies auch noch mit dem wissenschaftlichen Heiligenschein präsentiert wird, mit dem sich der mathematische Formalismus heute schmückt). Man unterstellt, dass Mittel genutzt würden, die ebenso bekannt seien wie die Ziele und sich in der Reichweite der Person befänden, welche die Entscheidung fällt. Das ist das szientistische Verständnis von Ökonomie, das die meisten Libertären der neoklassischen Schule unermüdlich an den Tag legen. Nichtsdestotrotz führen diese Autoren zur Verteidigung der Märkte nur die utilitaristischen Effizienzargumente ins Feld und überlassen das Theorienarsenal denen, die das Gegenteil propagieren: Staatsinterventionismus und Sozialismus. Wenn man erst einmal davon ausgeht, alle Informationen seien vorhanden und man könne nur einem engen Maximierungskriterium folgen, dann ist der nächste Theorienschritt fast unvermeidbar. D. h. man glaubt dann, dass der Staat bzw. eine staatliche Planungsbehörde diesen Informationen und operationalen Kriterien mit noch größerer Effizienz Rechnung zollen und die Gesellschaft im Allgemeinen und jeden ihrer einzelnen Bereiche durch entsprechende Befehle „angemessen“ organisieren könne.15 Ungeachtet dieser reduktionistischen Vorstellung von Ökonomie haben Mises, Hayek und die späteren Vertreter der Österreichischen Schule gezeigt, dass es Handelnden, Wissenschaftlern wie auch Staatsangestellten unmöglich ist, in den Besitz der Informationen zu kommen, die in neoklassischen Modellen als verfüg 15 Auf ähnliche Weise laufen viele libertäre Theoretiker der Chicagoer Schule in jene Falle, die man das Paradox des libertären Sozialingenieurs nennen könnte. Sie teilen die szientistische Arroganz der neoklassischen Sozialingenieure und geben dabei vor, mit ihrer analytischen Arbeit und den beschriebenen Mitteln jene Politik als libertär rechtfertigen zu können, die den Kernprinzipien der Freiheit oft entgegenstehen. Langfristig landen sie dann unbemerkt bei der Unterstützung des institutionellen Zwangs, der für den Interventionismus typisch ist.

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bar angesehen werden. Der Grund für diese Unmöglichkeit liegt in der unternehmerischen Kreativität des Menschen, der ständig neue Ziele, Mittel und Gewinnmöglichkeiten entdeckt. Deshalb ist das von den neoklassischen Theoretikern bevorzugte „Rationalitätskonzept“, das reduktionistisch bzw. statisch ist und die Kreativität der Menschen ausblendet, nicht zu akzeptieren.16 Die Unmöglichkeit, ein enges Maximierungskriterium als Exklusivorientierung für Handlungen des Menschen zu verwenden, macht es letzteren auch unmöglich, sich im Rahmen jener rechtlichen und moralischen Verhaltensregeln zu entwickeln, die sich gemäß der menschlichen Natur und im Laufe der Geschichte in einer Vielzahl von Prozessen sozialer Interaktionen entfaltet haben. Die moralischen und rechtlichen Institutionen können von Menschen nicht absichtlich geschaffen werden, da sie eine Informationsmenge beinhalten, die so reichhaltig ist, dass das menschliche Vermögen zur Voraussicht, Analyse und Erkenntnis von ihr vollkommen überfordert ist. Gleichwohl sind es genau diese rechtlichen, moralischen, ökonomischen und sprachlichen Institutionen, die für die Entwicklung des Lebens in der Gesellschaft und somit für die Zivilisation am wichtigsten sind. All diese Lehren, die Mises, Hayek und andere Theoretiker der Österreichischen Schule erarbeitet haben – hauptsächlich im Zusammenhang mit der Debatte über die theoretische Unmöglichkeit des Sozialismus –, legen uns nahe, die Marktwirtschaft und die ökonomische Freiheit nicht nur aus Gründen der „dynamischen Effizienz“ zu verteidigen17 (größere Kreativität und Förderung effektiverer Koordination menschlicher Verhaltensweisen), sondern vor allem deshalb, weil – ethisch betrachtet – der Kapitalismus das einzige moralische Wirtschaftssystem ist.18 Wenn die Ethik im 20. Jahrhundert in die Krise geraten ist, dann wegen der Vergötterung des Verstandes, die für den übertriebenen Szientismus so typisch ist und zur Annahme verführt, jeder Mensch folge ad hoc seinen subjektiven Impul­sen und 16

Siehe Kapitel 2 im vorliegenden Buch. Das statische Konzept der Pareto-Effizienz sollte durch ein dynamisches Konzept, das auf den kreativen Fähigkeiten der unternehmerischen Funktion basiert, ersetzt werden. Gemäß dem dynamischen Kriterium ist u. E. am wichtigsten, die unternehmerische Kreativität zu unterstützen und die Produktionsmöglichkeitenkurve nach rechts zu verschieben (alternatives Kriterium für die dynamische Effizienz). Wir sollten uns darauf konzentrieren, Verschwendung zu vermeiden und das System irgendwo auf der besagten Funktion zu positionieren (Pareto-Kriterium). Logischerweise verwenden wir dann, wenn wir uns auf die Produktionsmöglichkeitenkurve berufen, nur eine Metapher, um unseren Lesern aus der neoklassischen Tradition zu ermöglichen, uns zu verstehen. Natürlich vergessen wir dabei nicht, dass diese Funktion gar nicht existiert, da diese Punkte weder gegeben sind, noch gewusst werden ­können. 18 Dies scheint die Meinung von Papst Johannes Paul II. zu sein, der die Frage, ob der Kapitalismus der Weg zu ökonomischem und gesellschaftlichem Fortschritt sei, wie folgt beantwortete: „Wird mit „Kapitalismus“ ein Wirtschaftssystem bezeichnet, das die grundlegende und positive Rolle des Unternehmens, des Marktes, des Privateigentums und der daraus folgenden Verantwortung für die Produktionsmittel, der freien Kreativität des Menschen im Bereich der Wirtschaft anerkennt, ist die Antwort sicher positiv. Vielleicht wäre es passender, von „Unternehmenswirtschaft“ oder „Markwirtschaft“ oder einfach „freier Wirtschaft“ zu sprechen.“ Papst Johannes Paul II. (1991), Nummer 42. 17

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solle und könne nur nutzenmaximierend und im Rahmen seiner Beschränkungen entscheiden. Diese fehlerhafte und von Hayek vehement kritisierte szientistische Konzeption der Ökonomie wurde zu einer wesentlichen Grundlage des Sozialismus, der letztlich nichts anderes ist als ein Wirtschaftssystem, in dem der Staat die Zivilgesellschaft durch Befehle steuert, ohne sich selbst dogmatischen Moralprinzipien unterwerfen zu müssen. Man geht davon aus, dass der Staat über die notwendigen Informationen verfügt, um jede Entscheidung auf Grundlage einer Kosten-Nutzen-Analyse fällen zu können. Mit ihren Theorien haben Mises und Hayek nachgewiesen,19 dass derlei Entscheidungshandlungen unmöglich sind. Auf diese Weise fiel die Führungsrolle im Feld der sozialen Kooperationen an die ethischen Prinzipien der traditionellen Moral zurück, die das Fundament der Marktwirtschaft bilden und bei Politikern, Wissenschaftlern und einem großen Teil der Bevölkerung in Vergessenheit geraten sind. Zu diesen Prinzipien zählen das Eigentumsrecht, die friedliche Aneignung dessen, was die Frucht der eigenen unternehmerischen Kreativität ist, und die individuelle Verantwortung, verstanden als die Kostenübernahme des Handelnden. Dazu zählt auch die Beachtung der Tatsache, dass jede erzwungene „Solidarität“ unmoralisch ist, weil sie durch den Zwang eben jenen ethischen Gehalt verliert, den man eigentlich bewahren sollte und allein der Freiheit und dem freien Willen zu verdanken hat. Kurzum, es geht um die Tatsache, dass die Anwendung staatlichen Zwangs zum Zwecke bestimmter Gesellschaftsziele unmoralisch ist, weil sie der menschlichen Natur und den Prinzipien der individuellen Freiheit sowie der Gleichheit vor dem Gesetz zuwiderläuft – und damit dem, worauf die wahre Herrschaft des Rechts gründet. Die ethische und moralische Verteidigung der Marktwirtschaft ist unverzichtbar, um den politischen Erfolg libertärer Reformen sicherzustellen. Sie dürfte dem „Moralmonopol“ ein Ende setzen, an dem sich die Interventionspolitiker (von links bis rechs) bisher vor allem deshalb erfreuen konnten, weil dem engen utilitaristischen Rationalismus der Neoklassischen Schule die ethischen Kriterien fehlen. Einer der jüngsten und wichtigsten Beiträge zur Theorie der Freiheit im letzten Jahrhundert war der Nachweis, dass eine rein konsequenzialistische Kosten-Nutzen-Analyse im Sinne strikt utilitaristischer Effizienz alleine nicht reicht, um die Marktwirtschaft zu rechtfertigen. Auf die Entwicklung ethischer Grundlagen für die Freiheitstheorie kann man aus folgenden Gründen nicht verzichten: (1) Die „Sozialtechnologie“ und auch der Konsequenzialismus, der sich aus dem bis heute in der Wirtschaftswissenschaft vorherrschenden neoklassisch-walrasianischen Paradigma ableitete, hat versagt. (2) Die theoretische Analyse der Marktprozesse, welche die Österreichische Schule mithilfe der Theorie der unternehmerischen Funktion und der Idee der „dynamischen Effizienz“ vornimmt, reicht ebenfalls alleine nicht aus, um eine Marktwirtschaft zu rechtfertigen. Das gilt vor allem, wenn man bedenkt, dass die privilegierten Interessengruppen immer versuchen werden, aus den Zwangseingriffen des Staates kurzfristig Profit zu schlagen. Ihre 19

Siehe Kaptel 4 im vorliegenden Buch.

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zeitliche Präferenz gilt immer den momentanen Subventionen, Privilegien und Vorteilsnahmen. Diese wiegen in ihrer subjektiven Wertung die Nachteile auf, die der Interventionismus, von dem sie jetzt profitieren, in der Zukunft vielleicht hat.20 (3) Aus strategischer Sicht sind es vor allem moralische Abwägungen, die den Reformeifer der Menschen antreiben. Oft sind sie dazu bereit, große Opfer für etwas zu bringen, das sie moralisch für gut und gerecht halten. Es ist sehr viel schwieriger, derlei Verhalten vor dem Hintergrund eines engen Effizienzkriteriums zu erwarten, das sich ausschließlich aus den kühlen Kalkulationen einer Kosten-​ Nutzen-Analyse speist, deren wissenschaftliche Aussagekraft und Grundlage obendrein auch noch sehr zweifelhaft sind. In Anbetracht des Gesagten sollten wir zu dem Schluss kommen, dass keine marktwirtschaftliche Reform auf lange Sicht erfolgreich sein wird, wenn ihre Protagonisten gegenüber den Mitbürgern nicht mit all ihrem Wissen und all ihrer Kraft argumentieren, die Marktwirtschaft sei nicht nur effizienter, sondern auch das einzige Wirtschaftssystem, das mit der Moral im Einklang stehe. Gleichzeitig müssen sie auch argumentieren, dass der staatliche Interventionismus und die Handlungen der Interessengruppen, die ihn stützen, im Grunde genommen unmoralisch seien.

Handlungen im historischen Bereich Die dritte und letzte Ebene, auf der gehandelt werden sollte, um den Teufelskreis der politischen Unmöglichkeit im täglichen Leben zu durchbrechen, nennen wir die historische Ebene. Wir wissen, dass politische Entscheidungen von der öffentlichen Meinung des Augenblicks und der Art, wie diese den politischen Prozess beeinflusst, abhängen.21 Wir wissen auch, dass die öffentliche Meinung das Ergebnis einer Reihe von Ideologien, Glaubenssätzen und Prinzipien ist, die – obwohl oft falsch und in sich widersprüchlich – langsam in das soziale Netzwerk einsickern, und zwar aufgrund einer bestimmten Konstellation von ideologischen Mittelsmännern, die Hayek second-hand dealers of ideas nennt, also Leute, die mit Ideen aus zweiter Hand handeln. Zu diesen, die gemeinhin Intellektuelle genannt werden, gehören Schriftsteller22, Historiker, Drehbuchautoren und natürlich 20

Siehe Rothbard (1982), S. 207 f. „Die Vorherrschaft der öffentlichen Meinung bestimmt nicht nur die einzigartige Rolle, welche die Ökonomie im gesamten Bereich des Wissens und Denkens einnimmt, sondern auch den gesamten Prozess der menschlichen Geschichte. Das Wohlergehen einer menschlichen Gesellschaft hängt von zwei Faktoren ab: die intellektuelle Macht herausstehender Menschen, belastbare soziale und ökonomische Theorien zu erkennen, und die Fähigkeit anderer Menschen, diese Ideologien der Mehrheit verständlich zu machen.“ Mises (1996), S. 863 f. 22 Wir können z. B. nicht den schädlichen Einfluss der Novellen von Dickens eindämmen, der die irrige Idee verbreitete, die industrielle Revolution habe den einfachen Menschen ernsthaft geschadet. Wie sich gezeigt hat, war genau das Gegenteil der Fall. Unglücklicherweise kommen auf jeden Schriftsteller, der, wie Ayn Rand, die Realität im Einklang mit einer an 21

Die drei Handlungsebenen, die für Reformen notwendig sind 

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Journalisten, die schon rein beruflich fremde Ideen verbreiten, weil sie jeden Tag die aktuellsten Nachrichten kommunizieren bzw. interpretieren. Auf der Ebene der alltäglichen Realität ist vor allem eines nötig und dringend geboten: die öffentliche Meinung zu verändern und sie mit einer angemessenen Theorie und Moral auszustatten, die mit den libertären Prinzipien im Einklang stehen. Um das zu erreichen, sind große Anstrengungen und Ausdauer notwendig, die in erster Linie darauf zielen, Intellektuelle und Zweitverwerter fremder Ideen zu unterrichten und sie für die wissenschaftliche und ethische Sache der Freiheit zu gewinnen, die bereits auf der theoretischen Ebene ausgestaltet ist. Auf diese Art kann das libertäre Ideal in der Gesellschaft gären, d. h. dank der effektiven Arbeit einer „Armee“ von Zweitverwertern und Intellektuellen, die in ihren Handlungen die Prinzipien der reinen Theorie der Freiheit auf das tägliche Leben anwenden. Welche Aktivitäten im Besonderen sollten in diesem Feld ausgeführt werden? Obwohl wir hier keine erschöpfende Liste vorlegen können, wollen wir doch beispielhaft einige Aktivitäten nennen, die man ohne weiteres jeden Tag in Angriff nehmen kann und sollte: (1) Lehre und Weiterbildung: Sie umfassen die Organisation von universitären Seminaren und, ganz allgemein, die Unterstützung von Tagungen, Kongressen, Konferenzen und Diskussionsrunden, bei denen Intellektuelle und Zweitverwerter aus erster Hand Informationen über die Kernprinzipien und Argumente erhalten, auf denen die freie Marktwirtschaft fußt. Diese Zusammenkünfte dienen auch dazu, Erfahrungen auszutauschen und neue Erklärungsmuster für die praktische Anwendung libertärer Prinzipien vorzuschlagen. (2) Herausgabe und Verbreitung von Büchern, Aufsätzen und Studien zum libertären Ideal: In diesem Zusammenhang sollte man erwähnen, dass einige Verlagshäuser und Institutionen einen immensen herausgeberischen Aufwand betreiben, damit die wichtigsten Klassiker der libertären Theorie erscheinen. Es gibt außerdem eine Vielzahl von Instituten, Unternehmen und Stiftungen etc., die in mehr oder weniger großem Ausmaß Forschungsprojekte fördern, die dazu gedacht sind, marktwirtschaftliche Ideen auf akute gesellschaftliche Probleme anzuwenden. (3) Medienaktivitäten, etwa die Unterstützung von Zeitschriften und Magazinen, die sich auf die Umsetzung marktwirtschaftlicher Ideen spezialisieren: Es geht darum, angesehene Zeitungen zu haben, deren Redaktionen eine Linie verfolgen, die der freien Marktwirtschaft verpflichtet ist. Es müssen gute und nachhaltige gemessenen Theorie und Moralität, die auf libertären Prinzipien gründet, interpretiert, viele andere Autoren, die, wie Dickens, nur einen Teil der Realität reflektieren oder sogar erklären, die Kernprinzipien der kapitalistischen Wirtschaft abzulehnen. Auf diese Weise fügen sie der Zivilisation einen immensen Schaden zu und tragen direkt (wenn auch diffus) eine Verantwortung für die goßen Gesellschaftskonflikte. Vgl. Hayek (1954). Zu Ayn Rand, Autorin der Romane The Fountainhead und Atlas Shrugged, und ihrem Einflus auf die amerikanische libertäre Bewegung siehe Sciabarra (1995).

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12. Hayekianische Strategie zur Einführung marktwirtschaftlicher Reformen 

Beziehungen zu den Profis der Massenmedien geknüpft werden, insbesondere zu denen, die libertären Ideen offen gegenüberstehen. Schließlich sollte man in den Medien an Einfluss gewinnen, weil sie es sind, welche die Gesellschaft täglich durch Funk und Fernsehen beeinflussen. (4) Die Schaffung von Instituten und Think Tanks mit libertärer Ausrichtung: Hier geht es um die Reproduktion erfolgreich erprobter und bewährter Methoden zur Förderung marktwirtschaftlicher Institute und Stiftungen, die sich der libertären Analyse gesellschaftlicher Probleme annehmen und dabei Stipendien und Preise für jene vergeben, die sich der Erforschung, Entwicklung und Darstellung bestimmter politischer Maßnahmen zum Zwecke libertärer Reformen widmen.23 (5)  Schließlich ist eine angemessene internationale Koordination all dieser Aktivitäten unverzichtbar. So ist z. B. der Erfahrungsaustausch mit Instituten in anderen Ländern und die gegenseitige Hilfe unter Gelehrten und Ideenverbreitern auf internationalem Parkett extrem nützlich. Im akademischen Milieu spielt die Mont Pèlerin Society, die nach dem 2. Weltkrieg von Hayek gegründet wurde, eine führende Rolle. Inzwischen hat sie mehr als 400 libertäre Intellektuelle als Mitglieder. Sieben von ihnen haben den Wirtschaftsnobelpreis gewonnen.24 Die von Anthony Fisher gegründete Atlas Research Foundation hat eine wichtige Rolle bei die Errichtung und Förderung von Instituten gespielt, als es in Lateinamerika, Asien und Osteuropa darum ging, den Libertarianismus dort bekannt zu machen, wo noch kurz zuvor Marxismus und internationaler Sozialismus das Zepter in der Hand hielten. Schließlich sollte die große Organisationsleistung gewürdigt werden, mit der Liberty Fund, das Institute for Humane Studies, das Cato Institute, das Ludwig von Mises Institute und viele andere Institute weltweit wissenschaftliche Seminare und Veröffentlichungen auf die Beine stellen. Logischerweise müssen all diese Aktivitäten nach dem Prinzip der Spezia­ lisierung und der Arbeitsteilung ausgeführt werden. Ein und dieselbe Person oder Institution sollte sich nicht darin verlieren, ihre Anstrengungen auf alle Bereiche auszudehnen. Es ist vielmehr notwendig, die unterschiedlichen Aktivitäten auf spezialisierter und professioneller Basis auszuführen. Gleichwohl gilt, dass eine 23 Eine detaillierte Analyse der Geschichte und Bedeutung dieser Art von Institution und Stiftung während der libertären Revolution der letzten Jahrzehnten findet man in Cockett (1994), insbesondere S. 123 f. Dort erklärt Anthony Fisher, wie wichtig Hayek für die Entscheidung war, das Institute of Economic Affairs (IEA) zu gründen: „Hayek warnte davor, Zeit damit zu verschwenden, eine politische Karriere zu verfolgen – was ich eigentlich wollte. Er erklärte seine Ansicht, dass der entscheidende Einfluss im Kampf um Ideen und Politik von Intellektuellen ausgehe, die er als Zweitverwerter von Ideen charakterisierte. Wenn ich seine Aufassung, dass bessere Ideen keine faire Chance bekämen, teilen würde, dann sollte ich mich mit anderen zusammentun und ein wissenschaftliches Forschungsinstitut einrichten, um die Intellektuellen an den Universitäten und Schulen sowie bei den Medien und Fernsehanstalten mit Studien zur Wirtschaftstheorie der Märkte und zu deren Anwendungspotential in praktischen Fragen zu versorgen. 24 Zur Mont Pèlerin Society siehe Hartwell (1995).

Die Rolle der Politiker bei libertären Reformen 

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adäquate Koordination und Organisation der Funktionen dazu führt, den Erfolg der einzelnen Initiativen zu verstärken. So führen Schritt für Schritt kombinierte und nachhaltige Handlungen in all diesen Bereichen dazu, dass der Bürger die Fehler des Interventionismus, dessen tiefgreifende Amoralität sowie den Egoismus der privilegierten Interessengruppen, die aus dem Mechanismus der politischen Macht kurzfristig einen Vorteil schöpfen, erkennt. Mehr noch! Sie führen auch dazu, dass die Etablierung interventionistischer Ideologien irreversibel erodiert wird und so eine Situation entsteht, in der die öffentliche Meinung langsam aber sicher Partei für Marktwirtschaft und Libertarianismus ergreift, so dass diese in sozialpolitischer Hinsicht schließlich unumgänglich und unvermeidbar werden.

Die Rolle der Politiker bei libertären Reformen Oft heißt es, ein guter Politiker sei derjenige, der am besten mit den Wählern klarkomme, weshalb Politiker im Allgemeinen ihre Ernte nur wegen der existierenden öffentlichen Meinung einführen. Insofern sind Politiker schlicht der Schmelztiegel der Gesellschaft, aus der sie hervorkommen. In der Tat liegt in dieser Idee eine Menge Wahrheit.25 So haben z. B. Goldwater und Reagan bei ihren jeweiligen Kandidaturen um das Amt des US-Präsidenten sehr ähnliche marktwirtschaftliche Ideen propagiert. Trotzdem hat einer von ihnen, Goldwater, die Wahl verloren, weil die amerikanische Gesellschaft 1964 vom mythischen Kult des Wohlfahrtsstaates erfüllt war. Reagan hingegen gewann zwei Wahlen hintereinander (1980, 1984) mit absoluter Mehrheit; im Prinzip deshalb, weil sich der Schwerpunkt der öffent­lichen Meinung in den Vereinigten Staaten weitgehend in Richtung der moralischen und theoretischen Prinzipien des kapitalistischen Systems verlagert hatte. Insofern man zu Recht sagen kann, dass die Politiker ihre Ernte dem Klima der öffentlichen Meinung verdanken, ist es sehr wichtig, auf die Intellektuellen und jene, die ihre Ideen weitertragen, besonders zu achten. Sie sind diejenigen, die am Ende jenen Wechsel in der öffentlichen Meinung sicherstellen, dem die Politiker dann folgen. Nichtsdestotrotz birgt die These, wonach die Politiker nur das Klima der öffentlichen Meinung ausnutzen, nicht die ganze Wahrheit. Nach unserer Auffassung haben Politiker trotz der offensichtlichen Restriktionen, die ihnen durch ihr Umfeld und die öffentliche Meinung gesetzt werden, einen großen Handlungsspielraum, nicht nur, wenn es um das Erreichen angemessener Reformen geht, sondern auch, was die Gewinnung der öffentliche Meinung betrifft. Wir stimmen daher 25 „Die besten Theorien sind nutzlos, wenn sie von der öffentlichen Meinung nicht unterstützt werden. Sie können nicht funktionieren, wenn die Mehrheit der Menschen sie nicht akzeptiert. Ungeachtet des Regierungssystem ist es völlig unmöglich, eine Nation auf Grundlage von Lehrmeinungen, die von der öffentlichen Meinung abweichen, dauerhaft zu regieren. Am Ende siegt die Philosophie der Mehrheit. Langfristig gibt es kein unpopuläres Regierungs­ system. Der Unterschied zwischen Demokratie und Despotismus verändert nicht das Ergebnis.“ Siehe Mises (1996), S. 863.

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12. Hayekianische Strategie zur Einführung marktwirtschaftlicher Reformen 

der klassischen Definition politischer Aktivität zu, die uns der spanische Politiker Cánovas del Castillo mit auf den Weg gegeben hat: „Politik ist die Kunst, zu jeder Stunde der Geschichte den Teil des Ideals zu verwirklichen, den die Umstände erlauben.“26 Es sollte hervorgehoben werden, dass man laut dieser Definition die größtmögliche Menge des Ideals verwirklichen sollte und dementsprechend eine große Portion libertärer Kriegsführung alle politischen Aktivitäten begleiten sollte. Thatcher und Reagan, die in den 1980er Jahren die libertär-konservative Revolution im Vereinigten Königreich und in den USA vorangetrieben haben, und der argentinische Präsident Menem, der – ungeachtet der Tatsache, dass er seine Wahl durch populistische Botschaften gewonnen hat – die politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen seines Landes marktwirtschaftlich umgestaltet hat, sprechen als Beispiele für sich und zeigen, wie viel durch charismatische Politiker erreicht werden kann, die sich aufgrund ihrer Überzeugungen und der Umstände für die Durchführung marktwirtschaftlicher Reformen in ihren Ländern entscheiden. Es ist daher sehr wichtig, so viele libertär geschulte und gesinnte „Berufspolitiker“ unter die Staatsdiener zu mischen wie möglich. Sie sollten mit den Grundprinzipien marktwirtschaftlicher Reformen vertraut sein und die wichtigsten Konsequenzen, Implikationen und Argumente, die für diese Reformen sprechen, kennen, damit sie die libertäre Ideologie auf eine Weise erklären können, die verstanden wird und für die Mehrheit der Bürger attraktiv ist. Die Fähigkeit des Berufspolitikers, diese Prinzipien den Menschen zu erklären und das libertäre Projekt den Massen schmackhaft zu machen, ist von unschätzbarem Wert. Vor diesem Hintergrund ist es sehr nützlich, Berufspolitiker wie folgt in vier große Gruppen einzuteilen: (1) Berufspolitiker, die entschieden und ausschließlich pragmatisch sind: Das sind diejenigen, die die Prinzipien des freien Marktes nicht kennen. Entweder wissen sie nichts oder wollen sie nichts von einer libertären Ideologie wissen, da ihr einziges Interesse darin besteht, politisch an die Macht zu gelangen und dort zu bleiben. Dazu reichen ihre persönlichen Fähigkeiten aus. Unglücklicherweise ist diese Gruppe von ignoranten und pragmatischen Politikern bis heute zahlenmäßig die größte Gruppe. Sie setzt sich aus Rechtsanwälten, Lehrern, Intellektuellen und Journalisten zusammen, deren politische Expertise hauptsächlich in der Fähigkeit besteht, unfundierte Ideen von sich zu geben.27 (2) Pragmatische Politiker, die zumindest ein wenig über die wesentlichen Prinzipien und Implikationen der marktwirtschaftlichen Theorie gelernt haben: Diese Politiker haben eine Vorstellung und auch eine gewisse Kenntnis von der korrekten Funktionsweise gesellschaftlicher Interaktionsprozesse, die sie im Zuge ihrer Ausbildung oder während ihrer Zeit an der Macht gewonnen haben. Dank dieses umfangreicheren Wissens sind sie sich zumindest bewusst, welchen Schaden sie anrichten, wenn sie zuhause für interventionistische Maßnahmen plädieren. Es 26

Zitiert nach Lucas Beltrán (1976), S. 15. Über den Ursprung und die Rolle der Politiker als Händler gebrauchter Ideen siehe Weber (1926). 27

Die Rolle der Politiker bei libertären Reformen 

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wäre allerdings angesichts ihrer fehlenden Überzeugungen und ihrer pragmatischen Natur illusionär zu glauben, dass sie im Zuge der von ihnen verantworteten Interventionsschäden auf politischer Ebene auch nur im geringsten einen Schuldkomplex bekommen würden. (3) Politiker, die mit den Idealen des freien Marktes gut vertraut sind und zumindest teilweise versuchen, ihre politischen Handlungen in die richtige Richtung zu lenken: Diese Berufspolitikergruppe ist von der libertären Ideologie erfüllt und versucht ihr Bestes, den Schaden, den ihre Handlungen verursachen, so gering wie möglich zu halten. Für sie gilt aber auch, dass die ernsten Schwierigkeiten und Restriktionen der alltäglichen Probleme sie aus dem Konzept bringen. Insofern können sie in der Praxis nur wenige effektive Handlungen ausführen, um libertäre Reformen umzusetzen.28 (4) Politiker, die mit der libertären Theorie vertraut und dazu in der Lage sind, den Fortschritt der politischen Geschehnisse auf die größeren Ziele zu lenken. Ihre wichtigsten Merkmale sind: Sie können die libertäre Ideologie optimistisch darstellen und zwar so, dass sie für die Masse der Wähler attraktiv wird. Sie besitzen die Fähigkeit, ihr Mitbürger von der Notwendigkeit der Reformen zu überzeugen. Sie können die Mehrheit der Wählerschaft von ihrem Projekt begeistern. Diese vierte und letzte Gruppe besteht aus einer Hand voll Ausnahmepolitikern. Nationen, die im Verlauf ihrer Geschichte solche „Vollblutpolitiker“ mit den genannten Charakteristika hervorbringen, sollten sich sehr glücklich schätzen. Das gilt – wenn auch nicht für all ihre politischen Aktivitäten – für Erhard in Deutschland, Reagan in den Vereinigten Staaten, Thatcher in England und Václav Klaus in der Tschechoslowakei. Sie alle haben wichtige marktwirtschaftliche Reformen erfolgreich gefördert, entwickelt und erzielt. Zu denen, die Gleiches versucht, aber aus dem einen oder anderen Grund ohne Erfolg blieben, zählen Vargas Llosa in Peru und Antonio Martino in Italien. All diese Vertreter sind leuchtende Vorbilder für all jene Berufspolitiker, die bei ihrem Versuch, marktwirtschaftliche Ideen durchzusetzen, erfolgreich sein wollen.29 Es ist offensichtlich, dass die Aktivitäten, die im vorangegangenen Abschnitt beschrieben wurden, zunächst darauf zielen sollten, die größtmögliche Gruppe der 28 Diese Gruppe sollte auch jene Politiker einschließen, die fälschlich oder korrekt glauben, dass die politischen Umstände ihnen weitere Schritte verwehrten, und eine Änderung der Umstände abwarten, um dann als Politiker der vierten Gruppe in der Lage zu sein, radikalere Reformen voranzutreiben. Ob diese Einschätzung richtig oder falsch ist oder nur eine Illusion, um sich die eigenen Unzulänglichkeiten schön zu reden, muss in jedem Fall separat beurteilt werden. 29 Dem englischen Beispiel folgend, wäre es für ein Komitee libertärer Beobachter, die ihre Ergebnisse regelmäßig veröffentlichen, hilfreich, die aktuellen Politiker zu jedem Zeitpunkt in diese vier Gruppen einzuteilen. So könnten sie deutlich machen, wer von allen die widersprüchlichste oder schädlichste Strategie verfolgt, und einen gesunden Wettbewerb unter liber­ tären Politikern erzeugen, damit diese in der Klassifikation nach oben kommen, ihr Wissen erweitern und ihr professionelles Verhalten verbessern.

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12. Hayekianische Strategie zur Einführung marktwirtschaftlicher Reformen 

derzeitigen und künftigen Spitzenpolitiker auszubilden und zu beeinflussen. Ziel ist es, sie in die dritte oder vierte der oben beschriebenen Gruppen einordnen zu können. Um dieses hochgesteckte Ziel zu erreichen, sollten wir eine größtmögliche Kombination aus Ideen und Aktivitäten an den Tag legen. Die libertären Institutionen sollten dabei eine führende Rolle einnehmen und die Prinzipien der libertären Ethik und Theorie mit praktischen Politikmaßnahmen verknüpfen, die in die richtige Richtung weisen, politisch wohlgestaltet und für weite Teile der Gesellschaft attraktiv sind. Die Reformen sollten außerdem Elemente enthalten, die sie de facto unumkehrbar machen. Das erzielt man, indem man wichtige und zahlreiche Bevölkerungsgruppen profitieren lässt und sie so für die Sache des freien Marktes gewinnt.30 Insofern ist es unverzichtbar, alle Elemente, die möglich sind, kreativ einzusetzen, um die libertären Reformen irreversibel zu machen.

Wieviel sollten Politiker lügen? Trotz der vorangegangenen Überlegungen sollten wir uns über folgendes im Klaren sein: Politiker sind vielen Beschränkungen ausgesetzt, die ihnen häufig nur wenig Spielraum lassen. Zudem gibt es so viele Probleme im täglichen Politikgeschäft, dass man es inzwischen allgemein für eine typische Charaktereigenschaft des Politikers hält, zu täuschen oder die Wähler zu betrügen. Ist dies unvermeidbar? Wo liegen aus unserer Sicht die Grenzen, die ein Politiker niemals überschreiten sollte? Das Bewusstsein der engen Grenzen, denen sich der libertäre Politiker ausgesetzt sieht, sollte ihn nie vergessen lassen, dass es absolut notwendig ist, die Doppelstrategie zu beherzigen, die wir weiter oben erklärt haben. Der libertäre Politiker sollte deshalb nie seinen Bezugspunkt (das größere Ziel und die wesentlichen theoretischen und ethischen Implikationen) aus dem Auge lassen. Es ist bestenfalls hinnehmbar, dass er sein Verhalten an die Schwierigkeiten und Untiefen anpasst, die sich situativ für ihn ergeben. Man kann ihm deshalb nachsehen, wenn er gelegentlich und sofern es die Umstände erlauben über einige Reformen, die er gerne umsetzen möchte, Stillschweigen bewahrt oder einige Konsequenzen und Implikationen seiner politischen Entscheidungen nicht erwähnt. Berechnende und doppelbödige Handlungsstrategien können insbesondere in Wahlzeiten in Betracht kommen, um Diskussionen über Themen zu vermeiden, die aufgrund ihrer Komplexität der Öffentlichkeit nur schwer zu erklären sind und so der vereinfachenden Demagogie der Opposition nur eine offene Flanke böten. Schließlich ist es auch hinnehmbar, dass ein libertärer Politiker „weiß, wie man die Wahrheit

30

Das Paradebeispiel einer unumkehrbaren Reform war die Privatisierung der englischen Sozialwohnungen, welche die Regierung unter Thatcher an die Mieter (Millionen von meist bescheidenen Arbeitern) verkauft hat. So wurden diese zu Eigentümern. Keine Partei, nicht einmal die der Linken würde es wagen, ihnen ihr Eigentum wegzunehmen.

Wieviel sollten Politiker lügen? 

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sagt“, wenn es passt, und eine gesunde Portion Demagogie nutzt, wenn er z. B. über Maßnahmen redet, die sowohl populär als auch inhaltlich wichtig sind. Man denke an Steuererleichterungen oder die Abschaffung der Wehrpflicht.31 Das folgende Verhalten darf allerdings aus libertärer Sicht unter keinen Umständen erlaubt sein: (1) bewusstes Lügen in Bezug auf spezifische Aspekte politischer Aktivitäten, indem der Öffentlichkeit das genaue Gegenteil von dem erzählt wird, was man eigentlich machen will; (2) Programmänderungen hinnehmen, die der gesamten Ideenlehre des freien Marktes entgegenstehen; und vor allem (3) Maßnahmen ergreifen, die den langfristigen Zielen zuwiderlaufen und die ethischen bzw. theoretischen Kernprinzipien der libertären Ideologie verraten. Wenn die oben genannten Grenzen nicht überschritten werden, könnte man sogar eine Art „leninistische Strategie“32 akzeptieren, die darauf abzielt, die notwendige Unterstützung für die Durchführung libertärer Reformen zu finden, indem man, je nach Thema und Umstände, Verbündete in anderen gesellschaftlichen Gruppen oder Institutionen sucht. Außerdem ist es bei der Ausgestaltung libertärer Reformen besser, zu viel als zu wenig zu tun. Nichts ist bedauerlicher als all die vielen Politiker, die mit einem marktwirtschaftlichen Programm an die Macht kommen, von der öffentlichen Meinung unterstützt werden und dann, wenn es hart auf hart kommt, aufgrund mangelnden Stehvermögens und Vertrauens in die eigenen Ideen nicht einmal an die Erwartungen herankommen, die sie selbst geschaffen haben, und dabei ihr eigenes Prestige verlieren, oder schlimmer noch, das Prestige der libertären Ideale, die sie zu verteidigen vorgeben.33 Wie auch immer, die jeweils erzielten politischen Ergebnisse hängen von spezifischen Umständen ab, die situativ vorherrschen und über die sich keine Theorie aufstellen lässt. Nichtsdestotrotz können einige Daumenregeln skizziert werden, die dem Politiker das Handeln erleichtern, wenn er versucht, die Beziehung zwischen der öffentlichen Meinung und dem spezifischen Politikfeld, in dem er sich 31 Auf alle Fälle sollten interventionistische Parteien kein Monopol auf Demagogie haben. Wir müssen allerdings zugeben, dass es für einen marktwirtschaftlichen Politiker schwieriger ist, sich dieser Mittel zu bedienen. Das bedeutet aber nicht, dass es keine wichtigen libertären Ratschläge gäbe, deren demagogischen Gehalt man bei passender Gelegenheit vorteilhaft nutzen könnte. 32 Der Name stammt von Stuart Butler und Peter Germanis. Sie haben ihn für ihre Strategie gewählt, die sie für libertäre Reformen vorschlagen, und zwar in ihrem Aufsatz „Achieving Social Security Reform: A Leninist Strategy“, Butler / Germanis (1983). Zur besten Strategie, um der Freiheit zum Triumph zu verhelfen, siehe Rothbard (1982), S. 253–268. 33 „Nachdem der Politiker über die Reformen, die er in Angriff nimmt, nachgedacht hat, und nachdem feststeht, dass sie opportun und vorteilhaft sind, sollte er sie in die Welt hinaustragen und mit ganzer Kraft für sie kämpfen. Ein Politiker sollte sich vor allem durch Hartnäckigkeit auszeichnen. Er sollte eine begonnene Arbeit nie verwerfen, wenn er von deren Nutzen überzeugt ist. Er sollte sie ernsthaft verfolgen und all seine Zeit und Energie in sie stecken. Wenn er für seine Anstrengungen nicht mit Erfolg belohnt wird, so wird die Zeit kommen, da seine Arbeit doch anerkannt wird und alle Augen auf ihn gerichtet sind, hoffend, dass er die Initiative ergreift.“ Siehe Ruiz (1919), S. 194 f.

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12. Hayekianische Strategie zur Einführung marktwirtschaftlicher Reformen 

bewegt, zu verstehen. So könnte man – ceteris paribus – sagen: Je aufgeklärter die öffentliche Meinung ist, desto radikaler kann die politische Botschaft des Libertären sein. Und anders herum gilt entsprechendes: Je unbedarfter die öffentliche Meinung ist, desto schwieriger ist es, libertären Inhalt in einer politischen Botschaft unterzubringen, die von den Bürgern verstanden und geteilt wird. Eine andere Regel besagt: Je traumatischer die gesellschaftliche Ausgangslage ist, desto radikaler kann die Botschaft sein. In wirklichen Gesellschaftskrisen kommt es eher vor, dass die Bürger bereit sind, Opfer zu bringen und eine Schockpolitik hinzunehmen.34 Des weiteren gilt – ceteris paribus: Je mehr Berufspolitiker der dritten oder vierten Gruppe angehören (die sich, wie wir wissen, aus jenen zusammensetzen, die mit der libertären Ideologie am besten vertraut sind und bei der Vermittlung und Beschönigung ihrer Botschaften am fähigsten sind), desto radikaler kann auch die vorgeschlagene libertäre Politik sein. Und auch hier gilt wieder umgekehrt: Je schlechter die Berufspolitiker geschult sind – also jene, die zu den Gruppen eins und zwei gehören –, desto schwerer fällt es ihnen, die libertäre Botschaft angemessen vorzutragen und zu verteidigen. Und für die Wahlzeiten gilt schließlich: Je sicherer jemand glauben kann, aus untergeordneten Gründen die Wahl gewinnen zu können, desto unwichtiger ist es, mit radikal libertären Botschaften aufzuwarten. Und andersherum gilt: Je ferner der Wahlerfolg liegt, desto radikaler kann die Botschaft gegen den interventionistischen Status quo vorgetragen werden.

Schlussfolgerung Wir schließen mit einigen Empfehlungen, die wir jedem libertären Politiker mitgeben wollen, dem das Ziel der Vorbereitung, Unterstützung und Verwirklichung einer allgemeinen Reform zur Liberalisierung von Ökonomie und Gesellschaft wichtiger ist als der Wunsch, an die Macht zu kommen und dort zu bleiben. Zunächst wollen wir erneut betonen, dass es immer besser ist, zu viel als zu wenig zu tun. Mit anderen Worten, die Botschaft sollte in einem Ausmaß radikalisiert werden, dass sie sowohl die Mitglieder der eigenen Partei als auch den Rest der Bevölkerung auf die Probe stellt. Nur auf diese Weise kann man herauszufinden, ob ein Politiker tatsächlich die Bedingungen erfüllt, zur Gruppe vier zu gehören; ob er in der Lage ist, die Wähler zu begeistern und sie von einer korrekt ausgedrückten libertären Reformpolitik zu überzeugen. Das Schlimmste wäre, wenn er infolge seiner relativ radikalen Haltung in der eigenen Partei keinen Erfolg hätte und im Schatten seiner „pragmatischen Kollegen“ bliebe. Nichtsdestotrotz, oder gerade deshalb, ist die Akzeptanz seiner Person und Botschaft der untrügliche

34

Dies ist einer der Gründe, die einen großen Einfluss auf die öffentliche Akzeptanz der Liberalisierungen hatten, die Ludwig Erhard 1948 in der Bundesrepublik Deutschland umsetzte. Im Gegensatz zu den Vorhersagen der Besatzungsmächte ermöglichten diese Reformen das sogenannte „Wirtschaftswunder“.

Schlussfolgerung  

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Hinweis darauf, ob er sein politisches Engagement weiterverfolgen sollte. Fehlt es an Akzeptanz, dann könnte es besser sein, einem anderen, weniger hingebungsvollen Berufspolitiker (Gruppe drei oder zwei) zeitweise die Führung zu überlassen und sich selbst nicht zu verbrennen, sondern die eigene Energie für andere, langfristige (nicht politische) Aktivitäten aufzusparen, z. B. um die Verbreitung des Libertarianismus voranzutreiben. Auf diese Weise wird er keine Zeit verschwenden und sich nicht in Aktivitäten verlieren, die es ihm angesichts der situativen Restriktionen schwer machen, sein Ideal zu erreichen, und die lieber ein weniger überzeugter Politiker durchführen sollte. Es ist aber immer ratsam, eine notwendige Anzahl von libertären Politikern in „Reserve“ zu haben, falls die Umstände sich mal ändern sollten und man die Reserve angesichts dringender Notwendigkeiten braucht, um größere Politikverantwortung in einem Umfeld wahrzunehmen, wo sie ihr libertäres Programm entfalten können, ohne überflüssigerweise von der eigenen Partei an die Kette gelegt zu werden.35 Offensichtlich gibt es also eine Beziehung zwischen einerseits dem, was das politische Umfeld erlaubt, und andererseits dem, was für die persönliche Einbindung eines Politikers mit starken libertären Überzeugungen ratsam ist. Je größer die Restriktionen, desto schwieriger ist es für den Politiker, sich in diesem Umfeld zu bewegen, und desto wahrscheinlicher ist es, dass andere Kollegen mit geringerer ideologischer Überzeugung in der Lage sind, ihre Arbeit an seiner statt zu verrichten. Wenn im Gegensatz dazu die Umstände es erlauben, ein radikaleres Programm voranzutreiben, wird er immer unverzichtbarer, da die Kollegen mit geringerer Schulung und ideologischer Hingabe nicht in der Lage sind, die historischen Möglichkeiten für tiefgreifende libertäre Reformen zu erkennen und zu nutzen. Logischer Weise hängt die Bewertung der Frage, ob die bestehenden Umstände von der einen oder anderen Art seien, von der Intuition und der Intelligenz eines jeden marktwirtschaftlichen Politikers ab. In jedem Falle bleibt das Risiko der empfohlenen Strategie bestehen: Ein Politiker aus Gruppe vier kann, nachdem er von seiner eigenen Partei akzeptiert wurde und sein Programm standfest vertreten hat, die Wahl oder gar die Macht verlieren. Aber selbst unter derart misslichen Umständen, die es in der Geschichte immer wieder gegeben hat,36 sollte das negative Ergebnis nicht als Versagen im engeren Sinne des Begriffes verstanden werden. Echtes Versagen aus libertärer Sicht ist 35 In diesen Phasen, wenn die „lauen“ Politiker der Gruppen 1, 2 und 3 an der Macht sind, ist es nichtsdestotrotz ratsam, nicht alle Verbindungen zur Partei abzubrechen. So kann man die wichtige Rolle des kritisch-libertären Gewissens spielen, das ständig die Aufmerksamkeit auf die Widersprüche und Fehler der Machthabenden lenkt. 36 Man denke nur an die erfolglosen libertären Reformen, die Jacques Turgot im Frankreich des 18. Jahrhunderts unternahm, oder an Barry Goldwaters Kandidatur um das Amt des US-Präsidenten oder an Mario Vargas Llosa in Peru oder an das gescheiterte libertäre Programm der Forza Italia, das Antonio Martino entworfen hatte.

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12. Hayekianische Strategie zur Einführung marktwirtschaftlicher Reformen 

entweder der Verrat der Prinzipien oder das Verpassen der Möglichkeit, liberalisierende Politik umzusetzen, wenn die Umstände es erlaubt hätten. Außerhalb dieser beiden Fälle sollte eine Wahlniederlage in bestimmten historischen Umständen nur als taktische Niederlage in einem langen und schwierigen Kampf für die Zukunft der Freiheit verstanden werden.

13. Die Zukunft des Liberalismus. Die Dekonstruktion des Staates durch die direkte Demokratie1 Ich habe größte Sympathie für Bruno Freys Plädoyer für eine direkte Demokratie durch Referenden nach dem Modell des politischen Systems in der Schweiz. Nichtsdestotrotz könnte ein sorgfältiger libertärer Leser seiner Arbeit schnell den Eindruck gewinnen, dass für Bruno Frey die Demokratie das Ziel sei und es daher wichtig sei, die Beteiligung der Bürger am demokratischen Prozess zu verbessern. Obwohl – wie Bruno Fey zu recht erklärt – das Schweizer System der Referenden fürwahr interessante Vorteile gegenüber dem üblicheren Modell der indirekten Demokratie bietet, möchte ich doch dafür argumentieren, dass für uns Libertäre das wichtigste Ziel der Zukunft darin liegen sollte, die freie Marktwirtschaft zu stärken und nicht die Demokratie per se. Mit anderen Worten, wenn die direkte Demokratie irgendeinen Nutzen hat, dann genau den, dass sie eine (imperfekte) Annäherung an das Ideal freier Märkte und begrenzter Regierungsgewalt darstellt.

Politiker gegen Wähler Es ist wahr, dass Politiker im Allgemeinen Referenden nicht mögen. Ein Paradebeispiel dazu liefert die Elite der spanischen Politiker, welche die Verfassung von 1978 niederschrieb, die bis heute in meinem Land in Kraft ist. Artikel 92 unserer Verfassung erlaubt nur Referenden, welche die Regierung in Spanien nicht binden (also eine reine Empfehlungsfunktion). Die spanische Verfassung ist (neben der schwedischen) im Bezug auf die Bedingungen, das Ausmaß und die Folgen von Referenden die restriktivste in Europa. Folgt man Freys Analyse, dann ist es in Spanien fast unmöglich, das politische Kartell so zu brechen, wie es z. B. in der Schweiz der Fall war, als die dortige Bevölkerung den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftssystem verhinderte. Das entsprechende Referendum fand am 6. Dezember 1992 statt. (Gleichwohl ist es richtig, dass dieses Ergebnis teilweise durch das Referendum vom 22. Mai 2000 korrigiert wurde, als 67,2 % der Wähler bilaterale Abkommen der Schweiz mit der Europäischen Union absegneten). Das 1

Diesen Aufsatz habe ich auf der Hauptversammlung der Mont Pèlerin Society präsentiert, die vom 24.–27. November 2000 im chilenischen Santiago stattfand. Er ist als Kommentar zu Bruno Freys Beitrag zur Konferenz geschrieben worden. Freys Beitrag trug den Titel „The Future of Democracy: In Search for Greater Citizen Participation through Direct Demcracy“ und war ein Plädoyer für die Verbreitung des Schweizer Referendum-Modells in aller Welt.

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13. Die Zukunft des Liberalismus 

Fehlen eines Referendums in der spanischen Demokratie liefert der baskischen Terrororganisation ETA, die ihre Mitglieder „Separatisten“ nennt, andauernd einen Vorwand für stalinistische Anschläge. Die ETA würde die stillschweigende Unterstützung durch die (nach unserer Schätzung ca. 10 % der baskischen) Gesellschaft wahrscheinlich verlieren, wenn man mit dem Segen der Demokratie ein Referendum zur Lossagung des Baskenlandes von Spanien organisieren könnte. Obwohl ein solches Referendum auf absehbare Zeit politisch unmöglich ist, bin ich mir in folgendem sicher: Erstens, die Mehrheit der Bürger des Baskenlandes, etwa 2 Millionen Menschen, würden die Separation ablehnen und, zweitens, unabhängig von dem letztendlichen Ergebnis, ein solches Referendum könnte ein wichtiges Element bei der Lösung des Terrorproblems im Baskenland darstellen. Ich stimme in diesem Punkt mit Bruno Frey überein, der in seinem Aufsatz schlussfolgert (Abschnitt  IV,  4), dass die direkte Demokratie Separatismusprobleme mit weniger Blutvergießen lösen kann, als es Demokratien können, in denen Referenden ungewöhnlich sind oder nur in Form eines Plebiszits eingesetzt werden. Es ist allerdings wahr, dass für einen Libertären letztendlich der libertäre Inhalt einer politischen Entscheidung sehr viel wichtiger ist als das spezifische, demokratische Prozedere, nach dem eine bestimmte Entscheidung getroffen wird. In der Tat wäre es niemandem von uns recht, wenn z. B. ein freies Baskenland sich in eine Art albanischen Sozialismus verwandelte, getrennt von Spanien und dem Rest der Europäischen Union. Dieses Prinzip zwingt uns dazu, nach jenen politischen Verfahren Ausschau zu halten, die den Staat wirksam einschränken und den freien Markt fördern. Die direkte Demokratie kann eines dieser Verfahren sein, vorausgesetzt sie räumt jeder gesellschaftlichen Gruppe ein Recht auf Selbstbestimmung und Sezession von der politischen Organisation, in die sie eingebunden ist, ein.

Die notwendige Bedingung der direkten Demokratie: das Recht auf Sezession Bruno Frey widmet den kürzesten Abschnitt seiner Arbeit (Abschnitt III, Referendum und Föderalismus) dem meiner Meinung nach wichtigsten Punkt zu diesem Thema: die Verbindungen zwischen der direkten Demokratie und der Dezentralisierung politischer Entscheidungsprozesse. In einer direkten Demokratie gilt „small is beautiful and efficient“.2 Bruno Frey erklärt genau, wie das Wissen, das für eine informierte politische Entscheidungsfindung notwendig ist, in kleinen politischen Gemeinschaften einfacher gefunden werden kann. (Es ist fürwahr kein Zufall, dass die Tradition der Referenden in der kantonal organisierten Schweiz mit ihren sieben Millionen Einwohnern sehr viel größer ist als in traditionell zentralistischen Ländern wie Spanien oder Frankreich mit ihren 40 bzw. 60 Millionen Einwohnern). Vor diesem Hintergrund sollten wir das folgende ökonomische Ge 2

Hoppe (1996), S. 107.

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setz beachten, das ceteris paribus gilt: Je kleiner einer Staat mit einer politischen Gemeinschaft ist, desto schwieriger wird es für ihn, Interventionismus und Protektionismus durchzusetzen, und desto mehr ist er dazu gezwungen, freien Handel und Libertarianismus zu akzeptieren. Das ist deshalb so, weil mit der schwindenden Staatsgröße das Leid der Einwohner wächst, ausgelöst von den Regulierungskosten und den Grenzen zu ausländischen Märkten und Ressourcen, sofern es keine vollständige ökonomische Freiheit gibt. Bruno Frey (Tibout, Buchanan und anderen folgend) erwähnt auch, dass kleine politische Einheiten bessere Möglichkeiten hätten, mit den Füßen abzustimmen, was zur Unterminierung der regionalen Politikkartelle führe. Dies lässt uns schlussfolgern, dass in einem politischen Umfeld, das auf libertären Prinzipien wie Selbstbestimmung, Freihandel und Freiheit von Immigration und Emigration (im Rahmen einer Privatrechtsordnung) gründet, das Nebeneinander kleiner Staaten Freiheit und Wohlstand fördern wird.3 Aus libertärer Sicht gibt es allerdings einen wichtigen Aspekt, den ich in Freys Aufsatz vermisse. Dieser bezieht sich auf die gegebene Möglichkeit, dass in einem Akt der direkten Demokratie (einem Referendum) die Mehrheit eine Maßnahme beschließen könnte, um die Minderheit auszubeuten. Direkte Demokratie ist bestenfalls eine verbesserte Form von Demokratie, aber garantiert nicht, dass die politische Macht institutionalisierte Gewalt gegen Minderheiten einsetzt. Aus diesem Grund ist es für einen Libertären von größter Wichtigkeit, politische Prozesse der direkten Demokratie mit einem effektiven Sezessionsrecht für jede Minderheit zu kombinieren, die sich durch das Ergebnis eines Referendums ausgebeutet fühlen könnte. Meine Schlussfolgerung ist daher radikaler als die von Bruno Frey: Man sollte nicht nur den einfachen Föderalismus als Vorbedingung einer effektiven direkten Demokratie betrachten (Abschnitt III in Freys Aufsatz). Im Namen unserer libertären Ideale sollte man fordern, dass die Demokratie (auch die direkte Demokratie) durch den effektiven Gebrauch des Rechts auf Sezession begrenzt wird. Das bedeutet, dass jede Gruppe oder Vereinigung von Individuen frei ist, jederzeit darüber zu entscheiden, ob sie einem Staat oder einer politischen Einheit angehören, eine neue bilden oder zu einer ehemaligen Einheit zurückkehren will.

Die Dekonstruktion des Staates durch direkte Demokratie und Sezession Die Explosion der technologischen Revolution und globalen Ökonomie schafft für die direkte Demokratie und die Sezession neue, ungeahnte Möglichkeiten. In einer Welt, in der mittels kryptografisch individualisierter Schlüssel Onlinewahlen über das Internet möglich sind, können eigentlich fast alle Themen zu sehr niedrigen Kosten zum Gegenstand einer direkten Demokratie gemacht werden. In der heutigen Welt werden die traditionellen Nationalstaaten mehr und mehr 3

Kapitel 7 und 8 im vorliegenden Buch.

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anachronistisch. Ein politischer Prozess, der auf eine Kombination aus direkter Demokratie und effektiver Sezession zurückgreift, könnte im 21. Jahrhundert eine Welt schaffen, „bestehend aus tausenden von Ländern, Regionen und Kantonen und zigtausenden freien Städten – wie die heutigen „Kuriositäten“ Monaco, Andorra, San Marino, Liechtenstein, Hongkong und Singapur – und den daraus resultierenden zusätzlichen Möglichkeiten einer ökonomisch motivierten Migration.“ 4 Diese Welt wäre eine Welt kleiner liberaler Regierungen, ökonomisch integriert durch Freihandel und internationales privates Warengeld wie etwa Gold. Sie wäre eine Welt beispiellosen ökonomischen Wachstums und bis dato unbekannten Wohlstands. In dieser neuen Welt, die viele Libertäre herbeisehnen, wäre es nicht einmal notwendig, mit den Füßen abzustimmen, um die Freiheit zu garantieren (und jegliche „Inseln“ der Tyrannei und Unterdrückung zu verhindern), sofern ein auf direkter Demokratie und Referenden basierendes System der „Functional Overlapping Competing Jurisdictions (FOCJ)“ sich spontan entwickelte. Diese Rechtsgebiete, die sich überschneiden und eine Regierungsstruktur aufweisen, obwohl sie nicht auf ein bestimmtes historisch festgelegtes geographisches Gebiet festgelegt sind, könnten miteinander im Wettbewerb stehen. Dieses Konzept wurde von Bruno Frey erdacht und in einem brillanten Aufsatz erklärt, den er 1997 auf der Regionalversammlung der Mont-Pèlerin Society in Barcelona vorstellte und den ich Ihnen allen empfehle.5

Privateigentums-Anarchismus in einem freien Markt: das asymptotische Ideal einer direkten Demokratie Wir können natürlich nicht detailliert Freys „FOCJ“ erklären. Mein Hauptkritikpunkt an ihnen (und auch Hoppes Minimalstaaten und freien Städten) ist, dass diese Rechtsgebiete immer noch eine Regierungsstruktur hätten, die ihre Bürger z. B. zwingen könnte, Steuern zu zahlen. Meine entscheidende Frage ist also folgende: Warum wird die direkte Demokratie nicht weiter verbessert, indem man diese Rechtsgebiete der freiwilligen Gestaltung vollkommen überlässt? Wenn das der Fall wäre, hätten wir die beste aller denkbaren direkten Demokratien erreicht. Wir hätten dann einen Zustand, den Frank Albert Fetter bereits 1913 beschrieben hat, als er den Markt eine Demokratie nannte, in der jeder Penny das Recht darstellt, eine Stimme abzugeben;6 oder den unser geschätztes Mitglied William Hutt im Sinn hatte, als er in diesem Zusammenhang zum ersten Mal den Begriff „Konsumentensouveränität“ wählte.7 Richtig, diese Ausdrücke und Vergleiche sind nicht perfekt. Statt den Markt mit dem sogenannten „demokratischen Ideal“ 4

Hoppe (1996), S. 101. Frey (2001). 6 Fetter (1913), S. 394 und 410. 7 Hutt (1940); Rothbard (1970a), S. 561–566. 5

Privateigentums-Anarchismus in einem freien Markt 

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zu vergleichen, sollte der Vergleich unbedingt anders herum lauten. Es träfe die Sache besser, wenn man sagte, die direkte Demokratie gewähre dem Bürger in der politischen Sphäre die gleiche Vorherrschaft, die ihm die Marktwirtschaft überall sonst gewährt.8 Wenn dem so ist, dann ist die beste aller möglichen direkten Demokratien erst dann erreicht, wenn der freie Markt auch auf das Gebiet ausgedehnt wird, wo jetzt noch Regierungen sind, dann aber überlappende, freiwillige und konkurrierende private Agenturen, Vereinigungen und Unternehmen sich vereinen.9 Auf diesem Weg hätten wir eine Möglichkeit gefunden, Politiker und deren Kartelle gegen den gemeinen Bürger abzuschaffen. Stattdessen gelangten wir zur bestmöglichen Demokratie, die man sich für das 21. Jahrhundert denken kann; eine, die der Prozess aus Privateigentum und marktwirtschaftlichem Anarchismus hervorbringt.

8 9

Mises (1996), S. 471. Rothbard (1973a); Friedman (1989).

14. Juan de Mariana und die spanischen Scholastiker1 Einer der wesentlichen Forschungsbeiträge von Professor Murray N. Rothbard liegt in dem Nachweis, dass die Vorgeschichte zur Österreichischen Schule der Nationalökonomie in den Werken der spanischen Scholastiker zu suchen ist. Gemeint ist die Zeit von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts, das „Siglo de Oro Espanol“ (das Goldene Zeitalter Spaniens). Rothbard entwickelte seine These 19742 und führte sie im 4. Kapitel des 1. Bandes seines Monumentalwerkes An Austrian Perspective on the History of Economic Thought weiter aus, und zwar unter dem Titel „The Late Spanish Scholastics“.3 Rothbard war aber nicht der einzige wichtige Österreichische Ökonom, der die spanischen Wurzeln der Österreichischen Schule aufgezeigt hat. Auch Friedrich August von Hayek sah die Dinge so, insbesondere nachdem er Bruno Leoni – ­Autor des Buches Freedom and the Law4 – getroffen hatte. Leoni begegnete Hayek in den fünfziger Jahren und konnte ihn davon zu überzeugen, dass die geistigen Wurzeln des klassischen Wirtschaftsliberalismus kontinentalen und katholischen Ursprungs waren, also in Mitteleuropa und nicht in Schottland zu suchen waren.5 Wer waren nun Spaniens geistige Vorreiter der Österreichischen Schule der Nationalökonomie? Die meisten von ihnen waren Scholastiker. Sie lehrten Moral und Theologie an der Universität von Salamanca – eine wundervolle mittelalterliche Stadt in Spanien, etwa 150 Kilometer nordwestlich von Madrid gelegen, nahe der Grenze zu Portugal. Diese Scholastiker, hauptsächlich Dominikaner und Jesuiten, 1 Veröffentlicht als Kapitel 1 des Buches 15 Great Austrian Economists, Randall G. Holcombe (Hrsg.), Auburn, AL 1999, S. 1–11. 2 Sie wurde von Rothbard unter dem Titel „New Light on the Prehistory of the Austrian School“ auf der Konferenz in South Royalton, die den Beginn einer bemerkenswerten Renaissance der Österreichischen Schule markierte, präsentiert und zwei Jahre später – Rothbard (1976) – publiziert. 3 Rothbard (1995), Band 1, S. 97–133. 4 Leoni (1991). 5 Eine von Hayeks besten Schülerinnen, Marjorie Grice-Hutchinson, die auf spanische Literatur spezialisiert war, hat die wichtigsten Texte der spanischen Scholastiker ins Englische übersetzt. Heute werden ihre Bücher, Grice-Hutchinson (1952, 1993), als kompakte Klassiker gehandelt. Ich besitze noch einen Brief von Hayek, datiert auf den 7. Januar 1979, in dem er mich auffordert, Murray Rothbards Aufsatz über die „Prehistory of the Austrian School“ zu lesen, weil Rothbard und Grice-Hutchinson zeigten, dass die Kernprinzipien der Theorie wettbewerblicher Märkte von spanischen Scholastikern des 16. Jahrhunderts dargelegt worden seien und der Wirtschaftsliberalismus nicht von Calvinisten, sondern von Jesuiten stamme. Hayek schließt den Brief mit den Worten: „Ich kann Ihnen aus meiner persönlichen Kenntnis der Quellen heraus versichern, dass Rothbard sehr starke Argumente vorbringt.“

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waren in der Lage, jene subjektivistische, dynamische und libertäre Tradition zu Papier zu bringen, der 250 Jahre später Carl Menger und die ganze Österreichische Schule eine immense Bedeutung beimessen sollten.6 Der wohl libertärste unter all den Scholastikern, vor allem in seinen späteren Werken, war der Jesuitenpater Juan de Mariana. Mariana wurde 1536 in der spanischen Stadt Talavera de la Reina nahe Toledo geboren. Er war anscheinend der illegitime Sohn eines Geistlichen in Talavera. Mit 16 trat er der Gesellschaft Jesu bei, kurz nach der Gründung des Ordens. Im Alter von 24 Jahren wurde er nach Rom gesandt, um Theologie zu lehren. Anschließend wurde er an eine Jesuitenschule in Sizilien versetzt, und von dort aus an die Universität von Paris. 1574 kehrte er nach Spanien zurück und lebte und studierte in Toledo bis zu seinem Tod 1624. De Mariana wurde 87 Jahre alt. Obwohl Pater Juan de Mariana viele Bücher geschrieben hat, dürfte sein erstes Buch mit libertärem Inhalt De rege et regis institutione (Über den König und die königlichen Institutionen) gewesen sein, veröffentlicht im Jahr 1598. In ihm trug er seine berühmte Verteidigung des Tyrannenmords vor. Folgt man Mariana, dann kann jeder individuelle Bürger zu Recht den König ermorden, wenn dieser Steuern ohne das Einverständnis der Menschen durchsetzt, Eigentum von Individuen beschlagnahmt und verschwendet oder das Treffen eines demokratischen Parlaments verhindert.7 Die Doktrinen des Buches sollten wohl dazu herhalten, die Ermordung der französischen Tyrannenkönige Heinrich III. und Heinrich IV. zu rechtfertigen. Infolge eines Erlasses des französischen Parlaments wurde das Buch am 4. Juli 1610 in Paris verbrannt.8 In Spanien wurde das Buch hingegen respektiert, auch wenn es von den Machthabern nicht gerade enthusiastisch aufgenommen wurde. Mariana hatte eigentlich nichts anderes getan, als den logischen Schluss aus der Idee zu ziehen, dass das Naturrecht der Macht des Staates überlegen sei. Diese Idee hatte der große Gründer des Internationalen Rechts, der Dominikaner Francesco de Vittoria (1485–1546), 6 Das aktuellste Buch über die spanischen Scholastiker stammt von Alejandro Chafuen (1986). 7 Juan de Mariana beschreibt den Tyrannen wie folgt: „Er besetzt das Eigentum der Individuen und raubt sie aus. Er ist von den wenig königlichen Lastern der Habgier, des Zorns, der Brutalität und des Betrugs besessen. … Tyrannen wollen jeden verletzen oder zerstören und richten ihre Attacken insbesondere gegen reiche und aufrichtige Männer. Für sie ist das Gute suspekter als das Böse, und die Tugenden, die sie vermissen lassen, erscheinen ihnen am gefährlichsten. … Sie schließen die Besseren von der Gemeinschaft aus, getreu dem Prinzip, dass alles, was im Königreich funktioniert, niedrig gehalten werden sollte. … Sie beuten den Rest aus, so dass sie irgendwann nicht mehr nach weiteren Abgaben fragen können und von einem Krieg in den anderen ziehen müssen. Sie lassen auf Kosten der Bürger große Gebäude errichten. So kamen die ägyptischen Pyramiden in die Welt. … Der Tyrann muss befürchten, dass diejenigen, die er terrorisiert und als Sklaven gefangen hält, ihn stürzen wollen. … Deshalb verbietet er den Bürgen, sich zu versammeln, Treffen abzuhalten und über die Situation der Gesellschaft zu diskutieren, und nimmt ihnen mit geheimpolizeilichen Methoden die Möglichkeit, frei zu reden und zuzuhören, so dass sie nicht mehr in der Lage sind, sich offen zu beschweren.“ Siehe Rothbard (1995), S. 118 f. 8 Siehe Mariana (1768), S. 53.

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zuvor sehr ausführlich dargelegt. Mit ihm begann in Spanien die scholastische Tradition, die spanische Eroberung und insbesondere Versklavung der Indianer in der neuen Welt zu verurteilen. Doch das wohl wichtigste Buch von Mariana war sein Werk, das im Jahre 1605 unter dem Titel De monetae mutatione (Über die Änderungen des Geldes) erschien.9 In diesem Buch stellte Mariana die Frage, ob der König bzw. Herrscher der Eigentümer des Privatbesitzes seiner Vasallen respektive Bürger sei. Er kam zu der Erkenntnis, dass er es eindeutig nicht sei. Anschließend brachte er seine Unterscheidung von König und Tyrann ins Spiel und meinte, ein Tyrann sei jener, „der alles kaputt trampelt und glaubt, ihm würde alles gehören. Der König begrenzt seine Ansprüche innerhalb des Rahmens von Vernunft und Gerechtigkeit.“ Aus dieser Position leitete Mariana ab, dass der König keine Steuern ohne die Zustimmung der Menschen verlangen könne, da Steuern schlicht die Aneignung eines Teils des Wohlstands anderer Leute darstellten. Auch solle der König nicht Staatsmonopole errichten, weil diese nur ein verschleiertes Mittel für das Einsammeln von Steuern seien. Überdies solle der König nicht – und das ist der wichtigste Teil des Buches – seine Staatseinnahmen erhöhen, indem er den Metallgehalt der Münzen mindert. Mariana erkannte, dass die Reduktion des Edelmetalls in den Münzen und die Mehrung der Menge der im Umlauf befindlichen Münzen schlicht Inflation bedeutet. (Das Wort benutzte er aber nicht, da es zu seiner Zeit unbekannt war.) Er erkannte auch, dass die Inflation unweigerlich zu einem Preisanstieg führt, da dann, „wenn das Geld unter den gesetzlichen Wert fällt, alle anderen Güter im selben Verhältnis im Wert steigen und alle Konten kaputtgehen.“ Mariana beschreibt die bedenklichen ökonomischen Folgen, zu der die Entwertung und Manipulation des Geldwertes durch den Staat führt: „Nur ein Dummkopf würde versuchen, die Werte zwischen dem legalen Preis und dem natürlichen Preis zu trennen. Töricht, nein gottlos ist der Herrscher, der anordnet, dass eine Sache, die dem gemeinen Menschen sagen wir fünf wert ist, für zehn verkauft werden solle. Die Menschen werden in diesen Fragen von einer gemeinsamen Einschätzung geleitet. Sie basiert auf Überlegungen hinsichtlich der materiellen Qualität und der Fülle bzw. Knappheit. Es wäre nutzlos, wenn ein Prinz versuchte, diese Handelsprinzipien zu untergraben. Er sollte sie intakt lassen, statt sie mit Gewalt zum allgemeinen Nachteil zu verändern.“10

Hervorzuheben ist, dass Mariana auf die Tatsache verweist, wonach Menschen die Werte einer Sache gemeinsam einschätzen und so der traditionellen subjektivistischen Doktrin der Scholastiker folgen, die ursprünglich von Diego de Covarrubias y Leyva eingeführt wurde. Covarrubias wurde 1512 geboren und starb 1577. 9

Ich zitiere ausgiebig aus der letzten spanischen Ausgabe dieses Buches, das unter dem Titel „Tratado y discurso sobre la moneda de vellón“ erschienen ist und eine Einführung von Lucas Beltrán, Mariana (1987), enthält. 10 Rothbard (1995a), S. 120.

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Er war der Sohn eines berühmten Architekten und wurde Bischof von Segovia und Minister unter König Philipp II. 1554 brachte er – besser als alle anderen vor ihm – die subjektive Werttheorie auf den Punkt. Er führte aus, dass der Wert einer Sache nicht von ihrer wesentlichen Natur, sondern von der subjektiven Wertschätzung der Menschen abhänge, selbst dann, wenn diese Einschätzung fehlgeleitet sei. Er illustriert diese These anhand des Weizenbeispiels. Bei den Indianern sei der Weizen wertvoller als in Spanien, weil die Menschen ihn dort mehr wertschätzten, obwohl die Natur des Weizens an beiden Orten die gleiche sei.11 Covarrubias’ subjektivistischer Ansatz wurde durch einen anderen Scholastiker seiner Zeit, nämlich Luis Saravia de la Calle komplettiert. Saravia de la Calle zeigte als erster, dass die Preise die Kosten bestimmen und nicht umgekehrt. Ihm kommt auch das Verdienst zu, sein Hauptwerk auf Spanisch, und nicht in Latein geschrieben zu haben. Der Titel lautete Instruccíon de mercaderes (Anleitung für Händler). Dort können wir lesen, „dass diejenigen einen großen Fehler begehen, die den gerechten Preis an Größen wie Arbeit, Kosten und Risiken der handelnden Person messen wollen. Der gerechte Preis wird nicht gefunden, indem die Kosten gezählt werden, sondern aufgrund der Wertschätzung.“12 Das subjektivistische Verständnis, das durch Covarrubias angestoßen wurde, erlaubte auch anderen spanischen Scholastikern eine klare Sicht auf die wahre Natur der Marktpreise und die Unmöglichkeit, ein ökonomisches Gleichgewicht zu erzielen. Der Jesuitenkardinal Juan de Lugo fragte sich, was der Gleichgewichtspreis sei, und kam bereits im Jahr 1643 zu dem Schluss, das Gleichgewicht hänge von so vielen verschiedenen spezifischen Umständen ab, dass nur Gott vermöge, ihn zu kennen (Pretium iustum mathematicum licet soli deo notum).13 Ein anderer Jesuit, Juan de Salas, kam bei seinen Betrachtungen zur Möglichkeit, spezifische Marktinformationen zu kennen, zu der sehr hayekanischen Schlussfolgerung, dass diese so komplex seien, dass „quas exacte comprehendere et ponderare dei est non hominum“ (nur Gott, nicht der Mensch sie vollständig verstehen kann).14 Die spanischen Scholastiker waren zudem die ersten, die das dynamische Wettbewerbskonzept einführten (concurrentium), verstanden als ein Prozess der Rivalität unter Unternehmern. So schrieb z. B.  Jerónimo Castillo de Bovadilla ­(1547–1605), dass Preise als Ergebnis des Überflusses, der Rivalität und des Wettbewerbs unter den Verkäufern nach unten gingen.15 Dieser Idee schloss sich Luis de 11

Ich zitiere aus Covarrubias y Leyva (1604), Band 2, S. 131 (Buch 2, Kapitel 4). Luis Saravia de la Calle (1544), S. 53. Der gesamte Inhalt von Saravias Buch richtet sich an Geschäftsleute und folgt einer kontinentaleuropäischen Tradition, die bis zum heiligen Bernhardin von Siena (1380–1444) zurückverfolgt werden kann. Siehe Rothbard (1995a), S. 81–85. 13 Juan de Lugo (1642), S. 312. 14 Salas (1617), IV. 6, S. 9. 15 Castillo de Bovadilla (1585), II, Kapitel IV, Nummer 49. Siehe auch die wichtigen Kommentare über die Scholastiker und deren dynamisches Wettbewerbskonzept von Popescu (1987), S. 141–159. 12

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Molina an.16 Covarrubias antizipierte ebenfalls viele Schlussfolgerungen von Pater Juan de Mariana, und zwar in seiner empirischen Studie zur Geschichte der Entwertung der wichtigsten Münze jener Zeit, dem kastilianischen Maravedi. Diese Studie enthält eine Sammlung vieler Statistiken über die Entwicklung der Preise im vorausgegangenen Jahrhundert und wurde in seinem Buch Veterum collatio numismatum (Sammlung alter Gelder) veröffentlicht.17 Das Buch wurde in Italien von Davanzaty und Galiani gelobt und vom Gründer der Österreichischen Schule, Carl Menger, in dessen Werk Grundsätze der Volkswirthschaftslehre zitiert.18 Wir sollten auch festhalten, dass Mariana in seiner Erklärung der Inflations­ folgen die Grundelemente aus der Quantitätstheorie des Geldes auflistet, die zuvor von einem anderen bemerkenswerten Scholastiker, nämlich Martín Azpilcueta Navarro, auch bekannt als Dr. Navarro, detailliert erklärt worden sind. Azpilcueta wurde ein Jahr nach der Entdeckung Amerikas (1493) in Navarra, im Nordosten Spaniens nahe Frankreich, geboren. Er lebte 94 Jahre lang und ist vor allem als der Mann berühmt, der als erster die Quantitätstheorie des Geldes erklärt hat, und zwar 1556 in seinem Buch Comentario Resolutorio de Cambios (Resolutorischer Kommentar zu Wechseln). Die Auswirkungen des massiven Zustroms amerikanischer Edelmetalle auf die spanischen Preise beobachtend, erklärte Azpilcueta, „wie die Erfahrung in Frankreich lehrt, wo es weniger Geld gibt als in Spanien, kosten Brot, Wein, Kleidung und Arbeit sehr viel weniger; und selbst damals, als es in Spanien weniger Geld gab, konnte man die käuflichen Dinge und die Arbeit der Menschen für viel weniger Geld bekommen als nach der Entdeckung Indiens und des Goldes und Silbers, die es bedeckten. Der Grund dafür ist, dass Geld mehr wert ist, wenn es fehlt, als wenn es im Überfluss vorhanden ist.“19

Wenn wir auf Juan de Mariana zurückblicken, dann wird klar, dass seine wichtigste Leistung im Nachweis lag, dass die Inflation eine Steuer ist und diejenigen besteuert, die Geld haben und folglich dazu gezwungen sind, mehr Sachen zu kaufen. Mariana meinte auch, dass die Inflationsfolgen nicht durch die Fixierung von Höchstpreisen zu beheben sind, da die Erfahrung gezeigt habe, dass derlei immer schon wirkungslos war. Gegeben, dass die Inflation eine Steuer ist, wäre gemäß seiner Theorie der Tyrannei stets notwendig, dass die Menschen der Inflation zustimmten. Aber selbst dann, wenn die Menschen ihr zustimmten, wäre sie immer eine schädliche Steuer, die das wirtschaftliche Leben durcheinanderbrächte: „Diese neue Steuer auf Edelmetall ist unzulässig und schlecht, wenn sie ohne Zustimmung des Königs stattfindet. Findet sie aber mit ihr statt, dann ist sie m. E. falsch und auf vielerlei Arten schädlich.“ 16

Molina (1597), II, disp. 348, Nummer 4 und Molina (1990a), S. 169. Raymond de Roover nimmt das Werk von Castillo de Bovadilla nicht zur Kenntnis und verweist darauf, dass „­Molina sogar das Konzept von Wettbewerb einführt, wenn er sagt, dass Konkurrenz und Rivalität unter Käufern die Preise antreibt.“ Siehe dazu Roover (1955), S. 169. 17 Enthalten in Covarrubias (1604), Band I, S. 669–710. 18 Menger (1871), S. 257. 19 Azpilcueta Navarro (1965), S. 74 f.

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Wie kann man den komfortablen Rückgriff auf die Inflation verhindern? Indem man den Staatshaushalt ausgleicht. Mariana schlägt im Grunde vor, der könig­ lichen Familie weniger Geld zu zahlen, weil „eine moderate Summe, die auf Antrag gezahlt wird, stärker glänzt und majestätischer strahlt als eine überbordende Summe ohne Auftrag.“ Mariana schlug auch vor, dass der König seine Vorteilsgewährungen einschränken sollte. Mit anderen Worten, er sollte die erbrachten oder angeblichen Dienstleistungen seiner Untertanen nicht so großzügig belohnen: „Es gibt kein Königreich auf der Welt mit so vielen Preisen, Kommissionen, Pensionen, Belohnungen und Posten. Wenn die alle auf ordentliche Weise verteilt würden, müsste weniger aus dem Staatshaushalt oder von anderen Steuern genommen werden, die sich für Geldzuwendungen eignen.“ Wie wir sehen können, ist die mangelnde Kontrolle über öffentliche Ausgaben und der Kauf von politischer Unterstützung durch Subventionen bereits ein sehr altes Thema. Mariana schlägt auch vor, dass der König nicht länger unnütze Unternehmungen und Kriege anzetteln und rechtfertigen sollte und stattdessen lieber die befallenen Gliedmaßen, die nicht mehr geheilt werden können, abschneiden sollte. Kurzum, er stellte, wie wir sehen, ein ganzes Programm vor, mit dem man selbst heute noch die öffentlichen Ausgaben mit dem Ziel eines ausgeglichenen Staatshaushalts reduzieren könnte. Hätte Juan de Mariana die ökonomischen Mechanismen gekannt, die zum Prozess der bankeninduzierten Kreditexpansion führen, dann hätte er die Folgen dieses Prozesses offenkundig genauso als Raubzug gesehen wie die staatliche Münzentwertung. Nichtsdestotrotz war es anderen spanischen Scholastikern vergönnt, die Kreditexpansion der Banken zu analysieren. So stand etwa Luis Saravia de la Calle dem Teildeckungsbankwesen sehr kritisch gegenüber. Er bestand darauf, dass Zinszahlungen mit der Natur der Sichteinlage unvereinbar seien und man auf jeden Fall eine Gebühr an den Bankier zahlen sollte, weil der das Geld bei sich verwahre. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kam der weitaus berühmtere Azpilcueta Navarro.20 Der Jesuit Luis de Molina sympathisierte mit dem Teildeckungsbankwesen, verwechselte aber die Natur zweier unterschiedlicher Verträge, nämlich Kredit und Einlage, die Azpilcueta und Saravia de la Calle vor ihm klar voneinander unterschieden hatten. Sehr viel wichtiger ist aber, dass Molina bereits 1597, und damit sehr viel früher als Pennington (1826), als erster Theoretiker erkannte, dass die Bankeinlagen Teil der Geldmenge sind. Er schlug sogar den Namen „geschriebenes Geld“ (chirographis pecuniarium) vor, womit er die geschriebenen Dokumente

20

Siehe Kapitel 15 im vorliegenden Buch.

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meinte, die im Handel als Bankgeld akzeptiert wurden.21 Unsere Scholastiker bil­ deten somit zwei unterschiedliche Schulen. Es gab eine Art von „Currency School“, die von Saravia de la Calle, Azpilcueta Navarra und Tomás de Mercado geprägt wurde. Selbige hegten ein großes Misstrauen gegen die Geschäfte der Banken und verlangten von Ihnen implizit, eine 100-prozentige Reserve vorzuhalten. Auf der anderen Seite formierte sich eine „Banking School“. An ihrer Spitze standen die Jesuiten Luis de Molina und Juan de Lugo, die dem Teilreservebankgeschäft sehr viel toleranter begegneten.22 Beide Gruppen waren bis zu einem gewissen Grad Vorläufer diverser Theorieentwicklungen, die dann drei Jahrhunderte später in England aufkamen, und zwar im Zuge der Debatte zwischen der Currency School und der Banking School. Murray Rothbard erwähnt, dass ein anderer wichtiger Beitrag der spanischen Scholastiker, insbesondere der von Azpilcueta, das Verständnis der Zeitpräferenz neu belebte. Ursprünglich wurde das Konzept von einem der brillantesten Schüler des Hl. Thomas von Aquin entwickelt. Gemeint ist Giles Lessines, der bereits 1285 schrieb, dass „zukünftige Güter nicht so hoch bewertet werden wie die gleichen Güter zum jetzigen Zeitpunkt. Sie bringen ihrem Eigentümer auch nicht den gleichen Nutzen. Aus diesem Grund muss man bedenken, dass sie zu recht einen geringeren Wert haben.“23

Pater Juan de Mariana schrieb noch ein anderes wichtiges Buch, nämlich ­ iscurso de las Enfermedades de la Compania (Ein Diskurs über die Krankheiten D der Jesuiten), das posthum veröffentlicht wurde. In ihm kritisierte Mariana die militärische Hierarchie, die bei den Jesuiten gang und gäbe war, und entwickelte eine echte Österreichische Einsicht, nämlich die, dass es dem Staat aufgrund fehlender Informationen unmöglich ist, Befehle mit koordinierendem Inhalt zu erlassen. In den Worten Marianas: „Macht und Befehlsgewalt sind schlecht. … Rom ist weit weg, der Anführer kennt nicht die Menschen oder die Tatsachen, zumindest nicht alle Umstände, die sie umgeben und von denen der Erfolg abhängt. … Es ist unvermeidbar, dass viele gravierende Fehler begangen werden, weshalb die Menschen enttäuscht sein und die blinde Regierung verachten werden. … Es ist ein großer Fehler, wenn der Blinde den Sehenden führen will.“

21 Molina (1990a), S. 146. Siehe auch James Penningtons Anmerkungen „On the Private Banking Establishments of the Metropolis“, datiert vom 13. Februar 1826 und enthalten als Anhang in Tooke (1826). 22 Pater Bernard W. Dempsey meint: Hätten die Mitglieder der zweiten Salamanca-Gruppe das detailierte wirtschaftsheoretische Wissen gehabt, das ihnen erlaubt hätte, die Implikationen und die Funktion des ökonomischen Prozesses zu begreifen, der das Teilreservebankgeschäft ermöglicht, dann hätten sie ihn als abwegigen, unüberschaubaren und illegitimen Prozess institutionellen Wuchers verurteilt; selbst Molina, Lessius und Lugo hätten sich dem angeschlossen. Vgl. Dempsey (1943), S. 210. 23 Zitiert in Dempsey (1943), S. 214.

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Mariana schlussfolgerte, dass dann, wenn es viele Gesetze gibt, „aber nicht alle befolgt oder zur Kenntnis gebracht werden, der Respekt vor sämtlichen Gesetzen verlorengeht.“24 Zusammenfassend kann man sagen, dass Juan de Mariana und die spanischen Scholastiker es verstanden haben, wesentliche Elemente dessen zu entwickeln, was man später die theoretische Grundlage der Österreichischen Schule der Nationalökonomie nennen sollte. Das gilt vor allem für folgende: erstens die subjektive Werttheorie (Diego de Covarrubias Leyva), zweitens das eigentliche Verhältnis zwischen Preisen und Kosten (Luis Saravia de la Calle), drittens die dynamische Natur des Marktes und die Unmöglichkeit eines Modellgleichgewichts (Juan de Lugo und Juan de Salas), viertens das dynamische Verständnis des Wettbewerbs als Prozess der Rivalität unter Verkäufern (Castillo de Bovadilla und Luis de Molina), fünftens die Wiederentdeckung des Prinzips der Zeitpräferenz (Azpilcueta Navarro), sechstens der verzerrende Einfluss der Inflation auf die Preise (Juan de Mariana, Diego de Covarrubias und Azpilcueta Navarro), siebtens die negativen ökonomischen Auswirkungen der Teilreservehaltung im Bankgeschäft (Luis Saravia de la Calle und Azpilcueta Navarro), achtens die Einsicht, dass Bankeinlagen ein Teil des Geldmenge sind (Luis de Molina und Juan de Lugo), neuntens die Unmöglichkeit, eine Gesellschaft aufgrund fehlender Informationen durch Zwangsbefehle zu steuern (Juan de Mariana), und zehntens die libertäre Tradition, dass jede ungerechtfertigte Intervention von Seiten des Staates Naturrecht verletzt (Juan de Mariana). Um den Einfluss der spanischen Scholastiker auf die spätere Entwicklung der Österreichischen Schule zu verstehen, muss man sich in Erinnerung rufen, dass im 16. Jahrhundert Kaiser Karl V., damals auch König von Spanien, seinen Bruder Ferdinand I. aussendete, um König von Österreich zu werden. „Österreich“ bedeutet etymologisch der östliche Teil des Reiches, und das Königreich umfasste damals fast ganz Kontinentaleuropa, ausgenommen Frankreich, das, umzingelt von spanischen Streitkräften, eine isolierte Insel bildete. Auf diese Weise ist der Ursprung des geistigen Einflusses der spanischen Scholastiker auf die Österreichische Schule leicht zu verstehen. Er ist kein purer Zufall und auch keine Laune der Geschichte, sondern entspringt den engen historischen, politischen und kulturellen Beziehungen, die Spanien und Österreich seit dem 16. Jahrhundert über viele Jahrhunderte hinweg verbanden. Auch Italien spielte in dieser Beziehung eine wichtige Rolle. Es fungierte als eine eigenständige kulturelle, ökonomische und finanzielle Brücke, über die die am weitesten voneinander entfernten Punkte des Reiches in Europa (Spanien und Österreich) ihre Beziehung aufrechterhielten. Man kann also sehr gut für die These argumentieren, dass zumindest die Wurzeln der Österreichischen Schule in Wahrheit eine spanische Schule sind.

24

Mariana (1768), S. 151–155 und 216.

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14. Juan de Mariana und die spanischen Scholastiker

Eigentlich könnte man sagen, dass das größte Verdienst von Carl Menger darin liegt, die kontinentaleuropäische katholische Tradition der spanischen Scholastiker wiederentdeckt zu haben, die schon fast vergessen und abgebrochen zu sein schien – eine Folge der schwarzen Legende gegen Spanien und dem sehr negativen Einfluss, den Adam Smith und seine Nachfolger der britischen klassischen Schule25 auf das ökonomische Denken nahmen. Zum Glück wurde die kontinentale Tradition trotz des erdrückenden intellektuellen Imperialismus der britischen klassischen Schule nie vollständig vergessen. Einige Ökonomen, wie etwa Cantillon, Turgot und Say, hielten die Fackel des Subjektivismus hoch. Selbst in der dekadenten Zeit des 18. und 19. Jahrhunderts überlebte die alte scholastische Tradition ihren damals so typischen Minder­ wertigkeitskomplex gegenüber der britischen Geisteswelt. Das kann man an einem anderen katholischen Autor Spaniens erkennen. Er löste das Werteparadox und entwickelte die Theorie des Grenznutzens 27 Jahre vor Carl Menger. Gemeint ist Jaime Balmes, der 1810 in Katalonien geboren wurde und 1848 starb. Während seines kurzen Lebens wurde er zum wichtigsten thomistischen Philosophen Spaniens. Einige Jahre vor seinem Tod, am 7. September 1844, veröffentlichte er einen Aufsatz unter dem Titel „Die wahre Idee vom Wert oder Gedanken über Ursprung, Natur und Änderungen von Preisen“. In ihm löst er das Werteparadox und bringt die Idee des Grenznutzens auf den Punkt. Balmes fragte sich: „Warum ist ein schöner Stein mehr wert als ein Brot?“ Seine Antwort lautete: „Das ist nicht schwer zu erklären. Der Wert einer Sache ist sein Nutzen. … Wenn die Anzahl der Einheiten dieser Sache wächst, sinkt die Notwendigkeit jeder einzelnen Sache. Wenn man in der Lage ist, zwischen vielen Einheiten zu wählen, dann ist eine einzige nicht unverzichtbar. Aus diesem Grund gibt es eine notwendige Beziehung zwischen dem Anstieg oder Rückgang des Wertes und der Knappheit bzw. dem Überfluss einer Sache.“26

25 „Smith vernachlässigte frühere Beiträge zum subjektiven Wert, der unternehmerischen Funktion sowie zur Hervorhebung realer Märkte und Preise. Er ersetzte dies alles mit einer Arbeitswertlehre und überlagerte es, indem der den Fokus auf den „natürlichen Preis“ und dessen langfristiges wie unveränderliches Gleichgewicht richtete. Die unternehmerische Funktion existierte in dieser Welt einfach nicht. Smith verwechselte Calvinismus mit Ökonomie, als er Zinswucherverbote unterstützte und zwischen produktiven und unproduktiven Beschäftigungen unterschied. Er ließ von den verschiedenen Laissez-faire-Ökonomen des 18. Jahrhunderts ab und führte viele Missverständnisse ein. Sein Werk war unsystematisch und von Wider­sprüchen durchzogen.“ Siehe Yeager (1996), S. 183. 26 Balmes (1949), S. 615–624. Balmes beschreibt die Persönlichkeit von Juan de Mariana mit folgenden anschaulichen Worten: „Der allgemeine Eindruck, den Mariana hinterlässt, ist einzigartig. Ein erfolgreicher Theologe, perfekter Lateinschüler mit gründlichem Wissen der griechischen und östlichen Sprachen, ein großartiger Verfasser von Briefen, ein anständiger Ökonom, ein Politiker mit großer Voraussicht. Dies ergibt in der Summe ein unglaubliches Leben mit strikter Moralität, ein Herz, das keine Unwahrheit kennt, nie in die Lage gerät, zu flattern, und im Namen der Freiheit schlägt, wie das der glühenden Republikaner im antiken Griechenland und Rom. Man hört seine feste Stimme gegen alle Formen von Missbrauch ohne Ansehen der Person und ohne Stottern, wenn er Könige ansprach, und unter der Berücksich-

14. Juan de Mariana und die spanischen Scholastiker

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Auf diese Weise konnte Balmes den Kreis der kontinentalen Tradition wieder schließen, der nun parat lag, um einige Jahre später von Carl Menger und den übrigen Vertretern der Österreichischen Schule der Nationalökonomie aufgegriffen, vervollständigt und weiterentwickelt zu werden.

tigung, dass dies alles zusammenkommt bei einem Mann, der in einer kleinen Zelle bei den Jesuiten in Toledo lebt und bei dem man sicherlich eine Reihe von Tugenden und Verhältnissen finden wird, die selten in einer einzigen Person zusammentreffen.“ Siehe sein Artikel „Mariana“ in Balmes (1949), Band 12, S. 78 f.

15. Neues zur Vorgeschichte der Bankentheorie und der Schule von Salamanca1 Einführung Bekanntlich gehört Murray N.  Rothbard zu jenen Theoretikern, die höchst kreativ und kohärent für die Notwendigkeit eines freien und nur den allgemeinen Rechtsprinzipien unterworfenen Bankwesens plädierten. Mit anderen Worten, es ging ihm um ein Bankwesen mit einer 100-prozentigen Bargeldreserve auf Sichteinlage. Außerdem erkannte er als einer der ersten, dass die spanischen Scholastiker des 16. und 17. Jahrhunderts, die in enger Beziehung zur Universität von Salamanca standen, mit ihren theoretischen Beiträgen Vorreiter waren und einen großen Einfluss auf die Österreichische Schule ausgeübt haben.2 Wir glauben, dass die vielleicht größte Anerkennung, die man Murray N. Rothbard zollen kann, darin besteht, zu zeigen, wie die Theoretiker der Schule von Salamanca, deren geistiges Schaffen mit der Zeit Karls V. begann, eine Theorie über die legitime Bankgeschäfte entwickelten. Diese stimmt weitgehend mit jenen späteren Beiträgen zum Thema im Einklang, die von der Österreichischen Schule im Allgemeinen und von Murray N. Rothbard im Besonderen beigesteuert wurden. Die Analyse des Bankgeschäfts zur Zeit Karls V. ist aus verschiedenen Gründen aufschlussreich. Erstens, der massive Zustrom von Edelmetallen aus Amerika verschob das ökonomische Gravitationszentrum zumindest zeitweise aus den merkantilen Städten Norditaliens in Richtung Spanien, insbesondere nach Sevilla sowie zu den anderen spanischen Märkten. Zweitens, Karls V. ständiger Geldbedarf war Folge seiner extravaganten Reichspolitik und verleitete ihn dazu, sich über das Bankensystem zu finanzieren und Vorteile aus der Liquidität zu ziehen, die ihm das System ohne jegliche Skrupel gewährte. Die traditionelle Komplizenschaft von Bankiers und Herrschern war damals bereits eine allgemeine Regel und wurde von Karl V. auf die Spitze getrieben. Trotzdem konnte er den Bankrott der königlichen Staatskasse 1 Die Idee zu diesem Aufsatz entstand während einer Unterredung mit Murray N. Rothbard auf der Regionalversammlung der Mont Pèlerin Society in Rio de Janeiro im September 1993. Die ursprüngliche englische Version erschien in der Review of Austrian Economics, Band 9, Nummer 2, 1996, S 59–81, zu Ehren und in Erinnerung an Murray N. Rothbard, der am 7. Januar 1995 verstarb. 2 Siehe Murray N.  Rothbard (1976). Ich besitze einen Brief von Friedrich August von Hayek, datiert auf den 7. Januar 1979, in dem er schreibt, dass wir neben Raymond de Roover folgenden Wissenschaftlern den Nachweis der Verbindung zwischen der Schule von Salamanca und der Österreichischen Schule zu verdanken haben: H. M. Robertson (1933), Marjorie ­Grice-Hutchinson (1952) und vor allem Murray N. Rothbard (1976).

Die Entwicklung der Banken in Sevilla 

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nicht verhindern. Dieser hatte logischerweise verheerende Konsequenzen für die spanische Ökonomie im Allgemeinen und die Bankiers, die ihn finanziert hatten, im Speziellen. All diese Vorkommnisse veranlassten die brillantesten Köpfe jener Zeit, nämlich die Theoretiker der Schule von Salamanca, sich über finanzielle Fragen und das Bankwesen Gedanken zu machen und im Ergebnis eine Reihe von enorm wertvollen theoretischen Analysen zu hinterlassen, die sorgfältig studiert werden sollten. Im Folgenden werden wir deren Aspekte vollständig analysieren.

Die Entwicklung der Banken in Sevilla Dank der Arbeit von Ramón Carande3 kennen wir die Entwicklung der privaten Banken in Sevilla während der Herrschaft Karls V. relativ genau. Wie Carande erklärt, gründen seine Forschungen auf einer Liste von Bankiers, die im Zusammenhang mit der Konfiszierung von Edelmetallen durch das Handelshaus von Sevilla 1545 erstellt wurde. Die unzufriedenstellende Situation der Staatskasse ließ Karl V. die wichtigsten unter den elementaren Rechtsprinzipien beugen. Er besorgte sich das Geld dort, wo es am einfachsten zu bekommen war: bei den Einlagen in den Schließfächern der Bankhäuser von Sevilla. Es stimmt, dass die Bankiers, wie wir später sehen werden, ebenfalls Rechtsprinzipien bezüglich des Einlagevertrags verletzten und die Depositen zum größten Teil für ihre eigenen Geschäfte nutzten. Es ist allerdings nicht weniger wahr, dass die Reichspolitik wegen ihrer elementaren Verletzung der Eigentumsrechte die Bankiers dazu ermunterte, den größten Teil ihrer Einlagen zu investieren und dies zur gängigen Geschäftspraxis werden zu lassen. Da es schließlich keine Garantie mehr dafür gab, dass die öffentliche Autorität die Bargeldreserve, die in den Banken aufbewahrt wurde, respektierte, war es vorteilhafter, den größten Teil der Einlagen für Kredite an die Industrie und den Handel einzusetzen, um die kaiserliche Ausbeutung zu vermeiden und die Profitabilität zu steigern. (Die Erfahrung hatte gelehrt, dass der Kaiser in schwierigen Zeiten nicht vor einer Konfiszierung der Reserve zurückschreckte und diese durch Zwangsanleihen der Krone ersetzte.) Auf jeden Fall ist die Konfiszierungspolitik die wohl extremste Form, in der sich die traditionelle Politik öffentlicher Autoritäten manifestiert. Man zieht Vorteile aus illegitimen Bankgewinnen, indem man die Vermögensgegenstände derjenigen an sich reißt, die von Gesetzes wegen die Anlagen dritter Parteien eigentlich bestmöglich hätten schützen und bewahren sollen. Man kann leicht verstehen, dass die Regierenden – als die hauptsächlich Bevorteilten dieser illegitimen Aktivität – das Treiben am Ende rechtfertigten und den Banken alle möglichen Formen von Privilegien einräumten, so dass diese immer weitermachten und fortan mit Teilreservehaltungen jenseits der allgemeinen Rechtsprinzipien agierten.

3

Carande (1987).

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15. Vorgeschichte der Bankentheorie und der Schule von Salamanca

In seinem Hauptwerk Carlos V y sus Banqueros (Karl V. und seine Bankiers) führt Ramón Carande die wichtigsten Bankiers auf, die Karl V. in Sevilla hatte, insbesondere Espinosas, Domingo de Lizarrazas und Pedro de Morga, sowie andere weniger wichtige Bankiers, wie etwa Cristóbal Francisquín, Diego Martínez, Juan Iñiguez und Octavio de Negrón. Alle gingen pleite, weil sie nicht genug Liquidität vorhielten, um den Abzug der Sichteinlagen abzufangen. Dies zeigt, dass sie mit einem Teilreservesystem operierten, das ihnen aufgrund einer Lizenz ermöglicht wurde, die ihnen von der Stadt Sevilla und Karl V. höchstselbst zugesprochen worden war. Wir haben keine Informationen über den Reservesatz, den sie vorhielten, aber wir wissen, dass sie in vielen Fällen in ihre eigenen Geschäfte investierten und dass es dabei um Handelsschiffe ging, die Handel mit Amerika betrieben, und um das Eintreiben von Steuern. Dies war sehr profitabel, da die Gewinne exorbitant waren, wenn die Ergebnisse stimmten. Hinzu kommt, dass die sukzessive Konfiszierung von Edelmetallen, die in den Bankhäusern eingelagert wurden, dieselben zusätzlich in ihrem illegitimen Verhalten bestärkte. Die Espinosas gingen 1579 pleite, die Partner wurden eingesperrt. Der Bankrott von Domingo de Lizarrazas trat am 11. März 1553 ein, als er eine Rechnung über mehr als 6,5 Millionen Maravedis nicht bezahlen konnte. Pedro de Morga, der erst 1553 ins Geschäft eingestiegen war, ging 1575 während der zweiten Pleite von König Philipp II. in Konkurs. Den Rest der weniger wichtigen Bankiers traf das gleiche Schicksal. Vor diesem Hintergrund ist es recht aufschlussreich, die Gegenwart und die Äußerungen von Thomas Gresham zu erwähnen, der damals nach Sevilla reiste. Er hatte die Anweisung, 320.000 Dukaten in bar abzuheben. Die dafür notwendige Lizenz hatte er vom Kaiser und von Königin Maria erhalten. Gresham war erstaunt, als er herausfand, dass genau in jener Stadt, in der die Schätze aus Indien ankamen, das Geld sehr knapp war, auch in den Handelsmärkten. Er befürchtete, dass dann, wenn er gemäß der Anordnung das Geld abheben würde, die Bankhäuser der Stadt die Zahlungen einstellen würden.4 Bedauerlicherweise lässt Ramón Carandes theoretische Analyse manche Fragen offen. Seine Interpretation der Bankpleiten beruht alleine auf anekdotischen „Erklärungen“, wie etwa der Gier nach Edelmetallen, welche die Solvenz der Banken ständig in eine Krisenlage gestürzt habe. Die Tatsache, dass die Bankiers riskante persönliche Geschäfte betrieben, die jedes Mal weitreichende Verpflichtungen einschlossen, und die wiederholte Konfiszierung durch die königliche Finanzverwaltung, die sich in akutem Liquiditätsbedarf befand, werden nicht genannt. Nirgendwo wird der wahre Grund der Phänomene erwähnt: Die unvermeidbare Rezession und die ökonomische Krise waren Folge der Inflation wertvoller Metalle aus Amerika und des künstlichen Booms, den die Kreditexpansion – ohne die solide Grundlage realer Ersparnisse – ausgelöst hatte; Ableger einer Bankenpraxis, die mit Teildeckung arbeitet. 4

Schließlich gelang es ihm unter großen Anstrengungen, 200.000 Dukaten zu erhalten, aber er befürchtete, wie er schrieb, den Bankrott sämtlicher Banken in Sevilla zu verschulden. Siehe Carande (1987), S. 299–323, insbesondere S. 315 f., die sich mit Greshams Besuch in Sevilla beschäftigen.

Die Entwicklung der Banken in Sevilla 

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Glücklicherweise hat Carlo M.  Cipolla die Lücke geschlossen, die Ramón ­ arandes Theorie offenließ. Seine Studie enthält eine neue Interpretation der BanC ken- und Wirtschaftskrise in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Sie bezieht sich zwar strikt auf italienische Banken, ist aber direkt auf das spanische Finanzsystem übertragbar, da die Handels- und Finanzströme dieser beiden Nationen zu jener Zeit eng miteinander verbunden waren.5 Cipolla erklärt, dass die Geldmenge (heute M 1 oder M 2 genannt) in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine große Summe von „Bankgeld“ enthielt, welche jene Bankiers aus dem Nichts geschaffen hatten, die nicht mehr eine 100-prozentige Bargeldreserve auf die Sichteinlagen der Kunden bereithielten. Dies führte zu einem ungemein künstlichen Aufschwung der Ökonomie, der sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts unweigerlich umkehrte, als die Einleger zunehmend ökonomische Schwierigkeiten befürchteten und die wichtigsten Banken in Florenz reihenweise Pleiten hinlegten. Laut Cipolla begann die Expansionsphase in Italien durch die Geschäftsführer der Ricci Bank, die einen großen Teil der neugeschaffenen Einlagen dazu benutzten, Staatsanleihen zu kaufen und Kredite zu geben. Diese Kreditausweitungspolitik zog alsbald die anderen Banken an, da sie im Wettbewerb bleiben und ihre Gewinne und Marktanteile behaupten wollten. So wurde ein Zustand der Krediteuphorie geschaffen, der den großen künstlichen Aufschwung ermöglichte und sehr bald begann, sich umzukehren. So haben wir ein Edikt von 1574 zu lesen, in dem Anschuldigungen gegen die Bankiers erhoben wurden, welche die Rückgaben der Einlagen verweigerten und darauf bestanden, nur „mit Tinte“ zurückzuzahlen. Sie hatten zunehmend Schwierigkeiten, die Einlagen in tatsächlichem Bargeld zurückzuzahlen. So machte sich eine große Geldknappheit in den venezianischen Städten breit. Die Kunden konnten ihr Geld nicht abziehen und ihre Schulden nicht zurückzahlen. Es folgte eine schwere Kreditkontraktion (mit anderen Worten Deflation) und alsbald eine schwere Wirtschaftskrise, die Cipolla in seinem brillanten Buch detailliert beschreibt. Aus theoretischer Sicht ist Cipollas Analyse somit sehr viel solider als die von Ramón Carande, obwohl auch sie nicht als perfekt angesehen werden kann. Sie betont die Krise und die Phase der Kreditkontraktion stärker als die vorangehende Phase der künstlichen Kreditausweitung, die der wahre Grund für die Übel war und die wiederum der Pflichtverletzung der Banken entsprang, eine 100-prozentige Reserve oder die originalen Einlagen vorzuhalten.6 5 Siehe Cipolla (1994), S. 11–142, insbesondere ab S. 96. Cipolla (1994) ist die spanische Auflage zum italienischen Original Cipolla (1990). 6 Cipolla berichtet, wie die Ricci Bank ab 1570 nicht mehr in der Lage war, die Bargeldnachfrage zu bedienen und de facto Zahlungen stunden ließ, da sie schlicht „mit Tinte“ oder „mit Bankpolicen“ bezahlte. Die florentiner Behörden schauten nur auf die Symptome und versuchten, wie immer in guter Absicht, die besorgniserregende Situation durch Erlasse zu lösen, die die Bankiers dazu verpflichteten, den Gläubigern Bargeld ohne Verzögerung auszuzahlen. Sie kümmerten sich aber nicht um die eigentliche Ursache des Phänomens (die unrechtmäßige Aneignung der Depositen als Kredite und das Unvermögen, eine 100-prozentige Reserve zu halten). Das bedeutete, dass die Erlasse unweigerlich zum Scheitern verurteilt waren und die Krise sich zuspitze, bis sie schließlich Mitte der 1570er Jahre mit voller Wucht zuschlug. Siehe Cipolla (1994), S. 102 f.

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15. Vorgeschichte der Bankentheorie und der Schule von Salamanca

Die Schule von Salamanca und das Bankgeschäft: der ursprüngliche Beitrag von Saravia de la Calle Die finanziellen Phänomene, die wir hier diskutieren, hinterließen bei den überaus scharfsinnigen Vertretern der Schule von Salamanca, die – wie wir dank höchst zuverlässiger Forschungsergebnisse wissen – die Vorreiter des subjektivistischen Verständnisses sind, das von der Österreichischen Schule der Nationalökonomie entwickelt wurde, einen bleibenden Eindruck.7 Chronologisch wäre zunächst eine Arbeit zu nennen, die für das Thema auch die relevanteste sein dürfte. Instrucción de Mercaderes (Anleitung für Händler) von Dr. Saravia de la Calle wurde 1544 in Medina del Campo veröffentlicht.8 ­Saravia de la Calle ist außergewöhnlich harsch zu den Bankiers, die er als „hungrige Vielfraße“ beschreibt, die „alles verschlingen, alles zerstören, jeden verwirren und alles stehlen und verschmutzen wie die Hyänen von Pineo“.9 Er schildert uns, wie die Bankiers mit ihrem Tisch, ihrem Stuhl, ihrer Kasse und ihrem Buch wie die Huren aus dem Bordell mit ihrem Hocker auf den Markt kommen und, nach Erhalt der entsprechenden Lizenz und Garantie nach den Gesetzen des Königs, sich dem Erhalt von Einlagen widmen, indem sie den Kunden Buchhaltung offerieren und Zahlungsdienstleistungen anbieten und dabei in deren Namen bezahlen und sogar Zinsen auf die Einlagen anbieten. Mit einer gesunden Rechtsauffassung erklärt Saravia de la Calle, das Erhalten von Zinsen sei mit der Natur der Sichteinlagen unvereinbar. Stattdessen sollte auf jeden Fall eine Gebühr an den Bankier gezahlt werden, damit dieser das Geld in seinem Machtbereich schützen kann. Saravia de la Calle geht auch hart mit den Bankkunden ins Gericht, die sich auf derlei Zinsgeschäfte einlassen. Er führt dazu aus: „Und wenn Du Händler sagst, dass Du das Geld nicht weiter verleihst, sondern einlegst, dann ist das ein noch größerer Betrug. Wer hat jemals die Einlage gesehen? Der Bankier wird normalerweise für die Aufbewahrung der Einlage bezahlt. Stattdessen nimmst Du nun das Geld und verleihst es auf die gleiche Art und Weise wie der Geldleiher und profitierst davon auf die gleiche Art und Weise. Du lädst damit die größte Schuld auf Dich.“10

7 Neuere Studien zum Einfluss der spanischen Scholastiker auf die Wirtschaftstheorie finden wir bei Beltrán (1989), Grice-Hutchinson (1993), Huerta de Soto (1994) und vor allem jüngst Rothbard (1995a). Der geistige Einfluss der spanischen Theoretiker der Schule von Salamanca auf die Österreichische Schule ist – wie bereits erwähnt – kein reiner Zufall der Geschichte. Er entstand aus der engen historischen, politischen und kulturellen Beziehung, die seit der Herrschaft von Karl V. und seinem Bruder Ferdinand I. zwischen Spanien und Österreich bestand und für mehrere Jahrhunderte anhielt. Außerdem spielte Italien in dieser Beziehung eine wichtige Rolle, da es als eine authentische, kulturelle, ökonomische und finanzielle Brücke zwischen den beiden am weitesten entfernten Punkten des Reiches (Spanien und Wien) fungierte. Siehe hierzu Bérenger (1990). S. 101–127. 8 Saravia de la Calle (1949). 9 Saravia de la Calle (1949), S. 180. 10 Saravia de la Calle (1949), S. 181.

Die Schule von Salamanca und das Bankgeschäft 

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In Kapitel 12 seines Buches unterscheidet Saravia de la Calle ebenfalls korrekt die zwei vollkommen unterschiedlichen Transaktionen, welche die Bank ausführt. Zum einen sind die Sichteinlagen gemeint, die der Kunde dem Bankier ohne Zinsen gibt, „um sie sicherer aufzubewahren und in dem Moment zurückzubekommen, da er sie braucht. Der Kunde befreit sich damit von der Last und der Arbeit der Aufbewahrung. Das ist die segensreiche Funktion des Geldaufbewahrers.“11 Auf der anderen Seite sind die echten Kredite ganz anders als diese Verträge. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie im Gegenzug für Zinsen für einen gewissen Zeitraum gewährt werden. Saravia de la Calle, dem traditionellen kanonischen Recht verpflichtet, verabscheut diese Praxis. Außerdem stellt er klar, dass die Kunden im Falle von Sichteinlagen den Bankier bezahlen sollten. Wenn sie Geld einzahlten, damit es bewacht werde, dann könnten sie dafür kein Geld verlangen, sondern nur, dass ihr Geld sicher aufbewahrt wird.12 Saravia de la Calle kritisiert also jene Kunden, die egoistisch versuchten, einen Vorteil aus der illegitimen Aktivität der Bankiers zu schlagen, indem sie ihm ihr Geld als Sichteinlage anvertrauten und erwarteten, dafür Zinsen zu erhalten. Recht bildhaft meint er: „Er ist nicht frei von Sünde, zumindest lässlicher Sünde, weil er sein Geld jemandem anvertraut hat, von dem er weiß, dass dieser das nicht als Einlage behalten, sondern ausgeben wird. Er ist wie derjenige, der dem Wüstling die Jungfrau anvertraut oder die Delikatesse dem Vielfraß.“13

Der Einleger kann sein Gewissen nicht mit der Einbildung erleichtern, der Bankier verleihe nur das Geld der anderen, nicht aber seines, so „als ob er glaubte, dass dieser sein Geld als Einlage behalten würde. Diese Wahrscheinlichkeit besteht bei keinem der Geldleiher. Ganz im Gegenteil, sie werden es sofort verleihen und damit handeln, um Einkünfte zu erzielen. Denn wie sonst könnten sie denjenigen 7 % oder 10 % zahlen, die ihnen ihr Geld anvertrauen, wenn sie es unbenutzt ließen. Und selbst wenn es sicher wäre, dass du nicht sündigtest (was es aber nicht ist, ganz im Gegenteil), ist es ganz sicher, dass der Geldleiher sündigt, indem er das Vermögen deines Nachbarn mit deinem Geld stiehlt.14

Die Doktrin von Saravia de la Calle ist somit klar: Wenn der Bankier die Sichteinlage für eigene Zwecke nutzt (Vergabe von Krediten), dann ist das illegitim und impliziert eine schwere Sünde. Diese Doktrin steht mit dem klassischen Römischen Recht völlig in Einklang und erwächst ganz natürlich aus dem Wesen, dem Zweck und der rechtlichen Natur des Vertrags über eine Sichteinlage.15 Saravia de la Calle wird auch sehr bildhaft, wenn er über die enormen Profite der Bankiers spricht, die sie ihrem illegitimen Verhalten verdanken, und zwar indem sie die Sichteinlagen ihrer Einleger weiterverleihen, anstatt mit den erheblich kleineren Verdiensten zu 11

Saravia de la Calle (1949), S. 195. Saravia de la Calle (1949), S. 196. 13 Saravia de la Calle (1949), S. 197. 14 Saravia de la Calle (1949), S. 197. 15 Siehe Kapitel 10 im voliegenden Buch. 12

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15. Vorgeschichte der Bankentheorie und der Schule von Salamanca

frieden zu sein, die sie erhielten, wenn sie auf das Geld so gut aufpassen würden wie der Vater auf die Familie. Lesen wir, wie lebendig er das ausdrückt: „Und wenn Du deinen Lohn erhältst, dann sollte er moderat sein. Du sollst dich damit ver­sorgen können. Er sollte nicht in ausschweifenden Räubereien ausarten, damit Du tolle Paläste bauen und Reichtümer anhäufen kannst, Dir überschwängliche Auslagen für Familie und Sklaven leisten kannst, große Bankette abhältst und Dich in teure Mode hüllst, vor allem wenn Du als armer Mann angefangen hast, Geld zu verleihen und die wenig ertragreichen Geschäfte sein zu lassen.“16

Saravia de la Calle deutet an, dass die Bankiers eine starke Tendenz dazu hätten, bankrott zu gehen. Er erarbeitet sogar eine kleine theoretische Analyse, mit der er zeigt, dass nach einer Expansionsphase infolge vermehrter Kredite, welche die logreros (Geldverleiher) gewährten, unvermeidlich eine Phase der Rezession eintrete, in der die schlechten Schulden reihenweise Bankrotterklärungen unter den Banken verursachten. Er fügt hinzu: „[W]enn der Händler den Geldleiher nicht bezahlt, dann geht er bankrott. Er stellt die Zahlungen ein und alles ist verloren. Der Anfang von alledem ist der Geldleiher. Er ist der Auslöser und die Ursache. Wenn er nicht existierte, würde jede Person nur mit dem Geld handeln, das ihr zur Verfügung steht und nicht mit mehr. Die Dinge würden dann nur ihren fairen Preis kosten und mehr als dieser Barpreis würde nicht verlangt werden. Die spanischen Prinzen sind die einzigen in der Welt, die sich so mit den Bankiers zusammentun. Es wäre ein großer Vorteil, wenn sie es unterließen und die Bankiers stattdessen von ihrem Hof und aus ihrem Königreich verbannten.“17

Wie wir wissen, hatten auch die Herrscher anderer Länder nicht mehr Erfolg dabei, die Aktivitäten der Bankiers und Geldverleiher zu kontrollieren. Überall passierte mehr oder weniger das Gleiche. Die Könige räumten den Bankiers das Vorrecht ein, das Geld ihrer Einleger im eigenen Interesse zu verwenden. Im Gegenzug konnten sie selbst den Vorteil dieses Bankgeschäfts entweder ganz oder teilweise in ihrem Sinne nutzen, weil sie so schneller an Geldmittel kamen als über Steuern. Saravia de la Calle zieht aus seiner Analyse den Schluss: „Ein Christ sollte unter keinen Umständen sein Geld diesen Geldverleihern geben. Wenn er es doch tut und damit sündigt, dann sollte er damit aufhören, weil es seine eigene Sünde ist. Und wenn er nicht sündigt, dann sollte er aufhören, um den Geldverleiher vor der Sünde zu bewahren.“

Saravia de la Calle fügt noch etwas hinzu: Wenn der Bankier nicht gebraucht wird, dann hat das den Vorteil, dass „die Einleger nicht um ihr Geld fürchten müssen. Wenn er pleitegeht, wie wir es oft erleben und es Gott gefällt, dann werden er und die Eigentümer so verloren sein wie eine unrechtmäßig erworbene Sache.“18 Wie wir sehen können, ist Saravia de la Calle mit seiner Analyse nicht nur originell 16

Saravia de la Calle (1949), S. 186. Saravia de la Calle (1949), S. 190. 18 Saravia de la Calle (1949), S. 198. 17

Martín de Azpilcueta Navarro  

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und voller Humor, sondern auch frei von Widersprüchen, sieht man einmal davon ab, dass er die Bankiers zu sehr wegen der Berechnung von Zinsen und der Verletzung des kanonischen Zinsverbots kritisiert, und zu wenig wegen der illegalen Aneignung der Sichteinlagen, die sie von ihren Kunden erhalten haben.

Martín de Azpilcueta Navarro Ein anderer Autor, der den Vertrag von Geldsichteinlagen ebenfalls korrekt analysierte, war Martín de Azpilcueta, besser bekannt als „Dr. Navarro“. Sein Buch Comentario Resolutorio de Cambios (Resolutorischer Kommentar zu Wechseln) erschien zuerst Ende 1556 in Salamanca. Martín de Azpilcueta spricht ausdrücklich vom „Bankgeschäft zur Sicherungsverwahrung“ und meint damit die von den Banken betriebene Geldsichteinlage. Für ihn ist der Sichteinlagevertrag vollkommen fair und der Bankier ist dabei „der Aufseher, Verwalter und Garant des Geldes jener, die ihm je nach dem ihr Geld aushändigen oder senden. Er ist verpflichtet, den Händlern oder der vom Einleger gewünschten Person die Sache auszuhändigen. Dafür kann er seinen fairen Lohn erwarten, entweder von der Republik oder vom Einleger. Derlei Handel und Pflicht nutzen dem Gemeinwesen und beinhalten keinerlei Frevel, da es fair ist, wenn jemand für seine Arbeit Lohn erhält. Der Bankier ist darum bemüht, das Geld vieler Händler entgegenzunehmen, bereitzuhalten und zu verbuchen, auch wenn dies schwierig ist und gelegentlich die Gefahr von Rechenfehlern und ähnlichem birgt. Das Gleiche könnte über einen Vertrag geregelt werden, in dem sich eine Person gegenüber einer anderen verpflichtet, deren Geld entgegenzunehmen und zu verwahren, Zahlungen zu regeln und Buch zu führen, wie es ihm aufgetragen wird. Da es bei einem solchen Vertrag darum geht, dass jemand einen anderen mit einer Dienstleistung beauftragt und ihn anstellt, handelt es sich um einen gerechten und heiligen Vertrag.“19

Wie wir sehen können, ist für Martín de Azpilcueta der Vertrag über Sichteinlagen ein vollkommen legitimer Vertrag, der darin besteht, eine Sache, etwa einen Gegenstand oder Geld, einem darauf spezialisierten Menschen, dem Bankier, zur Sicherungsverwahrung anzuvertrauen. Der Bankier sollte – wie ein guter Vater für seine Familie – für das Anvertraute Sorge tragen, es immer zur Verfügung des Einlegers halten und die vom Einleger geforderten Kassendienstleistungen ausführen. Im Gegenzug hat er das Recht auf eine angemessene Entlohnung seiner Dienstleistung. Für Martín de Azpilcueta sollte der Einleger den Bankier bezahlen, nie umgekehrt. D. h., der Einleger bezahlt letzteren dafür, dass dieser für ihn arbeitet und auf sein Geld aufpasst. Der Bankier sollte „seinen Handel sauber ausführen und mit dem gerechten Lohn zufrieden sein, den er dafür erhält, dass er auf das 19 Azpilcueta Navarro (1965), S. 57 f. Als ich mich mit der Arbeit von Dr. Navarro aus­ einandergesetzt habe, konnte ich mit der ersten spanischen Auflage von 1556 sowie der ersten portugiesischen Auflage arbeiten, die 1560 von Ioam de Barreyra in Coimbra unter dem Titel Comentario Resolutorio de Onzenas veröffentlicht wurde. Die Zitate aus dem Haupttext stehen in dieser portugiesischen Auflage auf S. 77–80.

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15. Vorgeschichte der Bankentheorie und der Schule von Salamanca

Geld aufpasst und die Buchhaltung führt und das Geld nicht denjenigen gibt, denen er es gar nicht schuldet.“20 Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen und seinen Standpunkt klar zu machen, verurteilt auch Martín de Azpilcueta – ähnlich wie Dr. Saravia de la Calle – die Kunden, die für diese Dienste keine Gebühr zahlen möchten oder sogar Zinsen erwarten. In diesem Sinne schlussfolgert Dr. Navarro: „Bei diesem Austausch sündigt nicht nur der Bankier, sondern und ungeachtet der bestehenden Rückgabeverpflichtung auch jene, die ihm das Geld überlassen. Hinterher wollen sie ihn nämlich nicht bezahlen und erzählen ihm, dass das, was er mit dem Geld verdienen könnte, wohl als Lohn ausreiche. Wenn dann der Bankier doch Entschädigung verlangt, dann verlassen sie ihn und gehen zu einem anderen. Um das zu vermeiden, verzichtet er auf die Lohnauszahlung und holt sich sein Geld von Leuten, die es ihm nicht schulden.“21

Der Beitrag von Tomás der Mercado Tomás de Mercado untersucht in seinem Werk Suma de Tratos y Contratos (Sammlung von Geschäften und Verträgen), Sevilla 1571, das Bankgeschäft in ähnlicher Weise wie die beiden oben genannten Autoren. Zunächst betont er gemäß der korrekten Doktrin, dass die Einleger den Bankier für den Aufwand der Aufbewahrung ihrer Sichteinlage bezahlen sollten, und zieht daraus den Schluss, für alle Bankiers gelte die „allgemeine Regel, von denen einen Lohn zu erhalten, die ihr Geld in der Bank einlegen, und zwar entweder in Form eines jährlichen Betrages oder eines bestimmten Betrags pro Tausender. Schließlich bedienen sie die Kunden ja und verwahren deren Erbe.“22

Tomás de Mercado merkt jedoch mit einem ironischen Seitenhieb an, die Bankiers von Sevilla seien so „großzügig“, dass sie keinerlei Gebühr für ihre Dienste verlangten. Er drückt dies mit folgenden Worten aus: „In der Tat sind die Bankiers in dieser Stadt so großzügig und nobel, dass sie noch nicht einmal einen Lohn erbitten.“ Anschließend erklärt er, warum die Bankiers von Sevilla keine Gebühr erheben müssen. Mit den großen Geldsummen, die sie erhalten, betreiben sie ihre äußerst lukrativen Privatgeschäfte, so der Autor. Aus unserer Sicht gründet Tomás de Mercado seine Analyse allerdings nur auf Tatsachenbeobachtungen, die für sich genommen noch keine Legitimität beanspruchen können, wie verschiedene moderne Kritiker anzudeuten scheinen. Folgt man indes der reinen Lehre der römischen Klassik und der rechtlichen Natur des Sichteinlagevertrags, dann ist Tomás 20

Azpilcueta Navarro (1965), S. 60 f. Azpilcueta Navarro (1965), S. 61 22 Ich zitiere aus der Auflage des Instituto de Estudios Fiscales, die 1977 in Madrid veröffentlicht und mit einem Vorwort von Nicholás Sánchez Albornoz herausgegeben wurde, Band II, S. 479. Es gibt eine andere Auflage von Restituto Sierra Bravo, veröffentlicht im Editorial Nacional 1975, welche das Zitat aus dem Haupttext auf Seite 401 wiedergibt. Die erste Auflage erschien 1571 in Sevilla, „en casa de Hernando Díez Impresor de Libros, en la calle de la Sierpe“. 21

Der Beitrag von Tomás der Mercado 

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de Mercado wohl derjenige unter den scholastischen Autoren, der am deutlichsten zeigt, dass die Besitzübertragung, die mit der Bankeinlage einhergeht, nicht gleichzeitig eine Verfügungsübertragung bedeutet. Insofern findet auch praktisch gesehen keine vollständige Eigentumsübertragung statt. Schauen wir uns an, wie deutlich er das ausdrückt: „[Die Bankiers] müssen verstehen, dass das Geld nicht ihres ist, sondern jemand anderem gehört, und dass das nicht alles ist. Wenn sie es für eigene Zwecke einsetzen, hört es auf, dem Eigentümer zu dienen.“ Tomás de Mercado fügt hinzu, dass der Bankier sich zwei Grundprinzipien unterwerfen sollte: „[Erstens:] Banken soll man nicht derart mittelos dastehen lassen, dass sie ihren Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen können. Wenn ihnen die Rückzahlungen nicht mehr möglich sind, weil sie das Geld für Investitionen und spekulative Gewinne ausgegeben haben, dann sündigen sie. … Zweitens: Sie sollten sich nicht in riskante Geschäfte stürzen, selbst wenn diese vorteilhaft ausgehen, da sie Gefahr laufen, sich falsch zu verhalten und schweren Schaden bei denjenigen anrichten, die ihnen vertraut haben.“23

Obwohl diese Hinweise den Anschein erwecken, als ob Tomás de Mercado den Gebrauch einer gewissen Teilreserve gestatten würde, bringt er seine Rechtsauffassung doch sehr deutlich zum Ausdruck, wenn er meint, das Geld aus der Einlage gehöre schließlich nicht dem Bankier, sondern dem Einleger, und wenn er schreibt, kein Bankier befolge die o. g. Ratschläge: „Wenn aber der angenehme Gewinnfall eintritt, fällt es sehr schwer, der Habsucht zu widerstehen. Dann hört man weder auf die Ratschläge, noch hält man sich an das, was sie fordern.“24 Folgerichtig wäre es ihm recht, wenn man eine Regel aufstellte, die dem Bankier verböte, Privatgeschäfte zu erledigen. Auf diese Weise wäre diesem die Versuchung genommen, seine Geschäfte unaufhörlich mit Geld zu finanzieren, das er den Sichteinlagen entnehmen könnte. An späterer Stelle seiner Suma de Tratos y Contratos (Ende von Kapitel 4), schildert Tomás de Mercado zudem, wie die Bankiers von Sevilla vorgehen, wenn sie treuhänderisch die mit der indischen Flotte eintreffenden Gelder und Edelmetalle der Händler entgegennehmen, und wie sie mit diesen beträchtlichen Einlagen große Investitionen tätigen und lukrative Geschäfte abschließen. Er verurteilt dies nicht ausdrücklich. Die fragliche Passage ist eher eine Beschreibung der Zustände als eine Analyse der Legitimität. Doch diese Analyse wird dann in Kapitel 14, das wir bereits diskutiert haben, in tiefgründiger Weise nachgereicht. Tomás de Mercado schlussfolgert, dass die Bankiers „sich in Handelsgeschäfte und Sammlergeschäfte einmischen und ein Bankier dieser Republik überall in der Welt zuhause ist und dabei mehr umspannt als das ganze Meer, wobei er allerdings manchmal so viele Dinge unbeendet lässt, dass alles zusammenbricht.“25 23

Mercado (1977), Band II, S. 480, S. 401 in der Auflage von Restituto Sierra Bravo. Mercado (1977), Band II, S. 480. 25 Das ist das Zitat von Mercado, das Ramón Carande (1987), Band I, in der Einführung zu seiner Analyse über die Bankiers von Sevilla und die Krise, die sie in den Bankrott trieb, verwendet. Siehe Mercado (1977), Band II, S. 381 f. (S. 321 in der Auflage von Restituto Sierra Bravo). 24

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15. Vorgeschichte der Bankentheorie und der Schule von Salamanca

Die Fälle Domingo de Soto, Luis de Molina und Juan de Lugo Die Scholastiker, die hinsichtlich der Lehre vom Vertrag der Geldsichteinlagen die größte Verwirrung stifteten, sind Domingo de Soto, Luis de Molina und Juan de Lugo. Sie alle ließen sich von der irrigen Tradition der mittelalterlichen Glossatoren beeinflussen, insbesondere von der konfusen Doktrin, die aus dem Konzept des depositum confessatum hervorging. Bei diesem handelte es sich schlicht um einen Kredit, der als Einlage getarnt war, um das kanonische Zinsrecht zu umgehen. Diese Praxis wurde akzeptiert, wenn es nur zu einer (fiktiven) Verzögerung der Einlage kam. Tatsächlich hielten de Soto und insbesondere Molina die Sichteinlage fälschlicherweise für einen „Kredit“, der nicht nur das Eigentum, sondern auch die volle Verfügbarkeit übertrüge. Insofern konnte man es für legitim halten, wenn der Bankier die Einlagen als Kredit nutzte, vorausgesetzt, er tat dies „umsichtig“. Man könnte sagen, Domingo de Soto habe als erster diese These aufgestellt, wenn auch sehr indirekt. So können wir in Buch VI, Frage XI seines Werkes La Justicia y el Derecho (Gerechtigkeit und Gesetz, 1556) lesen, dass es unter den Bankiers üblich war, „dass der Bankier für eine höhere Summe bürgt, wenn der Händler seine Einlage in bar tätigt. Wenn ich dem Geldwechsler zehntausend gebe, dann wird er mir für zwölf- vielleicht fünfzehntausend bürgen, weil es für den Bankier ein guter Verdienst ist, Bargeld zu bekommen. Daran wird kein Anstoß genommen.“26

Ein anderer Fall typischer Kreditschöpfung, den Domingo de Soto für akzeptabel hielt, war der eines Kredits in Form eines Rechnungsabschlags, der mit der Sichteinlage des Kunden gegenfinanziert wurde. Das Mitglied der Schule von Salamanca, das hinsichtlich der Bankverträge über Geldsichteinlagen die wohl irreführendste Theorie vertrat, war Luis de Molina.27 In seinem Werk Tratado sobre los Cambios (Abhandlung über Wechsel) vertritt er tatsächlich die mittelalterliche Doktrin, dass eine Sichteinlage die Form eines Kreditvertrages zugunsten eines Bankiers sei, der diesem nicht nur das Eigentum, sondern die volle Verfügbarkeit über die Sache übertrage. Der Bankier könne d­ aher in legitimer Weise das Geld für seine eigenen Interessen einsetzen, etwa in Form von Krediten oder auf eine andere Art und Weise. Schauen wir uns an, wie er seine Argumentation formuliert: „Die Bankiers sind, wie alle anderen, die wahren Eigentümer des Geldes, das in ihren Banken deponiert ist. Sie unterscheiden sich von allen anderen Treuhändern …  darin, 26

Folgt man Sierra Bravo (1975), S. 215, dann impliziert dieser Satz, dass Domingo de Soto Bankgeschäfte im Teilreservesystem hinnahm. 27 Es ist recht bezeichnend, dass einige Autoren, darunter Marjorie Grice-Hutchinson, Zweifel daran haben, ob man Luis de Molina zur Schule von Salamanca rechnen sollte: „Die Inklusion von Molina in die Schule von Salamanca erscheint mir eher zweifelhaft.“ Grice-­ Hutchinson (1993), S. 25.

Die Fälle Domingo de Soto, Luis de Molina und Juan de Lugo  

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dass sie das Geld als Kredit erhalten, der an keine Rechte gebunden ist und für den sie das Risiko tragen.“

Etwas später wiederholt er nochmals, dass eine Einlage eigentlich ein Kredit sei und das Eigentum am deponierten Geld auf den Bankier übergehe und deshalb in dem Moment, in dem es verlustig gehe, dem Bankier verloren gehe.28 Diese Lehrmeinung ist nicht nur wenig schlüssig, sondern auch ein klarer Widerspruch zu dem, was der Autor selbst in seinem anderen Werk Tratado sobre los Préstamos y la Usura (Abhandlung über Kredite und Zinsen) schreibt. Hier warnt er, dass die Zeit ein wesentliches Element jedes Kreditvertrages sei und dass dann, wenn die Kreditlaufzeit nicht explizit genannt werde (so wie bei einer Sichteinlage) und kein Rückzahlungsdatum vereinbart sei, es notwendig werde, sich an einen Richter zu wenden, der den Rückzahlungszeitpunkt festsetze.29 Luis de Molina ignoriert die Tatsache, dass die Natur und der Rechtsgehalt einer Sichteinlage nichts mit dem Kreditvertrag zu tun haben und deshalb seine Doktrin, die das eine mit dem anderen gleichsetzen will, einen Rückschritt darstellt – nicht nur im Vergleich zur sehr viel kohärenteren Position, die Saravia de la Calle und Azpilcueta Navarro einnehmen, sondern auch hinsichtlich der eigentlichen Rechtsnatur des Vertrags, welche die alte römische Rechtstradition entwickelt hat. Es ist daher überraschend, dass ein so klarer und profunder Denker wie Luis de Molina nicht die extreme Gefahr erkannte, die sich ergibt, wenn man bei Bankeinlagen die Verletzung eines allgemeinen Rechtsprinzips hinnimmt und einfach sagt, „es kommt nie vor, dass alle Einleger ihr Geld auf einmal brauchen. Sie lassen immer noch viele Tausende von Dukaten in der Bank, mit denen die Bankiers Geschäfte machen und Gewinne bzw. Verluste erwirtschaften können.“30 Molina verkannte offenbar, dass nicht nur das Ziel bzw. der eigentliche Zweck des Vertrags, nämlich die Sicherungsverwahrung, verletzt wird, sondern auch zu allen Arten von undurchsichtigen Geschäften und Missbräuchen ermutigt wird, die unweigerlich in eine Wirtschaftsrezession und den Bankrott des Bankhauses münden. Wenn das traditionelle Rechtsprinzip der ständigen Verwahrung von 100 % des tantundem zugunsten des Einlegers nicht erfüllt wird, gibt es keine Orientierung, um die Pleite eines Bankiers zu vermeiden. Und es ist offensichtlich, dass solche oberflächlichen und vagen Vorschläge, wie vorsichtiges Handeln oder Vermeidung gefährlicher Geschäfte, unzureichend sind, um die verheerenden ökonomischen und sozialen Folgen eines Teildeckungsbankwesens zu umgehen. Immerhin macht sich Luis de Molina die Mühe, herauszustellen, dass „eine Warnung den Bankiers mitgegeben werden sollte. Sie begehen eine Todsünde, wenn sie das deponierte Geld derart in ihre laufenden Geschäfte stecken, dass sie nicht mehr in der Lage sind, im passenden Moment die Summe auf Anforderung der Einleger auszuzahlen. … Sie begehen auch eine Todsünde, wenn sie ihre Geschäfte so tätigen, dass sie Gefahr laufen, in eine Situation zu geraten, die Depositen nicht mehr zurückzahlen zu 28

Molina (1990b), S. 137–140. Molina (1989), S. 13. 30 Molina (1990b), S. 137. 29

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15. Vorgeschichte der Bankentheorie und der Schule von Salamanca

können. Wenn sie z. B. so viele Waren nach Übersee verschicken, dass es ihnen im Fall eines Schiffsuntergangs oder einer Kaperung durch Piraten unmöglich wird, die eingegangenen Verpflichtungen zu zahlen; selbst dann nicht, wenn sie ihr ganzes Erbe verkauften. Sie begehen nicht nur eine Todsünde, wenn das Geschäft schlecht ausgeht, sondern auch, wenn es zu ihren Gunsten ausgeht. Der Grund ist die Gefahr, in die sie sich bringen und die sie für die Einlage bedeuten, nämlich Schaden für die Einleger und die Garantiegeber zu verursachen.“31

Aus unserer Sicht ist die Warnung von Luis de Molina verdienstvoll. Ungewöhnlich ist indes, dass ihm scheinbar der direkte Widerspruch nicht auffiel, in der sie zu dem steht, was er ausdrücklich duldete, nämlich das Teildeckungsbankwesen, sofern der Bankier es klug anwende. Es ist unwichtig, wie vorsichtig Bankiers vorgehen. Der einzige Weg, Risiken zu vermeiden und zu garantieren, dass die Einleger stets über ihr Geld verfügen können, führt über die 100-prozentige Bargeldhaltung aller erhaltenen Sichteinlagen. Neben Molina gab es noch einen Autor, der eine ähnliche Position zum Bankgeschäft unterhielt, nämlich Juan de Lugo.32 Auch er war Jesuit. Unseres Erachtens spricht dies dafür, dass es zwei Richtungen innerhalb der Schule von Salamanca gab. Die eine war gut fundiert und lehrmäßig korrekt (ähnlich wie die spätere „Currency School“). Zu ihr gehörten Saravia de la Calle, Azpilcueta Navarro und Tomás de Mercado. Die andere war eher launenhaft, so wie die inflationäre Theorie des Teilreservesystems (ähnlich der späteren „Banking School“). Ihre Repräsentanten waren Luis de Molina, Juan de Lugo und, nur zu einem gewissen Grad, Domingo de Soto. Wir werden diese beiden Richtungen im nächsten Abschnitt näher betrachten.

Die Banking- und Currency-Richtungen der Schule von Salamanca Was die Theoretiker der Schule von Salamanca zur Geldtheorie beigetragen haben, ist von Bedeutung und Gegenstand eingehender Studien.33 Die erste scholastische Abhandlung, die sich mit Geldfragen befasste, hat Diego de Covarrubias y Leyva verfasst und 1550 unter dem Titel Veterum Collatio Numismatum (Sammlung alter Gelder) veröffentlicht. In seiner Schrift schildert der berühmte Bischof von Segovia die Geschichte der Entwertung des kastilianischen Maravedis. Zu diesem Zweck sammelte er große Mengen statistischer Daten zur 31

Azpilcueta Navarro (1965), S. 74 f. (Kursivsetzung von mir) Lugo (1642), S. 406 f. Ich danke Jesuitenpater Professor Enrique M. Ureña und Dominikanerpater Rodrigo T. Hilgado, die mir verschiedene Ausgaben von Lugos ursprünglichem Werk zur Verfügung stellten. 33 Siehe insbesondere die Doktorarbeit, die Marjorie Grice-Hutchinson (1952) unter der Leitung von Friedrich August von Hayek schrieb, sowie Rothbard (1976), S. 52–74, Chafuen (1986), S. 74–86, Rothbard (1995a), Band I, S. 101–127. 32

Die Banking- und Currency-Richtungen der Schule von Salamanca  

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Preisentwicklung. Obwohl Covarrubias’ Abhandlung die Kernideen einer Quantitätstheorie des Geldes bereits implizit enthält, stellt sie keine explizit formulierte Geldtheorie dar.34 Es gingen noch ein paar Jahre ins Land, bevor 1556 Azpilcueta Navarro zum ersten Mal klar und überzeugend darlegte, dass der Preisanstieg – oder, wenn man so möchte, die nachlassende Kaufkraft des Geldes – in Kastilien dem Anstieg der Geldmenge geschuldet war, der dort infolge der aus Amerika in großen Mengen einströmenden Edelmetalle einsetzte. Martín de Azpilcueta bringt die Beziehung zwischen der sich im Umlauf befind­ lichen Geldmenge und den Preisen unmissverständlich auf den Punkt, wenn er schreibt: „In den Ländern, in denen eine große Geldknappheit herrscht, sind alle anderen Dinge, die vielleicht gekauft werden könnten, selbst die Arbeit der Menschen, für weniger Geld zu haben als in denen, wo Geld im Überfluss vorhanden ist. Wie die Erfahrung in Frankreich lehrt, wo es weniger Geld gibt als in Spanien, kosten Brot, Wein, Kleidung und Arbeit sehr viel weniger; und selbst damals, als es in Spanien weniger Geld gab, konnte man die käuflichen Dinge und die Arbeit der Menschen für viel weniger Geld bekommen als nach der Entdeckung Indiens und des Goldes und Silbers, die es bedeckten. Der Grund dafür ist, dass Geld mehr wert ist, wenn es fehlt, als wenn es im Überfluss vorhanden ist.“35

Wie auch immer, im Vergleich zu den tiefgründigen und detaillierten Studien, die zur Geldtheorie der Schule von Salamanca vorgelegt wurden, gibt es bis heute praktisch keinerlei Analyse der Position, welche die Scholastiker hinsichtlich des Bankgeschäfts einnahmen.36 Nichtsdestotrotz haben die Theoretiker der Schule von Salamanca, wie wir in den vorangegangenen Abschnitten gesehen haben, die Bankpraktiken sehr genau untersucht und sich als Vorläufer jener Positionen entpuppt, die über 200 Jahre später in England erneut vertreten wurden, und zwar in der Kontroverse zwischen den Verfechtern der Banking School und jenen der Currency School. Die profunde Kritik am Teildeckungsbankwesen, die wir hauptsächlich Dr. ­ aravia de la Calle verdanken und die sich in den letzten Kapiteln seines BuS ches ­Instrucción de Mercaderes niederschlägt, haben wir bereits dargelegt. Auch ­Martín de Azpilcueta und Tomás de Mercado entwickelten eine schlüssige und höchst anspruchsvolle kritische Analyse des Bankgeschäfts. Obwohl sie in ihrer Kritik nicht die Tiefe von Saravia de la Calle erreichten, behandelten sie doch sehr ­erhellend, welchen Anforderungen der Sichteinlagevertrag im Einklang mit

34

Die Auflage, die ich benutzt habe, ist Omnia Opera, erschienen in Venedig 1604. Band I enthält eine Abhandlung von Diego de Covarrubias, nämlich Veterum Collatio Numismatum, cum his, quae modo expenduntur, publica, et Regia authoritate perpensa, S. 669–710. Diese Arbeit von Covarrubias wird häufig von Davanzati zitiert, auch in Kapitel 2 von Galianis berühmtem Werk Della Moneta von 1750. 35 Azpilcueta Navarro (1965), S. 74 f. 36 Noch nicht einmal im jüngsten und überaus brillianten Werk von Murray N. Rothbard (1995a), zu dem sich der vorliegende Aufsatz als bescheidender Zusatz versteht.

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15. Vorgeschichte der Bankentheorie und der Schule von Salamanca

der Gerechtigkeit genügen sollte. Insofern und auch eingedenk ihrer rigoros kritischen Analyse des Bankgeschäfts sehen wir in der ersten Gruppe dieser Autoren (hauptsächlich Dominikaner) den Beginn einer Currency School, der von Anfang an Teil der Schule von Salamanca war, sich durch eine kohärente und rigorose Position hinsichtlich der Rechtsansprüche von Sichteinlagen auszeichnete und im Allgemeinen eine kritische und misstrauische Haltung gegenüber Bankgeschäften einnahm. Von dieser ersten Gruppe von Theoretikern kann eine zweite Gruppe von „Mitgliedern“ der Salamanca-Schule (hauptsächlich Jesuiten) klar unterschieden werden. Die zweite Gruppe wird von Luis de Molina angeführt. Zu ihr gehören auch Juan de Lugo und, wenn auch in geringerem Ausmaß, Lessius und Domingo de Soto. Alle drei folgten dem Beispiel Molinas und zeichnen sich, wie bereits dar­ gelegt, dadurch aus, dass sie den monetären Sichteinlagen einen falschen Rechtsstatus zuordnen. Sie gestanden die Beibehaltung des Teilreservesystem zu, argumentierend, dass es sich weniger um eine Einlage als um einen Kreditvertrag handele. Dies ist nicht der Ort, um all die Argumente zu wiederholen, die gegen Molinas Sicht der Bankeinlagen sprechen. Hauptsächlich geht es um einen Irrtum, der unter dem Einfluss des depositum confessatum aufkam und von den mittelalterlichen Glossatoren gepflegt wurde. Wir möchten an dieser Stelle betonen, dass das „Verständnis“ für die Bankaktivitäten, das die zweite Autorengruppe der Schule von Salamanca entfaltete, sehr viel weiter reichte – so weit, dass sie die Geschäfte vollständig außerhalb des Rahmens traditioneller Rechtsprinzipien rechtfertigte. Es ist daher nicht unangemessen, die zweite Autorengruppe als jenen Teil der Salamanca-Schule zu sehen, der zum Vorläufer der Banking School wurde und – so wie 200 Jahre später die Repräsentanten der englischen und kontinentalen Banking School auch – nicht nur das Teildeckungsbankwesen und die Verletzung grundsätzlicher Rechtsprinzipien rechtfertigte, sondern zudem glaubte, dass diese Verletzung einen segensreichen Effekt auf die Ökonomie hätte. Obwohl Luis de Molinas theoretischen Argumente zum Sichteinlagevertrag einen deutlichen Rückschritt darstellen und auf der Basis traditioneller Rechtsprinzipien nicht aufrecht erhalten werden können, ist es doch aufschlussreich, die Aufmerksamkeit auf die Tatsache zu lenken, dass er als erstes Mitglied der Banking School Tradition erkannte, dass Schecks und Zahlungsanweisungen auf Sicht, die über bestimmte Beträge ausgestellt sind und gegen Einlagen eingetauscht werden können, die gleichen Funktionen erfüllen wie Bargeld. Die Meinung, es seien die Theoretiker der englischen Banking School gewesen, die im 19. Jahrhundert als erste gezeigt hätten, dass Sichteinlagen bei Banken integraler Bestandteil der Geldmenge sind und deshalb den gleichen Effekt auf die Ökonomie haben wie Banknoten, ist somit unzutreffend. Luis de Molina hatte diese Idee bereits zwei Jahrhunderte früher dargelegt, und zwar in Disp. 409 seines Werkes Tratado sobre los Cambios. Dort heißt es: „Man zahlt den Bankiers Geld auf zwei Wegen: zum einen durch Bargeld, das man ihnen in Form von Münzen überreicht, zum anderen durch Handelswechsel, die man ihnen übergibt

Die Banking- und Currency-Richtungen der Schule von Salamanca  

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und die denjenigen, auf den der Wechsel ausgestellt ist, zum Schuldner der Bank über die Summe macht, über die der Wechsel ausgestellt ist.“37

Luis de Molina meint jene schriftlichen Dokumente, die er auf Latein chiro­ graphis pecuniarum nennt und die damals als Zahlungsmittel für die Mehrzahl der Transaktionen auf dem Markt benutzt wurden. „Obwohl viele Transaktionen mittels Bargeld ausgeführt werden, laufen die meisten über schriftliche Dokumente ab, die beweisen, dass entweder die Bank jemandem etwas schuldet oder dass sie zustimmt, etwas zu zahlen, während das Geld in der Bank bleibt.“ Molina sagt auch, dass diese Schecks auf Sicht gezogen wurden und fügt hinzu, dass „diese Zahlung normalerweise „Sicht“ genannt wird, da man in dem Moment das Bargeld bezahlen muss, in dem man die Rechnung präsentiert bekommt und liest.“38 Aber der wichtigste Aspekt ist, dass Molina sehr viel früher als Pennington 1826 die Kernidee auf den Punkt brachte,39 der zufolge die Gesamtsumme der Geldtrans­ aktionen, die in einem Markt ausgeführt werden, nicht mit der Bargeldmenge, die von Hand zu Hand geht, bezahlt werden könnte, wenn es nicht das Geld gäbe, das die Banken durch ihre Depositeneinträge und die Herausgabe von Einlegerschecks gegen die Bank schafften. So sei Dank der finanziellen Aktivität der Banken Geld aus dem Nichts in Form von Einlagen entstanden, das für Transaktionen genutzt werde. Molina schreibt ausdrücklich: „[d]ie Transaktionen wurden bislang mehrheitlich durch unterschriebene Dokumente ausgeführt, da Geld nicht so im Überfluss vorhanden ist, dass man die enorme Menge der angebotenen Waren bar kaufen könnte. Wenn sie mit Bargeld bezahlt werden müssten, würden diese Geschäfte nicht stattfinden.“40

Schließlich unterscheidet Molina sehr klar zwischen den Geschäften, die eine Kreditgewährung beinhalten, wenn etwa eine Schuld gestundet wird, und den Geschäften, die ausgeführt werden, wenn mit Schecks bezahlt wird und auf Bankkonten gezogen werden. Er schlussfolgert, man könne „beobachten, dass man nicht bedenkt, dass der Kredit gekauft wird, wenn man den Preis dem Bankkonto in Rechnung stellt, selbst wenn das Geld nicht bezahlt wird, da der Bankier den bestehenden Schuldausgleich bar zu bezahlen hat, zumindest am Ende des Markttages.“41

Juan de Lugo folgt Molinas Doktrin ganz und gar und glaubt irrtümlicherweise, so wie Molina auch, dass die Sichteinlage ein „Kredit“ wäre, die der Bankier so-

37

Molina (1990b), S. 145. Molina (1990b), S. 146. 39 Siehe James Penningtons Anmerkungen „On the Private Banking Establishments of the Metropolis“, datiert vom 13. Februar 1826 und enthalten als Anhang in Tooke (1826); Rothbard (1995a), Band II, S. 230–233; sowie Hayeks Aufsatz „The Dispute between the Currency School and the Banking School, 1821–1848“, Kapitel 12 in Hayek (1991) S. 224. 40 Molina (1990b), S. 147. 41 Molina (1990b), S. 149. 38

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15. Vorgeschichte der Bankentheorie und der Schule von Salamanca

lange für seine privaten Geschäfte nutzen könne,42 bis der Einleger sie zurückverlange. Molina und Lugo hielten ihre konfuse Position hinsichtlich der rechtlichen Grundlagen der Sichteinlage aufrecht und meinten sogar, dass der Vertrag simultan (!) verschiedene Rechtsnaturen haben könne, je nachdem von welcher Warte aus man ihn betrachte (mit anderen Worten, für den Einleger ist es eine Einlage, für den entgegennehmenden Bankier ist es ein Kredit). Die Inkongruenz ihrer Position entging ihnen offensichtlich, und die einzige Begrenzung, die sie der ­A ktivität der Bankiers setzten, war die, dass diese „besonnen“ handeln sollten, damit sie aufgrund des Gesetzes der großen Zahlen immer genug Liquidität vorhalten würden, um die normalerweise nachgefragten Einlagen bedienen zu können. Sie verkannten, dass das Kriterium der Besonnenheit kein objektives Kriterium ist, das die Handlungen der Bankiers anleiten kann. Es passt offensichtlich nicht zu der Fähigkeit, die Einlagen in jedem Moment zurückgeben zu können. Sie selbst betonen sehr stark, dass die Bankiers eine „Todsünde“ begingen, wenn sie die Mittel ihrer Einleger unvorsichtig für spekulative Aktivitäten benutzten, selbst dann, wenn sie ein vorteilhaftes Ergebnis erzielten und imstande wären, dem Einleger das Geld pünktlich zurückzuzahlen.43 Außerdem ist das Besonnenheitskriterium in sich selbst nicht hinreichend: Man kann sehr besonnen sein und trotzdem ein unglückliches Händchen bei Geschäften haben, sodass man nicht genügend Liquidität hat, wenn man den Einleger ausbezahlen soll.44 Worin soll also das Besonnenheitskriterium bestehen? Klar ist, dass es darauf keine objektive Antwort gibt, die den Bankiers bei ihren Handlungen als Orientierung dienen könnte. Das gilt umso mehr, als das Gesetz der großen Zahlen auf Teilreservebankpraktiken nicht anwendbar ist, da die Kreditexpansion die Schaffung von Konjunkturzyklen verursacht und so den Bankier in eine schwierige Lage bringt. Die Österreichische Konjunkturzyklentheorie hat gezeigt, dass das Teildeckungsbankwesen selbst

42 „Quare magus videntur pecuniam precario mutuo accipere, reddituri quotiscumque exigetur a deponente. Communiter tamen, pecunia illa interim negotiantur, et lucrantur, sine ad cambium dando, sine aliud negotiationis genus exercendo.“ Ich zitiere hier wörtlich aus Lugo (1642), S. 406. 43 Vielleicht ist Juan de Lugo derjenige, der das Prinzip am Besten zusammenfasst: „Qui bene advertit, eiusmodi bancarios depositarios peccare graviter, damno subsequto, cum obligatione restituendi pro damno, quoties ex pecuniis apud sed depositis tantam summan ad suas negotiationes exponunt, ut inhabiles maneant ad solvendum deposentibus, quando suo tempore exigent. Et idem est, si negotiationes tales aggrediantur, ex quibus periculum sit, ne postea ad paupertatem redacti pecunias acceptas reddere non possint, v.g. si euenrus ex navigatione periculosa dependeat, in qua navis hostium, vel naufragii periculo exposita sit, qua iactura sequnta, ne ex propio quidem patrimonio solvere possint, sed in creditorum, vel fideiussorum damnum cedere debet.“ Lugo (1642), S. 406 f. 44 In der Terminologie von Israel M. Kirzner (1979), S. 120–136, bedeutet das, einen unternehmerischen Fehler zu begehen, der nicht durch das Gesetz der großen Zahlen abgefedert werden kann und große unternehmerische Verluste nach sich zieht, ungeachtet der Sorgfalt, die man walten ließ.

Schluss  

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­ iquiditätskrisen erzeugt und daher für die allgemeine Insolvenz von Banken verL antwortlich ist. Auf jeden Fall ist es sehr wahrscheinlich, dass Banken in Krisenmomenten nicht zahlen können. Das heißt, dass Zahlungen ausgesetzt werden. Im besten Fall kriegen zwar alle Gläubiger ihr Geld zurück, aber erst nach einer langen Phase der Liquidation, in der ihre Rolle als Einleger eine andere sein wird, da sie in ihr die unmittelbare Verfügbarkeit über ihr Geld verlieren und Zwangsleiher der Bank werden, was sie dazu verdammt, ihre Einlagen erst dann wieder eintreiben zu können, wenn die ordentliche Liquidation der Bank abgeschlossen ist. Ohne jeden Zweifel führten die oben genannten Überlegungen Tomás de Mercado zu der Erkenntnis, dass die von Molina und Juan de Lugo postulierten Besonnenheitsprinzipien Ziele sind, die in der Praxis kein Bankier erreichen kann. Es scheint, als ob Tomás de Mercado sich bewusst gewesen wäre, dass diese Prinzipien keine praktische Orientierung bieten und die Solvenz der Banken nicht sicherstellen. Wenn derlei Prinzipien nicht effizient sind und die Ziele der Solvenz und Liquidität permanent verfehlt werden, dann ist das Teildeckungsbankwesen offenkundig nicht in der Lage, seinen Verpflichtungen unter allen Umständen nachzukommen.

Schluss: Die zeitgenössischen Positionen der Jesuiten Bernard W. Dempsey und Francisco Belda In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts haben zwei jesuitische Ökonomen die scholastische Bankdoktrin einer erneuten Untersuchung unterzogen. Der eine tat diese aus Sicht der Banking School, der andere vom Standpunkt der Currency School aus. Ersterer ist der spanische Jesuit Francisco Belda, Autor des interessanten Buches mit dem Titel Éthica de la creación de créditos según la doctrina de Molina, Lesio y Lugo (Ethik der Schaffung von Krediten gemäß der Doktrin von Molina, Lessius und Lugo).45 Für Belda ist klar, dass man „aus Molinas Beschreibung ableiten kann, dass es sich im Falle der Bankiers um eine authentische Kreditschaffung handelt. Dank der Intervention der Banken wird neue Kaufkraft geschaffen, die vorher nicht existierte. Ein und dasselbe Geld wird gleichzeitig zweimal benutzt. Sowohl der Bankier als auch der Einleger nutzen es für ihre Geschäfte. Im Ergebnis sind die Zahlungsmittel im Umlauf sehr viel größer als die tatsächliche Bargeldmenge, die sie erzeugte, und die Banken profitieren von diesen Transaktionen.“

Belda sieht, dass für Molina „dieses Geschäft rechtmäßig ist, solange es umsichtig betrieben und nicht riskiert wird, dass man seinen Verpflichtungen nicht mehr rechtzeitig nachkommen kann.“46 Mit Blick auf Juan de Lugo weist Belda darauf hin, dass dieser 45 46

Belda (1963), S. 64–89. Belda (1963), S. 63 und 69.

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15. Vorgeschichte der Bankentheorie und der Schule von Salamanca

„eine sehr genaue Beschreibung der Bankgeschäfte abgibt. Bei ihm erkennt man eine explizite Zustimmung zur Kreditschöpfung, auch wenn der Kredit, formal besehen, kein erschaffener Kredit ist. Die Banken tätigen Geschäfte mit den Einlagen ihrer Kunden, die man wiederum nicht davon abhält, ihr eigenes Geld zu nutzen. Es gibt eine Expansion der Zahlungsmittel, die durch Bankkredite, Abschläge auf Warenwechsel und andere Wirtschaftsaktivitäten, die mit dem Geld anderer getätigt werden, entsteht. Das Ergebnis ist ein Anstieg der Kaufkraft im Markt, die weit über der Summe der Bargeldeinlagen liegt, aus der sie stammt.“47

Offensichtlich stimmt Beldas Ansicht, dass die Doktrin von Molina und Lugo das Bankgeschäft weit vorteilhafter bewertet, als es die Lehrmeinungen anderer Scholastiker tun. Wir müssen Belda aber dafür kritisieren, dass er die Auffassungen der anderen Mitglieder der Salamanca-Schule nicht einmal erwähnt. Das gilt für die von Tomás de Mercado und mehr noch für die von Martín de Azpilcueta und Saravia de la Calle, deren Bewertung der Bankinstitutionen sehr viel rigoroser und kritischer ausfällt. Belda analysiert die Beiträge von Molina und Lugo aus keynesianischer Sicht und damit aus einem Ökonomieverständnis heraus, das die negativen Folgen der Kreditexpansion auf die Produktionsstruktur nicht nur allesamt ignoriert, sondern auch als besonders vorteilhaft ansieht, weil die effektive Nachfrage und das Nationaleinkommen gesteigert würden. Beldas Analyse ist also eine Untersuchung zu den Beiträgen der Schule von Salamanca von der Warte aus, die Keynes und die Banking School eingenommen haben. Sie ist sehr verwirrend, wenn es um die Institution der Sichteinlage und deren legale Rechtfertigung geht, und neigt naturgemäß dazu, das Teildeckungsbankwesen zu legitimieren. Es gibt aber auch eine ökonomische Abhandlung, die von einem anderen bemerkenswerten Jesuiten stammt, nämlich von Pater Bernard W. Dempsey. Sie trägt den Titel Interest and Usury48 und ist eine Untersuchung zu den Auffassungen, welche die Mitglieder der Schule von Salamanca im Hinblick auf das Bankgeschäft haben. Dempsey erweist sich als profunder Kenner der Geld- und Kapitalmarkttheorie, dessen Analyse die von Pater Belda bei weitem überragt.49 Interessanterweise entwickelt Dempsey seine These nicht, indem er die Positio­ nen jener Theoretiker der Schule von Salamanca (Saravia de la Calle, Martín de Azpilcueta Navarro und Tomás de Mercado) zusammenfasst, die den Bankgeschäften am kritischsten gegenüberstehen. Vielmehr konzentriert er sich auf die 47 Belda (1963), S. 87. Der Verweis auf Juan de Lugo bezieht sich auf Lugo (1642), Band 2, disp. XXVIII, Abschnitt 5, Nummer 60–62. 48 Dempsey (1943). Besondere Aufmerksamkeit verdient die Tatsache, dass Pater Beldas Aufsatz eine Kritik an Dempseys Thesen aus keynesianischer Sicht darstellt. Ich möchte an dieser Stelle Professor James Sadowsky von der Fordham University danken. Er hat mir ein Exemplar von Dempseys Buch besorgt, das in Spanien nicht erhältlich war. 49 Schumpeter hebt in seiner Einführung hervor, dass Pater Dempsey großes theoretisches Wissen beweise und mit den ökonomischen Doktrinen von Ludwig von Mises, Friedrich A. Hayek, Wicksell, Keynes und anderen gut vertraut sei. Er lobt und zitiert ihn auch in Schumpeter (1980), S. 95 f. und 104.

Schluss  

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Arbeiten jener Repräsentanten, die der Banking School sehr nahe stehen (Luis de Molina, Juan de Lugo und Lessius). Er vergleicht deren Arbeiten und kommt zu dem Schluss, dass die verglichenen Autoren im Rahmen ihrer eigenen D ­ oktrin alle Bankgeschäfte, die auf der Grundlage des Teildeckungsbankwesens getätigt werden, für illegitim erklären müssten. Dempsey rekurriert dabei auf die traditionellen Prinzipien zu Wucherzinsen, welche die Autoren aus Salamanca mit Blick auf die Bankhäuser und deren wirtschaftlichen Auswirkungen verfochten haben. Zur Blütezeit der Schule von Salamanca waren diese Grundsätze zwar noch unbekannt, aber als Dempsey sein Buch schrieb, waren sie unlängst von Mises und Hayek entdeckt und theoretisch erfasst worden. Obwohl man zugestehen muss, dass Molina und Lugo dem Bankgeschäft recht zugeneigt waren, so stellt Dempsey doch ausdrücklich klar, dass die Kredite, die von den Banken als Folge ihrer Teil­ reserveaktivitäten aus dem Nichts geschaffen werden, eine Schaffung von Kaufkraft bedeuten, die nicht durch vorheriges Sparen oder Verzicht erreicht wird und somit unbeteiligten Parteien in großer Zahl erheblichen Schaden zufügt. Letztere könnten nun sehen, wie die Kaufkraft ihrer Geldeinheiten infolge der inflationären Kreditexpansion der Banken abnehme.50 Laut Dempsey läuft die Schaffung von Kaufkraft aus dem Nichts, die keinen vorangegangenen Kaufkraftverzicht Dritter impliziert, im Kern jenen von Molina und Lugo selbst aufgestellten Rechtsprinzipien zuwider und sollte, so gesehen, verurteilt werden. Dempsey stellt fest, dass „wir daraus schlussfolgern können, dass ein Scholastiker des 17. Jahrhunderts beim Anblick moderner Geldprobleme für eine 100-prozentige Reserve oder eine zeitliche Begrenzung der Geldgültigkeit stimmen würde. Eine feste Geldmenge oder ein Angebot, das nur aufgrund festgesetzter objektiver Kriterien erfolgt, ist eine notwendige Bedingung, um einen aussagekräftigen gerechten Preis für Geld zu ermitteln.“51

50 „Die Kreditexpansion entsteht aus der Entwertung des Umlaufmittels, mit dem die Bank handelt. Preise steigen, Vermögen gewinnt an Wert. Die Bank befreit sich von ihren Schulden, indem sie für ihre Einlage in einer Währung zurückzahlt, die weniger wert ist. … Nicht eine einzige Person würde durch einen scholastischen Autor von der Sünde der Zinswucherei überzeugt werden, aber der Prozess wurde ähnlich der Wucherei betrieben. Wir haben es mit einem systematischen oder institutionellen Wucher zu tun. …  Die modernen Verhältnisse, denen die Theoretiker heutzutage mit ihren Konzepten zu Leibe rücken (Abweichungen zwischen natürlichem Zins und Geldzins, Abweichungen beim Anlagensparen und Divergenzen zwischen Einkommensverfügbarkeit und vertretbaren Mustern unfreiwilliger Verlagerungen) haben genug mit dem Spätmittelalter und dessen Analyse gemein, um auch hier (für die gleichen Prozesse) den Begriff des institutionellen Wuchers zu verwenden.“ Dempsey (1943), S. 225 und 227 f. 51 Dempsey (1943), S. 210. Übrigens hebt Pater Dempsey hervor, dass man die Theorie der Zeitpräferenz durchaus in die Zeit des Heiligen Thomas von Aquin zurückdatieren darf, da sie explizit von Aquins brillantem Schüler Giles Lessines formuliert wurde, der meinte, dass „zukünftige Güter nicht so hoch bewertet werden wie die gleichen Güter zum jetzigen Zeitpunkt. Sie bringen ihrem Eigentümer auch nicht den gleichen Nutzen. Aus diesem Grund muss man bedenken, dass sie zu recht einen geringeren Wert haben.“ Zitiert nach Dempsey (1943), Fußnote 31 auf S. 214; S. 426 in dem 1285 von Aegidius Lessines verfassten Opusculum LXVI, De usuris in communi et de usurarum contractibus.

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15. Vorgeschichte der Bankentheorie und der Schule von Salamanca

Dempsey führt aus, dass die Kreditschöpfung durch die Bankindustrie die Kaufkraft des Geldes schwächt, so dass die Banken dazu tendieren, die Einlagen, die von ihnen in Geldeinheiten zurückverlangt werden, mit immer schneller abnehmender Kaufkraft zurückzugeben.52 Er schließt daraus zu recht, dass die Mitglieder der Schule von Salamanca – selbst Molina, Lessius und Lugo –, hätten sie ein detailliertes Theoriewissen über die Funktionsweise und Auswirkungen des ökonomischen Prozesses, die das Teildeckungsbankwesen verursacht, besessen, denselben als einen perversen, riesigen und illegitimen Prozess institutionellen Wuchers beschrieben hätten.

52 Das gleiche Argument verwendete der große libertäre Jesuit Juan de Mariana in seinem Buch De monetae Mutatione (Über die Änderungen des Geldes). Sein Werk erschien 1609. Mariana verurteilt jede Form der Münzfälschung als Räuberei, während Dempsey mit der selben Logik die noch schädlichere Kreditinflation, die den Banken zu verdanken ist, kritisiert. Zu Mariana vgl. die brillante Analyse von Murray N. Rothbard (1995a), Band I, S. 119.

16. Ludwig von Mises’ Human Action als volkswirtschaftliches Lehrbuch1 Einleitung Der 40.  Jahrestag der Veröffentlichung der überarbeiteten dritten englischen Auflage von Ludwig von Mises’ wichtigstem Werk – sein wirtschaftstheoretischer Traktat Human Action – bietet zweifellos eine ausgezeichnete Gelegenheit für eine Reihe von Reflexionen, die das Werk in den richtigen Kontext setzen, seine wissenschaftliche Bedeutung erklären und seine großen komparativen Vorteile für die universitäre, akademische und intellektuelle Welt offenbaren. Hinzu kommt, dass auch die neue achte spanische Auflage von Mises’ Werk in eine Zeit fällt, die ihr eine besondere Bedeutung zuweist: nicht nur weil der historische Untergang des realen Sozialismus in Osteuropa Mises’ Analyse vollständig bestätigt, sondern auch wegen der schweren Krise des neoklassisch-walrasianischen Paradigmas, das, obwohl es die Wirtschaftswissenschaft bis heute dominiert, in einer dunklen Sackgasse geendet ist.2 Außerdem jährt sich nun zum 20. Mal die Einführung von Human Action als Standardlehrbuch für Seminare zur politischen Ökonomie an den Universitäten Complutense und Rey Juan Carlos in Madrid. Seither haben es mehr als 3.000 Studenten als Lehr- und Arbeitsbuch verwendet und dadurch – wie wir nun wissen – einen großen Schatz an akademischen und intellektuellen Erfahrungen erworben. Im Folgenden werden die Kernthesen, die wir in Mises’ Human Action finden, sowie die komparativen Vorteile, die das Buch im Vergleich zu alternativen Lehrbüchern hat, diskutieren. Außerdem werden wir im Anschluss an eine kurze intellektuelle Biographie des Autors die Entwicklung der aufeinanderfolgenden Ausgaben von Human Action, die es in der ganzen Welt gegeben hat, sowie den von Human Action ausgehenden Stimulus für die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaft erläutern. Unsere Untersuchung schließt mit einer Reihe von praktischen Hinweisen für Studenten und Dozenten, die das Buch als Schlüsselwerk für ihre universitäre Arbeit nutzen möchten.

1 Ursprünglich erschienen im Journal for the New Europe, Band 1, Nummer 1, 2004, S. 5–62. 2 Siehe Huerta de Soto (1994), S. 56–82.

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Die wesentlichen komparativen Vorteile von Human Action Typische Unzulänglichkeiten heutiger ökonomischer Lehrbücher Die meisten Einführungslehrbücher zur politischen Ökonomie, von denen es heute immer mehr auf dem Markt gibt, weisen signifikante Mängel auf. Die meisten von diesen Mängeln werden immer noch nicht richtig eingeordnet. Gleichwohl sind deren Folgen für die Ausbildung zukünftiger Ökonomen sehr negativ. Erstens, fast alle modernen Lehrbücher sind von der Idee besessen, eine Novität darzustellen. Man nimmt an, das beste Lehrbuch könne nur das modernste sein – mit anderen Worten, dasjenige, das die neuesten Moden, die in der akademischen Welt aufgekommen sind, enthält und die Novitäten wiedergibt, die man daran erkennen kann, dass sie in den Fachjournalen erschienen sind, die als die prestigeträchtigsten Fachzeitschriften gelten. Diese Einstellung ist einfach nur eine jämmerliche Manifestation des alten Mythos vom „wissenschaftlichen Meliorismus“, dem zufolge alles Neuzeitige das Vorige beinhaltet und verbessert. Dieses Konzept, das in der Naturwissenschaft und im Ingenieurwesen eine gewisse Berechtigung haben könnte, entbehrt in den Sozialwissenschaften im Allgemeinen oder in der politischen Ökonomie im Besonderen jeglicher Grundlage. Unsere Disziplin beruht eher auf Prinzipien und Charaktermerkmalen, die für die menschliche Natur kennzeichnend sind und nicht im Einklang mit der naturwissenschaftlichen Mode moduliert und / oder technischen Stimuli ausgesetzt werden können und, so gesehen, beständig oder sogar vollkommen unveränderlich sind. Das bedeutet, dass die Konstruktion des Theoriegebäudes, das unsere künftigen Ökonomen nutzen werden, verlangt, dass unsere Disziplin auf soliden Grundlagen stehen muss. Insbesondere muss zu Beginn der Ausbildung vermieden werden, dass die Studenten von Tatsachen abgelenkt werden, die, obwohl sie gerade in Mode sind und aufgrund ihrer Neuartigkeit attraktiv erscheinen, in Wirklichkeit eher zufällig sind und die Kernprinzipien der Wirtschaftswissenschaft ausblenden oder auszublenden drohen.3 3

All jene, die fälschlicherweise glauben, das Prinzip wissenschaftlicher Veredelung sei auf die Ökonomie anwendbar, laufen in die Falle, die Murray N. Rothbard zu recht die „Whig-Theorie der Wissenschaftsgeschichte“ genannt hat. Gemäß dieser Ansicht ist in jeder wissenschaftlichen Disziplin und daher also auch in der Ökonomie das Aktuellste immer das Beste. Dieser Glaube setzt voraus, dass alles, was wissenschaftlich konstruiert wird, zu einem bestimmten Zeitpunkt korrekt oder zumindest besser ist als das, was vorher konstruiert wurde. Diese Sicht führt unvermeidbarer Weise zur Selbstzufriedenheit und zu einem ungerechtfertigten Optimismus, der für die Suche und Bewahrung wissenschaftlicher Wahrheit sehr gefährlich ist. Die „wissenschaftliche Veredelung“ ist ein künstlicher „Sicherheitsgurt“, den verschiedene Paradigmen implizit einbauen, um sich vor äußeren Einflüssen und der Möglichkeit zu schützen, dass die gesamte Schule vielleicht auf einem Fehler gründet. Es kann passieren, dass die Entwicklung der ökonomischen Wissenschaft selbst stagniert oder, wie es häufig der Fall war, in einer bestimmten Zeitperiode Phasen offensichtlichen Rückschritts durchläuft. Rothbard hält der Whig-Theorie entgegen: „Man kann in der Ökonomie keineswegs sagen, dass der spä-

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Zweitens, die Sucht nach dem Neuen erklärt die Tatsache, dass viele Lehrbuchautoren glauben, ihre Arbeit sei getan, wenn sie ein Kompendium der mehr oder weniger heterogenen und gut durchdachten modischen Doktrinen vorlegen, wobei sie keinerlei Anstrengungen unternehmen, über deren Grundlagen tief nachzudenken. Sie bemühen sich auch nicht, ihre künftigen Studenten und / oder Leser über die Folgerichtigkeit der Doktrinen detailliert aufzuklären. Normalerweise versucht man, fehlende Reflexion und Folgerichtigkeit hinter mathematischen Formeln zu verstecken (die den Laien stets glauben lassen, man arbeite auf hohem wissenschaftlichen Niveau) und durch eine große Anzahl visueller und statistischer Elemente wettzumachen. Diese Methode, Lehrbücher zusammenzustellen, ist entgegen ihrem Anschein viel einfacher und voraussetzungsloser als die Vorbereitung eines Werkes zu den wirklichen und kohärenten Wirtschaftsprinzipien, das Studenten wie Dozenten gleichermaßen zum Nachdenken zwingt, und dazu, Schritt für Schritt die verwendeten analytischen Grundlagen kritisch zu hinterfragen. Nur sehr wenige Personen verschreiben sich einem rigorosen Studium der wirtschaftstheoretischen Grundlagen, und diejenigen, die sie erwähnen, gehen schnell über das Thema hinweg, indem sie in der Einleitung schreiben, es sei vorteilhaft, die Studenten nicht mit der Erforschung der „schwierigen“ Fragen zu den Prinzipien, Grundlagen und Methoden unserer Wissenschaft zu „verwirren“. Drittens, die oben genannten Betrachtungen erklären auch, dass die Autoren die Präsentation und den Inhalt ihrer Arbeit in vielen Fällen leichtfertig simplifizieren, um sie für Studenten „attraktiver“ und verständlicher zu gestalten. Dieses Ziel erklärt auch die Besessenheit, die Lehrbücher mit aktuellen Beispielen, Zahlentabellen und detaillierten Statistiken zu füllen. Das ständige Sinken des akademischen Niveaus unter den Studenten, die zur Universität gehen, und der Triumph der sich stetig ausbreitenden Spaßgesellschaft lassen die Lehrbücher zur Einführung in die Wirtschaftswissenschaft immer mehr zu Handbüchern verkommen, die über die gebräuchliche Terminologie im Wirtschaftsjournalismus aufklären, statt echte wissenschaftliche Arbeiten zur Ökonomie zu sein, die den Grundprinzipien unserer Disziplin gewidmet wären und die Studenten, die mit unserer Wissenschaft zum ersten Mal in Kontakt kommen, in Wirtschaftslogik unterweisen würden. Die Tatsache, dass eines der renommiertesten Einführungswerke in die Ökonomie, die es

tere Gedanke besser als der frühere sei und alle bekannten Ökonomen ihren Beitrag für die Entwicklung der Wissenschaft geleistet hätten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass nicht alle zu einem ständig wachsenden Gebäude beitragen und die Ökonomie sich stattdessen kontrovers oder im Zickzackkurs entwickelt, in dem systematische Fehler jüngeren Datums fundiertere Paradigmen älteren Datums ablösen und dabei das ökonomische Denken auf einen völlig falschen Pfad lenken. Der Weg der Ökonomie kann mal nach oben und mal nach unten gehen.“ Rothbard (1995a), Band I, S. x. Beispiele für die Regression der Evolution ökonomischen Denkens wären etwa die Wiederbelebung der objektiven Wertlehre durch die neo-­r icardianische Schule, die keynesianische Ökonomie, das Vernachlässigen der Zeitdimension und der Kapitaltheorie in der modernen Makroökonomie und das zu enge Verständnis von Rationalität, Maximierung und Gleichgewichten, auf dem die neoklassische Schule aufbaut.

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gegenwärtig gibt, kategorisch schreibt, dass der „Preis Knappheit messe“ 4, oder ein anderes andeutet, dass man in einer sozialistischen Ökonomie mit der Regel, die Preise an den Marginalkosten auszurichten, das „Optimum“ erreiche oder gar übertreffe – etwas, das in der kapitalistischen Ökonomie nur schwer zu erreichen sei5 –, sind nur zwei Beispiele dafür, wie sehr fehlende Rigorosität und der obsessive Wunsch, zu simplifizieren, der Ausbildung unserer Studenten schadet und ein intellektuelles Handicap aufgebaut hat, das zu überwinden viele Jahren brauchen wird, wenn es nicht bereits vollkommen irreversibel ist. Es wäre irreführend, zu glauben, dass die oben erwähnten Defekte nur auf wechselnde Moden oder fehlende Kriterien bei den Lehrbuchautoren zurückzuführen wären. Im Gegenteil, der entscheidende Grund zur Sorge ist ein anderer. Diese Defekte sind nämlich weitgehend das natürliche Ergebnis der vorausgegangenen Ausbreitung der engen szientistischen und positivistischen Auffassung innerhalb unserer Wissenschaft. Viertens, das dominierende Bild in den Lehrbüchern unserer Wissenschaft zeigt eine Disziplin, von der man wünscht, dass sie sich auf exakt den gleichen Wegen entwickelt wie die Naturwissenschaften und das Ingenieurwesen. Man glaubt, dass die notwendigen Informationen über die Mittel und Ziele der Menschen erreichbar oder bereits gegeben seien und entweder sicher oder mit Wahrscheinlichkeiten darstellbar seien. Es wird so getan, als ob dieses Wissen konstant wäre und nicht variierte und folglich die ökonomischen Probleme sich zu rein technischen Übungen der Optimierung und Maximierung reduzieren ließen. Hinter dieser Auffassung steckt insgeheim das Ziel, eine Gesamtdisziplin des ­Sozial-Ingenieurwesens zu entwickeln, die darauf abstellt, den Inhalt unserer Wissenschaft auf eine Reihe von praktischen Interventionsvorschriften zu begrenzen, die in Begleitung von Funktionen und Graphen (zu Angebot, Nachfrage, Kosten, Indifferenzen, Produktionsmöglichkeiten etc.) den Studenten dazu verleiten, unkritisch zu meinen, es gäbe eine Interventionstechnik, die dazu in der Lage sei, jeden Schritt des Analytikers bei der Lösung ökonomischer Probleme anzuleiten. Der daraus entstehende Ausbildungsschaden für die Studenten ist enorm. Sie folgen den einführenden Ökonomieveranstaltungen, ohne die Kernprinzipien und Grundlagen zu erfahren, und erhalten dadurch den irrigen Eindruck, es gäbe für jedes Problem eine korrekte Lösung, die man finde, indem man eine korrekte „Diagnose“ stellte und automatisch die entsprechende „Vorschrift“ anwendete. Die Studenten sollen nur noch mechanisch ihre Gleichungen lösen, und ihre Lösungen enthalten dann angeblich die konstante, nicht veränderbare Information zu Angebot, Nachfrage und 4

Stiglitz (1993), Kapitel 4, S. 84. Mises erklärt zu recht, „dass ein handelnder Mensch den Nutzen nicht misst, sondern auf einer Skala bewertet. Marktpreise sind nicht Ausdruck der Gleichheit, sondern der Unterschiedlichkeit in der Bewertung durch die zwei handelnden Parteien.“ Mises (1966), S. 703. (Wenn nicht anders vermerkt, beziehen sich alle Zitate aus Human Action ab jetzt auf diese dritte englische Ausgabe von 1966.) 5 Zur Möglichkeit, die Regel „Preis gleich Grenzkosten“ anzuwenden, um eine sozialistische Ökonomie „optimal“ zu organisieren, siehe das bekannte Lehrbuch Gould / Ferguson (1980), S. 445. Die schwerwiegenden Fehler, die in dieser Theorie enthalten sind, werden detailliert in Huerta de Soto (2013) analysiert.

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„Elastizität“ der entsprechenden Funktionen.6 Das heißt, dass die Zentren der ökonomischen Lehre, wo man derlei Kriterien anwendet, eher mittelmäßige ­Akademien sind, an denen man die Techniken des (Sozial-„Ingenieurs“) trainiert, als das, was sie sein sollten: wahrhaftige Universitäten, die sich der Forschung und der Lehre der Prinzipien und Grundlagen der Wirtschaftswissenschaft verschrieben haben.7 Fünftens, die obigen Ausführungen erklären, warum moderne Lehrbücher in der Regel bestenfalls eine kurze Lebenszeit haben. Die Obsession zu Neuheiten und stetigen Vereinfachungen führt nämlich dazu, dass in den neueren Auflagen (die stets schnell ausverkauft sind, da ganze Kohorten angehender Ökonomen auf „Anraten“ ihrer Lehrer immer die neueste Ausgabe erwerben) jene Theorien und Erklärungen, die in älteren Auflagen offenbar wichtige Teile des Buches waren, ohne Erklärung vom Autor herausgenommen werden. So wurde z. B. (aus unserer Sicht zum Glück) nach 13 Auflagen aus einem der populärsten Lehrbücher die Abhandlung über das Paradox des Sparens stillschweigend und ohne Angabe von Gründen für die 14. Auflage herausgenommen. Wir wissen nicht, ob die Lehre, die man den vorangegangenen Generationen anbot, fehlerhaft war, oder aber die Leser der neuesten Ausgabe einen wichtigen Teil ihrer Ausbildung verpassen.8 6 Es überrascht daher nicht, dass ständig Konzepte – wie das der „Elastizität“ – benutzt werden, die schlicht unglückliche Übertragungen (in diesem Fall von Alfred Marshall) von der Physik auf die Ökonomie darstellen. Wie jüngst einige Autoren gezeigt haben – z. B. Mirowski (1991) –, ist das neoklassische Paradigma einfach die schlechte Kopie der (inzwischen obsoleten) Vorstellung von der Energie in der Physik des 19. Jahrhunderts. 7 Mises beschreibt den Schaden, den das szientistische Verständnis von Ökonomie den Studenten zufügt, wie folgt: „Die Studenten werden betrogen. In den Seminaren der mathematischen Ökonomen werden sie mit Formeln gefüttert, die hypothetische Gleichgewichtszustände beschreiben, in denen es keine Handlung mehr gibt. Sie schlussfolgern daraus, dass diese Gleichungen keinen Nutzen für das Verständnis ökonomischer Aktivitäten liefern. In den Vorlesungen der Spezialisten hören sie eine Menge Details über interventionistische Maßnahmen. Sie müssen daraus schließen, dass die Situationen tatsächlich paradox sind, weil es nie ein Gleichgewicht gibt und die Löhne und Preise landwirtschaftlicher Produkte nicht so hoch sind, wie sie die Gewerkschaften oder die Bauern gerne hätten. Sie halten es dann für offensichtlich, dass eine radikale Reform nötig sei. Aber welche Art von Reform? Die Mehrheit der Studenten wendet ohne jeden Zweifel die interventionistischen Allheilmittel an, die von ihren Professoren empfohlen werden. Die sozialen Umstände werden demnach vollkommen zufriedenstellend sein, wenn die Regierung Mindestlöhne durchsetzt und jeden angemessen mit Nahrung und Wohnraum versorgt. Vielleicht wird auch der Verkauf der Margarine oder der Import von ausländischem Zucker verboten. Sie sehen nicht die Widersprüche in den Worten ihrer Lehrer, die an einem Tag die Nachteile des Wettbewerbs und am anderen Tag die Probleme von Monopolen beschreiben, an einem Tag sich über fallende Preise beschweren und am nächsten Tag sich über steigende Lebenshaltungskosten aufregen. Die Studenten machen ihren Abschluss und versuchen so schnell wie möglich eine Anstellung beim Staat oder bei einer mächtigen Interessengruppe zu erhalten.“ Mises (1966), S. 875. 8 Man vergleiche Samuelson / Nordhaus (1986) mit Samuelson / Nordhaus (1992). In der 14. Auflage des Handbuchs von 1992 ist die schmachvolle Behandlung, die Samuelson diesem Thema üblicherweise angediehen ließ, kommentarlos verschwunden. Samuelson führte früher stets aus, dass „die sowjetische Wirtschaft der Beweis dafür ist, dass entgegen der früheren Meinungen vieler Skeptiker eine sozialistische Kommandowirtschaft funktionieren und sogar prosperieren kann.“ Samuelson / Nordhaus (1989), S. 837.

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Das Wunder der Neuheit und die lasterhafte Oberflächlichkeit stehen somit nicht nur der Beständigkeit der Lehrbücher und der Ausbildung der Studenten entgegen, sondern liefern auch noch, sechstens, ein bruchstückhaftes Bild von einer Wirtschaftswissenschaft, die sich als Flickenteppich aus unterschiedlichen Ansätzen zeigt und dem falsch verstandenen Ziel nachhängt, die Studenten nicht zu irritieren, statt ihnen ein Angebot an alternativen Theorien und kritischen Analysen zu unterbreiten. Alternative Theorien und Entwicklungen, die dank ihrer Strenge Ergebnisse erzielen, die von den herkömmlichen abweichen, bleiben verborgen, weil man sie „totschweigt“. Für die Neuankömmlinge unter den Studenten entsteht somit der Eindruck, als ob es ein größeres Maß an Konsens unter den Autoren gäbe, als es der Fall ist. Man legt ein krudes demokratisches Kriterium an und die scheinbare „Mehrheit“ der Befürworter legitimiert, dass Minderheitspositionen in Vergessenheit geraten. Referenzen zu anderen Denkschulen und Doktrinen sind bestenfalls auf kurze Kommentare beschränkt, die sich auf die Geschichte des ökonomischen Denkens beziehen und sich häufig in Kästchen außerhalb des Haupttextes wiederfinden und den Eindruck vermitteln, als ob die korrekten Teile bereits in der Erklärung enthalten wären und der Rest sich durch spätere Theorieentwicklungen erübrigt hätte. Dabei wird so getan, als wäre es wertlos, Zeit mit Dingen zu verschwenden, die aus der Mode und nicht mehr anwendbar sind. Wie viele ökonomische Lehrbücher erwähnen die Existenz der strengen Analysen, die z. B. zeigen, dass das Gesetz der Gleichheit der (durch Preise) gewichteten Grenznutzen keinen theoretischen Sinn ergibt? Wieviele Lehrbücher streuen wenigstens geringe Zweifel an der willkürlichen Nutzung von Funktionsanalysen in unserer Wissenschaft oder kritisieren das Konzept der Indifferenzkurven?9 Wieviele Lehrbücher hinterfragen die axiomatischen Hypothesen der sogenannten Theorie offenbarter Präferenzen angesichts der Tatsache, dass diese auf der Annahme aufbaut, für subjektive Wertungen gelte Konstanz (was im echten Leben nie der Fall ist), statt auf die unbestrittenen Kriterien der Konsistenz und Rationalität zu rekurrieren?10 Kurz und gut: Wie erklären wir, dass es wichtige Denkschulen in unserer 9 Die einzigen Beispiele intellektueller Aufrichtigkeit, die ich in diesem Bereich kenne, sind die Handbücher von Bresciani-Turroni und Röpke, die beide immerhin die wichtigen kritischen Arbeiten von Hans Mayer über die funktionellen Preistheorien der Neoklassik erwähnen. Siehe Bresciani-Turroni (1960), Kapitel 2, und Röpke (1968), Fußnote 2 in Kapitel 1. Hans Mayers Arbeit, ursprünglich veröffentlicht unter dem Titel „Der Erkenntniswert der funktionellen Preistheorien: kritische und positive Untersuchungen zum Preisproblem“, Mayer (1932), S. 147–239, erschien vor kurzem glücklicherweise auf Englisch, und zwar unter dem Titel „The Cognitive Value of Functional Theories of Price: Critical and Positive Investigations Concerning the Price Problem“, Kirzner (1994), Band II, S. 55–168. 10 Wie Mises zu recht an Samuelsons Theorie der „offenbarten Präferenzen“ bemängelt: „Man hat versucht, zum Begriffe eines irrationalen Handelns durch folgenden Gedankengang zu gelangen: Wenn a dem b vorgezogen wird und b dem c, dann müsste auch a dem c vorgezogen werden. Wenn aber tatsächlich c dem a vorgezogen wird, dann liege hier Handeln vor, dem man Folgerichtigkeit (Konsequenz, engl. consistency) und demgemäß Rationalität nicht zubilligen kann. Der Fehler dieser Beweisführung liegt in der Nichtbeachtung der Tatsache, dass zwei Handlungen nie gleichzeitig sein können. Wenn einmal a dem b vorgezogen wurde und ein anderesmal b dem c, so ist es nicht zulässig, daraus eine einheitliche Wertskala zu

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Disziplin gibt, die diese aprioristisch und deduktiv ausgestalten, ohne auf die alten Hypothesen des methodologischen Positivismus zurückzugreifen?11

Über die Bedeutung der Abhandlungen zu den Grundlagen und Prinzipien der Wirtschaftswissenschaft Der einzige Weg, auf dem man die Unzulänglichkeiten umgehen kann, die wir im vorangegangenen Abschnitt kennenglernt haben, ist jener, der zu der Tradition zurückführt, echte Abhandlungen zu den Prinzipien und Grundlagen der Wirtschaftswissenschaft zu verfassen. Anstatt einfache Lehrbücher zu erstellen, welche die neuesten Moden und wissenschaftlichen Neuheiten zusammenfassen, sollten wahre Traktate geschrieben werden, die das Ergebnis einer langen wissenschaftlichen Reflexion und akademischen Erfahrung sind und die Kernprinzipien zusammentragen, die der Ökonomie als Grundlage dienen. Auf diese Weise werden die Studenten mit analytischen Werkzeugen von unschätzbarem Wert versorgt. Mit ihrer Hilfe sind sie in der Lage, das gesamte Theoriegebäude der Ökonomie zu erstellen, das ihnen während ihres gesamten Berufslebens als Orientierung dienen wird. Die Solidität und Beständigkeit der Traktate zu den ökonomischen Prinzipien dürften um vieles größer sein als die der Lehrbücher, die heutzutage publiziert werden. Insofern sollten letztere unter Verwendung von Kriterien geschrieben werden, die sehr viel zeitloser und abstrakter sind (und Schlagzeilen oder quasi-journalistische Beispiele vermeiden) und immer eine Gesamtschau der Wirtschaftswissenschaft bieten, in der alle Themengebiete passend miteinander verknüpft sind. Auf jeden Fall sollte das Ziel jeder Abhandlung zu den Prinzipien und Grundlagen der Wirtschaftswissenschaft darin bestehen, den Studenten anzuleiten, im Sinne der Kernelemente der Disziplin zu denken. Und da die Darlegung und theoretische Rechtfertigung der Kernprinzipien große Sorgfalt, Umsicht und analytische Strenge erfordern, ist es notwendig, Bezug auf alle unterschiedlichen Ansätze und alternativen Sichtweisen zu nehmen, schädliche Parteinahme allseits zu vermeiden und die vertretenen Positionen adäquat zu rechtfertigen, und zwar in Abgrenzung zu den zum Vergleich herangezogenen Alternativen. Das bedeutet, konstruieren, in der b auf a und c auf b folgt, mögen die beiden Handlungen auch zeitlich noch so nahe aneinandergerückt sein. Ebensowenig ist es zulässig, eine spätere dritte Handlung als gleichzeitig mit den beiden ersten zu setzen.“ Mises (1980), S. 82 bzw. Mises (1966), S. 103. Siehe auch Rothbard (1990a), S. 228. Siehe auch Anmerkung 40. 11 Die einzige Ausnahme, die ich kenne, in der neben dem Positivismus auch andere methodologische Positionen genannt werden, ist Richard G. Lipsey (1967). Lipsey schreibt noch in der achten Auflage seines bekannten Buchs An Introduction to Positive Economics über Mises’ Human Action wie auch über Robbins’ An Essay on the Nature and Significance of Economic Science: „Alle Spezialisten der Ökonomie sollten dieses interessante Buch lesen. Es stellt das Wesen der Wirtschaftstheorie und deren Verhältnis zu empirischen Beobachtungen in einer Weise dar, die dem Ansatz in diesem Buch direkt entgegensteht.“ Lipsey (1967), Fußnote 19 in Kapitel 16.

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dass man in den wahren Abhandlungen zu den ökonomischen Prinzipien die unterschiedlichen Optionen nicht verschweigt, sondern für den Leser offen darlegt und soweit wie nötig im Detail analytisch seziert, damit man zu den für angemessen befundenen theoretischen Schlussfolgerungen gelangen kann. Der typische Ansatz solcher Abhandlungen zu den ökonomischen Prinzipien ist logischerweise nie mit den theoretischen Analysen spezifischer Probleme, die man für praktisch relevant hält, inkompatibel. Im Gegenteil, eine gute theoretische und abstrakte Basis ist die conditio sine qua non für ein akkurates Verstehen und Interpretieren dessen, was in konkreten historischen Situationen der wirtschaftlichen Realität geschieht. Ebenso wichtig ist es, die theoretische Analyse und praktischen Empfehlungen, die in der jeweiligen Situation für angemessen erachtet werden, korrekt durchzuführen.12 Insofern stellt Mises’ Human Action die wichtigste Abhandlung zu den Kernprinzipien und Grundlagen der Wirtschaftswissenschaft dar, die im letzten Jahrhundert geschrieben wurde. Was sie vor allem kenn- und auszeichnet, sind eine tiefreichende analytische Rigorosität, durchgängige Konsistenz und logische Gesamtverknüpfung aller 39 Kapitel, die nahezu kein ökonomisches Problem undiskutiert lassen. Kurzum: Mises konstruiert in seinem Buch ganz systematisch das Gebäude der Wirtschaftswissenschaft und integriert es in ein konsistentes und vereinigtes Ganzes.13 Seine Abhandlung ist zudem in einem sehr klaren und flüssigen Stil geschrieben. Nicht nur, dass sie die verschiedensten Schulen, die es in der Geschichte des ökonomischen Denkens gegeben hat, analysiert und beurteilt. Sie beweist auch – was nur für die wenigen anderen Arbeiten dieses Formats gilt, die rasch zum Referenzwerk für jeden Ökonom wurden – Absatz für Absatz große Weisheit und Originalität und erweist sich dadurch als ein wahrer intellektueller Schatz an Ideen und Vorschlägen. Jede dieser Ideen würde, wenn man sie ein­

12 In den Kapiteln 29–31 von Human Action präsentiert Mises z. B., wie die logische Abfolge der Geschehnisse im Protektionismus, Interventionismus oder bei Handelskontrollen ausschaut. Diese Darstellung ist besonders brillant und beweist, wie groß Reflektionsvermögen, Weisheit und praktischer Erfahrungsschatz des Autors sind. 13 Friedrich August von Hayek, Wirtschaftsnobelpreisträger von 1974, erwähnt in einer seiner ersten Rezensionen zur Erstauflage von Mises’ Buch (im Economic Journal, April 1941, S. 124–127) genau diese Eigenschaften und resümiert, dass Weitblick und geistige Umsicht des Autors sehr viel mehr an einen Philosophen des 18. Jahrhunderts als an einen modernen Spezialisten erinnern. Mises wollte mit seiner Abhandlung Human Action eigentlich auch auf die intellektuelle Herausforderung reagieren, die Max Weber in die Welt gesetzt hatte, als er von der Notwendigkeit eines einigenden Ansatzes sprach, der auch eine Interpretation der Geschichte erlaube. Mit anderen Worten, es ging um eine umfassende Gesellschaftstheorie, die eine Interpretation der historischen Realität ermöglicht. Im neoklassischen Feld gab es einige Versuche in diese Richtung, wie z. B. James Colemans Buch The Foundation of Social Theory, Coleman (1990). Coleman stützt sich auf das neoklassische Paradigma der Chicagoer Schule. Sein Buch enthält nicht nur die Tugenden, sondern auch die Fehler und Unzulänglichkeiten, die für dieses Paradigma typisch sind und die u. E. Mises in seiner Abhandlung angemessen beseitigt und überwunden hat.

Der Autor und sein Werk  

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gehender analysierte, mit Leichtigkeit ein Forschungsthema für eine Doktorarbeit oder ein neues Buch abgeben.14 

Der Autor und sein Werk: Mises’ wichtigste Beiträge zur Wirtschaftswissenschaft Obwohl es logischerweise unmöglich ist, auch nur eine kurze Zusammenfassung aller theoretischen Beiträge aus Human Action zu präsentieren, ist es nichtsdestotrotz notwendig, das Werk in seinen intellektuellen Kontext richtig einzuordnen und insbesondere die Entwicklung jener Gedanken des Autors nachzuzeichnen, die schlussendlich Eingang in seine Abhandlung gefunden haben. Mises’ Beiträge im Felde der Wirtschaftswissenschaft erstrecken sich über die ersten zwei Drittel des letzten Jahrhunderts. Mises selbst gestand einmal, er sei Ökonom geworden, nachdem er an Weihnachten 1903 Carl Mengers Prinzipien der Volkswirthschaftslehre gelesen habe.15 Von diesem Moment an begann ein langes und fruchtbares akademisches Leben, das sich der ökonomischen Forschung und Lehre verschrieben hat. 1969 trat Mises als Professor der Wirtschaftswissenschaften an der New Yorker Universität in den Ruhestand. Mengers Buch, das einen enormen Einfluss auf Mises hatte, stellt einen Meilenstein in der Geschichte des ökonomischen Denkens dar. Es ist der erste Versuch, die gesamte Wirtschaftswissenschaft vom Menschen aus zu verstehen, wobei dieser als kreativer Akteur und führender Kopf aller gesellschaftlichen Prozesse gedacht wurde. Menger hielt es für unumgänglich, die sterile „Objektivität“ der klassischen angelsächsischen Schule aufzugeben und der kontinentalen Denk­ traditionen zu folgen, die bis zu den spanischen Scholastiker des 16. und 17. Jahrhunderts zurückreichen.16 Aus ihrer Sicht sollte der Wissenschaftler immer die subjektive Sichtweise des Akteurs einnehmen, und zwar so, dass diese Sichtweise

14

So hat z. B. Toshio Murata, Professor für Ökonomie an der Universität von Yokohama, kürzlich über Mises’ Human Action gemeint, es sei „voller wertvoller Einsichten und in jeder Hinsicht in einem sehr präzisen Stil verfasst. Es birgt einen Schatz an Einsichten und Ideen, von denen jede vielleicht einmal zu einer neuen Theorie oder zu einem neuen Buch führen wird.“ Murata (1991), S. 4. 15 „1903 las ich an Weihnachten Mengers Grundsätze der Volkswirtschaftslehre. Das Lesen dieses Buches machte einen Ökonomen aus mir.“ Mises (1978a), S. 33. Siehe auch Menger (1871). 16 Die Verbindungslinien zwischen den Theorien der Österreichischen Schule und denen der spanischen Scholastiker haben zwei Schüler von Mises sehr detailliert betrachtet, und zwar Friedrich August von Hayek und, vor allem, Murray N. Rothbard. Siehe Rothbard (1976) und Rothbard (1995a), S. 97–177. Interessanterweise erwähnt Mises die enge Beziehung zwischen den Mitgliedern der Schule von Salamanca und den Theoretikern der Österreichischen Schule nicht ausdrücklich. Eher beiläufig verweist er auf die Vorgänger der subjektiven Werttheorie am Ende von Punkt 3 im 12. Kapitel von Human Action, Mises (1966), S. 219.

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unweigerlich einen prägenden Einfluss auf die Entwicklung der ökonomischen Theorien und deren praktischen Ergebnisse und Schlüsse hätte. Insofern kann man verstehen, dass Menger nicht anders konnte, als die sterile Objektivität der strengen angelsächsischen Schule zu verlassen. Diese war stets davon besessen, die scheinbare Existenz objektiver externer Faktoren auszumachen (soziale Klassen, Aggregate, materielle Produktionsfaktoren etc.). Eine natürliche Folge des „subjektivistischen“ Ansatzes17, der dank Menger wieder zum Tragen kam, ist die Entwicklung der subjektivistischen Werttheorie und das mit ihr einhergehende Gesetz des Grenznutzens. Gleiches gilt für die Idee der Kosten als subjektive Bewertung von Alternativen, die durch das Handeln verworfen werden (Opportunitätskosten). Mengers bahnbrechender Beitrag wurde von seinem brillantesten Schüler, Eugen von Böhm-Bawerk (1851–1914),18 fortgeführt. Böhm-Bawerk war zunächst Professor für Wirtschaftswissenschaften in Innsbruck und dann in Wien. Zudem war er dreimal Finanzminister der Donaumonarchie. Er trug nicht nur zu der auf Menger zurückgehenden Verbreitung des subjektivistischen Ansatzes bei, sondern weitete auch dessen Anwendungsbereich aus, vor allem auf die Bereiche Kapital und Zinsen. In seinem Werk rechnete Böhm-Bawerk mit allen Zinstheorien vor seiner Zeit ab (und lag vor allem mit seiner kritischen Analyse der marxistischen Ausbeutungstheorie und den Theorien, welche die Zinsen aus der Grenzproduktivität des Kapitals heraus erklärten, goldrichtig). Außerdem entwickelte er eine neue Theorie zur Entstehung der Zinsen und gründete diese auf der subjektiven Realität der Zeitpräferenz. Böhm-Bawerks brillantester Student war ohne Zweifel Ludwig von Mises. Als der überragende Teilnehmer im Seminar, das Böhm-­ Bawerk an der Universität Wien kurz vor Ausbruch des 1. Weltkriegs hielt, zog er rasch die Aufmerksamkeit auf sich. In jenem Seminar, in dem auch Theoretiker vom Schlage eines Joseph A. Schumpeter teilnahmen, schlug Mises vor, die Anwendung des traditionell subjektivistischen Ansatzes der Ökonomie auf den Bereich Geld und Kredit auszuweiten. 1912 veröffentlichte er die Erstauflage seines 17

Hayek meinte, man übertreibe kaum, wenn man behaupte, dass jeder wichtige Fortschritt in der Wirtschaftstheorie des letzten Jahrhunderts sich aus der folgerichtigen Anwendung des Subjektivismus ergeben habe. Siehe Hayek (1952a), S. 31. Mit Blick auf Mises führt Hayek dort weiter aus (S. 52), dass Mises den Subjektivismus am schlüssigsten umgesetzt habe und er glaube, „dass die meisten Besonderheiten seiner Sichtweise, die vielen Lesern zunächst seltsam oder inakzeptabel erscheinen, in der konsistenten Entwicklung des subjektivistischen Ansatzes gründen und dass er seinen Zeitgenossen um einige Jahre voraus war. Wahrscheinlich sind alle charakteristischen Eigenschaften seiner Theorien, angefangen von der Geldtheorie bis hin zum Apriorismus, sein Bild von der Mathematik im Allgemeinen und der Messbarkeit wirtschaftlicher Phänomene im Besonderen sowie seine Kritik am Planen das unmittelbare Ergebnis seines Subjektivismus.“ (Kursivsetzung von mir) Der subjektivistische Ansatz ist das typischste Merkmal von Mises und das eigentliche Unterscheidungsmerkmal zwischen der Österreichischen Schule und den anderen marginalistischen Schulen von Walras und Jevons. Siehe Jaffé (1976) und Anmerkung 36. 18 Böhm-Bawerks Opus Magnum ist Kapital und Kapitalzins  – trotz seines Titels eine ökonomische Abhandlung im eigentlichen Sinne des Wortes. Es gibt eine englische Ausgabe, herausgegeben von Hans Sennholz, Böhm-Bawerk (1959).

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ersten wichtigen Buches zur Ökonomie mit dem Titel Die Theorie des Geldes und der Umlaufsmittel.19

Ludwig von Mises und die Theorie des Geldes, der Kredite und der Konjunkturzyklen Der erste wichtige Beitrag von Mises zur Geldtheorie bedeutete einen großen Schritt vorwärts. Der Subjektivismus der Österreichischen Schule gewann nun an Bedeutung, weil er auf den Bereich des Geldes angewendet wurde, wobei der Wert des Geldes mithilfe der Grenznutzentheorie erklärt wurde. Zudem löste Mises als erster das bis dahin scheinbar unlösbare Problem, in einen Zirkelschluss zu verfallen, wenn man die Grenznutzentheorie auf Geld anwenden wollte. Der Preis oder die Kaufkraft des Geldes wird durch Angebot und Nachfrage bestimmt. Die Nachfrage nach Geld wiederum bestimmt der Mensch, und zwar nicht im Hinblick auf den unmittelbaren Nutzen des Geldes, sondern gemäß dessen Kaufkraft. Mises entschlüsselte diesen anscheinenden Zirkelschluss mit seinem Regressionstheorem der Kaufkraft, das er in Kapitel 17.4 von Human Action detailliert analysiert und erklärt. Laut Theorem wird die Nachfrage nach Geld nicht durch die heutige Kaufkraft bestimmt (was ansonsten zum vorherigen Zirkelschluss führen würde), sondern durch das Wissen von der Kaufkraft, die das Geld gestern hatte; ein Wissen, das der Akteur aufgrund seiner Erfahrung gebildet hat. Die Kaufkraft von gestern wiederum wird durch die Geldnachfrage bestimmt, die sich auf Grundlage des Wissens über die Kaufkraft von vorgestern gebildet hat. Diese Sequenz setzt sich fort, bis der Zeitpunkt in der Geschichte erreicht ist, als zum ersten Mal eine bestimmte Ressource (Gold oder Silber) als Tauschmittel nachgefragt wurde. Die Theorie des Geldes und der Umlaufsmittel wurde bald ein Standardwerk im monetären Bereich20 und enthält bereits die Anfänge einer ungewöhnlichen Konjunkturzyklentheorie. Nach und nach wurde diese Theorie als die Österreichische Theorie der Konjunkturzyklen bekannt. Indem er die Geldtheorien der Währungsschule auf Böhm-Bawerks subjektivistische Kapital- und Zinstheorie anwendete, erkannte Mises, dass die expansive Schaffung von Krediten, denen die Unterstützung effektiven Sparens (fiduciary media) fehlt, nicht aber die eines auf dem Teildeckungssystem basierenden Bankwesens unter Leitung einer Zentralbank, 19

Mises (1912), zweite Auflage 1924. Die beste englische Auflage (übersetzt von H. E. Batson) erschien 1981 mit einem Vorwort von Murray N. Rothbard in der Reihe „Liberty Classics“. 20 Bedauerlicherweise war noch nicht einmal ein so renommierter Mann wie John Maynard Keynes in der Lage, die Bedeutung von Mises’ Werk zu erkennen, da er, wie er selbst zugab, auf deutsch nur das verstand, was er ohnehin schon kannte, und ihm neue Idden aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse verschlossen blieben. Siehe Keynes (1930), Band I, S. 199, Fußnote 2. Auch Paul A. Samuelson konnte Mises’ wissenschaftlichen Leistungen nichts abgewinnen, wie seine Kommentare zu Mises’ Geldtheorie zeigen; vgl. Samuelson (1947), S. 117 f.

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ein zyklisches und unkontrolliertes Wachstum des Geldangebots generiert. Und nicht nur das! Weil die expansive Kreditschöpfung ex nihilo in künstlich reduzierte Zinsen mündet, „verlängert“ sie auch den Produktionsprozess, der dadurch sehr kapitalintensiv wird. Früher oder später werden die Ausweitungen des inflationären Prozesses durch Kreditausweitung spontan und unvermeidbar implodieren und zu einer ökonomischen Krise oder Rezession führen, in der die Folgen der Investmentfehler deutlich werden. Es kommt zu einer großen Arbeitslosigkeit und die falsch investierten Ressourcen müssen allesamt liquidiert werden. Mises arbeitete seine Konjunkturzyklentheorie detailliert in den Kapiteln 20 und 31 von Human Action aus. In ihr findet man zum ersten Mal eine vollständige Verknüpfung aller Mikro- und Makroaspekte in einer Wirtschaftstheorie.21 Mehr noch! In ihr findet man auch alle analytischen Werkzeuge, die man braucht, um die Phänomene Boom und Depression zu erklären, die in behinderten Märkte auftreten. Es überrascht nicht, dass Mises die treibende Kraft hinter dem neueingerichteten Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung war und Friedrich August von Hayek (Wirtschaftsnobelpreisträger von 1974) zu dessen erstem Direktor machte. Das Institut war als einziges in der Lage, die aufkommende große Depression 1929 als unvermeidbare Folge der Geld- und Kreditexzesse der künstlich „prosperierenden“ 1920er Jahre nach dem 1. Weltkrieg zu erklären.22 Man sollte auch hervorheben, dass Mises und seine Schüler just zu der Zeit an ihrer Zyklentheorie arbeiteten, als sie die Unmöglichkeit des Sozialismus analysierten, die wir weiter unten diskutieren werden. Eigentlich beschreibt die Österreichische Krisentheorie nichts weiter als einen Sonderfall diskoordinierender Effekte, die sich im Zuge systematischer Staatsgewalt in den Bereichen Steuern, Geld und Kredite auf die Produktionsstruktur (innerhalb und zwischen Zeitperioden) auswirken.

21 Die radikale Unterscheidung zwischen den „Mikro-“ und „Makro“-Aspekten der Wirtschaftswissenschaft ist eine andere Unzulänglichkeit moderner Einführungstexte zur Wirtschaftspolitik. Anstatt eine einheitliche Behandlung ökonomischer Probleme anzubieten, wie es Mises tut, präsentiert man eine geteilte Wirtschaftswissenschaft mit zwei verschiedenen Disziplinen (Mikroökonomie und Makroökonomie), die nichts verbindet, weshalb man sie getrennt voneinander studieren kann. Wie Mises zu recht sagt, entspringt diese Unterscheidung Vorstellungen, wie z. B. der vom allgemeinen Preisniveau, die man verwendet, ohne die subjektive Theorie vom Wert des Geldes zu berücksichtigen. Auf diese Weise fällt man auf jenen vorwissenschaftlichen Stand zurück, als man noch versucht hat, in globalen Produktklassen oder Aggregaten zu denken, anstatt in deren Marginaleinheiten. Das erklärt auch, warum man bis heute die ganze „Disziplin“ auf das Studium mechanischer Beziehungen ausgerichtet hat, die angeblich zwischen makroökonomischen Aggregaten bestehen. Deren Verbindungen mit individuellen Handlungen kann man kaum, wenn überhaupt verstehen. 22 Siehe Skousen (1993). Lionel Robbins bezieht sich in seiner „Introduction“ zur ersten Auflage von Hayeks Prices and Production, Hayek (1931), S. xii, auf Mises und Hayeks Vorhersage einer unvermeidlich eintretenden großen Depression infolge von Kreditexzessen, die in den 1920er Jahren begannen. Hayek publizierte die Vorhersage 1929 in einem Aufsatz (Monatsberichte des österreichischen Institutes für Konjunkturforschung).

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Mises’ Analyse der Unmöglichkeit des Sozialismus Mises’ dritter großer Beitrag zur Wirtschaftstheorie liegt in seiner Theorie der Unmöglichkeit des Sozialismus. Folgt man Mises, dann liegt diese Unmöglichkeit aus Sicht des Österreichischen Subjektivismus auf der Hand.23 Wenn der Ursprung jeder Bewertung und allen Wissens im Kreativvermögen des Menschen als Akteur zu finden ist, dann sind alle Systeme, die auf den Gebrauch von Zwangsgewalt gegen freie menschliche Handlungen basieren – wie es im Sozialismus ganz und im Interventionismus teilweise der Fall ist –, unmöglich und verhindern die Entstehung von Informationen, die man braucht, um die Gesellschaft in den Köpfen der individuellen Akteure zu koordinieren. Mises erkannte, dass die Wirtschaftsrechnung, verstanden als Folgeneinschätzung alternativer Handlungspläne, die sich dem Akteur bieten, Informationen aus erster Hand benötigt. Dergleichen ist in einem System unmöglich, das – wie der Sozialismus – auf Zwang beruht und den freien Austausch (in dem individuelle Bewertungen dargelegt, entdeckt und geschaffen werden) sowie den freien Gebrauch von Geld als freiwillig und all­ gemein akzeptiertes Tauschmittel verhindert.24 Mises schlussfolgert daher: Dort, 23

„Die Illusion, dass in einer Gesellschaft, die auf Gemeineigentum von Produktionsmitteln basiert, eine rationale Ordnung durch ökonomisches Management möglich sei, hat ihren Ursprung in der Werttheorie der klassischen Ökonomen und in der Beharrlichkeit, mit der viele moderne Ökonomen daran scheitern, die subjektivistische Theorie bis in ihre letzten Einzelheiten von Grund auf zu durchdenken. … Tatsächlich waren es die Fehler dieser Schule, die den sozialistischen Ideen zur Blüte verhalfen.“ Mises (1996), S. 206. In jüngerer Zeit hat sich Joseph E. Stiglitz der Meinung angeschlossen, dass das bis heute vorherrschende neoklassische Paradigma weitgehend die Aufrechterhaltung des Irrglaubens zu verantworten hat, dem zufolge das sozialistische Wirtschaftsmodell funktionieren könnte. Er meint, dass die Standardmodelle der Neoklassik an der desaströsen Lage, in der sich so viele osteuropäische Länder wiedergefunden haben, eine Mitschuld hätten. Man könne mit Fug und Recht behaupten, dass wirtschaftstheoretische Ideen unsägliches Leid über die Hälfte der Weltbevölkerung gebracht hätten. Stiglitz (1994), S. ix-xii. Ganz ähnlich argumentiert bereits zwei Jahre zuvor Huerta de Soto (1992), S. 33 ff. 24 Die Analyse der Wirtschaftsrechnung und deren Bedeutung für menschliche Handlungen und Interaktionen stellt einen der wesentlichsten Aspekte im Gedankengebäude von Mises dar. Mises widmet sich im gesamten dritten Teil (Kapitel XI bis XIII) von Human Action diesem Konzept. Mises’ Verdienst gründet wohl darin, theoretisch erkannt zu haben, welche Verbindung zwischen der subjektiven Welt individueller Wertschätzungen und der externen Welt der in Geldeinheiten ausgedrückten Marktpreise besteht. Überbrückt werden diese beiden Welten immer dann, wenn es zwischen Personen zu einem Austausch kommt, angetrieben von den unterschiedlichen subjektiven Bewertungen der betroffenen Parteien in Form eines monetären Marktpreises oder einer historischen Handelsbeziehung in Geldeinheiten mit einer bestimmbaren quantitativen Größe. Der Unternehmer kann dann diese Beziehung als wertvolle Information nutzen, um die künftige Entwicklung von Geschehnissen einzuschätzen und Entscheidungen zu treffen (Wirtschaftsrechnung). Es ist offenkundig, dass es im Falle gewaltsamer Unterbindungen nicht zu freiwilligen zwischenmenschlichen Austauschhandlungen kommt und die Brücke zwischen der subjektiven Welt der Informationsschaffung und direkten (ordinalen) Bewertungen einerseits und der externen Welt der (kardinalen) Preise andererseits zerstört wird. Dies macht die Wirtschaftsrechnung vollkommen unmöglich. Siehe dazu insbesondere Rothbard (1991a), S. 64 f.

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wo es keinen freien Markt gibt und keine freien Marktpreise gebildet werden können, ist keine rationale ökonomische Kalkulation möglich – wobei „rationale“ Kalkulation meint, dass die für sie notwendigen (und nicht irgendwelche willkürlichen) Informationen vorhanden sind. Mises’ Kernideen flossen systematisiert in seinen großen Traktat zum Sozialismus ein. Dessen erste Auflage erschien 1922 unter dem Titel Die Gemeinwirtschaft: Untersuchungen über den Sozialismus und wurde danach ins Englische, Französische und Spanische übersetzt.25 Als Socialism wurde das Werk in Mitteleuropa außergewöhnlich populär. Theoretiker vom Range eines Friedrich August von Hayek, ursprünglich ein fabianischer Sozialist, Wilhelm Röpke und Lionel Robbins änderten nach der Lektüre des Buches ihre Meinung und schlossen sich dem Libertarianismus an.26 Mit Mises’ Buch begann auch eine der vier großen Kontroversen, an denen die Theoretiker der Österreichischen Schule beteiligt waren: die Kontroverse zur Unmöglichkeit einer sozialistischen Wirtschaftsrechnung.27 Vor kurzem hatte ich die Möglichkeit, alle Aspekte dieser Kontroverse im Detail zu studieren und neu zu bewerten.28 Sie wurde ohne Zweifel, wie inzwischen allgemein und selbst von 25

Mises (1922). Ins Englische übersetzt von J. Kahane und veröffentlicht mit einem Vorwort von Friedrich August von Hayek unter dem Titel: Socialism: An Economic and Sociological Analysis, Indianapolis, IN: Liberty Classics, 1981. Diese Abhandlung enthält fast wörtlich Mises ersten bedeutsamen Beitrag über den Sozialismus, der als „Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen“ erschien, veröffentlicht im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Nummer 47, 1920, S. 106–121. Er wurde von S. Adler ins Englische übersetzt und erschien als „Economic Calculation in the Socialist Commonwealth“ in Hayek (1975). 26 Siehe das Vorwort von Friedrich August von Hayek zur vierten englischen Auflage von Mises’ Socialism, Mises (1981b), S. xix. Mises räumt ein, dass er anfangs an der Universität ein großer ideologischer Etatist war und seine Studien der Wirtschaftspolitik ihn langsam dazu veranlassten hätten, seine Meinung zu ändern: „Als ich an die Universität kam, war ich auch ein großer Etatist (Interventionist). Aber im Gegensatz zu meinen Kommilitonen war ich bewusst ein Anti-Marxist. Meine ersten Zweifel an der Vorzugswürdigkeit des Interventionismus kamen mir im fünften Semester, als Professor Philippovich mir auftrug, die Wohnungssituation zu erforschen, und als wir im Semester darauf im Strafrechtsseminar von Professor Löffler den Auftrag bekamen, die Auswirkungen rechtlicher Veränderungen auf Hausangestellte zu untersuchen, die damals noch Züchtigungen des Arbeitgebers zu erdulden hatten. Damals dämmerte mir so langsam, dass die wirklichen Verbesserungen der Lebensumstände der Arbeiterklasse vom Kapitalismus ausgingen und das Sozialrecht häufig das genaue Gegenteil von dem erreichte, was man mit der Gesetzgebung eigentlich erreichen wollte.“ Siehe Mises (1978a), S. 16 und 19 f. 27 Chronologisch betrachtet, war der Methodenstreit, den Menger mit der Deutschen Historischen Schule des 19. Jahrhunderts führte, die erste der drei weiteren Kontroversen. Es folgte die Debatte zum Thema Kapital und Zinstheorie, die zunächst Böhm-Bawerk und J. C. Clark austrugen, danach Mises, Hayek und Machlup auf der einen und Frank H. Knight sowie die Chicagoer Schule auf der anderen Seite. Die dritte Kontroverse bestritten Hayek und Keynes in der 1930er Jahren. Siehe Hayek (1995). Die Entwicklung der historischen Ereignisse (Scheitern des real existierenden Sozialismus) und des ökonomischen Denkens (Krise der keynesia­ nischen Ökonomie) haben gezeigt, dass die Österreichischen Theoretiker in diesen vier Lehrdisputen richtig lagen. 28 Huerta de Soto (2013). Siehe auch Lavoie (1985).

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f­ rüheren sozialistischen Theoretikern29 eingestanden wird, von den Mitgliedern der Österreichischen Schule gewonnen. Sie ist eine der interessantesten Kontroversen und hat einige höchst bemerkenswerte Folgen für die Geschichte des ökonomischen Denkens gehabt.30

Die Theorie des Unternehmertums Die Auffassung, der Mensch sei der Hauptprotagonist aller gesellschaftlichen Prozesse, ist im Kern das, was Mises’ vierten Beitrag im Felde der Wirtschafts­ wissenschaft auszeichnet. Mises erkannte, dass die Wirtschaftswissenschaft, die zunächst von der historischen Idealvorstellung des homo oeconomicus im Weberschen Sinne ausging, dank Mengers subjektivistischer Konzeption zu einer allgemeinen Theorie menschlicher Handlungen und Interaktionen mutierte (Praxeo­logie, um mit Mises zu sprechen). Die wesentlichen Charakteristika und Implikationen menschlicher Handlungen und Interaktionen hat er in seinem Wirtschaftstraktat detailliert ausgearbeitet. Sie bilden deren eigentlichen Forschungsgegenstand. Aus genau diesem Grund betitelte Mises sein Werk Human Action.31 Mises erblickt in jeder Handlung eine unternehmerische und spekulative Komponente und entwickelt eine Theorie des Unternehmertums, die dem Menschen die Fähigkeit zuschreibt, aus dem, was in seiner Umgebung entsteht, subjektive Gewinnmöglichkeiten zu schaffen. Der Mensch erkennt deren Existenz und handelt dementsprechend, um Vorteile zu generieren.32 Israel M.  Kirzner (* 1930), 29

„Mises hatte recht. … Der Sozialismus war die große Tragödie dieses Jahrhunderts.“ Heilbroner (1989) und Heilbroner (1990). Die Ökonomen Wlodzmierz Brus und Kazimierz Laski kamen ebenfalls zu dem Schluss, dass Oskar Lange und die sozialistischen Theore­tiker nie der Herausforderung durch die Österreichischen Ökonomen gewachsen waren. Siehe Brus / Kazimierz (1985), S. 60. Mises fasst im fünften Teil von Human Action, Kapitel 25 und 26, das Wesentliche zur Unmöglichkeit einer sozialistischen Wirtschaftsrechnung zusammen, bewertet das Ganze noch einmal neu und präsentiert dann seine endgültige Meinung zum Thema. 30 Mises’ großes Verdienst liegt darin, als erster das Problem der theoretischen Unmöglichkeit des Sozialismus angegangen zu haben, das vor ihm niemand anpacken wollte, und nachzuweisen, warum es möglich war, die Idee des Sozialismus so lange am Leben zu halten. Aus seiner Sicht tragen die Fehler des neoklassischen Paradigmas (siehe Überschrift 2 von Kapitel 26) und des konstruktivistischen Rationalismus (Mises spricht von „rationalistischer Romantisierung“) daran die Schuld. Siehe Mises (1966), S. 507 und 702. 31 Wie Tullio Bagiotti, Professor für Ökonomie an der Mailänder Bocconi Universität, zu recht in seiner „Presentazione“ für die italienische Ausgabe von Human Action schreibt: „Il titolo non mancherà di sorprendere un poco. Nessun economista prima di lui l’avena usato, anche se l’economia spesso forzava i suoi cànoni presentandosi com norma all’azione.“ Mises (1959), S. vi. 32 Mises sagt ausdrücklich, das wesentliche Element der unternehmerischen Funktion stecke im Kreativvermögen. Er kritisiert auch den populären Irrglauben, der Gewinn entstehe aus der Risikoabschätzung und die unternehmerische Funktion sei ein Produktionsfaktor des Managements, der auf dem Markt gekauft oder verkauft werden könne. Ganz im Gegenteil, meint Mises. „Um im Geschäft erfolgreich zu sein, braucht man keinen Abschluss von einer School of Business Administration. Diese Schulen trainieren ihre Studenten für Routinejobs.

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Ökonomieprofessor an der Universität von New York und einer der brillantesten Schüler von Mises, hat dessen Theorie des Unternehmertums in den letzten Jahren weiterentwickelt.33 Die unternehmerische Fähigkeit des Menschen erklärt nicht nur, warum der Mensch ständig bemüht ist, neue Informationen zu Mitteln und Zielen zu finden und zu erschaffen.34 Mit ihr kann man auch die koordinierende Tendenz verstehen, die kontinuierlich und spontan auf dem Markt entsteht, wenn nicht gewaltsam in diesen eingegriffen wird. Das Koordinierungsvermögen des Unternehmertums ist genau das, was uns einen logischen Corpus der Wirtschaftstheorie entwerfen lässt, ohne dabei den Schwierigkeiten einer szientistischen Analyse (mathematisch und statistisch) anheimzufallen; einer Analyse, die auf der Konstanzhypothese gründet und die sowohl ein Kind wie auch eine schlechte Kopie der wesensfremden Welt der Physik und der übrigen Naturwissenschaften ist.

Die aprioristisch-deduktive Methodologie und die Kritik am szientistischen Positivismus Seit Menger haben die Österreichischen Theoretiker methodologische und epistemologische Probleme stets sehr ausgiebig und tiefgründig untersucht. Vor allem Mises selbst hat dies getan. Sein Beitrag zu diesem Thema zählt zu den wichtigsten Sie trainieren bestimmt nicht Unternehmer. Ein Unternehmer kann gar nicht trainiert werden. Ein Mensch wird Unternehmer, indem er Möglichkeiten nutzt und Lücken füllt. Dafür bedarf es keiner speziellen Ausbildung, sondern kühner Bewertung und Voraussicht.“ Mises (1966), S. 314. 33 Kirzner erzählte mir, dass er seine gesamte akademische Karriere dem historischen Zufall verdankt. Weil er noch ein paar Creditpoints benötigte, hatte er sich dazu entschieden, das Seminar über Ökonomie zu belegen, das Mises zwischen 1949 und 1969 an der New York University anbot. Ausschlaggebend war für ihn die Anzahl der publizierten Arbeiten des Lehrenden. Die grundlegenden Arbeiten von Kirzner sind: Competition and Entrepreneurship, Chicago 1973, Perception, Opportunity and Profit, Chicago 1979, Discovery and the Capitalist Process, Chicago 1985, Discovery, Capitalism and Distributive Justice, Oxford 1989, The Meaning of the Market Process, London 1992. 34 Mises’ nachdrückliche Behauptung, die Ökonomie sei eine Wissenschaft, die sich um die Mittel und nicht um die Zwecke kümmere, sollte man wie folgt verstehen: Die Ökonomie analysiert nie einen spezifischen Inhalt, indem sie Werturteile über die erstrebten Ziele ein­zelner Menschen fällt. Dennoch betrachtet man in der ökonomischen Analyse die Ziele genauso wie die Mittel, allerdings immer auf formale Weise, und zwar als ein Ergebnis des ständigen Flusses neu geschaffener Informationen, die aus dem unternehmerischen Prozess menschlicher Interaktionen hervorgehen. Außerdem beschäftigt sich die Ökonomie mit der Frage, welche bestehenden Regeln oder Verhaltensrichtlinien mit jenem spontanen Prozess der Koordination übereinstimmen, der von der Kraft der unternehmerischen Funktion angetrieben wird. Wir stimmen also Rothbard (1982), S. 202, vollkommen zu, wenn er Mises vorwirft, dieser halte auch die ethischen Prinzipien für rein subjektiv. Außerdem war es die reduktionistische und sehr enge Interpretation, mit der Mises die Mittel und Ziele der Wirtschaftswissenschaft bedachte, die Lionel Robbins zu dem Fehler veranlasste, Ziele als gegeben vorauszusetzen und anzunehmen, man solle deshalb ökonomisches Verhalten als einfache Optimierung oder Maximierung zum Erreichen bereits feststehender Ziele durch ebenfalls bekannte Mittel auffassen.

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Leistungen, die wir dem großen Österreichischen Ökonomen des 20. Jahrhunderts zu verdanken haben. Der „beobachtende“ Wissenschaftler kann nicht der praktischen Informationen habhaft werden, welche die „beobachteten“ Unternehmer-­ Akteure unentwegt entdecken und auf dezentrale Art und Weise erschaffen. Dieser Umstand erklärt, warum in unserer Disziplin jede Form empirischer Verifikation theoretisch unmöglich ist. Insofern liegt die Vermutung nahe, dass die Gründe, die für die theoretische Unmöglichkeit des Sozialismus verantwortlich sind, auch erklären, warum sowohl der Empirismus als auch die Kosten-Nutzen-Analyse, also der Utilitarismus in seiner striktesten Form, in unserer Wissenschaft nicht greifen. Es ist irrelevant, ob ein Wissenschaftler oder ein Staatslenker angestrengt versucht, jene praktischen Informationen zu erhalten, die immer dann relevant sind, wenn man Theorien verifizieren oder Befehlen eine koordinierende Eigenschaft zufügen will. Wenn derlei möglich wäre, dann wäre es auch machbar, diese Information dazu nutzen. Mit ihnen könnte man die Gesellschaft mithilfe von Zwangsbefehlen steuern (Sozialismus und Interventionismus) oder ökonomische Theorien empirisch verifizieren. Aber sowohl das sozialistische Ideal als auch das utilitaristische Ideal sind aus Sicht der Wirtschaftswissenschaft unmöglich, und zwar aus den selben Gründen: erstens wegen des immensen Umfangs der fraglichen Informationen; zweitens aufgrund der Natur der relevanten Informationen (subjektiv und stillschweigend); drittens wegen der dynamischen Natur des unternehmerischen Prozesses (Informationen, die der Unternehmer während des ständigen Innovationsprozesses noch nicht generiert hat, sind nicht übermittelbar); und viertens aufgrund der Folgen des Zwangs und der wissenschaftlichen „Beobachtung“ (die stört, korrumpiert oder schlicht die unternehmerische Schaffung von Informationen verunmöglicht).35 Mit den gleichen Argumenten kann man auch die theoretische Unmöglichkeit spezifischer Vorhersagen (spezifisch in Bezug auf Zeit und Ort) in der Wirtschaftswissenschaft in gültiger Weise rechtfertigen. Was morgen passieren wird, kann heute nicht wissenschaftlich gewusst werden, da es hauptsächlich von dem Wissen abhängt, das unternehmerisch noch nicht geschaffen wurde und daher auch nicht bekannt sein kann. In der Ökonomie können deshalb nur allgemeine „Trendvorhersagen“ getätigt werden (Hayek nennt sie „Mustervorhersagen“), die im Wesentlichen theoretischer Natur sind, etwa qualitative Prognosen zu den Effekten sozialer Diskoordination im Markt, die auf institutionellen Zwang zurückgeführt werden können (Sozialismus oder Interventionismus). Außerdem macht etwas das traditionelle Anliegen der Ökonometrie zunichte und lässt jede Form des positivistisch-methodologischen Programms (vom ­naivsten 35

Huerta de Soto (1992), S. 150 und 406 f. Laut Mises kommt die Theorie vor den empirischen Tatsachen und ist unverzichtbar, um die soziale Realität zu interpretieren, aus der die Geschichte besteht. Damit sich die Empirie als Disziplin bildet, bedarf es einer nicht-wissenschaftlichen Beurteilung der Relevanz (Verstehen), die sich mangels Objektivierbarkeit von einem Historiker zum anderen ändert (Kapitel 2 von Human Action).

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Verifikationismus bis hin zum ausgeklügelten popperschen Falsifikationismus) unbrauchbar erscheinen. Gemeint ist die Nichtexistenz objektiver Fakten – Fakten, die man in der externen Welt direkt beobachten könnte. Die Nichtexistenz ergibt sich aus dem Umstand, dass, entsprechend der subjektivistischen Konzeption, ökonomische Forschungsgegenstände schlicht Ideen darstellen, die andere hinsichtlich ihrer verfolgten Ziele oder Handlungen haben.36 Diese Ideen können nie direkt beobachtet werden, sondern nur im historischen Kontext, ähnlich wie die ständig variable, höchst komplexe Natur gesellschaftlicher Prozesse, in der es keine Parameter oder Konstanten gibt, sondern alles variabel ist. Dem positivistischen Ideal hält Mises in Human Action entgegen, dass die gesamte Wirtschaftswissenschaft durch Apriorismen und Deduktion konstruiert werden kann. Die Aufgabe ist eigentlich nur die, ein komplettes logisch-deduktives Arsenal anzulegen, und zwar auf der Grundlage von selbstevidentem Wissen (Axiome wie das subjektive Verständnis menschlicher Handlungen und deren Kernelemente), gegen das niemand Einwände erheben kann, ohne sich selbst zu wider­sprechen.37 Will man die scheinbar unverbundene Masse komplexer historischer Phänomene, welche die soziale Welt konstituieren, angemessen interpretieren, eine Geschichte der Vergangenheit zeichnen oder künftige Vorkommnisse (was die typische Aufgabe des Unternehmers ist) konsistent und mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg vorhersagen, dann kann man auf dieses Arsenal nicht verzichten. Insofern kann man auch verstehen, warum Mises in seinem Werk der Geschichte als Disziplin, ihrer Beziehung zur Theorie und dem Historiker selbst eine so große Rolle beigemessen hat. Nun versteht man auch, warum er den Unternehmer als einen handelnden Menschen definiert, „der mit den Augen eines Historikers in die Zukunft schaut.“38 36

„Die Ökonomie befasst sich nicht mit Dingen und gegenständlichen materiellen Objekten, sondern mit Menschen, deren Bedeutungen und Handlungen. Güter und Wohlstand und alle anderen Elemente des Verhaltens sind nicht natürlich, sondern hängen vom Deuten und Verhalten des Menschen ab. Wer sich damit beschäftigen möchte, darf nicht in die externe Welt schauen, sondern muss die Bedeutung beim handelnden Menschen suchen. … Die Produktion ist nichts Physisches, Materielles, sondern ein geistiges Phänomen.“ Mises (1966), S. 92 und 141. „Begrenzungen“ in der Ökonomie sind nicht durch materielle Faktoren der externen Welt (wie z. B. Ölreserven bei der Energiefrage) gegeben, sondern durch unternehmerisches Wissen. (So hat die Entdeckung eines bestimmten Motors, der die Effizienz verdoppelt, den gleichen ökonomischen Effekt wie die Verdoppelung der gesamten Ölreserven.) 37 Ein schönes Demonstrationsbeispiel ist das Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen mit ausschließlich logischen Begriffen (Überschrift 2 in Kapitel 12 von Human Action). Diese logische Demonstration basiert auf der Tatsache, dass dann, wenn das erwähnte Gesetz nicht zutreffen würde, die Produktionsfaktoren in der Welt der menschlichen Handlungen unbegrenzte Möglichkeiten hätten und deshalb freie Güter wären. Karl Menger, der Sohn des großen österreichischen Ökonomen, hat unserer Meinung nach erfolglos versucht, Mises’ Theorem der strikt praxeologischen Natur des Gesetzes vom abnehmenden Grenznutzen zu widerlegen. Siehe Karl Menger (1979). 38 Mises (1966), S. 58. Eine aktuelle und objektive Erklärung des methodologischen Paradigmas von Mises bietet Bruce Caldwell (1994), S. 117–138. Zu Mises’ Methodologie im Allgemeinen und der Beziehung zwischen Theorie und Geschichte im Speziellen, siehe die

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Ökonomie als Theorie dynamischer Gesellschaftsprozesse39 Schlussendlich und sechstens gab Mises’ Werk der Theorie dynamischer Prozesse großen Auftrieb. Für Mises ergab die mathematische Konstruktion der Wirtschaftswissenschaft, die auf das Modell des (allgemeinen und partiellen) Gleichgewichts zurückgriff, keinen Sinn.40 Im Gleichgewichtsmodell werden alle relevanten Informationen, z. B. jene für die Konstruktion der aufeinander be­zogenen Funk­ tionen von Angebot und Nachfrage, als konstant und gegeben angesehen (wenn auch abgeschwächt im Sinne von Wahrscheinlichkeitsannahmen). Das grundsätzliche ökonomische Problem ist für Mises ein vollkommen anderes. Ihm ging es um die Erforschung des dynamischen Prozesses sozialer Koordination, in dem die Individuen ständig unternehmerisch neue Informationen generieren (solche, die nie gegeben oder konstant sind). Die Individuen tun dies, während sie nach jenen Zielen und Mitteln Ausschau halten, die sie unter den gegebenen Umständen für relevant halten. Ohne es zu wissen, etablieren sie so den spontanen Prozess der Koordination. Anders als in der Welt der Physik und der Naturwissenschaften existieren in der Ökonomie keine funktionalen Relationen (also auch keine Funktionen von Angebot, Nachfrage, Kosten oder sonstiger Art). Wie wir wissen, beschreibt eine mathematische Funktion in der Mengenlehre, wie sich die Elemente oder Punkte zweier Mengen zueinander verhalten. Man spricht daher auch von Anfangsmenge und Endmenge. Wenn man davon ausgeht, dass der Mensch ein angeborenes Kreativvermögen hat, mit dem er ständig neue Informationen generiert und entdeckt, und zwar unter den jeweiligen Umständen, unter denen er unter Berücksichtigung seiner Ziele und der in seiner Reichweite gemutmaßten Mittel handelt, dann ist es offensichtlich, dass keines der folgenden

36 biblio­grafischen Referenzen in meinem Aufsatz „Crisis y método en la Ciencia Económica“ in Huerta de Soto (1994), S. 59–84, sowie Mises (1957), Hayeks „The Facts of Social Sciences“, in Hayek (1972), und Hayek (1952a). 39 Untertitel: Kritik an der Analyse des (allgemeinen und partiellen) Gleichgewichts und am Konzept der Ökonomie als reine Maximierungstechnik. 40 Mises nennt das Gleichgewicht eine „Evenly Rotating Economy“ und sieht in ihm eine gedankliche Konstruktion von strikt instrumentellem Wert, die nur zwei Probleme in unserer Wissenschaft leichter analysieren lasse: das Entstehen des unternehmerischen Gewinns in einem dynamischen Umfeld und die Beziehung zwischen Konsumgüterpreisen und den Preisen der Produktionsfaktoren, die zur Herstellung der Güter notwendig sind. In diesem Punkt würde ich sogar über Mises hinausgehen, da man m. E. das Entstehen unternehmerischer Gewinne und den Trend, die Preise der Produktionsgüter im Einklang mit dem diskontierten Wert ihrer Grenzproduktivität festzulegen, herleiten kann, ohne sich auf ein Gleichgewichtsmodell beziehen zu müssen. Man muss sich nur des dynamischen Prozesses bedienen, der zu dem hinführt, was Mises den „final state of rest“ nennt (und der niemals erreicht wird). Auf alle Fälle sollten wir betonen, dass das, was laut Mises die Österreichische Schule auszeichnet und ihren unsterblichen Ruhm begründet, in der Tatsache zu finden ist, dass sie eine Theorie der ökonomischen Handlung und nicht eine Theorie des ökonomischen Gleichgewichts, also der Nichthandlung, geschaffen hat.

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drei Elemente für eine funktionale Beziehung existieren muss. Das soll heißen: (1) Die Elemente der Anfangsmenge sind weder gegeben noch konstant. (2) Auch die Elemente, welche die Endmenge ausmachen, sind weder gegeben noch konstant. Aber der wichtigste Punkt ist (3): Auch die Beziehungen zwischen den Elementen der zwei Mengen sind weder gegeben noch konstant. Stattdessen variieren sie ständig als Folge der Handlung und kreativen Fähigkeit des Menschen.41 Wenn man in unserer Wissenschaft Funktionen nutzen will, dann muss man Konstanz zur Vorbedingung von Information erklären und den Protagonisten aus dem gesamten sozialen Prozess ausschließen: d. h. den Menschen, dem die kreative unternehmerische Fähigkeit angeboren ist. Mises’ großes Verdienst liegt darin, gezeigt zu haben, dass es durchaus möglich ist, die Wirtschaftswissenschaft vollständig logisch aufzubauen. Man braucht weder Funktionen noch Konstanzhypothesen, die der Natur des Menschen, und damit der des Protagonisten des zu erforschenden Gesellschaftsprozesses, zuwiderlaufen.42 Insofern zeigte sich, dass das ökonomische Problem im Grunde nicht technischer bzw. technologischer Natur ist, wie es die mathematischen Ökonomen im ­Rahmen des neoklassischen Paradigmas für gewöhnlich darstellen. Sie gehen davon aus, dass die Ziele und Mittel „gegeben“ und die restlichen Informationen konstant sind. Für sie ist das ökonomische Problem ein rein technisches Problem der Op-

41

„Es gibt im Bereich der Ökonomie keine konstanten Beziehungen, und folglich sind keine Messungen möglich.“ Mises (1966), S. 55. Wie wir bereits gesehen haben, ergibt auch das axiomatische Kriterium der Rationalität, das Samuelson und andere mathematische Ökonomen vorgeschlagen haben, keinen Sinn, da ein Akteur, der a gegenüber b und b gegenüber c bevorzugt, sehr wohl c vor a wählen kann, ohne irrational zu sein; ganz einfach, indem er seine Meinung von einem Moment auf den anderen ändert. 42 Die kritische Analyse des Gebrauchs der Mathematik in der Ökonomie findet sich unter Überschrift 5 in Kapitel XVI von Human Action und stellt einen der wichtigsten Teile des Buches dar. Mises’ Beiträge zu diesem Thema ähneln denen, die von einem anderen österreichischen Ökonomen, Hans Mayer, erarbeitet wurden, der nach Menger und Wieser als Professor für Ökonomie in Wien tätig war. Für Mayer war die neoklassische Theorie der mathematischen Preisbestimmung sinnlos, da sie unterstellt, dass ein Gleichungssystem simultan Informationen über Preise und Gütermengen integrieren könne, die eigentlich im Markt produziert werden. In der Realität handelt es sich um heterogene Größen, die niemals gleichzeitig in einer Gesellschaft gegeben sind, sondern stattdessen sequenziell während des Prozesses als Ergebnis bestimmter menschlicher Handlungen, die durch die unternehmerische Funktion angetrieben werden, entstehen. Hans Mayers wesentliche Arbeit ist die bereits erwähnte und später ins Englische übertragene Schrift „Der Erkenntniswert der funktionalen Preistheorien“, Mayer (1932, 1994). Die Mathematiker haben die Aufgabe, eine neue „Mathematik“ zu entwickeln, die in der Lage ist, die Analyse der kreativen Fähigkeiten des Menschen und deren Implikationen einzubauen, ohne die Hypothese der Konstanz zu verwenden, welche aus der Welt der Physik stammt und auf der alle bisherigen mathematischen Ausdrucksweisen basieren. Unserer Meinung nach ist die ideale Wissenschaftssprache zur Erfassung des Kreativvermögens genau jene Sprache, welche die Menschen spontan bei der täglichen Verrichtung ihrer unternehmerischen Funktion kreiert haben und in den Sprachen und Redewendungen der Welt von heute zum Ausdruck kommen.

Der Autor und sein Werk  

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timierung und Maximierung.43 Mit anderen Worten, das ökonomische Problem ist weder ein technisches Problem noch eines der Maximierung einer objektiven Funktion, die „bekannt“ oder konstant wäre und Einschränkungen unterläge, die ebenfalls „bekannt“ oder konstant wären. Es ist stattdessen strikt ökonomisch: Es entsteht, wenn es viele Ziele und Mittel gibt, die miteinander im Wettbewerb stehen, und das Wissen darüber weder bekannt noch konstant, sondern über die Köpfe unzähliger Menschen verstreut ist, die ständig ex novo neue Informationen kreieren und generieren. Deshalb können nicht alle möglichen existierenden Alternativen und alle, die in der Zukunft geschaffen werden, und auch nicht die relative Intensität, mit der die jeweiligen Ziele verfolgt werden, jemals gewusst werden. Vielleicht besteht Mises’ wichtigster und fruchtbarster Beitrag zur Wirtschaftswissenschaft genau darin, das Missverständnis, unsere Wissenschaft sei eine reine Maximierungstechnik, definitiv widerlegt zu haben.44

43 Ökonomische Probleme würden sich erübrigen und könnten durch rein technische Pro­ bleme ersetzt werden, wenn, wie Mises (1966), S. 206 f., sagt, eine Beziehung der vollkommenen Substituierbarkeit aller Produktionsfaktoren in den jeweiligen Proportionen existieren würde oder alle Produktionsressourcen spezifisch wären. Ansonsten sind alle Probleme ökonomisch, und zwar gemäß unserer Definition, die wir im Haupttext gegeben haben, es sei denn, man nähme mit den neoklassischen Ökonomen an, dass es Angebots- und Nachfragefunktionen sowie entsprechende Gleichgewichtspreise gibt. In dem Fall werden die ökonomischen Probleme, die sich in der Realität stellen, zu rein technischen Problemen der Maximierung verkürzt. 44 Die Wandlung von Mark Blaug, der die Modelle des allgemeinen Gleichgewichts und das statische neoklassisch-walrasianische Paradigma aufgegeben hat, hat für ein großes Staunen gesorgt. Blaug gestand: „Langsam und recht widerwillig bin ich zu der Auffassung gelangt, dass sie (die Österreichische Schule) richtig liegt und wir alle falsch.“ Siehe Blaug / de Marchi (1991), S. 508. Siehe auch Blaug (1988). Noch aktueller im Economic Journal (November 1993, S. 157). Und zum Versuch, das sozialistische System mit dem neoklassischen Paradigma zu verteiden, meinte er erst vor kurzem, es sei so naiv, dass man darüber lachen müsse. „Nur diejenigen, die von dem perfekten Wettbewerb der statischen Gleichgewichtstheorie berauscht waren, konnten so einen Unsinn wirklich glauben. Ich war einer von denen. In den 1950er Jahren habe ich als Student daran geglaubt und kann mich heute über meine Dummheit nur wundern.“ Man muss wohl kaum erwähnen, dass die neoklassische Analyse der „imperfekten Information“, die wir von George Stigler (1961) kennen, das Kreativvermögen des Menschen oder dessen tiefsitzende Ignoranz, die ihm die Analyse zuschreibt, gerecht werden kann, da angenommen wird, dass sowohl die zukünftigen Alternativen als auch die zukünftigen Ereignisse und deren Wahrscheinlichkeitsverteilung bekannt wären. Tatsächlich sind aber bei realen Prozessen menschlicher Interaktion nicht mal die möglichen Alternativen bekannt, ganz zu schweigen von der Verteilung der Wahrscheinlichkeiten (die unternehmerische Kreativität schafft ständig neue Optionen). Die neoklassische Theorie ist daher eine Karikatur des Konzeptes unternehmerischer Information im Markt. Obwohl beansprucht wird, dass die Modelle die unvollkommene Natur der Informationen berücksichtigten, hält man in Wirklichkeit an der Annahme fest, es gäbe hinsichtlich der vorhandenen Alternativen konstante und vollkommene Informationen (wenn auch nur im probabilistischen Sinne). Siehe dazu auch Kirzner (1979), Kapitel 8, S. 120–136.

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Eine kurze Biographie zu Ludwig von Mises Ludwig Edler von Mises wurde am 29. September 1881 in Lemberg geboren, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte. Heute heißt seine Geburtsstadt Lvew und gehört zur Ukraine. Ludwigs Vater hatte an der Polytechnischen Hochschule Zürich studiert und war ein einflussreicher Ingenieur, der sich auf den Bau von Eisenbahnen spezialisiert hatte. Ludwig war der älteste von drei Brüdern, von denen einer bereits im Kindesalter starb. Der andere, Richard, wurde ein bekannter Mathematiker und logischer Positivist. Ludwig hatte zeit seines Lebens ein eher distanziertes Verhältnis zu seinem Bruder. Am 20. Februar 1906 erlangte Ludwig von Mises den Doktorgrad in Rechtswissenschaften. Bis 1914 war er einer der herausragenden Teilnehmer im Ökonomieseminar, das Eugen von Böhm-Bawerk an der Universität Wien abhielt. Ein anderer Teilnehmer in jenem Seminar war Joseph Alois Schumpeter, den Mises als einen ausgesprochen konfusen und frivolen Theoretiker ansah, der in die Falle des neoklassischen Szientismus gelaufen war und dessen ständiger Wunsch es war, aufzufallen. 1906 begann Mises seine Lehraktivitäten. Zunächst war er sechs Jahre Lehrer für Ökonomie an der Wiener Handelsakademie für Mädchen. Ab 1913 wirkte er 20 Jahre lang als Professor an der Universität Wien. 1934 wurde er Professor für internationale Ökonomie am Institut des Hautes Études Internationales in Genf. Bei Ausbruch des 2. Weltkriegs floh er vor Hitler in die Vereinigten Staaten und nahm dort die amerikanische Staatsbürgerschaft an. An der Universität von New York erhielt er eine Professur, die er bis zu seiner Emeritierung 1969 innehatte. Von 1920 bis 1934 hielt Mises sein berühmtes Privatseminar ab. Man traf sich in seinem Büro in der Wiener Handelskammer. Mises war dort Leiter der Wirt­schaftsabteilung, was ihm einen großen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik seines Landes verschaffte. Nicht nur Mises’ Doktoranden besuchten dieses Seminar, das jeden Freitagabend stattfand. Auch viele renommierte Ökonomen aus aller Welt folgten der Einladung ins Seminar gern. Zu den regelmäßigen Teilnehmern (deutscher Sprache) zählten Friedrich A. von Hayek, Fritz Machlup, Gottfried von Haberler, Oskar Morgenstern, Paul N. Rosenstein-Rodan, Felix Kaufman, Alfred Schütz, Richard von Strigl, Karl Menger (Mathematiker und Sohn von Carl Menger, dem Gründer der Österreichischen Schule) und Erich Vögelin (Eric Voegelin). Aus England und den USA kamen unter anderem Lionel Robbins, Hugh Gaitskell, Ragnar Nurske und Albert G. Hart. In den Vereinigten Staaten führte Mises sein Seminar an der Universität von New York wieder ein. Zwischen Herbst 1948 und Frühjahr 1969 traf man sich jeweils donnerstagabends. Murray N. Rothbard und Israel Kirzner, die später Professoren werden sollten, ragten unter den zahlreichen Teilnehmern des neuaufgelegten Privatseminars heraus. Ludwig von Mises erhielt Ehrendoktorate von der Universität New York und – auf Vorschlag von Hayek – von der Universität Freiburg. 1962 erhielt er die Ehren­ medaille für Wissenschaft und Künste der Republik Österreich und 1969 wurde er zum Distinguished Fellow der American Economic Association ernannt. Er starb

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am 10. Oktober 1973 in New York und veröffentlichte zeit seines Lebens 22 Bücher und Hunderte von Aufsätzen und kleineren Schriften zu ökonomischen Themen.45 Mises war in der glücklichen Lage, ein langes akademisches Leben führen zu können. Es währte fast sieben Jahrzehnte. Schon zu Lebzeiten war Mises weltweit eine Berühmtheit. Henry C. Simons beschrieb ihn bereits 1944 als den größten lebenden Lehrer der Ökonomie.46 Der Nobelpreisträger Milton Friedman, ein positivistischer Ökonom der Chicagoer Schule, der nicht im Verdacht steht, irgendeine Sympathie für Mises’ theoretische Positionen zu pflegen, nannte ihn kurz nach seinem Tod 1973 einen der größten Ökonomen aller Zeiten.47 Ein anderer Nobelpreisträger der Ökonomie, Maurice Allais, beschrieb Mises als „einen Mann von ungewöhnlicher Intelligenz, dessen Beiträge zur Wirtschaftswissenschaft allesamt erstklassig waren.“48 Und Lord Robbins erinnert in seiner intellektuellen Autobiographie an Mises mit den Worten: „Ich verstehe nicht, wie jemand, der nicht durch politische Vorurteile vorbelastet ist, seine Beiträge und die meisterhafte Abhandlung Human Action lesen kann, ohne von der erlesenen Qualität und der hochgradigen geistigen Stimulanz ergriffen zu sein.“49

Die sukzessiven Auflagen von Human Action Obwohl Mises’ Human Action eine lange und profunde Abhandlung zur Wirtschaftspolitik und somit keine einfache Lektüre ist, wurde es für ein Buch dieser Art zu einem der bemerkenswertesten Verkaufserfolge. Bis auf den heutigen Tag wurde es insgesamt 25 mal herausgegeben. Die Zahl der Nachdrucke der vier aufein­ anderfolgenden Überarbeitungen, die der Autor zeit seines Lebens vorgenommen hat, ist ähnlich hoch. Bis heute wurden schätzungsweise über 150.000 Exemplare von Human Action verkauft.50 Das Buch wurde in 11 verschiedenen Sprachen 45 Die ultimative bibliographische Arbeit zu Mises haben Bettina Bien Greaves und Robert McGee unter dem Titel „Mises: An Annotated Bibliography“ veröffentlicht, Greaves / McGee (1993). Zu Mises’ Leben und intellektueller Entwicklung können wir neben seiner wertvollen Autobiografie, Mises (1978a), auch die Arbeiten von Murray N. Rothbard (1973b, 1987, 1988b) empfehlen. Andere sehr interessante Arbeiten sind die Biografie von Mises’ Frau Margit, Mises (1976), und das Glossar zu Human Action, das Percy L. Greaves (1974) verfasst hat. 46 Simons (1944). 47 Friedman (1974), S. 16. 48 Allais Wertschätzung ist besonders interessant, da sie von einem mathematischen Ökonomen stammt, der sich von Mises’ Methodologie weit entfernt hielt. Man sollte allerdings erwähnen, dass Allais von Anfang anerkannte, dass Mises’ Theorie zur Unmöglichkeit der sozialistischen Wirtschaftsrechnung wichtig war. Er hielt es auch für geboten, eine dynamische Theorie des sozialen Fortschritts im Ungleichgewicht aufzustellen. Siehe Allais (1994), S. 549–551 und S. 653–657, wo man mehr als fünf wörtliche Zitate von Mises findet. 49 Robbins (1971), S. 108. 50 Das ist eine vorsichtige Schätzung, bedenkt man, dass für jede englische Auflage 3.000 Exemplare und für die Auflagen in anderen Sprachen durchschnittlich 2.000 Exemplare gedruckt wurden.

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(Englisch, Deutsch, Italienisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Russisch, Japanisch, Chinesisch, Tschechisch und Koreanisch) übersetzt bzw. herausgegeben und ist eine der am häufigsten zitierten Abhandlungen, vor allem in Monographien und in Fachaufsätzen zu allgemeinen Wirtschaftsfragen, methodologischen Problemen der Wirtschaftswissenschaft und, natürlich, zur ökonomischen Analyse des Sozialismus. Im Folgenden wollen wir die wichtigsten der Auflagen von Human Action und deren Werdegang kurz beschreiben.

Nationalökonomie: der deutsche Vorläufer von Human Action Nationalökonomie: Theorie des Handelns und des Wirtschaftens51 ist die erste systematische ökonomische Abhandlung, die Mises schrieb. Sie kann als der direkte Vorläufer von Human Action angesehen werden. Sie entstand während der glücklichen Jahre, die Mises in Genf verbrachte, und wurde im Mai 1940 veröffentlicht. Aufgrund des Ausbruchs des 2. Weltkriegs hatte die Veröffentlichung wenig Einfluss auf die akademische Welt. Als Mises die erste Version seines Traktats schrieb, wollte er die ökonomische Theorie menschlichen Verhaltens systematisch und vollständig abhandeln, und zwar in einer Sprache, die jede gebildete Person verstehen konnte.52 Bisher hat es keine englische Übersetzung von Nationalökonomie gegeben. Dies ist aus akademischer Sicht bedauerlich, da das Buch in einigen wesentlichen Aspekten von Human Action abweicht. An sich gibt das Buch Nationalökonomie dem Forscher eine bessere Orientierung, da es mehr und ausführlichere Fußnoten enthält, die mehr Rückschlüsse zu jenen Quellen erlauben, die den Autor nachhaltig beeinflusst haben. Außerdem wurden ganze Abschnitte aus Nationalökonomie,

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Mises (1940), S. 756. „Mein Ziel beim Schreiben dieser Abhandlung war es, eine umfassende Theorie ökonomischen Verhaltens aufzustellen, die nicht nur die Ökonomie der Marktwirtschaft, sondern auch die aller anderen denkbaren Systeme gesellschaftlicher Kooperation, wie etwa Sozialismus, Interventionismus, Korporatismus usw., enthalten sollte. Ich hielt es auch für notwendig, mich mit all jenen Einwänden zu befassen, die aus unterschiedlichen Richtungen vorgebracht wurden, um die Gültigkeit des ökonomischen Denkens und die Richtigkeit der Methoden, die von den Ökonomen und Denkschulen bis dato verwendet wurden, zu hinterfragen. Nur eine derart umfassende Behandlung alle kritischen Einwände kann den anspruchsvollen Leser befriedigen und ihn davon überzeugen, dass die Ökonomie eine Wissenschaft ist, die Wissen enthält und in der Lage ist, Verhalten zu steuern. Diese Abhandlung ist rein wissenschaftlich und bestimmt kein populäres Buch. Da es allerdings keine technischen Begrifflichkeiten enthält, sondern nur solche, die genau definiert und erklärt werden, kann es von jedem gebildeten Mann verstanden werden.“ Ludwig von Mises schrieb diese Worte im Dezember 1944 an seinen amerikanischen Verleger Norman V. Davidson bei der Yale University Press. Das Zitat stammt aus Margit von Mises (1976), S. 105 f. 52

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die von großem Interesse sind, nicht in die englische Auflage von Human Action übernommen, etwa jene zur Kritik an Böhm-Bawerks Zinstheorie.53 Die Notwendigkeit, Mises’ Abhandlung wieder in der deutschsprachigen Welt verfügbar zu machen, führte 1980 zu weiteren Publikationen von Nationalökonomie, diesmal in Deutschland unter der Ägide der International Carl Menger Library.54 Zu dieser zweiten Auflage gab es in Österreich und Deutschland viele positive Rezensionen.55 Es folgte eine luxuriöse Faksimile-Ausgabe (Klassiker der Nationalökonomie), die zusammen mit einem von Peter J. Boetke, Kurt R. Leube und Enrico Colombato verfassten Vademecum erschien.

Englische Ausgaben von Human Action Die erste englische Auflage von Human Action veröffentlichte Yale U ­ niversity Press 1949 unter dem Titel Human Action: A Treatise on Economics. Sie ist ohne Zweifel das Opus Magnum von Ludwig von Mises. Mit ihm krönte er sein akademisches Schaffen. Wie bereits oben erwähnt, ist Human Action nicht einfach eine englische Übersetzung von Nationalökonomie. Nachdem Mises in den Vereinigten Staaten angekommen war, nahm er sich fünf Jahre Zeit für die Umarbeitung. Am Ende hatte er fast das ganze Buch neu geschrieben. Human Action wurde aus Anhieb ein großer Publikationserfolg. Die Erstausgabe, die in den USA und England gleichzeitig erschien,56 wurde in den folgenden zehn Jahren sechsmal wiederaufgelegt. 1963 veröffentlichte Yale University Press die zweite Auflage von Human ­Action. Mises hatte sie eigens überarbeitet und erweitert. Die wichtigsten Änderungen und Zusätze betreffen die Themen Freiheit und Regierung, die in Kapitel 15, Abschnitt 6, behandelt werden, sowie die Theorie des Monopols, die Thema des 6. Abschnitts von Kapitel 16 ist, und schließlich die Analyse der Korruption, die Abschnitt 6 in Kapitel 27 bildet. Mises war über die Anzahl der Errata und typographischen Fehler dieser Auflage sowie über das fahrlässige (wenn nicht gar betrügerische) Verhalten seines Verlags (Yale University Press)57 sehr verärgert und 53 Eben diesen Abschnitt auf den Seiten 439–444 der deutschen Auflage von Nationalökonomie hat Percy L. Greaves ins Englische übersetzt und in sein Buch, Greaves (1974), S. 150–157, übernommen. 54 Mises (1980). 55 Siehe u. a. die Rezensionen von Egon Tuchtfeldt (Neue Zürcher Zeitung, Nummer 207, 8. September 1981, Unsere Wirtschaft, Düsseldorf, August 1981), Wilhelm Seuss (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Dezember 1980) und Karl Graber (Die Presse, Wien, 23. November 1981). 56 Mises, Ludwig v.: Human Action: A Treatise on Economics, New Haven: Yale University Press, 1949, 889 Seiten plus Index. Die britische Auflage erschien ebenfalls 1949 mit gleichem Titel und Format, veröffentlicht von William Hodge in London. 57 Margit von Mises schildert die Kopfschmerzen, die Mises angesichts der Fehler in der zweiten Auflage von Human Action erlitt, sehr genau. Siehe Mises (1974), Kapitel 8.

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erwirkte alsbald ein Abkommen, das die Veröffentlichung einer dritten Auflage vorsah, in der alle Fehler der alten Auflage bereinigt wären. Die dritte Auflage von 1966 besorgte der Verleger Henry Regnery. Sie wurde zur Standardausgabe des Opus Magnum.58 Bis heute sind drei Neuauflagen der dritten englischen Ausgabe von Human Action erschienen. Die erste kam 1978 heraus, die zweite war die Luxusausgabe von 1985, und die dritte von 1990 war die erste Taschenbuchausgabe. Erwähnen sollte man auch, dass es eine englische Hörversion von Human Action gibt. Sie erschien ebenfalls 1990 und umfasst 30 Kassetten, aufgenommen von Bernard Mayes.59 Zuletzt sind noch drei bedeutende englische Neuauflagen zu nennen. Die erste ist die sorgfältig überarbeitete und 1996 erschienene vierte Auflage von Bettina Bien Greaves60, die zweite Neuauflage lehnt sich an die Originalausgabe von 1949 an. Gemeint ist die prachtvolle Scholar’s Edition von 1998, die den Professoren Jeffrey H. Herbener, Hans-Hermann Hoppe und Joseph T. Salerno61 zu verdanken ist. Die dritte im Bunde ist die vierbändige Auslage, die 2007 vom amerikanischen Liberty Fund herausgegeben wurde.

Übersetzungen von Human Action in andere Sprachen als Spanisch Der Erfolg von Human Action führte bald dazu, dass Übersetzungen des Buches in andere Sprachen herauskamen. Neben den jeweiligen Ausgaben der spanischen Übersetzung, die Thema des nächsten Abschnitts sein werden, wollen wir hier unter strikter Wahrung der chronologischen Reihenfolge auch die übrigen Übersetzungen erwähnen. Die erste von ihnen kam 1959 in Italien unter dem Titel L’Azione Humana: Trattato di Economia heraus. Sie ist den Anstrengungen von Tullio Bagiotti zu verdanken. Bagiotti, seines Zeichens Professor für Wirtschaftspolitik an der Mailänder Bocconi Universität, fügte der Ausgabe eine Einleitung hinzu, die eine kurze Biographie und einen Überblick zu Mises’ Werken enthält.62 58

Mises, Ludwig v.: Human Action: A Treatise on Economics, Chicago: Henry Regnery, 1966, 907 Seiten plus Index. 59 Mises, Ludwig v.: Human Action: An Abridged Audiotape Version, Ashland, OR: Classics on Tape, 1990, gelesen von Bernard Mayes. 60 Mises, Ludwig v.: Human Action: A Treatise on Economics, vierte überarbeitete Auflage, mit einem Vorwort von Bettina Bien Greaves, Irvington-on-Hudson: The Foundation for Economic Education, 1996. 61 Mises, Ludwig v.: Human Action: A Treatise on Economics, The Scholar’s Edition, mit einer Einführung von Jeffrey M. Herbener, Hans-Hermann Hoppe und Joseph T. Salerno, Auburn: Ludwig von Mises Institute, 1998. 62 Mises, Ludwig v.: L’Azione Umana: Trattato di Economia, Übersetzung und Vorwort von Tullio Bagiotti, Turin: Unione Tipografico-Editrice Torinese, in der Sammlung Sociologi ed Economisti, 1959, 861 Seiten. 1988 erschien ein Buch zu Ehren von Tullio Bagiotti, Studi in memoria di Tullio Bagiotti, Padua, 1988.

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Die erste Übersetzung von Human Action ins Chinesische erschien 1976 in zwei Bänden. Sie wurde von Professor Tao-Ping Hsia übersetzt, und zwar nach der dritten englischen Ausgabe von 1966. Hsias Übersetzung wurde von Professor Hui-Lin Wu später leicht revidiert und 1991 in Taiwan erneut veröffentlicht, ebenfalls in zwei Bänden.63 Die französische Übersetzung von Human Action erschien 1985 unter dem Titel L’Action humaine: Traité d’Économie. Auch sie wurde nach der dritten englischen Ausgabe übersetzt, und zwar von Raoul Audouin. Sie wurde unter Florin Aftalion als Band in die renommierte Reihe Libre Échange der Presses Universitaires de France aufgenommen.64 1987/88 erschien eine koreanische Übersetzung von Human Action. Auch sie basiert auf der englischen Auflage und wurde in zwei Bänden mit einem Vorwort von Professor Toshio Murata veröffentlicht.65 1990 erschien die portugiesische Übersetzung der dritten Auflage von Human Action in Brasilien unter dem Titel Açào humana: um tratado de economia. Herausgeber war das Instituto Liberal Rio de Janeiro.66 Der Übersetzer war Donald Stewart, Jr. Das hohe Niveau seiner Übersetzung sollte nicht unerwähnt bleiben. Allerdings ist seine Ausgabe schwerer zu lesen als manche andere, da er die fortlaufenden Fußnoten an das Ende eines jeden Kapitels gesetzt hat. 1991 kam eine japanische Übersetzung der dritten englischen Auflage von ­ uman Action heraus, und zwar unter dem Titel Ningen-Kõi-Gaku. Toshio ­Murata H hatte sie in jahrelanger Arbeit sorgsamst vorbereitet und schließlich herausgebracht. Murata war einer von Mises’ Studenten in New York, bevor er Ökonomieprofessor an der Universität von Yokohama wurde.67 Bei einem jesuitischen Priester hatte er Spanisch gelernt. Im 2. Weltkrieg wurde er zusammen mit der Generalität der 13. japanischen Armee im besetzten Shanghai stationiert. Dort war er unmittelbar Zeuge der Unmöglichkeit, eine florierende Marktwirtschaft mithilfe von Zwang zu organisieren (eine Praxis, die damals in diesem Teil von China üblich war). Er wurde auch Zeuge einer ernsthaften Hyperinflation, provoziert durch die 63

Die chinesische Übersetzung von Human Action, von Tao-ping Hsia, überarbeitet von Hui-Lin Wu, Taipei, Taiwan: Yuan Liu Publishing, 1991, bildet die Nummern 1 und 2 der Reihe „Famous Books of Libertarianism“. Der erste Band umfasst die Seiten 1–506, der zweite die Seiten 507–1074. 64 Mises, Ludwig v.: L’action humaine: Traité d’économie, Übersetzung von Raoul Audouin, Paris: Presses Universitaires de France, Januar 1985, 942 Seiten. Raoul Audouin hat auch Hayeks Hauptwerke ins Französische übersetzt, etwa La Présomption fatale: Les Erreures du socialism, Presses Universitaires de France, Paris, 1988 und La Constitution de la liberté, Paris: Litec, 1994. Letzteres Werk wurde in Zusammenarbeit mit Professor Jaques Garello ins Französische übertragen. 65 Human Action, ins Koreanische übersetzt und von Kyung Mun Sa Publishing Co. in Seoul herausgegeben: Band I, 1987 (Kapitel 1–19, 519 Seiten) und Band II, 1988, (Kapitel 20–39, 459 Seiten), beide mit einem Vorwort von Toshio Murata. 66 Mises, Ludwig v.: Açào humana: um tratado de economia, übersetzt ins Portugisische von Donald Stewart, Jr., Rio de Janeiro: Instituto Liberal, 1990, 972 Seiten plus Index. 67 Mises, Ludwig v.: Ningen-Kõi-Gaku, Tokio: Shunjü Sha, 1991, 995 Seiten plus Index.

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Geldpolitik der Besatzer. Durch diese Probleme kam er in Kontakt mit den ökonomischen Theorien von Mises, deren Erforschung und Verbreitung er sich während seines gesamten akademischen Lebens in Japan gewidmet hat. Zu guter Letzt: Weihnachten 2000 erschien die erste russische Übersetzung von Human Action in Moskau. Sie ist A. B.  Kuriaev zu verdanken (Economic ­P ublishers). Die erste tschechische Auflage wurde dank Professor Josef Sima 2007 veröffentlicht.

Die acht spanischen Auflagen von Human Action Die Geschichte der acht spanischen Auflagen von Human Action kann man nur verstehen, wenn man mehr über ihren Übersetzer Joaquín Reig Albiol weiß. Joaquín Reig promovierte in Jura am 15. Februar 1958. Der Titel seiner Doktorarbeit lautete Loss modernos problemas sociales alla luz del ideario ecónomico de Ludwig von Mises. Seine Dissertation (Doktorvater war Jesús Prados Arrarte, Professor für Wirtschaftspolitik an der Rechtsfakultät der Madrider Universität Complutense) war die erste spanische Monographie zu der erst wenige Jahre zuvor in den USA erschienenen Erstausgabe von Human Action.68 Zwei Jahre später erschien die erste spanische Version von Human Action, die Joaqúin Reig Albiol nach der ersten, 1949 erschienenen englischen Auflage von Human Action übersetzt hatte. Herausgeber der zweibändigen spanischen Ausgabe war die Fundación Ignacio Villalonga de Valencia.69 Mit einer ausführlichen Einführung (auf den Seiten 26 bis 62 von Band 1) stellt Joaquín Reig Mises’ Werk der spanischen Leserschaft vor.

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Die Dissertation wurde mit „cum laude“ bewertet. Mariano Puigdoller Oliver war Vorsitzender der Prüfungskommission, der außerdem die Professoren Nicolás Pérez Serrano, Juan del Rosal Fernández, José María Naharro Mora und Gaspar Bayon Chacón angehörten. Als kleine Anekdote mag man an dieser Stelle erwähnen, dass damals in Spanien unter General Franco Zensur üblich war. Mit Datum vom 25. April 1958 teilte das Generaldirektorium für Informationen, das dem Ministerium für Kommunikation und Tourismus unterstellt war, offiziell mit, dass vor Veröffentlichung der Doktorarbeit die Seiten 62–65, 72–78, 96–125 und 142–197 zu streichen seien. Außerdem forderte man eine Zustellung der Neuauflage, in der die Streichungen nachzuweisen waren. 69 Mises, Ludwig v.: La acción humana: Tratado de Economía, Fundación Ignacio Villalonga, Valencia, 1960, Band I und II. Ich besitze ein Exemplar, das von der Zensurbehörde bearbeitet wurde. Es enthält Anweisungen, bestimmte Paragrafen zu streichen, die das Franco Regime, die damaligen Machthaber in Spanien, als gefährlich einstufte. Die Stiftung wurde von dem Unternehmer Ignacio Villalonga gegründet, der in seiner Jugend Vertreter von Francesc Cambós Lliga Regionalista war und später als einer der Ersten die schwierige Aufgabe in Angriff nahm, unter Franco eine großartige Reihe von Büchern über Libertarianismus, Demokratie und Marktwirtschaft zu veröffentlichen. Joaquín Reig Albiol leitete die Reihe in den 1960er Jahren. Siehe dazu „Ignacio Villalonga: Semblanza de un político, banquero y liberal“, Kapitel 15 in Huerta de Soto (2002), S. 379–394.

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Acht Jahre später folgte die zweite spanische Auflage von Human Action, diesmal als ein Band, herausgegeben von Editorial Sopec. Diesmal folgte die Übersetzung der dritten englischen Auflage von 1966. Wie schon die erste Ausgabe, so enthielt auch die neue Auflage eine spanische Einleitung von Joaquín Reig. Mit nur 3 Seiten fiel sie allerdings sehr viel kürzer aus als beim ersten Mal.70 In den 1970er Jahren übernahm Unión Editorial die spanischen Neuauflagen von Mises’ Werken. Die dritte Auflage von Human Action erschien 1980.71 Sie besaß eine hohe Qualität und überzeugte mit einer exzellenten Typographie. Neben einem kurzen Vorwort des Übersetzers enthielt sie eine Reihe von Fußnoten, in denen Joaquín Reig dem Leser all jene Teile des Buches erklärte, die am komplexesten bzw. am schwersten zu verstehen waren. Er orientierte sich dabei weitgehend am englischen Glossar, das Percy Greaves 1978 nachgereicht hatte. Die Auflage von 1980 war schnell ausverkauft. Ihr folgte 1985 die vierte Auflage, ebenfalls herausgegeben von Unión Editorial.72 Zehn Jahre später, im November 1995, brachte Unión Editorial die fünfte spanische Auflage von Human Action heraus. Sie enthielt eine sorgfältig über­a rbeitete und korrigierte Übersetzung. Da der ursprüngliche Übersetzer Joaquín Reig Albiol 1986 gestorben war, konnte er nicht mehr an ihr mitarbeiten. Sie hielt sich weitgehend und respektvoll an ihre Vorgängerin und führte vor allem ein paar Vereinfachungen bzw. neue Fachbegriffe ein, die inzwischen Standard in der Wirtschaftswissenschaft geworden waren. Gleichzeitig behielt man die wichtigs­ten Anmerkungen von Joaquín Reig aus den vorangegangenen Auflagen bei. Der Literaturapparat wurde um spanische Bibliographieangaben ergänzt, und ich steuerte

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Mises, Ludwig v.: La acción humana: Tratado de Economía, zweite spanische Auflage, Madrid: Editorial Sopec, 1968, übersetzt von Joaquín Reig Albiol, 1066 Seiten. Das ist die Auflage, die ich vor mehr als 35 Jahren zum ersten Mal gelesen habe, als ich mein Studium der Volkswirtschaft an der Universität Complutense in Madrid aufnahm. 71 Andere wichtige Bücher von Mises, die ins Spanische übersetzt und von Unión Editorial veröffentlicht wurden, sind Burocracia, übersetzt von Dalmacio Negro Pavón, Madrid: Unión Editorial, 1974; Teoría e Historia, übersetzt von Rigoberto Juárez Paz, Madrid: Unión ­Editorial, 1975 und 2003; Sobre liberalismo y capitalismo – eine Reihe von Essays, in der auch Liberalism (dritte Auflage) enthalten ist, The Anticapitalist Mentality (zweite Auflage) sowie Six lessons of Capitalism (zweite Auflage), Madrid: Unión Editorial, 1995; La teoría del dinero y del crédito, Madrid: Unión Editorial, 1997; Socialismo – Análisis económico y sociológico, Madrid: Unión Editorial, 2003; Critica del Intervencionismo, übersetzt von Jesús Gómez Ruiz, Madrid: Unión Editorial, 2001; Autobiografía de un liberal, Madrid: Unión Editorial, 2001; und Gobierno omnipotente, übersetzt von Pedro Elgobar, Madrid: Unión Editorial, 2002. 72 Mises, Ludwig v.: La acción humana: Tratado de Economía, Madrid: Unión Editorial, 1980, dritte Auflage, 1302 Seiten; vierte Auflage 1985, 1302 Seiten. Es handelt sich um die Ausgaben, die von meinen Studenten als Lehrbücher während der letzten 15 Jahre benutzt wurden, in denen ich Wirtschaftspolitik an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Complutense in Madrid gelehrt habe. Die nachfolgenden Auflagen ab dem Jahr 2000 wurden an meinem Lehrstuhl an der Universität Rey Juan Carlos benutzt.

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der Ausgabe eine ausführliche Einleitung bei. Die überarbeiteten und korrigierten Auflage 6 und 7 erschienen 2001 bzw. 2004. Inzwischen können die Leser auf eine achte spanische Auflage von Human Action zurückgreifen. Auch sie wurde überarbeitet und aktualisiert. Ich sollte diesen Abschnitt nicht beenden, ohne vorher anzumerken, dass Ludwig von Mises in den spanisch sprechenden Ländern immer hohes Ansehen genoss. Nicht nur, dass es mehr spanische Auflagen von Human Action als Auflagen in anderen Sprachen bzw. Ländern gibt (mit Ausnahme der USA). Hinzu kommt auch, dass Mises viele akademische Reisen in verschiedene lateinamerikanische Länder (Mexiko, Peru und Argentinien) unternahm. Dort stellte er seine Ideen an den wichtigsten Universitäten vor und schuf so eine stattliche Anzahl von Anhängern und Forschern seines Werks. Betonen sollte man auch, dass Mises im Vorwort zur dritten englischen Auflage keiner anderen spanisch sprechenden Person für deren Hilfe bei der Abfassung seiner Abhandlung dankt als Dr. Joaquín Reig Albiol.73

Der Impuls von Human Action auf die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaft Wenn etwas für Mises’ Abhandlung zur Ökonomie charakteristisch ist, dann ihre bahnbrechende Natur. Wie wir bereits festgestellt haben, ist praktisch jeder Paragraph seines Buches voller Ideen und Vorschläge, die Ausgangspunkt einer Doktorarbeit sein könnten. Insofern überrascht es nicht, dass Human Action seit seiner Erstveröffentlichung einiges zu den wichtigen Fortschritten im Bereich der Wirtschaftswissenschaft beigesteuert hat. Im Folgenden werden wir kurz die Themenfelder erörtern, in denen die interessantesten Verbesserungen statt­gefunden haben.

73 Wie Margit von Mises in ihrer Biographie ihres Ehemanns hervorhebt, kamen die glühendsten Leser und Verehrer immer aus spanisch sprechenden Ländern. „Mir scheint, als ob die Sehnsucht nach Freiheit in den Ländern am größten ist, die am meisten unterdrückt sind.“ Margit von Mises (1974), S. 109. Die wesentlichen akademischen Reisen, die Ludwig von Mises nach Lateinamerika unternahm, waren folgende: 30. Juli–28. August 1949 zur wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Mexiko; vom 31. März–16.  April 1950 an die Universität von Peru, unter der Schirmherrschaft der peruanischen Zentralbank; vom 19.–28. September 1958 wieder nach Mexiko unter der Schirmherrschaft des Instituto de Investigaciones Sociales y Económicas; und schließlich die wichtige Reise vom 2.–15. Juli 1959 an die Universität Buenos Aires unter der Schirmherrschaft des Centro de Estudios para la Libertad. Die Vorträge, die er auf dieser Reise hielt, wurden transkribiert und erschienen 1979 bei Henry Regnery als Economic Policy: Thoughts for Today and Tomorrow.

Der Impuls von  Human Action

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Mises und die Evolutionstheorie Obwohl Mises die auf Carl Menger zurückgehende evolutionäre Theorie der Institutionen zweifellos akzeptiert und seine vorbehaltlose Zustimmung zu derselben gleich an mehreren Stellen seiner Abhandlung zugestanden hat,74 sollte man nicht übersehen, dass Human Action eine Reihe von Anmerkungen enthält, die fälschlicherweise als Ausdruck eines übertriebenen und strikt utilitaristischen Rationalismus gedeutet werden können. Mises lobt z. B. auf Seite 175 von Human Action Bentham und dessen utilitaristische Doktrin über die Maßen und auf den Seiten 188 und 500 lesen wir, dass „jede existierende Sozialordnung durchdacht und gestaltet wurde, bevor sie umgesetzt werden konnte,“ und dass „Gesetze nicht das Ergebnis von Gelegenheiten, historischen Zufällen und geographischen Gegebenheiten waren. Sie waren das Produkt der Vernunft.“ Obwohl man diese Sätze von Mises sicherlich nicht aus ihrem Kontext reißen kann, ist es doch offensichtlich, dass es Human Action nicht gegeben war, den wichtigen Impuls voll zu entfalten, den die evolutionäre Theorie der Institutionen später durch den brillantesten Schüler von Mises erfahren hat. Gemeint ist der Nobelpreisträger der Ökonomie von 1974 Friedrich August von Hayek. Hayek trieb das Forschungsprogramm, das Carl Menger im Bereich der Institutionen initiiert hatte, weiter voran und zeigte, wie Institutionen im Allgemeinen, verstanden als wiederkehrende Verhaltensmuster, und Gesetze im Speziellen sich spontan und über einen längeren Zeitraum hinweg und unter Einbindung vieler Generationen entwickeln – weit davon entfernt, von der menschlichen Vernunft eigens entworfen zu sein. Daher halten wir es für angebracht, das Studium von Human Action mit dem sorgfältigen Lesen der wichtigsten Arbeiten, die Hayek der theoretischen Analyse gesellschaftlicher Institutionen gewidmet hat, zu verbinden. Unter diesen ragen Law, Legislation and Liberty und Hayeks letztes Werk heraus, das wenige Jahre vor seinem Tod 1992 erschien, nämlich The Fatal Conceit: The Errors of Socialism.75

74

Siehe S. 405–408 und insbesondere S. 264–267, wo Mises explizit schreibt, dass die Marktwirtschaft das Ergebnis eines langen evolutionären Prozesses sei. Auf Seite 33 erklärt Mises, warum die aprioristische Natur der Denkkategorien mit der Theorie der Evolution vollkommen kompatibel ist und auch mit der These übereinstimmt, die Hayek ausführlich in seinem Buch The Sensory Order dargelegt hat, Hayek (1952b). Eingedenk dieser Abschnitte aus Human Action ist Hayeks Kritik an Mises’ utilitaristischem Rationalismus vielleicht etwas übertrieben. Siehe Hayeks Vorwort zu Mises (1981b), S. xxiii f., sowie Huerta de Soto (1994), S. 114 f. 75 Hayek (1973–1979), und Hayek (1988).

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Die Theorie des Naturrechts In den kritischen Bemerkungen zur Naturrechtsdoktrin, die wir in Human ­Action finden, kommt Mises’ Position dann klarer zum Ausdruck. Erstens führt er aus, dass die Prinzipien moralischen Verhaltens rein subjektiv seien.76 Zweitens verteidigt er eine rein utilitaristische Einstellung zu den Prinzipien der Moral,77 während er die Naturrechtsdoktrin kritisiert.78 Wie auch immer, viele Wirtschaftstheoretiker halten die Analyse moralischer Prinzipien im Allgemeinen und des Naturrechts im Besonderen für geboten; so z. B. Murray N. Rothbard, einer von Mises’ brillantesten Schülern. Er spricht sich klar zugunsten des Naturrechts aus und glaubt, moralische Prinzipien besäßen eine objektive Gültigkeit, die durch das Wesen der menschlichen Natur bestimmt sei. Daher seien sie die einzigen Prin­ zipien, die den gesellschaftlichen Prozess der Koordination ermöglichen würden.79 Ähnlich sieht es Hans-Hermann Hoppe. Er schließt sich Rothbard an und nutzt das habermassche Axiom interpersonaler Argumentation als Ausgangspunkt. Von ihm leitet er logisch ab, dass sowohl Eigentumsrechte als auch das kapitalistische System moralisch notwendig seien.80 Der Letzte in der Reihe ist Israel M. Kirzner. Sein Konzept der kapitalistischen Verteilungsgerechtigkeit gesteht jedem Mensch das natürliche Recht zu, das Ergebnis seiner unternehmerischen Kreativität zu ­behalten.81 Unseres Erachtens ist es auf alle Fälle sowohl möglich als auch ratsam, eine Synthese aus den drei Sichtweisen zu bilden; eine Kombination aus der ­rational-utilitaristischen Position von Mises, der evolutionären Sicht von Hayek und der von Rothbard und Hoppe geschürten Naturrechtsposition, die eine ­objektive Theorie gesellschaftlicher Moralität als gegeben annimmt. Jede dieser drei Positionen hat ihr eigenes Anwendungsfeld und bereichert bzw. vervollständigt die beiden anderen, wodurch sie die möglichen Überspitzungen derselben verhindert.82

76

Mises (1966), S. 95. „Die moralischen Vorschriften und Gesetze eines Landes sind Mittel, mit denen die Menschen bestimmte Ziele anstreben.“ Mises (1966), S. 761. 78 Mises (1966), S. 175, sowie Kapitel 27, Abschnitt 3. 79 „Eigentlich sagt uns die Ökonomie, dass nicht moralische Prinzipien subjektiv sind, sondern Nutzen und Kosten.“ Rothbard (1982), S. 202. 80 Siehe Hoppe (1989), insbesondere Kapitel 7, S. 127–144; und Hoppe (1993b), Kapitel 8–10, S. 173–208. 81 Siehe Kirzner (1989). 82 Ich entfalte meine dreistufige Theorie (theoretisch, historisch-evolutionär und moralisch) zur Analyse der gesellschaftlichen Realität in Huerta de Soto (1994), Kapitel VIII, S. 105–110. Siehe auch Kapitel 3 im vorliegenden Buch. 77

Der Impuls von  Human Action

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Der Unterschied zwischen praktischem Wissen und wissenschaftlichem Wissen Besonders bahnbrechend in Human Action ist die Einführung in das Konzept des praktischen Wissens83 unternehmerischer Natur, das sich vom wissenschaftlichen Wissen wesentlich unterscheidet. Andere Autoren haben Mises’ äußerst fruchtbare Idee später aufgegriffen, sehr tiefschürfend erforscht und eine detaillierte Analyse der Unterschiede der beiden Wissensformen und deren Implikationen für die Wirtschaftswissenschaft nachgereicht. Ich für meinen Teil habe Mises’ Idee der Marktentwicklung mit der Idee der „intellektuellen Arbeitsteilung“ verknüpft.84 Mit letzterer meine ich, dass die Informationen bzw. das praktische Wissen, das eine offene Gesellschaft zunehmend generiert, aufgeteilt ist.85

Die Monopoltheorie Einer der Bereiche der Volkswirtschaftslehre, in der sich unter dem Einfluss von Mises’ Human Action eindeutig Fortschritte ergeben haben, ist die Monopoltheorie. Obwohl Mises in Human Action mit seinem Versuch, den statischen Rahmen  – der auch heute noch die Analyse von Wettbewerb und Monopolen prägt  – zu sprengen, Pionierarbeit geleistet hat, hat dieser Rahmen bei einigen seiner Überlegungen doch deutliche Spuren hinterlassen. Zum Glück haben zwei seiner brillantesten Schüler in den Vereinigten Staaten, nämlich Israel M. Kirzner und Murray N. Rothbard86, der Monopoltheorie einen großen Vorwärtsschub verschafft, indem sie ihre Analyse auf die Erforschung dynamischer Wettbewerbsprozesse konzentriert haben. D. h., sie fragten danach, ob die freie Ausübung der unternehmerischen Funktion durch Gewalt verhindert werde, und nicht danach, wie groß die Anzahl der in jedem Sektor existierenden Unternehmen sei und wie die Elastizität ihrer vermeintlichen Nachfragekurven aussehe. Rothbard weist auch auf einen Schwachpunkt der neoklassischen Monopoltheorie hin. Dieselbe besagt, dass es bei der Analyse um den statischen Vergleich zwischen Monopolpreis und Wettbewerbspreis gehe. Der Preis im perfekten Wettbewerb ist aber ein Gleichgewichtspreis, der auf einem realen Markt niemals existiert. Er kann auch nicht gewusst werden und deshalb auch nicht als Referenzpunkt dienen, um in der Praxis zu entscheiden, ob eine Monopolsituation vorliegt. Man sollte hervorheben, dass Mises nicht mehr erlebte, wie diese Studien – die sein Werk in gewisser Weise ver-

83

Mises meint mit praktischem Wissen ein bestimmtes Erahnen der Bedingungen einer unsicheren Zukunft, das sich Regeln und Systematisierungen widersetzt und weder gelehrt noch erlernt werden kann. Siehe Mises (1966), S. 585. Siehe auch Huerta de Soto (1992), S. 52–85. 84 Mises (1966), S. 709. 85 Siehe Huerta de Soto (1992), S. 80 ff. 86 Rothbard (1970a), Kapitel 10, S. 560–666, sowie Kirzner (1973), Kapitel 3, S. 88–134.

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vollständigt haben – aufblühten. Glücklicherweise haben wir Hinweise, die nahelegen, dass er den neuen Theorieentwicklungen ganz und gar zugestimmt hätte.87

Der Sozialismus und die Theorie des Interventionismus Was Mises’ Denkweise ebenfalls charakterisiert, ist, dass er das sozialistische und das interventionistische Wirtschaftssystem theoretisch klar voneinander trennt.88 Für Mises ist der Sozialismus jedes System sozialer Organisation, in dem die Produktionsmittel öffentliches Eigentum sind. Der Interventionismus will indes ein Kompromisssystem sein. Dort interveniert der Staat mit Zwang in diversen Wirtschaftsfeldern, lässt aber, so Mises, wo es unentbehrlich ist, Reste betriebswirtschaftlicher Kalkulation zu. Theoretische Studien der letzten Jahre haben gezeigt, dass die Unterschiede zwischen einem interventionistischen und einem sozialistischen Regime sehr viel geringer sind, als Mises dachte. Beide zeichnen sich durch gewaltsame Staatseingriffe aus, welche die freie Ausübung der unternehmerischen Funktion in unterschiedlichem Maße behindern. Dennoch stimmt es, dass es erhebliche graduelle Unterschiede zwischen den beiden Systemen gibt. Wie auch immer, dort, wo der Staat gewaltsam interveniert, ist die unternehmerische Schöpfung von Informationen und somit die Einschätzung unterschiedlicher Handlungsalternativen (ökonomische Wirtschaftsrechnung), sehr viel schwieriger geworden. In der Folge ist es zu erheblichen sozialen Unordnungen und Fehlkoordinationen im Markt gekommen. Insofern gibt es gegenwärtig einen Trend, institutionelle Zwänge als Ganzes zu behandeln, da die perversen Folgen der Fehlkoordination bei beiden Systemen nachweislich qualitativ gleich ausfallen (unabhängig davon, ob sie, wie im Fall des real existierenden Sozialismus, allumfassend sind oder, wie im Falle des Interventionismus, nur in bestimmten Bereichen auftreten).89 87

Margit von Mises erzählt uns in der Biographie über ihren Ehemann: „Joaquin Reig sprach mit Ludwig von Mises während des Treffens der Mont Pèlerin Society 1965 in Stresa über Monopole und Rothbards Man, Economy, and State, das 1962 erschienen war. Reig machte Ludwig darauf aufmerksam, dass Rothbard, einer von Ludwigs fähigsten und glühendsten Schülern, nicht vollständig mit Ludwigs Analyse der Monopole übereinstimmte. Ludwig antwortete, dass er jedes Wort, das Rothbard in seiner Studie geschrieben habe, unterschreiben könne. Reig erzählte mir, dass dies ein sehr großzügiges Zugeständnis von Ludwig von Mises gewesen sei. Zuzugeben, dass einer seiner Studenten eine seine Ideen besser als er selbst erfasst hätte, habe seine Wertschätzung für ihn ins Unermessliche steigen lassen.“ Margit von Mises (1976), S. 158. Auch an anderer Stelle gestand Mises einen Fehler ein – ein Beleg für die große Bescheidenheit und den intellektuellen Großmut, die ihn vom arroganten Gebahren vieler moderner Autoren abheben. Wir finden die Stelle auf S. 786 von Human Action, wo er sich auf den Goldstandard (im vom Staat kontrollierten Teilreservesystem) bezieht. Mises bedauert es, nicht von Anfang an gesehen zu haben, dass dieses System dem Staat es sehr einfach macht, die Geldmenge nach Belieben zu manipulieren: „In der Auseinandersetzung um den Goldstandard haben alle Ökonomen – der Autor dieses Buches eingeschlossen – die Tatsache verkannt, dass er dem Staat die Macht in die Hand gibt, die nationale Währung ganz leicht zu manipulieren.“ 88 Z. B. auf S. 258 f. 89 Siehe Kapitel 4 im vorliegenden Buch.

Der Impuls von  Human Action

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Die Kredittheorie und das Bankensystem In Human Action spricht Mises sich für ein vollständig freies Bankensystem aus. Es biete den bestmöglichen Weg zu einem stabilen Geldsystem und bewahre freie Marktwirtschaften vor ökonomischen Krisen. Auch wenn er in Human ­Action nicht ausdrücklich auf den Vorschlag eingeht, die 100-prozentige Deckung für Einlagen wieder einzuführen, so verteidigt er diese Idee jedoch explizit in seinen übrigen Werken.90 Die Position, die Mises in Human Action einnimmt, führte dazu, dass sich die späteren Theoretiker der Österreichischen Schule in zwei große Gruppen aufteilten. Auf der einen Seite stehen jene, die für ein System des vollständig freien Bankgeschäfts eintreten, selbst wenn es ein Teilreservesystem verwenden sollte. Dieser Gruppe gehören Lawrence White, George Selgin, Kevin Dowd und andere an. Die zweite Gruppe, im Gefolge von Murray N. Rothbard, Hans-­ Hermann Hoppe, Joseph T. Salerno und dem Autor des vorliegenden Aufsatzes, zieht es vor, für traditionelle Rechtsprinzipien im Bankgeschäft zu plädieren und an der Bedingung einer 100-prozentigen Reserve für Sichteinlagen festzuhalten. Die 100-prozentige Reserve sei eine notwendige Voraussetzung dafür, dass das Gesamtsystem freier Banken korrekt funktioniere.91

Die Bevölkerungstheorie Eine bedeutsame Entwicklung hat auch die Populationstheorie genommen. Was sie angeht,92 so ist Mises’ Analyse immer noch zu stark von Malthus’ Doktrin geprägt. Nichtsdestotrotz führt er ausdrücklich aus, dass ein Bevölkerungswachstum in einer Marktwirtschaft keinen ökonomischen Rückschritt darstelle, sondern den Wohlstand mehre und einen enormen Einfluss auf die Entwicklung der Zivilisation

90

Vier Jahre nach der Veröffentlichung der ersten Auflage von Human Action schlussfolgerte Mises, am wichtigsten sei, dass der Staat die umlaufende Geldmenge nicht erhöhen könne und die Summe des Scheckgeldes zu 100 % durch die Einlagen gedeckt sei. Mises (1981a), S. 481 und 491. 91 Die wichtigste Literatur der genannten Autoren kann man in Kapitel 10 des vorliegenden Buches nachschlagen. Man sollte betonen, dass Mises und die Ökonomen der Österreichischen Schule ein freies Bankwesen mit einer 100-prozentigen Reserve aus anderen Gründen bevorzugen als die Theoretiker der Chicagoer Schule, die auch eine 100-prozentige Deckung für Bankeinlagen fordern. Letztere begründen damit die Notwendigkeit einer für das Geldangebot verantwortlichen, monopolistischen Zentralbank. Wenn sie eine 100-prozentige Reservehaltung fordern, dann deshalb, weil diese die Geldpolitik der Regierungen einfacher und deren Effekte vorhersehbarer mache. Im Gegensatz dazu verteidigen die Österreichischen Ökonomen die vollkommene Abwesenheit staatlicher Interventionen in die Geld- und Kreditbereiche und die Reprivatisierung des Bankensystems mit einer 100-prozentigen Reserve und einer Währung, die sich abhängig vom evolutionären Prozess im Markt behaupten soll. Siehe Huerta de Soto (2011b). 92 Mises (1966), Kapitel 25, Überschrift 2.

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nehme.93 Diese bahnbrechende Idee hat später Friedrich August von Hayek aufgegriffen und in seinem Buch Die verhängnisvolle Anmaßung: Die Irrtümer des Sozialismus weiterentwickelt. Dort argumentiert er, der Mensch sei kein homo­ gener Produktionsfaktor, sondern verfüge über ein angeborenes unternehmerisches Kreativvermögen. Das Bevölkerungswachstum sei daher – weit davon entfernt, die ökonomische Entwicklung aufzuhalten – sowohl Motor als auch notwendige Bedingung dafür, dass wirtschaftliche Entwicklung überhaupt stattfinden könne. Es hat sich auch gezeigt, dass die Entwicklung der Zivilisation ein ständiges Wachsen horizontaler und vertikaler Trennung praktischen Wissens impliziert, das nur möglich ist, wenn im Zuge einer voranschreitenden Zivilisation auch die Anzahl der Menschen wächst, die in der Lage sind, die zunehmende Menge praktischer Informationen, die auf gesellschaftlicher Ebene genutzt werden, zu unterstützen.94 Hayeks Ideen wurden wiederum von anderen Forschern – wie z. B. Julian L. ­Simon – weiterentwickelt und auf die Theorie vom demographischen Wachstum in Ländern der Dritten Welt oder auf die Analyse vorteilhafter Wirtschaftseffekte, die mit der Immigration einhergehen, appliziert.95

Human Action als Vorläufer der Public-Choice-Schule Ludwig von Mises war einer der wichtigsten Vorläufer der Public-Choice-Schule, die mit Hilfe ökonomischer Analysen das wechselseitige Verhalten von Politikern, Bürokraten und Wählern erforscht. Die von Theoretikern wie James M. ­Buchanan (Nobelpreisträger für Ökonomie 1986) geprägte Schule hat i­nzwischen eine sehr hohes Entwicklungsstadium erreicht und passt perfekt zum breiten praxeolo­ gischen Ansatz der Ökonomie, der von Mises entwickelt wurde. Mises sah es als Ziel unserer Wissenschaft an, eine allgemeine Theorie zum menschlichen Verhalten in all seinen Verschiedenheiten und Zusammenhängen (also auch im politischen Handeln) aufzustellen. Mises gehörte zu den Ersten, die an der traditionellen Annahme in Politik- und Wirtschaftstheorie kritisierten, sie stelle die Staatslenker stets als „allwissend und unparteiisch“ dar und lasse die Staatsdiener, die Beamten und Bürokraten, wie engels­gleiche Kreaturen aussehen. Für Mises ist „der Politiker immer egoistisch, egal ob er ein populäres Programm unterstützt, um ein Amt zu erhalten, oder ob er fest an seine Überzeugungen glaubt.“ Und „dummerweise sind die Amtsinhaber

93 „Solange es einen ungehinderten Kapitalismus gibt, wird es keine Armut in dem Sinne geben, wie man sie in nicht-kapitalistischen Wirtschaftsformen kennt. Das Wachsen der Bevölkerung kreiert keine überschüssigen Münder, sondern zusätzliche Hände, die zusätzlichen Wohlstand schaffen.“ Mises (1966), S. 836. 94 Siehe Hayek (1988), S. 120–134, und Huerta de Soto (2013). 95 Simon (1989, 1994).

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und ihre Mitarbeiter keine Engel.“96 Anders als das idyllische Bild vom Staats­ lenker, der ebenso wohlwollend wie weise ist und sich voll und ganz der Förderung des nachhaltigen Wohlstands seiner Untergebenen verschrieben hat, präsentiert Mises ein Bild vom realen Staatslenker, der sich als einfacher Sterblicher entpuppt und zunächst einmal um die Wahrung der eigenen Vormachtstellung bemüht ist, und dann um die seiner Sippe, Freunde und Partei.97 Man sollte auch hervorheben, dass Mises die Interessengruppen thematisiert. Er definiert sie als eine Allianz aus Menschen, die versuchen, ihren eigenen materiellen Wohlstand mit allen möglichen Mittel zu erreichen und dabei nicht zögern, ihre Wünsche dadurch zu rechtfertigen, dass sie das Allgemeinwohl förderten.98 Die kombinierten Handlungen, die sich aus dem Verhalten von Bürokraten, Politikern und Interessengruppen ergeben, stören die Funktionalität der Demokratie. Und da die öffentliche Meinung von Irrtümern und demagogischen Ideen manipuliert wird, sind viele der Mehrheitsentscheidungen ganz und gar unangemessen.99 Deshalb sind für Mises solche Institutionen wie der Goldstandard äußerst wichtig. Sie halten viele Entscheidungen zu Geldfragen aus der politischen Arena heraus.100 Insofern überrascht es nicht, dass James Buchanan in einer Hommage auf Mises und die Österreichische Schule, die sein Denken sehr stark beeinflusst haben, einmal folgendes gesagt hat: „Ich habe oft argumentiert, dass die Österreicher offenbar mit sehr viel mehr Erfolg ihren Studenten die zentralen Prinzipien der Ökonomie beibringen, als es alternative Schulen oder Ansätze tun.“101

96 Mises (1966), S. 735. Siehe Mises’ detaillierte Studie über die Bürokratie, Mises (1940), S. 78, in der er schlussfolgert: „Es war eine zielgerichtete Konfusion jener deutschen Meta­ physiker, die den Staat vergötterten, allen Menschen, die für den Staat arbeiten, den Nimbus des altruistischen Selbstaufopferers zu verpassen.“ Die Analyse von Mises hatte einen so großen Einfluss auf William A. Niskanen, dass dieser in seinem Bürokratie-Klassiker ausgiebig Mises zitierte. Siehe Niskanen (1994), S. 3, 7–9, 19, 36, 68–69, 201 und 208. 97 Mises (1966), S. 850. 98 Mises (1966), S. 318. 99 „Die Demokratie garantiert ein System, das sich in Übereinstimmung mit den Wünschen und Plänen der Mehrheit befindet. Aber es kann die Mehrheit nicht davor bewahren, fehlerhafte Ideen zu glauben und eine unangemessene Politik zu fordern, die nicht nur die erstrebten Ziele verfehlt, sondern am Ende in einem Desaster endet.“ Mises (1966), S. 193. 100 „Der Goldstandard macht die Bestimmung der Kaufkraft des Geldes von den Ambitionen politischer Parteien und Interessengruppen unabhängig. Das ist kein Fehler des Goldstandards, sondern sein wesentlicher Vorteil.“ Mises (1966), S. 474. 101 Zitiert nach DiLorenzo (1990), S. 180. DiLorenzo gibt zu bedenken, dass die Public-​ Choice-Schule nicht vollkommen vom Subjektivismus beeinflusst sei und ein großer Teil der Analysen den Stempel der positivistischen und szientistischen Methodologie der neoklassischen Schule trage. Siehe auch DiLorenzo (1988).

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Methode für die Erforschung und Lehre von Human Action Die potentielle Leserschaft dieser Abhandlung Wir haben bereits oben erwähnt, dass sich Mises bei der Planung seines Werkes Human Action das Ziel gesetzt habe, einen allumfassenden Traktat zur Ökonomie zu schreiben, den jede gebildete Person verstehen könne, die an der Analyse der drängendsten Probleme unserer Zeit interessiert sei. Für Mises hieß das: „Ökonomie darf nicht in die Seminarräume und Statistikämter verbannt werden und auch nicht esoterischen Zirkeln überlassen bleiben. Sie ist die Philosophie des menschlichen Lebens und Handelns und betrifft jeden und alles. Sie ist die Keimzelle der Zivilisation und der menschlichen Existenz.“102

Wenn Mises richtig liegt, dann ist seine Abhandlung zur Ökonomie ein Werkzeug für die geistige Arbeit, das in keiner Bibliothek der Bildungsbürger unserer Tage fehlen sollte. Die zweifellos wichtigste Mission, die Mises’ Human Action erfüllen kann und sollte, liegt dort, wo es um das Universitätsstudium geht. Vor diesem Hintergrund sollte man bedenken, dass Mises’ Opus sich an zwei größere Studentengruppen richtet. Zur ersten Gruppe gehören die Studenten der politischen Ökonomie an den rechts- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten, die eine allgemeine Einführung in ökonomischer Wissenschaft brauchen, die von einem Ansatz und einer Methodo­logie getragen wird, die sowohl rigoros als auch humanistisch sind. In diesem Zusammenhang möchte ich an die positiven Erfahrungen an der Law School der Universität Complutense und der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität König Juan Carlos, beide in Madrid, erinnern. Dort war in den letzten zwanzig akademischen Jahren Human Action das Hauptlehrbuch für die Studenten der Wirtschaftspolitik. Die Studenten verstehen die Verbindung zwischen dem ökonomischen Wissen und den Disziplinen, in denen sie examinieren. Anders formuliert, für ihr künftiges Berufsleben ist es von unschätzbarem Wert, von Mises das notwendige Wissen über die wesentlichen Prinzipien und Grundlagen der Wirtschaftswissenschaften zu erfahren. Die Situation der Studenten an den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten ist anders. So, wie die Dinge derzeit in der akademischen Welt liegen, erhalten sie eine Ausbildung, die stark von der positivistischen und szientistischen Methodologie beeinflusst ist, der Mises so kritisch gegenüberstand. Unserer Erachtens ist es unverzichtbar, dass alle wirtschaftswissenschaftlichen Studenten Mises’ Abhandlung über die Ökonomie eingehend studieren. Nur so erhalten sie eine ausgewogene Ausbildung und eine alternative Perspektive. Auf diese Weise bereichern sie ihr thematisches Wissen und sind in der Lage, Vergleiche anzustellen und Sichtweisen kennenzulernen, die sie als neu und originelle Herausforderungen empfinden. All das wird ihnen eine bessere und 102

Mises (1966), S. 878.

Methode für die Erforschung und Lehre von  Human Action

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umfassendere Berufsausbildung geben und ihnen ermöglichen, die verschiedenen alternativen Theorien mit einer informierteren und kritischeren Geisteshaltung zu betrachten.103 Die vierte und letzte Lesergruppe, die aus der Lektüre von Human Action einen großen Nutzen ziehen kann, ist die wirtschaftswissenschaftliche Forschergemeinde, die inzwischen ein gestiegenes Interesse an den Theorien der Öster­ reichischen Schule zeigt, insbesondere nach dem Untergang des realen Sozialismus und der Krise des Wohlfahrtsstaates, die gezeigt hat, dass interventionistische Theorien, die bis heute hochgehalten werden, keine solide theoretische Basis haben. Außerdem ist es seit der Krise des neoklassisch-walrasianischen Paradigmas unvermeidbar geworden, den Theorienkanon um eine sehr viel humanistischere sowie dynamischere Theorie zu erweitern. Und eine solche ist jene, die von den Österreichischen Theoretikern im Allgemeinen und von Ludwig von Mises im Besonderen vorangetrieben wurde.

Human Action in Lehrveranstaltungen zur Politischen Ökonomie Unsere Lehrerfahrung hat gezeigt, dass man Human Action ohne größere Probleme innerhalb von 2 aufeinanderfolgenden Semestern lehren kann. Wenn man z. B. zwischen Oktober und Juni wöchentlich drei Sitzungen á 45 Minuten abhält (so wird Wirtschaftspolitik bis heute an den spanischen Universitäten gelehrt), dann gibt es keine großen Schwierigkeiten, die 39 Kapitel zu erklären, aus denen sich Human Action zusammensetzt. In diesem Zusammenhang ist es ratsam, den Studenten zu empfehlen, die entsprechenden Kapitel von Human Action mit Sorgfalt, Hingabe und Konstanz zu lesen, bevor der Professor die Themen erklärt; auch auf die Gefahr hin, dass der Student einige Verständnisprobleme haben sollte. Die Erfahrung zeigt, dass so die Erklärungen des Professors sehr viel fruchtbarer sind und die Aufnahme der Ideen der einzelnen Kapitel sich sehr viel einfacher gestaltet. Die Lehre des Buches kann aber auch auf zwei einzelne Semester verteilt orga­ nisiert werden. Man muss das Buch nur in zwei Teile separieren: Der erste Teil 103 Kurzum, um einen nicht sehr angemessenen Ausdruck zu verwenden, der heutzutage von Ökonomen oft gebraucht wird: Das Studium von Human Action ist eine äußerst gewinn­ bringende „Investition in das Humankapital“. Mises’ Vorarbeiten zu dem, was recht ungenau die Theorie des „Humankapitals“ genannt wird, und zu den Prozessen der Ausbildungsinvestition und deren spekulativem unternehmerischen Wesen kann man auf den Seiten 624 und 625 von Human Action nachlesen. Das gleiche kann man über die kleine Menge an Wahrheiten sagen, die in der sogenannten „Theorie der rationalen Erwartungen“ steckt, Mises (1966), S. 797, aber auch Mises (1943). Mises (1966) hat auf S. 871 auf diese Erwartungsfehler hingewiesen. O’Driscoll / Rizzo (1985), S. 222 ff., und Huerta de Soto (2011), Kapitel 7, haben den Fehler später eingehender ausgeleuchtet.

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reicht bis Kapitel 17 und der zweite von Kapitel 18 bis zum Ende. Diese Einteilung entspricht nicht der in den sonstigen Lehrbüchern anzutreffenden Einteilung in Mikroökonomie und Makroökonomie. Wie bereits erwähnt, ergibt es für Mises keinen Sinn, diese beiden Bereiche radikal voneinander zu trennen. Trotzdem scheint es ratsam, die Analyse der Kapitaltheorie und die Zins- und Konjunkturzyklentheorie für den zweiten Teil aufzusparen, da aus Sicht des subjektivistischen Ansatzes und dem ihm zugrundeliegenden methodologischen Individualismus der zweite Teil vornehmlich praxisrelevante und allgemeine Probleme der Wirtschaft enthält. Aber auch dann, wenn einem nur ein Semester zur Verfügung steht, kann man Human Action gut und ausführlich diskutieren, gleichwohl der Grad der Tiefe, der dabei erreicht werden kann, nicht dem der längeren Lehrveranstaltungen entspricht.104 Mit Blick auf die Komplementärliteratur, die für das Lesen von Human Action benötigt wird (genetische und kausale Bestimmung der Marktpreise, Analyse der Preisbildung von Produktionsfaktoren), setzt Mises voraus, dass die Studenten ein elementares Vorwissen mitbringen. Im Falle der Preisbildungstheorie schreibt ­Mises ausdrücklich,105 er setze als Wissen voraus, was Böhm-Bawerk in Band 2 seiner ökonomischen Abhandlung mit dem Titel Capital and Interest106 darlege. Hinsichtlich der Theorie der Preisbildung von Produktionsfaktoren bietet er jedoch keinerlei Orientierungshilfe an.107 Um meinen Studenten das Vorwissen in diesen Gebieten zu vermitteln, habe ich die Lecturas de Economía Política verfasst, welche die Lehren von Human Action vervollständigen und parallel zur Lektüre von Human Action gelesen werden sollten.108 Was die Komplementärliteratur betrifft, so sind nicht nur die Werke von Friedrich August von Hayek empfehlenswert (insbesondere Recht, Gesetzgebung and Freiheit sowie Die verhängnisvolle Anmaßung: Die Irrtümer des Sozialismus), sondern auch meine eigenen Bücher Sozialismus, Wirtschaftsrechnung und unternehmerische Funktion und Geld, Bankkredit und Konjunkturzyklen. Schließlich sollte man erwähnen, dass Murray N. Rothbards aktuelles Werk zur Geschichte des ökonomischen Denkens, das posthum erschienen ist, auch ins Spanische

104 Was das Studium von Human Action angeht, so kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass man es in einem Monat lesen kann, wenn man täglich ca. drei Stunden auf die Lektüre verwendet. 105 Mises (1966), S. 201, Fußnote 1. 106 Böhm-Bawerk (1959), Band 2: Positive Theory of Capital, Buch 3: Value and Prices, S. 207–256. 107 Diese Lücke kann man leicht schließen. Man muss nur auf Kapitel 7 in Rothbard (1970), S. 387–433 verweisen (19944). 108 Siehe Huerta de Soto (1986–1987). Darin enthalten sind unter anderem die spanischen Ausgaben der in den beiden vorangegangenen Fußnoten zitierten Arbeiten von Böhm-Bawerk und Rothbard (Eugen von Böhm-Bawerk, „La ley básica de determinactón del precio“, Band 1, S. 99–142; und Murray N. Rothbard, „La fijación general del precio de los factores de producción“, Band 2, S. 21–48).

Schlussfolgerung   

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übersetzt wurde. Was dessen Ansatz und analytische Tiefe angeht, so stellt es ebenfalls einen wertvollen Zugewinn beim Studium von Human Action dar.109

Schlussfolgerung  Mises’ Human Action wird auch weiterhin einen wichtigen Einfluss auf das ökonomische Denken haben und als einer der großen Klassiker unserer Wissenschaft in die Geschichte eingehen. Wir hoffen, dass seine Leser auf der ganzen Welt auch weiterhin das Maximum aus diesem außergewöhnlichen geistigen Werkzeug für sich herausholen können und auch künftig Mises’ Ideen mit dem gleichen Enthusiasmus wie bisher verbreiten. Auf diese Weise wird das Lehrgebäude der Wirtschaftswissenschaft immer weiter gefestigt und größer und schließlich in der Lage sein, seine große Mission zu erfüllen, nämlich, der Entwicklung der Zivilisation eine theoretische Stütze zu sein, Krisen zu vermeiden und zivilisationsgefährdende Konflikte vorherzusehen. Die Evolution des ökonomischen Denkens selbst wird unweigerlich in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft eine neue Abhandlung zu den Prinzipien und Grundlagen der Wirtschaftswissenschaft erscheinen lassen, die so weit wie möglich auf den Beiträgen von Mises, die er in Human Action geleistet hat, aufbaut oder diese sogar noch übertrifft. Wir sind sicher, dass dieses sehr ambitionierte, geistige Projekt, das auf jeden Fall auf den soliden Fundamenten, die Ludwig von Mises gelegt hat, fußen muss, das größte Denkmal sein wird, das man diesem großartigen Wissenschaftler in der Zukunft setzen kann.110

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Murray N. Rothbards (1995) posthum herausgegebenes Werk über die Geschichte des ökonomischen Denkens aus Sicht der Österreichischen Schule besteht aus zwei Bänden: „Economic Thought Before Adam Smith“ (Band I) und „Classical Economics“ (Band II). 110 Wir sollten in diesem Zusammenhang die bemerkenswerte ökonomische Abhandlung nicht unerwähnt lassen, die Murray N. Rothbard vorgelegt hat: Man, Economy, and State. Von seinem Traktat sind bis heute vier Auflagen erschienen (Van Nostrand, New Jersey, 1962; Nash Publishing, Los Angeles, 1970; New York University Press, 1979; und Ludwig von Mises Institute, Auburn University, 1994, außerdem die Scholar’s Edition, 2004). Obwohl Rothbards Werk viele Themen außergewöhnlich klar darstellt und hier und da über Human Action hinausragt, haben wir den Eindruck, dass es immer noch lohnt, eine Abhandlung über die moderne Wirtschaftspolitik zu schreiben, die die neuesten Entwicklungen der Österreichischen Schule vereint und damit der Entwicklung im kommenden Jahrhundert einen noch größeren Impetus gibt.

17. In memoriam Murray N. Rothbard1 Ich habe im Herbst 1973 in einem Seminar zur Österreichischen Ökonomie zum ersten Mal von Murray N. Rothbard gehört. Louis Reig hielt das Seminar jeden Donnerstagabend bei sich zuhause in Madrid ab. Rothbards Ideen lösten damals hitzige Kontroversen aus. Sie nahmen den größten Raum bei unseren Treffen ein. Wir führten angeregte Diskussionen über Rothbards Beiträge, aber auch über die seines Lehrers Ludwig von Mises und der übrigen Österreichischen Theoretiker und verglichen sie mit der „orthodoxen“ Wirtschaftswissenschaft. Die Monopoltheorie genoss unsere besondere Aufmerksamkeit. Dank Rothbard war sie von einigen Inkonsistenzen, die man in Mises’ Human Action finden konnte, befreit worden. Auch in der politischen Philosophie wichen Rothbard und sein Lehrer voneinander ab. Ersterer verteidigte eine Naturrechtsposition, die sich von der erkennbar utilitaristischen Haltung, die Mises bewies, deutlich abhob. Diese und andere Gründe ließen mich die zwei wichtigsten Werke von Murray Rothbard genauer zu lesen. Beide hatte er einige Jahre zuvor geschrieben: sein Traktat Man, Economy, and State2 und sein Buch Power and Market 3, die man komplementär zueinander lesen muss. Dass Rothbard im Alter von nur 36 Jahren eine fast 1.000 Seiten umfassende Abhandlung schreiben konnte, ist bewundernswert. Die Klarheit, Tiefe und Genauigkeit seiner Analyse, der kritische Geist und die Originalität seiner Gedanken sind Merkmale, die einem auf jeder Seite von Man, Economy, and State begegnen. Daher überrascht es nicht, dass dieses Buch mein wirtschaftswissenschaftliches Studium an der Universität sehr stark beeinflusst hat. Einer ganzen Generation von Österreichischen Ökonomen auf der ganzen Welt ist es damals ähnlich ergangen. Doch es mussten noch acht Jahre vergehen, bevor ich Murray N. Rothbard 1980 in seinem Haus in Palo Alto persönlich kennenlernte. Diese Gelegenheit verdanke ich einem glücklichen Umstand. Rothbard arbeitete damals am Institute for ­Humane Studies, das in unmittelbarer Nähe zur Stanford Universität lag, an der ich gerade angekommen war, um als Stipendiat der Spanischen Zentralbank mein 1

Erschien im Journal des économistes et des études humaines, Bilingual Journal of Interdisciplinary Studies, Paris und Aix-en-Provence, Band 6, Nummer 1, März 1995, S. 15–20. 2 Rothbard, Murray N.: The Ethics of Liberty, New Jersey: Humanities Press, 1962. Danach erschienen drei Auflagen, eine bei Nash Publishing, Los Angeles, 1970, eine andere bei New York University Press in New York 1979 und die dritte im Ludwig von Mises Institute, Auburn University 1994 und 2004. Verschiedene Abschnitte aus diesem Buch wurden ins Spanische übersetzt und erschienen in den Bänden I und II meiner Lecturas de Economía Política, ­Huerta de Soto (1986–1987), sowie bei ESEADE, Buenos Aires, 2004. 3 Rothbard (1970b), siehe auch Rothbard (1970c).

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Studium in politischer Ökonomie abzuschließen. Obwohl ich Rothbards Hauptwerke und Theorien bereits kannte, war der persönliche Kontakt ein unvergess­ liches Erlebnis. Sein außergewöhnlicher persönlicher Charme, sein unerschöpf­ licher Enthusiasmus und seine überwältigende Gelehrsamkeit machten es zu einem unbeschreiblichen intellektuellen Vergnügen, mit ihm zu diskutieren; nicht nur über die aktuellsten und interessantesten Themen der Wirtschaftswissenschaft, sondern auch über eine Reihe anderer Fragen, die direkt oder indirekt mit ihnen in Beziehung standen und zur politischen Wissenschaft, Philosophie, Geschichte, Ethik, ja auch zur Theologie gehören.4 Es waren außergewöhnliche Erlebnisse, wenn man sich mit Murray N. Rothbard unterhielt – ganz informell und manchmal bis in die frühen Morgenstunden.5 Man konnte offen alle möglichen Positionen vertreten. Gleichwohl war Rothbard ein aufmerksamer Kritiker, der jede Meinungsäußerung einer genauen theoretischen Bewertung unterzog. Wenn überhaupt etwas noch außergewöhnlicher war, dann die kultivierte und geistreiche Art, die Rothbard in all diesen Diskussionsrunden an den Tag legte und die zu beobachten die reinste Freude war. Er hatte ein immenses Wissen von der spanischen Geschichte6 und von der Rolle, die die Fueros und die damit verbundene Bewegung bei der Bildung unseres Rechts und unserer politischen Geschichte gespielt hatten. Er war auch mit der libertären Tradition in Spanien vertraut. Als konsequenter Anarchokapitalist – eine Haltung, die er sein Leben lang beibehielt – betrachtete er sie mit großer Sympathie. Rothbard wusste auch gründlich über die Beiträge der Theoretiker der Schule von Salamanca und dem goldenen Zeitalter in Spanien Bescheid und fasste seine Erkenntnisse in einem Aufsatz zusammen, der ein „Neues Licht auf die Vorgeschichte der Österreichischen Schule“7 warf. Laut Rothbard reichen die Grundlagen der modernen Österreichischen Ökonomie bis zu den spanischen Scholastikern des 16. und 17. Jahrhunderts zurück. Diese entwickelten nicht nur die subjektive Werttheorie, sondern 4 Rothbards Verteidigung des thomistischen ius naturalis war so energisch, dass es Gerüchte gab, er wäre zum Katholizismus konvertiert. Obwohl Rothbard das verneinte, hielt sich zumindest das Gerücht, er sei ein agnostischer Thomist. Pater Robert Sirico nannte ihn jedenfalls so, Sirico (1995), S. 13. 5 Eines dieser Marathon-Gespräche war der Ursprung von Robert Nozicks Interesse an der liberalen Theorie, wie Nozick selbst einräumte: „Es war eine lange Unterredung mit Murray Rothbard, die wir vor etwa 6 Jahren führten und die mein Interesse an der individualistischanarchistischen Theorie weckte.“ Nozick (1974), S. xv. 6 Joseph Soberan (1995), S. 26, berichtet in seinen Erinnerungen an Murray Rothbard, dass die erste politische Unterhaltung, an die sich „Murray erinnern konnte, bei einem Familientreffen in den 1930er Jahren stattfand, bei dem seine Verwandten, von denen die meisten Kommunisten waren, Franco verurteilten. Der vorpubertäre Rothbard schockierte alle, als er sie fragte: Was ist denn überhaupt so schlecht an Franco? In dieser Runde war die Frage ketzerisch. Murray fing früh an.“ Obwohl seine kommunistischen Verwandten die Frage für ketzerisch hielten, ist sie doch berechtigt, wenn man bei allem bedenkt, wie groß die Ähnlichkeit zwischen der Diktatur des Franco Regimes und der jenes Regimes ist, das die kommunistischen Gegner ebenfalls gewaltsam errichten wollten. 7 Rothbard (1976).

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wendeten sie auch auf das Thema Geld und die Erforschung gesellschaftlicher Institutionen an. Im Rahmen dieser Denktradition kann man erkennen, dass die Entwicklung der Ökonomie durch die klassische angelsächsische Schule, die auf der objektiven Arbeitswertlehre und der Analyse eines statischen Gleichgewichts fußt, wohl eine protestantische Abweichung von der kontinental-thomistischen Tradition darstellt, die von einem kreativen Menschen ausging und nicht von den Dogmen der Vorbestimmung und Erlösung durch Arbeit besessen war.8 Nach meiner Rückkehr nach Spanien (1982) hielt ich die enge Korrespondenz mit Murray N. Rothbard aufrecht und traf ihn bei verschiedenen Gelegenheiten. Zu den Höhepunkten dieser Periode zählt nicht nur das Erscheinen seiner wegweisenden Arbeit The Ethics of Liberty9, sondern auch die 1985 erfolgte Gründung des Ludwig von Mises Institute und die erste Ausgabe der Review of Austrian ­Economics – eine Fachzeitschrift, die sich ausschließlich der Analyse und Erörterung der vorrangigen Forschungsfelder der Österreichischen Schule widmet. Besonders typisch an der Korrespondenz mit Murray N. Rothbard war, dass er auf kurze Kommentare oder die Erwähnung irgendeines interessanten Themas mit seitenlangen Briefen antwortete, getippt in kleiner Schrift und mit geringem Zeilenabstand. Oft waren es regelrecht Aufsätze, bedenkt man die Tiefe der Erkenntnis, die Attraktivität der Ideen und die theoretischen Lösungen, die sie enthielten. Das letzte Mal traf ich Murray N. Rothbard auf der Regionalversammlung der Mont Pèlerin Society, die im September 1993 in Rio de Janeiro stattfand. Auf diesem Kongress präsentierte er seine Arbeit über die Privatisierung der Nationen, die später mit kleineren Änderungen im Journal of Libertarian Studies10 erschien. Diese Zusammenkunft der Mont Pèlerin Society war deshalb bemerkenswert, weil sie die bedeutendsten Theoretiker der Österreichischen Schule, angeführt von Murray N. Rothbard und Israel M. Kirzner, zusammenführte. Es war eine interessante Erfahrung. Man konnte beobachten, wie das persönliche Verhältnis dieser beiden Geistesgrößen der Österreichischen Schule sich gestaltete. Wie unterschiedlich ihre Persönlichkeiten und Charaktere doch waren: Murray Rothbard mit seiner großen Wärme und charmanten Art, Israel M. Kirzner ernst, umsichtig und immer sehr korrekt. Auf allen Veranstaltungen war der persönliche Austausch mit Rothbard immer ungezwungener und direkter als der mit Kirzner. Gleichwohl war Kirzner in seinen kritischen Kommentaren höflicher und verletzte – anders als Rothbard – niemals persönliche Gefühle. 8

Siehe Rothbard (1995a). In beiden Bänden legt er mithilfe einer detaillierten Analyse dar, wie wichtig die katholische Tradition Kontinentaleuropas im Gegensatz zur angelsächsischen Tradition protestantischen Ursprungs war. Siehe dazu auch meinen Aufsatz „Génesis esencia y evolución de la Escuela Austriaca de Economía“ in Huerta de Soto (1994). 9 Rothbard (1982). Es gibt eine französische Übersetzung mit dem Titel L’Ethique de la Liberté, Paris, Les Belles Lettres, 1991. Die spanische Auflage mit dem Titel La Ética de la Libertad habe ich 1995 in die Sammlung libertärer Bücher aufgenommen, die ich für Unión Editorial in Madrid herausgebe. 10 Rothbard (1970c).

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Ich sollte noch hinzufügen, dass Rothbard mir in Rio de Janeiro erzählt hat, wie gerne er die Universität von Salamanca, die er als den Ursprung der modernen Österreichischen Schule der Nationalökonomie ansah, besuchen würde. Außerdem stieg Rothbards Interesse an den spanischen Scholastikern, als er herausfand, dass ich im Zuge meiner Forschungen zur Geldtheorie zu dem Schluss gekommen war, dass die konträren Positionen der Banking- und Currency-Schools nicht erst im England des 19. Jahrhunderts auftraten, sondern – dank der spanischen Scholastiker – bereits knapp 300 Jahre vorher. Rothbard bewog mich, eine Zusammen­ fassung der wesentlichen Ergebnisse meiner Arbeit in der Review of Austrian Economics11 vorzustellen. Gemeinsam organisierten wir für 1995 eine Vorlesungsreihe in Spanien und Portugal, die in der zweiten Jahreshälfte stattgefunden und in der Universität von Salamanca ihren Höhepunkt gehabt hätte. Leider erhielt ich im Januar desselben Jahres vom Herausgeber nicht nur die Abzüge meines Aufsatzes mit Rothbards handschriftlichen Korrekturen, sondern auch die traurige Nachricht, dass der große Meister der Österreichischen Schule am 7. Januar 1995 an einem Herzinfarkt gestorben war. Unglücklicherweise hat Rothbard Spanien nie besuchen und seine geliebte Universität von Salamanca nie sehen können. Aber es bleiben seine 25 Bücher und tausende von Aufsätzen. Sie werden auch in Zukunft all seinen Schülern und deren Forschungen ein unerschöpflicher Quell intellektueller Bereicherung und Anregung sein.

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Kapitel 10 im vorliegenden Buch.

18. Hayeks bester Test für einen guten Ökonomen1 Ein sorgfältiges Lesen der Zitate, die Hayek uns nach seinem Tod auf hunderten von Karten hinterlassen hat, gibt uns Aufschluss darüber, was seiner Meinung nach der ultimative und definitive Test für einen echten Ökonomen ist. Es mag verwundern, dass Hayek bereits im Anhang III seines Buches Pure Theory of Capital diesen Test erwähnt. Hayek schrieb den Appendix 1941 und beendete ihn mit folgenden Worten: „Mir scheint es mehr denn je wahr zu sein, dass der beste Test für einen Ökonomen die Frage ist, ob er die Doktrin, der zufolge die Nachfrage nach Gütern nicht die Nachfrage nach Arbeit ist, voll und ganz versteht.“2 Hayek will hier einen der wichtigsten Aspekte seiner Kapitaltheorie hervorheben: Die reale Produktionsstruktur ist sehr komplex und besteht aus mehreren Stufen; derart, dass ein Anstieg der Konsumgüternachfrage immer auf den Stufen der Arbeitsnachfrage schadet, die am weitesten vom Konsum entfernt sind (also genau auf den Stufen, wo die meisten Arbeiter beschäftigt sind). Mit anderen Worten, die Arbeitgeber können weiterhin ihr Geld verdienen, auch wenn ihre Einnahmen (oder die „aggregierte Nachfrage“) sinken. Sie müssen dazu nur ihre Kosten reduzieren, indem sie Arbeit durch Kapitalausstattung ersetzen. Damit schaffen sie indirekt eine signifikante Nachfrage nach Arbeit, und zwar auf den Stufen der Investitions­ güterproduktion, die vom Konsum am weitesten entfernt liegen.3 Es ist sehr erhellend, wie Hayek mit den ausgewählten Zitaten zur Wirtschaftstheorie, die er uns vor fast fünfzig Jahren überlassen hat und die wir nun diskutieren, einmal mehr wünschte, auf die Schlüsselideen der Kapitaltheorie aufmerksam zu machen. In der Sache sagt uns Hayek folgendes: „Investitionen werden durch eine höhere Nachfrage nach Konsumgütern eher verhindert als stimuliert. Das Gleiche gilt für die Beschäftigung, weil in einer wachsenden Wirtschaft mehr Arbeiter eingestellt werden, um für die ferne Zukunft als für die nahe Gegenwart zu produzieren.4 Hayek meint auch: „Am Ende führt die nachlassende Nachfrage zum Endpreis zu neuen Investitionen, um die Kosten zu reduzieren.“ Hayek zieht daraus den Schluss, dass „die Beschäftigung nicht durch die aggregierte Nachfrage bestimmt wird.“ Kurzum, für Hayek ist der beste Test für einen Ökonomen die Frage, ob er den impliziten Fehler, der in den Theorien des Minderverbrauchs enthalten ist, versteht, sowie in dem, was man das Paradox des Sparens nennt. „Es ist nicht die Konsumentennachfrage, die die Generierung von Einkommen 1 Ursprünglich veröffentlicht in Procesos de Mercado: Revista Europea de Economía ­Política, Band I, Nummer 2, Herbst 2004. S. 121–124. 2 Hayek (1976b), S. 439. 3 Huerta de Soto (2011), Kapitel 5. 4 Hervorhebung von mir.

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sichert, es sind die Investitionen des überschüssigen Einkommens nach Abzug der Konsumausgaben, die das Einkommen hochhalten.“ Viele Ökonomen können dieses Prinzip nicht verstehen, weil sie dem Ansatz makroökonomischer Aggregate folgen. Hayek hält diesen Ansatz für einen schwerwiegenden Fehler, der in der Sozialtechnologie und im Sozialismus ende. („Der Sozialismus gründet auf der Makroökonomie – ein wissenschaftlicher Irrtum.“) Der einzige Weg, um zu verstehen, was auf der Makro­ebene passiert, ist der Gebrauch von Mikroökonomie. „Wir können die Makro­gesellschaft nur durch die Mikroökonomie verstehen.“ Selbst die Monetaristen der Chicagoer Schule verfallen dem besagten Irrtum. „Von Milton Friedman wird sogar berichtet, er habe einmal gesagt: Jetzt sind wir alle Keynesianer“. Der auf Gleichgewichtsmodellen und Makroökonomie beruhende Ansatz ist deshalb ein Irrtum, weil „eine Wissenschaft, die mit der Anmaßung beginnt, Informationen zu besitzen, die sie gar nicht besitzen kann, keine Wissenschaft ist.“ Das Gleiche kann man über die Wohlfahrtsökonomie sagen, die laut Hayek „die fadenscheinige wissenschaftliche Grundlage sozialistischer Politik“ ist. Der Test für Ökonomen wird größer, wenn man auch danach fragt, welche Rolle die Wirtschaftsrechnung und die Einschätzung der Opportunitätskosten spielen, die erst dank der Marktpreise möglich sind, die sich im Rahmen der weitgefassten gesellschaftlichen Kooperation herausbilden. Eigentlich „gab es vor dem Verstehen der Opportunitätskosten (Kosten der entgangenen Alternative) keine adäquate Wirtschaftswissenschaft“. Diese zentrale Idee haben die klassischen Ökonomen nie verstanden. Auch heute wird sie „vom Marshall-Kompromiss vernebelt“ bzw. – wie Hayek in einem anderen Zitat noch treffender formuliert – „von Marshalls dauerhaft vorherrschendem „WischiWaschi“-Kompromiss“. Für Hayek ist die „Ökonomie diejenige Wissenschaft, die aufzeigen kann, dass der Rationalismus falsch ist, weil rationales Tatsachenwissen nicht ausreicht.“ Dies lasse uns schlussfolgern, „dass die größten Zerstörer der westlichen Zivilisation auch die größten rationalistischen Denker des 19. Jahrhunderts waren, Bentham, Mill, Russell und Keynes“. „Die mächtigen Verführer sind deshalb nicht mehr länger Marx und Engels, Proudhon oder Lenin, sondern Keynes, Tinbergen, Galbraith und Myrdal, Leontieff und Dworkin etc. Für mich sind sie die Feinde der großen Gesellschaft.“ Jeder von ihnen glaubt mehr oder weniger an eine fehlerhafte Idee. „Die Idee, dass ohne die Existenz eines Marktes die Menschen genauso viel wüssten, wie sie innerhalb eines Marktsystems wissen, ist der Grundfehler all jener, die wie Oskar Lange meinen, dass in einer sozialistischen Ökonomie die Möglichkeit zu einer effektiven Wirtschaftsrechnung gegeben sei.“

Hayek bringt es auf den Punkt. „Dummköpfe sind all jene, die glauben, mehr zu wissen, als sie tun, also die Rationalisten.“ Ludwig von Mises schrieb einmal: „Was die Österreichische Schule unterscheidet und ihr unsterblichen Ruhm verleihen wird, ist die Tatsache, dass sie eine Theorie der ökonomischen Handlung und nicht des ökonomischen Gleichgewichtes oder der Nicht-Handlung aufgestellt hat.“5 5

Mises (1978a), S. 36.

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18. Hayeks bester Test für einen guten Ökonomen

Hayek wiederum hievte Mises’ Idee auf ein allgemeines Niveau und schrieb auf eine seiner Karten: „Die größte Errungenschaft der Österreichischen Schule ist die, die entscheidend dazu beigetragen hat, die Unterschiede aufzuklären, die es unweigerlich zwischen einer Wissenschaft, die sich mit relativ simplen Phänomenen beschäftigt (Makroökonomie, Gleichgewichtsmodelle), und einer Wissenschaft hochkomplexer Phänomene (die wahren Marktprozesse) geben muss.“

Vielleicht ist der beste Test für einen Ökonomen heute der, ob er diesen we­ sentlichen Unterschied versteht.

19. Der Ricardo-Effekt1 Der Ricardo-Effekt bietet eine der wichtigsten mikroökonomischen Erklärungen dafür, warum zusätzliche Ersparnisse dazu führen, in kapitalintensivere Produktionsprozesse investiert zu werden. Der Anstieg freiwilliger Ersparnisse hat einen besonders wichtigen unmittelbaren Effekt auf das Niveau der Reallöhne. Die Geldnachfrage für Konsumgüter tendiert dazu, zu fallen, sobald die Ersparnisse steigen. Es ist demnach leicht zu verstehen, warum ein Anstieg der Ersparnisse ceteris paribus dazu führt, dass die relativen Preise für Konsumgüter sinken. Wenn man, was üblich ist, die Nominallöhne für den Faktor Arbeit anfangs konstant hält, dann führen fallende Konsumgüterpreise auf allen Stufen der Produktionsstruktur zu einem Anstieg der Reallöhne der dort beschäftigten Arbeiter. Mit dem gleichen Nominaleinkommen können die Arbeiter Konsumgüter in höherer Quantität und besserer Qualität erwerben und Dienstleistungen zu reduzierten Preisen beziehen. Der Anstieg der Reallöhne, der aus der Zunahme freiwilligen Sparen erwächst, bedeutet, dass relativ dazu das Unternehmerinteresse auf allen Stufen der Produktionsstruktur dahin geht, Arbeit durch Kapitalgüter zu ersetzen. Über den Anstieg der Reallöhne löst die Zunahme freiwilliger Ersparnisse in der gesamten Ökonomie längere und kapitalintensivere Produktionsprozesse aus. Anders formuliert: Die Unternehmer finden es attraktiver, Kapitalgüter statt Arbeit zu nutzen. Dies stellt einen wirkungsvollen Effekt dar, der dazu führt, dass die Stufen der Produktionsstruktur länger werden. Laut Hayek war David Ricardo der erste, der diesen Effekt explizit analysierte. Ricardo schlussfolgert in seinen Principles (1817): „Jeder Lohnanstieg, oder, was für diese Zwecke das Gleiche ist, jeder Rückgang der Gewinne würde den Wert der Waren, die mit langlebigem Kapital produziert wurden, senken und proportional diejenigen im Wert steigen lassen, die mit vergänglicherem Kapital produziert wurden. Ein Lohnrückgang hätte den entgegengesetzten Effekt.“

In seinem bekannten Kapitel „On Machinery“, um das die dritte Auflage von 1821 ergänzt wurde, schreibt Ricardo, dass „Maschinen und Arbeit in einem ständigen Wettbewerb miteinander stehen und dass erstere oft nicht eingesetzt werden können, bevor die Arbeit ansteigt.“ Hayek griff diese Idee später auf und ließ sie ab 1939 in seine Arbeiten zu den Konjunkturzyklen einfließen. Hayek erklärt mit ihr die Folgen, die ein Anstieg der Ersparnisse auf die Produktionsstruktur hat, um von den Theorien abzulenken, die das sogenannte Paradox des Sparens und 1

Ursprünglich veröffentlicht in An Eponymous Dictionary of Economics, Julio Segura und Carlos Rodríguez Braun (Hrsg.), Cheltenham: Edward Elgar, 2004, S. 217–218.

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einen angeblich negativen Einfluss des Sparens auf die effektive Nachfrage behaupten. Laut Hayek „werden Investitionen durch hohe Reallöhne und eine niedrige Gewinnmarge sehr kapitalintensive Formen annehmen: Die Unternehmer werden versuchen, den hohen Arbeitskosten mit der Einführung arbeitssparender Maschinen zu begegnen – mit jener Art von Maschinen, die man nur bei einer sehr geringen Gewinnmarge und niedrigen Zinsen profitabel einsetzen kann.“

Der Ricardo-Effekt ist also eine rein mikroökonomische Erklärung für das Verhalten der Unternehmer, die den Anstieg der freiwilligen Ersparnisse mit einem Anstieg ihrer Nachfrage nach Kapitalgütern und durch Investitionen in neue Produktionsstufen beantworten, die weiter vom Konsum entfernt liegen. Man sollte bei alledem nicht vergessen, dass alle Zunahmen an freiwilligen Ersparnissen und Investitionen einen Rückgang der Produktion neuer Konsumgüter und Dienstleistungen hinsichtlich jenes kurzfristigen Maximums auslösen, das man erreichen könnte, wenn die Inputfaktoren nicht den Produktionsstufen, die dem Konsum am nächsten stehen, entzogen würden. Der Rückgang dient dazu, jene Produktionsfaktoren frei zu setzen, die man braucht, um die vom Konsum weiter entfernt liegenden Produktionsstufen zu verlängern. In einer modernen Ökonomie übernehmen Konsumgüter und Dienstleistungen, die bei steigenden Ersparnissen unverkauft bleiben, eine wichtige Funktion. Sie ermöglichen den Wirtschaftsakteuren (Arbeitern, Eigentümern natürlicher Ressourcen und Kapitalisten), sich in den folgenden Zeitperioden selbst zu versorgen. In diesen Perioden verursacht das anfänglich ausgelöste Verlängern der Produktionsstruktur unweigerlich eine Verlangsamung der Produktion neuer Konsumgüter und Dienstleistungen im Markt. Diese Verlangsamung dauert an, bis alle neuen kapitalintensiveren Prozesse ihren Gipfel erreicht haben. Wenn es nicht die Konsumgüter und Dienstleistungen gäbe, die infolge des Sparens unverkauft bleiben, dann würde der temporäre Rückgang des Angebots an neuen Konsumgütern die relativen Preise dieser Güter merklich ansteigen lassen und deren Bereitstellung vor erhebliche Schwierigkeiten stellen.

20. Interview zu den spanischen Wurzeln der Österreichischen Schule1 AEN: Sie haben heute bei der Austrian Scholars Conference eine außerordentliche Ankündigung gemacht. Könnten Sie diese mit den Lesern des AEN teilen? Huerta de Soto: Zunächst einmal möchte ich dem Mises Institute dafür danken, diese großartige Konferenz zu fördern. Es ist schön zu sehen, wieviele Länder und Disziplinen vertreten sind, und ich freue mich darauf, alle Aufsätze zu lesen, die hier präsentiert wurden. Meine Ankündigung war folgende: Mit Beginn dieses Oktobers beginnen wir die Herausgabe der Collected Works of Ludwig von ­Mises. Wir haben die Unterstützung von 300 privaten Förderern sowie die Hilfe von marktwirtschaftlich ausgerichteten Institutionen spanischsprachiger Länder. Die Collected Works umfassen sieben Bände, jeder so umfangreich wie Human Action. Der erste Band, der bereits in Vorbereitung ist, trägt den Titel Monetary Theory and Economic Cycles. Er umfasst Theory of Money and Credit sowie andere Bücher und Schriften zum Thema Geld und Konjunkturzyklen. Dieses Projekt ist bisher einzigartig in der Welt und wird in vier oder fünf Jahren abgeschlossen sein. Wir sind zuversichtlich, dass Collected Works in der intellektuellen Welt positiv aufgenommen wird, nicht nur in Spanien, sondern auch in Lateinamerika. Es ist der höchste Tribut, den wir unserem Lehrmeister zollen können. AEN: Wie kommt es, dass es einen bestehenden Markt für diese Bücher gibt? Huerta de Soto: Man begann bereits sehr früh, spanische Übersetzungen von Mises’ Büchern herauszugeben. 1936 erschienen The Theory of Money and Credit sowie Hayeks Monetary Theory and the Trade Cycle. Ihr Einfluss war allerdings aufgrund des Ausbruchs des spanischen Bürgerkriegs im gleichen Jahr sehr gering. Wirkliche Fortschritte wurden erst 20 Jahre später erzielt, als ein junger Student mit dem Namen Joaquín Reig seine Doktorarbeit an der Universität Madrid schrieb. Ihr Titel lautete „Moderne soziale Probleme aus Sicht des ökonomischen Denkens von Ludwig von Mises“. Sie war die erste in Spanien geschriebene Arbeit zu Human Action. Mises’ Werk war erst acht Jahre vorher in Amerika erschienen. Reig kannte Mises und wurde ein großer Freund und Bewunderer von ihm. Mises bedankte sich sogar im Vorwort zur dritten Auflage von Human Action für Dr. Reigs 1 Dies ist ein Interview, dass in der Sommerausgabe 1997 (Band 17, Nummer 2, S. 1–7) des Austrian Economics Newsletter (AEN) erschien. Die Gelegenheit für das Interview ergab sich während meines Besuchs am Ludwig von Mises Institute der Auburn University in Alabama im April 1997. Ich hielt einen Vortrag über die spanischen Wurzeln der Österreichischen Schule. Das Interview wurde von Jeffrey Tucker geführt.

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Hilfe. Reig erzählte oft die Geschichte, wie er Mises nach dessen Einschätzung von Murray Rothbards Monopoltheorie in Man, Economy, and the State fragte. Die Frage war wichtig, bedenkt man, wie unorganisiert das Thema in Human Action abgehandelt wurde. Mises antwortete Reig, dass er mit jedem Wort, dass Rothbard zu diesem Thema geschrieben hatte, einverstanden sei. AEN: Wann erschien Human Action schließlich in Spanien? Huerta de Soto: Die sehr gute Übersetzung von Reig erschien 1960, allerdings nur unter großen Schwierigkeiten. Die Zensurbehörde löschte verschiedene Paragraphen, die das Regime des damaligen spanischen Diktators General Franco als politisch gefährlich einstufte. In den 1970er Jahren fingen Joaquín Reig und sein Bruder Luis an, ein wöchentliches Österreichisches Seminar abzuhalten, zu dem man sich jeden Donnerstag bei ihnen zuhause traf. Diesem Seminar, an dem auch ich teilnahm, ist es zuzuschreiben, dass sich die Österreichischen Ideen ausbreiteten. Selbst Hayek nahm bei verschiedenen Gelegenheiten daran teil. In diesen Jahren übersetzte Reig auch Bureaucracy, Liberalism, The Anticapitalist Mentality und Theory and History. 1985 übernahm ich einen Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik an der Universität Complutense in Madrid. Von da an traf sich das Seminar nicht mehr bei Reig zuhause, sondern an der Universität. Die wichtigsten spanischen Universitäten sind staatlich. Alle Professoren sind Beamte, die ihren Lehrstuhl lebenslang innehaben. Gemäß unserer Verfassung können sie nahezu uneingeschränkt alles lehren, was immer sie wollen. Dieses System wurde von den Sozialisten und Marxisten über viele Jahre genutzt und benutzt. Seit den 1980er Jahren wurde es aber auch von Verfechtern der freien Marktwirtschaft genutzt. Die Universität Complutense ist eine der ältesten Universitäten in Spanien und wurde 1293 gegründet. Heute sind dort mehr als 100.000 Studenten eingeschrieben und in der Law School, wo ich lehre, gibt es 17.000 Studenten. Ich lehre seit 12 Jahren den gleichen Kurs, der sich unter Studenten wachsender Beliebtheit erfreut. Human Action ist Pflichtlektüre. Bislang haben mehr als 2.000 Studenten ihr Examen über dieses Buch bestanden. Alles in allem wurden mehr als 15.000 Exemplare der spanischen Auflage von Reig verkauft. AEN: Akzeptiert Ihre Fakultät die Österreichische Schule als legitime Alternative? Huerta de Soto: Anfangs nicht. Das hat sich aber in den letzten 12 Jahren geändert. Wir haben jetzt ein Doktorandenseminar zur Österreichischen Ökonomie, sind Teil auswärtiger Programme zum Thema Law and Economics und betreuen jedes Jahr ausländische Studenten, die nach Spanien kommen, bei der Arbeit an ihren Forschungsthemen. Letztens hatten wir eine zweitägige Konferenz über Mises, die von der Stadt Madrid und der Bildungsministerin Esperanza Aguirre bezuschusst wurde. Die Konferenz führte 300 Professoren und Studenten zusammen und erfuhr ein wohlwollendes Echo in den Medien.

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In den USA gibt es unter den Österreichern Debatten mit verschiedenen Vertretern, die sehr unterschiedliche Aspekte von Mises, Hayek und Rothbard be­ tonen. Ich habe z. B. die Debatte über die Wirtschaftsrechnung im Sozialismus sehr genau verfolgt. Ich bin noch zu keinem endgültigen Urteil gekommen. Aber ich tendiere zu der Auffassung, dass die Argumente von Mises und Hayek zwei Seiten derselben Medaille sind. Was uns angeht, so versuchen wir, aus dem Rationalismus und Utilitarismus von Mises, der aristotelischen Naturrechtsposition von Rothbard und dem evolutionären Ansatz von Hayek eine Synthese zu schaffen. In meiner Vorlesung über Banken betone ich die 100-prozentige Reservehaltung, die mit der alten Tradition des spanischen Rechts für fungible Sichteinlagen in Einklang steht. Diese Tradition ist immer noch in Kraft. AEN: Gemessen an den vielen Büchern, die Sie mitgebracht haben, scheinen Veröffentlichungen eine entscheidende Rolle bei der Ausbreitung der Österreichischen Schule in Spanien gespielt zu haben. Huerta de Soto: Neben den gesammelten Werken von Mises und Hayek gebe ich eine andere Reihe heraus, die New Collection of Liberty heißt. Bis März dieses Jahres sind 20 Bände erschienen. Der letzte war die spanische Übersetzung eines bedeutenden Buches von Raimondo Cubeddu, The Philosophy of the Austrian School. Unter den anderen Büchern finden sich Titel von Rothbard, Kirzner, Mises, Hayek, Bruno Leoni, Wilhelm Röpke und eine Jubiläumsausgabe zum fünften Geburtstag von Hazlitts Economics in One Lesson, die eine Einleitung von Llewellyn H. Rockwell Jr. enthält. Zukünftige Projekte beinhalten The Economics and Eth­ ics of Private Property von Hans-Herrmann Hoppe sowie The Enterprise of Law von Bruce Benson. Mit höchster Priorität publizieren wir eine Übersetzung von Austrian Perspective on the History of Economic Thought von Murray Rothbard. Es wird mit meinem Vorwort in einem einzigen großen Band 1998 erscheinen. AEN: Haben Sie Rothbard einmal getroffen? Huerta de Soto: Bevor ich meine Dissertation in Spanien fertigstellte, erhielt ich ein Stipendium, um in den Vereinigten Staaten zu studieren. Hayek schrieb mir eine Empfehlung für die Stanford Universität, die mich in ihr MBA Programm aufnahm. Zu meiner Freude hielt sich Rothbard dort als Fellow am Institute for Humane Studies auf und wir brachten gemeinsam viele schöne Tage unter anderem damit zu, sein Manuskript Ethics of Liberty zu diskutieren. Ich werde den frühen Entwurf, den er mir überließ, für immer aufbewahren. Er wusste alles über Spanien, alle Details über die Geographie und Geschichte, und kannte vor allem die ideologischen Fraktionen im spanischen Bürgerkrieg. Er war natürlich gegen Franco, aber noch mehr gegen die republikanisch-­ kommunistische Partei. Ich war mit ihm einer Meinung. Eines der größten Übel,

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das die Kommunisten angerichtet haben, waren die Morde an den Anarchisten. Mein Großvater sagte immer: „Diese Anarchisten sind feine Menschen.“ Auf ihre Art waren sie gegenüber Märkten und privaten Unternehmen aufgeschlossener als die Sozialisten und die Konservativen, die die klassischen Liberalen wirklich hassten. Meine letzte Begegnung mit Rothbard war auf der Versammlung der Mont ­ èlerin Society in Rio de Janeiro 1993. Wir organisierten für ihn eine VorlesungsP reihe in Spanien und Portugal, die in der zweiten Hälfte des Jahres 1995 stattfinden sollte. Der Höhepunkt sollte in der Universität von Salamanca stattfinden, dem Geburtsort der Österreichischen Schule. Leider war Rothbard nicht mehr gegönnt, Spanien und sein geliebtes Salamanca zu besuchen. Ich denke aber, er würde sich über die Größe dieser Konferenz sehr gefreut haben, und mehr noch über die enger werdenden Beziehungen zwischen den Österreichern auf beiden Seiten des Atlantiks. AEN: Es klingt immer noch etwas revisionistisch, Spanien als den Geburtsort der Österreichischen Schule zu bezeichnen. Huerta de Soto: Ja, aber es ist korrekt. Sich nur auf Wien zu konzentrieren, ist viel zu eng gedacht. Wie alle Menschen der Moderne, neigen auch wir zu der Annahme, nur das Neue sei wertvoll. Das Alte zu studieren ist reine Archäologie. In Ökonomie und Philosophie ist es genau umgekehrt. Die meisten der großen Ideen wurden bereits in der Vergangenheit gedacht. Das gilt auch für die Grundideen der Österreichischen Schule. Eine der großen Leistungen von Rothbard war der Nachweis, dass die Vorgeschichte zur Österreichischen Schule in den Werken der spanischen Scholastiker des „Siglo de Oro Español“, dem Goldenen Zeitalter Spaniens, gefunden werden kann. Dieses währte von der Herrschaft Karls V. im 16. Jahrhundert bis ins 17. Jahrhundert. Rothbard stellt diese Theorie in einem Aufsatz von 1974 vor, den er auf der South Royalton Conference vortrug und zwei Jahre später in The Foundations of Modern Austrian Economics publizierte. AEN: Und selbst diese Erkenntnis hat eine Vorgeschichte. Huerta de Soto: Natürlich. Joseph Schumpeter argumentierte bereits 1954 in seinem Buch History of Economic Analysis in diese Richtung. Überdies traf Hayek in den 1950er Jahren auf den großen italienischen Gelehrten Bruno Leoni, Autor von Freiheit und das Recht, der Hayek davon überzeugte, dass die geistigen Wurzeln des Klassischen Liberalismus im europäischen Mittelmeerraum und nicht in Schottland zu suchen sind. Dies veranlasste Hayek dazu, sein Forschungsprogramm zu ändern, das er mit seinen ersten Rechtsstudien an der London School of Economics begonnen hatte. Später übersetzte Marjorie Grice-Hutchinson (heute Baronin Marjorie von Schlippenbach), eine Schülerin von Hayek, die Haupttexte der Scholastiker. Es gibt ein Cicero-Zitat in Leonis Buch, in dem Cato sagt, das römische Recht sei das perfekteste Gesetz von allen, weil es nicht von einem Geist erschaffen

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worden sei. Es wurde nicht konstruiert. Es ist das Ergebnis eines Prozesses, an dem viele weise Köpfe mitgewirkt haben. Die Anwälte machen das Recht nicht, sie entdecken es und können es nur langsam verbessern. Leoni überzeugte Hayek von seiner These. Man kann das an der Veränderung seines schottisch ausgerichteten Buches The Constitution of Liberty und seiner eher am Mittelmeer orientierten Reihe Law, Legislation and Liberty nachvollziehen. In dieser Reihe zitiert Hayek die Scholastiker ausgiebig zu ökonomischen Themen. Ich habe einen Brief von Hayek vom 7. Januar 1979, in dem er empfiehlt, Rothbards Aufsatz zu lesen. Er sagte, dass Rothbard and Marjorie Grice-Hutchinson aufzeigten, „dass die Kernprinzipien der Theorie wettbewerblicher Märkte von spanischen Scholastikern des 16. Jahrhunderts dargelegt worden sind und der Wirtschaftsliberalismus nicht von Calvinisten, sondern von Jesuiten stammt.“ AEN: Wer waren diese spanischen Vorgänger der Österreichischen Schule? Huerta de Soto: Die meisten lehrten Moral und Theologie an der Universität von Salamanca, eine mittelalterliche Stadt, etwa 150 Meilen nordwestlich von Madrid, nahe der Grenze zu Portugal. Sie waren hauptsächlich Dominikaner oder Jesuiten und ihre Sicht auf die Ökonomie kam dem, was Carl Menger dann mehr als 300 Jahre später hervorhob, sehr nahe. Einer meiner Favoriten ist Diego de Covarrubias y Leyva, der die subjektive Werttheorie aufstellte. Er schrieb, der Wert eines Gegenstandes hänge nicht von seiner Natur ab, sondern von der subjektiven Einschätzung der Menschen, selbst wenn diese Einschätzung idiotisch sei. Er wurde 1512 geboren und diente als ­Bischof von Segovia und Minister unter König Philipp II. Heute gibt es im Museum des spanischen Malers El Greco in Toledo ein beeindruckendes Portrait von ihm. Carl Menger zitiert Covarrubias’ Abhandlung von 1560 über monetäre Abwertung. Ein anderer wichtiger Vertreter aus Salamanca ist Luis Savaria de la Calle, der erste Denker, der aufzeigte, dass die Preise die Kosten determinieren und nicht umgekehrt. Er schrieb, dass diejenigen, die den gerechten Preis an Arbeit, Kosten und Risiko des Verkäufers festmachen wollten, einen groben Fehler begingen. Der gerechte Preis werde nicht durch das Addieren der Kosten gefunden, sondern durch Abschätzung. Er war auch ein engagierter Kritiker des Teilreservesystems der Banken und argumentierte, dass man den Bankiers für das sichere Verwahren von Gold Gebühren zahle. AEN: Kommen wir zu ihrem Aufsatz in der Review of Austrian Economics (Vol. 9, Nr. 2) zu diesem Thema. Huerta de Soto: Die Bankentheorien der Salamancaner gehören nicht zu dem, was Rothbard in seinem Buch über die Geschichte des ökonomischen Denkens ausführlich erörtert. Doch es gibt in dieser Hinsicht reichhaltiges Material. An sich haben sie in ihren internen Debatten die britischen Debatten über das Bankgeschäft im 19. Jahrhundert vorweggenommen. In Salamanca erforschte man die Banken,

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indem man die korrupte Beziehung zwischen den Banken und der Regierung, die mit dem rechtlichen Schutz des Teilreservesystems stand und fiel, ins Visier nahm. Die Salamancaner waren gegen jede Form der Inflation. Da war z. B. Martín Azpilcueta Navarro. Er wurde 1493 geboren und lebte 94 Jahre lang. Bekannt ist er vor allem wegen seiner Quantitätstheorie des Geldes, die er in seinem Buch von 1556, Commentary on Exchanges, darlegte. (Ich besitze ein Exemplar der ersten Auflage!) In seinem Buch schrieb er, „dass Geld mehr wert ist, wenn es fehlt, als wenn es im Überfluss vorhanden ist.“ Navarro war ein Gegner der Teilreserven und sah einen klaren Unterschied zwischen Kreditgeschäft und Einlagengeschäft. Er sagte, dass der Bankier der Aufbewahrer und Garant des Geldes in seinem Besitz sein sollte. Ein Vertrag zwischen Einleger und Bankier, der eine Teilreserve vorsehe, könne kein gültiger Vertrag sein. Wenn ein solcher Vertrag geschlossen werden sollte, würden sich alle Parteien des Betrugs schuldig machen. Offener für Teilreserven war Luis de Molina. Er argumentierte als erster, dass die Bankeinlagen als Teil des Geldangebots betrachtet werden sollten. Er verwechselte aber Kredite und Einlagen und verstand nicht die destabilisierende Auswirkungen, die das Teilreservesystem mit sich bringt. In diesem Sinne bildeten Navarro und de la Calle eine Art Currency Schule und waren sehr misstrauisch gegenüber dem Bankensystem und allem, was weniger als eine 100-prozentige Reservehaltung vorsah, während de Molina und Juan de Lugo, wie die Banking School, dem Teilreservesystem toleranter gegenüberstanden. AEN: Wollen Sie sich über die ideenhistorische Debatte hinaus auch in die Reservesatzdebatte unter den Österreichern einschalten? Huerta de Soto: Ich habe einen längeren Aufsatz geschrieben, in dem ich für ein 100-prozentiges Reservesystem eintrete und gegen George Selgins Theorie des monetären Gleichgewichts Stellung beziehe. Dessen Theorie besagt, dass es den Banken bei Anstieg bzw. Rückgang der Geldnachfrage freistehen sollte, die Kredite auszuweiten bzw. einzuengen. Diese Handlungen verursachten keine Störungen bei den Investitionen, weil die Banken auf die vorangegangenen Änderungen der Nachfrage reagierten. Mit dieser Theorie scheint Selgin die alte Banking School-Doktrin von den „Bedürfnissen des Handels“ wiederzubeleben. Außerdem scheinen die Free Banker ähnlich wie die Keynesianer auf kurzfristige einseitige Veränderungen in der Nachfrage nach Geld fixiert zu sein. Sie übersehen aber die Möglichkeit, dass Änderungen der Geldnachfrage nicht immer exogen bedingt sind, sondern auch endogen entstehen können. Die Banken könnten z. B. selbst das Geldangebot manipulieren, weil dies in ihrem eigenen Interesse liegt, solange sie Bankruns vermeiden können. Das neue Angebot kreiert seine eigene Nachfrage und provoziert ökonomische Zyklen. Die Geschichte hat das bestätigt. Die Free Banking-Theorie nimmt keine Rücksicht auf diese Erkenntnis, weil sie eine rein makroökonomische Theorie ist.

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AEN: Waren die Salamancaner in ihrer politischen Haltung nicht nur in der Bankenfrage, sondern generell für eine freie Marktwirtschaft? Huerta de Soto: Sie neigten dazu, libertäre Positionen in der gesamten Breite zu verteidigen. Francisco de Victoria wird z. B. weithin als der Begründer des internationalen Rechts angesehen. Er verhalf der Idee, dass das Naturrecht der Macht des Staates moralisch überlegen sei, zu einer Renaissance. Juan de Mariana verurteilte jede Form der Münzabwertung als reine Räuberei und meinte, dass jeder den Herrscher, der Steuern ohne die Zustimmung der Menschen erhebe, umbringen dürfe. Die einzige Stelle, an der Juan de Mariana irrte, war seine Missbilligung der Stierkämpfe. Als Enkel eines berühmten Stierkämpfers bin ich in dieser Frage allerdings nicht unbefangen. AEN: Ist die spanisch-österreichische Verbindung mehr als ein historischer Zufall? Huerta de Soto: Wir müssen bedenken, dass im 16. Jahrhundert Kaiser Karl V., König von Spanien, seinen Bruder Ferdinand I. aussandte, König von Österreich zu werden, was etymologisch „der östliche Teil des Reiches“ bedeutet und den größten Teil Kontinentaleuropas umfasste. Die einzige Ausnahme war Frankreich, damals eine isolierte Insel, umgeben von spanischen Einheiten. Die ökonomischen, politischen und kulturellen Beziehungen zwischen Österreich und Spanien überdauerten viele Jahrhunderte. Carl Menger entdeckte diese kontinental-katholische Tradition der spanischen Scholastiker, die damals fast vergessen war. AEN: Was geschah denn mit dieser Tradition, dass sie wiederentdeckt werden musste? Huerta de Soto: Es kam dazu, dass Adam Smith und seine Anhänger das ökonomische Denken dominierten. Das beendete die weitere Entwicklung der subjektivistischen Schule, die für den freien Markt nicht nur stets eingetreten ist, sondern ihn auch theoretisch verstand. Cantillon, Turgot und Say hielten die Tradition in Frankreich am Leben. Teile des Wissens fanden über die Schriften der Theoretiker des protestantischen Naturrechts, namentlich Samuel Pufendorf und Hugo Grotius, ihren Weg nach England. Im Spanien des 18. und 19. Jahrhunderts setzte indes mit dem letzten Habs­ burger und den frühen französischen Bourbonen der Niedergang ein. Philipp IV. ließ sich durch seinen Etatismus zu dem Versuch verleiten, von Madrid aus ein großes Reich zu organisieren und zu kontrollieren. Dieses Projekt war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Die Scholastiker waren natürlich gegen diesen Etatismus, aber sie wurden missachtet und ihre Tradition ging verloren. Es gab ebenfalls das Problem, dass sie auf Latein schrieben, so dass es eine Sprachbarriere gab. Hinzu kommt die britisch gesteuerte Schwarze Legende, die alles Katholische und Spanische für zwei Jahrhunderte diskreditierte. Ironischerweise war die Reformation ein Rückschlag für

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die Sache der freien Marktwirtschaft. Die Kirche war lange eine ausgleichende Macht gegen den Staat. Als die Kirche unterging, ging mit ihr die Weisheit ihrer besten ökonomischen Theoretiker unter, während die Macht des Staates und die ihrer Apologeten wuchs. AEN: Warum brauchte es einen Österreicher, um die spanischen Ökonomen wiederzuentdecken? Huerta de Soto: Die Bücher der Scholastiker wurden in der Regel in Brüssel oder Italien gedruckt und nach Spanien und Wien verschickt. So drangen sie in den Markt ein. Es gibt auch eine scholastische Denktradition in Österreich, die zu 90 % katholisch ist. Und es war ein spanisch-katholischer Autor, der das Wertparadox gelöst hat, und zwar 27 Jahre vor Carl Menger. Sein Name war Jaime Balmes. Er wurde 1810 in Katalonien geboren und starb 1848. In seinem kurzen Leben wurde er der wichtigste thomistische Philosoph Spaniens. 1844 veröffentlichte er einen Aufsatz mit dem Titel: „Die wahre Idee vom Wert oder Gedanken über Ursprung, Natur und Änderungen von Preisen.“ Balmes fragt, warum ein seltener Stein mehr wert sei als Brot. Er antwortet damit, dass der Wert einer Sache in deren Nützlichkeit liege und somit eine notwendige Beziehung zwischen dem Anstieg bzw. Rückgang des Wertes und der Knappheit bzw. Fülle einer Sache bestehe. AEN: In welcher Form können die Österreicher heute die Schriften aus Salamanca nutzen? Huerta de Soto: Vor einigen Jahren haben ein paar Forscher sich der Mühe unterzogen, die Hauptwerke aus Salamanca ins Spanische zu übersetzen. Sie unterstützen damit die Ausbreitung der Schriften. Viele Wissenschaftler sind sich heute bewusst, dass diese großen Denker Libertäre waren. Dies hat den Status der Österreichischen Schule in Spanien gestärkt. Sie wurde Teil der Geschichte, was ihr ein breites intellektuelles Fundament bescherte. Noch vor wenigen Jahren war ich nur irgendjemand an der Universität, der eine unbekannte Literatur lehrte. Jetzt sieht man in mir den Repräsentanten einer Schule, die den Untergang des Sozialismus vorausgesagt hat, und einen Fürsprecher großer Denker der spanischen Vergangenheit. Und all dies geschieht in einer Zeit, in der Spanien darum kämpft, seine Märkte vom Morast des Wohlfahrtsstaates zu befreien. AEN: Um diese Anstrengung zu unterstützen, haben Sie einen Plan zur Reform des spanischen Sozialversicherungssystems vorgeschlagen. Huerta de Soto: Das Problem garantierter Altersbezüge ist in allen westlichen Ländern gravierend. In allen Fällen sind die Verbindlichkeiten enorm und die demo­graphische Entwicklung hat sie unbezahlbar werden lassen, es sei denn, man würde die Steuern in inakzeptabler Weise erhöhen. Bevor wir wissen können, was zu tun ist, müssen wir die inhärenten Widersprüche des Systems verstehen.

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Erstens geben diese Systeme vor, das Sparen zu erleichtern. Dabei halten sie einen eigentlich vom Sparen ab. Die benötigten Steuern nehmen den Platz ein, den sonst das Sparen übernehmen würde. Man lässt die Menschen glauben, dass man sich um ihre Zukunft kümmern würde und sie selbst deshalb nicht sparen müssten. Empirisch fällt das Anwachsen des Sozialversicherungssystems paradoxerweise mit dem Rückgang des Sparens zusammen. Das Sinken der Sparquote führt zu einem Anstieg der Zinssätze und reduziert die Investitionen in einem Ausmaß, das wir nicht einschätzen können. Zweitens, egal wie laut Gesetz die Last der Beiträge auf die Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu verteilen ist, müssen – ökonomisch betrachtet – immer die Arbeitnehmer den gesamten Beitrag bezahlen. Mises erkannte als erster, was er auch in Socialism schrieb, dass die Sozialversicherungsbeiträge immer auf Kosten der Löhne gehen. Drittens, das System basiert auf einer allgemeinen institutionellen Aggression, die sich unterschiedslos gegen alle Bürger und deren Freiheit richtet. Dies wiederum verhindert die kreative Entwicklung unternehmerischer Entdeckungen, neue Formen des Sparens und den effizienten Einsatz von Eigentum. Die daraus resultierende Fehlleitung von Arbeit und Kapital ist unberechenbar groß. Viertens kann das System nicht gleichzeitig als Wohlfahrtsinstrument und Versicherung funktionieren, weil beide zwei unvereinbare Konzepte sind. Private Versicherungen gründen auf der Idee, dass die Leistungen den Beiträgen entsprechen. Wohlfahrt richtet sich nach Bedürftigkeit. Mit immer kleiner werdenden Renditen schädigt das Versicherungselement die Wohlfahrtsfunktion und umgekehrt. Und warum haben wir diese Systeme? Vermutlich, weil es ein paar Menschen gäbe, die nicht für sich selbst sorgen könnten. Das wäre aber das gleiche, wie wenn man sagen würde: Nur weil einige Leute nicht selbst für ihr Essen sorgen können, soll die gesamte Bevölkerung gezwungen werden, in Staatskantinen zu speisen. AEN: Basiert ihr Reformplan auf der chilenischen Erfahrung? Huerta de Soto: Wir müssen uns vor Augen halten, dass die Verbindlichkeiten des chilenischen Systems im Vergleich zu denen in Spanien und in den USA sehr klein sind. Sie wurden im Prinzip weg inflationiert, und was übrig blieb, wurde aus Haushaltsüberschüssen finanziert. Der Vergleich mit Chile bringt uns also nicht weit. Unsere Probleme sind sehr viel schwieriger zu lösen. In der Übergangsphase zahlt die arbeitende Bevölkerung für die gegenwärtigen Empfänger und muss außerdem für ihre eigene Vorsorge sparen. Der Schlüssel zum Erfolg liegt darin, dass die neuen Ersparnisse vollkommen privat sein und vollständig von den Individuen kontrolliert werden müssen. Es darf sich nicht um ein Zwangsprogramm handeln. Wir müssen es so gestalten, dass diejenigen, die das System verlassen wollen, auch keine Beiträge zahlen müssen und keine Leistungen erhalten dürfen. Das muss

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das langfristige Ziel sein, und ich bin davon überzeugt, dass die meisten Leute das System auch nutzen würden. Nach meinem Plan erhält man in der Übergangsphase schon heute 50 % Steuernachlass, wenn man im Gegenzug auf alle künftigen Leistungen verzichtet. Er sieht auch vor, dass keine zusätzlichen Steuern für die Übergangsphase erhoben werden. Für Politiker ist es nur allzu verführerisch, mit dem Vokabular der Privatisierung eine steuerfinanzierte Rettungsaktion für ein bereits gescheitertes System zu verschleiern. AEN: Kann eine ähnliche Übergangsstrategie genutzt werden, um den medizinischen Sozialismus abzubauen. Huerta de Soto: Spaniens Gesundheitssystem ist etatistischer als das der USA. Fast der gesamte medizinische Bereich wird vom Staat kontrolliert. Ich setze mich für einen Plan ein, der die weitere Entwicklung eines privaten Systems unter Zuhilfenahme von Steuernachlässen fördert. Jeder, der medizinische Leistungen aus der eigenen Tasche bezahlt, kann die Ausgaben von seiner Steuerschuld abziehen. Das schützt die Menschen davor, die Gesundheitsvorsorge doppelt zu bezahlen. AEN: Werden diese Ideen wahrgenommen? Huerta de Soto: Letztes Jahr gab es Wahlen und der sozialistische Kandidat hat gegen den 44-jährigen José María Aznar verloren. Aznar ist von einer neuen Generation von Politikern und Ratgebern umgeben, die Autoren wie Mises, Hayek oder Rothbard gelesen haben. Sie sind klassische Liberale. Ich habe Aznars Volkspartei zwölf Jahre lang beraten und dabei immer den harten Kern libertärer Positionen verteidigt. Obwohl Aznars Libertäre im Parlament immer noch in der Minderheit sind, wurden große Fortschritte erzielt. Die Kapitalertragsteuer wurde von 56 % auf 20 % reduziert. Die Körperschaftsteuern und Einkommensteuern wurden ebenfalls gesenkt. Die nächste große Herausforderung ist der Arbeitsmarkt. Als die sozialistische Regierung vor 14 Jahren an die Macht kam, hat sie nichts am sozialistischen Arbeitsrecht General Francos geändert. Das Gesetz gibt vor, dass jedes Unter­ nehmen, das einen Angestellten gehen lässt, eine hohe Abstandssumme zahlen muss, die insgesamt dem Lohn von 1.260 Tagen entspricht. Daher wollen Unternehmen nicht gern einstellen. Sie können es sich schlicht nicht leisten, in dieser Form zu spekulieren. Außerdem betragen die Arbeitslosenzahlungen 90 % der Löhne, so dass es wenig Anreiz gibt, sich eine neue Arbeit zu suchen. AEN: Was wäre eine vernünftige Veränderung, die jetzt politisch möglich wäre? Huerta de Soto: Wir planen, die Abstandssumme zunächst zu halbieren und in begründeten Ausnahmefällen auch mehr als die Hälfte zu streichen. Die verpflichtende Abstandszahlung sollte den Jahreslohn nie übersteigen. Sie ist natürlich viel zu hoch. Ich habe vorgeschlagen, dass diese Dinge allein eine Angelegenheit der Vertragspartner sein sollten. Wenn ein Angestellter hohe Pensionsansprüche oder größere Abstandszahlungen möchte, dann muss er heute einen geringeren Lohn

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akzeptieren, und umgekehrt. Es sollte die Sache der involvierten Parteien sein, diese Absprachen zu treffen, nicht die der Regierung. Diese Idee, wie vieles, was wir Marktwirtschaftler wollen, braucht eine lange Zeit. Aber wir suchen nach Fortschritten, wo immer wir sie machen können. Das Gravitätszentrum bewegt sich etwas in unsere Richtung, das ist ein gutes Zeichen. Der Militärdienst sollte z. B. zu einem freiwilligen Dienst gemacht werden dürfen. Bis jetzt war er verpflichtend und dauerte bis zu einem Jahr. Junge Menschen verschwenden so Zeit, nehmen Drogen, fahren Generäle herum, oder was auch immer. Mehr als 200.000 Menschen verlieren ein Jahr ihrer produktiven Zeit. Wenn diese Zeit zurückgewonnen wird, dann wächst der Wohlstand in diesem Land. AEN: Glauben Sie, dass diese Jugendlichen stattdessen in der Weiterbildung wären? Huerta de Soto: Nicht notwendigerweise, weil dies eine intellektuelle Fehlinvesti­ tion sein könnte, die oft vorkommt, wenn eine Ausbildung vom Staat subventioniert wird. Die Theorie des Humankapitals von Gary Becker scheint nahezulegen, dass man für die Gesellschaft wertvoller wird, wenn man länger in der Schule lernt. Die logische Schlussfolgerung daraus ist, dass der Staat die Schulausbildung eines jeden bezahlen sollte, um die Gesellschaft reicher zu machen. Ich bin vollkommen anderer Meinung als Becker. Gerade weil hier Staatsgeld fließt, gibt es keine Möglichkeit, ökonomisch zu berechnen, ob Weiterbildung eine gute Investition ist. Sehr wahrscheinlich ist sie es nicht. Viele Menschen verbringen Jahre damit, Dinge zu studieren, die keinen Nutzen für sie haben. Die neoklassische Theorie neigt dazu, Kapital im Allgemeinen so zu interpretieren, als ob es keine gute oder schlechte Art der Kapitalinvestition gäbe. Es ist einfach alles Kapital. Auf eine gewisse Weise ist die Fehlinvestition in Kapital sogar schlimmer als die Verschwendung, die von anderen Ressourcenallokationen hervorgerufen wird. AEN: Sehen sie einen Widerspruch zwischen ihren theoretischen Idealen und ihren bescheidenen Reformvorschlägen? Huerta de Soto: Die größte Gefahr für die libertäre Strategie ist, in eine Art Alltagspragmatismus zu verfallen. Es ist einfach, die höheren Ziele zu vergessen, wenn man glaubt, es sei politisch unmöglich, sie kurzfristig zu verwirklichen. Unsere Programme könnten verwässern und unsere Intellektuellen vom Staat abgeworben werden. Der Weg, um sich davor zu schützen, ist eine zweigleisige Strategie. Auf der einen Seite müssen wir offen und ehrlich unsere Ziele definieren und die Öffentlichkeit ständig darüber in Kenntnis setzen, was unsere Vorstellung einer bestmöglichen Gesellschaft ist. Auf der anderen Seite sollten wir jedes kurzfristige Ziel unterstützen, das uns unserer Vision näherbringt. Auf diese Weise gibt es kein Bedauern, wenn die kurzfristigen Ziele erreicht werden. Wir können mit der Gewissheit weitermachen, dass die Menschen verstehen, dass mehr dafür getan werden muss. AEN: Wie sind Sie mit der Österreichischen Schule in Kontakt gekommen?

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Huerta de Soto: Mit 16 Jahren habe ich angefangen, Ökonomie generell zu mögen. Ich ging in einen Buchladen und durchkämmte die Auslage nach allen ökono­m ischen Texten, die ich finden konnte. Ich dachte, ich hätte alle gelesen, als ich eines Tages auf einer Buchmesse ein Buch sah, das ich noch nicht kannte. Es war Human Action. Ich mochte dicke Bücher, je dicker, desto besser. Ich kaufte mir also sofort ein Exemplar. Ich war von Anfang an über seine Stärke erstaunt. Ein Freund meines Vaters, der sah, wie ich Mises las, lud mich ein, am Seminar von Reig teilzunehmen, das ich vorhin erwähnte. Dort war man überrascht, dass ich das Buch genauso gut oder sogar noch besser als die anderen Seminarteilnehmer kannte. Das nächste Buch, das ich las, war Man, Economy, and State. Über die Jahre habe ich mein Wissen kontinuierlich aufgebaut. AEN: Es ist überraschend, dass die Ökonomie für Sie schon in jungen Jahren so attraktiv war. Huerta de Soto: Mein Familiengeschäft ist die Lebensversicherung. Das ist das Einzige, was ich mit John Maynard Keynes gemeinsam habe. Er saß in den 30er Jahren der National Mutual Life Assurance Society of London vor. Lebens­ versicherungen sind ein sehr traditionelles Geschäft, das sich in den letzten 200 Jahren spontan entwickelt hat. Als ich bei meinem Vater arbeitete, regte sich natürlich auch mein Interesse für Geld, Finanzen und ökonomische Institutionen. Ich wollte Versicherungsmathematiker werden. Ich war sehr gut in Mathematik. Aber ich habe früh gemerkt, dass das, was für Versicherungsmathematiker funktioniert, die sich mit Wahrscheinlichkeiten von Leben und Tod beschäftigen, nicht für die ökonomische Theorie gilt, da es im menschlichen Verhalten keine ähnlichen Konstanten gibt. Es gibt Kreativität, Veränderung, Entscheidung und Entdeckung, aber es gibt keine festen Entsprechungen, die das Aufstellen von Funktionen erlauben. Hans Meyer hatte ein sehr interessantes Argument vorgelegt, das später in Israel Kirzners Sammlung Österreichischer Schriften erschien. Mayer argumentierte, dass Angebots- und Nachfragekurven nicht die Realität widerspiegelten, weil die notwendige Information für ihre Konstruktion nur im Laufe der Zeit durch den unternehmerischen Prozess entstünde. Diese Information zeige sich niemals zur selben Zeit, wie die Mathematiker annähmen. Es war ein Argument, das Mayer von Mises übernommen und weiterentwickelt hatte. Mayer war allerdings ein politisches Chamäleon, insbesondere in den entscheidenden Jahren vor dem 2. Weltkrieg, und war daher bei Mises nicht sehr hoch angesehen. AEN: Keynes hat offensichtlich nicht die gleichen Lektionen über menschliches Verhalten gelernt, als er bei einer Lebensversicherung gearbeitet hat. Huerta de Soto: Es hat sich herausgestellt, dass Keynes nicht nur die Ökonomie korrumpiert hat, sondern auch die Praxis des Lebensversicherungsgeschäfts. Er brach mit der traditionellen Politik seiner Firma, indem er Vermögensgegenstände

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nach Marktpreis und nicht nach historischem Wert ansetzte. Kurzfristig gab ihm das einen enormen Wettbewerbsvorteil. Keynes war in der Lage, Dividenden an seine Kunden zu verteilen, die sich aus nicht realisierten Kapitalgewinnen zusammensetzten. Als der Aktienmarkt nach oben ging, war das wunderbar. Als die Große Depression kam, ging seine Firma fast bankrott. Sowohl die britische als auch die amerikanische Versicherungsindustrie leidet unter diesem desaströsen Bruch mit der Tradition. Auf dem Kontinent gibt es noch die Praxis, Vermögensgegenstände nach historischen Kosten zu beurteilen und Dividenden nur gegen realisierte Kapitalgewinne auszuzahlen. AEN: Sie haben dem Mises Institute ein Bild von König Juan Carlos übergeben, der ein Buch von Mises hält. Ist er Misesianer? Huerta de Soto: Das würde ich nicht sagen, aber er mag freie Märkte und versteht, dass wir radikale Meinungen zu diesem Thema haben. Jedes Jahr laden wir ihn zu einer Buchmesse ein, die Neuerscheinungen präsentiert, und er ist so freundlich und kommt. In Anbetracht der Tatsache, dass er nicht an der Universität von Chicago studiert hat, ist er mehr pro-Austrian, als man glaubt. Man weiß nie, wer oder welche Gruppe von Leuten sich von der Österreichischen Schule angezogen fühlt. AEN: Beispielsweise der Einfluss der Österreicher über die Salamancaner auf die moderne katholische Kirche. Huerta de Soto: Die katholische Kirche ist wie ein großer transatlantischer Ozeandampfer. Wenn man das Steuerrad nach rechts dreht, bewegt sich das Boot sehr, sehr langsam, bevor es dann irgendwann anfängt, die Richtung zu wechseln. Es gibt eine einflussreiche katholische Gruppe in Spanien, die Opus Dei genannt wird. Sie steht dem Papst sehr nahe und ist sehr wirtschaftsfreundlich. Jemand im Orden hat Hayek gelesen, interpretierte ihn als sehr wirtschaftsfreundlich und sendete eine Botschaft an die gesamte Organisation: Opus Dei sollte die Österreicher unterstützen. Plötzlich wurden meine Bücher von jedem im Orden gelesen, und ich fing damit an, vor den Priestern und Mitgliedern Vorträge zu halten. Vor kurzem habe ich sogar eine Dissertation über Mises und Hayek gelesen, die von einem führenden Mitglied im Opus Dei stammt. AEN: Der Papst scheint viele ökonomische Themen richtig zu sehen, aber die Gewerkschaften scheinen ein Knackpunkt bei ihm zu sein. Huerta de Soto: In seinen Schriften nutzt er oft das Wort Arbeit, wenn er eigentlich menschliche Handlung meint. Wenn er sagt, dass Arbeit kreativ, unternehmerisch und produktiv ist, dann meint er nicht Gewerkschaften. Er meint menschliche Handlungen in Austauschbeziehungen. Natürlich kann die Kirche auch falsch liegen, wie es z. B. Rothbard in History of Economic Thought gezeigt hat. Die Meinung der katholischen Kirche zu Wirtschafsthemen sollte ernst genommen wer-

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den, hat aber keinen Einfluss auf Fragen des Glaubens. Nebenbei bemerkt hängt an meiner Wand ein Bild, das Hayek mit dem derzeitigen Papst zeigt. AEN: Sind sie der Meinung, dass die Ökonomen die Religion ernster nehmen sollten als bisher? Huerta de Soto: Bestimmt. Die Religion spielt eine wichtige Rolle im Leben einer Ökonomie. Sie transportiert bestimmte Verhaltensmuster und moralische Traditionen von Generation zu Generation. Diese sind für die Herrschaft des Rechts, das den ökonomischen Austausch erst ermöglicht, von zentraler Bedeutung. Wenn z. B. Verträge nicht eingehalten werden, dann kann die Gesellschaft auseinanderfallen. Religion, nicht der Staat ist das Mittel, das in uns den Sinn für die Verpflichtung, Versprechen zu halten und Eigentum zu respektieren, weckt. AEN: Wurden jemals Ökonomen heilig erklärt? Huerta de Soto: Ja, zwei Scholastiker. Zwei Ökonomen unter den Scholastikern wurden heilig gesprochen: Der heilige Bernhardin von Siena und sein großer Schüler, der heilige Antonius von Florenz. Hoffen wir, dass sie nicht die letzten sind.

21. Die Verteidigung des Euro: ein Österreichischer Ansatz1 Einleitung: das ideale Geldsystem Die Theoretiker der Österreichischen Schule haben große Anstrengungen unternommen, um das ideale Geldsystem einer Marktwirtschaft zu erläutern. Auf theoretischer Ebene haben sie eine Konjunkturtheorie entwickelt, die erklärt, wie ein wiederkehrender Zyklus durch eine nicht durch reale Ersparnisse gedeckte Kreditausweitung generiert wird. Diese Kreditausweitung durch ein auf Teildeckung operierendes Bankensystem wird von den Zentralbanken organisiert. Aus historischer Perspektive haben die Theoretiker das evolutionäre Entstehen des Geldes erklärt und ausgeführt, wie die Zwangseingriffe des Staates, angefeuert von mächtigen Interessengruppen, die natürliche Evolution der Bankinstitutionen vom Markt entfernt und korrumpiert haben. Aus ethischer Perspektive haben sie die juristischen Erfordernisse und Prinzipien des Eigentumsrechts im Hinblick auf Bankverträge gezeigt. Diese Prinzipien entstehen aus dem Marktgeschehen selbst und sind gleichzeitig für sein Funktionieren unerlässlich.2 Die Schlussfolgerung der theoretischen Analyse ist, dass das aktuelle Geldund Bankensystem mit einer echten Marktwirtschaft nicht kompatibel ist, an allen durch das Unmöglichkeitstheorem des Sozialismus erklärten Defekten leidet und eine kontinuierliche Quelle von finanzieller Instabilität und wirtschaftlichen Störungen ist. Mithin ist ein grundlegender Neuentwurf des globalen Geld- und Finanzsystems unerlässlich, welcher die uns quälenden Probleme bei der Wurzel packt. Dieser Entwurf sollte auf den folgenden drei Reformen basieren: (a) eine Wiedereinführung einer 100-prozentigen Reservedeckung als essentielles Prinzip des Privateigentumsrechts in Hinblick auf alle Gelddepositen und ihre Äquivalente; (b) die Abschaffung aller Zentralbanken, welche nach der vorherigen Reform (a) zu unnötigen Kreditgebern letzter Instanz werden und die als wahrhaftige Organe zentraler Finanzplanwirtschaft eine kontinuierliche Quelle der Instabilität sind. Dabei müssen auch die Regelungen für ein gesetzliches Zahlungsmittel und das sich kontinuierlich ändernde Wirrwarr an administrativen Regulierungen verschwinden, welches sich aus diesen ableitet; und (c) die Rückkehr zum klassischen Goldstandard als einzigen weltweiten Geldstandard, der eine durch die staatlichen Kräfte nicht manipulierbare monetäre Basis bietet und fähig ist, den 1

Untertitel: Mit einer Kritik der Fehler der EZB und des Interventionismus aus Brüssel. Die wichtigsten Autoren und theoretischen Entwicklungen sind in Huerta de Soto (2011) zu finden. 2

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Inflationsgelüsten der verschiedenen sozialen Akteure ein Korsett anzulegen und sie zu disziplinieren.3 Die vorstehenden Ansätze erlauben nicht nur, wie gezeigt worden ist, die uns quälenden Probleme an der Wurzel zu lösen und damit ein noch nie dagewesenes ökonomisches und soziales Wachstum nachhaltiger Art anzustoßen, sondern haben auch den Vorteil zu indizieren, ob Reformenteilstücke in die richtige Richtung weisen. Zudem erlauben die Vorschläge ein besseres Urteil über die verschiedenen Alternativen der Wirtschaftspolitik für die uns umgebende reale Welt. Ausschließlich aus dieser Perspektive, aus den konjunkturellen Gegebenheiten und dem „Machbaren“, ist unsere Analyse der relativen „Unterstützung“ des Euro zu verstehen. Die vorliegende Arbeit versucht aus Sicht der Österreichischen Schule eine solche Analyse zu entwickeln.

Die Österreichische Tradition der Verteidigung fester Wechselkurse gegen einen monetären Nationalismus und flexible Wechselkurse Die Ökonomen der Österreichischen Schule haben, solange das ideale Geld­ system noch nicht erreicht worden ist, es stets als einen von vielen Ökonomen – vor allem der Chicagoer Schule – begangenen schweren Fehler der Wirtschaftstheorie und der politischen Praxis betrachtet, flexible Wechselkurse in einem Umfeld monetären Nationalismus zu verteidigen, so als ob diese mehr im Einklang mit einer Marktwirtschaft stünden. Im Gegensatz dazu ist für die Österreicher, solange die Zentralbanken nicht abgeschafft und der klassische Goldstandard mit einer 100-prozentigen Reservedeckung nicht wiedereingeführt worden ist, alles zu unternehmen, damit sich das gültige Geldsystem sowohl in seiner Funktion als auch in seinen Ergebnissen dem Ideal annähert. Dies erfordert, den monetären Nationalismus soweit als möglich zu begrenzen; die Möglichkeit zu beenden, dass jedes Land eine autonome Geldpolitik entwickelt; und der inflationären Politik der Kreditausweitung ein so enges Korsett wie möglich anzulegen. Dadurch wird ein monetärer Rahmen geschaffen, der die ökonomischen, politischen und sozialen Akteure, und im Besonderen die Gewerkschaften und andere Interessengruppen, die Politiker und die Zentralbanken so weit es geht diszipliniert. In diesem Kontext und keinem anderen sollte man die Position interpretieren, die solch berühmte Vertreter der Österreichischen Schule wie Mises und Hayek einnehmen. Dabei ragt die vernichtende hayeksche Analyse des monetären Nationalismus und der flexiblen Wechselkurse heraus, die Hayek bereits ab 1937 in seinem bemerkenswerten Buch Monetary Nationalism and International Stability 3

Huerta de Soto (2011b), Kapitel 9.

Die Österreichische Tradition der Verteidigung fester Wechselkurse   

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entwickelte.4 In diesem Buch zeigt Hayek, dass flexible Wechselkurse eine effiziente Ressourcenallokation auf internationalem Niveau behindern und außerdem die unmittelbaren realen Konsum- und Investitionsströme verzerren; außerdem erfordern sie, dass notwendige reale Anpassungen bei den Kosten nach unten immer durch das Anheben der restlichen Nominalpreise erfolgen. Das alles geschieht in einem chaotischen Umfeld kompetitiver Abwertungen, Kreditausweitung und Inflation, wodurch aller Art unverantwortliches Verhalten der Gewerkschaften gefördert und gedeckt wird. So werden kontinuierliche Forderungen nach höheren Löhnen und Arbeitsrechten angeregt. Diesen Forderungen kann nur nachgegeben werden, ohne die Arbeitslosigkeit zu erhöhen, indem weiter inflationiert wird. Achtunddreißig Jahre später, im Jahr 1975, fasste Hayek sein Argument folgendermaßen zusammen: „It is, I believe, undeniable that the demand for flexible rates of exchange originated wholly from countries such as Great Britain, some of whose economists wanted  a wider margin for inflationary expansion (called ‚full employment policy‘). They later received support, unfortunately, from other economists5 who were not inspired by the desire for inflation, but who seem to have overlooked the strongest argument in favor of fixed rates of exchange, that they constitute the practically irreplaceable curb we need to compel the politicians, and the monetary authorities responsible to them, to maintain a stable currency.“6

Um sein Argument weiter zu erhellen, fügt Hayek noch hinzu: „The maintenance of the value of money and the avoidance of inflation constantly demand from the politician highly unpopular measures. Only by showing that government is compelled to take these measures can the politician justify them to people adversely affected. So long as the preservation of the external value of the national currency is regarded as an indisputable necessity, as it is with fixed exchange rates, politicians can resist the constant demands for cheaper credits, for avoidance of a rise in interest rates, for more expenditure on ‚public works‘, and so on. With fixed exchange rates, a fall in the foreign value of the currency, or an outflow of gold or foreign exchange reserves acts as  a signal requiring prompt government action.7 With flexible exchange rates, the effect of an increase in the quantity of money on the internal price level is much too slow to be generally apparent or to be charged to those ultimately responsible for it. Moreover, the inflation of prices is usually preceded by a welcome increase in employment; it may therefore even be welcomed because its harmful effects are not visible until later. … I do not believe we shall regain a system of international stability without returning to a system of fixed exchange rates, which imposes upon the national central banks the restraint essential for successfully resisting the pressure of the advocates of inflation in their countries – usually including ministers of finance.“8 4

Hayek (1971) [1937]. Obzwar Hayek diese nicht explizit erwähnt, bezieht er sich auf die Theoretiker der Chica­ goer Schule mit Milton Friedman an der Spitze, die wie in anderen Bereichen den Keynesianern die Hand reichen. 6 Kursivsetzung von mir. 7 Wir werden später sehen, wie bei einer gemeinsamen Währung wie dem Euro die diszi­ plinierende Rolle der festen Wechselkurse durch die Kurse der Staats- und Unternehmensschulden eines Landes übernommen wird. 8 Hayek (1979) [1975], S. 9–10. 5

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In Hinblick auf Ludwig von Mises ist es weithin bekannt, dass er sich von seinem hoch geschätzten Schüler Fritz Machlup abwendete, als dieser im Jahr 1961 auf einer Sitzung der Mont Pèlerin Society flexible Wechselkurse verteidigte. Laut Ronald Hartwell „Machlup’s support of floating exchange rates led von Mises to not speak to him for something like three years.“9 Mises konnte verstehen, dass Makroökonomen ohne akademische Ausbildung in Kapitaltheorie wie Friedman und seine Anhänger aus Chicago sowie im Allgemeinen die Keynesianer die flexiblen Wechselkurse und ihren impliziten Inflationismus verteidigten. Er war aber nicht bereit zu entschuldigen, dass jemand wie Machlup, der sein Schüler gewesen war und mithin wirklich etwas von Ökonomie verstand, sich vom Pragmatismus und den flüchtigen Moden des politisch Korrekten mitreißen ließ. In der Tat bemerkte Mises zu seiner Frau, dass er Machlup nicht verzeihen konnte, weil „he was in my seminar in Vienna; he understands everything. He knows more than most of them and he knows exactly what he is doing.“10 Die misessche Verteidigung fester Wechselkurse läuft parallel zu seiner Verteidigung des Goldstandards als ideales Geldsystem auf internationaler Ebene. So schrieb Mises 1944 in Omnipotent Government: „The gold standard put a check on governmental plans for easy money. It was impossible to indulge in credit expansion and yet cling to the gold parity permanently fixed by law. Governments had to choose between the gold standard and their – in the long run disastrous – policy of credit expansion. The gold standard did not collapse. The governments destroyed it. It was incompatible with etatism as was free trade. The various governments went off the gold standard because they were eager to make domestic prices and wages rise above the world market level, and because they wanted to stimulate exports and to hinder imports. Stability of foreign exchange rates was in their eyes a mischief, not a blessing. Such is the essence of the monetary teachings of Lord Keynes. The Keynesian school passionately advocates instability of foreign exchange rates.“11

Mises’ Geringschätzung für die Ökonomen aus Chicago wundert nicht, da sie in diesem Gebiet wie in vielen anderen in die Arme des ungeschliffensten Keynesianismus fielen. Andererseits war es aus der Sicht von Mises relativ einfach, den Goldstandard wiederherzustellen und zu festen Wechselkurse zurückzukehren: „The only condition required is the abandonment of an easy money policy and of the endeavors to combat imports by devaluation.“ Außerdem sind nach Mises nur die festen Wechselkurse mit einer wirklichen Demokratie kompatibel und der 9

Hartwell (1995), 119. Margit von Mises (1976) [1984], S. 146. 11 Kursivsetzung von mir. Um das Argument von Mises noch zu verstärken, müssen wir hinzufügen, dass der von Churchill nach dem 1. Weltkrieg begangene Fehler nicht dem Goldstandard selbst anzulasten ist. Churchill setzte die Parität fest, ohne die große Inflation des Papier-Pfunds, welches zur Kriegsfinanzierung ausgegeben worden war, zu berücksichtigen. Dieser Fehler hat weder etwas mit der aktuellen Situation des Euro gemein, der frei an den internationalen Märkten gehandelt wird, noch mit den Problemen der Peripheriestaaten der Eurozone, die ihren Ursprung im Verlust der realen Wettbewerbsfähigkeit ihrer Produkte während der Blasenjahre haben, Huerta de Soto (2011b), S. 313–14. 10

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Inflationismus, der hinter den flexiblen Wechselkursen steht, ist im Wesentlichen undemokratisch: „Inflation is essentially antidemocratic. Democratic control is budgetary control. The government has but one source of revenue-taxes. No taxation is legal without parliamentary consent. But if the government has other sources of income it can free itself from their control.“12 Nur bei festen Wechselkursen sehen sich die Regierungen gezwungen, ihren Bürgern die Wahrheit zu sagen. Daher ist die Versuchung, Inflation und flexible Wechselkurse in Anspruch zu nehmen, um die politischen Kosten unpopulärer Steuererhöhungen zu vermeiden, so groß und verderblich. Selbst wenn kein Goldstandard existiert, legen feste Wechselkurse der Willkür der Politiker ein Korsett an und disziplinieren sie: „Even in the absence of a pure gold standard, fixed exchange rates provide some insurance against inflation which is not forthcoming from the flexible system. Under fixity, if one country inflates, it falls victim to a balance of payment crisis. If and when it runs out of foreign exchange holdings, it must devalue, a relatively difficult process, fraught with danger for the political leaders involved. Under flexibility, in contrast, inflation brings about no balance of payment crisis, nor any need for a politically embarrassing devaluation. Instead, there is a relatively painless depreciation of the home (or inflationary) currency against its foreign counterparts.“13

Der Euro als „Proxy“ des Goldstandards14 Wie wir gesehen haben, sind die Ökonomen der Österreichischen Schule Anhänger des Goldstandards, weil er die Willkür der Politiker und Regierenden zügelt und beschränkt; weil er alle am demokratischen Prozess beteiligten Akteure diszipliniert und weil er das disziplinierte und moralische Handeln der Menschen fördert; kurz, weil er eine Bremse für Lügen und Demagogie darstellt und weil er Transparenz und Ehrlichkeit in den sozialen Beziehungen ausweitet und erleichtert. Nicht mehr und nicht weniger. Vielleicht hat dies Ludwig von Mises am besten ausgedrückt: „The gold standard makes the determination of money’s purchasing power independent of the changing ambitions and doctrines of political parties and pressure groups. This is not a defect of the gold standard, it is its main excellence.“15 Die Einführung des Euro 1999 und seine effektive Vollendung ab 2002 bedeuteten das Ende des monetären Nationalismus und der flexiblen Wechselkurse im größten Teil Kontinentaleuropas. Später werden wir die von der Europäischen Zentralbank begangenen Fehler kommentieren. Was uns an dieser Stelle interes 12

Mises (1969), S. 251–253. Block (1999), S. 19, Kursivsetzung von mir. 14 Untertitel: Oder warum die Verteidiger des freien Unternehmertums und der freien Marktwirtschaft den Euro unterstützen müssen, solange seine einzige Alternative die Rückkehr zum monetären Nationalismus ist. 15 Mises (1966), S. 474. 13

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siert, ist festzustellen, dass die verschiedenen Staaten der Währungsunion ihre monetäre Autonomie vollständig aufgaben. Damit verloren sie die Möglichkeit zur Manipulation ihrer lokalen Währung. Sie können sie also nicht mehr in den Dienst der jeweiligen politischen Notwendigkeiten stellen. In diesem Sinne und zumindest für die Mitglieder der Eurozone galt, dass diese anfing, in ähnlicher Weise zu operieren – und noch heute so funktioniert – wie der Goldstandard in seiner Zeit. Außerdem wurde mit dem Beginn der Großen Rezession von 2008 der disziplinierende Charakter des Euro für alle noch offensichtlicher: Zum ersten Mal haben sich die Länder der Währungsunion mit einer tiefen Wirtschaftsrezession auseinandersetzen müssen, ohne über eine autonome Geldpolitik zu verfügen. Bis zur Einführung des Euro handelten die Regierungen und Zentralbanken bei Beginn einer Krise unweigerlich auf die gleiche Weise: Sie injizierten dem System die notwendige Liquidität, ließen die lokale Devise nach unten treiben und abwerten, und verschoben auf unbestimmte Zeit die schmerzhaften Strukturreformen der ökonomischen Liberalisierung, Deregulierung, Preis- und Marktflexibilisierung (vor allem des Arbeitsmarktes), die Verringerung der Staatsausgaben sowie den Rückzug und die Demontage der Macht von Gewerkschaften und des Wohlfahrtsstaates. Mit dem Euro ist trotz aller Fehler, Schwächen und Kompromisse, die wir später kommentieren werden, diese Art von unverantwortlicher Flucht nach vorn nicht mehr möglich gewesen. In Spanien beispielsweise haben sich im kurzen Zeitraum von einem Jahr zwei aufeinanderfolgende Regierungen wortwörtlich gezwungen gesehen, eine Reihe von Maßnahmen zu ergreifen, die, obzwar sehr unzureichend, sogar von den optimistischen Beobachtern bis dahin als politisch unmöglich und utopisch bezeichnet wurden: 1. In Artikel 135 der Verfassung wurde das antikeynesianische Prinzip der Haushaltsstabilität und des ausgeglichenen Haushalts für die Zentralregierung, die Bundesländer und die Gemeinden eingeführt (James Buchanan wäre begeistert!). 2. Abrupt wurden alle pharaonischen Projekte ansteigender Staatsausgaben, des Stimmenkaufs und der Subventionen angehalten, auf welche die Regierungen normalerweise ihre Popularität und politische Aktivität stützen. 3. Die Gehälter aller Staatsbediensteten wurden zunächst um 5 % gekürzt, danach um weitere 7 % und schließlich eingefroren. Gleichzeitig wurde die Arbeitszeit erhöht. 4. Die staatlichen Renten wurden eingefroren. 5. Das normale Rentenalter wird schrittweise von 65 auf 67 Jahre erhöht. 6. Die veranschlagten Staatsausgaben wurden um mehr als 15 % gesenkt. 7. Die Arbeitslosenhilfe wurde ab dem siebten Monat um 15 % reduziert. 8. Die Verwicklung der Politik mit den lokalen und regionalen Sparkassen wurde fast vollständig eliminiert. 9. Der Arbeitsmarkt, die Ladenöffnungszeiten und im Allgemeinen das verwickelte Netz wirtschaftlicher Regulierung wurde liberalisiert.16 Und das Gleiche, was in Spanien geschehen ist, bestätigt sich in Ir 16

In Spanien haben verschiedene Österreichische Ökonomen sich jahrzehntelang vergeblich für die Einführung dieser (und vieler anderer) Reformen ausgesprochen. Diese Reformen sind erst jetzt und dank des Euro mit erstaunlicher Dringlichkeit politisch möglich geworden. Zwei Beobachtungen: Die Maßnahmen in die richtige Richtung sind durch eine Steuererhöhung, vor

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land, Portugal, Italien und selbst in Ländern, die, wie Griechenland, bis jetzt als Paradigma der sozialen Hängematte, des Fehlens haushälterischer Strenge und demagogischer Politik hergehalten haben.17 Außerdem sind die politischen Führer dieser fünf Staaten, denen es nun unmöglich geworden ist, die Geldpolitik zu manipulieren, um der Bevölkerung die wahren Kosten ihrer Politik zu verschleiern, hochkant aus ihren jeweiligen Regierungen hinausgeworfen worden. Darüber hinaus sehen sich nach und nach sogar Staaten wie Belgien und vor allem Frankreich und die Niederlande, welche bis jetzt am Rande der Reformbemühungen standen, dazu gezwungen, die Fundamente ihrer voluminösen Staatsausgaben und ihrer überdehnten Wohlfahrtsstaaten zu überdenken. Und dies alles ist unbestreitbar dem neuen monetären Rahmen zu verdanken, der mit dem Euro eingeführt wurde und der daher bei allen Verteidigern der freien Marktwirtschaft und der Begrenzung der Staatsgewalt Freude auslösen sollte. Denn man kann sich nur schwer vorstellen, dass irgendeine dieser Maßnahmen in einem Umfeld von nationalen Währungen und flexiblen Wechselkursen unternommen worden wäre. Die Politiker scheuen, wann immer sie können, unpopuläre Reformen und die Bürger meiden alles, was Opfer und Disziplin erfordert. Daher hätte man ohne den Euro das bisher Übliche unternommen: nämlich eine Flucht nach vorne mit mehr Inflation, einer Abwertung der Währung, um zur Wiedergewinnung der „Vollbeschäftigung“ kurzfristig allem auf die Einkommen und die Erträge aus mobilem Kapital, getrübt worden, die erwartungsgemäß nicht zu signifikant höheren Steuereinnahmen geführt hat (vgl. das „Manifest“ gegen die Steuererhöhungen, das ich zusammen mit fünfzig weiteren Ökonomen im Februar 2012 unterzeichnet habe: www.juandemariana.org/nota/5371/manifiesto/subida/impositiva/ respeto/senor). Im Hinblick auf die Haushaltsstabilität und den ausgeglichenen Haushalt ist zu sagen, dass diese eine notwendige, jedoch nicht hinreichende Bedingung für das erneute Beschreiten eines nachhaltigen Wachstumspfades ist. Denn bei einer erneuten Kreditausweitung braucht es signifikante und enorme Haushaltsüberschüsse während der „fetten Jahre“, um eine Wiederholung der schweren Probleme, die uns heute bedrängen, zu vermeiden. 17 Zum ersten Mal und dank des Euro stellt sich Griechenland den Herausforderungen seiner eigenen Zukunft. Obwohl die verbitterten Monetaristen und störrischen Keynesianer es nicht anerkennen wollen, ist eine interne Deflation möglich und impliziert keine „perverse“ Abwärtsspirale, wenn sie von grundlegenden Reformen der Liberalisierung und der Rückgewinnung der Wettbewerbsfähigkeit begleitet wird. Es stimmt, dass Griechenland bereits bedeutende Hilfen erhalten hat und erhält. Aber es ist nicht weniger wahr, dass Griechenland die historische Verantwortung trägt, alle jene Unken zu widerlegen, die aus verschiedenen Gründen es darauf abgesehen haben, dass die griechische Anstrengung misslingt, sodass sie in ihren Modellen die so abgedroschene (und eigennützige) Hypothese aufrechterhalten können, dass die Preise (und Löhne) nach unten rigide seien (vgl. außerdem unsere Bemerkungen in der übernächsten Fußnote über die desaströsen Effekte, welche die so gelobte Abwertung von Argentinien 2001 zeitigte). Zum ersten Mal hat sich der traditionell chaotische und korrupte griechische Staat einer „Rosskur“ unterzogen. Innerhalb von zwei Jahren (2010–2011) hat sich das Staatsdefizit um 8 % verringert, die Gehälter der Beamten wurden zunächst um 15 % und dann um weitere 20 % gekürzt. Die Zahl der Staatsdiener wurde um 80.000 reduziert und beinahe die Hälfte der Gemeindeangestellten wurde entlassen. Das Rentenalter wurde erhöht und die Mindestlöhne wurden gesenkt, etc., Vidal-Folch (2012). Dieser „heroische“ Neuaufbau sticht positiv vom ökonomischen und sozialen Verfall Argentiniens ab, welches den umgekehrten Weg des monetären Nationalismus, der Abwertung und Inflation einschlug.

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Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen (wobei den Gewerkschaften der Rücken gedeckt und ihre große Verantwortung als wahre Verursacher der Arbeitslosigkeit verborgen geblieben wäre). Man hätte, kurzum, die notwendigen Strukturreformen auf unbestimmte Zeit verschoben. An dieser Stelle ist es angebracht, zwei bedeutende Unterschiede des Euro sowohl in Bezug auf ein System nationaler Währungen, die unter sich mit festen Wechselkursen verbunden sind, als auch zum Goldstandard selbst hervorzuheben. Um mit dem Unterschied zum letzten Standard zu beginnen, ist es notwendig, festzustellen, dass es viel schwieriger ist, den Euro aufzugeben, als es seiner Zeit war, den Goldstandard aufzugeben. Die mit dem Gold verbundenen Währungen behielten ihren lokalen Namen (Franken, Pfund etc.), wodurch es während der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts relativ leicht war, die Goldverankerung zu lösen. Wie vom Regressionstheorem des Geldes, welches Mises 1912 entwickelte18, angezeigt, nutzte man ohne Bruch in der Kontinuität die nationale Währung, die nun nicht mehr in Gold eintauschbar war, wobei man sich auf ihre Kaufkraft just vor der Reform stützte. Diese Möglichkeit ist heute jenen Länder, die wünschen, oder sich gezwungen sehen, den Euro zu verlassen, gänzlich genommen. Da der Euro die einzige monetäre Bezeichnung für alle Länder der Währungsunion ist, erfordert seine Aufgabe die Einführung einer neuen lokalen Währung von einer viel geringeren und unbekannten Kaufkraft mit enormen Störungen für alle Wirtschaftssubjekte im Markt: Schuldner, Gläubiger, Investoren, Unternehmer, Arbeiter.19 18

Mises (2012), S. 83–134. Wir sind daher glücklicherweise „an den Euro angekettet“, um einen gelungenen Ausdruck von Cabrillo (2012) zu verwenden. Vielleicht das heute typischste Beispiel, das von Keynesianern und Monetaristen angeführt wird, um die „Vorteile“ einer Abwertung und die Aufgabe eines festen Wechselkurs zu veranschaulichen, ist der Fall Argentiniens nach dem „Bankrun“, der im Dezember 2001 stattfand. Dieses Beispiel ist doppelt falsch, aus zwei Gründen. Erstens ist der Bankrun lediglich eine Illustration dessen, dass ein Teildeckungsbankensystem ohne einen Kreditgeber letzter Instanz unmöglich funktionieren kann, Huerta de Soto (2011b), S. 610. Zweitens reduzierte sich nach der so gelobten Abwertung das argentinische BIP pro Kopf von 7.726 Dollar im Jahr 2000 auf 2.767 Dollar zwei Jahre später, was einen Wertverlust von zwei Dritteln ausmacht. Dieser Rückgang von 65 % des argentinischen Einkommens und Reichtums sollte all jene erblassen lassen, die sich heute unbeholfen und gewalttätig kund tun, um – wie beispielsweise in Griechenland – gegen die relativ geringen Opfer und Preisrückgänge der gesunden und unausweichlichen internen Deflation zu protestieren, welche die Disziplin des Euro auferlegt. Unter Berücksichtigung der äußerst reduzierten Ausgangsbasis nach der Abwertung und der Armut, dem Kräfteverfall und chaotischen Charakter der argentinischen Volkswirtschaft, in der ein Drittel der Bevölkerung letztlich von Subventionen und Beihilfen abhängt, die tatsächliche Inflationsrate 30 % übersteigt und die Knappheit, die Beschränkungen, die Regulierung, die Demagogie, das Ausbleiben von Reformen und die (Miss) Kontrolle der Regierung an der Tagesordnung sind, sollte eigentlich alle Phrasendrescherei über die „beeindruckenden“ Wachstumsraten in Argentinien (über 8 % jährlich ab 2003) wenig oder gar nicht beeindrucken, Gallo (2012). Auf ähnlich Weise äußert sich Pierpaolo Barbieri: „I find truly incredible that serious commentators like economist Nouriel Roubini are offering Argentina as a role model for Greece.“ Barbieri (2012). 19

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Zumindest unter diesem konkreten Aspekt und aus der Sicht der Österreichischen Schule muss man erkennen, dass der Euro dem Goldstandard überlegen ist und es für die Menschheit äußerst nützlich gewesen wäre, wenn in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts die verschiedenen Länder sich gezwungen gesehen hätten, beim Goldstandard zu bleiben, wie es heute beim Euro geschieht, da jede andere Alternative in der Praxis fast unmöglich ist und viel schädlichere, schmerzhaftere und offensichtlichere Konsequenzen und Effekte für die Bevölkerung hätte. Es ist daher in gewisser Weise amüsant (und gleichzeitig peinlich) festzustellen, wie die Legion von Sozialingenieuren und politischen Interventionisten, die seinerseits angeführt von Jacques Delors die Einheitswährung als ein weiteres Instrument ihres grandiosen Projekts einer politischen Union Europas auslegten, heute mit Verzweiflung etwas betrachten, was sie in keinem Fall vorhersehen konnten: dass der Euro sich de facto wie der Goldstandard verhalten hat; Bürger, Politiker und Regierungen diszipliniert, den Demagogen die Hände bindet, die Interessengruppen bloßstellt (angeführt von den immer privilegierten Gewerkschaften) und sogar die Nachhaltigkeit und Fundamente des Wohlfahrtsstaates selbst in Frage stellt.20 Genau darin besteht nach der Österreichischen Schule der komparative Hauptvorteil des Euro als Geldstandard im Allgemeinen und im Besonderen gegenüber dem monetären Nationalismus, und nicht in den sehr prosaischen Argumenten wie „der Verringerung der Transaktionskosten“ oder „der Beseitigung des Wechselkursrisikos“, welche seiner Zeit von den immer kurzsichtigen Sozialingenieuren, die gerade am Zug waren, vorgebracht wurden. Der zweite Kommentar, den wir vorbringen müssen, bezieht sich auf den Unterschied zwischen dem Euro und einem System fester Wechselkurse im Hinblick auf den Anpassungsprozess, der sich entwickelt, wenn es zu einem unterschiedlichen Ausmaß in der Kreditausweitung und bei Staatseingriffen in verschiedenen Ländern kommt. Offensichtlich manifestieren sich diese Unterschiede in einem System fester Wechselkurse in starken Spannungen der Wechselkurse, die schließlich in expliziten Abwertungen kulminieren, was mit den hohen Kosten an Prestigeverlust einhergeht, den eine Abwertung glücklicherweise für die verantwortlichen Politiker mit sich bringt. Im Fall einer Einheitswährung wie dem Euro manifestieren sich diese Spannungen in einem allgemeinen Verlust der Wettbewerbsfähigkeit, der nur durch die Einführung von Strukturreformen wettzu­machen ist, die notwendig sind, um die Flexibilität der Märkte, die Deregulierung aller Sektoren sowie die Rückgänge und Anpassungen zu garantieren, die in der Struktur der relativen Preise notwendig sind.21 Dies alles schlägt sich letztlich in den Einkünften des Staatssektors und daher in seiner Kreditwürdigkeit nieder. In der Tat sind unter den 20

Sogar Mario Draghi (2012), Präsident der EZB, ist zu dem Schluß gekommen: „[c]ontinent’s social model is ‚gone‘“. 21 Nur auf diese Weise können die im vorangegangenen Boom finanzierten Fehlinvestitionen zügig „verdaut“ und liquidiert werden, Huerta de Soto (2012), S. 304–309.

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aktuellen Umständen in der Eurozone die Kurse der Staatsschulden der einzelnen Länder an den Finanzmärkten das Abbild der Spannungen, die sich typischerweise bei Wechselkurskrisen entfalteten, als die Wechselkurse in einem Umfeld des monetären Nationalismus mehr oder weniger fest waren. Im Mittelpunkt stehen heute daher nicht die Devisenspekulanten, sondern die Ratingagenturen und vor allem die internationalen Investoren, die durch das Kaufen oder Nichtkaufen von Staatsanleihen den Rhythmus der Reformen auf gesunde Weise vorgeben. Gleichzeitig disziplinieren und diktieren sie das Geschick der einzelnen Länder. Man wird sagen, dass dies „nicht demokratisch ist.“ Jedoch ist genau das Gegenteil wahr. Bis heute hat die Demokratie chronisch daran gelitten, dass sie durch unverantwortliche politische Aktionen, die auf monetärer Manipulation und Inflation basieren, korrumpiert wurde. Die Inflation ist eine echte Steuer mit verheerenden Folgen. Sie wird am Parlament vorbei graduell, verborgen und heimtückisch den Bürgern auferlegt. Mit dem Euro ist heute die Option der Inflationssteuer blockiert, zumindest auf der Ebene der Mitgliedsländer, deren Politiker mit einem Mal das Gesicht verloren und sich gezwungen gesehen haben, die Wahrheit zu sagen und den korrespondierenden Reputationsverlust auf sich zu nehmen. Die Demokratie braucht, wenn sie funktionieren soll, einen Rahmen, der die in ihm agierenden Akteure diszipliniert. Und heute spielt in Kontinentaleuropa der Euro diese Rolle. Daher ist der sukzessive Fall der Regierungen von Irland, Griechenland, Portugal, Italien und Spanien weit davon entfernt, ein Demokratiedefizit zu sein, sondern zeigt vielmehr den wachsenden Grad an Strenge, Haushaltstrans­parenz und demokratischer Gesundheit, welche der Euro in den jeweiligen Gesellschaften eingeführt hat.

Die heterogene und bunte „Antieurokoalition“ Als kurios und illustrativ müssen wir jetzt, wenn auch nur kurz, die heterogene und bunte Mischung der Feinde des Euro kommentieren, die in ihren Reihen sehr verschiedene Elemente hat. Da sind die Prinzipienreiter der extremen Linken und Rechten, die nostalgischen oder unverbesserlichen Keynesianer krugmanscher Art, die dogmatischen Monetaristen der flexiblen Wechselkurse wie Barro und andere, die blauäugigen Vertreter von Mundells Theorie der optimalen Währungsräume, die in Angst versetzten Dollar- (und Pfund-) Chauvinisten und schließlich eine Legion von verwirrten Defätisten, die „angesichts des bevorstehenden Verschwindens des Euro“ vorschlagen, ihn zu sprengen und schnellstmöglich abzuschaffen.22 22 Diese Analyse beziehe ich nicht auf meinen verehrten Schüler und Kollegen Philipp Bagus (2011). Denn aus deutscher Sicht bedroht die Manipulation des Euro durch die Europäische Zentralbank die traditionelle monetäre Stabilität, deren sich Deutschland mit der DM erfreute. Zweifelhafter erscheint mir sein Argument, dass der Euro eine unverantwortliche Politik durch einen Effekt ermutigt hat, welcher einer Tragödie der Allmende eigen ist. Denn während der Blasenperiode erfreute sich die Mehrheit der Länder, die heute Probleme haben, mit der einzig möglichen Ausnahme Griechenlands, eines Haushaltsüberschusses (oder kamen ihm sehr nahe). Daher glaube ich, dass Bagus besser gelegen hätte, wenn er sein im Übrigen

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Vielleicht ist die klarste Veranschaulichung (oder wenn man will der beste Beweis) dafür, dass Mises mit seiner Analyse des disziplinierenden Effekts fester Wechselkurse – und vor allem des Goldstandards – auf demagogische und gewerkschaftliche Politik vollkommen Recht hatte, die Art und Weise, mit der die Führer linker Parteien, die Gewerkschaften, progressive Meinungsbildner, die „indignierten Systembekämpfer“, rechtsextreme Politiker und generell alle Liebhaber von Staatsausgaben, staatlichen Subventionen und Interventionismus offen und frontal gegen die vom Euro auferlegte Disziplin und im Konkreten gegen den Verlust der monetären Autonomie jeden Landes sowie ihr Gegenstück rebellieren: die so geschmähte Abhängigkeit von den Märkten, Spekulanten und internationalen Investoren bei gegebener Möglichkeit, die wachsende Staatsschuld abzusetzen, welche die Finanzierung der kontinuierlichen Defizite erfordert. Es reicht ein kurzer Blick in die am weitesten links stehenden Zeitungen23 oder die Lektüre der Erklärungen der demagogischsten Politiker24 oder der namhaftesten Gewerkschaftler, um festzustellen, dass dies so ist und dass heute – genau so, wie es in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit dem Goldstandard geschah – die Feinde des Marktes, die Verteidiger des Sozialismus, des Wohlfahrtsstaates und die gewerk­ schaftliche Demagogie unisono sowohl öffentlich als auch privat gegen „die rigide Disziplin, welche uns der Euro und die Finanzmärkte auferlegen“ anschreien und die unmittelbare und unbegrenzte Monetisierung aller Staatsschulden fordern, ohne im Gegenzug irgendwelche Sparmaßnahmen im Haushalt oder Reformen, welche die Wettbewerbsfähigkeit verbessern, anzubieten. Innerhalb des akademischen Bereichs, jedoch auch mit großem Echo in den ­ edien, ist die große Offensive der gegenwärtigen keynesianischen Theoretiker M gegen den Euro herauszuheben. Diese ist erneut nur mit der Streitbarkeit vergleichbar, mit der Keynes selbst gegen den Goldstandard in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vorging. Besonders paradigmatisch ist der Fall Krugman25, der als gewerkschaftlicher Kolumnist praktisch jede Woche die alte Leier wiederholt, dass der Euro ein „untragbares Korsett“ für die Erholung der Beschäftigung darstelle, und es sich sogar herausnimmt, die verschwenderisch nordamerikanische exzellentes Werk Die Tragödie der Europäischen Zentralbank genannt hätte und damit besonders die schweren Fehler berücksichtigt hätte, welche die Europäische Zentralbank während der Boomphase beging und die wir in einem späteren Absatz kommentieren werden. (Ich danke Juan Ramón Rallo, der mir diese Idee nahegelegt hat.) 23 Die Leitlinie der inzwischen eingestellten spanischen Tageszeitung Público war in diesem Sinne paradigmatisch (vgl. zudem und als Beispiel den Fall von Estefanía (2011) und seine Kritik der bereits kommentierten Reform des Art. 135 der spanischen Verfassung, der das „antikeyenesianische“ Prinzip des stabilen und ausgeglichenen Haushalts verankert). 24 Vgl. beispielsweise die Erklärungen des sozialistischen Kandidaten für die französische Präsidentschaft, für den „der Weg der Sparsamkeit ineffizient, tödlich und gefährlich ist“, Hollande (2012), oder die Aussagen der rechtsextremen Kandidatin Marine Le Pen, nach der „wir zum Franc zurückkehren und das Zwischenspiel des Euro beenden sollten“, Martín Ferrand (2012). 25 Vgl. als einen unter vielen Aufsätzen Krugman (2012) sowie Stiglitz (2012).

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Regierung dafür zu kritisieren, dass sie nicht ausreichend expansiv agiere und bei ihren (andererseits zahlreichen) Fiskalstimuli zu kurz getreten sei.26 Intelligenter und gebildeter, jedoch nicht weniger falsch, ist die Ansicht von Skidelsky, der zumindest die Österreichische Konjunkturtheorie27 als einzige Alternative zu seinem geliebten Keynes anführt und eindeutig anerkennt, dass die Interpretation der aktuellen Konjunktur in der Tat eine Wiederholung des Duells darstellt, das Hayek und Keynes während der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts führten.28 Noch seltsamer ist die Position, welche die neoklassischen Theoretiker der flexi­blen Wechselkurse im Allgemeinen und die Monetaristen und Mitglieder der Chicagoschule im Besonderen einnehmen.29 Es scheint so zu sein, als ob in dieser Gruppe die Neigung für die flexiblen Wechselkurse und den monetären Nationalismus den Wunsch (den wir als ehrlich annehmen) überwöge, liberalisierende Wirtschaftsreformen anzustoßen. Tatsächlich ist es für diese Theoretiker das Wichtigste, die geldpolitische Autonomie aufrechtzuerhalten und die lokale Währung abwerten (oder absenken) zu können, um „die Wettbewerbsfähigkeit wiederzugewinnen“ und die Arbeitslosigkeit so schnell wie möglich zu absorbieren, um schließlich erst danach zu versuchen, Maßnahmen der Flexibilisierung und Liberalisierung anzustoßen. Ihre Einfalt ist überwältigend und wir haben uns schon auf dieselbe bezogen, als wir die Gründe der Meinungsverschiedenheit zwischen Mises (für die Seite der Österreichischen Schule) und Friedman (für die Seite der Theoretiker der Chicagoer Schule) in der Debatte um feste und flexible Wechselkurse kommentierten. Mises hat immer klar erkannt, dass die Politiker nur Maßnahmen in die richtige Richtung ergreifen, wenn sie sich praktisch dazu gezwungen sehen, und dass die flexiblen Wechselkurse und der monetäre Nationalismus praktisch jeden Anreiz eliminieren, der Politiker effektiv disziplinieren und die „Lohnrigidität nach unten“ (die sich so in eine Art selbsterfüllende Annahme verwandelt, welche Monetaristen und Keynesianer gemeinsam unbesehen akzeptieren) beenden als auch mit den Privilegien der Gewerkschaften und der restlichen Interessengruppen aufräumen kann. Und daher wandeln sich Monetaristen langfristig, sogar zu ihrem eigenen Bedauern, in Reisegefährten der alten keynesianischen Lehren:30 „Nach der Wiedergewinnung der Wettbewerbsfähigkeit“ verschiebt man die Reformen 26 Das Staatsdefizit der Vereinigten Staaten betrug in Relation zum Bruttoinlandsprodukt zwischen 10 % und 8,2 % (in den letzten drei Jahren). Im scharfen Gegensatz dazu lag das deutsche Defizit im Jahr 2011nur bei 1 %. 27 Eine moderne Erklärung der Österreichischen Konjunkturtheorie ist in Huerta de Soto (2011b) zu finden. 28 Skidelsky (2011). 29 Die Zahl der Ökonomen dieser Gruppe ist Legion. Die Mehrheit kommt (welch ein Zufall!) aus der Dollar-Pfund-Zone. Zu diesen zählen beispielsweise Robert Barro (2012), Martin Feldstein (2011) und der Berater des Präsidenten Barack Obama, Austan Golsbee (2011). Unter uns müssen wir, auch aus anderen Gründen, Ökonomen vom Prestige eines Pedro Schwartz, Francisco Cabrillo oder Alberto Recarte dieser Gruppe zurechnen. 30 Vgl. beispielsweise, wie Krugman in seinem letzten Buch zur Unterstützung seiner Position Friedman zitiert, Krugman (2012), Kapitel 10.

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auf später und, was noch schlimmer ist, gewöhnen sich die Gewerkschaften daran, dass die verderblichen Effekte ihrer restriktiven Politik kontinuierlich durch sukzessive Abwertungen verschleiert werden. Dieser latente Widerspruch zwischen dem freien Markt und der Unterstützung des Nationalismus und der monetären Manipulation mittels „flexibler“ Wechselkurse wiederholt sich bei vielen, die der Theorie von Robert A. Mundell zu den „optimalen Währungsräumen“ anhängen.31 Gemeint sind jene Räume, in denen „zuvor“ eine große Mobilität aller Produktionsfaktoren bestanden hat. Falls dies nicht der Fall ist, sei es besser, diese mit Währungen mit geringerer Ausweitung aufzuteilen, um so eine autonome Geldpolitik gegenüber „externen Schocks“ möglich zu machen. Aber wir müssen uns fragen: Ist diese Argumentation korrekt? Ganz und gar nicht. Die Hauptquelle der Rigidität der Arbeitsmärkte liegt in der staatlichen Intervention und Regulierung der Märkte selbst und ist fest in ihr verankert. Daher ist es absurd zu glauben, dass die Staaten und Regierungen schon vorher Harakiri begehen, ihre Macht aufgeben und ihre politische Klientel mit dem Ziel verraten, danach eine gemeinsame Währung anzunehmen. Die Realität ist genau das Gegenteil: Erst als sie in eine gemeinsame Währung (in unserem Falle den Euro) eingetreten sind, haben sich die Politiker gezwungen gesehen, Reformen voranzutreiben, die bis vor kurzen unvorstellbar gewesen sind. In den Worten von Walter Block: „… government is the main or only source of factor immobility. The state, with its regulations … is the prime reason why factors of production are less mobile than they would otherwise be. In a bygone era the costs of transportation would have been the chief explanation, but with all the technological progress achieved here, this is far less important in our modern ‚shrinking world‘. If this is so, then under laissez-faire capitalism, there would be virtually no factor immobility. Given even the approximate truth of these assumptions the Mundellian region then becomes the entire globe – precisely as it would be under the gold standard.“32

Und dieser Schluss von Block ist genauso auf die Eurozone anzuwenden, die, wie wir schon gesehen haben, ein „Proxy“ für den Goldstandard ist, der die willkürliche Macht der Politiker der Mitgliedsstaaten diszipliniert und begrenzt. Wir müssen auch erwähnen, dass die Keynesianer, Monetaristen und „Mundellianer“ allesamt falsch liegen, da sie ausschließlich in Begriffen makroökonomischer Aggregate argumentieren und daher – mit Unterschieden im Detail – die gleiche Anpassung via monetärer Manipulation, fiskalischem „Feintuning“ und flexiblen Wechselkursen vorschlagen. Für sie muss somit die Aufgabe der Krisenlösung auf makroökonomische Modelle und Sozialingenieure zurückfallen. Sie übersehen so vollständig die profunde mikroökonomische Verzerrung, welche die

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Mundell (1961). Obzwar Mundell die Einführung des Euro seit 1969 vorschlägt und verteidigt, liefert er in seinem wegweisenden Aufsatz zu den optimalen Währungsräumen paradoxerweise den Eurogegnern theoretische Munition. 32 Block (1999), S. 21.

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monetäre (und fiskalische) Manipulation in der Struktur der relativen Preise und der Verflechtung der Kapitalgüter hervorruft. Eine erzwungene Abwertung „schert alle über einen Kamm“, d. h., sie bedeutet einen plötzlichen linearen und gleichmäßigen prozentualen Rückgang aller Preise von Konsumgütern, Dienstleistungen und Produktionsfaktoren. Obzwar dies kurzfristig den Anschein einer intensiven Erholung der wirtschaftlichen Aktivität und einer großer Absorption der Arbeitslosigkeit erweckt, wird in Wirklichkeit die Struktur der relativen Preise vollständig verzerrt (denn ohne die monetäre Manipulation wären einige Preise stärker gefallen, andere weniger, und einige wären überhaupt nicht gefallen, sondern sogar noch gestiegen), eine allgemeine Fehlallokation von Produktivkräften und ein profundes Trauma erzeugt, bei dem jede Volkswirtschaft Jahre braucht, um es zu verdauen und sich davon zu erholen.33 Diese mikroökonomische Analyse, welche sich auf die relativen Presie und die Produktionsstruktur konzentriert, wird typischerweise von den Ökonomen der Österreichischen Schule vorgenommen.34 Im analytischen Instrumentarium der Koryphäen der Volkswirtschaftslehre, die sich gegen den Euro stellen, fehlt sie indes vollkommen. Schließlich, und jenseits der rein akademischen Argumentation, erscheint die Beharrlichkeit, mit der angelsächsische Ökonomen, Investoren und Finanzanalysten darauf bestehen, den Euro herabzusetzen und ihm die schwärzeste Zukunft zu prophezeien, beinahe suspekt. Diese Einschätzung wird durch die scheinheilige Position der verschiedenen US-Regierungen (und in geringerem Maße der Regierung des Vereinigten Königreichs) gestützt, welche halbherzig wünschen, dass die Eurozone „Ordnung in ihrer Volkswirtschaft herstellt“, und dabei opportunistisch vergessen zu erwähnen, dass die Finanzkrise ihren Ursprung auf der anderen Seite des Atlantiks nahm, nämlich in dem Chaos und der expansiven Geldpolitik, welche die Federal Reserve jahrelang anführte und deren Effekte die Welt über den Dollar infizierten, da dieser weiterhin als Weltreservewährung genutzt wird. Außerdem ist der Druck auf die Eurozone, zumindest eine derart expansive und unverantwortliche Geldpolitik wie die Vereinigten Staaten („quantitative easing“) einzuleiten, beinahe unerträglich und zugleich scheinheilig, da eine solche Geldpolitik zweifelsohne der europäischen Einheitswährung endgültig den Rest geben würde. Verbirgt sich hinter dieser Position der politischen, ökonomischen und finanziellen angelsächsischen Welt nicht eine versteckte und vergrabene Angst, dass des Dollars Zukunft als Weltreservewährung bedroht ist, falls der Euro überlebt und dem Dollar in nicht allzu ferner Zukunft eine wirkliche Konkurrenz machen kann? Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass diese Frage immer zulässiger wird und, obwohl sie heute politisch wenig korrekt erscheint, den Finger in die Wunde legt, welche die Analysten und Verantwortlichen der angelsächsischen Welt am 33

Vgl. die exzellente Analyse von Whyte (2012) über den großen Schaden, den die Abwertung des Pfunds Großbritannien zufügt. Zu den Vereinigten Staaten ist Laperriere (2012) zu konsultieren. 34 Huerta de Soto (2011b).

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meisten schmerzt: Der Euro wird auf internationaler Ebene zum sehr mächtigen Rivalen des Dollar.35 Wie wir sehen, besteht die Antieurokoalition aus sehr verschiedenen und mächtigen Interessen. Jeder misstraut dem Euro aus unterschiedlichen Motiven. Jedoch teilen alle einen gemeinsamen Nenner. Die Gründe, aus denen sie ihre Opposition zum Euro begründen, sind die gleichen (und sie würden sogar mit noch größerem Nachdruck wiederholt und schärfer artikuliert werden), die sie gegen den klas­ sischen Goldstandard als internationales Geldsystem vorbringen würden. In der Tat besteht eine große Ähnlichkeit zwischen den Kräften, die sich in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zusammengeschlossen haben, um eine Abkehr vom Goldstandard zu erzwingen, und jenen, die heute – bis jetzt ohne Erfolg – versuchen, in Europa den alten und abgelaufenen monetären Nationalismus wiedereinzuführen. Wie wir bereits gezeigt haben, war es damals technisch viel einfacher, den Goldstandard aufzugeben, als es heute das Verlassen der Währungsunion ist. In diesem Kontext sollte es nicht überraschen, dass häufig sogar zum Behelf des dreistesten Defätismus gegriffen wird: Die Katastrophe und Unmöglichkeit des Erhalts der Währungsunion wird verkündet, um direkt im Anschluss als „Lösung“ ihre unmittelbare Zerschlagung vorzuschlagen. Und es werden sogar internationale Wettbewerbe ausgeschrieben (selbstverständlich im Vereinigten Königreich, der Heimat von Keynes und des monetären Nationalismus), auf die sich Hunderte von „Experten“ und Arbitristen bewerben; jeder einzelne mit seinen Vorschlägen, wie man am besten und auf die schadloseste Art die Europäische Währungsunion auseinandernehmen kann.36 35 „The euro, as the currency of an economic zone that exports more than the United States, has well-developed financial markets, and is supported by a world class central bank, is in many aspects the obvious alternative to the dollar. While currently it is fashionable to couch all discussions of the euro in doom and gloom, the fact is that the euro accounts for 37 percent of all foreign exchange market turn over. It accounts for 31 percent of all international bond issues. It represents 28 percent of the foreign exchange reserves whose currency composition is divulged by central banks.“ Eichengreen (2011), S. 130. Guy Sorman (2011) seinerseits bezieht sich auf „die ambivalente Einstellung der Experten und Finanzakteuere aus den Vereinigten Staaten. Ihnen hat der Euro niemals gefallen, weil er, per definitionem, mit dem Dollar konkurriert: Weisungsgemäß erklärten uns die angeblichen amerikanischen Experten, dass der Euro nicht ohne eine Zentralregierung und ohne eine Fiskalunion überleben könne.“ Insgesamt ist klar, dass die Verteidiger eines Währungswettbewerbs ihre Kräfte besser gegen das Dollarmonopol wenden sollten (indem sie beispielsweise den Euro unterstützen), als für eine Wiedereinführung und Wettbewerb zwischen lokalen „Zwergwährungen“ ohne große Relevanz einzutreten (Drachme, Escudo, Peseta, Lira, Pfund, Franc und, sogar DM). 36 Dies ist beispielsweise bei dem im Vereinigten Königreich durch Lord Wolfson, dem Eigentümer der Ladenkette Next, ausgerufenen Wettbewerb der Fall, für den bis jetzt nicht weniger als 650 „Experten“ und Arbitristen Vorschläge eingereicht haben. Wäre da nicht diese offensichtliche und grobe Scheinheiligkeit bei Initiativen dieser Art, die immer außerhalb der Eurozone ausgerufen werden (und vor allem im angelsächsischen Raum von jenen, die den Euro fürchten, hassen oder geringschätzen), müsste man für die große Anstrengung und das Interesse danken, welche für die Zukunft einer Währung an den Tag gelegt wird, die letztlich nicht die eigene ist.

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Die wirklichen Kapitalvergehen Europas und der fatale Fehler der Europäischen Zentralbank37 Niemand kann bestreiten, dass die Europäische Union chronisch an einer Reihe wichtiger sozialer und wirtschaftlicher Probleme leidet. Dennoch ist der geschmähte Euro kein Teil dieser Probleme. Ganz im Gegenteil, der Euro wirkt als ein potentieller Katalysator, der die Schwere der wahren Probleme Europas offensichtlich macht und das Ergreifen der notwendigen Maßnahmen zur Lösung dieser Probleme beschleunigt (oder „überstürzt“). In der Tat ist heute dank des Euro das Bewusstsein weiter verbreitet denn je, dass die überdehnten europäischen Wohlfahrtsstaaten untragbar sind und wichtigen Reformen unterworfen werden müssen.38 Gleiches lässt sich über die allumfassenden Hilfs- und Subventionsprogramme sagen, wobei die Gemeinsame Agrarpolitik die Krönung nicht nur hinsichtlich der sehr schädlichen Effekte sondern auch wegen ihrer vollständigen ökonomischen Irrationalität darstellt.39 Und vor allem sind in diesem Sinne auch die Kultur der Sozialklempnerei und die erdrückende Regulierung zu erwähnen, die unter dem Vorwand der Harmonisierung der verschiedenen nationalen Gesetzgebungen die Gesellschaften versteinert und verhindert, dass der europäische Binnenmarkt ein wahrhaft freier Markt ist.40 Heute zeigen sich mehr denn je die Hauptkosten aller dieser strukturellen Mängel: Ohne eine autonome Geldpolitik sehen sich die verschiedenen Regierungen dazu gezwungen, buchstäblich alle staatlichen Ausgabenposten zu überdenken (und in diesem Falle zu reduzieren) und zu versuchen, die internationale Wettbewerbsfähigkeit zurückzugewinnen und zu erhöhen, indem sie die Märkte weitestmöglich deregulieren und flexibilisieren (und vor allem den Arbeitsmarkt, der traditionell in vielen Ländern der Währungsunion besonders rigide ist). Den erwähnten Kapitalsünden der europäischen Wirtschaft sollte noch eine weitere – vielleicht wegen ihres einzigartigen und heimtückischen Charakters noch schwerere – hinzugefügt werden. Wir spielen auf die große Leichtigkeit an, mit der 37

Vielleicht nutzt die Klarstellung, dass der Autor dieser Zeilen ein „Europaskeptiker“ ist, der dafür eintritt, dass die Europäische Union sich ausschließlich darauf beschränkt, den freien Verkehr von Personen, Kapital und Gütern in einem Umfeld einer Einheitswährung (wenn möglich Goldstandard) zu garantieren. 38 Wie wir bereits erwähnt haben, gab es beispielsweise jüngst gesetzliche Änderungen, die das Renteneintrittsalter sogar bis auf 67 Jahre erhöht haben (mit einem zusätzlichen Aufschub in Funktion der künftigen Lebenserwartung). Derartige Reformen sind auf dem Wege oder wurden bereits in Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Portugal und Griechenland eingeführt. Ein weiteres Beispiel ist die Einführung der sogenannten Praxisgebühr und weitergehende Privatisierungen im Bereich der staatlichen Gesundheitsfürsorge. Diese zaghaften Schritte gehen in die richtige Richtung. Wegen ihrer hohen politischen Kosten wären sie ohne den Euro nicht unternommen worden. Sie passen auch nicht zu dem Gegentrend, der in der Gesundheitsreform Barack Obamas oder im Widerstand gegen die unausweichlichen Reformen des britischen National Health Service zum Ausdruck kommt. 39 Ó Caithnia (2011). 40 Balcerowicz (2010), Booth (2011).

Kapitalvergehen Europas und Fehler der Europäischen Zentralbank 

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die europäischen Institutionen, oftmals wegen eine Fehlens von Weitblick, Führung oder Überzeugung vom eigenen Projekt, sich in politische Maßnahmen verwickeln lassen, die langfristig mit den Anforderungen einer Gemeinschaftswährung und einem echten freien Binnenmarkt inkompatibel sind. Erstens muss man mit Erstaunen feststellen – was immer häufiger vorkommt –, dass die wachsenden und erstickenden Regulierungsmaßnahmen, die neu eingeführt werden, aus dem akademischen und politischen Umfeld der angelsächsischen Welt und im Konkreten der Vereinigten Staaten41 kommen, obgleich sich bereits sehr oft gezeigt hat, dass die Maßnahmen ineffizient oder höchst verzerrend sind. Dieser ungesunde Einfluss ist fragwürdigen Ursprungs. (Erinnern wir uns daran, dass die Agrarsubventionen, die Gesetzgebung, die fälschlicherweise „Wett­ bewerbssicherung“ genannt wird, oder die Regulierungen zur Unternehmensführung und „sozialen Verantwortung des Unternehmens“ wie viele andere gescheiterte Interventionen ihren Ursprung in den Vereinigten Staaten selbst haben.) Derlei Staatseingriffe wiederholen sich heute Tag für Tag, verstärken sich – wie z. B. in Bezug auf die internationalen Rechnungslegungsstandards oder bei den bis heute glücklicherweise gescheiterten Versuchen, die Vereinbarungen von Basel III für den Bankensektor (oder Solvency II für den Versicherungssektor) zum Abschluss zu bringen – und leiden an unkorrigierbaren grundsätzlichen theoretischen Mängeln und schweren Umsetzungsproblemen in der Praxis.42 Ein zweites Beispiel für den ungesunden angelsächsischen Einfluss ist der „European Economic Recovery Plan“. Unter dem Schirm des Washingtoner Gipfels, d. h. unter der Führung keynesianischer Politiker wie Barack Obama und Gordon Brown und auf Anraten von Ökonomen, die – wie Krugman und andere – dem Euro feindlich gesinnt sind43, wurde er Ende 2008 durch die Europäische Kommission lanciert und den Mitgliedsstaaten eine Erhöhung der Staatsausgaben von ungefähr 1,5 % des BIP empfohlen (was aggregiert ca. 200 Milliarden Euro ausmacht). Obwohl einige Staaten wie Spanien den Fehler begingen, ihre Staatshaushalte auszudehnen, blieb von diesem Plan – Gott sei gedankt und zum Glück des Euro – zur Verzweiflung der Keynesianer und ihrer Jünger44 recht schnell nicht viel übrig, als es offensichtlich wurde, dass dieser Plan nur dafür sorgte, die Defizite zu erhöhen, das Erfüllen der Ziele des Vertrags von Maastricht unmöglich 41

Vgl. z. B. „United States’ Economy: Over-regulated America: The home of laissez-faire is being suffocated by excessive and badly written regulation“, in: The Economist, 18. Februar, 2012, S. 8, und die dort angeführten Beispiele. 42 Huerta de Soto (2003, 2008). 43 Zur Hysterie zu Gunsten der grandiosen Fiskalstimuli dieser Zeit ist Fernando Ulrich (2011) zu empfehlen. 44 Krugman (2012), Stiglitz (2012). Wir hoffen, dass auch von dem „Konjunkturpaket“ über € 120 Mrd., das Hollande beim EU-Gipfel im Juni 2012 als Trostpreis zugesprochen wurde, nicht viel übrig bleibt. Vor allem die Unmöglichkeit, dieses Paket – wie vorgesehen – ohne Erhöhung der Staatsschulden der 27 Mitglieder der EU zu finanzieren, stärkt diese ­Hoffnung.

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21. Die Verteidigung des Euro: ein Österreichischer Ansatz  

zu machen und die Märkte für Staatsanleihen der Eurozone zu destabilisieren. Erneut wirkte der Euro wie ein disziplinierender Rahmen und eine antizipierende Bremse für die Staatsdefizite im Kontrast zum Haushaltschaos der Länder, die Opfer des monetären Nationalismus sind: konkret die Vereinigten Staaten und besonders Großbritannien, welches 2010 mit einem Haushaltsdefizit von 10,1 % des BIP und 2011 mit 8,8 % abschloss, was weltweit nur von Griechenland und Ägypten übertroffen wurde. Trotz der enormen Defizite und Fiskalstimuli verharrt die Arbeitslosigkeit in Großbritannien und den Vereinigten Staaten auf Rekordniveaus (oder sehr hohen Niveaus), und ihren Volkswirtschaften gelingt es nicht, wieder in Schwung zu kommen. Drittens und am Wichtigsten ist der wachsende Druck zu Gunsten einer Vollendung der politischen Union in Europa, die von manchen als einzige „Lösung“ dargestellt wird, um das Überleben des Euro langfristig zu sichern. Neben den „Eurofanatikern“, welche sich immer irgendeines Vorwands bedienen, mit dem sie eine größere Macht und Zentralismus zu Gunsten Brüssels rechtfertigen können, gibt es zwei Gruppen, welche zur Unterstützung der politischen Union zusammenarbeiten. Einerseits und paradoxerweise sind da die Feinde des Euro, vor allem angelsächsischen Ursprungs. Die Nordamerikaner, geblendet von der Zentralmacht aus Washington und sich dessen bewusst, dass ihr Modell in Europa nicht wiederholbar ist, wissen, dass sie mit ihrem Vorschlägen einen zersetzenden, tödlichen Virus für den Euro einführen. Die Briten nutzen den Euro (ungerechtfertigter Weise) als Sündenbock, um ihm ihre (vollkommen gerechtfertigten) Frustrationen über den wachsenden Interventionismus aus Brüssel überzustülpen. Die zweite Gruppe besteht aus jenen Theoretikern und Denkern, die glauben, dass nur ein zentrales Regierungsorgan die Ziele für Defizit und Staatsverschuldung, welche in Maastricht vereinbart wurden, garantieren kann. Dieser Glaube ist falsch. Der Mechanismus der Währungsunion selbst garantiert, genau wie beim Goldstandard, dass jene Länder, welche die Haushaltsstrenge und Stabilität aufgeben, ihre Solvenz gefährdet und sich bedrängt sehen, schnellstens Maßnahmen zu ergreifen, um die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen wiederzugewinnen; falls sie sich nicht gezwungen sehen wollen, ihre Zahlungen einzustellen. Trotz obiger Beobachtungen liegt das größte Problem nicht in der Gefahr der unmöglichen politischen Union, sondern in der unbestreitbaren Tatsache, dass eine Politik der Kreditausweitung, die von der Europäischen Zentralbank während einer Phase eines scheinbaren ökonomischen Booms dauerhaft durchgeführt wird, in der Lage ist, zumindest zeitweise den disziplinierenden Effekt des Euro auf die Wirtschaftsakteure der Mitgliedsländer zu eliminieren. Und so bestand der fatale Fehler der Europäischen Zentralbank darin, Europa nicht zu isolieren und vor der großen Kreditausweitung zu schützen, welche weltweit durch die Federal Reserve der Vereinigten Staaten seit 2001 organisiert wurde. Während einiger Jahre erlaubte die Europäische Zentralbank (u. E. nach flagranter Nichterfüllung des Vertrags von Maastricht), dass die Geldmenge M3 in Raten von sogar über 9 % pro Jahr wuchs, was weit über dem „Referenzwert“ von 4,5 % liegt,

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den sich die EZB ursprünglich selbst gesetzt hatte.45 Außerdem verteilte sich dieses Wachstum – auch wenn es weniger leichtsinnig als das von der Federal Reserve der Vereinigten Staaten zu verantwortende ist – ungleich auf die Länder der Währungsunion, indem es überproportional die Staaten der Peripherie (Spanien, Portugal, Irland und Griechenland)  betraf, welche mit ansahen, wie ihre Geldaggregate in einem Rhythmus wuchsen, der drei bis viermal höher war als das Geldmengenwachstum in Frankreich oder Deutschland. Um dieses Phänomen zu erklären, lassen sich verschiedene Gründe anführen; über den damaligen Druck Frankreichs und Deutschlands, keine zu strikte Geldpolitik zu betreiben, bis zur absoluten Kurzsichtigkeit der Länder der Peripherie, die nicht anerkennen wollten, dass sie spekulative Blasen installiert hatten, und denen es auch nicht – wie im Fall ­Spaniens – gelang, ihren Repräsentanten im Rat der EZB eindeutige Instruktionen zu geben, damit sie die strikte Einhaltung eines konservativeren Geldmengenwachstumsziels auf die Tagesordnung setzten. Tatsächlich erfüllten in den Jahren vor der Krise alle diese Länder, mit der Ausnahme Griechenlands46, die Defizitgrenze von 3 % bequem. Einige schlossen, wie im Fall Spaniens und Irlands, ihre Haushalte sogar mit bedeutenden Überschüssen ab.47 Obwohl erreicht wurde, dass der Kern der Europäischen Union nicht in den irrationalen Überschwung der Vereinigten Staaten verwickelt wurde, reproduzierte sich dieser auf diese Weise mit heftiger Virulenz in den Ländern der Peripherie Europas, ohne dass jemand – oder nur sehr wenige – die große Gefahr der Vorgänge richtig diagnostizierte.48 Wenn die Akademiker und politisch Verantwortlichen sowohl in den betroffenen Ländern als auch in der Europäischen Zentralbank anstatt der aus der angelsächsischen Welt importierten makroökonomischen und monetaristischen Analyseinstrumente 45 Issing (2008), S. 107. Konkret übersteigt das durchschnittliche Wachstum von M3 in der Eurozone zwischen 2000 und 2011 6,3 %, wobei die hohen Wachstumsraten während der Blasenjahre 2005 (zwischen 7 % und 8 %), 2006 (zwischen 8 % und 10 %) und 2007 (zwischen 10 % und 12 %) zu betonen sind. Die vorstehenden Daten beweisen, wie bereits gezeigt worden ist, dass das Ziel eines ausgeglichenen Staatshaushalts, obzwar es sehr löblich ist, nur eine notwendige aber keine hinreichende Bedingung für Stabilität ist: Im Laufe eines durch Kreditausweitung angestoßenen Zyklus können Verpflichtungen für Staatsausgaben während der Expansionsphase mit der falschen Ruhe eingegangen werden, welche die Überschüsse generieren. Diese Staatsausgaben sind dann, wenn die Rezession unausweichlich einsetzt, nicht aufrecht zu erhalten. Dies zeigt, dass das Ziel des ausgeglichenen Haushalts außerdem eine Wirtschaft erfordert, die nicht dem Hin und Her der Kreditausweitung unterliegt oder, zumindest, die Jahre der Expansion mit enormen Überschüssen abschließt. Vgl. zudem Balcerowicz (2010). 46 Griechenland wäre damit der einzige Fall, auf den man das Argument der „Tragödie der Allmende“ anwenden könnte, welches im Bezug auf den Euro in Bagus (2010) entwickelt wird. Daher haben wir im obigen Text argumentiert, dass das bemerkenswerte Buch von Bagus statt Die Tragödie des Euro besser Die Tragödie der Europäischen Zentralbank genannt worden wäre. 47 Die Überschüsse Spaniens betrugen in den Jahren 2005, 2006 und 2007 jeweils 0,96 %, 2,02 % und 1,90 %. Die Überschüsse Irlands beliefen sich in den Jahren 2003, 2004, 2005, 2006 und 2007 jeweils auf 0,42 %, 1,40 %, 1,64 %, 2,90 % und 0,67 %. 48 Als Ausnahme ließe sich der Autor dieser Zeilen selbst zitieren, Huerta de Soto (2011b), S. xxxvii.

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das korrespondierende Instrumentarium der Österreichischen Konjunkturtheorie benutzt hätten49 – schließlich ist dieses ein echtes Produkt kontinentalen ökonomischen Denkens –, dann hätten sie rechtzeitig den größtenteils künstlichen Charakter der Prosperität dieser Jahre, die fehlende Nachhaltigkeit vieler Investitionen (vor allem im Immobiliensektor), welche durch die Leichtigkeit der Kreditvergabe ermutigt wurden, bemerkt und mithin gewusst, dass der überraschende Überfluss der wachsenden Staatseinnahmen nur von kurzer Dauer sein würde. Dennoch und glücklicherweise hat sich, obwohl die Europäische Zentralbank im letzten Zyklus nicht den gerechtfertigten Ansprüchen der europäischen Bürger gewachsen war und ihre Politik tatsächlich als eine „große Tragödie“ bezeichnet werden könnte, erneut die Logik des Euro als Einheitswährung letztlich durchgesetzt und jeden Einzelnen gezwungen, sich wieder auf den Pfad der Kontrolle zu begeben und einen Sparkurs einzuschlagen. Im folgenden Absatz werden wir kurz die spezifische Form besprechen, mit der die Europäische Zentralbank ihre Politik während der Krise entwickelt hat und wodurch diese sich von der Politik der Zentralbanken der Vereinigten Staaten und Großbritanniens unterscheidet.

Euro vs. Dollar (und Pfund) und Deutschland vs. U. S. A. (und U. K.)  Eine der herausragendsten Aspekte des letzten Zyklus, der in der Großen Rezession von 2008 endete, ist zweifellos das divergierende Verhalten bei Geld- und Fiskalpolitik in der angelsächsischen Welt (basierend auf einem monetären Natio­ nalismus) und in den Ländern der Europäischen Währungsunion. Tatsächlich haben sowohl die Federal Reserve als auf die Bank von England seit Anbruch der Finanzkrise und Wirtschaftskrise 2007–2008 eine Geldpolitik betrieben, welche die Zinssätze praktisch auf Null senkte, massiv Zahlungsmittel geschaffen, was unter dem euphemistischen Ausdruck „quantitative easing“ bekannt wurde, und direkt und ganz ohne Scham Staatsschulden kontinuierlich monetisiert.50 Zu dieser überexpansiven Geldpolitik (in die simultan die Empfehlungen von Monetaristen und Keynesianern eingehen) kommt noch der resolute Fiskalstimulus, der sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Großbritannien das Aufrechterhalten von Haushaltsdefiziten nahe 10 % ihrer jeweiligen Bruttoinlandsprodukte bedeutet. (Diese Defizite werden trotzdem noch, zumindest von den verbohrtesten Keynesianern wie Krugman und anderen, als unzureichend angesehen.)

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Huerta de Soto (2011b), S. xxxvii. Im Fiskaljahr 2011 kaufte die Federal Reserve direkt 77 % aller neu emittierten US-Staatsschulden, Gramm / Taylor (2012). Ähnliches lässt sich über die Bank von England sagen, die direkt 25 % der gesamten Staatsschulden des Vereinigten Königreichs hält. Angesichts dieser Zahlen erscheint die (direkte und indirekte) Monetisierung durch die Europäische Zentralbank wie ein „Kinderspiel.“ 50

Euro vs. Dollar (und Pfund) und Deutschland vs. U. S. A. (und U. K.)    

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Im Gegensatz zu dem, was mit Dollar und Pfund geschieht, können glücklicher­ weise in der Eurozone Geldinjektionen nicht mit der gleichen Leichtigkeit vorgenommen werden. Auch kann ein Haushaltschaos nicht unbegrenzt derart ungestraft aufrechterhalten werden. Zumindest in der Theorie ist es der Europäischen Zentralbank nicht gestattet, europäische Staatsschulden zu monetisieren. Obwohl sie auf massive Weise Staatsanleihen als Sicherheiten für ihre enormen Kredite an den Bankensektor akzeptiert und sogar ab dem Frühling 2010 direkt und sporadisch Anleihen der am stärksten bedrohten Länder der Peripherie (Griechenland, Portugal, Irland, Italien und Spanien) aufgekauft hat, ist es richtig, dass ein grundlegender ökonomischer Unterschied zwischen der Handlungsweise der Vereinigten Staaten und Großbritannien einerseits und der Politik Kontinentaleuropas andererseits besteht: Während die monetäre Aggression und das Haushaltschaos in der angelsächsischen Welt scham- und bedenkenlos mit Absicht durchgeführt werden, wird diese Politik in Europa nur „zähneknirschend“ nach vielen, sukzessiven und endlosen „Gipfeln“ verfolgt, wobei das Ergebnis die Frucht langer, harter und multilateraler Verhandlungen ist, bei denen es notwendig ist, eine Übereinstimmung von Ländern mit sehr unterschiedlichen Interessen zu erreichen. Und, was das Wichtigste ist: Die Geldspritzen und die Hilfe für Länder mit Schuldschwierigkeiten werden im Gegenzug für Reformen bemessen und bewilligt, die auf Haushaltssparmaßnahmen (und nicht Fiskalstimuli) und der Einführung von Maßnahmen der Angebotsseite beruhen, welche mit Liberalisierung und der Wettbewerbsfähigkeit der Märkte konsistent sind.51 Obwohl eine viel frühere 51

Vor diesem Hintergrund ist das am 29. Juni 2012 um 4 Uhr morgens erzielte Abkommen zu verstehen. In diesem Abkommen wurde der Kauf spanischer und italienischer Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt unter der Bedingung beschlossen, dass diese Länder ähnliche Vorgaben erfüllen, wie sie im Falle einer Rettung auferlegt werden. Zudem wurde das Prinzip „par conditio creditorum“ eingeführt und damit der Vorrang öffentlicher Gläubiger beendet. Außerdem wurde die Möglichkeit direkter Bankhilfen beschlossen, ohne dass diese das Staatsdefizit belasten. Luskin und Roche Kelly sind sogar so weit gegangen, sich auf „Europe’s Supply-Side Revolution“, Luskin / Roche Kelly (2012), zu beziehen. Auch ist der „Plan für Wachstum in Europa“, angeregt am 20. Februar 2012 durch die politischen Führer von zwölf Ländern der Europäischen Union (unter denen sich jene von Italien, Spanien, den Niederlanden, Finland, Irland und Polen befinden), zu nennen, welcher nur Maßnahmen der Angebotsseite und in keiner Weise Fiskalstimuli erwähnt. Gleichsam nennenswert ist das Manifest „Initiative for a Free and Prospering Europe“ (IFPE), das im Januar 2012 in Bratislava unter anderen durch den Autor dieser Zeilen unterzeichnet wurde. Kurzum, es erscheint in Ländern wie Spanien Priorität zu haben, einen Paradigmenwechsel vorzunehmen: weg von einer spekulativen und „heißen“ Ökonomie, basierend auf der Kreditausweitung, hin zu einer „kalten“ Ökonomie, basierend auf Wettbewerbsfähigkeit. In der Tat werden, sobald die Preise sinken („interne Deflation“) und sich die Struktur der relativen Preise anpasst, in einem Umfeld der Wirtschaftsliberalisierung und Strukturreformen zahlreiche unternehmerische Gewinnmöglichkeiten bei nachhaltigen Investitionen entstehen, die in einem so ausgedehnten Wirtschaftsraum wie dem des Euro garantiert eine Finanzierung finden. Auf diese Weise kommt es zur notwendigen Gesundung, und die so ersehnte Erholung unserer Volkswirtschaften, die eine „kalte“, nachhaltige und auf Wettbewerbsfähigkeit basierende ist, wird garantiert.

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„de facto“ Zahlungseinstellung des hellenischen Staates – die einen Schuldenschnitt (hair cut) von beinahe 75 % für Privatinvestoren erreicht hat, die fälschlicherweise in diese Schulden vertraut hatten – besser gewesen wäre, ist ein untrügliches Zeichen an die Märkte gesendet worden, das für die restlichen Länder in Schwierigkeiten keinen anderen Ausweg lässt, als mit Ensthaftigkeit, Energie und ohne Aufschub die notwendigen Reformen anzupacken. Und wie wir bereits gesehen haben, haben selbst Staaten wie Frankreich – bis heute scheinbar unantastbar und trotz seines aufgeblähten Wohlfahrtsstaates wohlhabend – erlebt, wie sie die höchste Kreditqualität für ihre Staatsschulden verloren, wodurch sich die Zinsdifferenz zu deutschen Bundesanleihen vergrößerte und sie sich zunehmend gezwungen sahen, Spar- und Liberalisierungsmaßnahmen zu ergreifen, wollten sie nicht ihre bis dato unanfechtbare Mitgliedschaft im „harten Kern“ des Euro gefährdet sehen.52 Aus politischer Sicht ist auf jeden Fall die Führung durch Deutschland offensichtlich (und im Besonderen durch Kanzlerin Angela Merkel), welche diesen ganzen Gesundungs- und Sparprozess anstößt (und sich gegen jede Art törichter Vorschläge, wie die Emission von „Eurobonds“, zur Wehr setzt, welche die Anreize zu durchgreifenden Reformen in den Krisenländern eliminierten). Dies geschieht vielfach gegen Wind und Strömung, da einerseits der internationale Druck – vor allem seitens der nordamerikanischen Regierung Barack Obamas – hin zu einem Fiskalstimulus konstant ist. Obamas Regierung nutzt dabei die „Eurokrise“, um vom Fehlschlag der eigenen Politik abzulenken. Andererseits bietet Deutschland dem Unverständnis und der Ablehnung seitens all jener die Stirn, welche nur wünschen, im Euro zu verbleiben, weil es ihnen Vorteile bringt, sich aber gleichzeitig gewaltsam gegen die bittere Disziplin sträuben, welche die Einheitswährung allen, und vor allem den populistischsten Politikern und den unverantwortlichsten privilegierten Interessengruppen aufzwingt. In jedem Fall und zu Illustrationszwecken, die verständlicherweise Keynesianer und Monetaristen zur Verzweiflung treiben, muss man zu betonen, wie verschieden bis heute die Ergebnisse der nordamerikanischen Politik des Fiskalstimulus und monetären „quantitative easing“ verglichen mit der deutschen Angebotspolitik und relativen Fiskalsparsamkeit im monetären Umfeld des Euro gewesen sind: Das Staatsdefizit beträgt in Deutschland 1 %, in den Vereinigten Staaten über 8,20 %; die Arbeitslosigkeit liegt in Deutschland bei 5,9 %, in den Vereinigten Staaten bei knapp 9 %; die Inflation beträgt in Deutschland 2,5 %, in den Vereinigten Staaten über 3,17 %; das Wachstum in Deutschland steht bei 3 %, in den Vereinigten Staaten bei 1,7 %. (Die Parameter für Großbritannien sind noch ein wenig schlechter als die amerikanischen.) Der Zusammenprall der Paradigmen und der Kontrast der Ergebnisse könnten nicht offensichtlicher sein.53 52

In diesem Kontext und wie wir bereits in dem Absatz über die „bunte Antieurokoalition“ erklärt haben, verwundern die Kommentare der französischen Präsidentschaftskanditaten nicht, die wir in Fußnote 23 erwähnt haben. 53 Geschätzte Daten zum 31. Dezember 2011.

Schlussfolgerung: Hayek versus Keynes  

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Schlussfolgerung: Hayek versus Keynes Genau wie seinerzeit beim Goldstandard, gibt es unzählige Kritiker des Euro, die diesen wegen seiner größten Tugend hassen: die Fähigkeit, verschwenderische Politiker und Interessengruppen zu disziplinieren. Es ist offensichtlich, dass der Euro in keiner Weise der ideale Geldstandard ist. Das ideale Geldsystem ließe sich nur mit einem klassischen Goldstandard, einer Reservevolldeckung für Sichteinlagen und der Abschaffung der Zentralbanken erreichen. Und so ist es sehr gut möglich, dass, sobald etwas Zeit verflossen ist und die geschichtliche Erinnerung über die jüngsten monetären und finanziellen Ereignisse verblasst sind, die Europäische Zentralbank erneut ihre alten Fehler begeht und eine neue Blase der Kreditausweitung antreibt und pflegt.54 Aber wir sollten nicht vergessen, dass die Sünden der Federal Reserve und der Bank von England noch viel schwerer wiegen und zumindest in Kontinentaleuropa der Euro dem monetären Nationalismus ein Ende gesetzt hat und für die Staaten der Währungsunion als ein „Proxy“ des Goldstandards (auch wenn es ein zurückhaltender Proxy ist) fungiert. Somit treibt der Euro zu haushälterischer Strenge und zu tendenziell die Wettbewerbsfähigkeit erhöhenden Reformen an und setzt den Missbräuchen des Wohlfahrtsstaates und der politischen Demagogie ein Ende. In jedem Fall ist es wichtig anzuerkennen, dass wir uns an einem historischen Wendepunkt befinden.55 Vom Überleben des Euro hängt es ab, ob ganz Europa die traditionelle germanische Geldstabilität verinnerlicht und sich zu eigen macht. Diese Stabilität ist in der Praxis der einzige und unersetzbare disziplinarische Rahmen, innerhalb dessen kurz- und mittelfristig die Wettbewerbsfähigkeit und das Wachstum der Europäischen Union angetrieben werden kann. Aus internationaler Sicht werden das Überleben und die Konsolidierung des Euro es zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg ermöglichen, dass eine Währung entsteht, die effektiv mit 54 An anderer Stelle habe ich mich auf die inkrementellen Reformen bezogen, die, wie beispielsweise die Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken (vom Typ Glass Steagal Act), den Euro ein wenig verbessern könnten. Andererseits war es Großbritannien, wo paradoxerweise (oder auch nicht, wenn man den verheerenden sozialen Schaden bedenkt, der durch die britische Bankenkrise verursacht wird) meine Vorschläge auf das größte Echo gestoßen sind und sogar ein Gesetzesvorschlag in das britische Parlament eingebracht wurde, um das Peelsche Bankgesetz von 1844 (welches kurioserweise immer noch gültig ist) zu komplettieren, indem die Volldeckung auf Sichteinlagen ausgedehnt wird. Der dort erreichte Konsensus zur Trennung von Geschäftsbanken und Investmentbanken muss als ein (sehr zaghafter) Schritt in die richtige Richtung angesehen werden, Huerta de Soto (2010, 2011c). 55 Mein politischer Pate, der navarresische Unternehmer Javier Vidal Sario, vollkommen klar und aktiv mit seinen 93 Jahren, bestätigt mir, dass er in seinem ausgedehnten Leben niemals Zeuge – nicht einmal während der Jahre des Stabilisierungsplans von 1959 – einer ähnlichen kollektiven Anstrengung von Haushaltsdisziplin, institutioneller Strenge und ökonomischer Gesundung wie der heutigen gewesen sei. Dazu kommt noch der historische Wert, dass sich diese Anstrengung nicht auf ein konkretes Land (z. B. Spanien) bezieht, noch auf eine spezifische Währung (z. B. die Peseta), sondern auf ganz Europa erstreckt, mit einigen hundert Millionen Menschen und im Rahmen einer Einheitswährung (des Euro).

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21. Die Verteidigung des Euro: ein Österreichischer Ansatz  

dem Dollarmonopol als Weltreservewährung konkurrieren kann und somit die Fähigkeit Nordamerikas diszipliniert, systemische Finanzkrisen wieder anzustoßen, die wie jene von 2007 die Ordnung der Weltwirtschaft gefährden. Vor ein wenig mehr als 80 Jahren befand sich die Welt in einem sehr ähnlichen historischen Kontext, als man debattierte, ob es besser sei, beim Goldstandard zu bleiben und mit ihm sich der Haushaltsausterität, den flexiblen Arbeitsmärkten und dem freien und friedfertigen Handel anheim zu geben, oder aber den Goldstandard aufzugeben und somit allerorten den monetären Nationalismus, inflationäre Politik, Starrheit der Arbeitsmärkte, Interventionismus, „Wirtschaftsfaschismus“ und Handelsprotektionismus einzuführen. Hayek und die Österreichischen Ökonomen – allen voran Mises – unternahmen eine gigantische intellektuelle Anstrengung, indem sie die Vorteile des Goldstandards und der Handelsfreiheit analysierten, erklärten und verteidigten. Sie taten dies gegenüber Theoretikern – angeführt von Keynes und den Monetaristen –, die darauf setzten, die monetären und fiskalischen Fundamente der liberalen Wirtschaft zu sprengen, die bis dahin die industrielle Revolution und den Fortschritt der Zivilisation angetrieben hatten.56 In diesem Fall entwickelte sich das ökonomische Denken schließlich auf ganz anderen Pfaden als den von Mises und Hayek verteidigten – mit den unheilvollen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen, die wir alle kennen. Als Konsequenz dessen ist erstaunlicherweise die Welt heute im 21. Jahrhundert immer noch mit finanzieller Instabilität, einem Fehlen an Haushaltsdisziplin und politischer Demagogie behaftet. Aus all diesen Gründen und vor allem, weil die Weltwirtschaft dies dringend benötigt, verdienen es Mises und Hayek bei dieser neuen Gelegenheit,57 endlich zu triumphieren, und verdient es der Euro (zumindest provisorisch, bis er definitiv durch einen Goldstandard abgelöst wird), zu überleben.58 56

Schon 1924 schrieb der große nordamerikanische Ökonom Benjamin M. Anderson folgendes: „Economical living, prudent financial policy, debt reduction rather than debt creation – all these things are imperative if Europe is to be restored. And all these are consistent with a greatly improved standard of living in Europe, if real activity be set going once more. The gold standard, together with natural discount and interest rates, can supply the most solid possible foundation for such a course of events in Europe“. Zweifellos wiederholt sich die Geschichte ein weiteres Mal, Anderson (1924). Ich danke meinem Mitarbeiter Antonio Zanella, der mich auf dieses Zitat aufmerksam gemacht hat. 57 Der historische Wendepunkt reproduziert sich außerdem in aller Schärfe in China, dessen Volkswirtschaft derzeit am Rande eines expansiven und inflationären Zusammenbruchs steht. Vgl. „Keynes versus Hayek in China“, The Economist, 30. Dezember 2011, sowie „Free exchange: Hayek on the standing committee“, The Economist, 15. September 2012, S. 64. 58 Wie wir bereits gesehen haben, stellte sich auch Mises, der große Verteidiger des Goldstandards und der Bankfreiheit mit 100-prozentiger Reservedeckung in den 1960er Jahren frontal gegen die Theoretiker der flexiblen Wechselkurse mit Milton Friedman an ihrer Spitze. Mises prangerte das Verhalten seines Schülers Machlup an, als dieser die Verteidiger fester Wechselkurse im Stich ließ. Heute, fünfzig Jahre später und im Zusammenhang mit dem Euro, wiederholt sich die Geschichte: Bei jener Gelegenheit triumphierten die Epigonen des monetären Nationalismus und der Instabilität der Wechselkurse mit den heute bekannten Folgen. Dieses Mal hoffen wir, dass die Lektion verstanden worden ist und Mises letztlich triumphiert. Die Welt braucht es, und er verdient es.

22. Liberalismus versus Anarchokapitalismus Einleitung Das theoretische und politische liberale Denken befindet sich am Anfang des 21. Jahrhunderts an einem Scheideweg von transzendentaler Bedeutung. Obwohl der Fall der Berliner Mauer und das Ende des Realsozialismus 1989 das „Ende der Geschichte“ (in dem ebenso glücklichen wie hochtönenden Ausdruck von Francis Fukuyama) einzuläuten schienen, so steht heute in vielerlei Hinsicht mehr denn je fest, dass überall der Etatismus herrscht und die Freiheitsliebenden demoralisiert sind. Deshalb besteht die dringende Notwendigkeit eines Aggiornamento des ­Liberalismus, d. h. einer tiefgreifenden Revision und Aktualisierung des liberalen Gedankengutes im Lichte der letzten Fortschritte der Wirtschaftswissenschaft und der Lehren der jüngsten Geschichte. Der grundlegende Ausgangspunkt dieser Revision besteht in der Erkenntnis, dass der Versuch des klassischen Liberalismus, die Staatsgewalt einzuschränken, fehlgeschlagen ist, und die Wirtschaftswissenschaft erklären kann, warum dieser Fehlschlag unausweichlich war. Die dynamische Theorie der sozialen Kooperationsprozesse, die vom Unternehmertum angetrieben werden und eine spontane Marktordnung schaffen, breitet sich derweil allgemein aus und ermöglicht eine umfassende Analyse des anarchokapitalistischen Systems sozialer Kooperation; das einzige wirklich lebensfähige und der menschlichen Natur entsprechende System. Im vorliegenden Aufsatz analysieren wir die oben genannten Themen Schritt für Schritt und fügen dem eine Reihe von Betrachtungen hinzu, die praktische Fragen der wissenschaftlichen und politischen Strategie betreffen. Außerdem bedienen wir uns der hier vorgestellten Analyse, um über bestimmte Missverständnisse und häufig auftretende Interpretationsfehler aufzuklären.

Der fatale Fehler des klassischen Liberalismus Der fatale Fehler der klassischen Liberalen wurzelt darin, nicht bemerkt zu haben, dass das Programm der liberalen Gedankenwelt theoretisch unmöglich ist, da es das Samenkorn der eigenen Zerstörung in sich trägt, und zwar insofern es die Existenz eines (wenn auch nur minimalen) Staates, d. h. einer monopolitischen Agentur institutioneller Nötigung, für notwendig erachtet. Der große Fehler der Liberalen liegt also in ihrem Ansatz: Sie sehen den Libe­ ralismus als ein politisches Aktionsprogramm und eine wirtschaftliche ­Doktrin,

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22. Liberalismus versus Anarchokapitalismus  

deren Ziel die Beschränkung der Staatsgewalt ist, aber sie akzeptieren deren Existenz und halten diese sogar für notwendig. Nichtsdestotrotz kann die Wirtschafts­ wissenschaft heute (zu Beginn des 21. Jahrhunderts) erklären, dass: (a) der Staat nicht notwendig ist; (b) der (wenn auch nur minimale) Etatismus theoretisch unmöglich ist; (c) es aufgrund der Natur des Menschen unmöglich ist, die Macht des Staates zu beschränken, wenn der Staat erst einmal existiert. Wir werden nun jeden dieser Aspekte einzeln kommentieren.

Der Staat als unnötige Körperschaft Wissenschaftlich betrachtet, ist die Kategorie der sogenannten „öffentlichen Güter“ nur denkbar, wenn man das fehlerhafte Gleichgewichtsparadigma unterstellt. Da bei derartigen Gütern die Voraussetzungen der Nicht-Ausschließbarkeit und Nicht-Rivalität im Konsum gegeben sind, dienen sie als Prima-Facie-Beweis für die Existenz einer monopolistischen Agentur (staatlicher) institutioneller Nötigung, die alle zur Mitfinanzierung jener Güter verpflichtet. Nichtsdestotrotz hat das von der Österreichischen Schule der Nationalökonomie entwickelte dynamische Verständnis der spontanen, durch das unternehmerische Handeln vorangetriebenen Ordnung diese These zur Rechtfertigung des Staates zunichte gemacht: Immer dann, wenn es (scheinbar oder wirklich) zu einer „Public Good“-Situation kommt, d. h. zu einem Gut mit Nicht-Ausschließbarkeit und Nicht-Rivalität im Konsum, gibt es auch Anreize, welche die unternehmerische Kreativität braucht, um den Zustand zu überwinden; entweder durch technische und juristische Innovationen oder durch unternehmerische Entdeckungen, die alle möglichen Probleme bewältigen können (sofern die Ressourcen nicht zu „öffentlichen“ erklärt werden und die freie Ausübung des Unternehmertums und die gleichzeitig damit verbundene private Aneignung der Ergebnisse der unternehmerischen Kreativität erlaubt wird). So wurde z. B. das Leuchtturmsystem im Vereinigten Königreich lange Zeit von privater Hand betrieben und finanziert, um so durch ausschließlich private Arrangements (wie Seefahrervereinigungen, Hafentaxen, spontane Sozialkontrolle usw.) jenes „Problem“ zu lösen, das in den „etatistischen“ Wirtschaftslehrbüchern als Beispiel für ein „öffentliches Gut“ schlechthin dargestellt wird. Ebenso stellte sich z. B. im fernen Nordamerika das Problem, wie man in den weitläufigen Landstrichen des Westens die Eigentumsrechte an Weidetieren festlegen und verteidigen sollte. Nach und nach wurden diverse unternehmerische Innovationen eingeführt (wie das „Markieren“ des Viehs, die ständige Bewachung durch bewaffnete und berittene „Cowboys“ und schließlich die Erfindung und Einführung des Stacheldrahtzaunes, der es erstmals möglich machte, weite Landstriche zu einem erschwinglichen Preis voneinander abzugrenzen), mit denen man die Probleme ebenso schnell lösen konnte, wie sie entstanden waren. Der kreative Fluss unternehmerischer Innovationen wäre völlig blockiert worden, hätte man die Ressourcen als „öffentlich“ deklariert und sie, vom privaten Eigentum ausgeschlos-

Der Staat als unnötige Körperschaft  

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sen, auf bürokratischem Wege mithilfe einer staatlichen Einrichtung verwaltet. (In unserer Zeit schirmt man z. B. einen Großteil der Straßen und Autobahnen vor der Einführung unternehmerischer Innovation ab, von denen es unzählige gibt – wie die Erhebung von Gebühren pro Fahrzeug und Stunde, die privates Sicherheitsmanagement, privater Lärmschutz usw.; all dies, obwohl die meisten Verfahren keinerlei technisches Problem mehr darstellen. Jene Güter werden einfach zu „öffentlichen Gütern“ erklärt. Auf diese Weise werden ihre Privatisierung und unternehmerisch-kreative Handhabung unmöglich.) Zudem denkt der Durchschnittsbürger, dass der Staat notwendig sei, weil die (nicht notwendige) Existenz desselben mit dem unentbehrlichen Charakter vieler Dienstleistungen und Vorräte, die der Staat heutzutage (sehr schlecht) und (fast immer unter dem Vorwand ihres öffentlichen Charakters) auf exklusive Weise zur Verfügung stellt. Die Menschen sehen, dass heutzutage die Straßen, Krankenhäuser, Schulen, öffentliche Ordnung usw. weitgehend vom Staat zur Verfügung gestellt werden. Und da diese unentbehrlich sind, kommt der Mensch ohne weitere Analyse zu dem Schluss, dass auch der Staat ebenso unentbehrlich sei. Die Menschen sind sich nicht bewusst, dass die aufgezählten Ressourcen durch die spontane Marktordung, die unternehmerische Kreativität und das Privateigentum in viel besserer Qualität und auf viel effizientere und billigere Weise den unterschiedlichen und wechselnden Bedingungen jeder einzelnen Person angepasst und zur Verfügung gestellt werden können. Außerdem gehen sie der Vorstellung auf den Leim, der Staat sei auch notwendig, um die Wehrlosen, Armen und Behinderten (ob nun „Klein“-Aktionäre, Durchschnittskonsumenten, Arbeiter oder sonstige) zu beschützen. Sie verstehen nicht – was aber die Wirtschaftstheorie beweisen kann –, dass die sogenannten Schutzmaßnahmen systematisch und in jedem einzelnen Fall damit enden, dass sie jenen Personen Schaden zufügen, denen sie helfen sollten; womit eine weitere der völlig plumpen und abgedroschenen Rechtfertigungen der Existenz des Staates dahin wäre. Rothbard behauptete, dass sich die Gesamtheit aller Güter und Dienstleistungen, die der Staat derzeit zur Verfügung stellt, in zwei Gruppen teilen ließe: in jene, die man abschaffen, und in jene, die man privatisieren sollte. Es ist ganz klar, dass die oben genannten Beispiele zur zweiten Gruppe gehören und das Verschwinden des Staates bei weitem nicht die Abschaffung von Straßen, Krankenhäusern, Schulen und öffentlicher Ordnung, sondern deren Bereitstellung in größerer Menge, besserer Qualität und zu einem erschwinglicheren Preis bedeutet (immer im Vergleich zu den wirklichen Kosten, welche die Bürger durch ihre Steuerbeiträge zu bewältigen haben). Außerdem muss erwähnt werden, dass die historischen Fälle von institutionellem Chaos und öffentlicher Unordnung (die es z. B. in den Jahren vor und während des spanischen Bürgerkriegs und in der 2. Republik oft gab) auf die mangelnde Bereitstellung jener Güter zurückzuführen sind, wofür die Staaten selbst verantwortlich sind. Die Staaten machen weder mit einem Minimum an Effizienz das, was sie nach Meinung ihrer eigenen Anhänger tun sollten, noch lassen sie es den privaten und unternehmerischen Sektor machen, denn der Staat zieht

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die Unordnung (die seine Gegenwart noch notwendiger erscheinen lässt) seiner Demontage und Privatisierung auf allen Ebenen vor. Man sollte vor allem verstehen, dass die Festlegung, Aneignung und Weitergabe sowie der Austausch und Schutz der Eigentumsrechte, welche den sozialen Prozess gliedern und vorantreiben, keiner monopolistischen Gewaltagentur (Staat) bedürfen. Im Gegenteil, der Staat tritt zahlreiche legitime Eigentumsrechte mit Füßen, schützt sie nur sehr mangelhaft und korrumpiert das (moralische und rechtliche) Verhalten der einzelnen Individuen gegenüber fremden Eigentumsrechten. Das Rechtssystem ist die evolutive Gestaltung der allgemeinen Rechtsprinzipien (insbesondere des Eigentums), die mit der menschlichen Natur vereinbar sind. Das Recht ist darum nicht das, was der Staat (egal ob auf demokratische oder undemokratische Weise) festlegt, sondern das, was bereits besteht und in der Natur des Menschen verankert ist, auch wenn es entdeckt wird und sich sowohl durch Rechtsprechung als auch durch Rechtswissenschaft auf evolutive Weise festigt. (In diesem Sinne meinen wir, das Rechtssystem der römisch-kontinentalen Tradition sei aufgrund seines eher abstrakten und doktrinären Charakters dem angelsächsischen System des Common Law weitaus überlegen. Letzteres verdankt seinen Ursprung überzogener Rückendeckung durch den Staat mittels gerichtlicher Entscheide und Urteilssprüche. Derlei Urteile importierten über das „Binding Case“-Prinzip allerlei Funktionsfehler in das Rechtssystem. Der Ursprung dieser Systemfehler liegt zumeist in den Umständen und Interessen, die in den einzelnen Fällen ausschlaggebend waren). Das Recht ist evolutiv und gründet auf Sitten. Aus diesem Grund existiert es vor und unabhängig vom Staat. Seine Entdeckung und Festlegung bedürfen keiner monopolistischen Zwangsinstitution. Der Staat ist nicht nur nicht notwendig für die Festlegung des Rechts. Er ist ebenso nicht notwendig, um es geltend zu machen und zu verteidigen. Dies ist in der heutigen Zeit offensichtlicher denn je, da – paradoxerweise trotz vieler Verwaltungsbehörden  – es an der Tagesordnung ist, auf private Sicherheitsfirmen zurückzugreifen. Wir wollen hier nicht ausführlich beschreiben, wie die private Bereitstellung jener Güter, die man heute „öffentlich“ nennt, aussehen könnte (auch wenn die Unkenntnis a priori darüber, wie der Markt eine Unzahl von konkreten Problemen lösen würde, von jenen, die den Status quo bevorzugen, gern für einen recht einfachen und naiven Einwand genutzt wird, frei nach dem Motto: „Lieber das bekannte Übel als das noch unbekannte Gut“). In der Tat kann heute keiner die unternehmerischen Lösungen kennen, die Unternehmer scharenweise für die verschiedenen Probleme anbieten würden, wenn man ihnen die Freiheit dazu ließe. Jedoch selbst die größten Skeptiker müssen das anerkennen, was man „heute schon weiß“, nämlich dass der Markt  – von der unternehmerischen Kreativität angetrieben – tatsächlich funktioniert und dies umso besser tut, je weniger der Staat in seinen Sozialprozess eingreift. Die Schwierigkeiten und Konflikte des Marktes entstehen nämlich immer genau dann, wenn die freie Entwicklung der

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spontanen Marktordnung behindert wird. Ungeachtet der seit Gustave de Molinari (1819–1912) bis heute unternommenen Anstrengungen, sich auszudenken, wie ein anarchokapitalistisches Netz privater Sicherheitsfirmen, die sich untereinander nur marginal unterscheiden würden, funktionieren könnte, sollten die Denker der Freiheit niemals vergessen, dass genau das, was es uns unmöglich macht, zu wissen, wie (dank der kreativen Natur des Unternehmertums) eine Zukunft ohne Staat aussehen würde, uns die Gelassenheit gibt, zu wissen, dass nahezu jedes Problem überwunden werden könnte, wenn sich alle beteiligten Menschen mit allen Kräften und mit ihrer ganzen Kreativität der Lösung des Problems widmen würden.1 Dank der Wirtschaftswissenschaft wissen wir nicht nur, dass der Markt funktioniert, sondern auch, dass der Etatismus theoretisch unmöglich ist.

Warum der Etatismus theoretisch unmöglich ist Die wirtschaftliche Theorie der Österreichischen Schule zur Unmöglichkeit des Sozialismus kann man verallgemeinern2 und in eine umfassende Theorie zur Unmöglichkeit des Etatismus verwandeln, d. h. zur Unmöglichkeit des Versuchs, jeden Bereich des gesellschaftlichen Lebens mit Zwangsverfügungen zu organisieren, und zwar mithilfe von Interventions-, Regulierungs- und Kontrollmandaten eines monopolistischen Organs institutioneller Aggression (namens Staat). Der Staat kann seine Koordinationsfunktion unmöglich erfüllen, in keinem Bereich des sozialen Kooperationsprozesses (in den einzugreifen er sich anmaßt), und ganz besonders nicht in den Bereichen des Geld- und Bankwesens,3 der Entdeckung des Rechts, der Durchsetzung von Ordnung und Gerechtigkeit (verstanden als die präventive Verhinderung, Unterdrückung und Bestrafung krimineller Handlungen), und zwar aus vier Gründen: (a) weil die enorme Menge der dafür notwendigen Informationen über die Köpfe von Millionen Menschen verstreut ist, die täglich am Sozialprozess teilhaben; (b) aufgrund des vorwiegend stillschweigenden und nicht artikulierbaren (und deswegen nicht unmissverständlich übermittelbaren) Charakters der Informationen, die das Interventionsorgan braucht, um seine Mandate mit koordinierendem Inhalt zu versehen; (c) weil die auf sozialer Ebene verwendete Information nicht „gegeben“ ist, sondern sich als Folge der menschlichen Kreativität ständig verändert, zumal es offensichtlich unmöglich ist, heute eine Information weiterzugeben, die erst morgen geschaffen wird und vom staatlichen Interventionsorgan benötigt wird, damit dieses ihre Ziele erreichen kann; 1

Vgl. Kirzner (1985), S. 168. Vgl. Huerta de Soto (2013). 3 Vgl. Huerta de Soto (2011). 2

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(d) weil der zwingende Charakter der staatlichen Mandate, insofern diese befolgt werden und sich mit Erfolg auf das soziale Gebilde auswirken, die unternehmerische Aktivität und Schaffung genau jener Informationen blockiert, die das staatliche Interventionsorgan dringend braucht, um ihre eigenen Mandate mit koordinierendem (und nicht deskoordinierendem) Inhalt zu versehen. Abgesehen davon, dass der Etatismus theoretisch unmöglich ist, verursacht er eine Reihe äußerst schädlicher Nebeneffekte: Förderung der Unverantwortlichkeit (da der Staat die realen Kosten seiner Intervention nicht kennt, handelt er auf unverantwortliche Weise); Zerstörung der Umwelt, da diese zu einem öffentlichen Gut erklärt und ihre Privatisierung verhindert wird; Korrumpierung der traditionellen Konzepte von Gesetz und Gerechtigkeit, die durch Befehl und „soziale“ Gerechtigkeit ersetzt werden;4 mimetische Korrumpierung des individuellen Verhaltens, das gegenüber Moral und Recht immer aggressiver und respektloser wird. Diese Analyse erlaubt uns auch den Schluss, dass die Gesellschaften, die heutzutage florieren, dies nicht wegen sondern trotz des Staates tun.5 Ausschlaggebend dafür sind die Trägheit vieler Menschen, an den gewohnten Verhaltensweisen festzuhalten, sowie das Fortbestehen von Bereichen mit vergleichsweise großer Freiheit und die Tatsache, dass der Staat seine plumpen und blinden Befehle für gewöhnlich nur sehr ineffizient durchzusetzen versteht. Außerdem rufen selbst die kleinsten Zuwächse an Freiheit beachtliche Wohlstandsimpulse hervor. Dies zeigt, wie weit die Zivilisation voranschreiten könnte, wenn sie sich vom Hemmschuh des Etatismus befreien könnte. Hinzu kommt, was wir bereits ansprachen: die Illusion all jener, die den Staat mit der Versorgung von („öffentlichen“) Gütern, die (derzeit auf sehr kostspielige und unzureichende Weise) zur Verfügung gestellt werden, gleichsetzen und zu dem Fehlschluss kommen, dass das Verschwinden des Staates notwendigerweise das Verschwinden jener geschätzten Dienste zur Folge haben würde. Diese irrige Annahme nährt sich in einem Umfeld ständiger politischer Indoktrinierung auf allen Ebenen (und besonders durch das Bildungssystem, über das aus offensichtlichen Beweggründen kein Staat die Kontrolle verlieren möchte) und selbstgefälliger Rationalisierung des Status quo durch eine Mehrheit, die sich weigert, das Offensichtliche zu sehen, nämlich, dass der Staat nichts anderes als eine Illusion ist, die von einer Minderheit geschaffen wurde, um auf Kosten der anderen zu leben, die man zuerst ausbeutet, dann korrumpiert und schließlich mit fremden Mitteln (Steuern) kauft, indem man sie mit politischen „Gefälligkeiten“ bezahlt.

4 5

Vgl. Hayek (2006), S. 25–357. Vgl. Rodríguez Braun (1999).

Die Unmöglichkeit, die Staatsgewalt zu beschränken  

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Die Unmöglichkeit, die Staatsgewalt zu beschränken: ihr „letaler“ Charakter in Verbindung mit der menschlichen Natur Wenn ein Staat erst einmal existiert, dann ist es unmöglich, seine Macht­ ausweitung zu beschränken. Gewiss neigen, wie Hoppe gezeigt hat, einige Staatsformen (wie z. B. die absolute Monarchie, in der sich der König als Eigentümer unter sonst gleichen Bedingungen langfristig vorsichtiger verhalten wird, um „nicht die goldene Gans zu töten“) weniger als andere dazu, ihre Macht auszuweiten und intervenieren (wie beispielsweise in der Demokratie, in der es keinerlei Anreize für jemanden gibt, sich darüber zu sorgen, was nach dem nächsten Wahltermin passieren wird). Ebenso steht fest, dass hier und da in der Geschichte der Eindruck entstanden ist, die Interventionsflut sei im Zaum gehalten worden. Doch die geschichtliche Analyse ist unumstößlich: Der Staat hat nie aufgehört, zu wachsen.6 Sein Wachstum hat nie aufgehört, weil sich die Mischung aus Staat, d. h. einer monopolistischen Institution der Gewalt, und menschlicher Natur regelrecht als „explosiv“ erweist. Der Staat fördert und zieht wie ein Magnet mit unwiderstehlicher Kraft die perversesten Leidenschaften, Laster und Instinkte der menschlichen Natur an. Einerseits versucht die menschliche Natur, sich der staatlichen Mandate zu entziehen. Andererseits nutzt sie so weit wie möglich die monopolistische Macht des Staates aus. Außerdem, und ganz besonders unter demokratischen Voraussetzungen, bringt der kombinierte Effekt aus privilegierten Interessengruppen, kurzsichtigen Regierungen und „gekauften Wahlstimmen“, größenwahnsinnigen Politikern sowie verantwortungslosen und blinden Bürokratien einen besonders gefährlichen, instabilen und explosiven Cocktail hervor. Dieser wird unablässig von sozialen, wirtschaftlichen und politischen Krisen weitergerührt, die von Politikern und gesellschaftlichen „Führungskräften“ immer wieder gern als Vorwand für weitere Dosen an Intervention verwendet werden. Dadurch werden die Probleme jedoch nicht gelöst, sondern nur verschärft und um neue bereichert. Der Staat ist zu einem „Götzen“ geworden, an den sich alle wenden und den alle anbeten. Die Anbetung des Staates ist ohne Zweifel die schlimmste und gefährlichste Gesellschaftskrankheit unserer Zeit. Wir werden regelrecht zum Glauben erzogen, dass alle Probleme frühzeitig vom Staat erkannt und gelöst werden könnten. Unser Schicksal hängt vom Staat ab, und die Politiker, die den Staat unter ihrer Kontrolle haben, müssen uns alles gewähren, was wir für unseren Wohlstand brauchen. Das menschliche Wesen bleibt unreif und lehnt sich gegen seine eigene kreative Natur (aufgrund derer seine Zukunft zwingend ungewiss ist) auf. Diese „Infantilisierung“ der Massen wird von Politikern und gesellschaftlichen Wortführern vorsätzlich gefördert, denn so rechtfertigen sie öffentlich ihre Existenz und sichern sich ihre Popularität, Vormachtstellung und Kontrollmöglichkeiten.

6

Vgl. Hoppe (2004).

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22. Liberalismus versus Anarchokapitalismus  

Außerdem schließt sich diesem arroganten Machtrausch eine ganze Heerschar von Intellektuellen, Professoren und Sozialingenieuren an. Nicht einmal die achtbarsten Kirchen und Konfessionsgemeinschaften haben erkannt, dass die Anbetung des Staates heutzutage die größte Bedrohung für den freien, moralischen und verantwortungsvollen Menschen ist; dass der Staat ein von allen angebeteter falscher Götze mit unermesslicher Macht ist, der weder zulässt, dass sich die Menschen von seiner Kontrolle befreien, noch dass sie irgendwelchen moralischen oder religiösen Verpflichtungen treu bleiben, die dem Staat fremd sind und sich seiner Herrschaft entziehen. Als ob dies nicht genug wäre, hat er etwas erreicht, das man anfangs nicht erkennen konnte, nämlich, dass er die Bürgerschaft auf systematische und heimtückische Weise von der Idee abgebracht hat, ihn (den Staat) für die wahre Ursache der sozialen Übel und Konflikte zu halten, und somit überall „Sündenböcke“ (der „Kapitalismus“, das Gewinnstreben, das Privateigentum) geschaffen hat. Diese Sündenböcke macht er für seine Probleme verantwortlich. Sie werden zur Zielscheibe des Volkszornes. Die Moralapostel und Glaubensführer verurteilen sie nachdrücklich und auf das Schärfste. Fast keiner von ihnen ist sich der Irreführung bewusst oder hat sich bisher getraut, die Vergötterung des Staates als die größte Bedrohung dieses Jahrhunderts für die Religion, die Moral und somit für die menschliche Zivilisation an den Pranger zu stellen.7 So wie der Fall der Berliner Mauer im Jahre 1989 zum besten historischen Beweis des Theorems der Unmöglichkeit des Sozialismus wurde, veranschaulicht das enorme Versagen der liberalen Theoretiker und Politiker bei ihrem Versuch, die Staatsgewalt zu beschränken, bestens das Theorem der Unmöglichkeit des Etatismus und, in besonderer Weise, dass der freiheitliche Staat in sich widersprüchlich ist (da er einen, wenn auch nur sehr beschränkten Zwangsstaat verkörpert) und theoretisch unmöglich ist (denn er akzeptiert die Existenz des Staates, wodurch es unmöglich ist, die Ausweitung seiner Macht zu beschränken). Alles in allem ist der „Rechtsstaat“ ein unmögliches Ideal und ein derart flagranter Widerspruch in sich, als ob es sich bei ihm um „warmen Schnee, eine jungfräuliche Hure, ein fettleibiges Skelett, ein kreisförmiges Quadrat“8 oder um jenen Widerspruch handeln würde, 7

Die vielleicht beachtlichste und aktuellste Ausnahme findet man in der brillanten Biographie über Jesus von Nazareth von Benedikt XVI. Dass der Staat und die politische Macht die institutionelle Inkarnation des Antichristen ist, muss für jeden eindeutig erscheinen, der über einige Grundkkenntnisse in Geschichte verfügt und die Betrachtungen des Papstes im Bezug auf die gefährlichste Versuchung, mit der der Böse an uns herantreten kann, liest: „Der Versucher ist nicht grob genug, uns direkt die Anbetung des Teufels vorzuschlagen. Er schlägt uns nur vor, uns für das Vernünftige zu entscheiden, für den Vorrang einer geplanten und durchorganisierten Welt, in der Gott als Privatangelegenheit seinen Platz haben mag, aber in unsere wesentlichen Absichten uns nicht dreinreden darf. Solowjew schreibt dem Antichristen ein Buch zu, Der offene Weg zu Frieden und Wohlfahrt der Welt, das sozusagen die neue Bibel wird und die Anbetung des Wohlstands und der vernünftigen Planung zum eigentlichen Inhalt hat.“ Ratzinger (2007), S. 70 f. In die gleiche Richtung argumentierend, jedoch auf kate­ gorischere Weise, besticht Redford (2001). 8 Jasay (1990), S. 35.

Anarchokapitalismus als System sozialer Kooperation 

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in den sich auch die „Sozialingenieure“ und neoklassischen Wirtschaftswissenschaftler verwickeln, wenn sie von einer „perfekten Markttransparenz“ sprechen oder sich auf das sogenannte „Modell des vollkommenen Marktes“9 beziehen.

Der Anarchokapitalismus als das einzig mögliche und mit der menschlichen Natur wirklich vereinbare System sozialer Kooperation Der Etatismus steht im Gegensatz zur menschlichen Natur, denn er besteht in der systematischen und monopolistischen Nötigung, die in all ihren Wirkungs­ bereichen (inklusive jener, welche die Festlegung des Rechts und die Erhaltung der öffentlichen Ordnung betreffen) die unternehmerische Kreativität und Koordination blockiert, wobei gerade diese die typischsten und wesentlichsten Äußerungen der menschlichen Natur sind. Wie wir bereits gesehen haben, fördert der Etatismus die Verantwortungslosigkeit und treibt die moralische Korruption an, indem er das menschliche Verhalten auf die privilegierte Nutzung der Schalthebel der politischen Macht umlenkt, und all dies in einem Umfeld unvermeidbarer Unwissenheit, die es unmöglich macht, die Kosten jeder einzelnen staatlichen Handlung zu kennen. Diese Auswirkungen des Etatismus treten immer dann auf, wenn es einen Staat gibt, selbst wenn mit allen Mitteln versucht wird, dessen Macht zu beschränken; ein Ziel, das unmöglich zu erreichen ist und den klassischen Liberalismus zu einer wissenschaftlich undurchführbaren Utopie werden lässt. Insofern kann man nicht umhin, den „utopischen Liberalismus“ unserer klassisch liberalen Vorgänger zu überwinden, die einerseits naiv waren, als sie dachten, der Staat könne beschränkt werden, und andererseits inkonsequent, weil sie ihre Ideen nicht logisch zu Ende dachten und deren Implikationen akzeptierten. Für uns, die wir am Anfang des 21. Jahrhunderts stehen, hat es daher Priorität, den klassischen (utopischen und naiven) Liberalismus des 19. Jahrhunderts abzulösen, und zwar durch ein neue und wirklich wissenschaftliche sowie moderne Neufassung, die wir den libertären Kapitalismus, den Anarchismus des Privateigentums oder eben Anarchokapitalismus nennen können. Es hat wirklich keinerlei Sinn, dass die Liberalen weiterhin das Gleiche behaupten wie vor 150 Jahren, während im 21. Jahrhundert und trotz des Falls der Berliner Mauer vor fast über 20 Jahren die Staaten unaufhörlich wachsen und in allen Bereichen die individuellen Freiheiten der Menschen einschränken. Der Anarchokapitalismus (libertarianism auf Englisch) ist die reinste Darstellung der spontanen Marktordnung, in der alle Dienstleistungen, inklusive der Festlegung des Rechts, der Justiz und der öffentlichen Ordnung, durch einen gänzlich freiwilligen Prozess sozialer Kooperation – der so zum zentralen Forschungsobjekt 9

Huerta de Soto (2007), S. 343–350.

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22. Liberalismus versus Anarchokapitalismus  

der modernen Wirtschaftswissenschaft wird – zur Verfügung gestellt werden. In diesem System wird der Elan der menschlichen Schöpfungskraft und Koordinationsfähigkeit nirgends ausgeschlossen. Auf diese Weise werden Effizienz und Gerechtigkeit der Lösungsvorschläge für die verschiedenen Problemstellungen gesteigert und alle Konflikte, Ineffizienzen und Dejustierungen ausgemerzt, die monopolistische Gewaltagenturen (Staaten) allein durch ihre Existenz erzeugen. Das vorgeschlagene System nimmt dem Menschen auch die korrumpierenden Anreize – die der Staat erzeugt und die sich gegen die moralischen und verantwortungsvollen Verhaltensweisen des Menschen richten – und unterbindet die Entstehung einer monopolistischen Agentur (Staat), dank derer einige soziale Gruppen (die die Schalthebel der staatlichen Gewalt stets besser als andere kontrollieren) die systematische Gewaltanwendung und Ausbeutung anderer Gesellschaftsgruppen (jene, die keine andere Wahl haben, als zu gehorchen) für legitim halten. Der Anarchokapitalismus steht als einziges System voll und ganz zur freien und schöpferischen Natur des Menschen und dessen dauerhafter Fähigkeit, sich in einem Umfeld, in dem definitionsgemäß niemand das Recht auf die monopolistische Ausübung systematischer Zwangsgewalt hat, neue und immer moralischere Normen- und Verhaltensweisen anzueignen. Zusammenfassend können wir sagen, dass im Anarchokapitalismus alle unternehmerischen Projekte erprobt werden können, insofern sie auf freiwilliger Basis die ausreichende Zustimmung finden. Dadurch lassen sich in einem dynamischen und sich ständig bewegenden Umfeld freiwilliger Kooperation zahlreiche kreative Lösungsmöglichkeiten ausdenken. Das fortschreitende Verschwinden der Staaten und deren allmähliche Ersetzung durch ein dynamisches Gefüge an privaten Agenturen, die einerseits als Schirmherren für verschiedene Rechtssysteme fungieren und andererseits jede Art von Dienstleistung zum Zwecke von Sicherheit, Prävention und Verteidigung erbringen, bilden den Grundstock für die politische und wissenschaftliche Agenda sowie für den umfassenden sozialen Wandel, den das 21. Jahrhundert erleben wird.

Konklusion: revolutionäre Konsequenzen des neuen Paradigmas  Die Revolution gegen das Ancien Régime, in der die klassischen Liberalen des 18. und 19. Jahrhunderts eine führende Rolle spielten, findet heute ihre natürliche Fortsetzung in der anarchokapitalistischen Revolution des 21. Jahrhunderts. Glücklicherweise haben wir den Grund für das Versagen des utopischen Liberalismus herausgefunden und die Notwendigkeit seiner Überwindung durch den wissenschaftlichen Liberalismus entdeckt. Und wir wissen, dass die alten Revolutionäre irrten und die Sünde der Naivität begingen, als sie ein unmöglich zu erreichendes Ideal verfolgten und dadurch im 20. Jahrhundert den größten Staatstyranneien der Menschheitsgeschichte die Tür öffneten.

Konklusion: revolutionäre Konsequenzen des neuen Paradigmas    

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Die Botschaft des Anarchokapitalismus ist eindeutig revolutionär. Sie ist revolutionär im Hinblick auf dessen Ziel: die Demontage des Staates und dessen Ersetzung durch einen wettbewerbsorientierten Marktprozess, in dem ein Gefüge aus Agenturen, Vereinigungen und Privatorganisationen seinen Platz hat. Sie ist aber auch revolutionär im Hinblick auf dessen Mittel, insbesondere in den wissenschaftlichen, wirtschaftlich-sozialen und politischen Bereichen. (a) Die wissenschaftliche Revolution Sie betrifft besonders den Bereich der Wirtschaftswissenschaft, die zur allgemeinen Theorie der spontanen Ordnung des Marktes wird, der sich auf alle sozialen Bereiche ausweitet, und überdies die Analyse der Effekte sozialer Desko­ordination einbindet, die der Etatismus in allen seinen Wirkungsbereichen (inklusive des Rechts, der Justiz und der öffentlichen Ordnung) erzeugt. Aber auch die verschiedenen Optionen zur Demontage des Staates, die Prozesse des Übergangs und die Formen und Auswirkungen einer umfassenden Privatisierung aller Dienstleistungen, die heute als „öffentlich“ angesehen werden, sind ein wesentliches Forschungsfeld unserer Disziplin. (b) Die wirtschaftliche und soziale Revolution Wir sind nicht einmal in der Lage, auch nur annähernd die unermesslichen Errungenschaften, Fortschritte und Entdeckungen der Menschheit zu erahnen, die sich in einem unternehmerischen und von jeglichem Etatismus befreiten Umfeld erreichen lassen würden. Bereits heute, und trotz der ständigen Bedrängung seitens des Staates, entsteht in einer immer globalisierteren Welt eine unbekannte Zivilisation. Diese hat einen Komplexitätsgrad erreicht, der unmöglich von der Macht des Etatismus kontrolliert werden kann. Sobald sie sich gänzlich von der Staatsgewalt losgesagt haben wird, wird sie unbegrenzt expandieren. Die Schöpferkraft der menschlichen Natur ist so geartet, dass sie sogar in den schmalsten Ritzen, die der Staat übrig lässt, wurzeln und erblühen kann. Wenn aber die Menschen die im Kern perverse Natur des sie nötigenden Staates erkennen und die unermesslichen Möglichkeiten wahrnehmen, die man ihnen Tag für Tagt nimmt, indem man die Triebkraft ihrer unternehmerischen Kreativität blockiert, dann wird sich der soziale Protest mehren. Dann wird man nach Reformen rufen, nach Abbau des Staates und nach Schritten in eine Zukunft, die wir heute noch gar nicht kennen, die aber die menschliche Zivilisation unweigerlich auf bisher unvorstellbare Höhen emporheben wird. (c) Die politische Revolution Was den politischen Kampf des Alltags betrifft, so können wir sagen, dass dieser im Vergleich zu dem in (a) und (b) Gesagten zweitrangig ist. Es versteht sich von selbst, dass immer die am wenigsten interventionsorientierten Alternativen zu unterstützen sind, sofern sie in eindeutiger Allianz mit den Anstrengungen der klassischen Liberalen stehen, die mit demokratischen Mitteln den Staat beschränken wollen. Die Arbeit des Anarchokapitalisten endet aber damit noch nicht, denn er kann und muss viel mehr machen. Er weiß, dass das letzte Ziel

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22. Liberalismus versus Anarchokapitalismus  

der völlige Abbau des Staates ist und dieser beflügelt seine ganze Vorstellungskraft und sein politisches Handeln im Alltag. Die immer größeren Fortschritte in die richtige Richtung sind ohne Zweifel willkommen, aber dürfen kein Anlass für jenen Pragmatismus sein, der das letzte Ziel verrät, nämlich das Ende des Staates, das aus pädagogischen Gründen immer auf systematische und transparente Weise verfolgt werden muss.10 So besteht z. B. die Agenda des Anarchokapitalisten im Streben danach, die Staaten immer kleiner und machtärmer werden zu lassen. Mittels regionaler und städtischer Dezentralisierung auf allen Ebenen, liberalem Nationalismus, Wiedereinfuhr kleiner Stadtstaaten und Sezession11 kann man dazu beitragen, dass die Diktatur der Mehrheiten über die Minderheiten blockiert wird und die Menschen mehr „mit den Füssen“ als an der Wahlurne abstimmen. Es geht schlussendlich darum, dass die Menschen sich auf globaler Ebene und über die Grenzen hinweg zusammenschließen und ihre unterschiedlichen Ziele ohne Rücksicht auf Staaten (religiöse Organisationen, Privatclubs, soziale Netzwerke usw.) erreichen können.12 Andererseits muss daran erinnert werden, dass politische Revolutionen nicht unbedingt blutig sein müssen. Das gilt vor allem dann, wenn die Revolution das Ergebnis eines notwendigen Erziehungs- und Reifeprozesses der Gesellschaft oder Ausdruck des Volksprotests und des allgemeinen Wunsches ist, dem Betrug, der Lüge und der Nötigung, welche die Verwirklichung des Menschen verhindern, ein Ende zu setzen. So waren z. B. der Fall der Berliner Mauer und die Tschechische Revolution, die dem Sozialismus in Osteuropa ein Ende setzten, letztlich unblutig. Und um dieses wichtige Endergebnis zu erreichen, muss man sich aller friedvollen13 und legalen14 Mittel bedienen, welche die aktuellen politischen Systeme zulassen. 10 Vgl. Huerta de Soto (2002), S. 163–192. Als Beleg für die wachsende Bedeutung des libertären Kapitalismus in der gegenwärtigen Politikagenda verweisen wir auf den Artikel von Michael Kinsley (2007). 11 Vgl. meinen Aufsatz „Teoría del nacionalismo liberal“ in Huerta de Soto (1994). 12 Vgl. Frey (2001). 13 Man darf nie die Richtlinien unserer Scholastiker des Goldenen Zeitalters hinsichtlich der strengen Voraussetzungen, die ein Gewaltakt erfüllen muss, um „gerecht“ zu sein, vergessen: 1. Es müssen alle möglichen friedvollen Wege und Vorgehensweisen ausgeschöpft sein. 2. Es muss sich um eine Verteidigung (gegen konkrete Gewalttaten) handeln und darf niemals eine Aggression darstellen. 3. Die Verhältnisse der eingesetzten Mittel müssen stimmen (z. B. ist das Ideal der Unabhängigkeit weder das Leben noch die Freiheit auch nur eines einzelnen Menschen wert). 4. Es muss auf jeden Fall verhindert werden, dass unschuldige Personen zu Opfern werden. 5. Es muss schließlich eine Möglichkeit auf Erfolg gegeben sein (alles andere kommt einem nicht zu rechtfertigenden Selbstmord gleich). Zu diesen weisen Prinzipien würde ich nur jenes der ausschließlich freiwilligen Teilnahme und Finanzierung hinzufügen. Jeder Gewaltakt, der auch nur eines dieser Prinzipien verletzt, ist automatisch illegitim und wird zum schlimmsten Feind dessen, was man durch ihn zu erreichen sich vornimmt. Zum Schluss sei an dieser Stelle auch auf die vollständige Theorie des Tyrannenmordes von Pater Juan de Mariana (1599) hingewiesen. 14 Bereits Murray N. Rothbard hat darauf hingewiesen, dass es nicht anzuraten ist, offenen Widerstand gegen die rechtskräftige „Legalität“ (wesentlich bestehend aus Verwaltungsdirektiven) zu leisten, da er sich in den meisten Fällen aufgrund der hohen Kosten nicht auszahlt.

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Anhang und kurzer Kommentar zur anarchistischen Tradition in Spanien   

Es eröffnet sich somit eine spannende Zukunft, in der sich immer neue und vielfältige Wege finden werden, die es uns erlauben, im Einklang mit den grundlegenden Prinzipien der Verwirklichung des anarchokapitalistischen Ideals entgegenzugehen. Diese Zukunft mag uns heute noch sehr weit entfernt erscheinen, aber sie kann jederzeit derart große Fortschritte machen, dass sie selbst die größten Optimisten zu überraschen vermag. Wer konnte auch nur fünf Jahre im Voraus den Fall der Berliner Mauer und mit ihr des ganzen osteuropäischen Kommunismus kommen sehen? Die Geschichte ist in einen beschleunigten Veränderungsprozess eingetreten, der zwar nie zum Stillstand kommen wird, aber dennoch ein völlig neues Kapitel aufschlägt, wenn es die Menschheit schafft, sich zum ersten Mal in der Moderne endgültig vom Staat zu befreien und ihn nur als dunkle und tragische Figur der Geschichte in Erinnerung behalten wird.

GEGEN DEN STAAT

Grafischer Anhang und kurzer Kommentar zur anarchistischen Tradition in Spanien Anarchokapitalisten (libertärer Kapitalismus) Anarchokommunisten (libertärer Kommunismus)

Re

3 FÜR DEN STAAT

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4

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Liberale 5 1

Sozialdemokraten Sozialisten

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Absolute Monarchie Faschisten

3 Kommunisten (Stalinisten) GEGEN DAS PRIVATEIGENTUM

Nationalsozialisten FÜR DAS PRIVATEIGENTUM

In unserer Graphik sind die verschiedenen politischen Systeme und deren natürliche Übergänge dargestellt. Die Systeme sind danach klassifiziert, wie sehr bzw. wenig sie den Staat befürworten und wie sehr bzw. wenig sie einen respektvollen Umgang mit Privateigentum pflegen. Man kann mit ihrer Hilfe erkennen, wie die ursprünglich revolutionäre (utopische und irrige) Bewegung der klassischen Liberalen gegen die „Alte Ordnung“

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22. Liberalismus versus Anarchokapitalismus  

in jenen Pragmatismus verfällt, der den Staat akzeptiert und den sozialistischen Totalitarismen (Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus) die Tür öffnet. Der Untergang des Realsozialismus bereitet der Sozialdemokratie, die heute überall herrscht (pensée unique), den Weg. Aufgrund der Fehler und Naivität der klassischen Liberalen war die liberale Revolution zunächst gescheitert, sodass die eigentliche liberale Revolution noch aussteht. Sie wird letztlich zum Anarchokapitalismus führen. Eine der Folgen der gescheiterten liberalen Revolution war das Aufkommen des libertären Kommunismus, den die übrigen politischen Systeme (vor allem die besonders „linken“) gerade wegen dessen staatsfeindlichen Charakters unisono verschmäht und verfolgt haben. Der libertäre Kommunismus ist auch utopisch. Da er sich gegen das Privateigentum richtet, sieht er sich vor die Notwendigkeit gestellt, systematische (d. h. „staatliche“) Gewalt gegen das Privateigentum einzusetzen. Dadurch gerät er in einen unlösbaren logischen Widerspruch und blockiert den unternehmerischen Sozialprozess, der die einzig mögliche anarchistische Ordnung antreibt, die wissenschaftlich möglich ist, nämlich jene der kapitalistisch-libertären Marktwirtschaft. In Spanien ist der Anarchismus eine alteingesessene Tradition. Wir wollen seine großen Verbrechen (die jedoch quantitativ als auch qualitativ geringer ausfielen als jene der Kommunisten und Sozialisten) und seine inneren Widersprüche nicht vergessen. Gleichwohl war er, besonders während des Spanischen Bürgerkriegs, ein (wenn auch zum Scheitern verurteiltes) Experiment, das damals in der Bevölkerung großen Rückhalt genoss und – ähnlich wie die alte liberale Revolution – heute seine zweite große Chance bekommen hat, um die alten Fehler (der utopische Charakter des Anarchismus, der das Privateigentum verneint) zu überwinden und die Marktordnung als den einzigen und endgültigen Weg zur Abschaffung des Staates zu akzeptieren. Wenn die spanischen Anarchisten des 21. Jahrhunderts fähig sind, sich die Lehre von Theorie und Geschichte zu eigen zu machen, dann wird Spanien möglicherweise aufs Neue (und dieses Mal für immer und im großen Stil) die Welt überraschen und als theoretische und tatfreudige Avantgarde der neuen anarchokapitalistischen Revolution vorangehen.

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Register Absicherung, soziale  172–175, 177, 179, 181–183 Aggression  111–115, 119, 121, 123 f., 127, 139, 175, 178, 220, 345, 371, 379, 386 Alchian, A.  29, 41, 389 Allais, M.  208, 309, 389 Allen, W. R.  29, 41, 389 Allokationseffizienz 26 Anarchismus  254 f., 383, 388 Anarchokapitalismus  9, 375, 383–385, 388, 395, 400 Antieurokoalition  360, 365, 372 Antitrust-Gesetzgebung 54 Antonius von Florenz  78, 350 Aquin, Th.  103, 262, 285, 389 Arbeitslosigkeit  83, 131, 179, 207, 298, 353, 358, 362, 364, 368, 372 Arrow, K.  28, 40 Atlas Research Foundation  242 Aznar, J.  346 Azpilcueta Navarro, M.  78, 260–263, 273 f., 277–279, 284, 342, 389 Bagus, Ph.  10, 360, 369, 389 Balcerowicz, L.  366, 369, 389 Balmes, J.  264 f., 344, 389 Bankenreform 211 Bankensystem  8, 202, 204, 207–210, 266, 321, 342, 351 Bankfreiheit  201 f., 207, 210 f., 374 Bankfreiheitssystem, Bankfreiheitswesen ​ 202 f., 208, 210 Bankier(s)  205, 210, 261, 270–278, ­281–283, 342 Banking School  202 f., 209, 262, 278–281, 283–285, 342 Bankrott  205, 266, 268, 275, 277 Bank von Amsterdam  206 Baskenland  147, 153, 252 Becker, G.  59, 62, 81, 91, 173, 178, 347, 389, 391, 399

Belda, F.  283 f., 390 Bentham, J.  27, 94, 317, 333 Bergson, A.  28, 44, 118 Berliner Mauer, Fall der  126, 132, 234, 375, 382 f., 386 f. Bernhardin von Siena  24, 78, 259, 350 Bevölkerungstheorie 321 Big Bang, sozialer  33, 37, 67 Blaug, M.  36, 62, 91, 94, 307, 390 Block, W.  138, 355, 363, 390, 401, 404 Böhm-Bawerk, E.  79 f., 296, 300, 308, 326, 390, 392 Bouillon, H.  6, 12 Brown, G.  367 Buchanan, J.  30, 62, 194 f., 201, 230, 253, 322 f., 356, 390 f. Bürokratie  230, 323 Caldwell, B.  73, 91, 304, 391, 394 Cánovas del Castillo, A.  244 Cantillon, R.  78, 264, 343 Carande, R.  267–269, 275, 391 Castillo de Bovadilla, J.  259 f., 263, 391 Cato Institute  242 Chafuen, A.  77, 205, 257, 278, 391 Chicagoer Schule  80 f., 83, 93, 178, 208, 235, 237, 294, 300, 309, 321, 333, 352 f., 362 Chile  191–194, 232, 345 Cipolla, C.  269, 391 Clark, J.  79 f., 300, 390 f. Coase, R.  40 f., 44, 62, 94, 391, 399 Complutense Universität  5, 287, 315, 324, 338 Cordato, R.  36, 391 Covarrubias y Leyva, D.  78, 258–260, 263, 278 f., 341, 391 Crane, E.  93, 235, 391 Currency School  82, 202 f., 262, 278–281, 283 Darlehen 173

Register Deflation  269, 357 f., 371 Dekonstruktion des Staates  251, 253 Demokratie, direkte  251–255 Dempsey, B.  262, 283–286, 391 Demsetz, H.  40, 42 f., 62, 391 Depositen  267, 269, 277 Deutsche Historische Schule  11, 75 DiLorenzo, Th.  323, 391 Direktdemokratie, siehe Demokratie, direkte Dolan, E.  41 f., 392, 401 Doppelstrategie  235, 246, siehe Strategie, duale Dowd, K.  209, 321, 392, 403 Draghi, M.  359, 392 Effizienz, adaptive  21, 38 f. Effizienz, dynamische  5, 7, 21–24, 30 f., 33–45, 47–58, 96, 217, 226, 238 f. Effizienzkonzept, statisches  27 Effizienzkriterium  21 f., 30 Effizienz, statische  22, 24, 26, 28–30, ­34–37, 42, 53, 57, 217, 226 Eigeninteresse 92 Eigentumsrechte  35, 41, 49, 123 f., 127, 132, 138–146, 153, 157, 165, 168, 170, 207, 210, 218, 223 f., 267, 318, 376, 378 Einlage  169, 204, 261, 270 f., 275–278, 280, 282, 285 Emigration  150, 152, 162 f., 165 f., 168, 253 Empirismus  71, 83, 87, 303 Energieerhaltungssatz 24 Entwicklungstheorie, ökonomische  55 Erhard, L.  231, 245, 248, 392 Ersparnisse  173, 184 f., 189, 196, 268, 335 f., 345, 351 ETA 252 Etatismus  131, 147, 343, 375 f., 379 f., 382 f., 385 Ethik des Kapitalismus  8, 212 Ethik, soziale  46, 52, 99, 215 f. Euro  9, 351–361, 363–374, 389, 391 f., 396 Europäische Kommission  367 Europäische Union  153, 156, 366 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ​ 155 f. Europäische Zentralbank  210, 351, 359 f., 368–370, 373

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European Economic Recovery Plan  367 Euroskeptiker  160, 211 Eurozone  354, 356, 360, 363–365, 368 f., 371 Evolutionstheorie  74, 99, 317 Faschismus 388 Federal Reserve  364, 368, 370, 373, 389 Fehler, intellektueller  114, 116, 119, 128 f., 135, 220 Ferrara, P.  180, 197, 392 Fetter, F.  254, 392 FOCJ 254 Formalismus, mathematischer  61, 70, 74, 88, 237 Frey, B.  251–254, 386, 392 Friedman, M.  41, 62, 83 f., 91, 175, 182, 209, 255, 309, 333, 353 f., 362, 374, 390, 392 Funktion, unternehmerische  5, 7 f., 11, 62, 64–66, 72, 78, 87, 97, 100–102, 1­ 05–115, 117–120, 122–124, 1­ 26–129, 137–145, 163, 175, 183, 186, 216, ­218–226, 238 f., 264, 301 f., 306, 319 f., 326, 396 Garello, P.  137, 313 Geldnachfrage  297, 335, 342 Geldstandard  351, 359, 373 Geldsystem  203, 321, 352, 354, 365 Geldsystem, ideales  351 f., 373 Geld- und Bankensystem  201, 209, 351 Geld- und Banktheorie  8, 201 f., 211 Gemeineigentum  81, 299 Gerechtigkeit, soziale  176, 181, 218, 380 Geschichtsschreibung, konjekturale  98 f. Gesundheitssystem  162, 199, 346 Gesundheitsvorsorge  174, 199, 346 Gewalt, institutionelle  115, 121, 127, 131 Gleichgewichtsmodell  37, 41, 55, 61, 66, 68 f., 74, 305, 334 Gleichgewichtstheorie  53, 94, 307 Goldstandard  320, 323, 351 f., 354–356, 358 f., 361, 363, 365, 368, 373 f. Gonzáles, F.  154, 158–160 Greaves, B.  309, 311 f., 315, 393 Grenznutzen, abnehmender  73, 304 Grenznutzentheorie  68, 297 Gresham, Th.  268

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Register

Grice-Hutchinson, M.  77, 256, 266, 270, 276, 278, 340 f., 393 Grotius, H.  343 Güter, fungible  205, 339 Güter, öffentliche  54, 141–145, 162, 165 f., 168, 170 f., 224, 230, 376, 380 Gwartney, J.  41, 393 Habermann, G.  6 Handeln, unternehmerisches  31 f., 45, 47, 101, 108, 376 Handelsfreiheit  150–153, 155 f., 158, 374 Händler gebrauchter Ideen  136, 240 f., 244 Handlungsebenen  8, 232 Hardin, G.  140, 393 Hayek, F. A.  5 f., 8 f., 12, 21, 34, 36, 62 f., 72–74, 77, 80–83, 87 f., 90, 97–100, 102 f., 111, 120, 122, 128, 130, 132, 149, 164, 173, 176–180, 182, 184, 199, 201, 204, 207 f., 213, 218, 221, 228, 234 f., 237–242, 256, 266, 278, 281, 284 f., 294–296, 298, 300, 303, 305, 308, 317 f., 322, 326, 332–336, 338–341, 346, 349 f., 352 f., 362, 373 f., 380, 390, 393 f., 397, 400, 402 f. Heilbroner, R.  82, 234, 301, 394 Heilige 24 Hermeneutik 86 Hicks, J.  28, 404 Historizismus  76, 80 Hollande, F.  361, 367, 394 homo oeconomicus  92, 301 Hoppe, H.-H.  73, 86, 94, 123, 152, 162, 167 f., 175, 252, 254, 312, 318, 321, 339, 381, 394 f. Huerta de Soto, J.  5, 7–11, 21, 31, 34, 47 f., 51, 56, 65, 67, 77, 138 f., 141, 145, 164, 173–175, 206 f., 228, 234, 270, 287, 290, 299 f., 303, 305, 314, 317–319, 321 f., 325 f., 328, 330, 332, 337–352, 354, 358 f., 362, 364, 367, 369 f., 373, 379, 383, 386, 395 f. Humankapital  91, 325 Hume, D.  98, 204, 206, 396 Hutt, W.  93, 188, 235, 254, 396 Immigration  50, 150, 152 f., 155, 158, 160, 162 f., 165 f., 168–170, 253, 322, 391, 403 Immigrationsfreiheit  152 f., 155–157

Immigrationsprozesse 167 Inflation  174, 207 f., 258, 260 f., 263, 268, 342, 353–355, 357, 360, 372 Institute for Humane Studies  137, 242, 328, 339 Institutionen  5, 7, 21 f., 35, 40–42, 49, 51, 56 f., 62, 76 f., 93, 98, 106, 109, 139 f., 148 f., 165, 169, 179, 183 f., 186, 195, 197, 200, 202 f., 214, 223–226, 238, 241, 246 f., 257, 317, 323, 330, 337, 348, 367 Institution, soziale  30, 52 f. Interessengruppen  133, 143, 162, 178, 230 f., 233, 239 f., 243, 323, 351 f., 359, 362, 372 f., 381 Interventionen  93, 96, 131, 133, 145, 156, 165, 190, 321, 367 Interventionismus  47, 54, 61 f., 72, 93, 96, 122, 124–126, 133, 141, 147, 157 f., 160, 162, 166, 175, 233 f., 237, 240, 243, 253, 294, 299 f., 303, 310, 320, 351, 361, 368, 374, 398 Jasay, A.  5, 382, 396 Kaldor, N.  28, 404 Kalkulation, wirtschaftliche  104, 110, 300, 320 Kapitalgüter  9, 56, 85, 335, 364 Kapitalgüternachfrage 84 Kapitaltheorie  84, 96, 289, 326, 332, 354 Karl V.  77, 263, 266–268, 270, 343 Kasper, W.  41–43, 396 Kastilien  150, 159, 279 Katalonien  150, 153, 156, 264, 344 Kaufkraft  279, 283–286, 297, 323, 358 Keynesianer  84, 333, 342, 354, 357, 360, 362 f., 367, 372 Keynesianismus  62, 79, 83, 354 Keynes, J. M.  27, 81–83, 90, 187, 203, 233, 284, 297, 300, 333, 348 f., 354, 361 f., 365, 373 f., 391, 394, 396, 400, 403 Kirche, katholische  221 f., 344, 349 Kirzner, I.  5, 8, 21, 34–36, 38, 40, 55, 62 f., 65 f., 76, 82 f., 86, 92, 100 f., 122, 125, 144, 175 f., 178, 186, 203, 216, 219–226, 282, 292, 301 f., 307 f., 318 f., 330, 339, 379, 396–398, 405 Kleinheyer, M.  10

Register Knight, F.  80 f., 209, 300, 397 Kommunismus  26, 228, 387 f. Kommunismus, libertärer  388 König Juan Carlos  324, 349 Konjunkturzyklentheorie  207, 282, 297, 326 Konsequenzialismus  212, 214 f., 239 Konsumgüter  69, 335 f. Konsumgüternachfrage  84, 332 Koordination  30 f., 33, 36, 40, 47 f., 51, 53 f., 56 f., 61, 66 f., 76, 107, 109–111, 113 f., 116, 119, 127, 139, 175, 178, 214, 217 f., 224, 226, 238, 242 f., 302, 305, 318, 383 Koordination, soziale  34 f., 47, 67, 213, 225 Korruption  49, 132, 135, 175, 178, 187, 311, 383 Kosten-Nutzen-Analyse  60, 65, 71, 83, 93, 215, 217, 239, 303 Kotlikoff, L.  173 f., 389, 397 Kreativität, unternehmerische  23, 26, 30, 39 f., 44, 46–48, 50, 54–58, 61, 70 f., 88, 95, 112, 144 f., 165, 178, 218, 220 f., ­223–227, 238 f., 307, 318, 376–378, 383, 385, 395 Kreativvermögen  299, 301, 305, 307, 322 Kreditausweitung  56, 269, 298, 351–353, 357, 359, 368 f., 371, 373 Kredittheorie  96, 321 Krugman, P.  361 f., 367, 370, 397 Lair, F.  10 Lange, O.  82, 301, 333 Lavoie, D.  86, 106, 124, 213, 300, 397 Lehrbücher der Wirtschaftstheorie  213, 288 f., 291–293, 315 Leibenstein, H.  21, 37 f., 397 Leoni, B.  77, 256, 339–341, 397 Lessines, G.  262, 285 Lessius, L.  262, 280, 283, 285 f. Liberalismus, klassischer  375, 383 Liberalismus, utopischer  383 f. Libertäre  8, 62, 93, 176, 180, 202, 229, 251, 254, 344, 346 Libertarianismus  93, 126, 236 f., 242 f., 249, 253, 300, 314 Liberty Fund  137, 242, 312 Lindsay, D.  42 Lipsey, R.  29, 41, 293, 397 Liquidität  203, 206, 266, 268, 282 f., 356

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Locke, J.  99 Lockesche Proviso  46 logisch-deduktiv 216 Lugo, J.  77, 259, 262 f., 276, 278, 280–286, 342, 390, 397 Machlup, F.  80, 82, 300, 308, 354, 374, 397 Makroökonomie  55, 61 f., 68, 84, 96, 289, 298, 326, 333 f. Mariana, J.  8, 256–258, 260–265, 286, 343, 386, 398 Marktversagen  27, 42 f., 54, 224 Marktwirtschaft, freie  140, 228, 237, 241, 251, 338, 343 f., 355, 357 Marktwirtschaftsreformen 229 Marshall, A.  79 f., 203, 291, 333 Marxismus  123, 242 Marx, K.  79 f., 233, 333, 391 Mayer, H.  25, 70 f., 81, 83, 292, 306, 348, 398 McCloskey, D.  86 Medien  66, 242, 338, 361 Meliorismus, wissenschaftlicher  288 Menem, C.  232, 244 Menger, C.  55, 59, 70, 73, 75–80, 85, 93, 98, 139, 148, 225, 257, 260, 264 f., 295 f., 300, 302, 304, 306, 308, 311, 317, 341, 343 f., 392, 396, 398 Mercado, T.  262, 274 f., 278 f., 283 f., 332, 395, 398 Merkel, A.  372 Methodenstreit  8, 59, 75 f., 97, 300, 395 Methodologie, neoklassische  42, 93, 95 Methodologie, Österreichischen  65, 69, 87 Migrationsströme  163, 166 f. Mikroökonomie  68, 298, 326, 333 Mirowski, Ph.  25, 291 Mises Institute  242, 312, 327, 337, 401 Mises, L.  8–10, 21, 34, 36, 59, 62–65, ­67–69, 71, 73 f., 80–83, 90 f., 95–98, 100, 114, 119 f., 122, 124 f., 128 f., 132, ­139–142, 148 f., 157, 159 f., 173 f., 177, 185, 198, 203 f., 206–210, 213 f., 225, 228, 234, 237–240, 242 f., 255, 284 f., 287, 290–328, 330, 333 f., 337–339, 345 f., 348 f., 352, 354 f., 358, 361 f., 374, 392 f., 396–399, 401–403 Mises, M.  309–311, 316, 320, 354, 399

410

Register

Molina, L.  78, 205, 260–263, 276–278, 280–286, 342, 390, 399 Monetarismus 83 Monetaristen  82, 84, 90, 333, 357 f., 360, 362 f., 370, 372, 374 Monopoltheorie  319, 328, 338 Montesquieu, Ch.-L.  98 Mont Pèlerin Society  93 Moralität  58, 135, 215, 217 f., 241, 264, 318 Moralprinzipien  46 f., siehe Prinzipien, ­moralische Mundell, R.  363, 390, 399 Murata, T.  295, 313, 399 Mustervorhersagen  61, 72, 303 Nationalismus, liberaler  8, 150, 153–155, 157 f., 160 f., 386 Nationalismus, monetärer  352, 355, 357, 359 f., 362, 365, 368, 370, 373 f. Nationalismus, sozialistischer  157 Nationalsozialismus  147, 388 Natur, menschliche  46–48, 52 f., 126, 130, 135, 238 f., 288, 318, 375, 378, 381, 383, 385 Neo-Österreicher 85 Nihilismus  85 f., 230 Nirwana  40, 42, 52, 130 North, D.  21, 38 f., 41, 162, 399, 404 Novak, M.  221, 399 f. Nutzenvergleiche, interpersonale  27, 29 Obama, B.  362, 367 Objektivismus 64 occupatio rei nullius  46, 220 O’Driscoll, G.  41, 43, 400 Ökosystem 138 Opus Dei  349 Österreichische Schule  5, 7, 11, 59 f., 75, 77, 79, 82, 84, 88, 96, 102, 129, 148, 214, 235, 239, 257, 263, 266, 270, 305, 323, 333, 338, 395 Österreichisches Institut für Konjunktur­ forschung 90 Papst Johannes Paul II.  135, 221 f. Paradigma, neoklassisch-walrasianisches ​ 213, 215, 239, 287, 307, 325 Paradox des Sparens  291, 332, 335

pareto-effizient 28 Pareto, V.  21 f., 28 f., 34, 38, 44, 88, 96, 214, 217, 226, 238, 400 Paternalismus 176 Peels Akte, Peels Gesetz  203 Pensionen  172 f., 175, 177, 180, 186, 191, 194, 261 Philipp II.  259, 268, 341 Philipp IV.  343 Physik, mechanische  24–26 Pigou, A.  27, 29, 53 Pluralismus, methodologischer  86 Polanyi, M.  105, 400 Popper, K.  72, 86 Positivismus  77, 83, 85, 293, 302 Pragmatismus  188, 232, 236, 354, 386 f. Praxeologie  60, 74, 91, 98 f., 120, 301 Preisniveau  68, 84, 298 Prinzipien, ethische  22, 36, 212, 217, 220, 239, 302 Prinzipien, moralische  48 f., 215 f., 318 Privateigentum  47 f., 123, 255, 377, 382, 387 f. Privatisierung  140 f., 145, 153, 165 f., 170, 186 f., 192, 196, 231, 246, 330, 346, 377 f., 380, 385 Produktionsfaktoren  64, 163, 301, 322 Produktionskosten  79, 84 f. Produktionsmöglichkeitenkurve  30, 33, 42–44, 47, 216, 238 Produktionsstruktur  9, 84, 207, 284, 298, 332, 335 f., 364 Produktionsstufen  79, 336 Profitmöglichkeiten  31–34, 52, 66, 113, 118, 126, 133, 219, 238, 301, 371 Prozess, dynamischer  5, 34, 37, 48, 60, 67, 97, 213, 217 Public-Choice-Schule  138, 230, 322 f. Public-Choice-Theorie  62, 230 Pufendorf, S.  343 Ramsay-Pigou-Regel 53 Ratzinger, J.  382, 400 Rawls, J.  220, 400 Reagan, R.  201, 231, 243–245 Rechtsprinzipien  52, 165, 205 f., 209, 225, 266 f., 280, 285, 321, 378 Rechtssystem  135, 145, 378

Register Referendum  151, 251–254 Reformation  78, 343 Reformen, marktwirtschaftliche  228–232, 244 f. Reform, libertäre  188, 239, 242 f., 246 f., 249 Regressionstheorem  297, 358 Reig, J.  314–316, 320, 328, 337 f., 348 Reiter, St.  26 Religion  7, 49, 148, 350, 382 Renten  174, 181–184, 190 f., 195 f., 356 Rentenpläne  190, 193 Reserve, 100-prozentige  204, 206, 262, 269, 285, 321 Rey Juan Carlos Universität  5, 287, 315 Rezession  56, 207, 268, 272, 298, 356, 369 f. Ricardo, D.  9, 80, 206, 335 f. Ricardo-Effekt 335 Ricci Bank  269 Rizzo, M.  41, 43, 325, 400 f. Robbins, L.  29, 63, 90, 178, 293, 298, 300, 302, 308 f., 400 Roover, R.  260, 266, 400 Röpke, W.  292, 300, 339, 400 Rosen, Sh.  59, 74, 94, 401 Rothbard, M.  8 f., 21, 24, 35 f., 62, 66, 71, 73, 77 f., 86, 94, 99, 111, 120, 140, 152, 162 f., 167, 175, 201, 207 f., 211, 214 f., 240, 247, 254–259, 262, 266, 270, 278 f., 281, 286, 288 f., 293, 295, 297, 299, 302, 308 f., 318–321, 326–331, 338–341, 346, 349, 377, 386, 401–403 Salas, J.  77, 259, 263, 402 Salerno, J.  120, 312, 321, 402 Salin, P.  55, 71, 126, 137, 402 Samuelson, P.  28, 41, 44, 62, 91, 291, 297, 306, 402 Saravia de la Calle, L.  78, 259, 261–263, 270–272, 274, 277–279, 284, 402 Savigny, F.  76 Say, J.-B.  77–79, 264, 343 Scholastiker, spanische  8, 77 f., 256–260, 262–264, 266, 270, 276, 279, 284 f., 295, 331, 340 f., 343 f., 350, 386 Schöpfung, unternehmerische  34, 43, 46, 56, 320 Schule von Salamanca  8, 77, 266, 270, 276, 278–280, 284, 286, 295, 329

411

Schumpeter, A.  21, 36 f., 39, 88 f., 284, 296, 308, 340, 402 Schwartz, A.  207, 362 Selbstbestimmung  150, 155, 158, 252 f. Selgin, G.  209, 321, 342, 403 Sen, A.  28 Sezession  151, 167, 252 f., 386 Sicherungssystem, soziales  176 Sichteinlage  204, 210, 261, 266, 271, 274, 276, 281 f., 284 Sichteinlagevertrag  273, 279 f. Simon, J.  83, 152, 162, 164, 169, 322, 403 Simons, H.  209, 309, 403 Skousen, M.  82, 90, 298, 403 Smith, A.  73, 77–79, 87, 93, 203, 206, 264, 327, 343, 400, 402 f., 405 Smith, V.  403 Soberan, J.  329, 403 Soto, D.  276, 278, 280 Sozialingenieure  93, 237, 363, 383 Sozialismus  5, 8, 36, 47, 59, 62, 71 f., 81 f., 85, 90, 93 f., 96, 100, 111–117, 119 f., 122–136, 139–141, 154 f., 157 f., 175, 178, 183, 201, 211, 213, 220, 228, 234, ­237–239, 242, 252, 287, 298–301, 303, 310, 320, 322, 325 f., 333, 339, 344, 346, 351, 361, 379, 382, 386, 396, 398, 402 Sozialismus, Ende des realen  126, 375, 388 Sozialismus, Paradox des  130 Sozialismus, Unmöglichkeit des  59, 81, 85, 90, 120, 122, 175, 234 Soziallehre, katholische  221 f. Sozialversicherung  168, 172 f., 175–186, 188 f., 192–196, 198 f. Sozialversicherung, Reform der  183, 187 f., 190–192, 194–197 Sozialversicherungssystem  174 f., 177–181, 185 f., 190–195 Sparen  79, 84, 169, 173, 175, 185, 285, 335, 345 Spencer, H.  5, 7 Staat (monopolistische Gewaltagentur)  378 Staatsausgaben  356, 361, 367, 369 Stadtstaaten 386 Stigler, G.  38, 85, 307, 403 Stiglitz, J.  41, 62, 66, 82, 88, 92, 94, 234, 290, 299, 361, 367, 403 f.

412

Register

Strategie, duale  235 Strategieprinzipien 188 Streit, M.  42 Stroup, R.  41, 137 f., 393, 404 Subjektivismus  8, 60, 64, 66, 75, 79 f., 95, 97, 264, 296 f., 299, 323 Szientismus  73, 77, 238, 308 Taylor, F.  26, 370, 393, 404 Teildeckungsbankwesen  10, 206 f., 261, 278–280, 282–284, 286 Teilreservesystem  8, 205, 268, 276, 280, 320 f., 342, siehe Teildeckungsbankwesen Thatcher, M.  154 f., 160, 201, 211, 231 f., 244–246, 404 Theorem der Unmöglichkeit des Sozialismus ​81, 128, 149 Theorem der Wohlfahrtsökonomie  28 Theorie des Unternehmertums  45, 223, 301 Thermodynamik, 2. Hauptsatz der  24 Think Tanks  242 Tragödie der Allmende  132, 140 f., 207, 360, 369 Transaktionskostentheorie 40 Trendvorhersagen  72, 303 Turgot, A.  78, 231, 249, 264, 343, 404 Tyrannen  257 f. Umlagefinanzierung  169, 177, 181, 183– 185 Umlaufsmittel  10, 208, 297, 398 f. Umweltschutz  137 f., 141, 145 Umweltschutz, marktwirtschaftlicher  137 f., 145 f. Universität von Salamanca  256, 266, 331, 340 f. Untergang des real existierenden Sozialismus ​96, 228, 232, 234 Unternehmertum  5, 8, 11, 31–35, 39, 41 f., 44 f., 48, 51, 54–56, 64, 100, 137, 139, 219, 375 Ursünde 131 Utilitarismus  27, 71, 83, 303, 339 Versorgung, medizinische  197–199 Verteilungsgerechtigkeit  45, 216, 219, 318, siehe Gerechtigkeit, soziale

Wachsamkeit (alertness)  34, 40, 61, 63, 69 Währungsunion  356, 358, 365 f., 368–370, 373 Walras, L.  25, 70, 81, 91, 94, 128, 178, 296, 396, 404 Webb, B. and S.  26 f. Weber, M.  244, 294, 404 Wechselkurse  211, 235, 352–355, 359–363, 374 Weede, E.  6 Weiterbildung  241, 347 Werteparadox 264 Wert, subjektiver  69, 78, 104, 121, 264 Werttheorie, subjektive  78, 259, 263, 295, 329, 341 Wettbewerb, perfekter  37, 67 Whig-Theorie 288 White, L.  75, 209, 321, 404 Wieser, F.  80, 89, 306, 392, 405 Wirtschaftsrechnung  5, 106, 109, 120 f., 125, 141 f., 178, 299 f., 320, 326, 333, 339, 396, 398 Wirtschaftsrechnung, sozialistische  122, 124, 141, 300 f., 309 Wirtschaftswunder  231, 248 Wissen, praktisches  61, 66, 103, 114, 116, 119, 149, 222, 319, 322 Wissen, stillschweigendes  102, 105, 114, 130, siehe Wissen, unartikuliertes Wissen, subjektives  64, 102 Wissen, unartikulierbares  116, 119 Wissen, unartikuliertes  105, 116, 120 Wissen, verstreutes  103, 114, 116, 120 Wohlfahrtsleistungen  162, 168 Wohlfahrtsökonomie  27 f., 30, 35 f., 43 f., 216 f., 333 Wohlfahrtsstaat  152, 166, 168, 221, 234 Wojtyla, K.  221, 405 Wonnacott, P. and R.  41, 43 f., 405 Xenophon  22–24, 26, 405 Yeager, L.  59, 78, 96, 264, 405 Zentralbanken  201 f., 211, 351 f., 356, 370, 373 Zentralbankensystem 204 Zerstörung, schöpferische  36 f.

Register Zinsen  196, 206 f., 270 f., 273 f., 277, 296, 298, 336 Zwang, institutioneller  62, 93, 110, 112, 114, 116, 118, 138, 144, 204, 218, 223, 303 Zwangseingriffe 351, siehe Interventionen

413

Zwangsgewalt  50, 54, 299, 384 Zwangsintervention, siehe Interventionen Zwangsmaßnahmen  48, 156 f., 162, 165, 216, siehe Interventionen