Die Strafrechtsjustiz der DDR im Systemwechsel: Partei und Justiz, Mauerschützen und Rechtsbeugung [1 ed.] 9783428496662, 9783428096664

Dieser Band enthält acht Beiträge zu einer Tagung, die zwei zentrale Aspekte der Strafjustiz der DDR aus heutiger Sicht

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German Pages 148 Year 1998

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Die Strafrechtsjustiz der DDR im Systemwechsel: Partei und Justiz, Mauerschützen und Rechtsbeugung [1 ed.]
 9783428496662, 9783428096664

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Die Strafrechtsjustiz der DDR im Systemwechsel

SCHRIFTENREIHE DER GESELLSCHAFT FÜR DEUTSCHLANDFORSCHUNG BAND 64

Die Strafrechtsjustiz der DDR im Systemwechsel Partei und Justiz Mauerschützen und Rechtsbeugung

Herausgegeben von

Ulrich Drobnig

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die Strafrechtsjustiz der DDR im Systemwechsel : Partei und Justiz, Mauerschützen und Rechtsbeugung I hrsg. von Ulrich Drobnig. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung ; Bd. 64) ISBN 3-428-09666-5

Alle Rechte vorbehalten

© 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-09666-5

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort _____ .. _________ . _____ .. _______________________ . ____________________________________ . ___ . ___ .

7

Lore Maria Peschel-Gutzeit Aufarbeitung von System unrecht durch die Justiz: Anspruch und Wirklichkeit

9

I. Partei und Justiz

Hubert Rottleuthner Steuerung der Justiz in der DDR .. _______________________________________________________

25

Hans-Dietrich Lehmann Leitung und Lenkung der Rechtsprechung durch das Oberste Gericht der DDR

43

Wolfgang Behlert Staatsanwaltschaft und politisches System in der DDR: Außen-, Kontext-, Selbststeuerung .. _______ ... __________________ . _____ . ___ .... __ .... ____ ... _._. _____________ .. __ ...

49

11. Systemwechsel und Strafrecht Hartmuth Horstkotte Rechtsbeugung durch Richter und Staatsanwälte in der DDR. Ein Bericht über die neuere Rechtsprechung _.... ___ .. ____ .... ___ .... __ ..... _..... __ ....... _..... __ ..... 63 Günter Spendel Rechtsbeugung und Bundesgerichtshof - Eine Kritik __ ._. __ .... ____ .. _______ . ______ 101 Herwig Roggemann Die strafrechtliche Aufarbeitung der Vergangenheit der DDR am Beispiel der "Mauerschützen" und der Rechtsbeugung - Eine Zwischenbilanz . ____ .. _ 111 Hans-Jürgen Helten Zur strafrechtlichen Beurteilung der Mauerschützen __ .... _______ . __ .... __ ..... _. __ . 131 Verfasser und Herausgeber __ ... _.... __ . __ . __ .... __ .... ______ ............. __ .... _......... _... 147

VORWORT Dieser Band vereinigt acht (teilweise nachträglich überarbeitete und erweiterte) Referate. Sie waren auf einer Tagung der Fachgruppe für Rechtswissenschaft in der Gesellschaft für Deutschlandforschung e. V. am 14. und 15. Dezember 1995 in Berlin vorgetragen und diskutiert worden. Es machte den Reiz der Tagung und daher auch der hier vorgelegten Referate aus, daß die acht Referenten aus durchaus unterschiedlichen "Lagern" stammen. Dabei geht es nicht etwa - wie man vermuten könnte - um den Kontrast zwischen Ost- und Westdeutschen. Naturgemäß hatten die hochkarätigen ostdeutschen Insider, die zum Themenkreis I, also dem Einfluß der Partei auf die Justiz, sprachen, einen deutlichen Informationsvorsprung vor allen anderen. Insbesondere die Referate zu den Problemen des 11. Teils, also den strafrechtlichen Folgen des Systemwechsels in den neuen Bundesländern, zeigen jedoch, daß die strafrechtlichen Reaktionen auf die Schüsse an der Mauer und die Fälle von Rechtsbeugung heute auf beiden Seiten des ehemaligen Grenzzauns jeweils durchaus unterschiedlich beurteilt werden. Entsprechend engagiert und anregend fielen die Diskussionen in Berlin aus. Nicht nur Zeithistoriker und die Fachleute des Vereinigungs-Strafrechts werden den Referaten Anregungen und Belehrungen abgewinnen. Auch interessierten Laien sollte dieses Buch einen Einblick in Gegenwartsprobleme eröffnen, die durch die 40jährige Spaltung Deutschlands und das Nebeneinander zweier höchst unterschiedlicher politischer Regime ausgelöst worden sind ein aufregender Teil des juristischen Spiegels der Nachkriegsgeschichte Deutschlands. Ulrich Drobnig

Lore Maria Peschel-Gutzeit AUF ARBEITUNG VON SYSTEMUNRECHT DURCH DIE JUSTIZ: ANSPRUCH UND WIRKLICHKEIT J. Aufarbeitung des NS-Unrechts

1945 stellten die Alliierten hohe Ansprüche an die strafrechtliche Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrecht: Vor allem die Gewaltverbrechen sollten unnachgiebig geahndet werden. So tagte vor 50 Jahren in Nürnberg der Internationale Militärgerichtshof, der am 1. Oktober 1946 das Urteil über die führenden Repräsentanten des NS-Regimes sprach 1• Zwölf Nachfolgeprozesse vor amerikanischen Militärgerichten in Nürnberg schlossen sich an. Unter ihnen verdient der "Juristenprozeß" besondere Aufmerksamkeit, die er freilich - gerade bei Juristen - bis heute nicht gefunden hat2 • Darüber hinaus bildeten die Alliierten in ihren Besatzungszonen Gerichtshöfe für die Aburteilung von NS-Verbrechen. Allein in den drei westlichen Besatzungszonen mußten sich vor diesen Militärgerichten rund 4500 Angeklagte verantworten'. Während die alliierten Gerichte vor allem Straftaten gegen alliierte Staatsbürger verfolgten, wurde die Ahndung von NS-Verbrechen gegenüber Deutschen den wiedereröffneten deutschen Gerichten übertragen. Dabei hatten auch die deutschen Gerichte alliiertes Recht, nämlich das Kontrollratsgesetz Nr. 10, anzuwenden. Vor allem die angebliche rückwirkende Anwendung des Tatbestandes des Verbrechens gegen die Menschlichkeit stieß in der deutschen Rechtswissenschaft auf massive Kritik - und viele Gerichte reagierten mit hinhaltendem Widerstand'. Dabei wurden durch das Kontrollratsgesetz Nr. 10 keine zur Tatzeit straflosen Handlungen nachträglich unter Strafe gestellt, son1 International Military Tribunal, Sekretariat (Hrsg.), Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg 14.11.1945-1.10.1946. Amtlicher Text in deutscher Sprache, 42 Bde. (Nürnberg 1947-1949). 2 Zentral-Justizamt for die Britische Zone (Hrsg.), Das Nürnberger Juristenurteil (Hamburg 1948); Ostendorflter Veen, Das "Nürnberger Juristenurteil". Eine kommentierte Dokumentation (FrankfurtlNew York 1985). , Zahlenangaben nach Rückerl, NS-Verbrechen vor Gericht. Versuch einer Vergangenheitsbewältigung (Heidelberg 1982) 95-99. • Vgl. Wenzlau, Der Wiederaufbau der Justiz in Nordwestdeutschland 1945 bis 1949 (Königsteinffs. 1979); Hans Wrobel, Verurteilt zur Demokratie, Justiz und Justizpolitik in Deutschland 1945-1949 (Heidelberg 1989).

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dem bestehende Strafvorschriften wurden in veränderter Fonn flir anwendbar erklärt. Von einer Verletzung des Rückwirkungsverbots konnte mithin allenfalls in einem streng fonnalen, nicht aber im materiellrechtlichen Sinne die Rede sein'. Für weite Teile der deutschen Rechtswissenschaft war die Strafverfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen gleichwohl mit dem Odium der Rechtsstaatswidrigkeit behaftet". Schon 1950 machte das Wort von der "Siegerjustiz" die Runde. Bald war auch von "Nestbeschmutzern" die Rede. Nur flinf Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft verlangte eine qualifizierte Mehrheit westdeutscher Bürgerinnen und Bürger, daß endlich ein "Schlußstrich" unter die Vergangenheit gezogen werde 7 • Die ersten Bundesregierungen folgten dieser Grundstimmung. Auf Grund des Ausflihrungsgesetzes zu Art. 131 GG konnten fast alle noch verwendungsfähigen Richter und Staatsanwälte aus der NS-Zeit in den Justizdienst zurückkehren". Ab 1951 wurde das Kontrollratsgesetz Nr. 10 nicht mehr angewandt. Und 1954 trat eine Teilamnestie flir NSTäter hinzu 9 • So entstand bei den Strafverfolgungs behörden der Eindruck, die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen sei abgeschlossen. In der Folgezeit trat ein ,justitium" ein, also ein faktischer Stillstand der Rechtspflege. Bis Ende 1952 waren von deutschen Gerichten rund 4500 Personen wegen NS-Verbrechen rechtskräftig verurteilt worden. Der Höhepunkt wurde 1948 mit 1819 Verurteilten erreicht. 1953 sank die Zahl der Verurteilten auf 123, 1954 auf 44 und 1955 auf 21 Personen lO • Gerichte und Staatsanwaltschaften hatten die Verfolgung von NS-Verbrechen faktisch aufgegeben. Doch Ende der flinfziger und Anfang der sechziger Jahre wurde die bundesdeutsche Gesellschaft durch den "Ulmer Einsatzgruppenprozeß", den "Eichmann-Prozeß" in Jerusalem und den Frankfurter "Auschwitz-Prozeß" aufgeschreckt. Es kam zur Bildung der "Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen" in Ludwigsburg. In den meisten Bundesländern wurden bei bestimmten Staatsanwaltschaften , So auch Ostendorflter Veen (Anm. 2), 34-50, mit weiteren Nachweisen. Siehe zum Umgang mit der NS-Vergangenheit nach 1945: Lore Maria Peschel-Gutzeil, Zur rechtlichen Auseinandersetzung mit der NS-Gewaltherrschaft und dem SED-Regime: NJ 1995, 450-454. 6

7 Siehe Brochhagen, Nach Nümberg. Vergangenheitsbewältigung und Westintegration in der Ära Adenauer (Hamburg 1994); Steinbach, Nationalsozialistische Gewaltverbrechen. Die Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit nach 1945 (Berlin 1981). " Zu den Folgen siehe Godau-SchÜl/ke, Ich habe nur dem Recht gedient. Die "Renazifizierung" der Schleswig-Holsteinischen Justiz nach 1945 (Baden-Baden 1993). 9 Siehe Rückerl (Anm. 3) 124 mit Anm. 37 und S. 134 f. 10 Zahlenangaben nach ebenda, S. 329.

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Sonderdezernate zur Verfolgung von NS-Gewaltverbrechen gebildet". Erst 15 Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft begann damit die systematische Aufklärung der schwersten NS-Verbrechen, nämlich der vor allem in Osteuropa verübten Massenmorde. In vielen Fällen setzten die Ermittlungen allerdings viel zu spät ein. Andere Verfahren zogen sich über Jahre hin und mußten schließlich eingestellt werden. Kam es zur Anklageerhebung, verhängten die Gerichte bisweilen kaum nachvollziehbar milde Strafen. In den siebziger Jahren traten Mammut-Verfahren wie der Majdanek-Prozeß hinzu, der buchstäblich das Fassungsvermögen der Beteiligten zu sprengen drohte. Und im Zusammenspiel mit medizinischen Gutachtern gelang es nicht wenigen Angeklagten, sich wegen angeblicher "Verhandlungsunfähigkeit" ihrer strafrechtlichen Verantwortung zu entziehen 12. Dabei konnten seit 1960 nur noch Mordtaten verfolgt werden, denn zu diesem Zeitpunkt trat die Verjährung fiir Totschlag ein. Das Rückwirkungsverbot spielte bei der Strafverfolgung von NS-Verbrechen seit den sechziger Jahren keine Rolle mehr. Im Gegensatz zu den heutigen Theorien mancher Staatsrechtslehrer herrschte nämlich Einigkeit darüber, daß staatlich organisierte und exekutierte Massenmorde auch vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes strafbar waren. Der Bundesgerichtshof hielt nach seiner ständigen Rechtsprechung aber nur die Repräsentanten des NS-Regimes und an Exzessen Beteiligte fiir Täter mit niedrigen Beweggründen, was vor allem die zahlreichen Schreibtischtäter von Strafe verschonte. Ein besonders deprimierendes Kapitel stellt die merkwürdig verständnisvolle Rechtsprechung der Tatsacheninstanzen und des Bundesgerichtshofes gegenüber NS-Juristen dar. So wurde - von zwei Ausnahmen abgesehen, die Standgerichte in der Schlußphase des Krieges betrafen - kein einziger Richter oder Staatsanwalt wegen der unter der NS-Herrschaft verübten Justizverbrechen rechtskräftig verurteiJtl3. Hier wird mit Recht von einer Selbstamnestierung der Justiz fiir ihre eigenen Taten gesprochen. Das bleibt ein Makel, an dem wir zu tragen haben.

Vgl. Sleinbach (Anm. 7), insb. 46-50. Siehe Herberl Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft. Studien zur nationalsozialistischen Gewaltkriminalität (FrankfurtlM. 1982); Jürgen Weber/Peler Sleinbach, Vergangenheitsbewllltigung durch Strafverfahren? NS-Prozesse in der Bundesrepublik Deutschland (München 1984). Vgl. auch Helge Grabilz. NS-Prozesse. Psychogramme der Beteiligten (Heidelberg 1985). 13 Siehe hierzu vor allem Spendei, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung. Sechs strafrechtliche Studien (BerlinlNew York 1984); Dencker, Die strafrechtliche Beurteilung von NSRechtsprechungsakten, in: Peler Salje (Hrsg.), Recht und Unrecht im Nationalsozialismus (Münster 1985) 294-310; Vormbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils (Berlin 1987) 349-359. 11

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Trotz aller Schwierigkeiten und Probleme war die seit den sechziger Jahren von den Staatsanwaltschaften und Gerichten der Bundesrepublik bei der Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen geleistete Arbeit nicht vergeblich. Die Bilanz der eigentlichen Strafverfolgung bleibt zwar unbefriedigend. Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander. Aber ohne den Einsatz der Justiz und ohne die Prozesse wäre das ganze Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen weder aufgedeckt noch ins öffentliche Bewußtsein gerückt worden. Denn unsere heutigen Kenntnisse über die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen beruhen in erster Linie auf der systematischen Arbeit der Justiz 14 • Was nämlich Zeithistoriker, SozialwissenschaftIer und Journalisten nach 1945 nicht leisteten, holten in den sechziger und siebziger Jahren Staatsanwälte, Richter und historische Sachverständige nach. Sie sammelten Dokumente, Zeugenaussagen und sonstige Beweismittel. Ohne die Unterlagen der Justiz könnte heute nicht einmal die Zahl der ermordeten Juden sicher nachgewiesen werden 1s • Alt- und Neonazis vom Schlage der Herren Deckert, Leuchter und Laux hätten ein leichtes Spiel, um in bekannter Manier die Judenvernichtung zu leugnen, wenn nicht die unzweifelhaften Beweise tUr dieses Verbrechen gesichert worden wären. 2. Aufarbeitung des SED-Unrechts

Was nun die Aufarbeitung des Systemunrechts der DDR anlangt, so wurden 1990 wiederum hohe Ansprüche an die Justiz gerichtet. Straftaten gegen Leben und Gesundheit, aber auch gegen Freiheit und Freizügigkeit sollten konsequent verfolgt werden. Und bis in das Jahr 1995 hinein konnte es dabei vielen - und insbesondere den Medien - gar nicht schnell und hart genug zugehen. Dabei ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten, daß die ersten Strafverfahren gegen Repräsentanten des SED-Regimes im Verlauf des Jahres 1990 noch von der Generalstaatsanwaltschaft der DDR eingeleitet wurden. So liefen gegen Erich Honecker Ermittlungen wegen Hochverrats - und Erich Mielke sowie Harry Tisch saßen bereits vor dem 3. Oktober 1990 in Untersuchungs-

I( Siehe C. F. RüterlAdelheit Rüter-Ehermann (Red.), Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Urteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen. 25 Bde (Amsterdam 1966-1985). Vgl. auch WeberlSteinbach (Anm. 12); GrabitzlBästleinffuchel (Hrsg.), Die Normalität des Verbrechens. Bilanz und Perspektiven der Forschung zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Festschrift rur Wolfgang Scheftler zum 65. Geburtstag (Berlin 1994). IS Vgl. nur Wolfgang Benz (Hrsg.), Dimensionen des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus (München 1991).

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haft'·. Vergessen scheint heute aber auch, daß es der Chefunterhändler der Bundesrepublik, Wolfgang Schäuble, war, der 1990 als Vertrauter des Bundeskanzlers erstmals eine Amnestie für das System unrecht der DDR vorschlug. Während Lothar de Maiziere verhalten reagierte, waren es die an der letzten Regierung der DDR beteiligten Sozialdemokraten, insbesondere der damalige Fraktionsvorsitzende Richard Schröder und Hans-Joachim Hacker sowie Rolf Schwanitz, heute alle MdB, die Mitglieder des Rechtsausschusses der Volkskammer waren und die eine solche Amnestie verhinderten. Gleichzeitig übernahm die West-Berliner Justiz unter meiner Vorgängerin, der heutigen Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, eine Art Schrittmacherfunktion. So kam es in Berlin zu einem radikalen Bruch mit der Ost-Justiz. Anders als in den neuen Ländern wurden am 3. Oktober 1990 zunächst alle Gerichte im Ostteil der Stadt geschlossen. Von den 281 Richtern und Staatsanwälten, die im Osten der Stadt amtiert hatten, wurden schließlich nur 43 übernommen. Das entspricht einem Anteil von lediglich 15 %, während z.B. in Sachsen 65 % und in Brandenburg immerhin noch 54 % übernommen wurden. Hinzu trat der ausgeprägte Wille zu einer effizienten strafrechtlichen Verfolgung des Systemunrechts der DDRI7. So wurde noch am 3. Oktober 1990 sofort die "Arbeitsgruppe Regierungskriminalität" bei der Generalstaatsanwaltschaft beim Kammergericht gebildet. Seit dem 1. Oktober 1994 hat das Land Berlin eine zweite Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin eingerichtet, unter deren Dach nunmehr die Ermittlung aller Verfahren zusammengefaßt ist. Sie hat insgesamt 125 Beschäftigte, darunter 80 Stellen für Staatsanwälte, deren Besetzung in einer Soll-Stärke von 60 Stellen durch Abordnungen aus Bund und Ländern vorgesehen ist. 2.1 Die Quantität der Aufarbeitung

Zum Stichtag 31. Oktober 1995 verzeichnete die Staatsanwaltschaft 11 bei dem Landgericht Berlin, die ausschließlich für die Bearbeitung der Regierungsund Vereinigungskriminalität zuständig ist, rund 18.200 Eingänge. Davon sind mittlerweile knapp die Hälfte, nämlich 9.029 Fälle, durch Einstellung erledigt worden. In rund 14 % der Fälle, nämlich in 259 Fällen, ist Anklage erhoben worden, davon wiederum ist in knapp einem Drittel der Fälle rechtskräftig ent-

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Siehe Hermann Weber, DDR. Grundriß der Geschichte 1945-1990 (Hannover 1991) insb. 233-243. 17 Vgl. Jutta Limbach. Der Aufbau des Rechtswesens in Ost-Berlin: N1W 1993, 2499-2503; dies., Recht und Gerechtigkeit bei der Wiedervereinigung Deutschlands: Abgeordnetenhaus Berlin (Hrsg.), Recht und Gerechtigkeit bei der Wiedervereinigung Deutschlands, Fachtagung am 17.9.1993 (Berlin 1994).

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schieden worden - 53 rechtskräftige Verurteilungen und 23 rechtskräftige Freisprüche. Die Zahlen der Mauerschützen- und Rechtsbeugungsprozesse, über die noch gesondert zu sprechen sein wird, stellen sich so dar: In beiden Deliktsgruppen sind jeweils 62 Anklagen erhoben worden. Bei den Mauerschützen sind 47 Fälle rechtskräftig abgeschlossen, 29 Verurteilungen und 18 Freisprüche; in 15 Fällen liegen nicht rechtskräftige Verurteilungen vor. Bei den Rechtsbeugungsverfahren haben wir nur zwei rechtskräftige Verurteilungen, vier rechtskräftige Freisprüche und zehn nicht rechtskräftige Verurteilungen. Dabei ist zu bedenken, daß anders als bei den Mauerschützenverfahren in den Rechtsbeugungsverfahren meistens eine Vielzahl von Fällen angeklagt wird, so daß die Revision teilweise aufhebt, teilweise Schuldsprüche bestätigt, wegen der nach DDR-Recht zu bildenden Einheitsstrafe jedoch zur neuen Straffmdung an das Landgericht zurückverweist. 2.2 Die Qualität der Aufarbeitung

Zahlen, das wissen wir alle, sagen nicht notwendig etwas über die Qualität juristischer Verfahren aus. Je nach Standpunkt lassen sich hier zwei einander widersprechende Auffassungen vertreten. Die einen sagen, die geringe Anzahl an Anklagen sei ein Indiz dafiir, daß es keineswegs zu einer "Siegerjustiz" gekommen sei, sondern daß sorgfältig differenziert und dem Rückwirkungsverbot Rechnung getragen werde. Die anderen sagen, die Zahlen allein zeigten die Unfähigkeit unseres Rechtsstaats auf, in angemessener Weise, und zwar sowohl der Menge als auch der Geschwindigkeit nach, mit der Aufarbeitung des DDRUnrechts umzugehen I •• Wenn ich nun versuchen will, die Qualität der bisher von der Justiz geleisteten Arbeit zu beurteilen, dann beschränke ich mich der Kürze der Zeit wegen auf die beiden Deliktsarten, die auch auf Ihrer Tagung eine zentrale Rolle spielen: Der Schußwaffengebrauch an der Mauer - Stichwort Mauerschützen - und Unrechtsurteile - Rechtsbeugung -. Beidt, Deliktsbereiche fallen nach der Rechtsprechung unter das gemäß den Vorschriften des Einigungsvertrages anzuwendende Strafrecht und sind grundsätzlich strafbar. Es gibt dazu jeweils höchstrichterliche Urteile und zwar solche, die verurteilen, und solche, die frei18 Hinsichtlich der rechtsgeschichtlichen Forschung zur DDR-Justiz sind folgende Arbeiten hervorzuheben: lnga Markovits, Die Abwicklung. Ein Tagebuch zum Ende der DDR-Justiz (München 1993); Rottleuthner u.a., Steuerung der Justiz in der DDR. Einflußnahme der Politik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte (Köln 1994); Werkentin, Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht (Berlin 1995); Beckert, Die erste und letzte Instanz. Schau- und Geheimprozesse vor dem Obersten Gericht der DDR (Goldbach 1995).

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sprechen. Meine Beurteilung der Frage, ob die Justiz im Ergebnis eine Aufarbeitung des System unrechts gewährleistet, soll sich danach richten, ob und in welchem Ausmaß den Verstößen gegen Menschenrechte in der DDR durch die Strafjustiz Rechnung getragen wird. Dabei wird es nicht zu vermeiden sein, daß bei der Analyse der Rechtsprechung bisweilen der Eindruck eines Glasperlenspiels entsteht. Art. 315 EGStGB legt zur Strafbarkeit von Taten in der DDR vor dem Beitritt fest: "Geltung des Strafrechts fiir in der Deutschen Demokratischen Republik begangene Taten. (1) Auf vor dem Wirksamwerden des Beitritts in der Deutschen Demokratischen Republik begangene Taten findet § 2 des Strafgesetzbuches mit der Maßgabe Anwendung, daß das Gericht von Strafe absieht, wenn nach dem zur Zeit der Tat geltenden Recht der Deutschen Demokratischen Republik weder eine Freiheitsstrafe noch eine Verurteilung auf Bewährung noch eine Geldstrafe verwirkt gewesen wäre .... " Während der Einigungsvertrag in seiner Vorschrift zu Art. 315 EGStGB mit dem Verweis auf § 2 StGB die Unterschiede zwischen dem Rechtsstaat der alten Bundesrepublik und der sozialistischen Gesetzlichkeit in der DDR nicht berücksichtigt, finden sich hierzu Ausfiihrungen in den Urteilen zu beiden Deliktsgruppen. Bei den sog. Mauerschützenprozessen wird bei der Prüfung möglicher Rechtfertigungsgründe, bei den Rechtsbeugungsprozessen bei der Prüfung des objektiven, ggf. des subjektiven Tatbestandes darauf eingegangen. Läßt sich dabei eine gemeinsame Linie erkennen, an der sich die Auslegung der jeweiligen Strafvorschrift, die Subsumtion der einzelnen Tat orientiert? Zu den Mauerschützenprozessen: Der BGH hat in seinem ersten Mauerschützenprozeß am 3. November 1992 geurteilt, § 27 Abs. 2 Grenzgesetz der DDR dürfe nicht als Rechtfertigungsgrund im Sinne des milderen Rechts berücksichtigt werden l9 • § 27 Abs. 2 hat folgenden Wortlaut: "Die Anwendung der Schußwaffe ist gerechtfertigt, um die unmittelbar bevorstehende Ausfiihrung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt. Sie ist auch gerechtfertigt zur Ergreifung von Personen, die eines Verbrechens dringend verdächtig sind." Die tatsächliche Handhabung dieser Vorschrift - so der BGH - habe der Fluchtverhinderung Vorrang vor dem Lebensschutz eingeräumt und müsse daher "wegen Verletzung vorgeordneter, auch von der DDR zu beachtender 19 BGH 3.11.1992, NStZ 1993, 129 f. Zur Problematik siehe grundlegend Roggemann, Systemunrecht und Strafrecht arn Beispiel der MauerschOtzen in der ehemaligen DDR (Berlin 1994).

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allgemeiner Rechtsprinzipien und wegen eines extremen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip bei der Rechtsfindung außer Betracht bleiben"20. Dabei hebt der BGH in dieser Entscheidung deutlich hervor, daß Fälle, in denen ein zur Tatzeit angenommener Rechtfertigungsgrund außer Betracht bleibt, nur dann anzunehmen sind, wenn in dem Rechtfertigungsgrund "ein offensichtlich grober Verstoß gegen Grundgedanken der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit zum Ausdruck kommt, der so schwer wiegt, daß er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletzt". Es wird die "Radbruch'sche Formel" zitiert, die da lautet: "Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als "unrichtiges Recht" der Gerechtigkeit zu weichen hat"21. Wenn dieser Satz Radbruchs auch als "Formel" bezeichnet wird, so läßt sich das Ergebnis doch nicht "berechnen". Tatsächlich muß in jedem Einzelfall gewertet und entschieden werden, wann "ein unerträgliches Maß" erreicht ist. Der BGH weist in der genannten Entscheidung vom 3. November 1992 darauf hin, daß als "konkreterer Prüfungsmaßstab" dafilr, wann Menschenrechtsverletzungen vorliegen, auf internationale Menschenrechtspakte, insbesondere den 1974 von der DDR ratifizierten Internationalen Pakt filr bürgerliche und politische Rechte (lPbpR) vom 19.12.1966, zurückgegriffen werden kann. Dabei sei es unerheblich, ob die DDR innerstaatlich entsprechend Art. 51 ihrer Verfassung den Pakt umgesetzt habe, denn aus der einschlägigen völkerrechtlichen Literatur der DDR ergebe sich, daß ein Staat sich auch nach dem damaligen Rechtsverständnis nicht darauf habe berufen dürfe, völkerrechtlich eingegangene Verpflichtungen innerstaatlich nicht umgesetzt zu haben. Im Ergebnis stellt der BGH in der zitierten Entscheidung vom 3. November 1992 fest, die Auslegung, die § 27 Grenzgesetz in der DDR-Staatspraxis als Rechtfertigungsgrund erfahren habe, verstoße gegen die in Art. 6 und 12 des Internationalen Pakts filr bürgerliche und politische Rechte verbrieften Rechte auf Leben und Ausreisefreiheit und müsse daher bei der Suche nach dem milderen Recht unberücksichtigt bleiben.

20 BGH, eben da. 21 Radbruch. Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht: Süddeutsche Juristenzeitung

1946, 105-108.

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Ein gesetzlicher Rechtfertigungsgrund soll unberücksichtigt bleiben? Juristen stellen sich sogleich die Frage, wie dies mit Art. 103 Abs. 2 GG zu vereinbaren ist, wonach "eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde." Der BGH fragt, "welches Verständnis vom Recht der Tatzeit" zugrunde zu legen sei. Und jetzt kommt meines Erachtens ein für die Mauerschützenprozesse entscheidender Punkt: Der Richter soll nicht an die Interpretation gebunden sein, die eine Vorschrift in der Staatspraxis der DDR erfahren habe, vielmehr darf er das Recht der DDR in den Grenzen seines Wortlauts "im Lichte der Verfassung der DDR so auslegen, daß den völkerrechtlichen Bindungen der DDR im Hinblick auf Menschenrechte entsprochen wurde". Diese Rechtsprechung hat der BGH seither mehrfach bestätigt, und sowohl für die Taten vor Erlaß des Grenzgesetzes der DDR am 25. März 1982, als ein Rechtfertigungsgrund in einem entsprechenden Befehl gelegen haben könnte, als auch für die Zeit vor der Ratifizierung des Internationalen Pakts für bürgerliche und politische Rechte am 8. November 1974 mit Hinweis auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 ausgeweitet, hat also auch insoweit RechtfertigungsgTÜDde versagt. Wenden wir uns nun den Rechtsbeugungsprozessen zu: Lassen Sie mich eine Vorbemerkung zum Tatbestand der Rechtsbeugung machen: Im wohlverstandenen rechtsstaatlichen Sinne kommt der Strafvorschrift die Aufgabe der Quadratur des Kreises zu. Sie soll nämlich einerseits die Rechtspflege schützen und die Geltung der Rechtsordnung sichern, andererseits darf die Auslegung des Tatbestands aber nicht dazu führen, daß ein Richter im Hinblick auf eine mögliche Bestrafung in seiner Unabhängigkeit und damit in seiner Möglichkeit zur aus seiner Sicht rechtmäßigen Entscheidung eingeengt wird. So hat der BGH in einem "westdeutschen" Fall entschieden, "eine Rechtsbeugung begeht der Amtsträger, der sich bewußt in schwerwiegender Weise vom Gesetz entfernt"22. Und in einem seiner jüngsten Rechtsbeugungsurteile vom 16. November 1995, in dem die Verurteilung eines ehemaligen Richters der DDR, der in den 50er Jahren die Todesstrafe ausgesprochen hatte, bestätigt wurde, heißt es, der Rechtsbeugungstatbestand sei "in den Fällen der vorliegenden Art auf offensichtliche schwere Menschenrechtsverletzungen durch unerträgliche Willkürakte beschränkt"23. Die Dinge liegen also ungleich schwieriger: Was ist eine "schwere Menschenrechtsverletzung" im Gegensatz zur "einfachen", und wann ist ein Willkürakt "unerträglich" ? 22 23

BGH 29.10.1992, BGHSt 38, 281 ff. 5 StR 747/94; Presseeerkillrung BGHNr. 6611995 v. 16.11.1995.

2 Drobnig

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In seiner Entscheidung vom l3. Dezember 1993 hat der BGH die Leitlinien aus den Mauerschützenprozessen insoweit übernommen, als er auch tUr die Rechtsbeugung die Verletzung von Menschenrechten, die die DDR in dem Internationalen Pakt tUr bürgerliche und politische Rechte anerkannt hatte, zum Maßstab nahm 24 . Auch unter Beachtung von Art. 103 Abs. 2 GG kommen danach folgende Fallgruppen als Rechtsbeugung in Betracht: •

Überdehnung von Tatbeständen durch Überschreitung des Gesetzeswortlauts oder Ausnutzung seiner Unbestimmtheit mit der Folge, daß eine Bestrafung, zumal mit Freiheitsstrafe als offensichtliches Unrecht anzusehen ist;



unerträgliches Mißverhältnis zwischen Handlung und verhängter Strafe, so daß eine willkürliche Menschenrechtsverletzung anzunehmen ist;



schwere Menschenrechtsverletzung durch Art und Weise der DurchtUhrung des Verfahrens oder durch Mißbrauch des Strafverfahrens zur Ausschaltung des politischen Gegners und nicht zur Verwirklichung von Gerechtigkeit.

Hiernach ist die Justiz aufgefordert, in jedem einzelnen Fall bereits auf der Ebene des objektiven Tatbestandes - und nicht erst in einer anschließenden Prüfung nach der Radbruch'schen Formel- eine Wertung vorzunehmen. Dabei ist es hier, wegen der zweifach unbestimmten Begriffe, die jede Fallgruppe kennzeichnen, besonders schwierig, allgemeine Grundsätze zu ermitteln. Dennoch meine ich, aus den bisher ergangenen Urteilen eine "Linie" zu erkennen. Sie schränkt den "vorrechtsstaatlichen"2s Kernbereich der durch den Internationalen Pakt tUr bürgerliche und politische Rechte auch tUr die DDR völkerrechtsverbindlichen Menschenrechte zugunsten der Rechtssicherheit im Sinne von nulla poena sine lege ein. Dort, wo Menschen durch staatliches Handeln sei es durch Urteil oder Schießbefehl - zu Tode gekommen sind, ist eine Beurteilung als Unrechtsurteil durch die bundesdeutsche Justiz sehr wahrscheinlich. Anders verhält es sich aber in den vielen Rechtsbeugungsverfahren, in denen es vornehmlich um die Freiheitsentziehung von Menschen geht, die ihre Rechte auf Freizügigkeit, Meinungsfreiheit oder Ausreisefreiheit in Anspruch genommen hatten 2•. Obwohl die DDR die Gültigkeit der Menschenrechte tUr ihre Rechtsordnung reklamiert hat, "strahlen" diese Menschenrechte nur in einigen wenigen mittlerweile rechtskräftigen Rechtsbeugungsverurteilungen durch, und zwar dort, wo ein "Verstoß gegen das Verbot überharter, die Gerechtigkeit und die Men24 BGH 13.12.1993, BGHSt40, 30 fr. 2S Starck, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der Vergangenheit: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer VVDStRL 51 (1992) 11 ff. Hierzu - mit Recht - kritisch: Spendet, Rechtsbeugung und Justiz - insbesondere unter dem SED-Regime: JZ 1995,375-381.

2.

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schenrechte in unerträglicher und offensichtlicher Weise verletzender Bestrafung"27 vorliegt. Es finden sich in den Rechtsbeugungsurteilen keine den Mauerschützenverfahren vergleichbaren Ansätze, das DDR-Recht (oder besser Gesetz) "im Licht der Verfassung der DDR" so auszulegen, daß es "den völkerrechtlichen Bindungen der DDR im Hinblick auf die Menschenrechte entspricht"28. Eher habe ich bisweilen den Eindruck, daß den Angeklagten in wohlwollender Weise ein gewisses Maß an "Eingleisigkeit" wegen ihrer politischen Einbindung und der Einflußnahme durch Dritte zugute gehalten wird. Der Maßstab dessen, was als "unerträglich" einzustufen ist, richtet sich ausschließlich nach der damaligen Auslegung und dem Selbstverständnis derer, die sich an politischen Strafverfahren beteiligt haben. Ich erinnere an meine Vorbemerkung zum Tatbestand der Rechtsbeugung und bin mir bewußt, daß hier nicht nur ein Problem des objektiven Tatbestandes gegeben ist, sondern daß - insbesondere wenn man eine solche menschenrechtsfreundliche Auslegung der DDR-Gesetze (wohlgemerkt nicht im Sinne des Grundgesetzes) vornähme - auch Probleme im Bereich des subjektiven Tatbestandes bestehen. Allerdings hatten viele Menschen in der DDR, und zwar nicht nur die, die schließlich die friedliche Revolution eingeleitet und durchgeführt haben, ein anderes Verständnis von den im Internationalen Pakt rur bürgerliche und politische Rechte gesicherten Menschenrechten. Daß Menschen verurteilt wurden, weil sie diese Rechte in Anspruch genommen hatten, genügt nach höchstrichterlicher Rechtsprechung heute nicht, um von Rechtsbeugung zu sprechen. Die damals Verurteilten, die ohne weiteres rehabilitiert wurden, empfmden den Freispruch ihrer Richter heute als "Ohrfeige" des Rechtsstaats. Den Mauerschützen, zumeist jungen Soldaten, die rur das Tun, rur das sie heute verurteilt werden, damals zunächst einen Befehl (und im Zweifel im Anschluß einen Orden) erhielten, unterstellt die Rechtsprechung, sie hätten das Grenzgesetz der DDR im Lichte der Menschenrechte auslegen können. Jedenfalls müßten sie sich eine solche Auslegung auch im Rahmen des Art. 103 Abs. 2 GG entgegenhalten lassen. An die Juristen hingegen, unter denen meines Wissens insbesondere in den letzten zehn Jahren der DDR durchaus eine Menschenrechtsdebatte geruhrt wurde, werden solche Anforderungen nicht gestellt29 . Im Rahmen des Rückwirkungsverbots werden, so der BGH, "die in der Rechtsprechungspraxis der DDR damals herrschenden Rechtsvorstellungen bis an die Grenze zum unerträglichen und offensichtlichen Verstoß gegen Gerechtigkeit 27 BGH Urteil 3 StR 52/94, siehe Presseerklärung BGH Nr. 65/1995 vom 15.11.1995. 28

BGH 3.11.1992, BGHSt 39, 1 ff.

29 So erklärte der Präsident des Obersten Gerichts der DDR,

Toeplitz, "die auf Entfaltung der Persönlichkeit gerichteten Menschenrechte aus den bei den UN-Menschenrechtskonventionen von 1966 sind mit den verfassungsmäßigen Grundrechten der Bürger der DDR identisch": ders., Verwirklichung der Grundrechte der Bürger durch Rechtsprechung: NJ 1985, 480-482. 2'

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Lore Maria Pesche1-Gutzeit

und Menschenrechte" berücksichtigt30 • Ob dabei die Vorstellungen über die "damals herrschenden Rechtsvorstellungen" den tatsächlichen Gegebenheiten in der DDR-Gesellschaft entsprechen, ob jedenfalls an diesem Punkt die wissenschaftliche Auseinandersetzung und vor allem das "schlechte Gewissen" der Verfahrensbeteiligten, wie es z.B. im Ausschluß der Öffentlichkeit seinen Ausdruck gefunden hat, zu berücksichtigen sind? Ob schließlich der Spielraum des einzelnen, sich der Beteiligung an solchen Verfahren zu enthalten oder zu entziehen, ermittelt werden müßte? Der BGH hat selbst dargelegt, daß die jetzige Handhabung des Verhältnisses von Rückwirkungsverbot und Menschenrechten dazu führt, daß "massive Reaktion der DDR-Justiz auf besonders mutiges und aktiv auf die Durchsetzung von Freiheitsrechten gerichtetes Verhalten eher selten zu strafrechtlichen Sanktionen gegen die verantwortlichen Justizangehörigen führen" wird31 • So geschah es auch in der letzten Entscheidung des BGH vom 30. November 1995: Der Angeklagte hatte ein Ehepaar, das aus Protest gegen die Ablehnung ihres Ausreiseantrags einen Reiseprospekt von Neuseeland mit dem Wort "Freiheit" beschrieben und an seiner Wohnungstür angebracht hatte, wegen "Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit" zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten verurteilt. Die Verurteilung wegen Rechtsbeugung wurde aufgehoben32 • Die Gewichtung zwischen Rückwirkungsverbot einerseits und vorrechtsstaatlicher Geltung aller Menschenrechte, nicht nur des Rechts auf Leben, andererseits flUlt hiernach deutlich zugunsten des Rückwirkungsverbots aus. Die Justiz kann innerhalb dieser Rahmenbedingungen das Systemunrecht der DDR tatsächlich nur in wenigen Fällen aufarbeiten, wenn Aufarbeitung heißt, daß es zu Verurteilungen kommt. Das ist insbesondere deswegen unbefriedigend, weil im Ergebnis fast nur dort rechtskräftig eine Verurteilung wegen Rechtsbeugung vorgenommen worden ist, wo im Rahmen der Rechtsbeugungshandlung ein Todesurteil ausgesprochen wurde oder wo zwischen Handlung und Strafe ein extremes Mißverhältnis bestand. Richter der DDR-Justiz, die das Verhalten von Menschen verurteilten, die für Ausreise-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit ihre Freiheit riskiert hatten, haben danach in aller Regel "nicht das Recht gebeugt".

30

BGH 3 StR 52/94 (oben FN 27).

BGH 5 StR 642 und 713/94, 13/95, 68/95, 168/95; Presseerkillrung des BGH Nr. 56/1995 vom 15.9.1995. 32 BGH 4 StR 714/94, 777/94; Presseerk1l1rung des BGH Nr. 70/1995 vom 30.11.1995; vgl. auch den Bericht über die mündliche Urteilsbegrundung in: Süddeutsche Zeitung vom 1.12.1995. 31

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3. Schluß

Wir sind noch mitten in einem Prozeß begriffen und daher vielleicht nicht in der Lage, abstrakte rechtsdogmatische oder gar -philosophische Kategorien zu defmieren, nach denen sich das Verhältnis von Rückwirkungsverbot, Auslegung des Rechtsbeugungstatbestandes und vorrechts staatliche Geltung von Menschenrechten richtet33 • Daß wir mit diesem Verhältnis Schwierigkeiten haben, zeigt schon die Tatsache, daß die Klausel des Internationalen Pakts tUr bürgerliche und politische Rechte, wonach das Rückwirkungsverbot nicht rur solche Taten gilt, die zum Zeitpunkt ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar waren (Art. 15 Abs. 2), nur in den Grenzen des Art. 103 Abs. f GG in innerstaatliches Recht überfilhrt worden ist. Vielleicht wird am Ende dieser zweiten Aufarbeitungsphase eines Unrechtssystems durch die Justiz die Erkenntnis stehen, daß diese Arbeit in angemessener Weise nur gelingen kann, wenn die tatsächlichen Gegebenheiten bis ins Detail aufgeklärt und unter Zuhilfenahme von Historikern ermittelt werden. Und vielleicht steht am Ende auch die Erkenntnis, daß bestimmte Kernbereiche der Menschenrechte, die über das Recht auf Leben hinausgehen, mit unbedingter und unmittelbarer Gültigkeit ausgestattet werden müssen, damit kein Täter aus einem Unterzeichner-Staat darauf hoffen darf, nach Untergang "seines" Systems die Gnade eben dieser Rechte zu erfahren, die er anderen zuvor verwehrt hat.

33 Anderer Auffassung Günther Jacobs, Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht? Zur Leistungsfllhigkeit des Strafrechts nach einem politischen Umbruch, in: Jose! Isensee, Vergangenheitsbewältigung durch Recht (Berlin 1992) 37-64.

1. PARTEI UND JUSTIZ

Hubert Rottleuthner STEUERUNG DER JUSTIZ IN DER DDR Eine Spaltung geht durch dieses Land; nicht mehr die Ost-West-Spaltung, sondern eine über die Betrachtung der Ost-Vergangenheit (über die NichtBetrachtung der West-Vergangenheit ist man noch nicht gespalten). Es haben sich Lager gebildet, die ihre Deutungen durchzusetzen versuchen. Üblicherweise bilden diese Lager geschlossene Gesellschaften; man bleibt bei Tagungen meist unter sich, bildet Zitier- und Rezensions-Kartelle. Die Gruppierung erfolgt nicht unbedingt nach einer jeweiligen Ost- oder West-Vergangenheit l • Angesichts dieser Spaltung empfiehlt es sich, die Unterschiede deutlich zu machen, d.h. die Grundentscheidungen herauszuarbeiten, nach denen jeweils in den verschiedenen Lagern verfahren wird: was wird als relevant angesehen, worauf wird das Schwergewicht gelegt, welche Auswahl trifft man? Für die Behandlung der DDR-Justiz, um die es hier geht, heißt das dann: •

Betrachtet man die Alltagsjustiz, die "Normalität" des Strafrechts z.B.2 oder eher "Verfahren von besonderer Bedeutung" (und hier speziell politische Sachen)?



Behandelt man Justiz als Massenphänomen oder konzentriert man sich auf einzelne mehr oder weniger spektakuläre Fälle?



Legt man das Schwergewicht auf Strafsachen (und dann vielleicht noch auf das politische Strafrecht allein) - oder bezieht man auch Zivil-, Familien-, Arbeits- (ZFA)-Sachen ein?



Analysiert man nur die oberste Ebene (Ministerium der Justiz, Oberstes Gericht, Generalstaatsanwaltschaft) - oder auch untere Instanzen?



Schaut man gebannt auf das anscheinend einzig noch medien wirksame Thema MfS (und "IM") oder versucht man gegenzusteuern, indem man auf

I Welten liegen zwischen: F. Werkentin, Politische Stratjustiz in der Ära Ulbricht (BerIin 1995); R. Beckert, Die erste und letzte Instanz. Schau- und Geheimprozesse vor dem Obersten Gericht der DDR (Goldbach 1995) und etwa u.-J. Heuer (Hrsg.), Recht in der DDR (Baden-Baden 1995); Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde (Hrsg.), Unfrieden in Deutschland. Weissbuch, Unrecht im Rechts-Staat (Berlin 1995).

2

Vgl dazu J Amold, Die Normalität des Strafrechts der DDR I (Freiburg 1995).

26

Hubert Rottleuthner die tatsächliche Rolle des MfS als Ermittlungsorgan hinweist (das etwa 3 % der Ermittlungsverfahren durchfiihrte )?



Legt man den Schwerpunkt auf die 50er Jahre oder auf die 70er und 80er Jahre?



Inwieweit sieht man auch die Balken im bundesdeutschen Auge oder betont man nur unsere von der Realität unangekränkelten rechtsstaatlichen Prinzipien?



Versucht man, sich die Zeit des Kalten Krieges, insbesondere in den 50er Jahren, zu vergegenwärtigen - oder focussiert man nur die letzten Jahre des deutsch-deutschen Verhältnisses?



In welchem Maß läßt man sich auf die interne Perspektive der damaligen Akteure in der DDR ein? Legt man eine klare Täter-Opfer-Dichotomie zugrunde? Dies sind alles Entscheidungen, die begründungsbedürftig sind.

Wenn ich mich nun meinem Thema, der Steuerung der Justiz in der DDR zuwende, möchte ich zunächst - der gerade gegebenen Lager-Charakterisierung eingedenk - einige allgemeine Prinzipien formulieren, an denen sich eine Analyse orientieren sollte. Eine detaillierte Betrachtung der diversen Steuerungsmechanismen kann ich hier natürlich nicht geben; dazu ist ja auch schon einiges geschrieben worden 3 • Ich werde mich auf exemplarische Bereiche beschränken. Zum Abschluß möchte ich allerdings als konkreten Kontrapunkt zu meinen allgemeinen Ausfiihrungen über eine Untersuchung zu einem sehr speziellen Problem berichten, nämlich zum Verhältnis von Staatsanwalt und Richter in der DDR, insbesondere zum Verhältnis von staatsanwaltlichem Strafantrag und strafrichterlichem Urteil. 1. Einige grundsätzliche Betrachtungen zur Steuerung der DDR-Justiz Für ein Verständnis der DDR-Justiz und ihrer Steuerung formuliere ich fiinf Grundsätze: 3 H Rottleuthner, Steuerung der Justiz in der DDR (Köln 1994); ders., Steuerung der Justiz in der DDR, in: Begleitband zur Ausstellung "Im Namen des Volkes? - Über die Justiz im Staat der SED" (Leipzig 1994), 45-53; ders., Zur Steuerung der Justiz im Nationalsozialismus und in der DDR - Thesen, in: Justizbehörde Hamburg (Hrsg.), "Von Gewohnheitsverbrechern, Volks· schädlingen und Asozialen ... " Hamburger Strafurteile im Nationalsozialismus (Hamburg 1995) 471-478; Deutscher Bundestag (Hrsg.), Die Lenkung der Justiz in der DDR - institutioneller Rahmen/allgemeine Erkenntnisse, in: Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (Baden-Baden/Frankfurt a.M. 1995) IV 123-138.

Steuerung der Justiz in der DDR

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(I) Man versteht die Justiz der DDR aus bundesdeutscher Perspektive besser, wenn man sie als einen Teil der Verwaltung interpretiert. Dies ist keine externe Betrachtungsweise, sondern kommt der Kritik an der Gewaltenteilung und der Betonung der Gewalteneinheit in der DDR entgegen. Berufen kann ich mich auf ein frühes Zitat von Max Fechner (aus dem Jahre 1948, ein Jahr bevor er dritter Justizminister in Deutschland ohne juristische QualifIkation wurde'): "Nichts steht dem tatsächlich im Wege, daß die Genossen Staatsanwälte sich im einzelnen über ihre Anklagepolitik mit den leitenden Parteiinstanzen beraten. Nichts steht dem im Wege, daß die amtlichen Richter die zur Entscheidung stehenden politischen und juristischen Fragen mit den Genossen aus den mittleren und unteren Parteiinstanzen beraten. Ja, sie müssen es sogar; denn die Justiz ist, richtig verstanden, auch nur ein Verwaltungszweig. Er kann nur richtig gehandhabt werden, wenn in ihn dieselben Impulse eingehen wie in alle übrigen Verwaltungen. '" (2) Dieses Verständnis von Justiz als einem Verwaltungszweig bedeutet nun aber nicht, daß Befehle in der Gerichtsbarkeit einfach von oben nach unten autoritär durchgestellt wurden. Das Bild einer hierarchischen Kommandostruktur ist unangemessen. Ich habe zur Charakterisierung einer vertikalen und horizontalen Vernetzung den Begriff der "kommunikativen Einbindung" geprägt. Mit ihm soll in Kurzform ein Gemisch von Weisungen, Konsultationen, Gesprächen, Rapporten, Anfragen, Abstimmungen, Aussprachen gekennzeichnet werden, das durchsetzt ist von Verantwortungsscheu in den oberen Rängen und suchendem, vorauseilungswiIIigem Gehorsam weiter unten, von aufmerksamem Erspüren des jeweils Gewünschten und unklarem Lavieren auf der angeblich klaren Parteilinie. Vielleicht macht alles dies ein Prinzip aus, das im DDRJargon mit "Kollektivität der Entscheidung" bezeichnet wurde. Der "demokratische Zentralismus" war gewiß ein bürokratischer Zentralismus - aber so bürokratisch und zentralisiert nun auch wieder nicht. So gab es in der Vermischung von Partei und Staat keine klaren Kompetenzstrukturen mit formalisierten Letztentscheidungsrechten. Entscheidungsprobleme wurden als Erkenntnisprobleme behandelt. Es ging um ein angebliches Erkennen der "objektiven Gesetzmäßigkeiten". Wenn es aber keine klare Kompetenzen zur Erkenntnis und Bestimmung des historisch Richtigen gibt, hält man sich Entschei4 Nach Hanns Kerrl 1933 in Preußen und Johannes Dieckmann (LOP) 1948 in Sachsen. Vielleicht wird man auch Erhard Hübner anftlhren mUssen - von der Ausbildung her Staatswissenschaft1er und Historiker -, der bis 1948 Ministerpräsident und Justizminister in Sachsen-Anhalt war. (Diesen Hinweis verdanke ich Th. Lorenz.) - Mittlerweile haben sich MecklenburgVorpommem und Schleswig-Holstein in diese Tradition gestellt; aber keine Bange, das gab es auch schon in Schweden. , M Fechner auf der 3. Tagung des Ausschusses ftlr Rechtsfragen beim Zentral sekretariat der SEO, 3./4. Januar 1948, Protokoll S. 9 f. (SAPMO-BArch IV 2/101170).

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dungen lieber offen, entwickelt ein großes Gespür ftlr atmosphärisches Geraune und vertraut notfalls auf unbefristete Revisionsmöglichkeiten (das erklärt wohl auch z.T. das Fehlen der Rechtskraft staatlicher, auch gerichtlicher Entscheidungen). Von außen betrachtet hat die kognitivistisch vernebelte "ftlhrende Rolle der Partei" den Anschein von Opportunismus. Intern stellte sich das wohl eher als Ringen um die Erkenntnis der wahren Parteilinie dar. Die von mir sog. kommunikative Einbindung läßt sich gut an der Nutzung des Instanzenzuges verdeutlichen. Die Steuerung der Justiz erfolgte in der DDR nicht nur über Präjudizien und andere Leitungsdokumente (Richtlinien, Beschlüsse, gemeinsame Standpunkte), sondern auch über die persönliche operative Tätigkeit in Form von Inspektionen, Revisionen, Kontrollen, Brigadeeinsätzen etc. Da wurde natürlich viel miteinander gesprochen. Das Pendant "von unten" waren dann etwa Konsultationen in anstehenden Rechtsfragen, Meldungen von Verfahren besonderer Bedeutung samt den zu lösenden Rechtsproblemen. Die kommunikative Einbindung erfolgte nicht nur vertikal, sondern auch in der Horizontalen, wenn man sich etwa die diversen Einbindungen eines Gerichtsdirektors vergegenwärtigt (mit Rechenschafts-, dann Berichtspflichten, Teilnahme an Leiterberatungen, sonstigen Kontakten zu staatlichen und betrieblichen Einrichtungen)6. Die Frage ist dann natürlich, was von der richterlichen Unabhängigkeit bleibt. Falsch ist die Frage gestellt: hätten die Richter auch anders handeln können? Die fragende Antwort darauf wäre doch: warum hätten sie sich denn überhaupt anders verhalten sollen? Sie waren doch bereit, das ftlr das System Erwünschte zu tun - nur war es manchmal schwierig, das Erwünschte auch zu erkennen. Hinweise nahm man dann gerne entgegen; aber das waren natürlich keine Befehle. Das Erwünschte wird doch mit offenen Ohren empfangen. In der DDR wurde in diesem Sinne ein moderner, ja fast schon diskursiv zu nennender Führungsstil praktiziert. Nur in ganz extremen Fällen waren dann gegenüber Justizfunktionären harte Maßnahmen notwendig. (Die meisten Disziplinarstrafen betrafen denn auch Alkoholismus und unmoralisches Verhalten; wobei auch in der DDR Moral anscheinend mit Sexualmoral zusammenfiel). (3) Bei der Betrachtung der DDR-Justiz ist wie bei allen normativ strukturierten Bereichen die Unterscheidung von formellen und informellen Mechanismen von großer Bedeutung. Der Bereich des Informellen, d.h. desjenigen, das sich nicht durch einen Blick durch das Brillenglas der Normen erschließt,

6 Solche Verpflichtungen sind z.B. festgelegt in der Ordnung über die Arbeitsweise der Bezirks- und Kreisgerichte (DuI v. 12.8.1975); einschlägig ist hier auch das "Führungsbeispiel am Kreisgericht Fürstenwalde" (MdJ Leitungsinfonnation Nr. 10/86 v. 21.4.1986).

Steuerung der Justiz in der DDR

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hatte in der DDR enorme Ausmaße angenommen. Besonders die tatsächliche Rolle der Partei erschließt sich nicht durch eine Betrachtung der Normen und ihrer Wendung ins Faktische. Was unter der "fiihrenden Rolle der Partei" tatsächlich zu verstehen war, konnte keiner Exegese des 1968 eingeführten Verfassungsartikels entnommen werden. Aber es kommt darauf an, gerade diese informellen Mechanismen bei der Steuerung der Justiz zu erforschen. Das Informelle ist nicht notwendig das Illegale (es liegt jenseits der Unterscheidung von legal und illegal); es ist auch nicht immer das Geheime. (4) Man sollte die rechtsstaatlichen Prinzipien der BRD nicht frontal als Meßlatte für die Analyse der DDR-Justiz nehmen (sondern zunächst einmal auf die BRD selbst anwenden). In einem ersten Schritt kommt es darauf an, die Interpretationen der DDR-Doktrin zur Kenntnis nehmen, etwa hinsichtlich des Verständnisses von •

Unabhängigkeit der Justiz



gesetzlichem Richter



rechtlichem Gehör

und anderen rechtsstaatlichen Prinzipien der Justizorganisation. Bei meiner Betrachtung der DDR-Justiz bin ich in den letzten Jahren zu einem neugierigen Rechtsvergleicher geworden, der auch andere Länder und Rechtskreise einbezieht, in denen die rechtsstaatlichen Prinzipien der BRD nicht erfüllt werden, ohne daß wir gleich zur Keule des Unrechtsstaates greifen würden". (5) Man sollte - wenn man will: aus volksdidaktischen Gründen - an den alltäglichen Erfahrungen der Justizakteure ansetzen und sie nicht gleich mit den horriblen Ereignissen konfrontieren, die jedenfalls den Akteuren in den 1 Zur Problematik dieses Begriffs s. H. Rottleuthner, Das Ende der Fassadenforschung: Recht in der DDR (Teil 2), in: Zeitschrift fur Rechtssoziologie 1995, S. 30-64 (S. 52 ff.) - Ein Blick über den deutschen Tellerrand macht vorsichtig: Richter werden Z.B. gewählt in vielen Staaten der USA und in der Schweiz; öffentliche Beratungen des Gerichts finden in der Schweiz statt; Verurteilung auch in Abwesenheit des Angeklagten ist in den meisten Staaten des romanischen Rechtskreises zulassig (was die bundesdeutsche Justiz rur rechtsstaatswidrig ansieht) - selbst zum Tode (wie in Belgien; wird aber dort nicht vollstreckt); möglich ist die Einflußnahme auf die Geschäftsverteilung ("gesetzlicher Richter") durch Gerichtsdirektoren (im romanischen Rechtskreis) und auch durch die Anwälte (im angelsächsischen Rechtskreis: court shopping); einer permanenten Kontrolle unterliegen die Richter in Japan: vgl. M Abe, The Internal Control of a Bureaucratic Judiciary. The Case of Japan, in: International Journal ofthe Sociology ofLaw 23 (1995) 303-320. - Die "State Commission on Judicial Conduct" des US-Staates New York entließ in der Zeit von ihrer Gründung 1975 bis 1994 insgesamt 109 Richter ("for financial impropriety, for statements from the bench that show some type of bias, or for actions that raise serious questions about judicial temperament"); vgl. New York Times vom 21.2.1996.

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70er/80er Jahren auch fremd waren (Waldheimer Prozesse, Politbürobeschlüsse zu Gerichtsverfahren, Geheimprozesse, "Aktion Rose", total durchinszenierte Gerichts-Scheinverfahren). Diese Ereignisse darf man nicht vernachlässigen, man muß das Unrecht in ihnen deutlich machen; aber sie stehen nicht mr die Justiz in der DDR - freilich muß sich eine Justiz auch immer ihre Extreme zurechnen lassen (denn immerhin ist so etwas in einem solchen System möglich und wirklich gewesen). Nur liefert das kein adäquates Bild der DDR-Justiz - so . wie die bundesdeutschen Juristen es sich auch nicht gefallen lassen würden, wenn ein Bild der Justiz in der BRD nur aus den Justizskandalen - etwa aus der Perspektive des Schmücker-Prozesses - bestünde. Man muß sich in seiner Vergangenheit wiedererkennen können. 2. Besonderheiten der Justiz-Steuerung in der DDR

Bei der Ausdeutung dieser mnf Grundsätze habe ich bereits die wesentlichen Mechanismen der Steuerung der Justiz in der DDR erwähnt, die meiner Ansicht nach dazu beigetragen haben, daß (auch) in der DDR - wie in fast allen Staaten - das Problem der Sicherung der Konformität des Rechtsstabes effektiv gelöst wurde. Dabei sehe ich im folgenden ab von einer näheren Betrachtung der juristischen Ausbildung mit seinem "vorverlagerten" Delegationssystem und der Rolle der monopolisierten juristischen Literatur. I. Die Organisation und formelle wie informelle Nutzung des Instanzenzuges zur inhaltlichen Leitung und Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung; 2. Die horizontale Vernetzung der leitenden Justizkader (etwa in Gestalt der formellen Leiterberatungen, deren Bedeutung aber nicht überschätzt werden sollte; sie fanden viel zu selten statt, um in Einzelfällen die Richtung "abstimmen" zu können); wichtiger war wohl die informelle kommunikative Einbindung der Gerichtsdirektoren in den regionalen politischen, auch parteipolitischen Kontext und die informellen Verbindungen auf der obersten Ebene zwischen Oberstem Gericht (Präsident oder Vizepräsident, je nach Parteizugehörigkeit) - Ministerium der Justiz (meist über den Staatssekretär als SED-Mitglied) - Generalstaatsanwalt - Vertretern der Partei (Politbüro direkt, ZK-Sekretär, ZK-Abteilung) und gegebenenfalls Vertretern des MfS 8 • Hier war auch sehr viel von den einzelnen Personen abhängig. Auf der oberen Ebene abgestimmte Konzeptionen oder Verfahrensvorschläge konnten

8

Zu diesen infonnellen Leiterberatungen s.

w: Behlert,

Die Generalstaatsanwaltschaft, in:

H. Rottleuthner, Steuerung der Justiz in der DDR (oben FN 3) 342 ff. Siehe auch ders. in diesem

Band unten S. 49-60.

Steuerung der Justiz in der DDR

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dann leicht über die Schiene der Staatsanwaltschaft und/oder über den gerichtlichen Instanzenweg nach unten vennittelt werden. 3. Die Rolle des Direktors innerhalb seines Gerichts. Er war zuständig fiir die Geschäftsverteilung, er konnte jede Sache an sich ziehen, er kannte den Eingang und die Erledigungen; er organisierte die montäglichen Rapporte; er kontrollierte den Tenninstand; er schrieb Stellungnahmen fiir die Richterwahlen, er befand über die Prämien, er war verantwortlich fiir die Meldung von Verfahren (nicht nur im Rahmen der Wochenmeldungen); er war gegenüber regionalen Organen von Staat und Partei berichtspflichtig und gegebenenfalls dort auch als Mitglied eingebunden. Der Direktor war nicht Diktator im Hause; denn auch hier, und besonders hier in der trauten Atmosphäre der anwesenheitspflichtigen und sich duzenden Richterkollegen gab es Einschätzungen, Aussprachen, Abstimmungen - und sicher auch Klatsch. 4. Für die Verknüpfung von Justiz und Partei standen folgende Mechanismen zur Verfiigung: •

Parteimitgliedschaft der Justizfunktionäre



Kombination von Partei- und Justizämtern in einer Person



(biographischer) Wechsel zwischen Ämtern in Partei und Staat9



Organisatorische Verankerung durch Grundorganisationen der Partei in den Gerichten



Parallele Institutionalisierung von Partei- und Staatsstellen - fiir die Justiz auf der Ebene der obersten Rechtspflegeorgane durch die ZKAbteilung fiir Staats- und Rechtsfragen 10 und den dafiir zuständigen ZKSekretär, der meist auch Mitglied des Politbüros war. Diese oberste Parteistruktur wiederholte sich ähnlich zumindest auf der Bezirksebene (Bezirksleitung der SED mit einer Abteilung Staats- und Rechtsfragen, zuständig fiir die Bezirksgerichte und Bezirksstaatsanwaltschaften).

9 A. Plenikowski war von 1950 bis 1954 Leiter der ZK-Abteilung Staatliche Verwaltung, danach im Büro des Ministerrates tätig (u.a. als Staatssekretär und Leiter des Büros des Ministerrates); R. Rost wechselte 1965 vom stellvertretenden Leiter der ZK-Abteilung Staats- und Rechtsfragen (ab 1959) ebenfalls auf den Posten eines Leiters des Büros des Ministerrates; J. Streit war von 1953-1962 Mitarbeiter in der ZK-Abteilung Staats- und Rechtsfragen (zum Schluß Leiter des Sektors Justiz), ab 1962 Generalstaatsanwalt; H. Kern wandelte sich vom Leiter des Sektors Justiz in der ZK-Abteilung bis 1974 zum Staatssekretär im Ministerium der Justiz.

10 Zur Tätigkeit dieser Abteilung s. H. Rott/euthner, Steuerung der Justiz (oben FN 3) 43 ff. Auch auf Reisen ftlhlte man sich verbunden: die Spitzen der obersten Rechtspflegeorgane wurden jeweils von einem politischen Mitarbeiter der ZK-Abteilung Staats- und Rechtsfragen begleitet: der Präsident des oa Sarge von Heinz Mai (Mongolische VR noch im September 1989), aStA Wend/and von Siegfried Heger (Angola, Mai/Juni 1989) und von Thea Böse/ (VR China, April 1989) (nach SAPMO-BArch vorl.SED 42506/1).

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Nomenklatursystem (Entscheidungen über staatliche Kader nach hierarchischer Abstufung im Parteiapparat; Z.B. war das Politbüro zuständig für die Entscheidung über den Generalstaatsanwalt und den Präsidenten des Obersten Gerichts; das ZK-Sekretariat für die BezirksgerichtsDirektoren etc.) 3. Zum Verhältnis: Antrag des Staatsanwalts - richterliches Urteil

Ich möchte mich nun einem speziellen Thema zuwenden, das häufig im Zusammenhang mit der Frage der Unabhängigkeit der Rechtsprechung in der DDR thematisiert wird: Wie abhängig waren die Richter in der DDR von den (weisungsgebundenen) Staatsanwälten? Als Zeichen hochgradiger Steuerung und geringer Unabhängigkeit der Rechtsprechung wird ja häufig die Übereinstimmung zwischen dem Antrag des Staatsanwalts und dem strafrichterlichem Urteil angesehen. Dies wäre jedenfalls ein weiterer Mosaikstein in einem Bild, in dem Richter DDR eingerahmt von einer Fülle von "Vorgaben" erscheinen: von Staat und Partei vorgegebenen Bedingungen formeller und informeller Art. Eine Art von "Vorgabe" - zumindest, was die konkrete Strafzumessung angeht - könnte eben auch in den Anträgen der weisungsabhängigen Staatsanwälte gesehen werdenlI. Inwiefern verlängerten die Richter quasi diese Weisungsabhängigkeit, indem sie sich den Anträgen anschlossen? Eine regelmäßige Übereinstimmung könnte in der Weise gedeutet werden, daß die Richter nur das letzte Glied in einer Kette von Abhängigkeiten gewesen seien; man könnte allerdings auch zu der Deutung kommen, daß beide - Staatsanwälte wie Richter - zutiefst von der Richtigkeit der Höhe der beantragten und entsprechend verhängten Strafe überzeugt waren. Systematische Diskrepanzen zwischen staatsanwaltlichem Antrag und richterlichem Urteil könnten aber wohl kaum als Beleg für eine durchgängige Abhängigkeit der Richter genommen werden 12 • 11 Hiermit wird ein Problem angesprochen, das ftlr alle Rechtsordnungen besteht, in denen die Strafrechtsnormen einen Strafrahmen vorsehen: an welchen "Ankerwerten" kann sich ein Richter orientieren: an der Mitte zwischen den Extremen des Strafrahmens, an der Mitte zwischen den Anträgen der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung (worauf basieren diese?), an "traditionellen" Mustern (wie auch immer die entstanden sein mögen)? An der "Schwere der Schuld" - wie kann man die erkennen? 12 Untersuchungen zu dieser Frage wurden in der DDR nicht durchgeftlhrt (Auskunft von H Harrland, stellvertretender Generalstaatsanwalt der DDR 1966-89, im Bereich 3 zuständig ftlr die Statistik). - Bei der Analyse dieser Frage bemerkte ich, daß ich über die Situation in der BRD keine Informationen hatte; sie sind aber zu finden bei W. Langer, Staatsanwälte und Richter (Stuttgart 1994) insbes. S. 367 ff. In dieser Untersuchung zeigen sich - wie üblich - große Unterschiede an den einzelnen (drei untersuchten) Gerichten. Im Bereich der Geldstrafen und der Freiheitsstrafen mit Bewllhrung ist die Übereinstimmung sehr hoch (über 90 %); starke Abweichungen gibt es bei den Freiheitsstrafen ohne Bewllhrung (ftlr den Bereich des einfachen Diebstahls). - Als frühere Untersuchung sei verwiesen auf: B. Schünemann, Daten und Hypothesen zum Rollenspiel zwi-

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Insoweit ist - ohne die Befunde schon zu kennen - deren Deutung nicht klar. (Das kennt man auch von ähnlichen Phänomen in diesem Bereich: eine hohe Quote von Freisprüchen wird manchmal als Indikator für eine "liberale" Rechtsprechung genommen; man kann sie aber auch deuten als Zeichen für eine mangelhafte Arbeit der Staatsanwaltschaft.) Sollte sich freilich ergeben, daß keine hohe Übereinstimmung zwischen staatsanwaltschaftlichem Antrag und strafrichterlichem Urteil besteht, hätten diejenigen eine größere Erklärungslast zu tragen, die von einer starken Abhängigkeit der Rechtsprechung ausgehen. Natürlich läßt sich dann immer noch darüber zergeln, was unter einer "hohen" Übereinstimmung zu verstehen sei. a) Eine empirische Untersuchung Um nicht auf bloße Vermutungen oder Erzählungen von Zeitzeugen (die gerade hinsichtlich solch quantitativer Phänomen äußerst unsicher zu sein pflegen) angewiesen zu sein, habe ich eine Aktenanalyse durchgeführt von fast 300 Strafverfahrenil, die an den damals acht Berliner Stadtbezirksgerichten im Jahr 1978 eingegangen sind. Die folgende Tab. 1 gibt wieder, in wie vielen dieser Verfahren Antrag und Urteil übereinstimmen und wie häufig Abweichungen (egal, ob härter oder milder) anzutreffen sind. (Aufgeführt sind auch die Verfahren, in denen kein staatsanwaltlicher Antrag vorliegt.)

Tabelle 1 Verhältnis von Antrag des Staatsanwalts und richterlichem Urteil Aktenerhebung: Verfahren an acht Berliner Stadtbezirksgerichten (1978)nur für Verfahren mit Antrag des StA (0=264) Urteil nach Antrag abweichend n

n 158 106 264

%

(59,8) (40,2) (100,0)

Der Anteil der Verfahren mit "Urteil nach Antrag" schwankt zwischen den Stadtbezirksgerichten: Minimum 50 % (Mitte) und Maximum 87 % (Pankow).

sehen Richter und Staatsanwalt bei der StrafZumessung, in: G. KaiserlH. KurylH.-J. Albrecht (Hrsg.), Kriminologische Forschung in den 80er Jahren (Freiburg 1988) 265-280. n Wem diese Zahl zu gering vorkommt, möge mehr Fälle untersuchen (aber bitte auch zufltllig ausgewählte; "zufltllig" im statistischen Sinne, versteht sich). Mir ist keine Untersuchung ober die DDR bekannt, die mit einer so großen und gut ausgewählten Fallzahl arbeitet (vgl. FN 12 am Anfang). 3 Drobnig

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Die 106 Fälle, in denen eine Abweichung zwischen dem StA-Antrag und dem richterlichen Urteil vorliegt, unterscheiden sich selbst wieder hinsichtlich des Ausmaßes der Abweichung. Tabelle 2 Abweichungen zwischen StA-Antrag und richterlichem Urteil (n=106) (nach Art der Sanktion) G+Z

G

Z

insgesamt 13 11 63 12 2

FE: unbedingter Freiheitsentzug bFE: bedingter Freiheitsentzug H: Haft 0: Geldstrafe" Z: (sonstige) Zusatzstrafen (§§ SOff. StOB-DDR) und Auflagen (z.B. gern. §§ 45, 48 StOB-DDR).

Unterlegt sind die Fälle, in denen die gleiche (fett hervorgehoben; 74 Fälle) oder eine ähnliche Strafart beantragt und verhängt wurden, aber eine Differenz in der Höhe vorliegt - wobei hier noch offen bleibt, ob eine Schärfung oder Milderung durch das Gericht erfolgt. Speziell filr die Zusatzstrafen und Auflagen ergibt sich folgende Zusammenstellung (§§ sind die des StGB):

14 In der DDR sollte die Geldstrafe als Hauptstrafe (§ 36 StOB-DDR) nur in besonderen Fällen verhängt werden; Ublicherweise taucht sie als eine Zusatzstrafe (§ 49 StOB-DDR) auf. Sie wurde, jedenfalls 1978, nicht sehr häufig verhängt; in den obigen 106 Fällen wurde sie nur 39 mal beantragt, 49 mal verhängt (niemals als alleinige Hauptstrafe). .

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Zusatzstrafen / Auflagen Arbeitsplatzbindung (§§ 47 11, 2; 48 III, 3) Bürgschaft (§§ 30 11; 31) Freizeitarbeit (§§ 35 V; 45 III, 6) Anordnung sonstiger staatlicher Kontrollmaßnahmen (§ 48) Entzug der Fahrerlaubnis (§ 54) fachärztliche Heilbehandlung (§ 45 III, 7) Lohnbindung (§ 45 III, 3) Bewährungswiderruf(§§ 35; 45 V, VI) Einziehung von Gegenständen (§ 56) Umgangsverbot mit bestimmten Personen (§§ 45 III, 4; 47 11, 4; 48 III, 2) Einweisung in psychiatrische Einrichtungen (§§ 15 11; 16 III) Aufenthaltsbeschränkung (§§ 47 11, 3; 51) Verwarnung (§ 35 V)

StAAntrag 54 51 25 20 18 12 12 9 2 2

Urteil

2

2

1 I

-

69 65 26 17 19 12 20 8 5

-

1

Tab. 2 enthält nur Angaben zur Art der Sanktion, aber nicht zur Höhe oder Länge der Sanktion. Wenn wir uns die einzelnen Bereiche näher anschauen, getrennt nach: •

unbedingtem Freiheitsentzug + anderes



bedingt~m



Haftstrafe + anderes

Freiheitsentzug + anderes

(vgl. die jeweils eingerahmten und unterlegten Felder), so können wir folgende feineren Differenzen feststellen:

Tabelle 3 Differenz StA-Antrag und richterliches Urteil im Bereich unbedingten Freiheitsentzugs und Änderung bei den Zusatzstrafen/Außagen (n=24) Änderung beim Freiheitsentzug 17 Urteil milder Urteil nach Antrag 5 Urteil härter 2 24

3'

bei Zusatzstrafen / Auflagen keine Änderung Änderung 15 2 5 2 17 7

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Hubert Rottleuthner

Das Gericht urteilt hier also im Bereich der unbedingten Freiheitsstrafen meist milder als von der Staatsanwaltschaft beantragt. Dabei werden selten Änderungen bei den Zusatzstrafen vorgenommen (wegen der geringen Fallzahlen wird nicht näher aufgeschlüsselt, in welche Richtung die Änderungen bei den ZusatzstrafeniAuflagen gehen). Die Relation bei den viel häufigeren bedingten Freiheitsstrafen sieht folgendermaßen aus:

Tabelle 4 Differenz StA-Antrag und richterliches Urteil im Bereich bedingten Freiheitsentzugs und Änderungen bei den Zusatzstrafen/Auflagen) (n=70) Änderung beim Freiheitsentzug Urteil milder 15 Urteil nach Antrag 48 Urteil härter 7 70

bei Zusatzstrafen / Auflagen keine Änderung Änderung 7 8 14 34 2 5 17 47

Die Urteilspraxis ist auch hier eher milder als härter. Am häufigsten ist aber eine Übereinstimmung anzutreffen. Allerdings gibt er hier häufiger Änderungen im Bereich der Zusatzstrafen und Auflagen (und zwar meist über den Antrag der Staatsanwaltschaft hinaus).

Tabelle 5 Differenz StA-Antrag und richterliches Urteil im Bereich bedingten Freiheitsentzugs und Änderung der Bewährungsfrist (n=70) Änderung beim Freiheitsentzug Urteil milder 15 Urteil nach Antrag 48 Urteil härter 7 70

Bewährungsfrist gegenüber Antrag kürzer gleich länger 6 8 1 17 27 4 6 1 23 41 6

Auch in dieser Fallgruppe ist die Übereinstimmung relativ hoch. Wenn es Abweichungen gibt, dann sind die Richter eher milder; dies auch bei der Bemessung der Bewährungsfrist. (Wenn das Urteil milder ist als der Antrag - in 15 Fällen -, ist die Bewährungsfrist in einem Fall länger als beantragt.)

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Die hier dargestellte Untersuchung ist repräsentativ rur die Praxis an den Berliner Stadtbezirksgerichten im Jahre 1978. Über die Verhältnisse an anderen Gerichten, zu anderen Zeiten lS ist damit nichts gesagt. Jedenfalls sollte man seine Informationsbasis sehr breit anlegen, um der Massenhaftigkeit von Fällen gerecht zu werden, an denen man das Verhältnis von staatsanwaltlichem Antrag und richterlichem Strafurteil untersuchen muß. Einen (typischen) Fall von hochselektiver Wahrnehmung bietet F. Werkentin im Abschnitt seines Buches über die Politische Strafjustiz in der Ära U1bricht, der mit "Der Staatsanwalt als Souffleur" (seil. des Richters) überschrieben ist l6 . Diese Auffassung versucht er zu belegen mit Hinweisen auf eine Rundverrugung des Ministeriums der Justiz vom August 1950 und auf einen Bericht des GStA an die ZK-Abteilung Staatsund Rechtsfragen vom November 1966, in dem der Kampf angesagt wird gegen "Erscheinungen des unbegründeten und willkürlichen Abweichens von (teilweise noch zu niedrig gestellten) Anträgen der Staatsanwaltschaft"l7. Angesichts der oben mitgeteilten Befunde nimmt sich das Resümee Werkentins seltsam aus, daß sich die Richter "nur an die Strafanträge zu halten (brauchten), um im Normalfall sicher zu sein, rur das ausgesprochene Urteil nicht gerügt zu werden"ll. Mir ist kein Disziplinarverfahren bekannt, in dem ein Richter deshalb einen Verweis, eine Rüge oder strenge Rüge erhielt, weil er von Anträgen der Staatsanwaltschaft abwich. b) "Politisch bedeutsame" Verfahren Die in der Untersuchung festgestellte relative Unabhängigkeit der RicOOhter von den Anträgen der Staatsanwaltschaft ist nicht nur ein Phänomen der Alltagsjustiz. Es gibt eine Reihe prominenter, "politisch bedeutsamer" Fälle, bei denen es auch zu Abweichungen kam: •

Im Fall Jennrich 19 - einem Verfahren nach dem 17. Juni 1953 - verurteilte das BG Magdeburg am 25.8.1953 den Angeklagten zu lebenslanger Haft entgegen einer Vorgabe aus dem MdJ und abweichend vom Antrag des StA,

IS Eine weitere Untersuchung zur Praxis am AG Berlin-Mitte (n=541, ohne Strafbefehle, ohne Privatklagen, ohne Übertretungen) aus den Jahren 1949-1952 zeigt ein ähnliches Ausmaß von Abweichungen. 16 F. Werkentin (oben FN 1). 17 Ebd. 313 f. - Solche Abweichungen gab es also (und natürlich muß man etwas gegen "unbe· gründete und willkürliche" haben). - Im übrigen geht es in diesem Abschnitt auch darum, daß die Staatsanwälte "im Regelfall" den Abschlußbericht des MfS, wenn es Untersuchungsorgan war, "mehr oder weniger" abgeschrieben hätten (ebd. 315). Auch das wäre durch umfangreiche Erhebungen abzusichern. Ich selbst habe von Betroffenen Unterlagen erhalten, die das gerade nicht ze,igen. Nur würde ich mich hüten, schon darauf eine Gegenthese zu bauen. 11 Ebd. 316. - In diesem Zusammenhang wäre es sinnvoll, sich die Disziplinarverfahren gegen Richter näher anzuschauen: gab es dabei Fälle, in denen Richter diszipliniert wurden, weil sie von den Anträgen der Staatsanwaltschaft abwichen? 19 Vgl. Werken/in, ebd. 135.

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der die Todesstrafe beantragt hatte. Nach dem Protest des BStA verwies das OG am 8.9.1953 die Sache zur Neuverhandlung an das BG Magdeburg zurück mit der Vorgabe, die Todesstrafe zu verhängen. Darauf lautete denn auch das Urteil des Bezirksgerichts (in gleicher Besetzung) am 6.10.1953. (Am 20.3.1954 wurde Jennrich in Dresden hingerichtet.) •

Im Verfahren gegen den ehemaligen Beisitzer am Sondergericht Posen, Johannes Breyer, vor dem BG Schwerin hatte der Staatsanwalt 12 Jahre Zuchthaus beantragt; das Gericht erkannte am 14.4.1961 auf 8 Jahre. 20



Rudolf Bahro wurde im Jahre 1979 vom Stadtgericht Berlin zu 8 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Der Vertreter des GStA hatte 9 Jahre beantragt und Honecker selbst hatte "mindestens 10 Jahre" vorgegeben.



Ende 1980/Anfang 1981 (?) vertrat G. Gysi einen ,jungen Mann", der wegen "staatsfeindlicher Hetze" angeklagt war. Das Gericht wich erheblich vom Antrag des Staatsanwalts ab und verurteilte auch nur wegen "öffentlicher Herabwürdigung". Den Protest der Staatsanwaltschaft wies das OG als unbegründet abY



Vier wegen der Vorflllle an der Zionskirche angeklagte Skinheads erhielten in der 1. Instanz (Stadtbezirksgericht Mitte 3.12.1987) Freiheitsstrafen zwischen einem und zwei Jahren. Der Staatsanwalt hatte 14 Monate bis 2 Jahre beantragt. 22 Erst danach setzt die "Steuerung" des Verfahrens ein - und zwar auf oberer Ebene. Zwischen dem Ministerium der Justiz (Staatssekretär) Oberstem Gericht (Präsident) - dem Generalstaatsanwalt und dem Leiter der ZK-Abteilung Staats- und Rechtsfragen werden Verfahrensablauf und Strafmaß rur das Stadtgericht Berlin festgelegt. Nach dem Protest des GStA ergeht dann auch das Urteil am 22.12.1987 entsprechend den Vorgaben (18 Monate bis 4 Jahre).



Vera Wollenberger wurde im Januar 1988 (nach der LuxemburgLiebknecht-Demonstration) vom Direktor des Stadtbezirksgericht Lichtenberg Wetzenstein-Ollenschläger zu 6 statt der beantragten 8 Monate verurteilt,23

20

NJ 1961,398 (400).

Vgl. dazu die Dokumentation von C. Gohde/A. Lederer, Der Stasi-Verdacht gegen Gregor Gysi (Bonn 0.1. [1992]). In den Hauptakten des Verfahrens LG Frankfurt (Oder), 23 Kis 36/94, Bd. 7,26. 22 Vgl. Neues Deutschland vom 2. und 4.12.1987. - Zum folgenden vgl. die Dokumente in: Im Namen des Volkes? Über die Justiz im Staat der SED. Dokumentenband zur Ausstellung des Bundesministeriums der Justiz (Leipzig 1994) 146-156. 23 Vgl. Neues Deutschland vom 28. und 29.1.1988. 21

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Nicht zu vergessen, daß es auch anders herum geht: Richter Deister (im Spielfilm "Das Kaninchen bin ich", aus den 60er Jahren) übertrifft im Strafmaß (3 Jahre für staatsfeindliche Hetze) noch den Staatsanwalt mit dessen Antrag. Der Richter will sich als besonders linientreu hervortun. Nachdem die Strafpolitik wieder einmal einen "neuen Kurs" eingeschlagen hat, befUrwortet er nachdrücklich ein Gnadengesuch. Zur Interpretation dieser Befundes ist es sinnvoll, weitere Vergleiche anzustellen. Aus der Bundesrepublik liegt eine Untersuchung vor, die auf der Basis von Verfahren durchgeführt wurde, die 1977 am Amtsgericht (Schöffengericht) Mannheim erledigt wurden. 24 Dabei ergibt sich in den Fällen, in denen von der Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe beantragt wurde (n= 180; nur diese wurden näher behandelt), eine Übereinstimmung ven 31,1 %. In 2/3 der Fälle lag das Urteil des Gerichts unter dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Ganz selten urteilte das Gericht härter als beantragt. Tabelle 6 Antrag des Staatsanwalts und gerichtliches Urteil- Schöffengericht Mannheim 1977 (n=180; Verfahren mit Antrag auf Freiheitsstrafe) Urteil nach Antrag StA23 Antrag StA 9-25% höher als Urteil Antrag StA mehr als 25% höher als Urteil Antrag Freiheitsstrafe / Urteil Freispruch Urteil härter als Antrag

n 56 63 52 5 4

180

% 31,1 35,0 28,9 2,7 2,2 100,0

24 B. Schünemann (oben FN 12) 265-280. Vgl. auch W Langer (oben FN 12) 367 ff. - FUr Fälle von einfachem Diebstahl, die an drei Amtsgerichten 1987/88 entschieden wurden (n=610), weist er eine sehr hohe Übereinstimmung (Uber 90 %) hinsichtlich der Strafart in den Fällen nach, in denen von der Staatsanwaltschaft Geldstrafe oder Freiheitsstrafe mit Bewährung beantragt wurde. Wurde eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung beantragt, zeigen sich große lokale Unterschiede: Die Übereinstimmung - wiederum hinsichtlich der Strafart - schwankt zwisch~n ca. 65 % und 80 %. Hinsichtlich der Strafhärte ergeben sich hohe Korrelationen (r=0.85), unterschiedlich an den drei Gerichten (0.78 / 0.84 / 0.92). Wegen der anderen (subtileren) Messung von Strafhärte als bei Schünemann sind die Befunde nicht zu vergleichen. (Das Problem der Strafhärte besteht ja darin, eine einzige Dimension rur die verschiedenen Strafarten zu entwickeln, die mindestens intervallskaliert gemessen werden kann. Langer verwendet einen "KFN-Strafhärte-Score", der Werte zwischen 0 und 100 annehmen kann.) 23 Hinzugezählt werden mUßten hier noch 12 Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft aufgrund der Beweisaufnahme Freispruch beantragte; das Gericht entsprach immer diesem Antrag. dadurch ergäbe sich eine Übereinstimmungsquote von 35,2 %.

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Für die Justiz im Nationalsozialismus geht man häufig von einem "Schulterschluß", von Absprachen zwischen Gericht und Staatsanwaltschaft aus. Dieses Bild hat K. Marxen zumindest für die Praxis des Volksgerichtshofes korrigiert. 2• In Anlehnung an die Auswertung von Schünemann ergeben sich folgende Werte: Tabelle 7 Antrag des Staatsanwalts und gerichtliches Urteil- Volksgerichtshof (nur Fälle (n=712) mit Beantragung einer zeitigen Freiheitsstrafe durch den Oberreichsanwalt und Verurteilung zu einer zeitigen Freiheitsstrafe oder Freispruch)27 Urteil nach Antrag StA Antrag StA bis 25% höher als Urteil Antrag StA mehr als 25% höher als Urteil Antrag Freiheitsstrafe / Urteil Freispruch Urteil härter als Antrag

% 25,8 28,2 30,8 7,5 7,7 100,0

Marxen führt (ebd.) allerdings auch andere Werte an, die sich auf die gesamte Stichprobe (n=1.248 Abgeurteilte) beziehen, während sich die in Tab.7 wiedergegebenen Prozentwerte nur auf Verfahren mit einem Antrag auf Freiheitsstrafe beziehen (um sie mit den Befunden von Schünemann vergleichen zu können). Tabelle 8 Antrag des Staatsanwalts und Urteil- Volksgerichtshof (n=1.248 Abgeurteilte) Antrag gleich Urteil Antrag höher als Urteil Antrag niedriger als Urteil

n 644 536 68 1.248

% 51,6 42,9 5,4 100,0

Untersuchungen aus anderen Ländern sind mir nicht bekannt. 2. K. Marxen, Der Volksgerichtshof in zeitgeschichtlicher Perspektive, in: Justizministerium des Landes NRW (Hrsg.), Juristische Zeitgeschichte, Bd. 2: Perspektiven und Projekt (DOsseidorf 1994) 23-37 (29 f.). 27 Mitteilung von Prof. K. Marxen.

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Ich komme zu dem Ergebnis, daß in der DDR - im Vergleich zu den anderen herangezogenen Fällen - ein höheres Maß an Übereinstimmung zwischen dem Antrag des Staatsanwalts und dem richterlichen Urteil bestand. Von einer totalen Übereinstimmung wird man in der DDR aber nicht ausgehen können. Die festgestellte Übereinstimmungsquote von 60 - 70 % ist auf jeden Fall interpretationsbedürftig. Dabei ist zu beachten, daß jede Art von Nicht-Übereinstimmung hier berücksichtigt wurde (Strafart, Strafhöhe, Nebenstrafen, Auflagen etc.). Wie immer nun Abweichung und Übereinstimmung aussehen mögen - um den Zahlen Sinn abgewinnen zu können, ist es notwendig, sich verschiedene Interpretationsmöglichkeiten zu vergegenwärtigen: •

Gerade bei großen Spielräumen im Bereich der Strafzumessung könnten Richter dazu tendieren, im Antrag des Staatsanwalts einen "Ankerwert" zu sehen, an dem sie sich bereitwillig orientieren. Diese Tendenz könnte noch dadurch verstärkt werden, daß die Verteidiger nur unbestimmte Anträge stellen ("milde Strafe").



Um die "Unabhängigkeit" der Rechtsprechung zu demonstrieren, könnten Richter systematisch von den Anträgen der Staatsanwälte abweichen; schon eine kleine Abweichung kann diese symbolische Funktion erfiillen.



Starke Abweichungen könnten auch als Zeichen einer schlechten Ermittlungsarbeit der Staatsanwaltschaft gedeutet werden; ein hoher Grad der Übereinstimmung könnte auf gute Ermittlungen schließen lassen.



Auf jeden Fall wird man die gerichtsspezifische Interaktion zwischen den einzelnen Richtern und Staatsanwälten (und vermutlich auch Verteidigern) berücksichtigen müssen. Dabei wird auch zu bedenken sein, ob es sich um eingespielte Dauerbeziehungen handelt (man kennt wechselseitig die "Tarife") oder um nur gelegentliche Kontakte.



Schließlich wären auch allgemeine Elemente einer "Rechtskultur" zu beachten (sie mag sich extern auch als Rechtsunkultur oder als Unrechtskultur darstellen): sind Gerichtsverhandlungen allgemein durch einen antagonistischen Stil gekennzeichnet oder eher durch einen kooperativen, gar auf Harmonie, Einheitlichkeit bedachten? Dann müßte man auch die Anträge der Rechtsanwälte einbeziehen und schließlich auch die Schlußworte der Angeklagten. Die isolierte Betrachtung der Relation Antrag des Staatsanwalts Urteil des Gerichts ist nicht aussagekräftig genug.

Hans-Dietrich Lehmann* LEITUNG UND LENKUNG DER RECHTSPRECHUNG DURCH DAS OBERSTE GERICHT DER DDR Leitung und Lenkung der Rechtsprechung bildeten im Rechtssystem der DDR ein Begriffspaar, das den Jurastudenten bereits im ersten Studienjahr in den Grundlagenflichern, insbesondere in den Fächern Staats- und Rechtstheorie l sowie Gerichtsverfassungsrecht2 begegnete. Seitdem war es in allen Zweigdisziplinen des Rechts gegenwärtig und rur alle Absolventen, Praktikanten und Richter bestimmend. Niemand von ihnen verband mit Leitung und Lenkung der Rechtsprechung Begriffe wie Unrecht, Gesetzlosigkeit oder Rechtsbeugung. Das hat sich seit 1989 schlagartig geändert. Um so mehr stellen sich Fragen nach Formen, Inhalt und Praxis von Leitung und Lenkung der Rechtsprechung in der DDR. Ihre Beantwortung sollte zum Ziel haben, Wahrheit von Unwahrheit zu unterscheiden, Einseitigkeit zu vermeiden und Schlußfolgerungen rur den Umgang mit historisch gewachsenen und bewährten Grundprinzipien des Rechts zu ziehen. Ich denke dabei vor allem an solche Grundsätze wie: strikte Bindung an das Gesetz, Feststellung der objektiven Wahrheit, Achtung der Würde des Menschen und Recht auf rechtliches Gehör und Verteidigung. Eine Auseinandersetzung mit der DDR darf nicht nur rückblickend oder gar ahistorisch gefilhrt werden. Sie sollte Anlaß zur Prüfung des historischen Erbes und Rechtsgutes sowie Umgangs mit dem Bewahrenswerten deutscher Rechtsentwicklung sein. Im Ergebnis müssen rur die Zukunft Lehren aus dem Bruch mit Praktiken und dem überdimensionalen Einsatz staatlicher Gewalt gegen den Willen von Mehrheiten gezogen werden. Nur so ist der Vorwurf "Siegerjustiz" und "Besserwisserei" und der Vorwurf, die Bürger der alten Bundesrepublik bestimmten über die der neuen Bundesländer von vornherein, zu entkräften und zu widerlegen.

• Rechtsanwalt; von 1988-1990 Richter am Obersten Gericht der DDR und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Präsidenten des Obersten Gerichts. I Autorenkollektiv, Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie (3. Aufl. 1980) 363 f.; 359 f. (I. Aufl. 1976,365 ff., 398 ff., 402 ff.).

2

Autorenkollektiv, Grundlagen der Rechtspflege (1986) 42 f., 99 ff.

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Will man das bundesdeutsche Rechtssystem mit dem der DDR vergleichen, so zeigt sich, daß es das Begriffspaar Leitung und Lenkung der Justiz oder Rechtsprechung im bundesdeutschen Recht nicht gibt. Es ist also eine Besonderheit, eine SpezifIk des DDR-Rechts. Seinen Ursprung hat es in der strikten Ablehnung der Gewaltenteilung und in der Unterordnung des Rechts unter die Politik. Dementsprechend wurde das Gerichtswesen der DDR Bestandteil staatlicher Machtausübung mit dem Ziel, gesellschaftsgestaltende Aufgaben des Staates zu lösen. Das Gerichtswesen wurde eng mit den Volksvertretungen, staatlichen und gesellschaftlichen Organen verknüpft. Richter der DDR wurden durch die Volksvertretungen (Kreis- und Bezirkstage, Volkskammer) gewählt, waren diesen rechenschaftspflichtig und an ihre Beschlüsse gebunden. Art. 5 der Verfassung der DDR regelte diese gegenüber dem bundesdeutschen Gerichtswesen so grundlegende Andersstellung des Gerichtswesens der DDR. Durch diese Verknüpfung des Gerichtswesens mit der Tätigkeit der Volksvertretungen sowie anderen staatlichen oder gesellschaftlichen Organen wurde gesichert, daß gerichtliche Tätigkeiten nie isoliert von gesellschaftlichen Zusammenhängen gesehen wurden und nie auf Einzelfalle und die filr den Einzelfall relevanten Rechtsnormen beschränkt blieben. Es liegt auf der Hand, daß eine solche globale Orientierung und AufgabensteIlung zur Uneinheitlichkeit, konträren Rechtsprechung, zur Rechtsunsicherheit oder gar Rechtlosigkeit filhren könnten, wenn sie nicht an bestimmte Formen und Inhalte gebunden wird. Deshalb wurde dem Obersten Gericht der DDR durch Art. 93 der Verfassung die Aufgabe übertragen, eine einheitliche Rechtsanwendung durch alle Gerichte zu sichern. Beruhend auf dem Prinzip des demokratischen Zentralismus stand das Oberste Gericht an der Spitze aller Gerichte und leitete und lenkte diese durch sein spezifIsches Instrumentarium). Dieses bestand in folgendem: (1) Als höchstes Organ des Obersten Gerichtes fungierte das Plenum (§ 39 GVG). Es sollte Schlußfolgerungen aus der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR ziehen, sie filr die Rechtsentwicklung nutzen und sie in Richtlinien und Beschlüsse fassen. Diese waren gern. §§ 39 Abs. 1,40 Abs. 1 GVG filr alle untergeordneten Gerichte verbindlich. Dem Plenum des Obersten Gerichtes gehörten seine Richter, die Direktoren der Bezirksgerichte und Leiter der Militärobergerichte an. Nur sie waren beschlußberechtigt. Darüber hinaus nahmen an den Plenartagungen mitunter Vertreter staatlicher oder gesellschaftlicher Organisationen oder der Wissenschaft teil. Inhalte der Plenartagungen bildeten zweigspezifIsche oder globale RechtsJ Autorenkollektiv, Aufbau des Obersten Gerichtes der DDR (1986/87) 36; Autorenkollektiv, Das Oberste Gericht der DDR, Rechtsprechung im Dienste des Volkes (1989).

Leitung und Lenkung der Rechtsprechung durch das Oberste Gericht der DDR

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fragen. Beispielhaft sei auf das 6. Plenum des Obersten Gerichtes vom 22.12.1977 hingewiesen, das sich mit Problemen der Rechtsprechung in Verkehrsstrafsachen befaßte4 • Die 10. Plenartagung des Obersten Gerichtes vom 19.12.1984 nahm Stellung zur Verantwortung des Obersten Gerichtes und der Bezirksgerichte sowie Militärobergerichte für die Rechtsprechung zweiter Instanz in Strafsachens• Die 2. Plenartagung des Obersten Gerichtes vom 26.11.1986 gab Orientierungen für Aufgaben der Gerichte bei der Unterstützung der sozialistischen Wohnungspolitik heraus·. (2) Dem Plenum nachgeordnet war das Präsidium (§ 40 GVG). Es war ein ständiges kollektives Leitungsorgan des Obersten Gerichtes, das für die Einberufung der Plenartagungen und Vorbereitungen der Richtlinien des Plenums verantwortlich war. Es erließ Beschlüsse, die ebenso wie die Richtlinien des Plenums rur alle untergeordneten Gerichte bindend waren. Beispielhaft seien folgende Beschlüssse des Präsidiums genannt: •

zur einheitlichen Anwendung des § 176 StGB v. 16.03.1983 (Verkürzung von Steuern)';



zur Verantwortung des Obersten Gerichtes und der Bezirksgerichte und Militärobergerichte rur die Rechtsprechung zweiter Instanz in Strafsachen v. 19.12.19848 ;



und zu Fragen der Untersuchungshaft v. 15.02.19899 •

Das Präsidium war zugleich Spruchkörper. In der Besetzung mit dem Präsidenten oder einem Vizepräsidenten als Vorsitzenden und vier Mitgliedern des Präsidiums verhandelte und entschied es über Kassationsanträge gegen rechtskräftige Entscheidungen der Senate des Obersten Gerichtes sowie Kassationsentscheidungen der Bezirksgerichte und des Militärobergerichtes. Wollte ein Senat des Obersten Gerichtes in grundsätzlichen Rechtsfragen von Entscheidungen anderer Senate abweichen, entschied das Präsidium, soweit nicht ein Kollegium des Obersten Gerichtes zuständig war. (3) Am Obersten Gericht gab es weiterhin drei Kollegien. Es bestanden Kollegien rur Strafrecht, rur Zivil-, Familien- und Arbeitsrecht und das Militärkollegium. Sie waren für die einheitliche DurchfUhrung von Festlegungen des Plenums und Präsidiums verantwortlich (§ 41 Abs. 1 GVG). OG-Information 1/1978,2 fl"., NJ 1978,37,48 ff. sOG-Information 6/1984, 3 ff., s. NJ 1985,92 ff. 6 OG-Information 1/1987,3 ff., NJ 1987,39. , OG-Information 3/1983, 3 ff. 8 OG-Information 6/1984, 3 ff., s. NJ 1985,92 ff. 9 OG-Information 12/1989,3 ff., NJ 1989,207 ff. 4

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Die Kollegien waren im wesentlichen Beratungs- und Koordinierungsorgan ohne Weisungskompetenz. Sie entschieden nur, wenn ein Senat des Kollegiums von einem anderen Senat des Kollegiums in seinen grundlegenden Entscheidungen abweichen wollte. (4) Die Senate des Obersten Gerichtes (§ 41 Abs. 3 und 4 GVG) waren die eigentlichen Rechtsprechungsorgane des Obersten Gerichtes. Sie übten die Rechtsprechung in erster und zweiter Instanz aus und entschieden über Kassationsanträge gegen rechtskräftige Entscheidungen der Senate und Kammern untergeordneter Gerichte. (5) Schließlich wäre der Präsident zu nennen (§ 42 GVG). Ihm oblag es, die Mitarbeiter des Obersten Gerichtes und die Direktoren der Bezirks- und Kreisgerichte anzuleiten. Er sollte gewährleisten, daß die von der Volkskammer und vom Staatsrat gestellten Aufgaben erfüllt wurden und das Oberste Gericht mit den Leitern bzw. Leitungen der anderen zentralen Staatsorgane und gesellschaftlichen Organisationen zusammenwirkte. Dem Präsidenten direkt unterstellt waren die Kontrollgruppe und die Grundsatzabteilung des Obersten Gerichtes. Diese hierarchische und zentralistische Leitung und Lenkung der Rechtsprechung fuhrte kaum zur Eigenständigkeit, Entscheidungsfreude und Eigenverantwortung der Richter. Je mehr Richter in ihren Entscheidungen gebunden wurden, um so weniger waren sie selbst gefordert. Das machte es dem Bequemen einfach und dem kritisch Denkenden schwer. Aber es wäre falsch, im Richter der DDR ausschließlich einen an Kadavergehorsam ausgerichteten Juristen zu sehen. Dazu waren insbesondere die Juristen der jüngeren Generation zu sehr geprägt von der Entwicklung in der DDR, durch Widersprüche im täglichen Leben. Für die Bevölkerung selbst wurde eine solche Richterpersönlichkeit jedoch weniger sichtbar und prägend, sie sah eher die Vormachtstellung der Politik fur die Rechtsprechung und das Gerichtswesen. Und dieses Bild mußte entstehen, weil seit Schaffung des Gerichtswesens in der DDR mit der Rechtsprechung deutliche Zeichen fur politische Entwicklungen gesetzt wurden. Besonders auffällig war das in den 50er und 60er Jahren und da vor allem in der politischen Strafjustiz dieser Zeit. In diesen Jahrzehnten wurde das politische Strafrecht der DDR besonders intensiv und extensiv zur Unterdrückung von politischen Auffassungen, die der SED-Politik entgegenstanden, eingesetzt. Mittels des Rechts sollte eine Entwicklung forciert werden, die offensichtlich nicht von der Mehrheit der Bevölkerung getragen wurde. Die fehlende politische Auseinandersetzung in der DDR wurde in den Gerichtssaal verlegt. Gerade an diesem Entwicklungsabschnitt der DDR wird deutlich, daß die Rechtsprechung mit ihren spezifischen Mitteln zu einem Instrument der sich vollziehenden gesellschaftlichen Prozesse

Leitung und Lenkung der Rechtsprechung durch das Oberste Gericht der DDR

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gemacht werden sollte und auch gemacht wurde. Politische Verantwortung dafilr trägt nicht zuletzt das Oberste Gericht. Anband dieser Spezifik zeigt sich auch, daß die von mir skizzierten Leitungsinstrumentarien des Obersten Gerichtes mittels formeller und informeller Steuerung durch den zentralen Parteiapparat der SED, das Politbüro, Sekretariat des Politbüro und verschiedene ZK-Abteilungen beeinflußt wurden und werden konnten. Diese Steuerung ging von der Entscheidung darüber, ob und wo Anklage erhoben wird, über Festlegungen zur Durchfiihrung des Verfahrens bis hin zur Bestimmung der Strafe. Beispielhaft verweise ich auf Strafprozesse wie den Thüringer Bankprozeß MooglO u.a., den Solvay-ProzeßII sowie das Urteil gegen Mitglieder der Glaubensgemeinschaft "Zeugen Jehovas" 12. In diesem Prozeß wurde auch der legendäre Art. 6 Abs.2 der Verfassung der DDR zum unmittelbar geltenden Recht erklärt und Grundlage fiir zahlreiche Urteile gegenüber Andersdenkenden. Diese Rechtsentwicklung vollzog sich auch in der DDR nicht ohne Widerspruch in den eigenen Reihen der SED, bis hin zur Partei- und Staatsfiihrung. So kam es in den Jahren 1954 bis 1955 zu Verurteilungen des ehemaligen Außenministers der DDR, Georg Dertinger, des Staatssekretärs im Ministerium der Justiz, Dr. Dr. Helmut Brand, des Ministers der Justiz, Max Fechner, und des Politbüromitgliedes, Paul Merker. Diese Prozesse ähneln im Aufbau und in Durcilfiihrung den Schauprozessen unter Stalin. In ihnen gibt es eine Vielzahl von prägnanten Beispielen der Einflußnahme auf die Lenkung der Rechtsprechung. Sie sind Beispiele der Untergrabung des Prinzips der richterlichen Unabhängigkeit. In dieser krassen Form lassen sich aus meiner Kenntnis Beispiele in den 70er und 80er Jahren nicht fmden. Das bedeutet nicht, daß auch in diesem Entwicklungsabschnitt der DDR keine formelle und informelle Einflußnahme auf die Rechtsprechung ausgeübt wurde, um zentralistisch vorgegebene Entscheidungen durchzusetzen. Sie gab es nach wie vor, wenn auch moderater und verborgener. Ich denke dabei u. a. an Prozesse wie die gegen Stefan Heym, Vera Wollenberger sowie die sogenannten Skinhead-Prozesse Mitte der 80er Jahre in Berlin. Es ist jedoch eine fatale und auch in der jetzigen strafrechtlichen Aufarbeitung oft falsche Annahme, daß letztendlich der entscheidende Richter im ein10

111 ff. 11

12

OG 8.12.1950, OGSt. 1,45, NJ 1951, 174. Dazu Schumann. Zum Moog-Prozeß, NJ 1951, OG 20.12.1950, OGSt. 1, 104, NJ 1951,78. OG 4.1 0.1950, OGSt. 1, 33, NJ 1950, 452.

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zeinen wußte, wie es zu welchen "Vorgaben" oder "Wünschen" des zentralen Parteiapparates gekommen war. Allein die zentralistische Hierarchie ließ es nicht zu, daß ein Richter auf Kreisebene (Stadtbezirksebene) in Entscheidungen übergeordneter Parteiorgane oder des MfS einbezogen wurde. Aus meiner Sicht erfolgte eine DurchsteIlung von Entscheidungen der Partei- oder Staatsorgane, wenn es sie gab, immer durch die dafiir formal zuständigen Organe (Ministerium der Justiz, Oberstes Gericht, Bezirksgericht). Diese direkte Einflußnahme des Partei- und Staatsapparates auf die Rechtsprechung ist nur eine Seite. Die andere Seite - die aus meiner Sicht bisher in Aufsätzen, Diskussionen oder wissenschaftlichen Forschungsaufgaben zu sehr vernachlässigt wurde - ist die Ideologie. Die Staatsideologie der DDR bestimmte den Gerichtsprozeß . Schließlich war sie bestimmend fiir die Persönlichkeitsentwicklung der Juristen dieses Landes. Sie war vorherrschend in der Schule, in der rechtswissenschaftlichen Ausbildung, Gesetzgebung und letztendlich auch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Ideologische Schranken konnten den Blick fiir eine kritische Sicht verstellen und ließen diesen zumeist erst dann wieder zu, wenn der Richter selbst in Konflikte geriet oder in solche verwickelt wurde. Diese Tatsache macht es auch vielen ehemaligen Juristen der DDR schwer, ihre eigene Verantwortung zu erkennen und zu verstehen. Das macht es ihnen schwer, sich unbequemen Fragen aus ihrer zurückliegenden Tätigkeit zu stellen. Will man das erreichen, ist die Diskussion und nicht die globale Abwertung und Verurteilung der ehemaligen DDR-Gerichte geboten.

Wolfgang Beh/ert STAATSANWAL TSCHAFT UND POLITISCHES SYSTEM IN DER DDR: AUSSEN-, KONTEXT-, SELBSTSTEUERUNG 1. Zur Problemstellung

Die Forschung zur DDR-Justiz hat - zumindest nach den Worten H. Rottleuthners' - bereits heute einen Stand erreicht, wie er 30 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus für dessen Justiz noch nicht vorzuweisen war. Wohl eine bemerkenswerte Leistung, nur: Wer braucht sie? Dem Kalkül des politischen Tagesgeschäfts sind nachdenklichere Sentenzen wie jene, daß die klassifikatorische Zusammen ordnung sowohl des Dritten Reiches wie der Deutschen Demokratischen Republik zu "Unrechtsstaaten" oder "totalitären Diktaturen" deren höllenweite Unterschiede ausblendetl, erkennnbar bereits zu subtil. Und auch das tonangebende Feuilleton, namentlich auch das juristische, ist offenbar auf wissenschaftliche Forschungsergebnisse, unabhängig davon, wie diese dann zu bewerten sein werden, weniger angewiesen: Sein Urteil steht auch ohnedies bereits fest'. Ein solcher Befund kann allerdings auf Dauer kaum mehr ernüchternd wirken - er ist der Sozialwissenschaft nicht unvertraut. Jedoch gerade die wissenschaftliche Bearbeitung der DDR-Justiz ist bei weitem nicht darauf angewiesen, nur sich selbst zu genügen. Vielmehr existiert eine konkrete Nachfra, Rottleuthner, Zur Steuerung der Justiz in der DDR, in: ders., Steuerung der Justiz in der DDR (Köln 1994) S. 5. 2 Ebd. 13.

, Vgl. z.B. Hanno Kühnert, Die Tater zogen sich Roben aus Schafspelz an, in: "Die Zeit" v. 7.7.1995. Kühnert weiß von der DDR-Justiz, daß sie eine "Scheinjustiz" war, die durch "Scheingerechtigkeit" und "einen zynischen Abklatsch von Fönnlichkeiten" Institutionen hervorbrachte, "die schamlos so taten, als hatten sie auch nur die geringste Ähnlichkeit mit einer unabhangigen Justiz", und daß deren Richter, Schöffen und Staatsanwalte "alles lichtlose Kasperfiguren mit einem Parteibuch und einem Strick untenn Juristengewand" waren. Was er freilich nicht wissen kann, ist, daß Richter und Staatsanwalte in der DDR schon jahrzehntelang keine Robe mehr trugen. Nur: Weshalb kommt mir die Sprache so bekannt vor ... ? R. Wassermann, um ein weiteres, prominenteres Beispiel nicht unerwahnt zu lassen (Bilder einer Ausstellung, In: DRiZ Januar 1995) verweist etwa die seit vielen Jahren an der University of Texas in Austin, USA, lehrende Inga Markovits, weil diese sich nicht entschließen kann, bei ihrem Blick auf die juristische DDR-Wirklichkeit die gleiche Optik wie er zu benutzen, schlicht in die Ecke der Apologeten - auch dies eine offensichtlich gegenüber allen ideologischen Vorzeichen unbeeindruckt bleibende Methode, die partikulare Anschauung in den Rang eines Axioms zu heben, um dann den Kontrahenten in der Sachdebatte gerade auch mittels der hier gewahlten Vokabel- zu denunzieren. 4 Drobnig

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ge nach den einschlägigen Forschungsergebnissen zumindest dort, wo heute das professionelle Verhalten von Angehörigen des Rechtsstabes in der DDR hinsichtlich seiner strafrechtlichen Relevanz zu beurteilen ist4. Die Richter an den Gerichten der Bundesrepublik sind hierbei durch Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Rechtgebunden. Gleichzeitig legt Art. 103 Abs. 2 GG rur die Anwendung von Normen des Strafrechts ein Rückwirkungsverbot auf. Daß dieses Rückwirkungsverbot nur auf die gesetzliche Bestimmtheit der Strafbarkeit abstellt, löst das Problem noch nicht. Denn spätestens wenn zu entscheiden ist, ob sich etwa ein ehemaliger Richter oder Staatsanwalt der DDR der Rechtsbeugung schuldig gemacht hat, steht sie wieder, die Frage: Was also war dort Recht? Das heißt: Der Wortlaut des Tatbestandes von § 244 StGB (DDR) läßt sich zweifelsohne problemlos nachlesen. Auch die Kommentarliteratur bewegt sich in - unter diesem Aspekt erfreulicherweise - durchaus überschaubaren Dimensionen: Sie umfaßt exakt einen Titel. Unbeantwortet bleibt nach der Lektüre dieser Texte jedoch immer noch die Frage, auf welche Legitimitätsvoraussetzungen Recht in der DDR zurückgreifen konnte, wie es sozial strukturiert und organisiert war, welche Funktionalitäts- und Wirksamkeitsvorstellungen rur das Handeln der Akteure des Rechtsstabes leitend waren - offen bleibt also die Frage nach der sozialen Realität von Recht. Zweifellos aber wird es von den hierauf zu fmdenden Antworten beispielsweise abhängen, was im Sinne der Rechtsprechung in der DDR als "offensichtliche schwere Willkür", d.h. also (u. a. auch) als augenscheinliche Verletzung der zu Zeiten der DDR dort herrschaftsseitig selbst als verbindlich angesehenen Regeln zu bewerten sein wird. Da diese Regeln als "lebendes Recht" mittlerweile der Vergangenheit anheim gefallen sind, fUhrt demnach an ihrer historischen Rekonstruktion kein Weg vorbei. Hierbei liegt es auf der Hand, daß eine derartige Rekonstruktion, sofern ihr Legalitäts- und Rechtsstaatsüberzeugungen bundesdeutscher Prägung' zugrunde gelegt werden, notwendigerweise mißlingen muß. Ähnlich hoch ist jedoch auch die Gefahr zu veranschlagen, daß in aktuellen Erklärungs- und Deutungsbemühungen ostdeutscher Rechts- und Sozialwissenschaftler frühere Realitäten verzeichnet erscheinen. Zu sehr könnten individuelle Verstrickungen und Betroffenheit, die Radikalität, mit der seinerzeit subjektive Wenden vollzogen und selbstreflektiert wurden, aber auch die konkreten Bedingungen und 4 So greift der BGH in seinen UrteilsbegrUndungen in Verfahren wegen Rechtsbeugung auf die einschlligigen Forschungsergebnisse zurUck (etwa: BGH Urt. v. 13.12.1993, NJW 1994, 529 sowie v. 9.5.1994, NJW 1994,3238). In einschlägigen Verfahren gegen ehemalige DDR-Richter und Staatsanwälte wurden - etwa von den LG FrankfurtiO. und Erfurt - Rechtssoziologen als Sachverständige bestellt (darunter auch der Verfasser). , Auf den diffusen Inhalt des Rechtsstaatsprinzips als einer spezifisch deutschen Schöpfung der Verfassungsentwicklung, der eine hinreichende rechtliche Operationabilität ausschließt, hat erst jUngst wieder die Präsidentin des BVertU, Jutta Limbaeh, in ihrem Eröffuungsbeitrag zum 20. Strafverteidigungstag im März 1996 hingewiesen (Frankfurter Rundschau v. 23.3.1996, S. 9).

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Faktoren, unter denen sich ihre "nachholende Sozialisation" nach 1989 vollzog, je nach dem zu Verklärung, Rechtfertigung, selektiver Erinnerung oder Dämonisierung des Vergangenen neigen lassen. Gerade vor dem Hintergrund dieser Sachlage kommt methodenkritischen Überlegungen eine besondere Bedeutung zu. Dennoch hierzu nur einige knappe Anmerkungen: Das Material, welches den nachfolgenden Ausfilhrungen zugrunde liegt, wurde, neben der allgemein zugänglichen Literatur, vornehmlich aus zwei Quellen erschlossen. Zum einen wurden ehemalige Staatsanwälte bei dem Generalstaatsanwalt (GStA) der DDR interviewt: beigeordnete Staatsanwälte, Abteilungsleiter, ein stellv. GStA. Von den Interviews, die zwischen zwei und filnf Stunden dauerten, wurden zum Zwecke der Vertrauensbildung lediglich Protokollniederschriften angefertigt, die anschließend von den Interviewten gegengelesen, jedoch nicht autorisiert wurden. In diesem Zusammenhang von ihnen vorgenommene Ergänzungen und Richtigstellungen mochten gelegentlich das Ziel verfolgt haben, vorher Gesagtes nachträglich in Rechtfertigungszusammenhänge einzubauen, seine Bedeutung abzuschwächen oder in der Aussage ganz zurückzunehmen. Als zweite Quelle standen die Bestände des Bundesarchivs, Abt. Potsdam, zur Verfilgung. Der dortige Bestand P-3, GStA der DDR, wurde komplett eingesehen. Seine Zusammenstellung erscheint über große Strecken unsystematisch, zufällig und lückenhaft. Bestände des Parteiarchivs hingegen wurden nicht systematisch erschlossen, sondern nur, soweit sie bereits anderweitig aufgearbeitet waren, verwendet. Die Gewinnung und Bearbeitung des Materials erfolgte von vornherein in der Perspektive, es filr die Rekonstruktion genau jenes Ausschnittes aus dem justiziellen Gesamtzusammenhang der DDR zu nutzen, der im Folgenden dargestellt wird: dem strukturellen Zusammenhang zwischen (General-) Staatsanwalt und SED-Führung6 • 2. Struktur und Funktionalität des Steuerungsprozesses

Will man sich der vertikalen Strukturen vergewissern, innerhalb derer die Staatsanwaltschaft der DDR in das Gesamtsystem politischer Steuerung eingepaßt war, so kann man getrost relativ umstandslos auf ihre Beziehung zum Apparat der SED umschwenken. Ein derartiges Vorgehen rechtfertigt sich in keinem Umstand stärker als in dem, daß die reale Einflußnahme der staatsrechtlichen Strukturelemente (vor allem käme hier der Staatsrat in Betracht) sich nachweislich stets in Abhängig6 Vgl. daher insgesamt die ausftlhrliche Darstellung mit detaillierten Literatur- und Quellenangaben bei Behlert, Die Generalstaatsanwaltschaft, in Rottleuthner (oben N. I) 287 - 350.

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keit von der personellen Konstellation an der Spitze von Partei und Staat befand7 • Die Feinstruktur der Beziehung zwischen Parteiapparat und Staatsanwaltschaft auch nur auf der obersten Leitungsebene, also der Ebene Generalstaatsanwaltschaft - ZK der SED, in ihren einzelnen Verästelungen nachzuzeichnen, bereitet jedoch Probleme. Zwar ist der hierarchische Aufbau jeder der beiden Leitungsinstanzen für sich genommen jeweils auf durchaus einsichtige Weise nachvollziehbar - also auf seiten des SED-Führungsapparates: Generalsekretär - Politbüro - Sekretariat (mit dem zuständigen Sekretär für Sicherheitsfragen) - Abteilung Staats- und Rechtsfragen (mit der Innenhierarchie Abteilungsleiter - Sektorenleiter Justiz für die GStA zuständiger politischer Mitarbeiter), sowie auf seiten der GStA: Generalstaatsanwalt - stellv. Generalstaatsanwälte (sowohl der GStA als auch seine Stellvertreter waren zugleich Leiter eines der vier zivilen 8 Bereiche der GStA) - Abteilungen mit Abteilungsleitem und beigeordneten Staatsanwälten mit aus einem Aufgabenverteilungsplan zugewiesenen speziellen Arbeitsgebieten. Eine horizontale Zuordnung dieser verschiedenen Leitungsebenen gelingt jedoch nicht9 • Dies verhindert schon die ihrem Inhalt und ihrer Funktion nach nie eindeutig zu defmierende Differenz (und daher auch Identität) von staatlicher und (partei-)politischer Führung. Dieser Aspekt geböte es u.a. auch noch, die Leitung der SED-Grundorganisation an den GStA innerhalb des Gesamtsystems mit zu verorten. Wiewohl sich dies rur die historische Genauigkeit der Beschreibung einzelner Sachzusammenhänge gelegentlich als notwendig erweisen würde, änderte ein solcher Versuch nichts am geschilderten Ausgangsproblem, für dessen Zustandekommen sich in erster Näherung zwei Ansätze als Erklärungen anbieten: der uneingeschränkte Führungsanspruch der Partei in allen sozialen Lebensbereichen, so auch in der Justiz und damit auch im Bereich der Strafverfolgung, sowie das in dieser Partei maßgebliche Führungsprinzip des demokratischen Zentralismus, das in seiner gesellschaftlichen Realität als strikte Hierarchieräson praktiziert wurde. In diese Hierarchie war die Staatsanwaltschaft schlicht mit eingebunden, als ein Element eines in sich nur schwach ausdifferenzierten Machtblocks. Sie war 7 So wurde etwa der Rechtspflegeerlaß des Staatsrats vom 4.4.1963 im Jahre 1972 zurückgenommen, zu einem Zeitpunkt also, da Honecker wohl Parteichef, nicht aber Staatsratsvorsitzender war.

• Der Bereich Militarstaatsanwaltschaft bleibt hier vollkommen unberücksichtigt, zumal den aufgeftlhrten Quellen kaum Material zu diesem Themenkomplex zu entnehmen war. 9 Eine solche Zuordnung könnte bestenfalls anhand des zwischen Parteiinstanzen und Staatsanwaltschaft funktionierenden Informationssystems gezeigt werden - einem durchaus wesentlichen Element des strukturellen Zusammenhanges von politischer Steuerung, auf das hier jedoch nicht naher eingegangen werden kann. Vgl. dazu Behlert (oben N. 6) 317.

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dies einmal in personeller Hinsicht aufgrund einer gegen 100 % gehenden Mitgliedschaft der Staatsanwälte in der SED sowie der entsprechenden Repräsentanz ihres Führungspersonals in den jeweiligen Parteigremien lO • Und sie war dies zum anderen aufgrund der gesetzlichen Verpflichtungen der Staatsanwaltschaft, "in Verwirklichung der Beschlüsse der Partei der Arbeiterklasse" tätig zu werden ll . So kam es rur den Verbindlichkeitsgrad einer Weisung in der Praxis staatsanwaltschaftlichen Handeins nur darauf an, von welcher Ebene der Herrschaftspyramide aus sie ergangen war. Strikt zu errullen waren demzufolge alle Anordnungen, die etwa direkt vom 1. Sekretär/Generalsekretär der SED, vom Sekretär rur Sicherheitsfragen oder aus der Abteilung rur Staats- und Rechtsfragen des ZK ergangen sind. Dabei spielt es rur die Darstellung dieses Gesamtzusammenhanges eine untergeordnete Rolle, daß aufgrund der Aufgaben- und Machtverteilung innerhalb des ZK dort nicht jeder über alles zu befmden hatte. Beispielsweise stand rur den Sekretär rur Sicherheitsfragen die Arbeit im Bereich der Justiz keinesfalls im Mittelpunkt. Nur wenige punktuelle Bezüge fmden sich in dem gesichteten Material zu direkten Eingriffen von ihm in Strafverfahren. So wird etwa in einem Spionageverfahren aus dem Jahre 1964 gegen einen dänischen Staatsbürger der damalige Sicherheitssekretär von GStA Streit konsultiert l2 • In das zweitinstanzliehe Verfahren im sogenannten Skinheadprozeß im Dezember 1987 vor dem Stadtgericht Berlin sowie in das Verfahren gegen die Schänder des jüdischen Friedhofs in Berlin Prenzlauer Berg im Juli 1988 vor dem dortigen Stadtbezirksgericht ist Krenz, offensichtlich auf persönliche Weisung Honeckers, eingeschaltet. Die Sekretariatsebene des ZK war aber vor allem diejenige, an die 10 So war GStA Josej Streit Mitglied des ZK der SED, sein Nachfolger Wendland Kandidat des ZK. Bezirksstaatsanwälte waren gleichzeitig gewählte SED-Bezirksleitungsmitglieder; Kreisstaatsanwälte gehörten, wenn auch nicht ausnahmslos, so doch in der Regel, den jeweiligen SEDKreisleitungen an. 11 § 1 Abs. 1 Gesetz über die Staatsanwaltschaft der DDR von 1977. 12 Von Interesse an diesem Vorgang ist vor allem, daß es hier der GStA Streit ist, der dem damaligen ZK-Sekretär Honecker Vorschläge unterbreitet, wie künftig in Strafverfahren gegen Ausländer verfahren werden sollte, nämlich: 1. In einfachen Fällen entscheidet der GStA(!), ob Haftbefehl zu beantragen ist. 2. In komplizierten Fällen wird hierzu die ZK-Abteilung rur Staats- und Rechtsfragen vom GStA konsultiert. 3. Bei Staatsverbrechen werden Honecker und der Staatssekretär im Außenministerium Winzer vom Minister rur Staatsicherheit Mielke infonniert. Die notwendigen Entscheidungen werden dann auf dieser Ebene getroffen. Bemerkenswert und rur die Realität der justiziellen Steuerungsdependenzen in der DDR von hoher Aussagekraft ist hierbei zum einen, daß das Justizorgan hier die Parteiinstanz quasi darum bat, professionelle Entscheidungen mitzutragen und sogar zu übernehmen; und zum anderen, daß Streit diesen Vorschlag Honecker erst zukommen lassen durfte, nachdem ihn Mielke korrigiert und genehmigt hatte (Bundesarchiv P-3, Nr. 5).

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der GStA seine zu verschiedenen Gelegenheiten anzufertigenden Berichte zu adressieren hatte, deren Inhalte wiederum mit der Abteilung Staats- und Rechtsfragen, insbesondere dort mit dem Sektor Justiz "abzustimmen", also von dort zu genehmigen waren. Vor allem in den frühen Jahren der DDR war die Abteilung darüber hinaus vor allem auch der Ort, an dem die Koordinierung zwischen MfS, Staatsanwaltschaft und Gericht in bedeutsamen politischen Strafverfahren bis hin - sofern das Politbüro dies nicht für sich selbst reserviert hatte zum Strafmaß vorgenommen wurde ll • Nach dem Wechsel Honeckers auf die Position des Generalsekretärs der SED hingegen wurde sie für diese Aufgabe kaum noch herangezogen. Das Politbüro seinerseits faßte zunächst Beschlüsse über die eher strategisch ausgerichteten allgemeinen Aufgabenstellungen der Staatsanwaltschaft, etwa zur Vorbeugung und Bekämpfung der Kriminalität. Es verfügte weiterhin Zeitpunkt und Umfang von Amnestien, nahm deren Verwirklichung aber auch gegebenenfalls selbst in die Hand, wie etwa bei jener für ehemalige Parteimitglieder im Jahre 1956 14 • Und schließlich schaltete es sich bekanntermaßen auch unmittelbar in strafprozessuale Abläufe ein, und zwar auf durchaus unterschiedliche Weise und auch über die bereits vielfältig besprochenen politischen Prozesse hinaus ls zu durchaus unterschiedlicher Gelegenheit. So bat offensichtlich GStA Streit noch einmal 1985 Generalsekretär Honecker, die Todesstrafe in einem Prozeß gegen einen fünffachen Mörder beantragen zu dürfen l6 , was dieser jedoch verwehrte. In einem anderen Fall wiederum, einem schweren Verkehrsunfall mit mehreren Kindern unter den Todesopfern, verlangte Honecker von Streit, die zuständige Staatsanwaltschaft möge die gesetzlich zulässige Höchststrafe (8 Jahre Freiheitsstrafe) beantragen. Um einen vollkommen anders gelagerten Fall ging es Ende der 80er Jahre: Die Generalstaatsanwaltschaft wollte gegen Mitglieder der "Initiative rur Frieden und Menschenrechte" um den Bürgerrechtler Wolfgang Templin wegen "staatsfeindlicher Hetze" ermitteln, was ihr jedoch, offenbar aus politischen Zweckmäßigkeitserwägungen heraus, von Honecker untersagt wurde 17 • In den Aktenvorgängen zu diesen und anderen Verfahren fmden sich dann Vermerke, wie etwa: "Einverstanden. E. H." oder auch: "Verfahren wird nicht durchgefilhrt. E. H." In andere Strafverfahren, namentlich in solche mit politischem Hintergrund, griff das Politbüro Il Vgl. Werkentin, Strafjustiz im politischen System der DDR: FundstUcke zur Steuerungs- und Eingriffspraxis am zentralen Parteiapparat der SED, in Rottleuthner (oben N. I) 93 ff., insbes. S. 122 f.; Behlert (oben N. 6) 324.

Bundesarchiv P-3, Nr. 5. Vgl. Werkentin (oben N. 13). 16 Die Todesstrafe wurde in der DDR, obgleich 1979 zum letzten Mal gegen eine Zivilperson ausgesprochen, erst 1987 als Strafart aus dem StGB der DDR herausgenommen. 17 Quellen bei Behlert (oben N. 6) 297, 311, 329. 14

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nicht unmittelbar ein, sondern ließ seine Festlegungen - etwa zu Strafanträgen in diesen Verfahren - über die Führungsspitze der Generalstaatsanwaltschaft sozusagen auf den ordentlichen Dienstweg bringen. Dies bedeutete u.a., daß der sachbearbeitende und mit der Terminswahrnehmung in der Hauptverhandlung beauftragte Staatsanwalt die Vorgaben hinsichtlich zu stellender Strafanträge insofern immer als Dienstanweisung vom GStA persönlich bzw. von dessen fiir die politische Abt. Ia zuständigen Stellvertreter erhielt, deren Ursprung er immer nur vermuten, jedenfalls nicht sicher wissen konntei". Insgesamt hatte der Staatsanwalt innerhalb seines system ischen professionellen Zusammenhangs demzufolge mit ganz unterschiedlichen Konstellationen umzugehen: Einmal fand er ganz selbstverständlich und quantitativ vorherrschend Entscheidungsfelder vor, die er selbständig auszufiillen hatte. War er sich hierbei unsicher, so konnte er entweder seinen dienstvorgesetzten Staatsanwalt oder aber auch die entsprechende Parteiinstanz konsultieren. Die letztgenannte Möglichkeit bestand jedenfalls zumindest dann, wenn er selbst Leiter einer Dienststelle war l9 • Er hatte sich in diesem Falle als Kreisstaatsanwalt an den 1. SED-Kreisleitungssekretär, als Bezirksstaatsanwalt an den 1. Bezirksleitungssekretär, als Generalstaatsanwalt oder als einer seiner Stellvertreter je nach konkreter Fallgestaltung an den zuständigen ZK-Sekretär, den Abteilungsleiter fiir Staats- und Rechtsfragen oder den dortigen Sektorenleiter fiir Justiz zu wenden 20 • So fragte beispielsweise der Generalstaatsanwalt, als er 1989 gegen Rainer EppeImann wegen dessen Organisierung des Widerstandes gegen die gefälschten Kommunalwahlergebnisse strafrechtlich vorgehen wollte, zunächst ZK-Sekretär Krenz, der seinerseits noch die entsprechende Zustimmung Honekkers einholte 21 • Andere Entscheidungen wiederum wurden, wie bereits ange18 Vgl. Behlert (oben N. 6) 325. Daß der Vertreter der Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung konkrete Weisungen hinsichtlich der zu stellenden Anträge erhielt, war an sich weder ungewöhnlich noch rechtswidrig. Routinemäßig wurden die Strafanträge in der Abteilung Ia beim aStA jedoch in kollektiver Absprache festgelegt. Eine entsprechende Weisung des stellv. aStA, die diese Routine durchbrach, legte daher grundsätzlich die Vermutung nahe, daß es sich hierbei um eine im Politbüro getroffene (und dort wiederum i.d.R. auch nur zwischen Honecker und Mielke am Rande einer Sitzung zustandegekommene) Festlegung handelte. 19 Auf die Kontakte zwischen den Parteisekretären und den jeweiligen territorialen Parteileitungen wird in diesem Zusammenhang nicht weiter eingegangen. Sie betrafen zwar auch dienstliche Angelegenheiten (Arbeitspläne, Berichterstattungen), waren jedoch weniger operativ angelegt. Insbesondere wurden in ihnen keine Einzelverfahren besprochen. 20 Um die kaum nachvollziehbaren Pfade in diesem Kompetenzendickicht noch einmal zu illustrieren: Obwohl J. Streit im Jahre 1962 vom Sektorenleiter Justiz in der ZK-Abteilung zum aStA aufgestiegen war, mußte er sich von seinem Nachfolger im früheren Amt nun bestimmte Diensthandlungen, etwa Umstrukturierungen in seiner Dienststelle, genehmigen lassen. Vgl. Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Zentrales Parteiarchiv, A2/13/152, ISS. 21 Vgl. Reuter. L.. Der widersprüchliche Prozeß der Erneuerung der Staatsanwaltschaft, in: Neue Justiz 1990,323.

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deutet, in den entsprechenden Dienststellen bzw. Abteilungen der Staatsanwaltschaft kollektiv beraten und entschieden. In wieder anderen Fällen bekam der Staatsanwalt, personell war das wiederum der Kreisstaatsanwalt, der Bezirksstaatsanwalt oder der GStA bzw. sein Stellvertreter, wie ebenfalls bereits gesehen, auch ungefragt Weisungen von der jeweiligen Parteiinstanz, die er entweder selbst ausführte oder als Dienstanweisung an die ihm unterstellten Staatsanwälte weitergab. Alle diese Konstellationen der Steuerung professionellen staatsanwaltlichen Handelns waren denkbar. Keinen Sinn würde es jedoch machen, in ihnen etwa zwischen systemischen und systemfremden Steuerungsvarianten zu differenzieren: Jede von ihr!en war ein und demselben systemischen Zusammenhang zuzurechnen, der einem ganz bestimmten Rechtsverständnis folgte, nämlich dem vom Recht als einem klassendeterminierten Herrschafts-Instrument (die Betonung liegt auf beiden Wortteilen). Für ein derartiges, funktional vergleichsweise nur schwach ausdifferenziertes System sind jedoch signifIkanterweise zwei Aspekte auffiillig. Der erste ist darin zu sehen, daß in ihm einzelne Machtpositionen nur schwer eindeutig gegeneinander abzugrenzen sind. So stand es etwa fraglos außerhalb der Möglichkeiten eines Kreisleitungssekretärs, den territorial zuständigen Kreisstaatsanwalt zu prozessualen Handlungen (etwa: Beantragung eines Haftbefehls) zu veranlassen, rur die sich der GStA eine ausdrückliche Genehmigungspflicht vorbehielt22 • Erst recht nicht noch einmal einer gesonderten Erläuterung bedarf es, daß auf der anderen Seite der GStA gegenüber dem ZK der SED strikt weisungsgebunden war. Komplizierter aufzulösen waren hingegen Situationen, in denen die Rechtsauffassung des GStA mit der Ansicht etwa eines Bezirksleitungschefs dazu, welches Verhalten der Staatsanwaltschaft politisch wünschenswert wäre, differierten. Dies gelingt schon gar nicht, wenn auf einer eher funktional angelegten Darstellungsebene ein allein an den dargestellten Strukturen haftender Blick außer Betracht läßt, worauf derartige Steuerungssysteme strikt angewiesen sind, nämlich auf eine hohe Konformitätsbereitschaft und damit wiederum verbunden auf eine beachtliche Selbststeuerungskompetenz ihrer Teilsysteme. Sie ermöglichte innerhalb des funktionalen Realzusam22 Z. B. bei Wirtschaftsfunktionären oder im Wohnungsbau, dem "Kernstück" der Sozialpolitik, tätigen Bauleitern; ftlr eine Bestrafung eines hauptamtlichen Parteifunktionärs wegen eines Deliktes aus dem Bereich der allgemeinen Kriminalität konnte in der Untersuchung nicht ein einziges Beispiel ermittelt werden. 23 Eine derartige Konstellation wird bspw. aus dem Jahre 1984 ftlr den Bezirk Potsdam berichtet. Die konkrete Situation in diesem Bezirk ließ es seinerzeit politisch angezeigt erscheinen, entschiedene strafrechtliche Härte gegen jugendliche Gewalttäter zu demonstrieren. Der dortige 1. Bezirksleitungssekretär verlangte daher im berichteten Fall in Übereinstimmung mit der Polizeiftlhrung des Bezirks, mehrere Jugendliche wegen Raubes im schweren Fall zu inhaftieren. Die zuständige Staatsanwaltschaft sah in der fraglichen Handlung jedoch eher einen "dummen Streich" und wurde in dieser Auffassung von der GStA unterstützt. Durchsetzen konnte sich letztlich die SED-Seite (vgl. Näheres und Quelle bei: Behlert (oben N. 6) 327).

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menhangs zwischen Staatsanwaltschaft und Parteiführung eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Einzelfallgestaltungen: Gelegentliche Abweichungen in der politischen und rechtlichen Beurteilung von Sachfragen auszugleichen, hatte der Staatsanwalt durchaus grundsätzlich die Möglichkeit sowohl im direkten Dialog mit der zuständigen Parteiinstanz oder auch auf dem Umweg über seine dienstvorgesetzte Stelle, die ihrerseits dann in solchen Fällen über Kontakte auf der übergeordneten Partei ebene zu vermitteln versuchen konnte. Auch auf Dauer angelegte Konflikte etwa zwischen 1. Kreisleitungssekretär und Kreisstaatsanwalt waren rur letzteren, wie zumindest in einem Fall recherchiert werden konnte, durchaus aushaltbar24 • Schließlich nahm auch GStA Streit, seinerseits selbst ZK-Mitglied, durchaus nicht jede Entscheidung der ZK-Abteilung für Staats- und Rechtsfragen bzw. deren Sektors Justiz widerspruchslos hin. Selbst mit Politbüro-Mitglied und Staatssicherheitschef Mielke legte er sich gelegentlich - und im Ton durchaus scharf - an2S • Zweitens aber machte ein harmonisches Grundverhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Parteiinstanz, innerhalb der sich der Staatsanwalt durchaus nicht fachlich entmündigt, sondern professionell akzeptiert filhlte, durchaus einen großen Teil seiner beruflichen Alltagserfahrung aus. In welcher dieser Konstellationen aber auch immer Staatsanwälte und Parteifunktionäre zusammenfanden, nie kann in ihnen die Annahme auf Seiten der Staatsanwaltschaft unterstellt werden, die Partei sollte in ihrem professionellen Aufgabenbereich besser außen vor bleiben. Genau dieser Punkt ist es, der - auf den ersten Blick vielleicht sogar paradoxerweise - eine Vorstellung verhindert, nach der sich die Staatsanwaltschaft gegenüber der Partei führung in einer Position totaler Außensteuerung befunden hätte. Es gehörte vielmeht: schlicht zum beruflichen Selbstverständnis eines Staatsanwaltes, funktional ni"einem Zwischenbereich von juristischer und politischer Kompetenz angesiedelt zu sein, rechtliche Fragen zugleich auch als politische Fragen zu betrachten und zu entscheiden. Die Veranlassungen und Stabilisierungsfaktoren eines derartigen professionellen Selbstverständnisses sind äußerst facettenreich und werden sich hier nicht bis ins letzte aufklären lassen. Sie sind nicht zuletzt in allgemeinen Sozialisationsformen, wie sie in der DDR typischerweise angelegt waren, begründet. Einige Stichworte hierzu wären jedenfalls: antifaschistischer Neubeginn, Mauer, permanente Auseinandersetzung mit dem anderen deutschen Staat ... Die in ihnen herausgebildeten Grundmuster sozialen Verhaltens wurden, jedenfalls filr Staatsanwälte, noch selektiv verstärkt durch eine Kontrolle des Zugangs zum Beruf, eine Kontrolle während des Stu-

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Mitgeteilt in einem der erwähnten Interviews.

Vgl. hierzu von Streit an Mielke gerichtete Briefe vom 9.10. sowie vom 19.12.1962, Bundesarchiv P-3, Nr. 4. 2S

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diums und schließlich durch Kontrolle im Berup6. Zwei Aspekte, die filr die berufliche Sozialisation in der DDR in besonderer Weise einschlägig waren, seien jedoch noch erwähnt. Es war dies zum einen, wie bereits in anderem Zusammenhang erwähnt, der vollständige Abbruch der namentlich in Deutschland herausgebildeten Rechtsstaatstradition. Keineswegs aus dem Blick geraten dürfen hierbei zunächst die realen historischen Veranlassungen filr diesen Vorgang, etwa die Erfahrung vieler Protagonisten der DDR-Staats- und Rechtsordnung der frühen Jahre mit einer Weimarer Justiz, die ihre politische Einäugigkeit immer wieder über das Rechtsstaatspostulat legitimierte, das Verbot der KPD und die strafrechtliche Verfolgung ihrer Mitglieder, der Umgang der bundesdeutschen Justiz mit den "Furchtbaren Juristen" (Ingo Müller) des nationalsozialistischen "Dritten Reiches" u.a.m. Auf die theoretische Erklärung dieses Vorgang sollte jedoch im Kontext dieser knappen Darstellung verzichtet werden können. Sie mündete jedenfalls in eine Überzeugung von der notwendigen Einheitlichkeit einer sozialistischen Staatsmacht, aus der sich letztlich auch das Selbstverständnis der Akteure des Rechtsstabes, Staatsfunktionäre zu sein wie andere auch, herleitete. Die Stelle des Rechtsstaatsgedankens war bekanntlich in der DDR besetzt von der Idee und der Methode der sozialistischen Gesetzlichkeit. Die Funktion des Wächters über die Einhaltung der Gesetzlichkeit war im Rechtssystem der DDR der Staatsanwaltschaft zugewiesen. Schon dieser Umstand allein mag, zusammengedacht mit ihrem juristisch-politischen doppelten Rollenverständnis, dann zweitens ein Hinweis auf einen extrem diffusen Gesetzesbegriff sein: Als oberstes Gesetz galt allemal das Wort der Parteifilhrung. Dies bezieht sich nicht nur auf exponierte Entscheidungssituationen von größerer politischer Reichweite. Dies war vielmehr auch und gerade filr das professionelle Alltagsverhalten von Staatsanwälten leitend. Um hierzu noch einen letzten, eher illustrierend gemeinten Gedanken einzufilhren: Wollte sich ein Jurist in der DDR etwa bei der Auslegung einer Rechtsnorm der ihm zu Gebote stehenden methodischen Voraussetzungen vergewissern, so standen ihm hierfilr exakt zwei filr Universitäten in der DDR als Lehrbücher zugelassene Werke zur Verfilgung. Das erste, von DDR-Autoren verfaßte, widmete dieser Problematik in seiner ersten Auflage von 1975 insgesamt zwei von 674 Druckseiten27 • Die ansonsten geläufige Methode der teleologischen Auslegung kommt hier allerdings zumindest in dieser Form nicht vor. An ihrer Stelle fmdet sich hingegen eine soziologisch26 Zum Studium mit dem Berufsziel Staatsanwalt wurde in der DDR nur zugelassen, wer hierzu von einer Bezirksstaatsanwaltschaft delegiert wurde. Wahrend des Studiums ftlhrte die Generalstaatsanwaltschaft Lehrgänge mit den Studierenden durch und übernahm auch selbst Vorlesungen zu speziellen Gebieten des Strafrechts. Im Beruf standen vor allem Disziplinar- und Parteiverfahren als Institute der Kontrolle zur Verftlgung. 27 Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie (I. Aufl. Berlin (DDR) 1975) 447-479.

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funktionale Methode: "Sie nutzt die Erklärungen zentraler Leitungsorgane der sozialistischen Gesellschaft [Hervorhebung d. Verf.; also nicht des Staates, mithin also in erster Linie der Parteifuhrung] zu den gegenwärtigen Erfordernissen, Funktionen und Aufgaben des Rechts, um daraus Folgerungen fur den gegenwärtigen Sinn der Rechtsnormen abzuleiten"23. Noch deutlicher wird ein sowjetisches Lehrbuch, das in einer vierbändigen Ausgabe mit einem Gesamtumfang von über 2000 Druckseiten 15 davon fur die Darstellung der juristischen Methodenlehre reserviert. Sie fuhrt in ihrem Arsenal eine historisch-politische Auslegungsmethode, die sich auf "einen breiten Kreis von Materialien und Dokumenten" stützt: "Beschlüsse der Parteiorgane, Äußerungen bekannter Partei- und Staatsfunktionäre, Literatur, die die Politik der kommunistischen Partei widerspiegelt USW."29 Dies alles mag verdeutlichen: Der ideologische und sozialisatorische Hintergrund der Staatsanwälte in der DDR war nicht durch rechtsphilosophische, sondern durch sozialtheoretische Sätze (resp. Versatzstücke) ausgelegt. Sie handelten in der Annahme, einem allen anderen real existierenden Gesellschaften überlegenen Gemeinwesen zu dienen, welches per defmitionem als frei und gerecht anzusehen war. Innerhalb eines solchen Grundverständnisses konnten Legalität, Freiheit des einzelnen, Rechtssicherheit niemals als Zweck, als Wert an sich vorkommen, sondern immer nur als Mittel zum Zweck. 3. Ergebnis

Es war also zu zeigen: Eine Annahme, die Staatsanwälte hätten sich als Erfullungsgehilfen, als Knechte, Büttel der Partei (oder übrigens auch des MfS) mißbrauchen lassen, wäre absurd. Sie begriffen sich als politisch verantwortlich handelnde Subjekte. Das heißt: Sie entschieden immer zugleich politisch und juristisch, wo sie sich dafur verantwortlich hielten. Sie versuchten, justizexterne Instanzen zur Korrektur ihrer Entscheidungen zu bewegen, wo sie sie juristisch und daher auch politisch fur fehlerhaft hielten. Sie forderten solche Entscheidungen an, wenn sie glaubten, an die Grenzen ihrer eigenen politischen Kompetenz gelangt zu sein, und sie ordneten sich ihnen bedingungslos unter, wenn und insofern sie an die größere Kompetenz dieser Instanzen glaubten. Das System politischer Steuerung, in dem sie sich befanden, hatte nicht ihre willenlose Unterwerfung, sondern ihre subjektive Kooperationsbereitschaft zur Voraussetzung, was freilich auch heißt: ihre subjektive Bereitschaft zur Unterordnung. Allerdings: Genau ein solches System dezentraler Kontextsteuerung, in das 23 Ebd.479. 29 Marxistisch-leninistische allgemeine Theorie des Staates und des Rechts, Bd. 4 (Berlin

(DDR) 1976) 334.

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diskursive Konfliktbeilegung als Programm eingebaut war, erzeugte auch jene bekannte Atmosphäre vorauseilenden Gehorsams. Denn auch und gerade der "Linientreueste" befragte sich in ihm ständig selbst, ob er denn auch politisch richtig entscheide oder ob an seinem Handeln "ideologische Unklarheiten", Fehler, oder gar ein "Zurückweichen vor dem politischen Gegner" zu bemerken sei. Dies mußte in der Konsequenz nicht nur zu einer permanenten Selbstdisziplinierung fuhren, sondern auch zu beträchtlichen Unsicherheiten, die sich dann notwendigerweise in ständigem Rückversichern, Entscheidungsdelegierungen oder aber auch in überzogener juristischer Härte Geltung verschaffen.

II. SYSTEMWECHSEL UND STRAFRECHT

Hartmuth Horstkotte

RECHTSBEUGUNG DURCH RICHTER UND STAATSANWÄLTE IN DER DDR. EIN BERICHT ÜBER DIE NEUERE RECHTSPRECHUNG* J. Überblick

Die Frage, wie das Verhalten von Richtern und Staatsanwälten der DDR bei der Anwendung des DDR-Rechts, insbesondere des politischen Strafrechts der DDR, unter dem Gesichtspunkt der Rechtsbeugung (§ 336 StGB; § 244 des Strafgesetzbuches der DDR von 1968) strafrechtlich zu bewerten ist, beschäftigt die Staatsanwaltschaften und Gerichte der Bundesrepublik Deutschland seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Erhebliche Bedeutung für die Praxis haben die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs, von denen hier berichtet werden soll'. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat mit dem Urteil des 5. Strafsenats vom 13. Dezember 1993 (BGHSt 40, 30 - Berliner Arbeitsrichter) eingesetzt. Es folgten die Urteile des 4. Strafsenats vom 6. Oktober 1994 (BGHSt 40, 272 - Schweriner Soldatenvereidigung) und des 3. Strafsenats vom 5. Juli 1995 (BGHSt 41, 157 - Dresdner Arbeitsrichter). Der 5. Strafsenat hat sodann mit fünf Urteilen vom 15. September 1995 2 die Grundlinien seiner Entscheidung • Erweiterte und aktualisierte Fassung meines mündlichen Referats. , Ich habe bis zur Altersgrenze (April 1996) dem 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs angehört und daher bei meinem mündlichen Referat mehr Zurückhaltung üben müssen als heute. Der Inhalt des Berichts ist ausschließlich von mir zu verantworten. Diese Selbstverständlichkeit auszusprechen habe ich Anlaß. Wassermann spekuliert in einem Aufsatz (Recht und Politik 1996, S. 132, 136, 137) über den Bewußtseinsstand der Richter des Bundesgerichtshofs und ihren bestimmten, politischen Willen, der in einer Rechtsprechung zum Ausdruck komme, die, contra legern und vom Rechtsstaat abweichend, die große Masse der DDR-Justiztäter, die Unrecht getan und die Menschenrechte verletzt haben, von Strafe freistelle. Ein Tagungsbericht (Raschka, Deutschland-Archiv 1996, 783) zitiert Wassermann mit der Äußerung, die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sei skandalös und kümmerlich. Möglicherweise wird mein Bericht weitere Spekulationen und Wortschöpfungen inspirieren. Sie mögen nur mich treffen. 2 5 StR 713/94, BGHSt 41,247 ; 5 StR 642/94, BGHR StGB § 336 DDR-Recht 11; 5 StR 23/95, BGHR StGB § 336 Staatsanwalt 2; 5 StR 68/95, BGHR StGB § 336 DDR-Recht 9; 5 StR 168/95, BGHR StGB § 336 Staatsanwalt 1, Rechtsbeugung 3, DDR-Recht 7, 8, 10. Die zitierten Fundorte aus der Sammlung BGHR bezeichnen Abdrucke zu Teilfragen. Ein ausftlhrlicher Bericht über diese Entscheidungen findet sich bei Spendet, JR 1996, 177.

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vom 13.12.1993 und der anderen Urteile auf verschiedene Fallkonstellationen der politischen Strafjustiz der DDR angewandt und weiter entfaltet, zum al in den in BGHSt 41, 247 abgedruckten Ausführungen (Fall einer Staatsanwältin beim Generalstaatsanwalt der DDR). Weitere wichtige Entscheidungen zur Handhabung des politischen Strafrechts in der DDR waren das Urteil des 3. Strafsenats vom 15. November 1995 (NStZ 1996,385 -Vorsitzender am Dresdner Bezirksgericht) und zwei Urteile des 4. Strafsenats vom 30. November 1995 (NStZ RR 1996, 69 - Staatsanwalt aus Neubrandenburg; NStZ 1996, 65 - Richter und Staatsanwalt aus Magdeburg). Das Urteil des 5. Strafsenats vom 16. November 1995 (BGHSt 41, 317 - Beisitzer am Obersten Gericht) betraf erstmals die Mitwirkung eines Richters an Todesurteilen. Weitere Entscheidungen des 5. Strafsenats haben sich mit der Tätigkeit von Militärstaatsanwälten (BGHSt 40, 169 sowie Beschluß vorn 21. Mai 1996 - 5 StR 737/95), mit der Aburteilung von Zeugen Jehovas durch das Oberste Gericht der DDR im Jahre 1950 (Urteil vom 20. Juni 1996 - 5 StR 54/96, NJ 1997, 35) und mit Haftbefehlen im Vorfeld der Berliner Rosa - Luxemburg - Demonstration vom 17. Januar 1988 befaßt (Urteile vom 22. Oktober 1996 -5 StR 140/96 und 5 StR 232/96). In einem mittelbaren Zusammenhang mit Fragen der Rechtsbeugung stehen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs gegen Denunzianten, die eine Strafverfolgung wegen Vorbereitung zur Republikflucht und wegen anderer Tatbestände des politischen Strafrechts der DDR ausgelöst hatten (vgl. BGHSt 40, 125 sowie die Entscheidungen vorn 8. Februar 1995 - 5 StR 157/94, NStZ 1995, 288, vom 16. Oktober 1996 - 3 StR 354/96 - und vom 23. Oktober 1996 5 StR 183/96 und 5 StR 695/95); auf sie soll hier nicht im einzelnen eingegangen werden. Im November 1996 stellte sich der Stand der Verfahren gegen Richter und Staatsanwälte der DDR, mit denen der Bundesgerichtshof befaßt gewesen ist, wie folgt dar: Zwei Verfahren (gegen einen Richter des Obersten Gerichts Mitwirkung an Todesstrafen - und einen Militärstaatsanwalt) sind mit rechtskräftigem Schuld- und Strafausspruch abgeschlossen worden. Ferner sind bei einer Richterin des Stadtgerichts in Berlin, bei einem Richter des Bezirksgerichts Dresden sowie bei zwei Berliner Staatsanwältinnen Schuldsprüche rechtskräftig geworden; die Strafaussprüche waren hier noch nicht rechtskräftig. Es ist nicht ausgeschlossen, daß es weitere rechtskräftige Verurteilungen in Rechtsbeugungsverfahren gegeben hat, die nicht zum Bundesgerichtshof gelangt sind. In drei weiteren Verfahren hat der Bundesgerichtshof Freisprüche aufgehoben; hier muß erneut über den Schuldspruch entschieden werden. Acht Angeklagte sind rechtskräftig freigesprochen worden, weil der Bundesgerichtshof den Freispruch der Vorinstanz bestätigt oder selbst auf Freispruch erkannt hat. In den Verfahren, die mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs noch nicht abgeschlossen waren, hat der Bundesgerichtshof bei einer Reihe von Anklagepunkten (Teil-)Freisprüche der Vorinstanz bestätigt oder selbst ausge-

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sprochen. In weiteren Verfahren aus neuester Zeit haben die Gerichte erster Instanz zum Teil nicht unerhebliche Strafen verhängt; über die dagegen eingelegten Revisionen ist noch nicht entschieden. Nach Presseberichten waren im August 1996 neben ungefähr 5000 Ermittlungsverfahren noch 38 Anklagen gegen 80 Angeklagte anhängig3 • Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der anderen Gerichte wird aus zwei Richtungen kritisiert: Von den Verteidigern der angeklagten Richter und Staatsanwälte der DDR wird beanstandet, daß das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG nicht genügend beachtet werde: Soweit sich die inkriminierten Entscheidungen der Richter und Staatsanwälte der DDR im Rahmen der damals üblichen Praxis gehalten hätten, seien sie niemals gesetzwidrig im Sinne des Rechtsbeugungstatbestands (§ 244 StGB-DDR) und deshalb auch keine Rechtsbeugung gewesen. Die entgegengesetzte Kritik in der Literatur macht geltend, daß die Rechtsprechung mit den Richtern und Staatsanwälten der DDR zu großzügig umgehe und damit einen Fehler wiederhole, der ihr im Hinblick auf die Beurteilung der Richter und Staatsanwälte des nationalsozialistischen Staates vorzuwerfen sei. Auch heißt es, daß die vielen wegen Totschlags verurteilten Soldaten der Grenztruppen der DDR mit strengerem Maß gemessen würden als die Richter und Staatsanwälte. Es erregt Unmut, daß die Gerichte der Bundesrepublik das Recht der DDR anwenden und dabei detaillierte Überlegungen zu seiner Auslegung anstellen'. 2. Zwei zentrale juristische Gesichtspunkte

Zwei juristische Gesichtspunkte erschweren offenbar die Akzeptanz der Rechtsprechung in Rechtsbeugungssachen.

Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 16.8.1996. Eine eingehende Auseinandersetzung mit den kritischen Einwänden der Literatur, zumal mit den Arbeiten von Spendei (IR 1994,221; 1995,215; 1996, 177; JZ 1995,375; NJW 1996,809), ist nicht Aufgabe dieses Berichtes. Gegenpositionen werden aber durchscheinen. Spendeis Studie "Rechtsbeugung durch Rechtsprechung" (1978) ist noch immer grundlegend, vor allem fUr die Analyse der Rechtsprechung zur NS-Justiz. Kritik an der hier besprochenen Rechtsprechung in DDR-Sachen üben u.a. Bemmann, JZ 1995, 124; Ola! Hohmann, DtZ 1996, 230; Ulrike Homann, Kritische Justiz 1996, 494; Peschel- GutzeitlJenckel in: Peschel-Gutzeit (Hrsg.), Das Nürnberger Juristen-Urteil von 1947 (1996) S. 277, 292 ff.; Friedrich-Christian Schroeder, DRiZ 1996,81,87; Tröndle, StGB (48.Aufl.1997) vor § 3 Rdn. 49a-49g; Wassermann, NJW 1995, 2965 sowie Deutschland-Archiv 1996,938. Differenziert in der Beurteilung der Judikatur: Amelung, GA 1996, 51, 59 ff.; Hirsch, Rechtsstaatliches Strafrecht und staatlich gesteuertes Unrecht (1996) S.23 ff.; Roggemann, IZ 1994, 769, 715; Schreiber, ZStW 107 (1995) 157, 172 ff. AusfUhrliche, auch rechtstatsächliche Problemdarstellung bei DeveslWeinke, Deutschland-Archiv 1995, 1014. 3

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2.1 Regelung des Einigungsvertrages, § 2 Abs. 3 StGB

Nach dem Regelwerk des Einigungsvertrages (EV)S und des Strafgesetzbuches (Art. 315 des Einruhrungsgesetzes zum Strafgesetzbuch in der Fassung des EV; § 2 Abs. 3 StGB) ist auf Straftaten, die von Angehörigen der DDR in der DDR begangen worden sind, grundsätzlich das Recht der DDR anzuwenden. An dessen Stelle tritt das Recht der Bundesrepublik Deutschland, soweit es zu milderer Beurteilung als das DDR-Recht ruhrt. Als milderes Recht wäre das Recht der Bundesrepublik auch dann anzuwenden, wenn es überhaupt keine Strafbarkeit im Sinne der Rechtsbeugungsvorschriften vorsähe. a) In diesem Zusammenhang war zu prüfen, ob Richter und Staatsanwälte der DDR etwa deswegen von der Strafbarkeit nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland ausgenommen sind, weil sie nicht das durch § 336 StGB geschützte Gut einer rechtsstaatlichen Justiz verletzt haben. Die Auffassung, daß eine Unrechtskontinuität fehle und deswegen keine Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung gegeben sei, ist in der Literatur vertreten worden". Der Bundesgerichtshof hat die Frage geprüft (BGHSt 40, 30, 34 ff.); er ist zu einem abweichenden Ergebnis, also zur grundsätzlichen Möglichkeit einer Bestrafung wegen Rechtsbeugung gelangt. aa) Der Bundesgerichtshof hat eingeräumt, daß es gewichtige Gründe rur die Ansicht gibt, die Zweckbestimmung des Rechtsbeugungstatbestandes des DDR - Rechtes lasse sich nicht mit der Verbotsmaterie des § 336 StGB vergleichen: Die Gerichte der DDR hatten nach § 3 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) der DDR vom 27. September 1974 (GBI. I S. 457) "zur Lösung der Aufgaben der sozialistischen Staatsrnacht bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft beizutragen". Die Staatsanwaltschaft sollte nach den §§ 1, 2 des Gesetzes über die Staatsanwaltschaft der DDR vom 7. April 1977 (GBI. I S. 93) "in Verwirklichung der Beschlüsse der Partei der Arbeiterklasse" auf der Grundlage der Rechtsvorschriften "über die strikte Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit" wachen und daran mitwirken, "grundlegende Voraussetzungen rur den allmählichen Übergang zum Kommunismus" zu schaffen. In dem offiziösen DDR-Lehrbuch "Grundlagen der Rechtspflege" hieß es, die Beschlüsse der SED bildeten rur die Tätigkeit der Justiz die "unabdingbare Grundlage"1, und die Organe der sozialistischen Rechtspflege seien der "LeiS Einigungsvertrag vom 31.8.1990 (BGB!. 11 669), Anl.l, Kap. III, Sachgebiet C, Abschn. 11, Nr.\b. " Vormbaum, StV 1991, 180 und NJ 1993,214. 7 Autorenkollektiv unter Leitung von Kurt Wünsche, Grundlagen der Rechtspflege (2.Aufl.\986) S. 22. Grundlegende Darstellungen der tatsächlichen Verhältnisse: Rottleuthner et al., Steuerung der Justiz in der DDR (1994) und Werkentin, Politische Strafjustiz in der Ära VIbricht (1995).

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tung und Kontrolle" der Volkskammer "untergeordnet"8. Den Richtern der DDR, die wegen "gröblicher Verletzung der Grundpflichten" von der Volksvertretung abberufen werden konnten (§ 53 GVG-DDR), sicherte die DDRVerfassung (Art. 96) zwar zu, daß sie "in ihrer Rechtsprechung unabhängig" seien. Sie waren indessen einer im westlichen Rechtsstaat ganz unbekannten systematischen Einflußnahme durch die Gerichtsdirektoren, durch die Mitglieder der vorgeordneten Gerichte, durch "Gemeinsame Standpunkte" des Obersten Gerichts und des Generalstaatsanwalts sowie durch Richtlinien des Obersten Gerichts ausgesetzt. Auch wenn nur den Richtlinien des Obersten Gerichts gesetzesgleiche Verbindlichkeit zukam (§ 39 Abs. 1 GVG-DDR), so galten doch die anderen Formen der Einflußnahme ebenfalls de facto als verbindlich, zumal da sie dem demokratischen Zentralismus, einem Verfassungsprinzip (Art. 47 Abs. 2 der DDR-Verfassung in der Fassung von 1974), zugeordnet wurden. Dies gilt auch für die informellen Einflüsse durch Anrufe ("Telefonjustiz") und anläßlich der "Montagsbesprechungen", zu denen der Gerichtsdirektor die Richter seines Gerichts regelmäßig versammelte. Inhaltlich war diese Einflußnahme ganz überwiegend durch Impulse bestimmt, die unmittelbar oder mittelbar (vermittelt auch durch das Justizministerium) auf die SED zurückgingen. bb) Sprachen diese Gesichtspunkte gegen eine Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung (die allerdings in beschränktem Umfang durch eine Strafbarkeit wegen Freiheitsberaubung, bei Todesstrafen unter Umständen auch wegen Totschlages, hätte kompensiert werden können), so hat der Bundesgerichtshof doch aus einer anderen Perspektive den Tatbestand der Rechtsbeugung (§ 336 StGB) grundsätzlich für anwendbar gehalten: Unbeschadet der ideologischen und politischen Inanspruchnahme des Strafrechts gab es ein breites Spektrum von Gemeinsamkeiten der Justizpraxis in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR: In beiden Rechtsordnungen erfüllte die Justiz Aufgaben der neutralen Streitschlichtung, der Regelung familienrechtlicher Angelegenheiten und auch der Verfolgung und Verhütung von Alltagskriminalität. "Vor diesem Hintergrund einer auf weiten Strecken ungeachtet vielfältiger Pressionen einigermaßen neutralen Rechtsprechung erscheinen Fälle, in denen elementare Menschenrechte materieller und prozessualer Art durch Justizentscheidungen verletzt wurden, als ein Mißbrauch, der, sei es unter Druck, sei es im Einverständnis des Richters mit der Unterdrückung solcher Menschenrechte durch die SED, sei es gar als individueller Exzeß des Richters, stattgefunden hat" (BGHSt 40, 30, 39). Mit anderen Worten: Der Einsatz des Strafrechts zu politischen und den Menschenrechten zuwiderlaufenden Zwecken wird nicht als ein die DDR-Justiz ganz allgemein kennzeichnendes Merkmal, sondern als Mißbrauch der Justiz im Einzelfall verstanden; solcher Mißbrauch war nicht selten, hindert aber nicht, in 8

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Wünsche (FN 7), S.24.

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der Rückschau anzuerkennen, daß es in der DDR Richter und Staatsanwälte gegeben hat, die die Aufgaben, welche sich der Justiz in jeder Gesellschaft stellen, sachgemäß erfüllt haben. Der Bundesgerichtshof nennt in diesem Zusammenhang, soweit das Strafrecht betroffen ist, die Verfolgung und Aburteilung von Kapital-, Sexual- und Gewaltdelikten und auch von "vielen Vermögensdelikten" (aaO S. 39), wobei die etwas größere Distanzierung bei den Vermögensdelikten mit der Beobachtung zusammenhängt, daß die DDR-Justiz auf Vermögensdelikte zumal junger Täter mit einer oft unvertretbar harten Strafzumessung reagiert hat. Dieses komplexe Bild der Justiz in der DDR ist es gewesen, das schließlich die Anwendung des § 336 StGB auf die Richter und Staatsanwälte der DDR ermöglicht hat; dieselbe Einschätzung liegt ersichtlich auch der Regelung des Einigungsvertrages zugrunde, nach der Berufsrichter der DDR nicht generell ungeeignet für die Berufung in ein Richterverhältnis sind (vgl. BGHSt 40, 30, 40 und BVerwG, DtZ 1996, 118; 1997,39). Das bedeutet, daß eine Bestrafung wegen Rechtsbeugung grundsätzlich möglich ist, allerdings unter der zusätzlichen Voraussetzung, daß auch der Rechtsbeugungstatbestand des § 244 StGBDDR anwendbar ist. Eine differenzierende Betrachtungsweise in dem Sinne, daß Entscheidungen über Fälle gewöhnlicher Kriminalität nach § 336 StGB beurteilt werden, die Anwendung politischen Strafrechts dagegen nicht, erschien wegen des paradoxen Ergebnisses nicht plausibel, überdies unpraktikabel, weil auch allgemeine Straftatbestände, zum al des Wirtschaftsstrafrechts, zur Verfolgung politischer Gegner benutzt worden sind. Wäre andrerseits eine gänzliche Unvergleichbarkeit beider Justizsysteme angenommen worden, so wäre der Rechtsbeugungstatbestand als Grundlage der· strafrechtlichen Bewertung ausgeschieden; man hätte dann - wahrscheinlich auf das Strafrecht und dort auf Todes- und vollstreckte Freiheitsstrafen beschränkt - eine Bestrafung wegen Totschlages und Freiheitsberaubung in Betracht ziehen müssen. b) Die durch § 2 Abs. 3 StGB (i.V. mit Art. 315 Abs. 1 EGStGB idF des Einigungsvertrages) gebotene Ermittlung des im Einzelfall milderen Rechts ist im Hinblick auf den subjektiven Tatbestand von erheblicher praktischer Bedeutung: Nach dem Recht der DDR (§ 244 StGB) war wegen Rechtsbeugung nur strafbar, wer wissentlich gesetzwidrig entscheidet; gegenüber dem seit 1975 geltenden Recht der Bundesrepublik Deutschland, das den bedingten Rechtsbeugungsvorsatz genügen läßt, ist das Recht der DDR insoweit als milder anzusehen. Kommt allerdings eine Strafe in Betracht, die nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland zur Bewährung ausgesetzt werden kann, so ist dieses Recht das mildere; das Recht der DDR sah zwar eine niedrigere Mindeststrafe und eine wesentlich schärfere Höchststrafe vor, gestattete jedoch bei der Rechtsbeugung keine Verurteilung auf Bewährung.

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2.2 Rückwirkungsverbot

Des weiteren hängen die Schwierigkeiten in den Rechtsbeugungsverfahren mit den Auswirkungen des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbotes zusammen. Nach Art. 103 Abs. 2 GG kann eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Zu den Tatbestandsmerkmalen, die nach dem Recht der DDR die Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung begründen (§ 244 StGB-DDR), gehört, daß die Entscheidung des Richters oder Staatsanwalts "gesetzwidrig" war. Die Tatbestandsmäßigkeit nach dem Recht der DDR, die aufgrund des Einigungsvertrages (Art. 315 EGStGB, § 2 Abs. 3 StGB) auch Voraussetzung rur die Strafbarkeit nach heutigem Recht ist, hängt demnach davon ab, daß mit der Tat gegen die Gesetze, und zwar die Gesetze der DDR, verstoßen worden ist. a) Die Gerichte der Bundesrepublik Deutschland sind also verpflichtet, bei der Aburteilung von Richtern und Staatsanwälten der DDR das Recht der DDR zu beachten9 .Wer fremdes Recht anwendet, muß es auch auslegen. Darur gelten die Auslegungsregeln der fremden Rechtsordnung. Diese werden zwar zum Teil mit den Auslegungsgrundsätzen des eigenen Rechts übereinstimmen, etwa in dem Sinne, daß der Gesetzeswortlaut die Grenze rur die Auslegung der Straftatbestände bezeichnet. Es verbleibt aber ein weites Feld von Auslegungsregeln des fremden Rechts, die von den Grundsätzen abweichen, nach denen ein unabhängiger Richter in der Bundesrepublik Deutschland das Gesetz auszulegen hat. Dazu gehört insbesondere die rechtliche Verbindlichkeit und die faktische Bindungswirkung, die sich rur den Richter der DDR nicht nur aus den Richtlinien des Obersten Gerichts, sondern auch aus den "Gemeinsamen Standpunkten" und aus den anderen Formen systematischer, zentraler Steuerung der Rechtsprechung ergaben. Würde man diese Einwirkungen bei der nachträglichen Beurteilung, was zur Zeit der Entscheidung "gesetzwidrig" im Sinne des § 244 StGB-DDR gewesen ist, außer Betracht lassen und die Richter und Staatsanwälte der DDR nach den Anforderungen beurteilen, welche die Bindung an das rechts staatliche Gesetz dem unabhängigen Richter der Bundesrepublik Deutschland auferlegt (Art.97 Abs.l GG), so würde man einen Bewertungsmaßstab anlegen, der rur die Richter und Staatsanwälte der DDR zur Tatzeit nicht gegolten hat. Das wäre eine rückwirkende Verschärfung, die mit dem Grundgesetz (Art. 103 Abs. 2 GG) nicht vereinbar ist. b) Die Anwendbarkeit des DDR-Rechts und seiner Auslegungsgrundsätze hat freilich Grenzen.

9 In der Sache Ubereinstimmend, in der Formulierung abweichend der 4. Strafsenat in BGHSt 40,272 (vgl. unten zu 3.2 a).

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aa) Zwar gilt im Strafrecht nicht die Vorschrift des Internationalen Privatrechts, nach der, soweit es auf den Inhalt fremden Rechts ankommt, eine Rechtsnorm unbeachtlich ist, wenn das Ergebnis ihrer Anwendung mit wesentlichen Grundsätzen des Rechts der Bundesrepublik Deutschland offensichtlich unvereinbar wäre, was besonders rur die Unvereinbarkeit mit den Grundrechten gilt (Art. 6 EGBGB). Der Bundesgerichtshof hatte schon bei der Aburteilung der DDR-Grenzsoldaten ausgeruhrt, daß der Verstoß einer DDR-Vorschrift gegen den ordre public im Strafrecht kein ausreichender Grund sei, die Berufung des Angeklagten auf diese Vorschrift rur unbeachtlich zu halten (BGHSt 39, 1, 15). Die Verfassungsnorm des Art. 103 Abs. 2 GG schützt das Vertrauen auf die zur Zeit der Handlung bestehende Rechtslage; sie gewährleistet ein Menschenrecht des Beschuldigten und dient zugleich der Rechtssicherheit. Es ist diese Schutzfunktion des Rückwirkungsverbotes, die dem DDR-Recht bei der Aburteilung von DDR-Amtsträgern einen verhältnismäßig breiten Anwendungsbereich verschafft. Das Rückwirkungsverbot besagt deshalb etwas anderes als Art. 6 EGBGB, der, gewissermaßen mit dem Blick in die Zukunft, das Verhältnis des deutschen Rechts zu geltenden fremden Rechtsvorschriften regelt. bb) Fremde Vorschriften, die den Beschuldigten schützen, sind jedoch trotz des Rückwirkungsverbots nach Art. 103 Abs. 2 GG unanwendbar, wenn ihnen wegen ihres Inhaltes ohne Rücksicht auf Ort und Zeit ihres Geltungsanspruches die Qualität verpflichtenden Rechts abgesprochen werden muß, weil sie ein offensichtlich grober Verstoß gegen Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit sind und die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletzen. Diesen in Anlehnung an einen Aufsatz von Gustav Radbruch aus dem Jahre 1946 (SJZ 1946, 105) formulierten Satz hat die Rechtsprechung zunächst bei der Aburteilung nationalsozialistischer Verbrechen entwickelt (BGHSt 2, 234, 239). Der Bundesgerichtshof hat ihn sodann nach 1989 herangezogen, um seine Auffassung zu begründen, daß das Grenzgesetz der DDR von 1982 und die ihm vorangehenden administrativen Regelungen der DDR nicht das Unrecht der vorsätzlichen Tötung unbewaffneter Flüchtlinge an der innerdeutschen Grenze zu rechtfertigen vermochten; der Bundesgerichtshof hat dabei die ursprünglich naturrechtlieh konzipierte "Radbruch'sche Formel" unter Hinweis auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 und den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 (in Kraft getreten rur beide deutsche Staaten im Jahre 1976) völkerrechtlich akzentuiert10 • Wie der Bundesgerichtshof wiederholt betont hat, kann im Interesse der Rechtssicherheit nur in extremen Ausnahmefltllen angenommen werden, daß

10

BGHSt 39,1,16 ff.; 40, 241, 244 ff.; 41,101,105 ff.

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ein im Tatzeitrecht vorgesehener Rechtfertigungsgrund unbeachtlich sei 11. Solche Zurückhaltung ist gerade in Rechtsbeugungsverfahren geboten: Während bei den tödlichen Schüssen der Grenzsoldaten das Unrecht durch die in bei den deutschen Staaten geltenden Straftatbestände des Mordes und des Totschlages vorgegeben ist und nur die Wirksamkeit eines Rechtfertigungsgrundes in Frage steht, greift die Anwendung der Radbruch'schen Formel bei der Rechtsbeugung in den Straftatbestand ein. Sie besagt hier, daß der Richter gerade durch die Anwendung des in seiner Rechtsordnung gesetzten Rechtes das Recht gebrochen hat. Die Gesetzwidrigkeit im Sinne des DDR-Rechtsbeugungstatbestandes muß dann darin gesehen werden, daß der Richter das positive Recht angewandt hat statt dies zu unterlassen. Dabei ist zu bedenken, daß die Nichtanwendung ungerechten positiven Rechts oft nur in der Form des aktiven Widersprechens möglich war. Die dem Grenzsoldaten regelmäßig zur Verfiigung stehende Option, unbemerkt am Flüchtling vorbei zu zielen, hatte in der Tätigkeit des Richters und Staatsanwalts keine Parallele; ihnen blieb unter Umständen nur das Ausscheiden aus dem Dienst übrig - ein Ausweg, den einige DDR-Richter gewählt haben. cc) Es hängt mit diesen theoretischen und praktischen Problemen zusammen, daß die Rechtsprechung bei der Beurteilung der DDR-Juristen bisher nicht dazu gelangt ist, unter Verwendung der Radbruch'schen Formel die Anwendung bestimmter positiver Vorschriften per se als Gesetzwidrigkeit im Sinne des Rechtsbeugungstatbestandes (§ 244 StGB-DDR) zu begreifen. Ein weiterer Grund hierfiir ist, daß die DDR auch im Bereich des politischen Strafrechts keine Vorschriften erlassen hat, die sich so extrem von einem menschenwürdigen Strafrecht entfernt hätten, wie dies bei dem nationalsozialistischen Straftatbestand der Rassenschande und dem sog. Polenstrafrecht der Fall war. Es ist erwogen worden, ob die auf Art. 6 Abs. 2 der Verfassung der DDR von 1949 gestützten strafrechtlichen Verurteilungen einer materiellen Rechtsgrundlage entbehrten und schon deswegen gesetzwidrig waren. Diese Verfassungsvorschrift besagte, daß "Boykotthetze" und "Kriegshetze" Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches seien, ohne diese Begriffe zu erläutern. In den ersten Jahren der DDR wurde u.a. die Weitergabe militärisch relevanter Daten an westliche Geheimdienste als "Kriegshetze" abgeurteilt, weil eine solche Schädigung des "Friedenslagers" den zum Kriege treibenden Westen unterstütze. Der Bundesgerichtshof hat die Frage, ob eine derart unbestimmte Strafvorschrift gesetzliches Unrecht sei, auf sich beruhen lassen und angenommen, daß angesichts der besonderen Umstände des damaligen Kalten Krieges, als es in der DDR nach der Aufhebung der einschlägigen Bestimmungen des alten Rechts durch das Kontrollratsgesetz Nr.11 keine speziellen Vorschriften gegen 11

BGHSt 39,1,15; 41,101,108; 41, 247, 257.

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Hoch- und Landesverrat gab (vgl. auch die anfängliche Überbrückungsvorschrift in Art. 143 GG), den damaligen Richtern jedenfalls nicht nachzuweisen sei, daß sie die Bejahung des Merkmals" Kriegshetze" nach Art. 6 Abs. 2 der Verfassung in diesen Fällen rur gesetzwidrig gehalten haben l2 • Ob die Bestrafung wegen Boykotthetze nach Art. 6 Abs. 2 der DDR-Verfassung oder die Anwendung der §§ 3 und 5 des Gesetzes zum Schutz des Friedens vom 15. Dezember 1950 (GBl. S. 1199) wegen der unscharfen Fassung dieser Strafvorschriften per se den objektiven Tatbestand der Rechtsbeugung erfilllt, ist noch nicht höchstrichterlich entschieden worden. Bei den Tatbeständen des Strafgesetzbuches der DDR von 1968 sind die Gerichte durchweg davon ausgegangen, daß die Anwendung dieser Vorschriften filr sich allein noch keine Rechtsbeugung darstelle. Das gilt auch rur die in die Grundrechte der Meinungsfreiheit (Art. 27 der DDR-Verfassung idF von 1974), Versammlungsfreiheit (Art. 28) und Koalitionsfreiheit (Art.29) tief eingreifenden Tatbestände der §§ 106,214,217,219,220 StGB-DDR, ferner rur die vage defmierten Verbrechenstatbestände der §§ 99, 100 und 106 StGB-DDR und schließlich rur den Straftatbestand des illegalen Grenzübertrittes nach § 213 StGB-DDR13. 2.3 Kriterien der Rechtsbeugung durch DDR-Richter und Staatsanwälte

Auf dieser Grundlage ist der Bundesgerichtshof zu folgenden Kriterien rur die Anwendung des Rechtbeugungstatbestandes gelangt : Die Bestrafung von Richtern und Staatsanwälten der DDR wegen Rechtsbeugung ist auf Fälle beschränkt, "in denen die Rechtswidrigkeit der Entscheidung so offensichtlich war und insbesondere die Rechte anderer, hauptsächlich ihre Menschenrechte, derart schwerwiegend verletzt worden sind, daß sich die Entscheidung als Willkürakt darstellt" (BGHSt 40, 30,41). Eine·durch Willkür gekennzeichnete offensichtliche Menschenrechtsverletzung kommt hiernach in Betracht, wenn (a) Strafbestände unter Überschreitung des Gesetzeswortlautes oder unter Ausnutzung ihrer Unbestimmtheit derart "überdehnt" worden sind, daß eine Bestrafung, zumal mit Freiheitsstrafe, als offensichtliches Unrecht anzusehen ist; oder wenn (b) die Strafe in einem unerträglichen Mißverhältnis zu der Handlung steht, so daß sie als grob ungerecht und als schwerer Verstoß gegen die Menschenrechte erscheinen muß, ferner wenn (c) im Verfahren schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen vorgekommen sind l4 ; oder wenn BGHSt41, 317, 322; BGHNJ 1997,35. Vgl. unten zu III 2b, dd. 14 Zu den Kriterien (a) bis (c): BGHSt 40,30,43; 41, 247, 254; BGH, NStZ 1996, 386. Den Begriff der Überdehnung (Kriterium a) hat F.C.Schroeder in die Debatte eingefilhrt (in: E.12

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(d) die Verfolgung und Bestrafung "überhaupt nicht der Verwirklichung von Gerechtigkeit (Art. 86 der DDR-Verfassung), sondern der Ausschaltung des politischen Gegners oder einer bestimmten sozialen Gruppe gedient haben" (BGHSt 40, 30, 43). Des weiteren (e) hat der Bundesgerichtshof zu einer staatsanwaltschaftlichen Verfahrenseinstellung (BGHSt 40, 169, 181: Annahme von Notwehr zugunsten eines MfS-Mannes, der unter Alkoholeinfluß zwei Menschen erschossen hatte) ausgesprochen, eine Rechtsbeugung könne auch dann vorliegen, wenn die Verfiilschung eines Sachverhaltes so offensichtlich sei, daß sie als Willkürakt aufgefaßt werden müsse, der rur das Zusammenleben der Menschen seinem Gewicht nach einer Menschenrechtsverletzung entspreche. Schließlich sind (f) "Einzelexzesse" von DDR-Richtern als Fälle bezeichnet worden, bei denen das Vorliegen einer Rechtsbeugung zu prüfen sei (BGHSt 40,30,41). Hierbei ist zu beachten, daß die zu a), b) und c) genannten Kriterien (Überdehnung des Tatbestandes, unverhältnismäßig hohe Strafe, Verfahrensverstöße ) in einer Wechselbeziehung stehen: Ist der Tatbestand überdehnt worden, die verhängte Strafe - etwa eine Strafe ohne Freiheitsentzug - aber vergleichsweise milde gewesen, so kann die Gesamtwertung ergeben, daß die Entscheidung noch nicht als Willkürakt im Sinne einer offensichtlichen, schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung aufgefaßt werden muß. Ist andrerseits eine auffallend hohe Strafe verhängt worden, so wird die Frage, ob der Richter sich bei der Auslegung des Tatbestandes noch an das Gesetz gehalten hat, besonders kritisch zu prüfen sein (BGHSt 41, 247, 262). Ein Haftbefehl wird zumal dann als schwerwiegende Menschenrechtsverletzung aufzufassen sein, wenn er sich auf eine Tat bezog, die auch nach den Grundsätzen des DDR-Rechts nur eine milde Sanktion (z.B. ohne Freiheitsentzug) rechtfertigte, oder wenn die rechtliche Einordnung der Tat hart an der Grenze zur Tatbestandsüberdehnung lag. 2.4 Zur Kritik der Rechtsanwendung seit 1993

Mit diesen Kriterien schränkt die Rechtsprechung den Anwendungsbereich der Rechtsbeugungsvorschriften auf die DDR-Justiz ein. Dagegen richtet sich die Kritik. Die Senate des Bundesgerichtshofs, die hier weitgehend miteinander übereinstimmen, haben sich von der Kritik nicht zu einer Abkehr von der eingeschlagenen Linie bestimmen lassen. a) Die einschränkende Rechtsprechung hängt in erster Linie mit dem Rückwirkungsverbot nach Art.103 Abs.2 GG (oben zu 2) zusammen: Wer bei der Anwendung eines Straftatbestandes oder des Verfahrensrechts die Grenzen des J.Lampe [Hrsg.], Die Verfolgung von Regierungskriminalitat der DDR nach der Wiedervereinigung [1993] S. 109, 116 f.).

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Gesetzeswortlauts nicht überschritt und bei der Anwendung vage fonnulierter Vorschriften die Maßstäbe zugrunde legte, die durch Maßnahmen zentralisierender Einflußnahme vorgegeben waren, handelte nicht gegen das damals in der DDR bestehende Gesetz. Sein Verhalten war, sofern nicht das Gesetz aufgrund ganz besonderer Umstände im Sinne der Radbruch'schen Fonnel als nichtig anzusehen war, nicht tatbestandsmäßig. Der Umstand, daß das Gesetz oder seine in der DDR herrschende Auslegungspraxis gegen rechtsstaatliche Grundsätze im Sinne des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechtskonvention verstießen, begründet mit Rücksicht auf Art. 103 Abs. 2 GG noch keine Strafbarkeit. Denn das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention haben zur Tatzeit am Tatort nicht gegolten. Die Unvereinbarkeit eines DDR-Gesetzes mit dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte macht dieses Gesetz nur in den extremen Fällen unbeachtlich, die der Radbruch'schen Fonnel entsprechen. Etwas weniger einschränkend wirkt das Kriterium, daß die Bemessung einer Strafe nur Rechtsbeugung sei, wenn sie wegen eines unerträglichen Mißverhältnisses zur Tat grob ungerecht, ein schwerer Verstoß gegen die Menschenrechte und deswegen willkürlich ist. Eine Strafe kann unter Umständen auch dann als willkürliche, schwere Menschenrechtsverletzung erscheinen, wenn sie die Obergrenze des Strafrahmens nicht erreicht. Doch ist eine solche Willkür keineswegs in allen Fällen anzunehmen, in denen die Strafe nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland rechtsfehlerhaft hoch gewesen wäre. Der Umstand, daß in der DDR-Praxis für eine Fallgruppe regelmäßig eine bestimmte Strafhöhe gewählt wurde oder daß Richtlinien, Orientierungen und dergleichen die Strafhöhe vorgaben, spricht im Zweifel dagegen, daß eine entsprechende Strafe Rechtsbeugung im Sinne von Willkür war. Anders verhält es sich aber, wenn die übliche oder durch eine Steuerungsmaßnahme vorgegebene Strafe wegen ihrer exorbitanten Höhe eindeutig als schwere Menschenrechtsverletzung aufgefaßt werden muß. Dann ist die Steuerungsvorgabe oder die übliche Praxis insgesamt Willkür gewesen; daß der Richter oder Staatsanwalt sich an die Vorgabe oder an das Übliche gehalten hat, schützt ihn in diesem Fall - direkten Vorsatz vorausgesetzt - nicht vor dem Vorwurf der Willkür. aa) Es ist eingewandt worden, die Heranziehung des Rückwirkungsverbotes sei unangebracht, weil nach der Europäischen Menschenrechtskonvention das Verbot der rückwirkenden Anwendung von Strafgesetzen (Art. 7 Abs.l) die Bestrafung nicht ausschließt, wenn die Tat zur Tatzeit "nach den von den zivilisierten Völkern allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar war" (Art. 7 Abs. 2; sog. Nürnberg-KlauseIY~. Indessen ist aus dieser Nürnberg-Klausel nur I~ Peschel-GutzeitlJenckel (oben FN 4) S. 278 ff., 287 ff.; Werken/in, Recht und Politk 1996, 139. Zur Entstehung und Bedeutung der Nümberg-Klausel vgl. FroweiniPeukert, Europäische Menschenrechtskonvention (2.Aufl. 1997) Art. 7 Rdn. 8 und HarrisIO'BoyleIWarbrick, Law ofthe

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zu entnehmen, daß das Völkerrecht den Gesetzgeber nicht gehindert hätte, das Rückwirkungsverbot unter den Voraussetzungen dieser Klausel einzuschränken. Eine völkerrechtliche Verpflichtung dazu postuliert die Europäischen Menschenrechtskonvention nicht; ihr hätte auch Art.60 der Konvention entgegengestanden l6 • Der deutsche Gesetzgeber hat daher nicht gegen Völkerrecht verstoßen, als er es anläßlich des Einigungsvertrages bei der uneingeschränkten Geltung des Art. 103 Abs. 2 GG beließ. Aus der entsprechenden Regelung im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Art. 15) ergibt sich nichts anderes. Ob die Rechtsbeugungstaten, von denen in diesem Bericht die Rede ist, überhaupt zu den in der Nürnberg-Klausel benannten Verbrechen gehören, kann deswegen auf sich beruhen. Die Regelung des Einigungsvertrages geht auch der in § 1 Abs. 6 des DDR-Einführungsgesetzes zu StGB und StPO vom 12. Januar 1968 (GBI. I S. 97) enthaltenen Einschränkung des Rückwirkungsverbotes vor, die sich ohnehin nur aufTaten bezieht, die vor 1968 begangen worden waren. Im übrigen spricht viel spricht dafilr, daß die Nürnberg-Klausel das Rückwirkungsverbot nicht einschränken, sondern klarstellen sollte, daß "anerkannte Rechtsgrundsätze" die Tat schon zur Zeit ihrer Begehung strafbar, Rechtfertigungsgründe des nationalen Rechts also unwirksam gemacht haben. Die Nürnberg-Klausel beschreibt dann eine Konstellation, bei der die Radbruch'sche Formel durchgreift. Wie schon erwähnt (2 b cc), hat der Bundesgerichtshof das quasinaturrechtIiche Instrument der Radbruch'schen Formel sehr zurückhaltend gehandhabt. Bei den Tatbeständen der Rechtsbeugung (§ 336 StGB, § 244 StGBDDR) kommt die strafrechtsdogmatische Schwierigkeit hinzu , daß bei einer Anwendung der Radbruch'schen Formel die Tatbestandsmäßigkeit der Rechtsbeugung begründet und nicht, wie bei den Leib oder Leben verletzenden Menschlichkeitsverbrechen, ein Rechtfertigungsgrund für unbeachtIich erklärt werden müßte. Es liegt fern, daß bei der Formulierung der Nürnberg-Klausel an eine solche Wirkung gedacht worden ist. Das gilt um so mehr, als Rechtsbeugungstatbestände nach deutschem Muster nur in wenigen Staaten bekannt sind; auch das Nürnberger Juristenurteil hat keinen solchen Straftatbestand zugrunde gelegt. European Convention on Human Rights (London 1995), S.281; zur Auslegung der Klausel s. auch Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO (24.Aufl.1992) Rdn. 17 zu Art.l5 MRKI Art.7 IPBPR. Zusammenfassend zur Anwendung des Art. 103 Abs. 2 GG auf DDR-Taten vgl. BVerfG, NJW 1997, 929; Schmidt-Aßmann in: MaunzlDürig, GG Art.l03 Abs.2 Rdn. 255 (Stand: Dez. 1992); Schreiber (oben FN 4) S. 172 ff.; Erb, ZStW 108 (1996) S. 266; J.Arnold, NJ 1997, 115. 16 Der bei der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention erklärte Vorbehalt der Bundesrepublik Deutschland, sie werde Art.7 Abs.2 nur in den Grenzen des Art. 103 Abs. 2 GG anwenden (Text bei FroweiniPeukert [vorstehende FN] S. 903) lief daher leer; er ist bei der Ratifizierung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte nicht wiederholt worden.

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bb) Weiterhin ist gefordert worden, die Berufung auf das Rückwirkungsverbot denen zu versagen, die als Machthaber erst die Nonn geschaffen haben, die ihr verwerfliches Verhalten von Strafe freistellte; ihr Vertrauen in das Fortbestehen der selbstgemachten Nonn verdiene nicht den Schutz des Art. 103 Abs. 2 GG. Das gleiche soll für die Helfer der Machthaber gelten 17 • Vom Bundesgerichtshof ist dieser Gedanke nicht übernommen worden. Er fmdet im Grundgesetz keine Stütze, wie das Bundesverfassungsgericht kürzlich ausgesprochen hat: "Das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG ist absolut und erfüllt seine rechtsstaatliche und grundrechtliche Gewährleistungsfunktion durch eine strikte Fonnalisierung" 11. Hinzu kommt folgendes: Mag auch die Forderung, das Rückwirkungsverbot nach einem Systemwechsel zu suspendieren, im Hinblick auf den Alleinherrscher eines Unrechts staates plausibel erscheinen, so ist sie doch unpraktikabel: In komplexen Herrschaftssystemen ist der Kreis der Machthaber, die Gesetze eigenverantwortlich "gemacht" haben, nicht eindeutig abzugrenzen. Vor allem ist es unmöglich, unter den Helfern zwischen denjenigen, die an der Gesetzgebungsmacht teilhatten und deswegen nicht schutzbedürftig erscheinen mögen, und den anderen zu unterscheiden, die die Satzungen der Machthaber nur hingenommen und, etwa als Richter, angewandt haben. Der zweiten Gruppe kann man schwerlich verbieten, sich im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG auf ihr Vertrauen in den Fortbestand des damals geltenden Rechts (BGHSt 39, 1, 29) zu berufen. Etwas anderes hätte nur der Verfassungsgeber bestimmen können. Der Bundesgerichtshof hat deshalb nicht angenommen, daß bestimmte Personen überhaupt nicht durch Art. 103 Abs. 2 GG geschützt seien. Er stellt vielmehr auf die Qualität der einzelnen Handlung ab: Der schwerwiegende Verstoß gegen Menschenrechte wird als eine Handlung verstanden, die auch unter den nach Art. 103 Abs.2 GG zu beachtenden rechtlichen Rahmenbedingungen der DDR gesetzwidrig war und deswegen heute ohne Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot bestraft werden kann. Im übrigen steht das Rückwirkungsverbot nicht der Anwendung der Radbruchschen Fonnel entgegen, nach der ein Rechtfertigungsgrund ausnahmsweise unbeachtlich sein kann, wenn er offensichtlich und gröblich gegen Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit verstößt, wie sie allen Völkern gemeinsam sind (BGHSt 39, 1, 15, 16). b) Der Bundesgerichtshof hat seit seiner ersten Entscheidung zu DDRRichtern (BGHSt 40,30,40; ebenso BGHSt 41,247,251) bei der Beschreibung des Tatbestandsbildes der Rechtsbeugung an eine Rechtsprechung angeknüpft, die er schon vor 1990 zu gewöhnlichen ("westdeutschen") Fällen entwickelt 17

Naucke, Die strafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalitat (1996), bes. S. 47

11

BVertU 24.10.1996, NIW 1997,929, Leitsatz 1.

tr.; Werkentin, Recht und Politik 1976, 139, 141; vgl. auch Bracher, Recht und Politik 1991, 137

ff.

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hatte: Danach ist nicht jede unrichtige Gesetzesanwendung eine Beugung des Rechts im Sinne des § 336 StGB (BGHSt 32,357,363; 34, 146, 149; 38, 381, 383). Dementsprechend heißt es in den neueren Entscheidungen zur Rechtsbeugung in der DDR, das Gesetz setze in § 336 StGB einen Rechtsbruch im Sinne eines elementaren Verstoßes gegen die Rechtspflege voraus, bei dem sich der Amtsträger in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt hat (BGHSt 40,272,283; 41, 247, 251). Diese Kriterien hat der Bundesgerichtshof jüngst auch rur unpolitische Fälle verwendet (BGH 5.12.1996 - 1 StR 376/96 und 19.12.1996 - 5 StR 472/96). Es soll vermieden werden, daß nach einer Anzeige wegen Rechtsbeugung rechtskräftige Gerichtsentscheidungen, mögen sie auch unvertretbar erscheinen, ohne Rücksicht auf die Schwere des Rechtsverstoßes uneingeschränkt in allen Einzelheiten erneut nachgeprüft werden müssen (BGHSt 4.1, 247, 251 ; vgl. auch das erwähnte Urteil vom 19.12.1996, das einen folgenlosen Zuständigkeitsverstoß betrifft). Diese über die Besonderheiten der DDR-Justiz hinausgreifende generelle Restriktion des Rechtsbeugungstatbestandes, die auch durch die Strafdrohung des § 336 StGB nahegelegt wird, ist rur die hier interessierenden Fälle freilich von ungleich geringerer praktischer Bedeutung als die Auswirkungen des Rückwirkungsverbotes. Sie schränkt die Strafbarkeit in Fällen, die keine Rückwirkungsfragen aufwerfen, in geringerem Maße ein als die Wirkungen des Art. 103 Abs. 2 GG. Es ist also nicht so, daß auch die in der Bundesrepublik Deutschland begangenen Taten nur noch dann als Rechtsbeugung bestraft werden sollen, wenn sie sich als offensichtliche schwere Menschenrechtsverletzungen darstellen 19. c) Der Bundesgerichtshof hat seine Leitprinzipien zur Anwendung des Rechtsbeugungstatbestandes auf DDR-Taten in strenger Weise in einem Fall angewandt, in dem es um die Mitwirkung eines OG-Richters an Todesurteilen in den Jahren 1954 bis 1956 ging (BGHSt 41, 317). Daß hier ein "absoluter Primat" des Lebensschutzes angenommen wird, scheint Verwunderung hervorgerufen zu haben20 • Indessen bilden Taten, bei denen es um die Tötung eines Menschen geht, im Strafrecht eine eigene normative Kategorie von herausgehobener Bedeutung. Das ist auch der Grund, warum der Bundesgerichtshof die Radbruchsche Formel bei der Beurteilung der tödlichen Schüsse an der innerdeutschen Grenze breit herangezogen hat, während er damit sich sonst - bei der Rechtsbeugung wie auch bei den Schüssen ohne einen nachgewiesenem Tötungsvorsatz - zurückhält. Die Argumentation des Bundesgerichtshofs geht von dem jetzt verbindlichen europäischen Menschenrechtsstandard aus, wonach die Todesstrafe eine unzulässige Sanktion ist (6. Zusatzprotokoll zur Europäischen 19 Das ist von Spendel (NJW 1996,809,810 f.) nicht richtig gesehen worden. Zur Restriktion auf der Tatbestandsebene vgl. ferner (kritisch) See bode, JR 1994, 1. 20 Peschel-Gutzeit/Jenckel (oben FN 4) S. 298.

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Menschenrechtskonvention). Der Bundesgerichtshof hält es für naheliegend, daß "nach deutschem Verfassungsrecht jegliche Wiedereinführung der Todesstrafe - auch abgesehen von Art. 102 GG - vor Art. 1 Abs. 1 GG und der Wesensgehaltsgarantie des Grundgesetzes auf Leben keinen Bestand haben könnte" (BGHSt 41, 317, 325). Er übersieht nicht, daß in den fünfziger und sechziger Jahren die Bewertung der Todesstrafe in den Vertragsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention weniger eindeutig war, daß diese Strafe in sozialistischen Staaten in großem Umfange angewandt worden ist und daß sie im sozialistischen Lager überall vorgesehen war, als die DDR sie im Jahre 1987 abschuf. Gleichwohl, so hat der Bundesgerichtshof ausgeführt, war die Anwendung der Todesstrafe im Nachkriegsdeutschland bis zu ihrer Abschaffung "nur in aufs engste begrenzten AusnahmeflilIen hinnehmbar" (BGHSt 41, 317, 326). Grund für diese strenge Auffassung ist der Primat des Lebensschutzes (S. 325), die Endgültigkeit der Exekution (S. 326) und eine Erwägung, welche die spezielle deutsche Situation betrifft: Nachdem die deutsche Justiz die Todesstrafe während der NS-Diktatur beispiellos mißbraucht habe, sei auch die DDR-Justiz verpflichtet gewesen, die Todesstrafe, zumal im Bereich politisch motivierten Strafrechts, auf Fälle schwersten Unrechts zu beschränken (S.329). Der Bundesgerichtshof hat deswegen in der Sache BGHSt 41, 317 die Verhängung von Todesstrafen bei.landläufigen Spionageflillen des Kalten Krieges (u.a. Sammlung und Weitergabe von bruchstückhaften Informationen über Bewegungen sowjetischer Militärfahrzeuge sowie über Polizeiobjekte, Flughäfen, Betriebe, LPGs und ausreiseinteressierte Wissenschaftler mit Hilfe angeworbener DDR-Bewohner, Bedienung toter Briefkästen sowie Verbreitung politischer Schriften in der DDR) als übermäßig hart, grausam und willkürlich und damit als Rechtsbeugung bewertet und die vom Landgericht verhängten Strafen bestätigt (zwei Jahre Freiheitsstrafe für jeden der drei abgeurteilten Fälle, Gesamtstrafe: drei Jahre und neun Monate). Wie sehr es dem Bundesgerichtshof darauf ankam, die Mitwirkung an Todesurteilen besonders herauszuheben, erhellt auch aus seiner Bemerkung, die in einem der genannten Spionagefälle verhängte lebenslange Freiheitsstrafe könne mit Rücksicht auf die damaligen Wertungen nicht als Rechtsbeugung angesehen werden. d) Nach der Fassung des DDR-Strafrechts (§ 244 StGB-DDR) setzt die Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung voraus, daß der Täter "wissentlich" , also mit direktem Vorsatz, gesetzwidrig entschieden hat (vgl. oben zu 1b). Die Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, die sich mit Rechtsbeugungstaten aus den Jahren 1933 - 1945 auseinanderzusetzen hatten, hatten dieselben Anforderungen an den subjektiven Tatbestand gestellt; erst für die seit 1975 im Geltungsbereich des Rechts der Bundesrepublik Deutschland begangenen Taten

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gilt, daß bedingter Vorsatz ausreicht21 • Die Feststellung des direkten Vorsatzes der Rechtsbeugung ist außerordentlich schwierig: Es genügt nicht, daß der angeklagte Richter Zweifel an der Rechtswidrigkeit seiner Entscheidung gehabt und gleichwohl so entschieden hat (bedingter Vorsatz). Es reicht auch nicht aus, daß er bei gewissenhaftem Nachdenken zur Erkenntnis der Gesetzwidrigkeit seiner Entscheidung hätte kommen können: Ein Verbotsirrtum schließt zwar nach § 17 StGB (West) die Strafbarkeit nicht aus, wenn er vermeidbar war. Indessen ist der Irrtum über das Tatbestandsmerkmal der Gesetzwidrigkeit nach der Konstruktion der Rechtsbeugungstatbestände kein Verbotsirrtum, sondern ein Tatbestandsirrtum, der - da die fahrlässige Rechtsbeugung nicht strafbar ist die Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung gänzlich entfallen läßt. Es war vor allem die Schwierigkeit, den subjektiven Tatbestand nachzuweisen, die dazu geruhrt hat, daß die Verfolgung des nationalsozialistischen lustizunrechts "insgesamt fehlgeschlagen" ist (BGHSt 40,30,40; 41, 317, 339, 342 f.). Der Bundesgerichtshof hat in seinem schon erörterten Urteil vom 16. November 1995 (BGHSt 41, 317, 338-340: Mitwirkung an Todesurteilen) versucht, Grenzen des Tatbestands- und Verbotsirrtums bei politisch motivierten Tätern aufzuzeigen: Angesichts der - wegen des Rückwirkungsverbotes gebotenen - Beschränkung des Tatbestandes auf offensichtlich schwere Menschenrechtsverletzungen sei es kaum vorstellbar, daß einem Berufsrichter die Gesetzwidrigkeit seiner Entscheidung verborgen geblieben sein könne. Die Gesetzwidrigkeit hatte der Bundesgerichtshof in dem entschiedenen Falle darin geseh~n, daß Todesurteile in krassem Mißverhältnis zur Schuld standen. Es sei hier lediglich zu erwägen, so fährt der Bundesgerichtshof fort, daß der Richter die Todesstrafen trotz seiner Kenntnis dieses Mißverhältnisses aus Gründen der Staatsräson akzeptiert haben könne. Eine solche Fehlbewertung des eigenen Handelns berühre den direkten Vorsatz der Rechtsbeugung aber nicht. Die Einordnung eines Richters in ein Unrechtssystem könne unter Umständen so weit gegangen sein, daß er sich, ungeachtet seiner Kenntnis von allen Umständen und Wertungen, welche die Gesetzwidrigkeit ausmachen, in blindem Gehorsam gegenüber den Machthabern "von rechtsfremden Vorstellungen hat leiten lassen, die er in fehl sam er Subsumtion rur 'Recht' hält" (BGHSt 41, 317, 339); auch das begründe keinen Tatbestandsirrtum, mithin keinen Ausschluß des Vorsatzes. Wer diese Vorstellung des Täters als Verbotsirrtum auffasse, müsse jedenfalls annehmen, daß es sich um einen vermeidbaren Irrtum handele (§ 17 Satz 2 StGB), der die Bestrafung nicht ausschließe, ja nicht einmal eine Strafmilderung rechtfertige (S. 340). Es wäre wünschenswert, wenn die Wissenschaft diese Überlegungen, welche den alten Topos vom Überzeugungstäter mit 21 Eingehende Darstellung der Problematik bei Spendet in: Leipziger Kommentar zum StGB (10. Auf!. 1982) § 336 Rdn. 76 ff., 95 ff.; zur Frage der sog. Rechtsblindheit vgl. Seebode, JuS 1969,204 und Wassermann, NJW 1995,2965.

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den Problemen des Vorsatzes bei nonnativen Tatbestandsmerkmalen verknüpfen, zum Gegenstand einer kritischen strafrechtsdogmatischen Diskussion machen würde. Hätte die Rechtsprechung in den DDR-Fällen den objektiven Tatbestand weniger weit eingeschränkt, so müßte wohl mit einer größeren Zahl von Freisprüchen aus subjektiven Gründen (kein Vorsatz; kein Unrechtsbewußtsein) gerechnet werden. e) Die sog. Sperrwirkung des § 336 StGB, auch "Richterprivileg" gescholten, hat im Hinblick auf die Richter und Staatsanwälte der DDR bisher keine größeren Debatten ausgelöst. Es handelt sich um den zuerst von Radbruch 22 fonnuIierten Satz, daß ein Richter oder Staatsanwalt wegen einer Straftat, die er in Ausübung seines Amtes begangen hat (Freiheitsberaubung durch Haftbefehl, Totschlag durch Mitwirkung an einem Todesurteil), nur dann bestraft werden kann, wenn er wegen dieses Vorganges auch der Rechtsbeugung schuldig ist. Friedrich-Christian Schroeder hat aufgewiesen, daß es sich hierbei um einen Rechtfertigungsgrund handelt, den Rechtfertigungsgrund der Entscheidung in Rechtssachen 23 • Der Bundesgerichtshof hat die Sperrwirkung in seiner neueren Rechtsprechung akzeptiert, weil sie im Zusammenhang mit der Spezialregelung des § 336 StGB die Einheitlichkeit des Rechtswidrigkeitsurteils gewährleiste (BGHSt 41,247,255; vgl. auch Urteil vom 23.10.1996 - 5 StR 695/95). Soweit der Bundesgerichtshof die Verurteilung wegen Rechtsbeugung gebilligt hat, ist auch die Verurteilung wegen tateinheitlicher Freiheitsberaubung oder - bei Todesurteilen - wegen Totschlags rechtskräftig geworden. Größere praktische Bedeutung hat die Sperrwirkung bei der Aburteilung von Denunziationen, die dazu gefiihrt hatten, daß die Opfer in DDR-Haft kamen. Soweit nach dem Einigungsvertrag DDR-Recht anzuwenden ist, können solche Denunzianten nicht wegen Anstiftung des Richters zur Freiheitsberaubung bestraft werden, wenn dessen Verhalten keine Rechtsbeugung war und wegen der Sperrwirkung auch nicht als Freiheitsberaubung gewertet werden kann (BGHSt 41, 125, 137; BGH 23.10.1996 - 5 StR 695/95).

f) Bei der Strafzumessung erweist sich, wie schon ausgeftlhrt (oben 1b), das Recht der Bundesrepublik Deutschland insofern als das mildere, als es die Aussetzung der wegen Rechtsbeugung verhängten Freiheitsstrafen in den Grenzen des § 56 StGB zuläßt. Die nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland wegen Rechtsbeugung (§ 336 StGB) verhängte Freiheitsstrafe darf allerdings ein Jahr nicht unterschreiten; als Strafen, die der Aussetzung fähig sind, stehen hiernach Freiheitsstrafen von einem Jahr bis zu zwei Jahren zur Verftlgung (§ 56 Abs. 1,2 StGB). Strafen von mehr als einem Jahr können allerdings nicht 22 Radbruch, SJZ 1948, 108. Zur Problematik der Sperrwirkung vgl. Spendei (vorige FN) Rdn.l29 und F.C.Schroeder, GA 1993,389. 23 S. vorstehende FN.

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ausgesetzt werden, wenn es an besonderen Umständen fehlt (§ 56 Abs. 2 StGB). Sie werden jedoch angesichts des zeitlichen Abstandes von der Tat und der grundlegenden Änderung der Verhältnisse meistens angenommen werden können. Verlangt das Unrecht der Tat nach schwererer Strafe als zwei Jahre Freiheitsstrafe, so kommen Strafen bis zu filnf Jahren in Betracht (§ 336 StGB), bei gleichzeitiger Aburteilung mehrerer Taten auch höhere Gesamtstrafen (§ 54 StGB), wobei dann allerdings zu prüfen ist, ob die Regelung des DDR- Strafgesetzbuches (§ 64 Abs. 2) nicht milder im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB (West) ist. 3. Darstellung der gegenwärtigen Praxis nach Fallgruppen

Die gegenwärtige Praxis soll im folgenden nach Fallgruppen geschildert werden. 3.1 Rechtskräftig gewordene Schuldsprüche wegen Rechtsbeugung

Zunächst wird von Verurteilungen wegen Rechtsbeugung berichtet, die im Schuldspruch rechtskräftig geworden sind: a) Hier stehen Fälle im Vordergrund, in denen die Höhe der Strafe in einem unerträglichen Mißverhältnis zur Schwere der Tat stand und deswegen die Menschenrechte grob verletzte: In zwei Fällen ging es um die Bestrafung von unbestraften jungen DDR-Bürgern, die eine linksradikale westdeutsche Zeitschrift ("Roter Morgen") und eine andere Publikation über längere Zeit hinweg in OstBerlin verbreitet hatten. Jeder von ihnen wurde wegen staatsfeindlicher Hetze nach § 106 StGB-DDR mit einer Freiheitsstrafe von acht Jahren bestraft. Das Landgericht verurteilte die Richterin, die das eine der beiden Urteile verhängt, und die Staatsanwältin, die das andere beantragt hatte, wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung. Der Bundesgerichtshof hat die Schuldsprüche bestätigt, allerdings mit der Maßgabe, daß die Staatsanwältin nur der Beihilfe schuldig seP4. - Sodann ist die schon erwähnte, auch im Strafausspruch rechtskräftige Verurteilung eines Mannes zu nennen, der als Mitglied des Obersten Gerichts in den filnfziger Jahren an Todesurteilen wegen Spionage mitgewirkt hatte (BGHSt 41,317, vgl.oben zu 11 4c). In zwei Fällen sind Staatsanwältinnen wegen Rechtsbeugung verurteilt worden, weil die von ihnen beantragten Freiheitsstrafen von einem Jahr im einen, einem Jahr und zwei Monaten im anderen Falle völlig unverhältnismäßige und damit menschenrechtswidrige Sanktionen waren; die Anwendung des Straftat24 BGH, Urteil vom 15.9.1995 - 5 StR 642/94, BGHR StGB § 336 DDR-Recht 11; BGH, Urteil vom 15.9.1995 - 5 StR 168/95, BGHR StGB § 336 Staatsanwalt 1.

6 Drobnig

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bestandes nach § 214 StGB-DDR (Bekundung von Mißachtung der Gesetze in einer die öffentliche Ordnung gefährdenden Weise) legte überdies die Annahme nahe, daß der Straftatbestand in einer nicht mehr hinnehmbaren Weise überdehnt worden ist. Die abgeurteilten Ost-Berliner waren, jeweils allein, nachts zu einer Berliner Grenzübergangsstelle gegangen; dort hatten sie unter Vorlage des Personalausweises, ohne im Besitz eines Visums zu sein, verlangt, nach West Berlin durchgelassen zu werden. Einer von ihnen war nach dem Besuch einer Diskothek alkoholisiert (BGH, Urteil vom 15.9.1995 - 5 StR 168/95)25. Der andere machte sich Sorgen um seine in West-Berlin lebende Mutter; er hatte deshalb bei der zuständigen Stelle mehrfach vergeblich die Ausreiseerlaubnis beantragt (BGHSt 41, 247, 273). Die Staatsanwältinnen waren hier Täterinnen und nicht nur GehilfInnen der Rechtsbeugung, weil sie zuvor selbst die Anklage erhoben hatten. Der Bundesgerichtshof hat ferner die Verurteilung eines Staatsanwalts wegen Beihilfe zur Rechtsbeugung bestätigt, der 1984 vor dem Obersten Gericht eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Spionage in einem besonders schweren Fall (§ 97 Abs. 3 StGB-DDR) beantragt hatte, die dann auch verhängt wurde. Der damalige Angeklagte, Mitarbeiter einer SED-Kreisleitung, hatte geheime, nicht besonders sensible Informationen gesammelt, aber noch nicht weitergegeben. Der Bundesgerichtshof ging davon aus, daß die lebenslange Freiheitsstrafe auch nach den Grundsätzen der DDR-Justiz Fällen von außergewöhnlicher Schwere vorbehalten gewesen sei, und akzeptierte die Begründung des Landgerichts, daß die Strafe weit überhöht gewesen sei und der Ausschaltung einer politisch mißliebigen Person gedient habe (BGH, Beschluß vom 21.5.1996 - 5 StR 737/95). Schließlich sind in diesem Zusammenhang Erwägungen aus dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 15.9.1995 (5 StR 68/95)26 zu nennen, in dem der Freispruch eines Staatsanwalts in einer Reihe von Fällen aufgehoben wurde: Unter Mitwirkung dieses Staatsanwalts waren DDR-Bürger wegen Auslandsverbreitung von Nachrichten, die zur Schädigung von DDR-Interessen geeignet seien (§ 219 Abs. 2 Nr.l StGB-DDR), zu Freiheitsstrafen zwischen 12 und 16 Monaten verurteilt worden. Ausreisewillige hatten mit der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland Kontakt aufgenommen und dabei Angaben über ihre berufliche Entwicklung, über die gestellten Ausreiseanträge und über ihre Motive gemacht. Der Bundesgerichtshof sah die Subsumtion unter den genannten Straftatbestand als einen Grenzfall an, hielt aber jedenfalls die verhängten Strafen angesichts der im Gesetz vorgesehenen Möglichkeit, auf Geld- und Bewährungsstrafen zurückzugreifen, rur überhöht. Er gab dem Landgericht auf, bei der erneuten Strafzumessung auch der Frage nachzugehen, welche Bedeutung die "Strafvorschläge" der Vorgesetzten filr die Staatsanwälte hatten. Der 2S

5. vorige FN.

26 BGHR 5tGB § 336 DDR-Recht 9.

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Bundesgerichtshof warf auch die Frage auf, wie es sich auf die Frage der Rechtsbeugung auswirke, wenn - wie hier - die Verurteilten vorzeitig aus dem Strafvollzug nach Westdeutsch land entlassen worden sind: Wenn jemand mit diesem Ziel die Verurteilung zu Freiheitsstrafe bewußt in Kauf genommen habe, könne bei der Verhängung einer solchen Strafe das Vorliegen von Willkür fraglich sein. Wenn andrerseits die Aussicht, daß der Staat Freikaufgeld einnehmen werde, das Motiv für die Verhängung von Freiheitsstrafen gewesen sei, so liege der Vorwurf der Rechtsbeugung nahe. b) Fragen der Verhältnismäßigkeit von Anlaß und Sanktion stehen auch im Mittelpunkt der Entscheidungen, in denen die Rechtsbeugung darin gesehen worden ist, daß die Anordnung und Fortsetzung von Untersuchungshaft in willkürlicher Weise die Menschenrechte verletzte. So verhielt es sich mit dem Antrag auf Aufrechterhaltung des Haftbefehls wegen öffentlicher Herabwürdigung der staatlichen Ordnung (§ 220 StGB-DDR), den eine Staatsanwältin gegen eine Frau stellte, die sich in einer Warteschlange von einem ARD-Korrespondenten hatte interviewen lassen. Sie hatte gesagt, sie habe für die Einführung von Wertschecks bei Einkäufen im Intershop kein Verständnis, dies eine Entmündigung genannt und hinzugesetzt, sie sei ein "mündiger Bürger, auch hier in der DDR" (BGHSt 41, 247, 268). Die Frau wurde später auf Antrag der Staatsanwältin, die auch die Anklage erhoben hatte, zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt; sie hat sich über fünf Monate in Haft befunden. Der Bundesgerichtshof hat den Schuldspruch wegen Rechtsbeugung gebilligt. - Ebenso verhielt es sich mit dem Antrag derselben Staatsanwältin, gegen ein 16 Jahre altes Mädchen Haftbefehl wegen eines Vergehens nach § 220 Abs. 2 StGB-DDR (Verbreiten von Schriften, die geeignet sind, die staatliche oder öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen) zu erlassen (BGHSt 41, 247, 271). Das Mädchen hatte selbstgemachte Flugblätter verteilt, mit denen die "Punkscene in Ost-Berlin" in Schutz genommen und gesagt wurde: "In diesem Staat dürfen wir uns nur mit Arbeit die Zeit vertreiben"; "wir leben in einer gefilhrlichen Mausefalle". Der Bundesgerichtshof sah Willkür in der Annahme eines Haftgrundes (§ 122 Abs. 1 Nr. 3,4 StPODDR) und auch darin, daß die Staatsanwältin später die Anklage auf § 214 StGB-DDR (Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit) gestützt hat. Schließlich ist hier der Fall eines 17 Jahre alten Mädchen zu nennen, das mit seiner ausreisewilligen Mutter und dem Lebensgefilhrten der Mutter in der dänischen Botschaft in Ost-Berlin verharrt hatte (BGH, Urteil vom 15.9.1995 - 5 StR 168/95)27. Die Staatsanwältin erwirkte gegen das Mädchen und die Erwachsenen Haftbefehle wegen Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit im Sinne des § 214 StGB-DDR und beantragte, nachdem sie deswegen Anklage erhoben hatte, Freiheitsstrafen von einem Jahr für die Erwachsenen und von sieben Mo27 6*

BGHR StGB § 336 Staatsanwalt 1.

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naten filr die Tochter. Die Dauer des Freiheitsentzuges betrug mehr als filnf Monate. Der Bundesgerichtshof hielt den Schuldspruch noch fUr hinnehmbar: Man habe in der DDR auch die "Einengung der Entscheidungsmöglichkeiten" des Staats als "Drohung" im Sinne des § 214 Abs. 1 StGB-DDR verstanden, so daß die Auffassung, die Beschuldigten hätten durch eine Botschaftsbesetzung die Beziehungen zwischen Dänemark und der DDR belasten und damit Druck auf die DDR ausüben wollen, aus der Sicht der dortigen Justiz nicht gänzlich unnachvollziehbar gewesen sei. Die gegen die Erwachsenen verhängten Sanktionen seien zwar unvereinbar mit den in der Bundesrepublik anerkannten Maßstäben der Verhältnismäßigkeit; sie hätten aber die Schwelle zur Willkür und zur schweren Menschenrechtsverletzung noch nicht sicher überschritten. Die gegen die Tochter angeordneten Sanktionen (Untersuchungshaft und Freiheitsstrafe) waren dagegen nach Auffassung des Bundesgerichtshofs offensichtliche Willkür im Gewande eines justizförmigen Strafverfahrens: Es hätte berücksichtigt werden müssen, daß sie noch Jugendliche und in die Entscheidungen der Mutter fest eingebunden war. Insoweit hat der Bundesgerichtshof deshalb den Schuldspruch wegen Rechtsbeugung bestätigt. c) Wegen eindeutiger Überdehnung von Straftatbeständen hat der Bundesgerichtshof in folgenden Verhaltensweisen eine Rechtsbeugung gesehen: Eine Richterin verurteilte einen Taxifahrer wegen landesverräterischer Agententätigkeit (§ 100 StGB-DDR) zu zwei Jahren Freiheitsstrafe, weil er sich zweimal bei der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland, ferner bei einer westdeutschen Stadtverwaltung, erkundigt hatte, ob er nach einer Ausreise als Taxiunternehmer Fuß fassen könne, und außerdem im Ost-Berliner Büro des ZDF Hilfe bei der Formulierung seines Ausreiseantrags erbeten hatte. In der Begründung ihres Urteils hatte die Richterin maßgeblich darauf abgestellt, dem Angeklagten sei es darauf angekommen, "die Anmaßung der Personalhoheit durch Einrichtungen der BRD über DDR-Bürger auszunutzen, um die Entscheidung staatlicher Organe der DDR zu korrigieren". Der Bundesgerichtshof erachtete diese Begründung als gesetzesfremd, überdies die Strathöhe als Ausdruck der rücksichtslosen Unterdrückung eines Ausreisewilligen, und bestätigte den Schuldspruch wegen Rechtsbeugung (Urteil vom 15.9.1995 - 5 StR 642/95). Ähnlich verhält es sich mit einem von derselben Richterin erlassenen Urteil, mit dem ein Mann wegen landesverräterischer Nachrichtenübermittlung zu zwei Jahren und zehn Monaten Freiheitsstrafe und seine Ehefrau wegen des gleichen Delikts zu einer um sechs Monate geringeren Strafe verurteilt worden sind (BGH, Urteil vom 15.9.1995 - 5 StR 642/95). Die Eheleute hatten die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland aufgesucht und dort Kopien ihrer Ausreiseanträge abgegeben, ferner die Weiterleitung eines Schriftstücks, das ihre vergeblichen Ausreisebemühungen betraf, über Verwandte an das Bundes-

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ministerium für innerdeutsche Beziehungen vorbereitet. Nach § 99 StGB-DDR macht sich nur strafbar, wer Nachrichten zum Nachteil der Interessen der DDR an ausländische Organisationen weitergibt. Nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs waren mit der Annahme dieses Nachteils die Grenzen der Auslegung bei dem mit hoher Strafdrohung (zwei bis zwölf Jahre) versehenen und darum restriktiv zu handhabenden Straftatbestand in nicht nachvollziehbarer Weise überschritten: Die übermittelten Nachrichten besagten nicht mehr als die Tatsache, daß neben vielen anderen zwei weitere DDR-Bürger ausreisen wollten und die dafür erforderliche Genehmigung, wie üblich, nicht bekamen. Der Bundesgerichtshof hält es für möglich, daß die wesentlich mildere Strafvorschrift des § 219 Abs. 2 Nr. 1 StGB-DDR (Auslandsverbreitung von Nachrichten, die geeignet sind, den Interessen der DDR zu schaden) ohne Überdehnung des Normtextes hätte herangezogen werden können; da damit aber die äußersten Grenzen dieses Straftatbestandes erreicht worden wären, hätte dann nur eine wesentlich mildere Strafe hingenommen werden können. Der Bundesgerichtshof hat diese Rechtsprechung in einem späteren Urteil (NStZ 1996,386) bei der Aufhebung von Freisprüchen der Vorinstanz bestätigt: Die Anwendung des mit hoher Mindeststrafe bedrohten Tatbestandes der landesverräterischen Nachrichtenübermittlung (§ 99 StGB-DDR) auf Menschen, die nur wegen ihres Ausreisewunsches mit Dienststellen der Bundesrepublik Deutschland Verbindung aufgenommen hatten, sei eine Überdehnung dieses Tatbestandes; hinnehmbar sei allenfalls die Anwendung des § 219 StGB-DDR (ungesetzliche Verbindungsaufnahme), dies jedoch nur bei maßvoller Strafzumessung. Eine Überdehnung von Straftatbeständen hat ferner in folgenden Fällen zur Annahme von Rechtsbeugung gefUhrt: Ein Dresdner Richter (BGH, Urteil vom 15.11.1995 - 3 StR 527/94, NStZ 1996, 386) hatte einen Mann wegen staatsfeindlicher Hetze nach § 106 StGB-DDR zu sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilt: Dieser hatte 1969 eine DDR-kritische Schrift verfaßt und anderen zu lesen gegeben und anschließend in seiner Wohnung verwahrt; sein Sohn hat die Schrift 1975 gefunden, gelesen und 1982 Freunden geliehen, die sie zum MfS brachten. Nach dem damaligen Recht der DDR wären die Verbreitungshandlungen des Verfassers verjährt gewesen, bevor der Sohn die Schrift fand. In dem Urteil des angeklagten Richters heißt es demgegenüber, die Tat sei nicht verjährt, weil die Verwahrung in der Wohnung ein weiterer Verbreitungsakt des Verfassers gewesen sei. Das bezeichnet der Bundesgerichtshof als eine die Schranke möglicher Wortbedeutung überschreitende Analogie zum Nachteil des Angeklagten, die auch nach dem Recht der DDR (§ 4 StGB-DDR) verboten war. Zudem sei die hohe Strafe ein offensichtlicher und grausamer Gesetzesverstoß gewesen. Der Schuldspruch wegen Rechtsbeugung wurde damit rechtskräftig. Ebenso verhält es sich im Bezug auf ein anderes Urteil dieses Richters

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(aaO): Wegen staatsfeindlicher Hetze in Tateinheit mit ungesetzlicher Verbindungsaufnahme (§§ 106,219 Abs. 2 StGB-DDR) wurde ein Arzt verurteilt, der 1980 in einem Brief an die Solidarnosc seine Verbundenheit zum Ausdruck gebracht, eine Spende angekündigt und verhaltene Kritik an den Beschränkungen der Pressefreiheit in der DDR geübt hatte. Der Bundesgerichtshof bemerkte hierzu, die Urteilsgründe belegten weder hetzerische Äußerungen noch die damals als subjektives Tatbestandsmerkmal vorausgesetzte hetzerische Gesinnung; angesichts der verhängten Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten wäre die Überdehnung der Tatbestände selbst dann nicht mehr hinnehmbar, wenn sich die Rechtsanwendung auf eine herrschende Rechtsprechungspraxis hätte stützen können (BGH aaO). 3.2 Freisprüche vom Vorwurf der Rechtsbeugung

Entscheidungen, mit denen der Bundesgerichtshof Freisprüche vom Vorwurf der Rechtsbeugung bestätigt, selbst ausgesprochen oder der Vorinstanz nahegelegt hat, haben ein besonders kritisches Echo gefunden. Das gilt vor allem rur Fälle, die dadurch gekennzeichnet sind, daß die von der DDR-Justiz verurteilten Menschen auf ihren Ausreisewunsch in der Öffentlichkeit mit Nachdruck, zum Teil gemeinschaftlich, hingewiesen haben. Den Machthabern sind solche Bekundungen, auch wegen ihrer werbenden Wirkung, geflihrlich erschienen, und rückblickend darf wohl angenommen werden, daß das Ausreisebegehren einer großen Zahl von DDR-Bürgern zum Autoritätsverfall des Regimes beigetragen hat. Behörden wie Gerichte haben die öffentliche Bekundung des Ausreisewunsches als Provokation aufgefaßt. Die staatliche Reaktion war besonders hart, wenn die Absicht der Werbung angenommen wurde. Dem entsprach die Steuerungspraxis innerhalb der Justiz durch Verlautbarungen des Obersten Gerichts, "Gemeinsame Standpunkte" und den vom Justizministerium der DDR inspirierten Kommentar zum StGB. Diese Vorgaben konnten bei der Prüfung, ob der Rechtsbeugungstatbestand anwendbar ist, mit Rücksicht auf das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot nicht außer Betracht bleiben. Nach den vom Bundesgerichtshof entwickelten Kriterien konnte der Rechtsbeugungstatbestand daher gelegentlich gerade dann nicht angewandt werden, wenn die von der DDR-Justiz abgeurteilten Menschen wegen ihres Mutes, ihrer Risikobereitschaft und ihrer Einstellung besondere Sympathie, ja Bewunderung verdienen 21 • Das ist übrigens ein allgemeines Problem bei der nachträglichen strafrechtlichen Beurteilung von staatlichen Maßnahmen, die sich in einem untergegangenen System gegen Systemgegner gerichtet haben: Je wirksamer und mutiger die Widerstandshandlungen waren, um so schwerer läßt sich die Annahme begrUn2. BGHSt 41,247,268; BGH, Urteil vom 22.10.1996 - 5 StR 140/96.

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den, ihre Bekämpfung durch die Justiz sei per se gesetzwidrig im Sinne der Rechtsbeugungstatbestandes gewesen. Daß diese Annahme im Hinblick auf das nationalsozialistische Unrechts system gleichwohl erwägenswert ist, liegt an dem besonderen Charakter dieses Systems, das auf Widerstand weithin mit Todesstrafe reagierte, an der brutalen Willkürlichkeit des Verfahrens, jedenfalls beim Volksgerichtshof und bei Standgerichten, und daran, daß der Widerstand gegen organisierten Massenmord als Nothilfe aufgefaßt werden kann29 • Solche Voraussetzungen treffen auf die DDR-Justiz nicht in gleicher Weise zu. Jeder wird verstehen, daß diejenigen, die fiir ihre Ausreisefreiheit demonstriert und dafiir Geflingnis erlitten haben, ihre Richter verachten; ob die Richter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können, ist eine andere Frage, die wiederum von der Anerkennung des Rehabilitationsanspruchs unterschieden werden muß. a) Besonders bekannt geworden sind die Freisprüche eines Richters und einer Staats anwältin durch das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 6.10.1994 (BGHSt 40, 272). Ein Mann hatte, nachdem seine Ausreiseanträge ohne Erfolg geblieben waren, während des Abspielens der DDR-Hymne anläßlich einer öffentlichen Vereidigung von Grenzsoldaten ein Plakat entrollt, dessen Aufschrift lautete: "DDR, deine Grenzen sind fiir mich kein Friedensbeitrag!". Er wurde wegen einer Straftat nach § 214 StGB-DDR (Bekundung von Mißachtung der Gesetze in einer die öffentliche Ordnung gefährdenden Weise) verhaftet, angeklagt und zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Regelungen wie § 214 StGB-DDR, die provokative Staatskritik unter Strafandrohung verbieten, sind selbstverständlich unvereinbar mit rechtsstaatlichen Grundsätzen, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland gelten. Wegen des Rückwirkungsverbots kann dieser Maßstab jedoch bei der strafrechtlichen Beurteilung von Angehörigen der DDR-Justiz nicht angelegt werden (BGHSt 40, 272, 278). Demnach ist hier von dem Regelungsgehalt des § 214 StGB-DDR auszugehen. Der 4. Strafsenat, von dem diese Entscheidung stammt, betont, daß die Grenzen der Auslegung in der DDR nicht anders als in der Bundesrepublik Deutschland gezogen gewesen seien, nämlich durch den Wortlaut des Gesetzes (S. 279). Die daran anknüpfende Bemerkung, fiir die Auslegungsmethoden als solche seien keine Besonderheiten fiir die DDR anzuerkennen, weicht nur scheinbar von der Formulierung des 5. Strafsenats ab, daß es auf die Auslegungsmethoden der DDR ankomme, nicht auf die der Bundesrepublik Deutschland (BGHSt 40,30,41). Beide Senate sind sich darüber einig, daß "bei 29 Vgl. Mohr, NIW 1997, 914, 918 mit Nachweisen zum Stand der Diskussion bezüglich der Standgerichtsurteile gegen Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg. Das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 19.6.1956 (NStZ 1996, 485 mit Anmerkung von Gribbohm) hat, anders als das Urteil BGHSt 2, 173 in derselben Sache (Huppenkothen u.a.) , jedenfalls die krassen und zu Tage liegenden Verfahrensmllngel des Standgerichtsprozesses zu wenig berücksichtigt.

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der wertenden Subsumtion des Sachverhaltes unter einen Straftatbestand" zu berücksichtigen ist, daß Richter und Staatsanwälte der DDR "in ein anderes Rechtssystem eingegliedert waren, dessen Wertvorstellungen sie verhaftet waren" (BGHSt 40, 272, 279 - 4. Strafsenat) und daß deswegen die insbesondere vom Obersten Gericht ausgegebenen Richtlinien und die "Gemeinsamen Standpunkte" und Orientierungen nicht außer acht gelassen werden dürfen, soweit sie nicht überpositivem Recht widersprechen (S. 280). In diesem Sinne sei - fiihrt der 4. Strafsenat fort - die Anwendung des § 214 StGB-DDR noch hinzunehmen, also die Auffassung, daß das Plakat die mit der Grenzregelung zusammenhängenden Gesetze in Frage gestellt habe und daß unter den gegebenen Umständen die öffentliche Ordnung gestört worden sei. Die verhängte Strafe sei zwar, auch unter Berücksichtigung der Wertvorstellungen der DDR und des gegenüber dem Westen höheren Strafniveaus, überhöht und unverhältnismäßig, aber angesichts der Gesamtumstände noch kein schwerer Verstoß gegen die Menschenrechte im Sinne willkürlicher Rechtsanwendung (S. 284). b) Die weiteren Freisprüche in Rechtsbeugungssachen beruhen überwiegend auf diesen Grundsätzen. Die DDR-Strafverfahren, in denen die Angeklagten tätig geworden waren, betrafen zum großen Teil Meinungsäußerungen von Ausreisewilligen in der Öffentlichkeit oder gegenüber Behörden, die von der DDR-Justiz als Provokationen bezeichnet wurden, ferner Kontaktaufnahmen mit westlichen Stellen, bei denen die Ausreisewilligen Informationen mitgeteilt hatten, die über die Mitteilung des Ausreisewunsches hinaus gingen, schließlich Arbeitsrechtsstreitigkeiten. aa) Als demonstrative Handlungen mit provokatorischem Charakter wurden von der DDR-Justiz unter anderem die folgenden Handlungen unter den Tatbestand des § 214 StGB-DDR subsumiert: Ausstellen von Plakaten in belebten Passagen mit den Aufschriften "Seit 12 Monaten werde ich am legalen Verlassen der DDR gehindert" (BGHSt 41, 247, 266) und "Schon acht Jahre dauernde, willkürliche Menschenrechtsverletzung" (Urteil vom 15.9.1995 '-5 StR 68/95); Selbstanketten vor der Berliner Marienkirche mit einem Plakat nach vorheriger Benachrichtigung westlicher Journalisten (BGH, Urteil vom 15.9.1995 - 5 StR 168/95); Ausstellen von großen A-Zeichen (A wie Ausreise) im Wohnungsfenster30; Anstecknadel mit dem physikalischen Symbol ftlr Widerstand, Plakat mit neuseeländischem Motiv und Zusatz "Freiheit" an der Wohnungstür (4 StR 777/94, NStZ-RR 1996, 65); Einladung zu einer Grillparty von 25 Ausreisewilligen und Vorschlag, die Ständige Vertretung zu besetzen (aaO); Verabredung einer Schweigedemonstration (BGH, Urteil vom 15.9.1995 -5 StR 168/95)31. JO BGH: Urteil vom 15.9.1995 - 5 StR 168/95, BGHR StGB § 336 DDR-Recht 10; Urteil vom 30.11.1995 - 4 StR 714/94, NStZ - RR 1996, 69. 31 BGHR StGB § 336 DDR-Recht 8.

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Der Bundesgerichtshof hat in all diesen Fällen keinen Zweifel daran gelassen, daß nicht nur die Weite des einschlägigen Straftatbestandes (§ 214 Abs. 1 [ 2.Alternative] StGB-DDR: " ... wer in einer die öffentliche Ordnung geflihrdenden Weise eine Mißachtung der Gesetze bekundet"), sondern auch die Subsumtion der Proteste unter diese Vorschrift sowie die verhängten Strafen nach rechtsstaatlichen, am Grundgesetz und der Europäischen Menschenrechtskonvention orientierten Maßstäben indiskutabel sind. Er hat aber im Hinblick auf das Rückwirkungsverbot berücksichtigt, daß die Entscheidungen der Richter und Staatsanwälte der damaligen Praxis entsprachen, wie sie in den Verlautbarungen des Obersten Gerichts und der anderen Steuerungs instanzen detailliert vorgezeichnet war. Da die Nonn bei aller Bedenklichkeit nicht im Sinne der Radbruchschen Fonnel nichtig war und die Grenze ihres - freilich unscharfen Wortlautes noch nicht eindeutig überschritten war, ist der Bundesgerichtshof zu dem Ergebnis gekommen, daß sich die Entscheidungen noch im Rahmen der DDR-Gesetze gehalten haben und deswegen keine Rechtsbeugung im Sinne des § 244 StGB-DDR waren. Dabei ist nicht verkannt worden, daß der Gesetzesbegriff der DDR außerordentlich unscharf war, wozu auch die uferlose Verwendung des Begriffs der sozialistischen Gesetzlichkeit beitrug. In Grenzfällen hat der Bundesgerichtshof die Frage der Gesetzwidrigkeit im Sinne des § 244 StGB-DDR offengelassen und den Freispruch auf subjektive Gründe gestützt, weil dem Richter oder Staatsanwalt nach dem Befund der tatrichterlichen Feststellungen nicht zu beweisen wäre, daß er seine Entscheidung im Sinne des direkten Vorsatzes fUr gesetzwidrig gehalten hat. bb) Eine verwandte Fallgruppe, bei der es ebenfalls zu Freisprüchen vom Vorwurf der Rechtsbeugung gekommen ist, betriffi: die erste Alternative des § 214 Abs.1 StGB-DDR. Danach ist strafbar, wer die Tätigkeit staatlicher Organe durch Gewalt oder Drohungen beeinträchtigt. Den Begriff der Drohung hat die Justiz der DDR, wiederum angeleitet von den Verlautbarungen des Obersten Gerichts und der anderen Steuerungsorgane, sehr weit ausgelegt. Als Drohung galt jede ernsthafte Ankündigung von Nachteilen fUr den Staat, seine Gesellschaft und die sozialistische Entwicklung. Als Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit wurde auch die Einengung staatlicher Entscheidungsmöglichkeiten aufgefaßtJ2 • Es entsprach den Vorgaben der Justizsteuerung, in diesem Sinne eine Drohung und Beeinträchtigung schon anzunehmen, wenn jemand den Sachbearbeitern fUr den Fall der Ablehnung seines Ausreiseantrages ankündigte, er werde sich umbringen (BGH, NStZ-RR 1996,65), sich mit einem Schild um den Hals vor das Rathaus setzen (BGH aaO), dort bis zur Ausreisegenehmi32 Ministerium der Justiz der DDR (Hrsg.), Strafrecht der DDR. Kommentar zum StGB (5. Aufl. 1987) § 214 Anm. 3. Vgl. auch BGH, Urteil vom 15.9.1995 - 5 StR 23/95, BGHR StGB § 336 Staatsanwalt 2 zur Anwendung des § 214 StGB auf Ausreisewillige, die sich zu einem Verband zusammenschließen wollten.

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gung verharren (BGH, Urteil v.15.9.l996 -5 StR 168/95), eine Botschaft besetzen oder einen Rechtsanwalt aus dem Westteil Berlins engagieren (BGH NStZRR 1996, 65). Die hierfür verhängten Freiheitsstrafen lagen zwischen einem Jahr und eineinhalb Jahren. Auch in diesen Fällen sah sich der Bundesgerichtshof im Hinblick auf das Rückwirkungsverbot gehindert, die Entscheidungen als gesetzwidrig im Sinne des Rechtsbeugungstatbestandes aufzufassen, wenn sie den steuernden Vorgaben entsprachen und nicht die Grenzen des Gesetzeswortlautes überschritten. cc) Eine weitere Fallgruppe, bei der es unter Berücksichtigung des Rückwirkungsverbots zu Freisprüchen von Richtern und Staatsanwälten vom Vorwurf der Rechtsbeugung gekommen ist, betrifft Kontakte zwischen ausreisewilligen DDR-Bewohnern und westlichen Stellen und Organisationen, sofern diese Kontakte über die Mitteilung der Personalien und des Ausreisewunsches hinausgingen, etwa Angaben über Sachbearbeiter der DDR-Behörden und über die Ausweisverhältnisse der Antragstellern, oder sonst mit detaillierteren Informationen verbunden waren, die einem Außenstehenden bei aller Harmlosigkeit im einzelnen doch ein interessantes Gesamtbild verschaffen konnten (BGH, Urteil v. 15.9.1995 -5 StR 642/94). Hier war es zu Verurteilungen nach § 98 StGBDDR (Landesverräterische Nachrichtenübermittlung) gekommen, bei denen Freiheitsstrafen von zwei bis drei Jahren, bei gleichzeitiger Verurteilung wegen "staatsfeindlicher Hetze" (§ 106 StGB-DDR) auch darüber hinaus, verhängt wurden, wobei besonders auf Kontakte zur Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte mit auffallender Schärfe reagiert wurde. Die Problematik dieser Fälle liegt vor allem in der Strafhöhe, bei der zum Teil ein "krasses Mißverhältnis" zur Schwere der Tat vorlag (BGH, Urteil vom 15.9.1995 - 5 StR 713/94 - S. 38). dd) Der Umstand, daß jemand nach § 213 StGB-DDR wegen ungesetzlichen Grenzübertritts verurteilt worden ist, begründet nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für sich allein noch nicht den Tatbestand der Rechtsbeugung . Den Straftatbestand des § 213 StGB -DDR faßt die Rechtsprechung nicht als eine Norm auf, die im Sinne der Radbruchschen Formel nichtig war und deswegen überhaupt nicht angewandt werden durfte (BGH, Urteil vom 15.9.1995 - 5 StR 68/95 - S.l1). Was die Strafhöhe bei der Anwendung dieser Bestimmung angeht, so wird eine willkürliche, schwere Menschenrechtsverletzung in Betracht kommen, wenn die Strafe dem höheren Bereich des Strafrahmens nach § 213 Abs. 3 StGB-DDR (ein Jahr bis acht Jahre Freiheitsstrafe) entnommen worden ist. In einem Fall, in dem auf Antrag der Staatsanwältin eine Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren verhängt worden war, hat der Bun-

37.

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BGH, NStZ - RR 1996,65; BGH, NStZ 1996,386; BGH vom 15.9.1995 - 5 StR 713/94 - S.

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desgerichtshof die Staatsanwältin zwar freigesprochen, jedoch bemerkt, er neige zu der Ansicht, daß eine solche Strafe häufig als unerträglicher Willkürakt angesehen werden müßte, wenn nicht, wie in dem entschiedenen Fall, gravierende Besonderheiten vorlägen". ee) Von Strafverfahren gegen Personen, die aus anderen politischen Gründen, etwa wegen allgemeiner politischer Kritik, mit der politischen Strafjustiz der DDR in Konflikt gekommen sind, ist im Zusammenhang mit den Freisprüchen vom Vorwurf der Rechtsbeugung nicht in gleichem Umfang zu berichten wie über entsprechende Vorgänge, die mit der Ausreisefrage zusammenhängen. Die Freiheitsstrafe von zwei Jahren wegen staatsfeindlicher Hetze, die gegen einen Chemiker verhängt worden ist, weil er die DDR, ihre Repräsentanten und ihre Verbündeten vor ihm zugewiesenen Betriebspraktikanten scharf kritisiert hatte, hat der Bundesgerichtshof als unverhältnismäßig bezeichnet, ohne sie im Sinne seiner Rechtsprechung als schweren Verstoß gegen die Menschenrechte und als Willkür bezeichnen zu können (BGHSt 41, 247, 263, 264). Mit der Vorgeschichte der Revolution von 1989 hängt ein Vorgang zusammen, der von der Versammlung einer "Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaft der DDR" in der Berliner Zionskirche ausging: Dort war beschlossen worden, an der offiziellen Luxemburg-Liebknecht Gedenkdemonstration teilzunehmen und dabei ein Transparent mit dem Luxemburg-Zitat "Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden" zu zeigen. Vier Tage vor der Demonstration wurden Mitglieder der Gruppe behördlich aufgefordert, die Demonstration nicht zu mißbrauchen; die von ihnen geplante Teilnahme sei strafbar. Als sie am Tage der Demonstration das Haus verließen, wurden sie festgenommen. Auf Antrag des Staatsanwalts erließ der Richter einen Haftbefehl wegen versuchter Zusammenrottung nach § 217 StGB-DDR. In dieser Vorschrift wurde, auch für den Fall des Versuchs, wegen "Zusammenrottung" mit Strafe bedroht, wer sich an einer die öffentliche Ordnung und Sicherheit beeinträchtigenden Ansammlung beteiligt und sich nach Aufforderung durch die Staatsorgane nicht entfernt. Die Betroffenen wurden drei Tage später in den Westen abgeschoben. Die beteiligten Richter und Staatsanwälte sind vom Vorwurf der Rechtsbeugung freigesprochen worden. Der Bundesgerichtshof hat die Freisprüche bestätigt (Urteile vom 22.10.1996 - 5 StR 232/96 und 5 StR 140/96) und bemerkt: Aus ihrer Sicht konnte es den Richtern und Staatsanwälten der DDR, die im Gegensatz zur Justiz der Bundesrepublik Deutschland nicht auf den hohen Wert der Versammlungs- und Meinungsäußerungsfreiheit verpflichtet waren und sich nach ihren "Orientierungen" richteten, noch zulässig erscheinen, in der geplanten Nebendemonstration, die den Zielen der offiziellen Veranstaltung zuwiderlief, eine Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung zu sehen, außerdem die vier 34

BGHSt 41,247,265; vgl. auch BGH, NStZ 1995,288.

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Tage vorher erteilte Warnung als eine "Aufforderung" im Sinne des § 117 StGB-DDR aufzufassen und schließlich schon das Verlassen der Wohnung am Demonstrationstag als einen Versuch der "Zusammenrottung" zu werten. Die Verhaftung war zwar nach rechtsstaatlichem Verständnis unverhältnismäßig und schlechthin unvertretbar, ist aber möglicherweise den Richtern und Staatsanwälten der DDR nicht so erschienen, zumal wenn sie angenommen haben, die Mitglieder der "Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaft der DDR" hätten die Haft als Preis für die Ausreisemöglichkeit einkalkuliert. Daß die DDR-Behörden das Verfahren als Auslöser für ein von ihnen gewünschtes Freikaufgeschäft inszeniert hätten, ließ sich nicht erweisen. Zu einem Freispruch durch den Bundesgerichtshof (NJ 1997, 35) kam es auch im Zusammenhang mit einem besonders brutalen Fall politischer Justiz aus der Frühzeit der DDR, der Verurteilung von Zeugen Jehovas zu lebenslangen Freiheitsstrafen durch das Oberste Gericht im Jahre 1950. Der angeklagte beisitzende Richter ist schon 1952 in den Westen geflüchtet. Bei ihm hielt es der Bundesgerichtshof auf der Grundlage der tatrichterlichen Feststellungen für ausgeschlossen, daß die Voraussetzungen eines direkten Rechtsbeugungsvorsatzes noch nachzuweisen sind15 • Das Oberste Gericht hatte die Verurteilung wegen Spionage auf Art. 6 der damaligen DDR-Verfassung gestützt. Der Bundesgerichtshof vermochte dem ehemaligen Richter die Anwendung des Art. 6 (vgl. oben 11 2 b cc) angesichts der Zeitumstände von 1950 nicht als vorsätzliche Rechtsbeugung anzulasten; für die gänzlich unangemessenen lebenslangen Strafen hatte der Richter erwiesenermaßen nicht gestimmt. Eine direkt vorsätzliche Beteiligung an Verfahrensverstößen war ihm nicht nachzuweisen. ff) Freisprüche vom Vorwurf der Rechtsbeugung hat es schließlich - schon in der ersten Instanz und vom Bundesgerichtshof bestätigt - bei ehemaligen Zivilrichtern der DDR gegeben, die arbeitsrechtliche Klagen gegen eine fristlose Kündigung abgewiesen hatten. Der erste Fall (BGHSt 40, 30) betraf einen Fachbereichsleiter für Informationstechnik beim FDGB-Bundesvorstand. Er war aus der SED ausgeschlossen worden, weil er nicht in die Betriebskampfgruppen eintreten wollte; ihm war deswegen das bisherige Beschäftigungsverhältnis mit dem Angebot, ihn in untergeordneter Funktion weiter zu beschäftigen, gekündigt worden. Seine Mitte 1989 dagegen erhobene Klage wurde als offensichtlich unbegründet (§ 28 Abs. 3 ZPO) abgewiesen. Die Richterin, die diesen Beschluß H Die Kritik von Wassermann (Deutschland-Archiv 1996,938), der aus dem Freispruch in dieser Sache auf ein falsches "DDR-Bild" des Bundesgerichtshofs schließt, berücksichtigt nicht, daß der Richter freigesprochen worden ist, weil ihm der direkte Vorsatz nicht nachgewiesen werden konnte; sie zeichnet ein unrichtiges Bild von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wenn behauptet wird, "nur ExzeßtlIter, die etwa die Todesstrafe verhängt oder eigenmathtig über die DDR-übliche Strenge beim Strafmaß wesentlich hinausgegangen sind", könnten noch zur Verantwortung gezogen werden (aaO S.940).

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erlassen hat, und ein Mitglied des ihr zugeordneten Berufungsgerichtes wurden in Berlin wegen Rechtsbeugung angeklagt und freigesprochen. Die Revision der Staatsanwaltschaft gab dem Bundesgerichtshof Gelegenheit, die Grundlagen für die Anwendung des Rechtsbeugungstatbestandes auf Richter der DDR herauszuarbeiten. Bei der Anwendung dieser Grundsätze bot der Fall vergleichsweise geringe Schwierigkeiten. In rechtstatsächlicher Hinsicht war bemerkenswert, daß die Klagschrift bei Eingang zunächst dem Vorsitzenden des Berufungssenats vorgelegt wurde, der dann der Richterin der ersten Instanz den "Ratschlag" gab, wie die Sache zu beurteilen und wie "zu verfahren sei" (BGHSt 40, 30, 32, 38). Schwieriger war die Bewertung eines Dresdner Falles (BGHSt 41, 157): Hier hatte der nunmehr wegen Rechtsbeugung angeklagte Richter die Einsprüche von Lehrerinnen und Erzieherinnen gegen ihre fristlose Kühdigung als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen. Die Kündigungen waren erfolgt, weil die Betroffenen zwischen 1986 und 1988 Ausreiseanträge gestellt und trotz Abmahnung aufrecht erhalten hatten. Nach einer unveröffentlichten Orientierung des Obersten Gerichts, des Staatssekretärs für Gehälter und Löhne und anderer Instanzen "zur einheitlichen Behandlung arbeitsrechtlicher Probleme, die sich bei Versuchen von Bürgern der DDR, die Übersiedlung zu erreichen, ergeben" (bestätigt durch eine Orientierung des Obersten Gerichts von 1988) durfte so entschieden werden. Dem Bildungssystem, in dem die Antragstellerinnen tätig waren, wies das Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem von 1965 die Aufgabe zu, die Fähigkeit zur Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft zu entwickeln und die Grundsätze der sozialistischen Moral herauszubilden. Die Annahme, daß ein Ausreiseantrag angesichts dieses Auftrages eine "schwerwiegende Verletzung der sozialistischen Arbeitsdisziplin" und deshalb ein Grund für die fristlose Kündigung nach § 56 AGB - DDR sei und daß nach § 28 Abs. 3 ZPO-DDR verfahren werden durfte, hielt der Bundesgerichtshof angesichts der Gesetzeslage und der Orientierungen noch für vertretbar; eine Konstellation, bei der die Radbruchsche Formel anzuwenden wäre, lag nicht vor. Der Bundesgerichtshof hat auch hier hervorgehoben, daß das Vorgehen des Gerichts nach den Maßstäben des Rechts der Bundesrepublik Deutschland rechtsstaatswidrig gewesen sei, auch wegen der Geheimhaltung der maßgeblichen Orientierungen (aaO S.173 f.), daß der Rückgriff auf diese rechtsstaatlichen Maßstäbe jedoch wegen des Rückwirkungsverbotes bei der Strafverfolgung unzulässig sei (S. 165). 4. Resume

Folgendes Resume mag erlaubt sein:

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4.1 Praktische Tragweite des Rückwirkungsverbots

Bei der Beurteilung der Frage, ob die Richter und Staatsanwälte der DDR gesetzwidrig im Sinne des Rechtsbeugungstatbestandes gehandelt haben, ist die Berücksichtigung des DDR-Rechts unvermeidlich; sie ist von den Regelungen des Einigungsvertrages und durch das Rückwirkungsverbot des Grundgesetzes geboten. Ist hiernach DDR-Recht anzuwenden, so muß auch im Detail geprüft werden, wie sich die Regelung des DDR-Rechts für den Richter oder Staatsanwalt zur Tatzeit dargestellt hat. Daß die Gerichte der Bundesrepublik Deutschland dies unter Heranziehung der in der DDR erlassenen Richtlinien, Orientierungen, "Gemeinsamen Standpunkte", des DDR-Kommentars zum Strafgesetzbuch und der Entscheidungen des Obersten Gerichts tun, ist wegen des Rückwirkungsverbots unausweichlich. Etwas anderes gilt nur, wenn diese Materialien die Gesetze der DDR, ihren Wortlaut überschreitend, eindeutig fehlinterpretiert haben oder wenn die Gesetze selbst im Sinne der Radbruchschen Formel als Unrechtsgesetze generell nichtig waren. Wegen des Erfordernisses eines direkten Vorsatzes wäre selbst dann eine Bestrafung nur möglich, wenn nachgewiesen wäre, daß sich der Richter oder Staatsanwalt der Überschreitung oder Nichtigkeit des Gesetzes bewußt gewesen ist. Ein weiterer, aber schwer nachweisbarer Fall der Rechtsbeugung wäre gegeben, wenn sich der Richter oder Staatsanwalt der DDR bewußt über die eindeutige Rechtslage hinweggesetzt hätte, etwa in einem zur Vernichtung politischer Gegner inszenierten Scheinprozeß mit einer Anklage, deren Unrichtigkeit er erkennt36 • Die Kritiker dieser Rechtsprechung haben keine Alternative angeboten, mit welcher der Rückgriff auf die Auslegungspraxis der DDR vollständig vermieden werden könnte. Wollte man die Bestimmungen des DDR-Strafgesetzbuches so zugrunde legen, wie sie als Recht der Bundesrepublik Deutschland unter Heranziehung des Rechtsstaatsprinzips und der sonstigen Vorgaben des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechtskonvention angewandt werden müßten, so würde man (abgesehen von den praktischen Schwierigkeiten einer solchen Mischung) den Auftrag des Einigungsvertrages und des Art. 103 Abs. 2 GG verfehlen. Hiernach ist es unvermeidlich, die Rechtswirklichkeit der DDR bei der Prüfung der Gesetzwidrigkeit richterlichen und staatsanwaltlichen Handelns zu berücksichtigen. Zu dieser Wirklichkeit gehörten auch die Richtlinien, Orientierungen und Standpunkte, an die man sich hielt. Die Sorge, ihre Heranziehung durch die Gerichte der Bundesrepublik Deutschland könne den "politischen Impetus der ehemaligen DDR - Machthaber neuerlich legitimieren"37, hat 36 37

Vgl. BGH, Urteil vom 22.10.1996 - 5 StR 232/96 (Rosa-Luxemburg-Demonstration). U.Homann, Kritische Justiz 1996,494,498.

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mit der rechtlichen und sozialen Realität von heute keine Berührung. Auch begibt sich kein Gericht in eine "karikaturreife Rolle"3!, wenn es sich, durch die vom Einigungsvertrag vorgesehene Verweisung auf fremdes Recht veraniaßt, um ein sachgemäßes Verständnis dieses Rechtes bemüht. 4.2 Sanktionen in der DDR-Praxis

Im Mittelpunkt der bisher im Schuldspruch rechtskräftig gewordenen Entscheidungen stehen Fälle, in denen die Sanktion (Strafe, Untersuchungshaft) als unvertretbar hoch im Sinne von Willkür bewertet worden ist. Diese Rechtsprechung filgt sich in eine Entwicklung, die durch zunehmende Sensibilität filr die Menschemechtswidrigkeit überhöhter Strafen gekennzeichnet ist. Sie knüpft an die filr ganz Deutschland geltenden Kontrollratsbestimmungen der Nachkriegszeit (BGHSt 41, 317, 327) und an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 an, nach deren Art. 5 niemand grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Strafe unterworfen werden darf, und bricht mit der Vorkriegspraxis, welche die Strafzumessung weitgehend richterlicher Kontrolle entzog. Daß die heutigen Gerichte in den Rechtsbeugungsverfahren (zum Teil übrigens gegen den Widerspruch der Verteidigung, die behauptet, in der DDR sei die Strafzumessung innerhalb der gesetzlichen Strafrahmen kein Rechtsproblem gewesen) einen strengen Maßstab anlegen, wird auch durch die Beobachtung deutlich, daß die Praxis der Strafzumessung in der DDR seit den sechziger Jahren durchaus nicht strenger, sondern eher milder war als in anderen Staaten des Warschauer Paktsystems, so sehr sie sich auch von der Strafzumessung in der Bundesrepublik unterscheidet. Auch bei der Anwendung der Todesstrafe scheint sich die DDR bis zur Abschaffung im Jahre 1987 mehr zurückgehalten zu haben als einige andere sozialistische Staaten, vor allem die Sowjetunion. 4.3 Zum Kriterium" Überdehnung"

Indem die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs das Rückwirkungsverbot mit normativen Kriterien wie "Überdehnung des Tatbestandes" und "willkürlich hohe Strafe" zu konkretisieren sucht, fordert sie zur Entwicklung einer Kasuistik heraus, deren Handhabung nicht leicht ist und die deswegen die Kritik auf sich gezogen hat, sie sei nicht berechenbar. Es mag sein, daß die Kasuistik durchschaubarer gemacht werden kann. Ganz vermeiden läßt sie sich nicht.

38

F.C.Schroeder, Deutsche Richterzeitung 1996,87.

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4.4 Sonstige Fälle, Vorschau aufkünftige Problemkonstellationen

Es ist möglich, daß künftige Rechtsbeugungsverfahren weitere Fallgruppen und Probleme zutage fördern werden. Fragen des Familienrechtes, etwa bei Zwangsadoptionen, sind in der Praxis des Bundesgerichtshofs, soweit ersichtlich, noch nicht aufgetaucht, was möglicherweise daran liegt, daß sich solche Vorgänge in der DDR ganz auf der Verwaltungsebene vollzogen haben. Schwerwiegende Verstöße gegen das Verfahrensrecht, vor allem gegen Art. 14 des seit 1976 auch für die DDR verbindlichen Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte, sind zweifellos in größerem Maße vorgekommen, als es sich aus der referierten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ergibt. Der Nachweis des direkten Vorsatzes ist hier oft schwer; das gilt zumal bei beisitzenden Richtern sowie in Fällen, in denen dem in der Hauptverhandlung amtierenden Richter vorgeworfen wird, er habe eine im Ermittlungsverfahren erpreßte oder sonst prozeßordnungswidrig erlangte Aussage verwertet (BGHSt41, 317, 347). 5. Einige persönliche Bemerkungen

Einige persönliche Bemerkungen seien dem Bericht angefilgt: 5.1 Beschränkte Leistungsfähigkeit des Strafrechts, Alternativen

Die heftige Kritik an der derzeitigen Rechtsprechung in Rechtsbeugungssachen erweckt den Eindruck, daß von der Strafjustiz zu viel erwartet wird und daß die kritische Diskussion über die Leistungsfllhigkeit des Strafrechts in Vergessenheit geraten ist. Die Strafjustiz kann erlittenes Unrecht nicht wiedergutmachen. Dazu dient das Recht der Rehabilitierung. Es ist wichtig, auf die Bedeutung des Rehabilitierungsrechtes immer wieder hinzuweisen, seine Handhabung nach Möglichkeit zu verbessern und dafür zu sorgen, daß die Ressourcen nicht versiegen. Natürlich ist mit Geld und materieller Restitution nicht alles getan. Damit die Verletzungen verheilen, die viele Menschen durch die DDR-Justiz erlitten haben, muß Unrecht als Unrecht erkannt und benannt werden. Dazu leistet die Strafjustiz einen Beitrag. Er fmdet aber seine Grenzen in den Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit, welche die Funktionalität des Strafrechts einschränken. Solche Einschränkungen sind im Rechtsstaat aus wohlerwogenen Gründen vorgesehen. Denn das Strafrecht ist mehr als andere Regelungssysteme der Gefahr ausgesetzt, zu einem Instrument der Einschränkung oder Unterdrückung von Menschenrechten zu werden. Daran zu erinnern, ist gerade bei der Aufarbeitung eines Systems angebracht, das dieser Gefahr in nicht geringem Maße

Rechtsbeugung durch Richter und Staatsanwälte in der DDR

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erlegen ist. Es sollte niemand meinen, das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland sei vor solchen Versuchungen gefeit. Es ist verständlich, daß die Opfer der DDR-Justiz es schwer ertragen, wenn bei der Beurteilung der Richter und Staatsanwälte, die ihnen Lebenszeit und Lebenschancen genommen und durch die Einweisung in den DDR-Strafvollzug oft auch die körperliche und seelische Gesundheit geschädigt haben, heute mit einer Behutsamkeit verfahren wird, die den Opfern der DDR-Justiz nicht zuteil geworden ist. Trotzdem muß es bei den rechtsstaatlichen Prinzipien bleiben, müssen also Regeln wie der Satz "im Zweifel filr den Angeklagten", das Rückwirkungsverbot und die Unschuldsvermutung uneingeschränkt beachtet werden. Eine angemessene Auseinandersetzung mit Justizunrecht muß sich in der strikten rechtsstaatlichen Bindung vollziehen, welche die politische Strafjustiz der DDR vermissen ließ.

5.2 Straftwecke Die Diskussion über die Strafzwecke sollte unter dem Eindruck der Rechtsbeugungs- und Mauerschützenverfahren vertieft gefUhrt werden. Wird das Ziel des Schuldausgleichs in den Vordergrund gerückt, so ergeben sich Schwierigkeiten filr die Frage des Maßes der Sanktion: Die Wirkungen des Unrechts - bis hin zu den Folgen einer lebenslangen Freiheitsstrafe oder gar der Todesstrafe können extrem groß sein, das subjektive Verschulden angesichts der Prägung des Täters durch berufliche Sozialisation und herrschende Ideologie dagegen wesentlich geringer. Die, von Ausnahmen abgesehen, relativ milden Sanktionen in den Mauerschützen- und Rechtsbeugungsprozessen zeigen, daß es den Gerichten haup~ächlich darum geht, Unrecht und seine Grenzen, auch die Grenzen von Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen, zu defmieren. Diese Praxis ist vernünftig. Die Opfer warten weniger auf harte Strafen als auf die Feststellung, daß ihnen Unrecht geschehen ist, und auf das Eingeständnis des Täters, Unrecht getan zu haben. Solch ein Eingeständnis kann filr beide Seiten befreiend wirken, und zwar gerade dann, wenn die Fairness des Rechtsstaats anschaulich gemacht wird39 • Die Defmition von Unrecht hat auch einen präventiven Sinn: Zum einen sollen rur den Fall eines Systemwechsels zum Unrechtsstaat dessen Funktionä39 Die durch das Rückwirkungsverbot gebotene Einschrllnkung der Strafverfolgung legt die Frage nahe, ob es Fonnen einer sinnvollen außerstrafrechtlichen Feststellung vergangenen Systemunrechts gibt. Die Diskussion hierüber ist kurz nach der Wiedervereinigung lebhaft geftlhrt worden; Lüderssen hat damals nachdenkenswerte Einwllnde gegen "Tribunale" außerhalb des rechtsstaatlichen Strafverfahrens erhoben (Lüderssen, Der Staat geht unter - das Unrecht bleibt?, Frankfurt a.M.l992, S.129 ff.). Trotzdem sollte man den zur Zeit in der Republik Südaftika unternommenen Versuch, die FunktionIIre des überwundenen Herrschaftssystems in außerstraftechtlichen Kommissionen zum Sprechen zu bringen und so den Opfern Genugtuung zu verschaffen, genau beobachten.

7 Drobnig

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re, auch die Richter, gewarnt sein, daß schwere Menschenrechtsverletzungen eines Tages geahndet werden können. Zum andern entspricht die Aburteilung schwerer Menschenrechtsverletzungen, die Staatsfunktionäre, Richter, Staatsanwälte und Grenzsoldaten verübt haben, dem internationalen Prozeß einer Kriminalisierung solcher Taten, der in Nürnberg begonnen hat und in Haager Bosnien-Prozeß eine Ausprägung fmdet. Diese beiden präventiven Funktionen sprechen eher rur eine Einschränkung der verfolgten Taten auf schwerstes Unrecht, weil sie sich so in die internationalen Bestrebungen einfiigen, die sich ebenfalls nur auf schwerste Taten beziehen, und weil auch die präventive Eindruckskraft im eigenen Lande von der Schwere des beschriebenen Unrechts abhängen dürfte. Schließlich wird man von Prävention auch dann reden dürfen, wenn man sich vorstellt, daß die Verarbeitung der Rechtsbeugungsprozesse den Richter und Staatsanwalt zu kritischem Nachdenken über sein eigenes Tun, auch über seine eigenen Fehler, und zum Widerspruch gegen Mißstände veranlassen mag. 5.3 Lehren aus den Rechtsbeugungsverfahren für die Rechtsanwendung

Das fUhrt zu der Frage, welche Lehren aus den Rechtsbeugungsprozessen zu ziehen sind. Eine sinnvolle Reaktion wäre es, sich auf die Qualitäten des Rechtsstaates zu besinnen, deren Fehlen den Anblick des vergangenen DDRSystems so bedrückend macht. Die unfreie Atmosphäre, die das Innere der Institutionen kennzeichnete, und das oft durch Angst verursachte brutale Reagieren von Polizei und Justiz, wenn jemand ein offenes Wort wagte und den Protest auf die Straße trug, machen die alte Wahrheit anschaulich, daß die Freiheit der Meinungsäußerung und der Versammlung grundlegend ftlr eine Demokratie sind. Deswegen sollte man dem Bundesverfassungsgericht dankbar sein, wenn es unbeirrbar an der Vermutung ftlr die Zulässigkeit der freien Rede (BVerfGE 61, 12) festhält und dem Anwendungsbereich des unpräzisen Nötigungstatbestandes Grenzen zu setzen sucht (BVerfGE 92, 1). Der ausufernde Pönalisierungsanspruch unscharfer DDR-Normen, beispielsweise der §§ 214, 219 StGB-DDR , macht die begriffliche Schärfe traditioneller Straftatbestände und die Rücknahme der Strafbarkeit in Strafrechtsreformgesetzen der Bundesrepublik Deutschland schätzenswert. Gerade vor diesem Hintergrund muß die neue Tendenz beunruhigen, das Strafrecht zur Unterstützung der Exekutive auf Handlungen auszudehnen, die nach ihrem Unwert allenfalls Ordnungswidrigkeiten sein sollten40 • Wer sich aus Anlaß von Rechtsbeugungsverfahren mit den weit überhöhten Strafen der DDR-Justiz befaßt hat, wird ferner aktuellen Forderungen entgegentreten, die Strafpraxis in der Bundesrepublik zu verschärfen

40

Beispiele sind § 92 Abs. 1 des Ausländergesetzes und § 85 des Asylverfahrensgesetzes.

Rechtsbeugung durch Richter und Staatsanwälte in der DDR

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und den Anwendungsbereich der Strafaussetzung zur Bewährung einzuschränken. 5.4 Nutzen der Dokumentation

Rechtsbeugungsprozesse haben oft eine erwünschte Nebenwirkung: den Nutzen der Dokumentation. Dokumentation ist eine Voraussetzung ftlr das notwendige Erinnern. Die historische Erforschung der nationalsozialistischen Mordtaten verdankt der Arbeit der Staatsanwälte, vor allem in Ludwigsburg, und der Beobachtung von Hauptverhandlungen viel. Das gilt auch ftlr die internationale Forschung: In neuester Zeit hat sich die wichtige Arbeit von Browning41 ganz überwiegend auf Ludwigsburger Protokolle gestützt. Zur DDR-Justiz gibt es bei der Berliner Staatsanwaltschaft ein Zusammenwirken von Strafverfolgung und historischer Forschung, wie denn auch die Justiz auf diesem Gebiet auf die Vorarbeiten der Wissenschaft zurückgreift, etwa auf das von der Arbeitgruppe um Rottleuthner verfaßte Sammelwerk42 sowie Arbeiten von F.C.Schroeder4l und Werkentin44 • 5.5 Vergleich mit der Beurteilung der von 1933 bis 1945 begangenen Taten

Eine Reflexion über die Gerechtigkeit von Entscheidungen in Rechtsbeugungsverfahren kann nicht daran vorbeigehen, daß den Entscheidungen über das Verhalten von Richtern und Staatsanwälten der DDR die Verfolgung nationalsozialistischen Justizunrechts vorangegangen ist, von der der Bundesgerichtshof gesagt hat, sie sei insgesamt fehlgeschlagen (BGHSt 40, 30, 40) und die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes habe daran einen wesentlichen Anteil (BGHSt 41, 317, 339). Folgerungen aus dieser Analyse hat der Bundesgerichtshof bei der Prüfung des subjektiven Tatbestandes der Rechtsbeugung gezogen (BGHSt 41,317,338 f.; vgl. oben 11 4d). Der Bundesgerichtshof hat bemerkt, daß das staatlich verübte Unrecht in der DDR nicht mit dem Unrecht des nationalsozialistischen Regimes gleichgesetzt werden könne4'. Eine solche Gleichsetzung verbietet sich wegen der unterschiedlichen Dimension des Unrechts (BGHSt 41, 317, 338), außerdem auch .. Christopher R. Browning, Ordinary Men (New York 1992); deutsche Übersetzung: Ganz normale MlInner (Reinbek 1996). 42 S. oben FN 7. 4l

44

Friedrich Christian Schroeder, Das Strafrecht des realen Sozialismus (1983) u.a.m. S. oben FN 7.

4' BGHSt 41,247, 252. S. auch rur Verurteilungen von MauerschUtzen BGHSt 39, I, 16 und BGHSt 41, 101, 107. 7'

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aus folgendem Grund: Der größte Teil der Richter und Staatsanwälte der DDR hat seine berufliche Ausbildung ausschließlich in der DDR erfahren. Sie sind in völlig anderen rechtlichen und sozialen Kategorien erzogen worden als die Richter, die heute über sie zu urteilen haben. Das unterscheidet die Richter und Staatsanwälte der DDR grundlegend von den Richtern der nationalsozialistischen Justiz. Diese hatten überwiegend das Recht noch unter rechtsstaatlichen Vorzeichen in der Weimarer Republik studiert, zum Teil auch praktiziert; sie hatten diese Erfahrung wie auch das Erlebnis der Diktatur mit den meisten Richtern der Nachkriegsjahre gemeinsam. Deswegen hätten die Richter der Nachkriegszeit, soweit sie nicht selbst dem Unrecht willflihrig gewesen waren, eine höhere moralische Qualifikation zur Aburteilung ihrer Kollegen gehabt als die heutigen Richter, die über Verhältnisse zu urteilen haben, die sie überwiegend nicht aus eigener Anschauung kennen. Man wird auch sagen können, daß die Schuld der Richter, die in den Jahren von 1933 bis 1945 das Recht gebrochen haben, grundsätzlich schwerer wiegt, weil sie, soweit sie nicht ganz besonders jung waren, noch in den Rechtsstaat eingewiesen worden waren und diesen verraten haben. Eine gerechte Beurteilung der Schuld eines DDRRichters ist besonders schwierig, wenn es sich bei ihm, wie im Todesurteil-Fall BGHSt 41, 317 , um jemanden handelt, der in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager gesessen hat. Ihm vorzuhalten, gerade diese Erfahrung hätte ihn später von der Mitwirkung an staatlichem Unrecht abhalten müssen, wäre unberechtigtes Moralisieren. Ein solcher Vorhalt würde auch daran vorbeigehen, daß es in der DDR Menschen mit traumatischen Erfahrungen gegeben hat, bei denen sich die Idee festgesetzt hatte, nur ein starker sozialistischer Staat könne die Rückkehr des Nationalsozialismus verhüten, weshalb die DDR rücksichtslos zu verteidigen und vom "kapitalistischen" Westen abzuschotten sei. Das kann den heutigen Beurteiler allerdings nicht daran hindern, der DDRJustiz ebenso wie· der westlichen Justiz wegen der gemeinsamen deutschen Erfahrung mit dem Mordregime der Jahre 1933 bis 1945 eine erhöhte Verantwortung fUr die Menschenrechte zuzuweisen (vgl. BGHSt 41, 317, 329 und oben 11 4c). Bei der Strafzumessung kann es aber zugunsten der jetzt vor Gericht stehenden Richter und Staatsanwälte der DDR ins Gewicht fallen, daß die Urheber zahlreicher Unrechtsurteile der nationalsozialistischen Justiz davongekommen sind, so daß die strengere Linie der heutigen Rechtsprechung "kaum als gerecht zu vermitteln sein dürfte" (BGHSt 41, 317, 343). Es sollte eigentlich überflüssig sein hinzuzufilgen, daß solche Fragen nach der Gerechtigkeit des Strafens nicht die Notwendigkeit in Frage stellen, das Unrecht und das Leid anzuerkennen, das die DDR-Justiz vielen Menschen zugefilgt hat, und den Opfern zu helfen, es zu verarbeiten.

Günter Spendel RECHTSBEUGUNG UND BUNDESGERICHTSHOF EINE KRITIK * Nach einem alten Rechtssprichwort kann niemand in eigener Sache Richter sein. Dieser Satz scheint in einem weiteren Sinne auch für die "Sache Justiz" zu gelten, soweit deren Vertreter Justizverbrechen abzuurteilen haben. Wie nicht wenige Ärzte bei der Begutachtung medizinischer Kunstfehler ihrer Kollegen, so tun sich manche Richter bei der Beurteilung justizieller Verfehlungen ihrer Standesgenossen schwer und zeigen sich oft nicht unbefangen. Auch unsere höchstrichterliche Judikatur bietet leider ein Beispiel dafür, wie problematisch es ist, wenn Richter Angehörige der Rechtspflege richten sollen, und wie leicht sie sich dabei nach einem zweiten bekannten Sprichwort dem Verdacht aussetzen können, daß eine Krähe nicht der anderen die Augen aushacke, auch nicht in der Justiz. Ausländische Rechtsordnungen haben zum Teil gar nicht erst eine besondere Strafvorschrift gegen Rechtsbeugung aufgestellt, wofür die kaum befriedigend lösbare Frage "Wer bewacht die Wächter, wer richtet die Richter?" eine Erklärung sein mag. Der Bundesgerichtshof (BGH) schafft durch seine neueren Urteile fast einen ähnlichen Zustand, indem er mit der Behauptung, damit richterliche Unabhängigkeit oder allgemeine Rechtssicherheit zu wahren, den in Deutschland zum Schutz vor Richterwillkür und Rechtsrnißbrauch bestehenden § 336 StGB, die Strafbestimmung zum Verbrechen der Rechtsbeugung, in der gerichtlichen Praxis weithin unanwendbar macht. Solch scharfe Kritik erheischt nähere Begründung. Hatte man sich im Kaiserreich und noch in der Weimarer Republik der Selbsttäuschung hingegeben, daß die Rechtsbeugung bei einem Richter oder auch Staatsanwalt eigentlich kaum vorstellbar sei, so wurde in der ersten deutschen Diktatur erschreckend deutlich, wie wenig selbst die Vertreter der dritten Gewalt davor gefeit waren, nicht Hüter des Rechts, sondern Diener des Unrechts, d.h. eines verbrecherischen Staatsapparats zu sein und Schandurteile zu fiillen. Anstatt nun nach 1945 Kraft und Mut zu einer Selbstkontrolle und Selbstreinigung aufzubringen und die schweren Rechtsbeugungen pflichtvergessener Mitglieder der Justiz angemessen zu

*

Vortrag, gehalten am 15.12.1995 auf einer Tagung der "Gesellschaft ftlr Deutschlandforschung" im Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin; der Vortrag ist auch abgedruckt in NJW 1996, 809 ff.

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bestrafen, war unsere Nachkriegsrechtsprechung mehr bestrebt, § 336 StGB einschränkend auszulegen. So hatte zunächst 1949 das OLG Bamberg und dann 1956 der BGH - dieser entgegen seiner ursprünglich richtigen Ansicht! - den Rechtsbeugungsvorsatz nur in der Fonn des direkten, nicht aber des bedingten anerkannt, den Begriff 'Vorsatz' also schon fonnell erheblich enger interpretiert l • Dabei sind selbst fahrlässige Rechtsbeugungshandlungen möglich, die der Gesetzgeber jedoch im Interesse einer möglichst weitgehenden Verantwortungsfreiheit und damit Unabhängigkeit des Spruchrichters (vgl. auch § 83911 BGB) bereits straflos gelassen hat. Die höchstrichterliche Judikatur hatte mit ihrer weder durch das Gesetz noch in der Sache gerechtfertigten Einschränkung des subjektiven Tatbestandes von § 336 StGB in der forensischen Praxis wie zum Teil auch in der juristischen Theorie bereitwillig Zustimmung gefunden, mußte sich aber schließlich doch in der Rechtslehre sagen lassen, daß sie sich damit ein ihr nicht zukommendes "befremdliches Richterprivileg" angemaßt habe 2• Ein NS-Richter, der es Z.B. in Kauf genommen hätte, einen aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen womöglich unschuldigen jüdischen Angeklagten zu verurteilen, wäre nach dieser Rechtsprechung nicht wegen Rechtsbeugung strafbar gewesen - ein horrendes Ergebnis. Wie stark der Hang unserer Gerichte war und ist, § 336 StGB nach Möglichkeit in seiner Anwendbarkeit einzuschränken, zeigt auch der Umstand, daß nach der gesetzlichen Klarstellung der Vorsatzbestimmung zu der Vorschrift im Jahre 1974 der BGH noch vier, das OLG Düsseldorf sogar noch 16 Jahre später es dahingestellt sein ließ, ob ein bedingter Rechtsbeugungsvorsatz als subjektive Strafbarkeitsvoraussetzung ausreichend seP. Erst fast 20 Jahre nach 1974 hat der BGH diese Frage ausdrücklich bejahr. Und wenn Pressemeldungen zutreffen, hat er jetzt sogar eingeräumt und bedauert, daß durch die frühere, d.h. auch inhaltliche Einschränkung des subjektiven Rechtsbeugungstatbestandes viele unbegründete Freisprüche zu NSJustizverbrechen ergangen seien s. Wie unsere Nachkriegsrechtsprechung bei der Aburteilung der schuldigen NS-Juristen auch sonst große "Zurückhaltung" geübt hat", so löst jetzt die höchstrichterliche Judikatur eine ähnliche Entwicklung bei der Ahndung der OLG Bamberg in: Justiz und NS-Verbrechen VII (1971) 176, 179 = (stark gekürzt) SJZ 1949,491; BGHSt. 10 (1956) 294, 298. Dazu näher Spendet in Leipziger Kommentar (LK), 10. Autl., 7. Bd. 1988 (28. Lfg. 1982), § 336 StGB Rdn. 77 ff. Schroeder in MaurachlSchroeder, Strafrecht, Besonderer Teil 2. Tbd., 6. Autl. 1981, § 74 11 5; s. ferner Spendet (Fn. 1) § 336 Rdn. 79 ff., 82. BGH bei Ho/tz in MDR 1978,626; OLG Düsse1dorf, NJW 1990, 1374, 1375 I. Sp. BGHSt. 40, 272, 276, NStZ 1995,31,32. Vgl. den Bericht zu einem Urteil des 5. Senats vom 16.11.1995 (5 StR 747/94) gegen einen DDR-Richter in FAZ v. 17.11.1995, Nr. 268 S. 5 (6. Sp. ob.); Mitteilung der Pressestelle des BGH Nr. 66/1995. Vgl. dazu näher Spendet, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, 1984.

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SED-Justizdelikte aus, obwohl der BGH selbst, fast 50 Jahre nach dem Ende der NS-Tyrannei, von "der - insgesamt freilich fehlgeschlagenen - Verfolgung nationalsozialistischen Justizunrechts" gesprochen hat7 • So sehr es einerseits zu begrüßen ist, daß er sich mit Recht - unter Ablehnung entgegenstehender Äußerungen in der Literatur - grundsätzlich zur Zu lässigkeit der Bestrafung ostzonaler Schandurteile bekannt hat, so sehr ist es andererseits zu bedauern und zu beanstanden, daß er nunmehr durch unberechtigte Einschränkung, ja, man muß leider sagen: gesetzwidrige Um deutung des objektiven Rechtsbeugungstatbestandes eine angemessene Strafverfolgung teilweise unmöglich macht, nachdem ihm die rechtswidrige Begrenzung des subjektiven Tatbestandes durch die Gesetzesneufassung von 1974 verbaut ist. Zu welch unhaltbaren Zuständen das führt, geht aus einer Pressemitteilung hervor, wonach eine Strafkammer des LG Berlin, allerdings nicht unbedenklich, gegen ihre eigene Überzeugung von der "schweren Schuld" der angeklagten SED-Justizfunktionäre von deren Verurteilung wegen Rechtsbeugung abgesehen hat, weil diese vom BGH auf Grund seiner abzulehnenden Judikatur ja doch aufgehoben würde". Auf zwei Wegen gelangt unser höchstes Strafgericht dazu, die SEDJustizdelikte weitgehend straflos zu lassen, (1) einmal durch die erwähnte unzulässige Um deutung des objektiven Tatbestandes von § 336 StGB-BRD, (2) zum anderen durch die unangebrachte Berücksichtigung der "sozialistischen" Auslegungsmethoden bei § 244 StGB-DDR. Beide Vorschriften sind zu prüfen, um entscheiden zu können, welche gemäß den §§ 315 I EG StGB, 2 III StGB das mildere Strafgesetz ist. Denn nach Mindeststrafe und subjektivem Tatbestand (nur "Wissentlichkeit", nicht auch Eventualdolus ausreichend) ist dies § 244 StGB-DDR; nach Einschränkung des objektiven Tatbestandes kann das aber auch § 336 StGB-BRD sein·. 1. Noch zur Anwendung des § 336 StGB in der westdeutschen Bundesrepublik hat der 3. Senat des BGH erstmals 1984 in dem ungewöhnlichen Rechtsbeugungsfall eines Jugendstaatsanwaltes den mehr als unglücklichen Satz eines Regierungsvertreters bei den Gesetzesberatungen von 1974 übernommen, daß "nicht schlechthin jede unrichtige Rechtsanwendung, sondern nur die Beugung des Rechts" dem § 336 StGB unterfalle lO • Das aber ist hinsichtlich der Entgegensetzung ("sondern") eine unrichtige Behauptung, hinsichtlich des zweiten Teils (nur eine "Beugung des Rechts" von der Rechtsbeugungsvorschrift erfaßt) ein tautologischer Satz. Gleichwohl hat ihn der 1. Senat des BGH 1986 über-

BGHSt. 40, 30, 40, JR 1994, 246, 248 r. Sp. Vgl. den Bericht in der FAZ v. 14.11.1995, Nr. 265 S. 1 (I. Sp. unt.). S. z. B. BGHSt. 40, 169, 173 f., 178. BGHSt. 32, 357, 364. Zu dem Fall und Urteil näher Spendei, Rechtsbeugung im Jugendstrafverfahren, JR 1985, 485, 10

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flüssigerweise wiederholt ll , bis sich dann 1992 der 4. Senat in einer unpolitischen westdeutschen Strafsache (!) zu der Unterstellung verstieg, allein der schwerwiegende "Rechtsbruch" sei eine (objektive) Rechtsbeugung(shandlung)l2. Diese Gesetzesumdeutung hat der 5. Senat in seinem ersten Urteil zur SED-Justiz Ende 1993 ungepTÜft aufgegriffen. In Fortfiihrung eines damit erneut aufgestellten Richterprivilegs will er als Rechtsbeugung nur noch krasse "Willkürakte" gelten lassen wie "offensichtlich schwere Menschenrechtsverletzungen", Überdehnung der Straftatbestände durch "Überschreitung des Gesetzeswortlauts" , "unerträgliches Mißverhältnis" zwischen Straftat und Strafmaß und Strafverfolgung allein "zur Ausschaltung des politischen Gegners oder einer bestimmten sozialen Gruppe"13. Ein leichteres Unrecht bei der Leitung oder Entscheidung eines Rechtssache zum Vor- oder Nachteil einer Partei vorsätzlich zu begehen, soll also beim Richter oder auch Staatsanwalt noch nicht so schlimm und noch nicht ahndungsbedürftig sein - eine mehr als sonderbare Auffassung vom hohen Richteramt. Man stelle sich nur vor, ein Gericht würde plötzlich erklären, bei dem Vermögensdelikt der Untreue - und man hat ja in der Rechtsbeugung geradezu "ein öffentlich-rechtliches Gegenstück zu der Untreue" des § 266 StGB gesehen l4 - folge aus der Pflicht zur Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen, daß nicht schon jede eindeutige, sondern allein die schwerwiegende Pflichtverletzung des Treuhänders strafbar sein könne. Hier würde sich doch auch sofort Widerspruch gegen diese willkürliche Einschränkung des Treubruchtatbestandes erheben. "Der Irrtum wiederholt sich immerfort in der Tat; deswegen muß man das Wahre unermüdlich in Worten wiederholen" lautet eine Goethesche Maxime. Darum darf ich hier auch meine schon früher, zuletzt Anfang 1995 bei der Deutschen Richter-Akademie in Wustrau getroffene Feststellung wiederholen: Wer als Richter - statt zu "richten", was seine ureigenste Aufgabe ist, die ihm den Namen gegeben hat - das Recht "biegt", d. h. "beugt", indem er es eindeutig falsch anwendet, macht eben "eine krumme Sache" und verletzt das Recht, ohne daß es zu einem völligen "Bruch" mit diesem gekommen sein müßte, indem sich der Urteilende in einem Willkürakt ganz vom Recht "lossagt" und durch dessen gänzliche Nichtbeachtung und Nichtanwendung jede Beziehung zu ihm "abbricht". Die Auffassung des BGH ist keine vertretbare GesetzesausBGHSt. 34,146,149, NJW 1986,3093. BGHSt. 38, 381, 383, JR 1994, 34, 35 r. Sp. und dazu ablehnend Manfred Seebode, Rechtsbeugung und Rechtsbruch, JR 1994, I. 13 BGHSt. 40, 30, 40; 40, 169, 178; 40, 272, 283, JR 1995,211 (4. Sen.) mit Anm. Spende/. Zu den drei Urteilen s. Spende/, Rechtsbeugung und Justiz insbesondere unter dem SED-Regime, JZ 1995,375. 14 So ftlr den ehern. § 266 StGB Grünhut, Die Unabhängigkeit der richterlichen Entscheidung, in: Rechtsstaatsidee und Erziehungsstrafe, MSchrKrimPsych. 1930,3. Beih. (Gedächtsnisschrift Liepmann), S. I, 8. 11

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legung mehr, sondern läuft, wie schon gesagt, auf eine unzulässige Gesetzesumdeutung und auf ein ungesetzliches Richterprivileg hinaus. Nach der bundesgerichtlichen Definition wäre die Verletzung der Verjährungsvorschriften oder der Abstimmungsregeln im Kollegialgericht - um zwei praktische Fälle zu nennen, von denen ich den zweiten als Richter selbst erlebt habe! - oder der eindeutige Verstoß gegen wesentliche strafprozessuale Vorschriften keine objektive Rechtsbeugung(shandlung), da man hier ja schlecht von "offensichtlich schweren Menschenrechtsverletzungen" sprechen kann, wenn Worte noch ihren Sinn behalten sollen - ein unstrittig gesetzwidriges Ergebnis. Es ist bedauerlich, daß der 5. Senat in einer seiner neuesten Entscheidungen vom 15. September 1995 die kritischen Stimmen in der Rechtslehre zu seiner Judikatur nur teilweise registriert und sich mit ihnen nach dem Grundsatz "Stat pro ratione voluntas" nicht auseinandersetzt ls • Seine Position ist eben schwerlich rational zu begründen und zu verteidigen. 2. Die zweite These des BGH, in erster Linie wieder des 5. Senats, die zur weitgehenden Nichtbestrafung der SED-Justizdelikte ruhrt, ist die, daß rur die Beurteilung der ostzonalen Gerichtsverfahren und des § 244 StGB-DDR neben dem "Recht der DDR" auch deren "Auslegungsmethoden" maßgebend sein sollen l6 • Das bedeutet: Letztlich ist ausschlaggebend die "Interpretation" der obersten Vertreter des kommunistischen Unrechtsregimes, rur die das Recht primär nicht der Gerechtigkeit, sondern der Sicherung ihrer Gewaltherrschaft und der Unterdrückung ihrer politischen Gegner diente, so wenn das qualifizierende Tatbestandsmerkmal "unter Anwendung gefahrlicher Mittel oder Methoden" bei dem "Delikt" der "Republikflucht" bereits in der Benutzung einer Leiter zum Übersteigen der Berliner Mauer liegen sollte oder wenn die Anknüpfung "staatsfeindlicher Verbindungen" (§ 100 StGB-DDR) und die "Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit" (§ 214 StGB-DDR) darin gesehen wurde, daß ein deswegen zu zwei Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe verurteiltes Ehepaar Material über seine vergeblichen Ausreiseanträge an die "Gesellschaft rur Menschenrechte" versandt und die Veröffentlichung dieser Anträge in der westlichen Tagespresse angekündigt hatte. Kein SEDGericht hätte penibler als der BGH anfUhren können, welche "untergesetzlichen" Richtlinien, Weisungen und Beschlüsse der SED-Justizoberen alle von den Untergerichten der DDR zu beachten waren und heute von den bundesrepublikanischen Gerichten berücksichtigt werden sollen 17 • Welche Entrüstung hätte sich nach 1945 - mit Recht - in der Öffentlichkeit erhoben, wenn bei IS BGH (5. Sen.) in NJW 1995,3324,3325 r. Sp. Treffende Kritik an der Rechtsprechung auch von RudolfWassermann, Gestörtes Gleichgewicht (1995) 203 ff. 16 BGH (5. Sen.) BGHSt. 40, 30, 41; 40, 169, 179; BGH, NJW 1995, 3324, 3327 r. Sp.; s. auch BGH (3. Sen.), NJW 1995,2734-2735. 17 Vgl. auch BGH (3. Sen.), NJW 1995,2734.

Günter Spende!

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Beurteilung eines NS-Justizverbrechens ein westdeutscher Richter erklärt hätte, bei der Auslegung von NS-Gesetzen seien rur ihn auch die zur Steuerung der Justiz gedachten "Richterbriefe" des letzten NS-Reichsjustizrninisters Thierack beachtlich! Die Auffassung des BGH steht zunächst schon mit seiner älteren Rechtsprechung zur Interpretation von Gesetzen der NS-Diktatur in Widerspruch. Bei der Beurteilung des rechtswidrigen Todesurteils eines Kriegsgerichts gegen einen Soldaten, der sich 1945 nur gegenüber seiner (ihn später bei NS-Stellen anzeigenden) Ehefrau abfällig über Goebbels und Hitler geäußert hatte, hat der BGH auch nicht die weite "Auslegung" des Merkmals "öffentlich" im Tatbestand der "Wehrkraftzersetzung" durch Reichskriegsgericht und Reichsgericht anerkannt, sondern nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen als unvertretbar und unverbindlich angesehen l8 . Warum das, was rur die Auslegung von NS-Gesetzen galt, heute nicht mehr rur die von SED-Vorschriften gelten soll, ist nicht einzusehen. Die Ansicht des 5. Senats ist sodann einem Urteil des 4. Senats - wenigstens dessen Worten nach - diametral entgegengesetzt, worüber jener, der sich sonst gern zur Stützung seiner Judikatur auf die Entscheidungen der anderen Senate, so auch des vierten beruft, in der bereits erwähnten Erkenntnis vom 15. September 1995 stillschweigend hinweggeht. Dabei ist der krasse Widerspruch unübersehbar, wenn einerseits der 5. Senat sagt: "Bei der Auslegung von DDRGesetzen kommt es auf die Auslegungsmethoden der DDR, nicht auf die der Bundesrepublik Deutschland an"l\ und wenn es andererseits beim 4. Senat heißt: Die Auslegungsmaßstäbe rur die Anwendung des DDR-Rechts "unterscheiden sich nicht grundsätzlich von denen der Bundesrepublik Deutschland", und weiter: "Für die Auslegungsmethoden als solche sind keine Besonderheiten rur die DDR anzuerkennen"2o. Daß diese letzten Sätze allerdings mehr ein Lippenbekenntnis sind - wohl im Hinblick auf die in der Rechtslehre an der Ansicht des 5. Senats geübte Kritik - ist leider ebenfalls nicht zu übersehen. Denn auch der 4. Senat erklärt im Widerspruch zu seinem richtigen Ausgangspunkt schließlich doch die "Auslegungsrichtlinien" des Obersten Gerichts der DDR rur beachtlich 21 . Zu welchen Fehlentscheidungen die BGH-Judikatur verleitet, veranschaulicht die Behandlung eines klaren und üblen Rechtsbeugungsfalles zweier ostdeutscher Militärstaatsanwälte. Diese hatten auf Grund ihrer groben Sachverhaltsvertalschung, daß der von Rechts wegen anzuklagende, zur Tatzeit angetrunkene Stasi-Vertreter nicht grundlos, sondern in Notwehr zwei junge Bur18 19 20

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BGH (I. Sen.) BGHSt. 3 (\952),110-111,117-118. BGHSt. 40, 30, 41; 40, 169, 179; BGH, NJW 1995,3324,3327 r. Sp. BGHSt. 40, 272, 279 und dem zustimmend Spendel in JZ 1995,375,380. BGH (4. Sen.) BGHSt. 40, 272, 280 tf.

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schen erschossen und einen dritten schwer verletzt habe, keine Anklage gegen den Todesschützen erhoben, sondern das Verfahren eingestellt22 • Obwohl hier ein Schulbeispiel schwerer Rechtsbeugung gegeben ist, weil eine Tatsachenund Rechtsverdrehung im wahrsten Sinne des Wortes vorliegt (der Totschläger wird zum Angegriffenen, die Todesopfer werden zu Angreifern "umfunktioniert")23, glaubt der 5. Senat des BGH, völlig überflüssig darauf abstellen zu müssen, ob sich die staatsanwaltliche Entscheidung "als Willkürakt darstellt, der ... seinem Gewicht nach einer Menschenrechtsverletzung entspricht"; und ebenso unangebracht ist seine nachhakende Bemerkung: "Für die Annahme eines Willküraktes kann" (warum nicht: muß ?!) "es sprechen, wenn ein Sachverhalt in schwerwiegender Weise verfälscht wird, um ein politisch erwünschtes Ziel zu erreichen"24. Demgegenüber drängt sich sofort die Frage auf: Soll etwa eine Sachverhaltsverfälschung im Falle eines Vermögens- statt eines Tötungsdelikts tUr eine objektive Rechtsbeugung(shandlung) noch nicht ausreichen? Und was hat die Zielsetzung damit zu tun, von der das Gesetz nichts weiß? Erst nach einigem Wenn und Aber hat sich der 5. Senat in längeren AustUhrungen schließlich doch zu dem auf der Hand liegenden richtigen Ergebnis bekannt: Die Sachverhaltsverfiilschung der beiden Militärstaatsanwälte "kann hier ... nur dahin verstanden werden, daß eine nach dem Straf- und Strafverfahrensrecht der DDR gebotene Strafverfolgung ... unterbunden werden sollte, um die Gerechtigkeit zum Nutzen des politischen Systems zu unterdrücken"2s. Ebenso wird mit Recht betont, daß die Wissentlichkeit der Tatbegehung außer Frage stand. Wenn man aber glaubt, der BGH habe nun die erstinstanzliche Verurteilung wegen dieses klaren und schweren Falles einer Rechtsbeugung bestätigt, so wird man enttäuscht. Denn er hebt nun auf Grund seiner ungerechtfertigten Tatbestandseinschränkung zu den §§ 336 StGB-BRD, 244 StGB-DDR das Urteil unter einem strafprozessualen Gesichtspunkt auf. Die vom LG Schwerin zugesagte Wahrunterstellung der Tatsache, die die Angeklagten in ihrem vom Erstrichter abgelehnten Beweisantrag behauptet hatten, daß "Überlegungen zum Ansehen des MfS" bei der rechtswidrigen EinstellungsvertUgung wie auch sonst "keine Rolle gespielt" hätten, stände im Widerspruch zu den tatrichterlichen Feststellungen zur subjektiven Tatseite, d. h. zur Annahme des Beweggrundes, im Interesse des Stasi-Ministeriums den Sachverhalt zu vertuschen. Ein solches politisches Motiv sei aber "im vorliegenden Fall eine wesentliche Voraussetzung tUr die Annahme eines Willküraktes" und damit tUr die Strafbarkeit wegen

22 23

BGH (5. Sen.) BGHSt. 40, 169 und dazu schon kritisch Spendel (Fn. 20) 375, 380 f.

Zur Rechtsbeugung bei der Tatsachenfeststellung durch Sachverhaltsverflilschung näher Spendel in LK (oben Fn. I) § 336 StGB Rdn. 56 f. H

BGHSt. 40,169,181.

2S

BGHSt. 40,169,183-184.

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GUnteT Spendel

Rechtsbeugung26 • Von einem Beweggrund als Stratbarkeitsvoraussetzung ist jedoch bei den §§ 336 StGB-BRD, 244 StGB-DDR nun wirklich keine Rede. Die üble Tatsachen- und Rechtsverdrehung der beiden Militärstaatsanwälte ist und bleibt eine objektiv wie subjektiv eindeutige Rechtsbeugung, "gleichgültig", aus welchem Motiv sie geschah. Hätten die zwei SED-Juristen das Verfahren gegen den Stasi-Totschläger nicht aus dem besagten politischen Beweggrund, sondern z.B. deswegen eingestellt, weil der Todesschütze ihr alter Schul- oder Kriegskamerad war, hätte das nichts an dem Vorliegen des äußeren wie inneren Tatbestands der §§ 336 StGB-BRD, 244 StGB-DDR geändert. Alles andere ist eine selbstherrliche Gesetzesumdeutung und damit gesetzwidrige Entscheidung. Der Beweisantrag der Angeklagten bzw. die (zugesagte, aber unterlassene) Wahrunterstellung des Tatrichters war also tUr den Schuldspruch wegen Rechtsbeugung unerheblich. Daß die verfehlte Judikatur des obersten Strafgerichts kein Leitbild rur die nachgeordneten Landgerichte sein kann, ist naheliegend. Diese verhängen meist stereotyp eine Bewährungsstrafe27 , oft bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe, ob es sich nun um die Annahme von sieben, acht oder elf Fällen der Rechtsbeugung handelt28 • Auch dort, wo der BGH neuerdings in ExtremflilIen erstinstanzliche Verurteilungen ausnahmsweise bestätigt29, wird eine solche Strafzum essungspraxis nicht beanstandet. Das alles zeigt, daß man vor einer wirklichen Bestrafung schuldiger DDR-Justizfunktionäre meist zurückschreckt. Man kann unsere höchsten Strafrichter nur beschwören, daß sie die Größe besitzen mögen, selbstkritisch ihre Rechtsprechung zur Rechtsbeugung einer Revision zu unterziehen. Sonst braucht man nicht erst 50 Jahre zu warten, bis die Nachfahren ein ähnlich negatives Urteil über die ungenügende Verfolgung der SEDJustizdelikte flillen werden, wie es heute die Richter selbst über die weitgehende Nichtahndung der NS-Justizverbrechen ausgesprochen haben 3". BGHSt. 40,169,186 ob. So selbst in dem schweren Rechtsbeugungsfall der bei den ostzonalen Militärstaatsanwälte das LG Berlin, s. BGH, NJW 1994,3238,3239 I. Sp. ob.! (BGHSt. 40,169) 28 Freiheitsstrafe von zwei Jahren unter Strafaussetzung zur Bewahrung in sieben Fällen gegen einen Richter der berüchtigten Waldheimer Prozesse durch Urt. des LG Leipzig vom 1.9.1993, bestätigt durch BGH (3. Sen.) 10.8.1994, s. Mitteilung der Pressestelle des BGH Nr. 36/1994; JZInformation JZ 1994, 298; in acht Fällen durch Urt. des LG Berlin vom 21.4.1994, teilweise aufgehoben durch BGH 15.9.1995 (5 StR 642/94); in II Fällen durch Urt. des LG Berlin vom 31.10.1994, teilweise aufgehoben durch BGH 15.9.1995 (5 StR 168/95). 26 21

29 So BGH (5. Sen.), NJW 1995,3324; ferner Urt. vom 16.11.1995 (5 SIR 747/94), s. schon Fn. 5, wobei die Strafe verschwiegen wird. 30 "Daß Kritik den BGH" kaum "zur Kurskorrektur" veranlassen werde, ist allerdings die pessimistische Vermutung von Wassermann in seinem ausgezeichneten Buche "Gestörtes Gleichgewicht" (\995) 207 fr., 211. Indes gibt jetzt ein neues Urteil des BGH (5. Sen.) zu der Hotmung Anlaß, daß er trotz seiner unzulässigen Einschränkung des objektiven Rechtsbeugungstatbestandes von § 336 StGB doch zu richtigen Ergebnissen findet, s. die (eine erstinstanzliche Verurteilung

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bestätigende) Entscheidung des 5. Senats vom 16.11.1995 - 5 StR 747/94 - wegen Rechtsbeugung in drei Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit Totschlag und in einem Fall in Tateinheit mit Totschlagsversuch, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten auf Grund rechtswidriger Todesurteile. Vgl. ferner das Urteil des 3. Senats vom 15.11.1995 - 3 StR 527/94 -, das jede Stellungnahme zu der unberechtigten "Auslegung" des § 336 StGB vermeidet und sich nur mit dem Begriff "Gesetzwidrigkeit" in § 244 StGB-DDR auseinandersetzt und diese sowie eine Rechtsbeugung nach dem DDR-Gesetz in einigen Fällen bejaht, wenngleich daftlr auch hier einen richterlichen "WillkUrakt" verlangt.

Herwig Roggemann DIE STRAFRECHTLICHE AUF ARBEITUNG DER VERGANGEN HEIT DER DDR AM BEISPIEL DER "MAUERSCHÜTZEN" UND DER RECHTSBEUGUNG - EINE ZWISCHENBILANZ' 1. Politische und rechtliche Vorfragen zur Rechtslage Deutschlands

Vor sechs Jahren, am 3.10.1990, wurde die im Einigungsvertrag vom 31.8.19902 beschlossene Vereinigung der beiden damaligen deutschen Staaten durch den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur (Alt) Bundesrepublik Deutschland vollzogen. Knapp 20 Jahre nach ihrer staatsrechtlichen (Grundlagenvertrag vom 18.12.19723) - und durch alle Staaten mit Ausnahme der Bundesrepublik auch völkerrechtlichen - Anerkennung endete damit die Existenz der DDR. Dieser in der neueren europäischen Rechtsgeschichte singuläre Akt beendete nicht nur die politisch-ideologische Teilung Deutschlands und Europas - eine Folge vorangegangener verbrecherischer deutscher Aggression und deren Niederwerfung durch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg - sonliern auch eines der wohl kompliziertesten rechtlichen Konstrukte: Die Rechtslage Deutschlands. Zugleich entstand die kaum weniger schwierige und streitige Frage, wie die Rechtsfolgen der Teilung und das Systemunrecht des politischen Systems der DDR mit rechtsstaatlichen Mitteln insbesondere des Strafrechts zu bewältigen seien. , Der Verfasser knüpft in den nachstehenden, aktualisierten Ausftlhrungen an seine folgenden Arbeiten an: Grenzübertritt und Strafrechtsanwendung zwischen beiden deutschen Staaten, ZRP 1976, 243 ff.; Von der interdeutschen Rechtsvergleichung zur innerdeutschen Rechtsangleichung, JZ 1990, 366 ff.; Die deutsche Einigung als rechts- und verfassungspolitische Herausforderung, NJ 1992, 377 ff.; Richterwahl und Rechtspflege in den Ländern der früheren DDR, NJW 1991,456 ff.; Zur Strafbarkeit der Mauerschützen, DtZ 1993, 10 ff.; Systemunrecht und Strafrecht - am Beispiel der Mauerschützen in der ehemaligen DDR (Berlin 1993); Die Justiz auf dem Prüfstand der Justiz - Zur Strafbarkeit von DDR-Richtern wegen Rechtsbeugung, in: Im Namen des Volkes? Über die Justiz im Staat der SED. Wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung des Bundesministeriums der Justiz (Leipzig 1994), 285 ff.; Richterstrafbarkeit und Wechsel der Rechtsordnung, JZ 1994, 769 ff.; Fragen und Wege zur Rechtseinheit in Deutschland (Berlin 1995) 75 ff., 211 ff. Hilfreiche Hinweise verdankt der Verfasser Herrn Referendar. Jan Precht. 2 BGBI. 11 1990,885, dazu samt Texten K. Stern, Einigungsvertrag und Wahlvertrag (München 1990); 1. v. Münch, Die Verträge zur Einheit Deutschlands (München 1991). 3 Vgl. Bulletin der Bundesregierung Nr. 155, 1841 ff.; Gesetz zum Grundlagenvertrag v. 6.6.1973, BGBI. 11 1973,421; BVerfGE 36,1,22.

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Die tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten hierüber in der Rechtswissenschaft' und Rechtsprechung fUhren in Grundsatzfragen des Strafrechts und der , Aus der umfangreichen Literatur vgl. nur z.B. K. Amelung, Die strafrechtliche Bewältigung des DDR-Unrechts durch die deutsche Justiz - Ein Zwischenbericht, GA 1996, 51 ff.; J. Amold, Regierungskriminalität in der ehemaligen DDR, NJ 1992, 254 ff.; ders., Die "Bewältigung" der DDRVergangenheit vor den Schranken des rechtsstaatlichen Strafrechts, in: Institut for Kriminalwissenschaften Franlifurt a.M (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts (Frankfurt 1995) 283 ff.; G. Bemmann, Zu aktuellen Problemen der Rechtsbeugung, JZ 1995, 123 ff.; J. Bohnert, Die Amnestien der DDR und das Strafrecht nach dem Beitritt, DtZ 1993, 167 ff.; G. DanneckeriK. F Stoffers, Rechtsstaatliche Grenzen ftlr die strafrechtliche Aufarbeitung der Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze, JZ 1996, 490 ff.; A. EserlJ.Amold, Strafrechtsprobleme im geeinten Deutschland. Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor neuen Herausforderungen, NJ 1993, 245 ff., 289 ff.; A. Eser, Deutsche Einheit. Übergangsprobleme im Strafrecht, GA 1991,241 ff.; ders., Schuld und Entschuldbarkeit von Mauerschützen und ihren Befehlsgebern, in: Reinhard BöttcherlGötz Hueck/Burkhard Jähnke (Hrsg.), Festschrift ftlr Walter Odersky zum 65. Geburtstag (BerlinlNew York 1996) 337 ff.; G. Griinwald, Die strafrechtliche Bewertung in der DDR begangener Handlungen, StV 1991,31 ff.; F Haft, Die "Bereinigung" des SED-Unrechts, DtZ 1994, 258 ff.; T. Hillenkamp, Offene oder verdeckte Amnestie - über Wege strafrechtlicher Vergangenheitsbewältigung, JZ 1996, 179 ff.; 0. Hohmann, Die strafrechtliche Bewältigung durch Richter und Staatsanwälte der DDR - Aktuelle Probleme der Rechtsbeugung, DtZ 1996, 230 ff.; J. Hruschka, Die Todesschüsse an der Berliner Mauer vor Gericht, JZ 1992,665 ff.; G. Jakobs, Untaten des Staates - Unrecht im Staat, GA 1994, I ff.; ders., Strafrecht. Allgemeiner Teil (2. Aufl., Berlin-New York 1991) 120 f.; A.-D. Jordan, Die Regelung des 2. Verjährungsgesetzes zur Vereinigungskriminalitllt, NJ 1996, 294 ff.; G. KüpperlH Wilms, Die Verfolgung von Straftaten des SED-Regimes, ZRP 1992,91 ff.; E.-J. Lampe (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Arbeitskreis Strafrecht, Band 11, Die Verfolgung von Regierungskriminalitllt der DDR nach der Wiedervereinigung (Köln u.a. 1993); ders., Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit durch Strafrecht? ebda. 3 ff.; ders., Systemunrecht und Unrechtssysteme, ZStW 106 (1994) 683 ff.; K. H Lehmann, Recht muß Recht bleiben, NJ 1996, 561 ff.; J. Limbach, Recht und Unrecht in der Justiz der DDR, ZRP 1992, 170 ff.; H-H LochenlC. Meyer-Seitz, Leitfaden zur strafrechtlichen Rehabilitierung und Entschädigung (Herne/Berlin 1994); K. Lüderssen, Zu den Folgen des "Beitritts" ftlr die Strafjustiz der Bundesrepublik, StV 1991,482 ff.; ders., Der Staat geht unter- das Unrecht bleibt? Regierungskriminalität in der ehemaligen DDR (FrankfurtlM. 1992); H Luther, Der Einigungsvertrag über die strafrechtliche Behandlung von DDR-Alttaten nach der Einigung Deutschlands, DtZ 1991, 433 ff.; M Maiwald, Rechtsbeugung im SED-Staat, NJW 1993, 1881 ff.; J. Polakiewicz, Verfassungs- und völkerrechtliche Aspekte der strafrechtlichen Ahndung des Schußwaffeneinsatzes an der innerdeutschen Grenze, EuGRZ 1992, 177 ff.; J. Renzikowskis, Zur Strafbarkeit des Schußwaffengebrauchs an der innerdeutschen Grenze, NJ 1992, 152 ff.; E. Samson, Die strafrechtliche Behandlung von DDRAlttaten nach der Einigung Deutschlands, NJW 1991,335 ff.; ders., Auslands- oder Inlandstheorie bei DDR-Alttaten, NJ 1991, 236 ff.; J.-G. Schätzier, Die versäumte Amnestie, NJ 1995, 57 ff.; F-C. Schroeder, Zur Strafbarkeit von Tötungen im staatlichen Auftrag, JZ 1992,990 ff.; ders., Strafrechtliche Verantwortlichkeit ftlr die Ausübung politischer Strafjustiz in der ehemaligen DDR, in: E. - J. Lampe (oben) 109 ff.; ders., Die Rechtswidrigkeit der Flüchtlingserschießungen zwischen Transzendenz und Immanenz, JR 1993,45 ff.; ders., Der Rechtfertigungsgrund der Entscheidung von Rechtssachen, GA 1993,389 ff.; ders., Geschichtsbewältigung durch Strafrecht?, DRiZ 1996,81 ff.; B. Schünemann, Strafrechtliche Verantwortlichkeit ftlr die DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung, in: E.-J. Lampe (oben) 173 ff.; G. Spendei, Rechtsbeugung und Justiz - insbesondere unter dem SED-Regime, JZ 1995,375 ff.; ders., Der Bundesgerichtshof zur Rechtsbeugung unter dem SED-Regime, JR 1994,221 ff.; ders., DDR-Unrechtsurteile in der neueren BGH-Judikatur - eine Bilanz, JR 1996, 177 ff.; T. Vormbaum, Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit von DDR-Richtern wegen Rechtsbeugung, NJ 1993,212 ff.; R. Wassermann, Wie Unrecht geschont wird - Zum Umgang mit der SED-Justiz, RuP 1996, 132 ff.; K. Weber, Die Verfolgung des SED-

Die strafrechtliche Aufarbeitung der Vergangenheit der DDR

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Strafpolitik im Verhältnis zwischen Strafrecht und Politik. Ein Ende der Kontroversen i. S. einer einigenden "Klärung"5 ist kaum zu erwarten, zumal letzten Endes in diesen Grundfragen - wann und in welchem Umfang staatliche Funktionsträger Staatsgewalt bis hin zu ihrer unmittelbarsten Form als bewaffnete Gewalt im behaupteten Interesse des Staates gegen ihre Staatsbürger anwenden dürfen und inwieweit sie ftir rechtsverletzendes Fehlverhalten strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können - keine absoluten Richtigkeitsbeweise, sondern (nur) Argumentationsmuster zur Begründung letztlich metarechtlicher, in politischen, historischen sowie philosophischen Zusammenhängen wurzelnder Wertauffassungen entwickelt werden können. Der Vorgang der Einigung wird zumeist als "Wiedervereinigung Deutschlands" bezeichnet. Dieser dem Bonner Grundgesetz in dieser Form unbekannte Terminus ist in zweifacher Hinsicht ungenau. Einmal legt er nahe, daß "wieder", gleichsam bruchlos anzuknüpfen gewesen wäre an einen früheren Rechtszustand. Damit aber würden vier Jahrzehnte unterschiedlicher Rechts- und Sozialgeschichte der bei den deutschen Staaten hinweggedacht. Nicht hinreichend erfaßt wird damit auch der Einigungsprozeß als Aufgabe gesamtdeutscher Neuordnung, die sich nicht nur auf Sozialismusfolgenbeseitigung und "Vergangenheitsverarbeitung" durch "Unrechtsbereinigung" beschränken kann. Der Rechtsakt der Vereinigung stellt in seiner staatsrechtlichen Grundkonzeption einen Beitritt mit der Folge der Erstreckung eines politischen Systems und seiner Rechtsordnung auf Gebiet und Bürger eines anderen Staates dar - der damit erlischt. Die Einigung erscheint staatsrechtlich ebenso wie strafrechtlich reduziert auf eine identitätswahrende Gebietsvergrößerung der (Alt)Bundesrepublik. Der BGH hat aus dieser Sicht im Streit um die Strafbarkeit ehemaliger DDR-Agenten wegen Landesverrats gegenüber der (Alt) Bundesrepublik Deutschland daher auch den scheinbar einfachen Schluß gezogen: "Durch den staatsvertraglich vorbereiteten und geregelten Beitritt der DDR zur Bundesrepublik ist in der Strafbarkeit und Verfolgbarkeit des dem Angeklagten zur Last gelegten Verhaltens, wie sich aus den Bestimmungen des sogenannten Einigungsvertrages (Gesetz zu dem Vertrag vom 31. August 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands und der Vereinbarung vom 18. September 1990 i.d.F. des Gesetzes vom 23. September 1990 - BGB!. II, S. 885 ff.) und auch aus Art. 315 IV EGStGB entnehmen läßt, keine Änderung eingetreten"6. Unrechts in den neuen Ländern, GA 1993, 195 tf.; H Wullweber, Die MauerschUtzenurteile, KJ 1993, 49 tf. 5 Vgl. K. Lackner/K. Kühl, Strafgesetzbuch (21. Aufl. 1995) § 2 Rdnr. 11. 6 VgI.BGHNJWI99I,2498. 8 Drobnig

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Herwig Roggemann

Demgegenüber hat das BVerfG in seinem Beschluß v. 15.5.1995' die Straflosigkeit der früheren DDR-Spione mit einem "unmittelbar verfassungsrechtlichen Verfolgungshindernis" begründet, das aus dem Rechtsstaatsprinzip der Verhältnismäßigkeit folge. Dies gelte zumal, "wenn ein bestimmtes Ereignis, wie die irri Zuge der Wiedervereinigung entstandene singuläre staats- und strafrechtliche Situation, die ohne Vorbild ist und sich so nicht wiederholen kann, die Frage aufwirft, ob eine - an sich zur Durchsetzung des Strafzwecks weiterhin geeignete und erforderliche - Verfolgung bestimmter strafbarer Handlungen zu einer so starken Beeinträchtigung rechtlicher Positionen der davon Betroffenen fUhrt, daß dies den durch die Strafverfolgung erreichbaren Rechtsgüterschutz deutlich überwiegt"8. Anders soll aus der Sicht des BVerfG eine Strafverfolgung zu bewerten sein, die zwar auch erst durch die staatsrechtliche Situation der Wiedervereinigung möglich geworden sei, aber Straftaten betreffe, deren Unrechtsgehalt nicht allein aus Staatsschutzzwecken, sondern allgemeinem sozialen Unwerturteil herzuleiten sei. Neben dem allgemeinen, aus der Begrenztheit rechts staatlicher Strafzwecke auf einen verfassungsrechtlich legitimierbaren Rechtsgüterschutz folgenden Argument, daß nämlich die Strafverfolgung aufgrund von Strafnormen des an das jeweilige politische System gebundenen Staatsschutzstrafrechts nach Wegfall des Schutzzwecks unverhältnismäßig sei, stützt das BVerfG seine Entscheidung fUr Straffreiheit noch auf ein spezielles, nämlich aus dem Verfassungsziel, die Einheit Deutschlands zu vollenden (vgl. Präambel GG a.F. von 1949 sowie n. F. von 1990), abgeleitetes Argument: Die Strafverfolgung sei "auch darum unangemessen, weil es der Gestaltung der staatlichen Einheit entgegenwirkt, wenn die Staatsgewalt des vereinten Deutschland gegenüber jenen Personen, die zuvor fUr die DDR tätig waren, den Anspruch auf Bestrafung wegen der gegen die Bundesrepublik noch als 'fremden' Staat gerichteten Spionage wie vor der Vereinigung durchsetzen will"? Die Begründungsansätze in diesem höchstrichterlichen Entscheidungskonflikt - nicht der einzige Strafrechtsdissens zwischen beiden Gerichten in neuerer Zeit - legen das Grundproblem der staats- und völkerrechtlichen Vorfrage nach dem Verhältnis von Systemunrecht und Strafrecht offen: nach der Legitimation eines Staates zur Ausübung von Strafgewalt über Bürger eines anderen Staates und Unterworfene einer grundsätzlich andersartigen, staatssozialistischen (Straf)Rechtsordnung nach deren Erlöschen durch Beitritt zum strafverfolgenden Staat. Die Anwort ist, wie die Begründung des BVerfG zeigt, nicht allein aus strafrechtsdogmatischer Deduktion abzuleiten, sondern hat den verfassungsrechtlichen Gesamtzusammenhang des deutschen Einigungsprozesses mitzuberücksichtigen. In kritischer Absicht, doch durchaus , Vgl. BVerfG JZ 1995, 885 ff. 8 Vgl. oben FN 7, S. 888. ? Vgl. oben FN 7, S. 898.

Die strafrechtliche Aufarbeitung der Vergangenheit der DDR

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zu recht fragen die überstimmten Verfassungsrichter in ihrer abweichenden Meinung lO , ob die aus den Rechtsstaatsgrenzen des Strafrechts und der einigungsspezifischen Ausnahmesituation entwickelten Gegengründe des BVerfG nicht auch gegen die Strafverfolgung anderer DDR-Bürger wegen anderer Systemunrechtstaten geltend zu machen seien. Denn sie enthalten Ober die Frage der Spionagestrafbarkeit hinausgehende, verallgemeinerungsfiihige Rechtsgedanken. Und es wird sich erst noch zu erweisen haben, wie die oberste europäische Rechtsschutzinstanz, der EuGHMR in Straßburg, der auch in einem anderen Fall die Grenzen des deutschen Staatsschutzrechts anders zog als die deutsche JustizII, die verschiedenen Fälle der nachholenden Strafverfolgung von Funktionsträgern und Sachwaltern der DDR durch die gesamtdeutsche Strafjustiz beurteilt, wenn sie vor ihn gelangen. Das Dilemma der Legitimation nachholender Strafverfolgung nach der Vereinigung besteht also, in Fortftihrung des zutreffenden Grundgedankens des BVerfG, darin, daß ftir die Weiterbestrafung aufgrund von Strafnonnen zum Schutz von Gemeinschaftswerten, die Staatsschutz und politischen Systemschutz im weitesten Sinne zum Ziel haben, kein legitimer Schutzzweck mehr nachweisbar ist, wenn die Staatsordnung, von der die potentielle Gefahr ausging oder umgekehrt zu deren Systemschutz die betreffenden Strafnonnen dienten, weggefallen ist. Für Individualrechtsgüter soll, wie gesagt, anderes gelten. Nun betreffen beide hier betrachteten Tatkomplexe, MauerschOtzen wie Rechtsbeugung, aus der Sicht des DDR-Strafgesetzgebers - und damit aus bundesdeutscher Sicht "seitenverkehrt" - zweifellos den damaligen, dortigen politischen Systemschutz, nämlich die Durchsetzung des Grenzregimes mit seinen Spernnaßnahmen (geschützt durch § 105 StGB-DDR "Staatsfeindlicher Menschenhandel" und § 213 StGB-DDR "Ungesetzlicher Grenzübertritt") sowie der sozialistischen Gesetzlichkeit durch eine in den sozialistischen Parteistaat eingebundene Rechtsprechung (geschützt durch § 244 StGB-DDR "Rechtsbeugung"). Ob das Konstrukt der "Unrechtskontinuität" über diese Differenz der politischen System bindung des jeweiligen Schutzzwecks bei der Strafverfolgung wegen Rechtsbeugung hinweghelfen kann, ist zumindest dann zweifelhaft, wenn man mit der wohl vorherrschenden Auffassung in diesem Straftatbestand ein Gemeinschaftsrechtsgut sieht und den Individualrechtsschutz nur als "Rechtsreflex" gelten lassen will. Für die Taten in den Mauerschützenverfahren gelingt dies ebenfalls nur, wenn man sie völlig aus ihrem politischen Kontext herauslöst und als reine Individualrechtsgüterverletzungen ohne politischen Systembezug betrachtet. Wie schon die Fallkonstellationen (siehe unten 2.) und Oben FN 7, S. 894, 895. Vgl. EuGHMR 26.9.1995 (Fall Vogt), NJ 1996,248 ff.; dazu näher H Roggemann, Europäische Grenzen rur den deutschen Staatsschutz?, NJ 1996, 338 ff. 10

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die dort genannten täterschaftlichen Formen der Tatbeteiligung - einschließlich des täterschaftlichen Handeins der politischen "Hintermänner" im Rahmen "organisatorischer Machtapparate" - zeigen, würde dies schon auf der Tatbestandsebene in unlösbare Widerspruche fUhren. Und auf der Ebene der Rechtswidrigkeitsprufung verlangt dieser Ansatz, von der politischen Systembedingtheit möglicher Rechtfertigungsgrunde abzusehen bzw. diese als nicht relevant zu betrachten. 2. Fallkonstellationen und Verfahren 2.1 Mögliche Formen der Aufarbeitung

Die Verfahren gegen Mauerschützen und wegen Rechtsbeugung bilden nur die - wenn auch weithin sichtbare - Spitze einer breiten Pyramide von nach der deutschen Einigung eingeleiteten Maßnahmen größtenteils rechtlicher Verarbeitung des politischen System wechsels und der Sozialismusfolgen in der ehemaligen DDR. Das Strafrecht eröffuet nicht den einzigen, möglicherweise auch nicht den allen Fällen angemessenen Weg dahin. Folgende Reaktionsformen nach politischem Systemwechsel sind denkbar - und auch teils in Europa, teils anderswo praktiziert worden": 1. Abolitionistisches Vorgehen in Form einer Generalamnestie, verbunden mit einem zukunftsgewandten Programm der nationalen Versöhnung - Spanisches Modell nach Ende der 40jährigen faschistischen Herrschaft 13 ;

2. Außergerichtliche Spruchkörper mit der Möglichkeit anschließenden Rechtsweges (Wahrheitskommission) - Südafrikanisches ModellI'; vgl. auch Polnisches Modell: geplanter Lustrationsausschuß aufgrund vorliegender Lustrationsgesetzentwürfe l5 ;

12 Dazu näher R. Goldstone, der frühere Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs der Vereinten Nationen von 1993 in Den Haag rur Balkankriegsverbrechen, auf dem Einstein-Forum Potsdam am 30.3.1996. Vgl. auch H Roggemann, Fragen und Wege zur Rechtseinheit in Deutschland (Berlin 1995) 251 ff. 13 Dazu näher A. Lopez Pina, Die Aufarbeitung der Geschichte in Spanien - Straf- und strafjlrozeßrechtliche Reformen zur Zeit der Verfassungsgebung, Vortrag am Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin, 1992, JöR N.F. 41 (1993) 485 ff. 14 Vgl. dazu R. Goldstone (oben FN 12), ferner G. Werle, Ohne Wahrheit keine Versöhnung! - Der südafrikanische Rechtsstaat und die Apartheid-Vergangenheit, Humboldt-Universität zu Berlin, 1995 (Öffentliche Vorlesungen). 15 Zum Problem vgl. B. Banaszak, Moralisch-rechtliche Aufarbeitung und Entkommunisierung in Polen, ROW 1994, 1\3 ff.; vgl. ferner den Sejm-Beschluß zur Offenlegung von Informationen über Funktionstrllger v. 28.5.1992, der am 19.6.1992 vom polnischen Verfassungsgericht rur verfassungswidrig erklärt wurde, Orzecznictwo Trybunalu Konstytucyjnego 1992, 196 ff.

Die strafrechtliche Aufarbeitung der Vergangenheit der DDR

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3. Politische Aufklärungsverfahren - Beispiel: Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SEDDiktatur in Deutschland"16; 4. Justizförmige Verfahren, insbesondere durch Strafgerichte, ferner Verwaltungsgerichte (Rehabilitierungsverfahren) und Arbeitsgerichte (Streitigkeiten wegen politischer Eignungsprüfung und Sonderkündigungsverfahren);

5. Internationale oder supranationale Strafgerichte: In Anbetracht der Tatsache, daß in den Strafverfahren gegen Mauerschützen und DDR-Richter Gesetzgebungs-, Rechtsprechungs- und Ausfilhrungsakte von Funktionsträgern eines Staates (der DDR) durch einen anderen (die gesamtdeutsche Bundesrepublik) wegen des Vorwurfs schwerer Menschenrechtsverletzungen zur Beurteilung anstehen, liegt die Frage nach einer internationalen bzw. supranationalen Spruchinstanz nahe l7 - die es (noch) nicht gibt l8 •

2.2 Formen strafrechtsrelevanten Systemunrechts Die anstehenden Strafrechtsprobleme werden meist unter dem Begriff "Regierungskriminalität" behandelt. Bei der Staatsanwaltschaft beim Kammergericht Berlin war dementsprechend auch 1990 eine "Arbeitsgruppe Regierungskriminalität" gebildet worden, die am 1.10.1994 in die Staatsanwaltschaft II bei dem Landgericht Berlin übergeleitet worden ist. Der Begriff "Regierungskriminalität" ist jedoch aus mehreren Gründen ungenau. Es kann weder um die Kriminalisierung der Regierungstätigkeit der ehemaligen DDR-Führung schlechthin gehen, noch handelt es sich beim Schußwaffengebrauch oder der inkriminierten Rechtsprechungstätigkeit um Regierungshandeln. Ob und inwieweit derartige Ausfilhrungshandlungen den Regierungsmitgliedern und der obersten Parteifilhrung der DDR strafrechtlich zurechenbar sind, ist streitiger Gegenstand einzelner Verfahren gegen Mitglieder oberster Staats- und Parteiorgane (Verfahren gegen Nationalen Verteidigungsrat, Politbüro-Verfahren). Die Einfilhrung und Aufrechterhaltung einer undemokratischen, repressiven oder auch ökonomisch ruinösen Regierung und Staatsordnung mag aus übergeordneter ethischer, sozialer, religiöser oder staatsphilosophischer, auch aus menschenrechtlicher Sicht ein zu verurteilendes 16 Durch Bundestags-Beschluß v. 13.5.1992, BT-Drucks. 12/2597 eingerichtet; vgl. auch Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (Neun Bände) (FrankfurtlM. und Baden-Baden 1995). 17 So z.B. J Amold, Die Bewältigung (oben FN 4) 312. 18 Dazu näher H Roggemann, Auf dem Wege zum ständigen internationalen Strafgerichtshof, ZRP 1996,388; ders., Der Internationale Strafgerichtshof der Vereinten Nationen von 1993 und der Krieg auf dem Balkan (Berlin 1993).

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Unrecht sein, ist jedoch weder rur sich genommen strafbar noch unmittelbar zur Begründung strafrechtlicher (Regierungs)Verantwortlichkeit in einem rechtsstaatlich minimierten Strafrecht geeignet. Es sollte daher von Systemunrecht sowie von den Strafrechtsfolgen systembedingten oder systembegünstigten Fehlverhaltens gesprochen werden. Im einzelnen ist zu unterscheiden: 1. Regierungskriminalität im engeren Sinne als Frage nach tatbestandlicher Haftung von Regierungsmitgliedern und anderen Spitzenfunktionären rur Tötung und Verletzung von Flüchtlingen an den Grenzen zwischen beiden deutschen Staaten sowie an der Berliner Mauer. Hierzu zählen die Verfahren gegen den Staatsratsvorsitzenden (Honecker-Verfahren )19, Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates (Keßler-Verfahren)20 sowie sechs Mitglieder des Politbüros (Krenz-Verfahren)21 als Anstifter oder wegen täterschaftlicher Beteiligung als Mittäter oder mittelbare Täter im Rahmen organisatorischer Machtapparate;

2. lustizkriminalität (Rechtsbeugung, Verfolgung Unschuldiger, Freiheitsberaubung);

3. Vollzugskriminalität (Straftaten von Polizei, Strafvollzugspersonal oder Grenzsoldaten);

4. Organisationskriminalität (Stasi oder SED als kriminelle Organisationen?); 5. Wirtschaftskriminalität (Untreue, Unterschlagung und sonstige Vermögensdelikte). Die sog. "Mauerschützenprozesse"22 - die schon längst nicht mehr nur solche sind - erfassen damit inzwischen Akteure auf allen Ebenen: 19 Hierzu den Prozeß-Bericht von U. WeseI, Ein Staat vor Gericht (FrankfurtlM. 1995). 20 BGH 26.7.1994, BGHSt 40,218, NStZ 1994, 537 ff., dazu Anm. G. Jakobs, NStZ 1995,26 f.;

W. Gropp, Die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates als "Mittelbare Mit-Täter hinter den Tätern"? (Besprechungsaufsatz), JuS 1996, 13 ff.

21 Zum Verfahrensstand nach Ablehnung des Vorsitzenden Richters wegen Besorgnis der Befangenheit vgl. LG Berlin 17.11.1995, NJ 1996,41 f. 22 Beginnend mit der Entscheidung v. 3.11.1992 (5 StR 370/92), BGHSt 39, I, NJW 1993, 141, dazu H Roggemann, DtZ a.a.O. (Anm. I) 10, haben der BGH und die Instanzgerichte sich in zahlreichen veröffentlichten Entscheidungen mit dem Problem auseinandergesetzt, vgl. BGH 25.3.1993 (5 StR 418/92), BGHSt 39, 168, NJW 1993, 1932; BGH 19.4.1993 (5 StR 602/92) , BGHSt 39, 199, NJW 1993, 1938; BGH 8.6.1993 (5 StR 88/93), NStZ 1993,488, DtZ 1993,255; BGH 20.10.1993 (5 StR 473/93), BGHSt 39,353, NJW 1994,271, JR 1994,258 m. Anm. J. Bohnert; BGH 18.1.1994 (I StR 740/93), BGHSt 40, 48, NJW 1994,2237; BGH 19.4.1994 (5 StR 204/93), BGHSt 40,113, NJW 1994,2240; BGH 26.7.1994 (5 StR 98/94), BGHSt 40,218, NJ 1994, 534 m. Anm. H Prantl, NStZ 1995,26 m. Anm. G. Jakobs; BGH 26.7.1994 (5 StR 167/94), BGHSt 40, 241, NJW 1994,2708, NJ 1995,46 (dazu Anm. K. Amelung, NJ 1995,29), JZ 1995,45 m. Anm. C. Roxin ; BGH 7.2.1995 (5

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1. Ausführende Grenzsoldaten als Befehlsempflinger;

2. befehlende Offiziere und Kommandeure23 ; 3. Befehle konzipierende, formulierende oder das Befehlssystem in der Staatspraxis der DDR überhaupt erst ermöglichende Organisations- und Kommandospitzen;

4. die obersten politischen Funktionsträger.

Eine Systematisierung der einzelnen Fallgestaltungen - wie sie sich insbesondere auf der untersten Ebene der unmittelbaren Tatausführung zu (1) darstellen - ergibt eine Anzahl Tathergänge 24 mit deutlich unterschiedlichem Unrechtsgehalt: a) "Einfacher Schußwaffengebrauch"; b) massierter Schußwaffengebrauch; c) Schüsse ohne Vorwarnung; d) Gezielte oder ungezielte Todesschüsse; e) Schüsse auf offensichtlich Verletzte;

t) Tötung durch unterlassene Hilfeleistung; g) Schüsse auf flüchtenden Straftäter; h) Schüsse nach bewaffnetem Angriff oder Gegenwehr des Flüchtlings; i) Schüsse auf (Alt)Bundesgebiet.

Die hiernach erforderliche Differenzierung im Strafbarkeitsurteil wegen unterschiedlicher Wirkung etwaiger Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe wird erschwert oder unmöglich gemacht, wenn, wie dies der BGH nochmals in seiner "Jubiläumsentscheidung"2S v. 20.3.1995 26 bekräftigt, die Unzulässigkeit mit (Waffen)Gewalt durchgesetzter Grenzsperrmaßnahmen und damit die Ab-

StR650/94), BGHSt41, 10, NJW 1995,2732; BGH 15.2.1995 (2 StR 513/94), NStZ 1995,286; BGH 20.3.1995 (5 StR 111/94), BGHSt 41, 101, NStZ 1995,401, NJ 1995, 539; BGH 20.3.1995 (5 StR 378/94), NJW 1995,2732; BGH 18.5.1995 (5 StR 139/95), BGHSt 41, 149, NStZ 1995,497; BGH 4.3.1996 (3 StR 494/94), NJW 1996,2042; BGH v. 17.12.1996 (5 StR 137/96), noch nicht veröffentlicht. 23 Neueres Beispiel: BGH 4.3.1996, NJW 1996,2042 ff. 24 Zu den Einzelheiten vgl. H Roggemann, Zur Strafbarkeit (oben fN I) 12 f.; ders., Systemunrecht und Strafrecht (Berlin 1993) 35 ff. 2S SO H Dannecker/K.F. Stoffers (oben fN 4), JZ 1996,490 ff., mit zusammenfassendem RUckblick auf die bisherige Rechtsprechung. 26 BGHSt 41, 101ff., NJ 1995,539 ff..

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lehnung jedweder Rechtfertigungsmöglichkeit schlechthin ausnahmslos auch für Fallgestaltungen zu (a - c) oder zu (g) und (h) "aus einer Gesamtwertung des Grenzregimes hergeleitet" und damit dem Recht der DDR und der damaligen Staatenpraxis - sei es in der Form von Gesetzen oder Anordnungen und Befehlen - rechtfertigende Geltungskraft generell abgesprochen wird 21 • Diese grundsätzliche Position des BGH wurde nun auch durch das BVerfG28 in seinem neuen Beschluß vom 24.10.1996 voll bestätigt. 29 Das BVerfG schließt sich der Ansicht an, "die Tötung eines unbewaffneten Flüchtlings durch Dauerfeuer sei unter den festgestellten Umständen ein derart schreckliches und jeder möglichen Rechtfertigung entzogenes Tun gewesen, daß der Verstoß gegen Verhältnismäßigkeit und elementares Tötungsverbot auch für einen indoktrinierten Menschen ohne weiteres einsichtig und damit offensichtlich war."J" Es bleibt auch hier abzuwarten, wie anschließend der EuGHMR die Frage beurteilen wird. In ähnlich umfassender Weise erfassen die Rechtsbeugungsverfahren 31 Richter und Staatsanwälte aller Gerichtsebenen der ehemaligen DDR von den Kreisgerichten über die Bezirksgerichte bis zum OG der DDR. Wegen der spezifischen tatbestandlichen Reichweite des Amtsdelikts der Rechtsbeugung betreffen

27

So BGH NI 1995, 540.

28 Dem verschiedene Verfassungsbeschwerden verurteilter Grenzsoldaten vorlagen, vgl. BVerfG,

Beschl. v. 12.7.1995, NStZ 1995,490 sowie BVerfG, Beschl. v. 13.10.1994, NI 1995,28.

2' BVerfG (2 BvR 1852/94 u.a.), NI 1997, 19 ff., 21, m. Anm. P.A. - Alexis, NI 1997, 1 f., DA 1997, 166 ff., 167 (Anm. K. W. Fricke, DA 1997,4 ff.), IZ 1997, 141 m. Anm. C. Slarck; vgl. auch J Amold, Bundesverfassungsgericht contra Einigungsvertrag (Besprechungsaufsatz), NI 1997, 115 ff. 30 BVerfG, NI 1997, 22. 31 Beginnend mit BGH 13.12.1993 (5 StR 76/93), BGHSt 40, 30, IZ 1994, 796 (dazu H Roggemann, JZ 1994, 769 ff.) haben BGH und Instanzgerichte inzwischen zahlreiche weitere Entscheidungen zur Rechtsbeugung von DDR-Richtern und Staatsanwälten erlassen, vgl. BGH 29.4.1994 (3 StR 528/93), NStZ 1994,426 (Anm. E. Reimer, NStZ 1995,83); BGH 9.5.1994 (3 StR 354/93), BGHSt40, 169, NIW 1994,3238, NI 1995, 128 m. Anm. 0. Hohmann; BGH 6.10.1994 (4 StR 23/94), BGHSt 40,272, NIW 1995, IR 1995,211 m. Anrn. G. Spendei, 214; BGH 26.4.1995 (3 StR 93/95), NI 1995,597; BGH 5.7.1995 (3 StR 605/94), BGHSt 41, 157, NJW 1995,2734, NStZ 1995, 546 m. Anm. F. C. Schroeder; BGH 15.9.1995 (5 StR 713/94), BGHSt 41, 247, NIW 1995, 3224; BGH 15.9.1995 (5 StR 642/94), NStZ-RR 1996,201, StrafVert 1996,297; BGH 15.9.1995 (5 StR 23/95 und 5 StR 168/95), NI 1996, 152 f.; BGH 15.9.1995 (5 StR 68/95), BGHR StGB § 336 DDR-Recht 9; BGH 15.11.1995 (3 StR 527/94), NStZ 1996,386, NJ 1996,318; BGH 16.11.1995 (5 StR 747/94), BGHSt 41, 317, NIW 1996,857, NStZ 1996,389 m. Anrn. H Begemann, JZ 1996,866 m. Anm. M Maiwald; BGH 30.11.1995 (4 StR 714/94), NStZ-RR 1996, 69, NI 1996,264; BGH 30.11.1995 (4 StR 777/94), NStZ-RR 1996,65; BGH v. 20.6.1996 (5 StR 54/96), NI 1997,35. Insbesondere in den Urteilen v. 15.9.1995, wo es um die Anwendung des politischen Strafrechts der DDR ging, und v. 16.11.1995, wo die Mitwirkung an Todesurteilen in Frage stand, hat der BGH eine rückblickende Bestandsaufuahme der bisher von ihm entwickelten Rechtsprechungsgrundsätze vorgenommen; dazu kritisch G. Spendei (FN 4), IZ 1995, 378 f.

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die Verfahren jedoch nicht die verantwortlichen Funktionsträger der Justiz- und Ministerialverwaltung. Diese Möglichkeit eröffnet der erst kurz vor dem Ende der DDR durch das 6. StrafrechtsänderungsG v. 29.6.1990 32 eingefügte § 238 StGB-DDR (Beeinträchtigung richterlicher Tätigkeit). Da dieser erst mit dem 6. StÄG am 1.7.1990 in Kraft trat, blieben die Formen und Verhaltensweisen der Einwirkung auf die richterliche Urteilsfindung in der DDR, die nunmehr Gegenstand von Rechtsbeugungsprozessen sind, zweifelsfrei außerhalb der Reichweite dieses neuen Tatbestandes und damit im hier untersuchten Zusammenhang praktisch bedeutungslos. 2.3 Verfahren

Die Strafverfolgungsaktivitäten gegenüber früheren Funktionsträgern der DDR haben in dem kurzen Zeitraum seit der Vereinigung teilweise außerordentliche Ausmaße angenommen. Im Jahre 1995 belief sich die Gesamtzahl der - nur zu 3-5 % auf Strafanzeigen beruhenden - Ermittlungsverfahren zur strafrechtlichen Aufarbeitung von DDR-Unrecht auf rund 52.000, von denen 30.000, d.h. über 50 % abgeschlossen wurden 33 • In 1-2 % der Fälle haben die Ermittlungen zur Anklage geführt. Etwa die Hälfte aller o. g. Ermittlungsverfahren, d.h. mindestens 25.000 sind gegen Richter und Staatsanwälte eingeleitet worden", in 118 Fällen ist Anklage erhoben, 21 Urteile sind ergangen, zumeist Freiheitsstrafen auf Bewährung; wegen anderer Formen von "Regierungskriminalität" werden 336 Anklagen und rund 170 Urteile genannt. Eine genaue statistische Erfassung erfolgt nur für den Bereich Berlin 3S durch die Staatsanwaltschaft II bei dem Landgericht Berlin (s. oben b). Hiernach stellt sich der Stand der Verfahren wegen SED-Unrechts (Regierungskriminalität) für die Zeit vom 3.10.1990 bis 31. 8 .1996 wie folgt dar3";

GBI. DDR 1990, 526; dazu G. Teilchier, NJ 1990,291 ff. Vgl. die Angaben in NJ-lriformationen, Stand der Aufarbeitung des SED-Unrechts, NJ 1995, 247; ferner M Lemke, NJ 1995,237 ff; A. Weinke, Die DDR-Justiz im Jahr der "Wende", DA 1997,41 ff. sowie BT-Drucksache 13/6810. 34 Vgl. F. Werkentin, stellv. Landesbeauftragter rur die Stasi-Unterlagen in Berlin, in: TAZ v. 20.1 0.1995, 12 f. J5 Ein ständiger wechselseitiger Datenaustausch mit gemeinsamer Zusammenfassung durch die rur die Verfolgung von Systemunrecht zuständigen "Schwerpunktstaatsanwaltschaften" der neuen Bundesländer (Schwerin, Neuruppin, Dresden, Magdeburg, Erfurt) findet nicht statt; hierzu sind fallweise Erhebungen erforderlich. 36 Information der Staatsanwaltschaft II bei dem Landgericht Berlin. 32

33

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Von insgesamt 6.273 Eingängen wurden 5.109 erledigt, davon 194 durch Anklagen, 4.915 durch Einstellungen und andere Erledigung, 1.164 Verfahren sind noch offen. Wegen Gewalttaten an der Grenze (Totschlag) wurden 78, wegen Justizunrechts (Rechtsbeugung und Totschlag/Freiheitsberaubung) 45 Anklagen erhoben. In den genannten 78 Anklagen in "Mauerschützenprozessen" wurden 182 Personen angeklagt, davon 40 rechtskräftig verurteilt und 25 rechtskräftig freigesprochen. Wegen lustizunrechts (vorwiegend Rechtsbeugung) wurden von 12.554 Eingängen 8.272 erledigt, davon die genannten 45 Anklagen erhoben, von diesen 27 wegen Rechtsbeugung. 4.282 Verfahren sind noch offen. Insgesamt sind 91 Personen angeklagt, 14 Verfahren abgeschlossen, bisher ein Angeklagter rechtskräftig verurteilt, 5 nicht rechtskräftig verurteilt, 3 rechtskräftig und 8 nicht rechtskräftig freigesprochen. 3. Historische und politische Asymmetrien

In den rund 125 Jahren seit lnkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuchs hat Deutschland nicht weniger als acht politische Systemwechsel erfahren, teils in Form von Systembrüchen, gewaltsam und erzwungen, teils als Übergang und Wende, gewaltlos und vereinbart: Von der vordemokratischen Kaiserzeit über die kurze, radikaldemokratische Durchgangsphase des Rats der Volksbeauftragten während der Revolution von 1918, den gescheiterten zweiten deutschen Demokratieversuch der "Weimarer Republik", die Diktatur des nationalsozialistischen Unrechtsstaats, die Jahre der Besatzungsherrschaft nach dem militärischen und politischen Zusammenbruch 1945, den Aufbau des demokratischen Rechtsstaats in der (Alt)Bundesrepublik Deutschland sowie den "sozialistischen Aufbau" im Vor-Rechtsstaat der Deutschen Demokratischen Republik seit 1949, die revolutionäre Übergangs- und Wendezeit in der DDR 1989/90, die Vereinigung Deutschlands durch Beitritt der DDR 1990 zur gesamtdeutschen "Berliner Republik" der Gegenwart. Nicht jeder, doch mehrere dieser Übergänge waren mit Rechtsbrüchen und Rechtsänderungen, einige auch mit tiefergehenden Folgen politischen Systemunrechts verbunden. In keinem Falle ist es zu vergleichbar intensiven Versuchen einer "Vergangenheitsverarbeitung" mit Mitteln der Stratjustiz gekommen. So dürfte die berichtete Zahl von rund 70 veröffentlichten Entscheidungen zur Rechtsbeugung während des Jahrhunderts seit 1871 bis 1990 bereits in den wenigen Jahren seither bald erreicht sein. 37 Der aus heutiger Sicht unfaßbaren Zahl von "mindestens 32000 Todesurteilen", die die deutsche Justiz zwischen 1933 und 1945 fiUlte", und bei denen es 37

31

Dazu näher H Roggemann, Justiz auf dem Prtlfstand der Justiz (oben FN I) 286. Vgl. weitere Angaben in H Roggemann, JZ 1994,770.

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sich in der Mehrzahl um offensichtliche Terrorurteile handelte, stehen neben Verfahrenseinstellungen und Freisprüchen - soweit überhaupt Verfahren eröffnet wurden - nur einige wenige Verurteilungen gegenüber, die man an einer Hand abzählen kann 3•• Mit den etwaigen Unrechtsurteilen der DDR-Justiz verhält es sich anders, und zwar nicht nur, soweit es sich um den Verdacht schwersten Justizunrechts in Form der - bis 1987 zulässigen - Todesstrafe und ihrer "Verhängung in mindestens 200 Fällen"4" geht, sondern infolge angeordneter Nichtverjährung auch in zahlreichen anderen, minderschweren Fällen justizieller Rechtsverletzungen. Wenn auch die oben (s. 2 c) genannten Zahlen der Anklagen und Verurteilungen sich - gemessen an den Ermittlungsverfahren - bisher in überschaubarem Rahmen halten, so lassen sich doch bereits an dieser Stelle zwei zusammenfassende Feststellungen treffen: Erstens: Noch nie hat es in der deutschen - und wohl auch außerdeutschen Justizgeschichte nach einem politischen Systemwechsel eine auch nur annähernd vergleichbar hohe Verfolgungsintensität und Zahl von Rechtsbeugungsverfahren gegeben. Zweitens: Die Strafverfolgung wegen Gewalttaten und insbesondere wegen Justizstraftaten des Nationalsozialismus in Deutschland nach 1945 und des Staatssozialismus in der DDR nach 1990 verhält sich umgekehrt proportional zur Schwere der begangenen Straftaten. Die Frage nach den Gründen für diesen bemerkenswerten Sachverhalt läßt sich nicht einfach mit Hinweisen auf die Qualitäten rechtsstaatlicher Justiz im heutigen Deutschland erledigen, auch nicht mit den unerträglichen Dimensionen des Justizunrechts in der DDR. Dahinter bleibt die weitere Frage, ob nicht, gewissen historischen Traditionslinien der deutschen Justiz folgend" und im Bestreben nach Überkompensation des notorischen Versagens der Justiz angesichts des nationalsozialistischen Systemunrechts nunmehr die Strafjustiz erneut - und sei es absichtslos - für politische Zwecke instrumentalisiert werde.

So G. Spendel, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung (Berlin u.a. 1984) 1 ff. Dazu F.-c. Schroeder, GA 1993,401. 41 So greift z. B. G. Spendel, Rechtsbeugung und Justiz, JZ 1995,376, beim Versuch historischer Erfassung der Rechtsbeugung eindeutig zu kurz, wenn er rur die Zeit der Weimarer Republik nur auf wenige und wenig relevante Entscheidungen hinweist, dagegen das zentrale Problem ganz außer acht laßt: nämlich die vielfach bis zur Rechtsbeugung und darüber hinaus reichende politische Einseitigkeit der deutschen Strafjustiz, die die demokratische Republik nicht von nationalistischer oder faschistischer, sondern grundsätzlich von sozialistischer oder kommunistischer Seite gefllhrdet sehen wollte und auf ihre Weise viel zum Scheitern der Weimarer Republik beigetragen hat, vgl. mit weiteren Nachweisen E. und H Hannover, Politische Justiz 1918-1933 (FrankfurtlM. 1966) 17,76 ff., 145 ff., 213 ff., 274 ff. 39 40

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4. Strafrechtsgeltung und Rechtsanwendung

Es ist zu unterscheiden zwischen der abstrakt-ubiquitären Rechtsgeltung, die ein nationaler Gesetzgeber einer Norm verleihen kann, und der konkretisierenden Rechtsanwendung und Rechtsdurchsetzung seitens staatlicher Gerichtsgewalt im Strafverfahren. Erst durch diese wird der Normbefehl realisiert und der Grundrechtseingriff gegenüber dem Normadressaten manifest. Erst diese unterliegt verschiedenen völkerrechtlichen und staatsrechtlichen Schranken. Rechtsgeltung und Rechtsanwendung können im interlokalen und intertemporalen Strafrecht -wie in Deutschland nach der Vereinigung - auseinanderfallen. Die universelle oder in ihrer tatbestandlichen Reichweite eingeschränkte - Rechtsgeltungsanordnung bezieht sich auf Tatzeit und Tatort des rechtsverletzenden Täters als Normadressaten. Die Rechtsanwendungsanordnung betrifft Ort, Zeit und Entscheidung des rechtsanwendenden Gerichts. Die Ersetzung von Tatortrecht (= DDR-Strafrecht) durch neues Strafrecht (= bundesdeutsches Strafrecht) mit rückwirkend stratbegründender Wirkung ist vom Einigungsvertrag weder vorgesehen, noch wäre sie rechtsstaatlich - wegen Verstoßes gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot - zulässig. Auf DDR-Alttaten ist daher durch die nunmehr kraft einheitlicher Gerichtsgewalt zuständigen Strafgerichte der Bundesrepublik grundsätzlich Tatort- und Tatzeitrecht, d.h. Strafrecht der DDR, anzuwenden, soweit nicht mit der Geltungserstrekung des Bundesrechts der Strafschutz ganz entfallen sollte. Dieser Grundsatz (vgl. Art. 315 Abs. I EGStGB) wird durch zwei Ausnahmen modifiziert: Soweit vor der Vereinigung, d.h. noch zuzeiten der Existenz der DDR auf Taten von DDR-Bürgern das bundesdeutsche Strafrecht anwendbar war - was der BGH schon in seinem ersten Mauerschützen-Urteil v. 3.11.1992 in zutreffend restriktiver Interpretation des § 7 Abs.l sowie 2 Ziff.l StGB rur die Regelfälle ausschloß" - soll es dabei bleiben. Falls das bundesdeutsche Strafgesetz milder ist, soll dieses (gern. Art. 315 Abs.l EGStGB i.V.m. § 2 Abs.3 StGB) zur Anwendung kommen. Das "Mildeprivileg" ruhrt nicht nur zur Anwendung der jeweils milderen Strafdrohung4 1, sondern zur unmittelbaren Anwendung des gesamten, jeweils milderen Gesetzes··. Der Mildevergleich hat darüber hinaus das gesamte, einerseits zur Tatzeit, andererseits zur Entscheidungszeit geltende Recht einschließlich etwaiger Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe - sowie verfassungsgerichtlicher StrafausschJießungsgründe (s.o. zu 1) - einzubeziehen. Nur mit diesen Einschränkungen erscheint einer nachholende Strafverfolgung von .2

Vgl. BGH, NJW 1993, 141, 142 f.

43

Sowohl M Maiwald, NJW 1993, 1883.

44

So auch K. Weber, GA 1993, 203 f.

Die strafrechtliche Aufarbeitung der Vergangenheit der DDR

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DDR-Alttaten rechts staatlich überhaupt begründbar. Der Rechtsprechung des BGH - insbesondere in den Mauerschützen- und weniger in seinen Rechtsbeugungs-Urteilen - kann an diesem Punkt der Rechtsanwendung allerdings bereits die grundsätzliche Kritik entgegengehalten werden, Teile des nach dem Mildevergleich zwingend anzuwendenden Tatortrechts der DDR, insbesondere seiner Rechtfertigungssätze, zu eliminieren, soweit sie ex post gesetzten rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen oder auch überpositiven Wertungsmaßstäben nicht genügen. Die retrospektive strafrechtliche Beurteilung von Handlungen früherer Funktionsträger (Richter, Staatsanwälte, Grenzsoldaten, Offiziere) der DDR hat demnach auf der Grundlage des in der DDR geltenden Rechts, "der besonderen Grundzüge dieses Rechtssystems" und der dortigen Methoden der Rechtsanwendung zu erfolgen: "Bei der Auslegung von Nonnen kommt es auf die Auslegungsmethoden der DDR, nicht auf die der Bundesrepublik an"~s. Es handelt sich also in diesen Fällen der Anwendung von DDR-Altrecht durch den heutigen Strafrichter der Bundesrepublik um immanente, kritische Fremdrechtsanwendung, die eine möglichst genaue Rekonstruktion des DDR-Rechts verlangt. Zum geltenden Recht der DDR gehören nicht nur die Normlage neben den dort entwickelten Auslegungsmethoden, sondern auch die Praxis der Rechtsanwendung, die nicht die eines demokratischen Rechtsstaats, sondern eines sozialistischen Vor-Rechtsstaats mit weitgehend fehlender rechtsstaatlicher Garantiewirkung von Normen war. Zweifellos erwächst aus diesen Anforderungen für den heutigen Strafrichter ein gewisses Dilemma: Einerseits kann es nicht darum gehen, die staatssozialistische, sich als "marxistisch-leninistisch" verstehende Staats- und Rechtsideologie verlängernd nachzuvollziehen. Andererseits ist es nicht Sache "berichtigender" Interpretation, Strafrecht der DDR, die zeit ihrer Existenz kein Rechtsstaat war, nachträglich in das eines Rechtsstaates entsprechend der Bundesrepublik zu verwandeln oder es daran zu messen. Denn auf diese Weise würde das Mildeprivileg - in Zusammenhang mit der Tatortrechtsanwendung die notwendige rechtsstaatliche Brücke zur nachholenden Strafverfolgung - "hintenherum" wieder umgangen~6.

~s

So zutreffend BGH 13.12.1993, BGHSt 40,30 ff., 41.

Diese Schlußfolgerungen des Verf. kritisiert G. Spendei, Rechtsbeugung (oben FN 4), JZ 1995, 378 FN 19, als "gewundenes Hin und Her", doch bleibt sein Gegenvorschlag strikter Wortlautinterpretation des DDR-Rechts in der normativen Ebene hängen und kann den seit langem anerkannten Regeln der Fremdrechtsanwendung im internationalen wie im interlokalen Strafrecht nicht gerecht werden: denn ohne die Rekonstruktion auch der materialen fremden Rechtswirklichkeit kann rechtsstaatliche Strafgewalt auf fremde Rechtsgeltungsbereiche - und ein solcher war eben die DDR - nicht erstreckt werden. ~

Herwig Roggemann

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An diesem Punkt zeigt sich auch ein signifikanter Unterschied im Beurteilungsansatz des BGH gegenüber den Mauerschützen- und den Rechtsbeugungsflillen: Der BGH sieht zutreffend die Anwendungspraxis des rechtsstaats- und menschenrechtswidrigen politischen Strafrechts der DDR als Teil der damaligen Rechtswirklichkeit und nicht von vornherein strafwürdig an: "Nicht jede rechtsstaatswidrige oder mit Grundsätzen des Menschenrechtsschutzes als unvereinbar zu wertende Entscheidung von Richtern oder Staatsanwälten, die auf der Grundlage des DDR-Rechts erging, kann nachträglich als eine Beugung des Rechts aufgefaßt werden. Das rechtsstaatlich verankerte Prinzip des Vertrauensschutzes verlangt grundsätzlich, auch im Blick auf Art. 103 11 GG, das geschriebene DDR-Recht bei der Prüfung der Gesetzwidrigkeit einer Entscheidung i. S. des § 244 DDR-StGB als wirksam zu betrachten, soweit es um die Strafbarkeit des Amtsträgers geht, der sein Handeln von diesem DDR-Recht gedeckt sehen konnte"". Im Falle der Mauerschützen dagegen will der BGH und, ihm folgend, nun auch das BVerfG - den betroffenen Funktionsträgern jedwede Berufung auf Rechtfertigungsgründe des DDR-Rechts und seiner damaligen Anwendungspraxis in einer Weise verweigern, die differenzierungsunfähig und daher rechtsstaatlich nicht haltbar ist: "Der Senat ist unter den gegebenen Umständen zu der Bewertung gekommen, daß die Verneinung von Menschenrechten durch den Schießbefehl in der Staatspraxis der DDR - gleichviel ob es auf bloßen Anordnungen der Exekutive beruhte oder auf das GrenzG 1982 zurückgeführt wurde - ein so schweres Unrecht darstellte, daß etwaige Rechtfertigungsgründe unbeachtlich bleiben"41. Das Dilemma der Fremdrechtsanwendung besteht offenbar weiter. Der - ausgesprochene oder unausgesprochene - Rekurs auf die Schwere der behaupteten Rechtsgutsverletzung bietet an dieser Stelle keine Lösungsmöglichkeit. Der BGH sollte sich entschließen, auch im schmerzlicheren Problembereich der Mauerschützen eine weitergehende Differenzierung durch Rechtfertigung zuzulassen. 5. Politisches Strafrecht im Rechtsstaat Der Begriff "politisches Strafrecht" ist ambivalent. Im negativen Sinne meint er das Strafrecht als Werkzeug einer politischen oder politisierten Justiz, die es zu politischen Zwecken mißbraucht, sei es im Interesse der Machtsicherung einer politischen Partei oder Organisation, sei es um politische Opposition oder staatskritische Presse, Wissenschaft und Literatur generell zu kontrollieren und notfalls zu eliminieren. Darüber hinausgehend kann als politisches Strafrecht,

47

So BGH 15.9.1995, NJW 1995,3226.

41 So BGH 20.3.1995, NJ 1995,541; vgl. auch neuestens BVerfG v. 24.\0.1996, NJ 1997, 19 ff.,

DA 1997, 166ff.

Die strafrechtliche Aufarbeitung der Vergangenheit der DDR

127

dessen Kernbereich das Staatsschutzstrafrecht ausmacht'·, der strafrechtliche Schutz des Staates und seines Bestandes, seiner Verfassungsordnung, Organe, Repräsentanten, Symbole sowie Verfahrensweisen im "politischen Prozeß" der Meinungs-, Mehrheits- und Entscheidungsbildung verstanden werden. Dem politischen Strafrecht in einem weiteren Sinne sind schließlich auch diejenigen Straftatbestände und Verfahren zuzurechnen, in denen die politische Systembezogenheit entweder der geschützten Rechtsgüter oder inkriminierten Verhaltensweisen in die strafrichterliche Beurteilung zwingend einzubeziehen sind. In diesem Sinne handelt es sich sowohl bei den Mauerschützen- wie bei den Rechtsbeugungsverfahren um politische Prozesse. Ein wesentlicher Teil der richterlichen Rechtsfindung ist der Rekonstruktion einer andersartigen, nämlich der DDR-Rechtsordnung im Kontext ihres damaligen politischen Systems gewidmet, und in keinem der oben genannten Strafurteile51 ' fehlt es an mehr oder weniger ausfiihrlichen und zutreffenden Ausfiihrungen 51 . Dies macht auch die Mauerschützen- und Rechtsbeugungsprozesse der Sache, d.h. dem Prozeßgegenstande nach bereits zu politischen Strafverfahren. Die außergewöhnliche Verfolgungsintensität (s. oben 3 c), verbunden mit einem aus der Diktion des Einigungsvertrages und anderer Folgegesetze abgeleiteten, generellen gesetzlichen Unwerturteil ("SED-Unrecht", "Bereinigung von SED-Unrecht"52, "Verjährung bei SED-Unrechtstaten"53), das zur Qualifizierung der DDR als "Unrechtsstaat" oder jedenfalls "im Kern Unrechts staat" in der Rechtsliteratur gefiihrt hat, geben Anlaß, die Frage nach dem politischen Gehalt dieser Verfahren in einem weiteren Zusammenhang zu stellen: Könnte es sich hierbei ebenso wie bei der - vom BGH neuerlich mehrfach und betont verneinten - Gleichsetzung undemokratischer Systeme ("Hitler = Stalin = Honecker") um die Fortsetzung des "Historikerstreits" mit strafrechtlichen Mitteln und zu4. Grundlegend dazu 0. Kirchheimer, Politische Justiz (Neuwied u.a. 1965); F-C. Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung im Strafrecht (München 1970); Schul/er, Geschichte und Strukturen des politischen Strafrechts in der DDR (Ebelsbach 1980); K. Fricke, Politik und Justiz in der DDR (Köln 1979, 2. Aufl. 1990); F Werken/in, Politische Stratjustiz in der Ära Ulbricht (Berlin 1995). 50 Vgl. oben FN 22 und 31. 51 Vgl. nur BGH NJW 1995,3227 f. zum "demokratischen Zentralismus", dem Unterschied zwischen dem politischen System der DDR und dem Nationalsozialismus, der Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR und der dort herrschenden Rechtspraxis; ferner BGH NJ 1995, 540 ff. zum Grenzregime der DDR und deren Staatspraxis im Vergleich zu anderen ehemaligen sozialistischen Staaten, der Möglichkeit "menschenrechtsfreundlicher Auslegung" im Zusammenhang des DDR-Rechts, mit Ausfilhrungen zur Reformentwicklung des DDR-Rechts in dessen letzter Phase; dazu H. Roggemann, Fragen und Wege (oben FN I) 255 ff. Auch filr die Instanzgerichte ist es selbstverständlich geworden, "die Berücksichtigung des historischen Hintergrundes" des Sachverhaltes zu fordern sowie die "politische Indoktrination, der die Grenzsoldaten ausgesetzt waren", in die Urteilsbildung einzubeziehen, vgl. nur LG Berlin, NJW 1995, 1437 f. 52 2. SED-UnBerG v. 23.6.1994, BGBI. 1994 I 1311. 53 Gesetz über das Ruhen der Verjährung bei SED-Unrechtstaten v. 26.3.1993, BGBI. 1993 I 392.

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Herwig Roggernann

gleich den Versuch einer nachgeholten Kompensation durch Eliminierung statt Integration der politischen Herrschaftselite des SED-Staats und seiner Justiz handeln? Dann wäre es um so mehr an der Zeit, der immer noch unverhältnismäßigen Strafverfolgung eines untergegangenen politischen Systems ein Ende durch eine angemessene Teilamnestie zu setzen, die keinen "Schlußstrich" zieht, sondern die weitere Strafverfolgung auf wenige schwere Fälle beschränkt5" . 6. Unrechtsevidenz und Exzeß Der schwierige, aber trotz aller Kritik im einzelnen letztlich gangbare Lösungsweg des BGH besteht angesichts unvermeidbarer Anwendung - oder jedenfalls komplementärer Parallelprüfung55 - von DDR-Recht als Tatortrecht darin, die andersartige sozialistische Rechtsordnung der DDR nach deren Rekonstruktion grundsätzlich bei Wort zu nehmen und die Tatvorwürfe daran, d.h. zunächst DDR-immanent zu messen. Dies Verfahren der retrospektiven Rechtsgewinnung soll allerdings nicht ausnahmslos und uneingeschränkt gelten. Der BGH verlangt, gestützt auf entsprechende Ansätze im Recht der DDR56, eine im Gegensatz zur tatsächlich herrschenden Staatspraxis womöglich "menschenrechtsfreundliche Auslegung mit Mitteln des Rechts der DDR". Über diesen DDR-immanenten Ansatz hinausgehend legt der BGH - und im Anschluß nun auch das BVerfG - noch weitere Prüfungsmaßstäbe an, um Rechtfertigungssätze des DDR-Rechts zu entkräften. Dies geschieht unter Heranziehung überpositiver Rechtssätze sowie Grundsätze des internationalen Rechts. Beide Einschränkungen sind in sich widersprüchlich 57 und bedürfen weiterer Klärung und Konkretisierung. Insbesondere erscheint die Argumentation mit der sog. "Radbruch'schen Formel" von der Unbeachtlichkeit positiven Rechts in äußersten Fällen evidenten Unrechtsgehalts der fraglichen Norm verfehlt, denn einen derartigen Anwendungsfall bietet das Recht der DDR in Gestalt des Grenzregimes ungeachtet seiner repressiven bis lebensgeflihrderiden 5" Dazu 1. G. Schätzier, NJ 1995,57 ff. Den Vorschlag von 1. Bohnert (oben FN 4), die Amnestierung als bereits durch frühere DDR-Amnestien geschehen zu betrachten, hat der BOH dagegen wohl zu Recht abgelehnt. 55 Es sei "zu prüfen, ob, wenn das StOB schon zur Tatzeit in der ehemaligen DDR gegolten hätte, das nach dem StOB-DDR strafbare Verhalten auch nach einer der DDR-Nonn entsprechenden Vorschrift des StOB strafbar gewesen wäre (BOHSt 39, 54, 66; BVerfG-Kammer NStZ 1933,432)", so BOHSt40,33. 56 Vgl. z.B. seine Hinweise in der Auseinandersetzung mit der Kritik von 0. Luchterhand (in K. Schmidt [Hrsg.], Vielfalt des Rechts - Einheit der Rechtsordnung, Hamburg 1994, 165, 179 ff.), NJ 1995,541. 57 Zur Kritik an diesem Lösungsweg vgl. nur A. Ka!ifmann, NJW 1995,81 ff., 85: "Überpositives Recht gibt es nicht", ferner 1. Polakiewicz (oben FN 4).

Die strafrechtliche Aufarbeitung der Vergangenheit der DDR

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Freiheitsbeschränkung nicht. Das BVerfG schließt sich in seiner jüngsten Entscheidung vom 24.10.1996 58 den Ausführungen des BGH mit der wenig überzeugenden, da fremde Rechtsrnaßstäbe rückwirkend übertragenden Begründung an, die Verurteilungen wegen Tötungen an der Mauer entsprächen nicht nur den Wertungen des GG, sondern auch des Grundlagenvertrags-Urteils des BVerfG vom 31.7.1973. 59 Im Urteil des BVerfG zum Grundlagenvertrag ging es jedoch nicht, auch nicht in Form eines obiter dictum, um eine strafrechtliche Bewertung der damaligen DDR-Staatspraxis. Die Ausführungen des BVerfG zu Todesschüssen und Stacheldraht an der innerdeutschen Grenze beschränkten sich auf einen knapp gehaltenen Absatz'O und erschienen eher als politische denn als (straf)rechtliche Wertung des damaligen Grenzregimes der soeben staats- und von allen anderen Staaten außer der Bundesrepublik - auch völkerrechtlich anerkannten DDR. Soweit die Argumentationslinien von BGH und BVerfG dem - seit dem offensichtlichen Gesetzesunrecht des Nationalsozialismus - berechtigten Anliegen dienen, entgegen positivistischer Grundsatzkritik Möglichkeiten zur Bestrafung von Exzeßfällen ("Hinrichtungsfälle" vorsätzlicher Tötung fluchtunfähiger Flüchtlinge) offenzuhalten, wirken sie stichhaltig. Dies Ergebnis läßt sich jedoch auch ohne die unzulässig verallgemeinernden Ausführungen zur Radbruch'schen Formel im Rahmen der praktizierten Fremdrechtsanwendung mit "Parallelwertung" der zur Tatzeit geltenden sozialistischen Rechtsordnung erzielen. Soweit das BVerfG die verallgemeinernden Ausführungen des 3GH von der evidenten Menschen- und Völkerrechtswidrigkeit der mit Waffengewalt einschließlich tödlicher Schüsse - durchgesetzten damaligen Grenzsperrmaßnahmen in seine Begründung übernimmt, bleibt diese fragwürdig. Die Chance eines klärenden und d.h. differenzierenden Schlußworts, das die schußwaffenbewehrte Grenzsperrung zur Verhinderung von Grenzübertritten ("Republikflucht") vonseiten der DDR grundsätzlich durch DDR-Tatortrecht als gerechtfertigt, die Exzeßtaten dagegen als grundsätzlich rechtfertigungsunfähig bezeichnet, hat das höchste deutsche Gericht versäumt. Die im übrigen durch vorsichtige richterliche Selbstbeschränkung gekennzeichnete Entscheidung reiht sich damit ein in die Versuche, die gesamtdeutsche Rechts- und Unrechtsgeschichte der vergangenen sechzig Jahre nunmehr nach der deutschen Vereinigung neu und d.h. umzuschreiben. Hinter der Frage nach genereller oder partieller Rechtswidrigkeit oder Rechtfertigung des Grenzregimes der DDR steht nämlich die weitere nach Grundlagen und Grenzen politischer Systemerhaltung durch (in letzter Konsequenz 58 59 60

BVerfDNJ 1997,19ff.,DA 1997,166ff. BVerfD NJ 1997,21; vgl. auch BVerfDE 36,1 ff. (Grundlagenvertrag). Vgl. BVerfDE 36, 1,35.

9 Drobnig

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Herwig Roggemann

gewaltsamen) Bestandsschutz des damaligen Staates DDR. Die Antwort kann nicht nachträglich losgelöst von außen- und deutschlandpolitischen sowie völkerrechtlichen Rahmenbedingungen ausschließlich auf staatsrechtliche, im engeren Sinne rechts staatliche Aspekte reduziert werden. Solange fortgeltende besatzungsrechtliche Vorbehalte der vier Siegermächte den Rechtsstatus Deutschlands, der beiden deutschen Staaten, ihrer Beziehungen zueinander begründeten und begrenzten61 , standen die Außen- und Binnenbeziehungen der beiden deutschen Staaten und vor allem der DDR nicht zu deren alleiniger Disposition. Diese Rahmenbedingungen können rückwirkend weder aus dem (Straf)Recht der DDR eliminiert noch als "historischer Irrtum" abgetan werden. Die gegenteilige Auffassung beruht auf einer Fiktion, die in der Rechtsgeschichte der beiden deutschen Staaten - leider - zu keiner Zeit ihrer Existenz vor dem Ende der Ära Gorbatschow Platz hatte: Daß es der DDR und ihren jeweiligen Regierungen freigestanden hätte, sich innerhalb des sowjetisch dominierten "Sozialistischen Lagers" zu einem freiheitlichen Rechtsstaat zu entwickeln. Dies gelang erst in der Wendezeit 1989/90. Der heutige deutsche Strafrichter ist nicht berufen, den Mauerfall rückwirkend vorzuverlegen.

61 Dazu näher H Roggemann, Systemunrecht (oben FN 24) 67 ff.; ders., Fragen und Wege (oben FN 1) 76 ff.

Hans-Jürgen Helten ZUR STRAFRECHTLICHEN BEURTEILUNG DER MAUERSCHÜTZEN Ergänzend und möglicherweise auch im Kontrast zu dem Referat von Herrn Prof. Roggemann bin ich gebeten worden, aus der Sicht desjenigen, der mit den sogenannten Mauerschützenverfahren in der Praxis beschäftigt ist, zu den vielfaltigen rechtlichen und tatsächlichen Problemen, die sich im Zusammenhang mit der Bearbeitung derartiger Verfahren ergeben, Stellung zu nehmen. Dabei bin ich bereits aufgrund des knappen Zeitrahmens gezwungen, nur die Schwerpunkte der diesbezüglichen Auseinandersetzung aufzugreifen und sie an praktischen Erfahrungen zu messen. Mein Vortrag soll daher in erster Linie ein Versuch sein, die in der Diskussion immer wieder auftauchenden Rechts- und Wertungs fragen auf ihre praktische Relevanz zu überprüfen. 1. Die Schwerpunktabteilungfür Bezirkskriminalität und DDR-Justizunrecht des Landes Brandenburg Zunächst soll ein kurzer Überblick über die Zuständigkeit der Schwerpunktabteilung des Landes Brandenburg für das DDR-Justizunrecht und die Bezirkskriminalität gegeben werden. Die Schwerpunktabteilung, der ich angehöre, hat sich mit dem gesamten Bereich der strafrechtlichen Aufarbeitung des DDRJustizunrechts auf dem Gebiet des Landes Brandenburg zu beschäftigen. In diesem Zusammenhang sind zur Zeit ca. 11.500 Ermittlungsverfahren anhängig. Bei dem überwiegenden Teil handelt es sich um Rechtsbeugungsverfahren gegen frühere Richter und Staatsanwälte, deren Bearbeitung mit erheblichem Aufwand verbunden ist. Einen weiteren Schwerpunkt stellt die strafrechtliche Aufarbeitung von Gewalttaten an der innerdeutschen Grenze dar. Die Vielzahl der diesbezüglichen Ermittlungsverfahren in unserem Zuständigkeitsbereich beruht auf der besonderen geographischen Lage zu Berlin. Insgesamt ca. 50 % sämtlicher von der Staatsanwaltschaft 11 bei dem LG Berlin abgegebener Ermittlungsverfahren betreffen einen Tatort, für den die Schwerpunktabteilung des Landes Brandenburg zuständig ist.

9'

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Von besonderem Interesse dürfte in diesem Zusammenhang der erste Potsdamer Mauerschützenprozeß sein, der schließlich zur Verurteilung des Angeklagten durch den 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs am 20.10.1993 fiihrte 1• In diesem Verfahren wurde der Angeklagte wegen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von 10 Jahren verurteilt. Insgesamt wurden im Land Brandenburg bisher in 14 Strafverfahren 38 Personen angeklagt. 15 Angeklagte wurden zu Freiheitsstrafen verurteilt, 11 dieser Verurteilungen sind mittlerweile rechtskräftig. Acht Angeklagte wurden aus tatsächlichen Gründen rechtskräftig freigesprochen, bei drei Angeklagten wurde das Verfahren wegen Verhandlungsunfiihigkeit eingestellt. Insofern die Angeklagten zu Freiheitsstrafen verurteilt wurden, lag das Strafmaß in einem Fall bei einem Jahr, in neun Fällen bei 1 Jahr und 3 Monaten, in drei Fällen bei 1 Jahr und 6 Monaten, in einem Fall bei 2 Jahren und in einem (oben bereits erwähnten Fall) bei 10 Jahren. Sämtliche Freiheitsstrafen bis zu 2 Jahren wurden entsprechend der gesetzlichen Möglichkeit zur Bewährung ausgesetzt. Erwähnenswert erscheint mir im Zusammenhang mit der kurzen Darstellung der Tätigkeit unserer Schwerpunktabteilung noch, daß im Juni 1995 die erste Anklage im Land Brandenburg gegen einen Generalmajor erhoben wurde, der in seiner damaligen militärischen Funktion u. a. für die Minenlegung an der innerdeutschen Grenze verantwortlich gewesen ist. Ein besonderes Anliegen der Strafverfolgungsbehörden - nicht nur in Brandenburg - besteht darin, die militärischen Vorgesetzten und die politischen Hintermänner strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Das Land Brandenburg ist allerdings bei den diesbezüglichen Ermittlungen von der dankenswerten Vorarbeit der Berliner Kollegen abhängig. Im übrigen wird eine zeitnahe Aufarbeitung gerade dieser Verfahren durch die offensichtliche Überlastung der Gerichte beeinträchtigt. Beispielsweise ist eine Entscheidung über die Eröffnung im vorbezeichneten Verfahren noch nicht erfolgt. Ein Zitat des Philosophen Thomas von Aquin zum Buch Hiob 2 spiegelt aus meiner Sicht das Dilemma wider, in dem wir uns bei der strafrechtlichen Aufarbeitung der Vergangenheit der DDR, insbesondere auch bei den sogenannten Mauerschützenverfahren, befmden. Die Kommentierung lautet wie folgt: "Auf zweifache Weise wird die Gerechtigkeit verdorben: Durch die falsche Klugheit des Weisen und durch die Gewalttat dessen, der Macht hat."

1

BGH 20.10.1993, BGHSt 39, 353, NJW 1994, 267.

Kommentar des Thomas von Aquin zum Buch Hiob (8.1), zitiert nach Josej Pieper, Über die Gerechtigkeit (München 1953). 2

Zur strafrechtlichen Beurteilung der Mauerschützen

133

2. Vorsatz

Einer der wesentlichen praktischen und theoretischen Schwerpunkte der Auseinandersetzung im Zusammenhang mit Mauerschützenverfahren ist die Vorsatzproblematik. In der bisherigen Rechtsprechung der Landgerichte und des BGH wird regelmäßig davon ausgegangen, daß - abgesehen von Einzelfiillen - allenfalls bedingter Tötungsvorsatz bei den Mauerschützen vorlag). In allen bisher im Land Brandenburg durchgefiihrten Verfahren - bis auf die Ausnahme der Verurteilung wegen Mordes - ist dies ebenso bewertet worden. Aufgrund der Einlassungen der Angeklagten, die am übrigen Beweisergebnis anhand von Sachverständigengutachten, Zeugenaussagen und militärischen Berichten überprüft werden, läßt sich die Feststellung treffen, daß in der überwiegenden Zahl der Fälle mit Dauerfeuer (meist in mehreren kurzen Feuerstößen) in Richtung des oder der Flüchtenden geschossen wurde, um die Flucht entsprechend der damaligen Befehlslage um jeden Preis zu verhindern. Die Angeklagten lassen sich überwiegend dahingehend ein, sie hätten in dieser Situation keine andere Möglichkeit gehabt, den Grenzübertritt zu verhindern und daher Sperrfeuer in Richtung der Flüchtenden geschossen, wobei sie zumindest versucht hätten, die Beine zu treffen oder den Flüchtenden knapp zu verfehlen und dadurch zu beeindrucken und zur Fluchtaufgabe zu bewegen. Aufgrund der durch Sachverständigengutachten festgestellten Streuwirkung bei der Abgabe von Feuerstößen sowohl mit der damals zum Einsatz gebrachten sowjetischen Maschinenpistole Kalaschnikow als auch mit dem teilweise vor allem in früheren Jahren verwendeten Leichtmaschinengewehr war ein gezieltes Schießen in den Situationen, in denen sich die Mauerschützen befunden haben, regelmäßig unmöglich. Bereits der zweite Schuß konnte nicht mehr zielgerichtet angebracht werden, so daß die Schützen im Regelfall niemals darauf vertrauen konnten, bei Schußabgaben auf größere Entfernungen in Richtung der Flüchtenden nicht zu treffen. Sie haben vielmehr zumeist einen tödlichen Treffer billigend in Kauf genommen bzw. - mit den Formulierungen der zumindest in diesen Fällen geeigneteren Vereinigungsformel - sich damit abgefunden, einen derartigen Treffer zu erzielen. Dabei haben sie die Gefahr dieses tödlichen Treffers zwar erkannt und ernstgenommen, die Verhinderung des Grenzübertritts jedoch in der entscheidenden Situation über die Gefahr des Verlustes eines Menschenlebens gestellt. Die von mir erwähnten militärischen Berichte sind bei der Beweiswürdigung entsprechend der Rechtsprechung des BGH4 mit größter Zurückhaltung zu würdigen. Gerade hinsichtlich der Zielgerichtetheit der Schußabgabe ist einerseits die damalige Situation der Schützen, die unmittelbar ) Ständige Rechtsprechung seit BGH 3.11.1992, BGHSt 33, 1, NJW 1993, 141. 4

BGH 26.7.1994, BGHSt 40, 241, NStZ 1995, 533, NJW 1994,2708.

Hans-Jürgen Helten

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nach dem Vorfall von ihren militärischen Vorgesetzten oder von MfSAngehörigen vernommen wurden, zu berücksichtigen. Andererseits kann nicht außer acht gelassen werden, daß die Grenztruppen bestrebt waren, Sachverhalte von Grenzzwischenfällen in ihrem Bereich, die den militärischen Vorgesetzten und politisch Verantwortlichen direkt übermittelt wurden, im Sinne einer erfolgreichen Verhinderung des Grenzübertritts positiv darzustellen. In unserer Schwerpunktabteilung ist jedenfalls bisher kein Fall bekanntgeworden, bei dem in den damaligen Befragungen angegeben wurde, daß mit dem Willen geschossen wurde, den Flüchtenden nicht zu treffen. Allein die Anzahl gelungener Grenzübertritte und das Verhältnis der abgegebenen und der schließlich zur Verletzung bzw. zur Tötung des Flüchtenden führenden Schüsse spricht dafür, daß vor allem bei der Beteiligung mehrerer Grenzsoldaten nicht alle gezielt auf den Flüchtenden geschossen haben können. An dieser Stelle erscheint es mir notwendig, zur Abgrenzung jenen Ausnahmefall näher zu schildern, der Gegenstand des ersten sogenannten Potsdamer Mauerschützenprozesses war'. Im Herbst 1965 waren zwei Flüchtende von einem Postenpaar der Grenztruppen der DDR gestellt worden. Nach Anruf und Warnschüssen gaben die Flüchtenden ihr Vorhaben auf und gehorchten mit erhobenen Händen der Aufforderung der Grenzsoldaten zurückzukehren. Auf Befehl eines Grenzsoldaten begaben beide gestellte Personen sich in den KfzSperrgraben zurück. "Zur Mahnung" gab das Postenpaar aus seinen Maschinenpistolen dann mehrere Dauerfeuersalven in den Graben ab, wodurch eine der gestellten Personen schwer verletzt wurde. Der später zu 10 Jahren Freiheitsstrafe verurteilte Angehörige der Grenztruppen war als Gruppenführer Vorgesetzter der beiden Grenzsoldaten und befand sich zu diesem Zeitpunkt ca. 500 m vom Tatgeschehen entfernt. Durch ein von den Grenzsoldaten abgeschossenes Signal alarmiert, ließ er sich zum Ereignisort fahren, wo er die eben beschriebene Situation vorfand. Der Gruppenführer übernahm das Kommando und befahl den Flüchtenden "rauszukommen", worauf die angeschossene Person rief: "Ich kann nicht, ich bin verletzt!" Die andere bisher unverletzte Person kam der Aufforderung nach. Daraufhin gab der Gruppenführer drei Feuerstöße mit insgesamt mindestens 15 Schüssen auf den aus dem Graben kommenden Flüchtenden ab. Dieser wurde von mehreren Schüssen getroffen und tödlich verletzt. Die Schußabgabe wurde sinngemäß von dem Ausruf begleitet: "Ich habe mir geschworen, hier kommt keiner lebend raus!" Die Besonderheit dieses Falles war auch darin zu sehen, daß das Bezirksgericht Potsdam damals im Ergebnis gemeint hatte, die Tat könne kein Mord sein, weil der Angeklagte im Dienst tätig geworden sei. Mit Urteil vom 20.10.1993 6 S 6

Vgl. oben Anm. 1. Vgl. oben Anm. I.

Zur strafrechtlichen Beurteilung der Mauerschützen

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hat der BGH dem Antrag der Staatsanwaltschaft stattgegeben und das Urteil aufgehoben. Der Angeklagte wurde wegen Mordes gemäß § 112 StGB-DDR zu einer Freiheitsstrafe von 10 Jahren verurteilt. Der Bundesgerichtshof konnte in diesem Fall "durchentscheiden", da die Staatsanwaltschaft gemäß § 354 Abs. 1 StPO sich mit der Verhängung der gesetzlichen Mindeststrafe von 10 Jahren rur die 29 Jahre zurückliegende Tat einverstanden erklärt hatte; auf diese Weise konnte eine erneute Hauptverhandlung vermieden werden. Dieses Urteil ist bisher das härteste, das im Gesamtbereich der sogenannten Regierungs- und Bezirkskriminalität ergangen ist. In diesem Fall dürfte ohne Zweifel direkter Tötungsvorsatz vorgelegen haben. Zu Recht hat der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs darüber hinaus das Mordmerkmal der Heimtücke bejaht. Als Gegenbeispiele sind in der Praxis demgegenüber häufiger Einlassungen festzustellen, in denen der Angeklagte darlegt, er habe sich von Anfang an vorgenommen, nicht auf Menschen zu schießen. Er habe in der konkreten Tatsituation daher in Kenntnis des Verhaltens seiner Schußwaffe in der Weise geschossen, daß aus seiner Sicht ein Treffer in jedem Fall auszuschließen war. Diese Einlassung wird teilweise dahingehend modifiziert, daß zur Abschreckung zumindest in die Nähe des Flüchtenden geschossen oder mit Einzelschüssen gezielt auf bestimmte Körperteile wie Arme und Beine geschossen wurde, um den Flüchtenden zwar zu verletzen, jedoch nicht zu töten. Die Bewertung dieser Einlassungen gestaltet sich im Einzelfall äußerst kompliziert. Da die militärischen Berichte und die Berichte des Ministeriums rur Staatssicherheit in diesen Fällen zumindest hinsichtlich der Zielgerichtetheit der Schüsse aus den genannten Gründen nicht ohne weiteres als taugliche Beweismittel zur Widerlegung dieser Einlassungen herangezogen werden können, kommt es im Einzelfall auf eine sehr behutsame und genaue Beweiswürdigung an. Dabei stehen als Beweismittel nur selten Zeugenaussagen zur Verfilgung, die zum Tatgeschehen selbst aussagekräftig sind. Selbst in den Fällen, bei denen ein überlebendes Opfer das Tatgeschehen schildern kann, muß die besondere Situation des Zeugen berücksichtigt werden, der sich regelmäßig selbst in Lebensgefahr befand und daher bestimmte Tatabläufe nur noch sehr eingeschränkt wahrgenommen hat. Ferner stehen bei mehreren Angeklagten auch deren wechselseitige und nicht selten einander widersprechende Einlassungen zur Würdigung zur Verfilgung. Entscheidende Bedeutung kommt jedoch daneben auch der Würdigung der Persönlichkeit des einzelnen Angeklagten zu. Über die Schwierigkeit einer solchen Bewertung ist man sich in der Praxis durchaus im klaren. Zwar darf eine Verurteilung nicht allein auf einer solchen Einschätzung beruhen; eine solche ist jedoch bei der Würdigung der Beweismittel von erheblicher Bedeutung. Es gibt nämlich nach meiner Erfahrung durchaus Ansatzpunkte dafilr, daß unter Berücksichtigung des persönlichen Werdegangs des Angeklagten die eine

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oder andere Einlassung mehr oder weniger plausibel ist. In einem Fall, bei dem der Angeklagte bereits zum Tatzeitpunkt als junger Grenzsoldat flir das Ministerium flir Staatssicherheit als geheimer Informant tätig war, im Rahmen dieser Tätigkeit wenige Monate vor dem Geschehen seinen ehemaligen Kompaniechef und einen weiteren Offizier bei dem Versuch, die Grenze zu übertreten, festgenommen hatte, bis zum Tatzeitpunkt bereits 16 Belobigungen wegen vorbildlichen Grenzdienstes erhalten und danach eine Karriere beim Ministerium flir Staatssicherheit als hauptamtlicher Mitarbeiter gemacht hatte, bestehen wohl zu Recht erhebliche Bedenken, ob gerade ein solcher linientreuer Grenzsoldat im entscheidenden Moment bewußt den Flüchtenden nicht treffen wollte. Dagegen ist diese Einlassung bei einer Vielzahl von Angeklagten, die aus recht einfachen Verhältnissen ohne politische Überzeugung ihren Grenzdienst ableisteten, eher nachvollziehbar, zum al wenn - wie in vielen Fällen zumindest in den 60er Jahren - nicht gefragt wurde, ob der einzelne Soldat Grenzdienst leisten wollte. In einigen Fällen wurden die jungen Soldaten, die zumeist aus ländlichen und nicht grenznahen Gebieten zum Grenzdienst gezogen wurden, erst bei Dienstantritt mit ihren Aufgaben zur Grenzsicherung konfrontiert. Diese Ausflihrungen mögen bereits zeigen, wie schwierig eine Beurteilung der Einlassungen im Einzelfall ist. Es entspricht der ständigen Praxis zumindest unserer Abteilung, in eindeutigen Fällen, bei denen bereits im Rahmen der Ermittlungen deutlich wird, daß die Einlassung des Angeklagten in der Hauptverhandlung nicht zu widerlegen ist, das Verfahren einzustellen. Der Rechtsstaat würde nämlich an Glaubwürdigkeit verlieren, wenn Anklagen im Übermaß erhoben würden, die voraussehbar nur unter besonderen Umständen zu einem geringen Teil zur Verurteilung filhren würden. Mit dieser Verfahrensweise soll dem Eindruck entgegengewirkt werden, dem Rechtsstaat käme es mehr auf Anklage und gesellschaftliche Ächtung der Angeklagten als auf eine Verurteilung an. In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, daß eine überwiegende Zahl der Ermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft II bei dem LG Berlin bereits vor Abgabe an die Schwerpunktstaatsanwaltschaften der Länder aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen eingestellt werden. In einigen Fällen ist es leider jedoch nicht zu vermeiden, eine Hauptverhandlung durchzufiihren, da die Angeklagten sich entweder im Ermittlungsverfahren nicht eingelassen haben bzw. ein Gesamtbild ihrer damaligen Persönlichkeit nicht ermittelt werden kann. Es ist empirisch und wissenschaftlich nur schwer zu belegen, jedoch entspricht es der Erfahrung in den bisherigen Prozessen, daß durch die intensive Beschäftigung mit der Tat und den Tätern in der Hauptverhandlung oftmals zur Überzeugung sämtlicher Prozeßbeteiligter sich ein geschlossenes Bild der damaligen Geschehensabläufe ergibt.

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3. Rechtswidrigkeit Ein weiterer Schwerpunkt der Beschäftigung mit diesem Thema ist sicherlich in der Problematik zu sehen, ob das Verhalten der Angeklagten überhaupt rechtswidrig war. Es ist nicht der Ort und die Zeit, sich eingehend mit dem diesbezüglichen Streitstand auseinanderzusetzen. Für die Praxis und somit auch für die Staatsanwaltschaft ist entscheidend, daß der BGH in ständiger Rechtsprechung - ausgehend von der Grundsatzentscheidung vom 3.11.1992 7 - im Ergebnis zutreffend ein rechtswidriges Handeln bejaht. § 27 des Grenzgesetzes und die vor Inkrafttreten des Gesetzes geltenden Bestimmungen zum Schußwaffengebrauch enthielten keine Ermächtigung zum tödlichen Einsatz der Schußwaffe. Sie zeigen vielmehr in gewisser Weise Verhältnismäßigkeitserwägungen auf. In den Vorschriften ist regelmäßig beim Schußwaffeneinsatz davon die Rede, zunächst müsse ein Anruf, dann ein Warnschuß und schließlich ein gezieltes Schießen zur Herbeiführung der Fluchtunfähigkeit erfolgen. Diese Bestimmungen stehen im Gegensatz zur tatsächlichen Befehlslage, die entscheidend durch die vor jedem Grenzdienstantritt vom Kompaniechef oder von einem Zugführer durchgeführte Vergatterung geprägt war. In den Vergatterungsformeln war nach den eindeutigen Erkenntnissen aus den bisherigen Prozessen vom "Vernichten" bzw. vom "Unschädlichmachen" der Flüchtenden die Rede. Bei besonderen Anlässen wie Staatsbesuchen ausländischer Politiker gab es Zusätze, wonach Tote an der Grenze in diesen Zeiträumen zu vermeiden waren. Dagegen wurde besondere Schärfe in den Worten gewählt, wenn kurz zuvor bereits Grenzübertritte gelungen waren. Diese Diskrepanz zwischen den Bestimmungen zum Schußwaffengebrauch und der tatsächlichen Befehlslage war den Angeklagten oftmals überhaupt nicht bewußt. Sie orientierten sich eindeutig an der ihnen immer wieder nahegebrachten Vergatterungsformel, zum al ihnen weder das Grenzgesetz noch die vorangegangenen Bestimmungen zum Schußwaffengebrauch schriftlich überreicht, sondern nur zum Gegenstand einer mündlichen Erörterung im Politunterricht gemacht wurden. Dies führte zu sehr nebulösen und eher fragmentarischen Vorstellungen über die einzelnen Bestimmungen der genannten Vorschriften. Diese wurden regelmäßig in der Weise verstanden, daß als letzte Konsequenz zur Verhinderung eines Grenzübertritts, der unmittelbar bevorstand - wenn z. B. die Flüchtenden sich bereits auf dem letzten Kontrollstreifen, dem sogenannten "Todesstreifen" vor dem letzten Sperrelement befanden - gezielt auf die Personen zu schießen war, wobei die Verhinderung des Grenzübertritts um jeden Preis - auch um den Preis eines Menschenlebens - im Vordergrund stand. 7

BGH 25.3.1993, BGHSt 39, I.

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In dieser faktischen Rechtfertigung der Grenzsoldaten durch die damalige Befehlslage sieht der BGH aus heutiger Sicht zu Recht keinen anzuerkennenden Rechtfertigungsgrund. Im wesentlichen nimmt er hierzu Bezug auf die Radbruchsehe Fonnel8 und stellt fest, daß auch aus damaliger Sicht bei einer menschenrechtsfreundlichen Auslegung der damaligen Bestimmungen die Tötung unbewaffneter Flüchtender vennieden werden konnte. Zur Konkretisierung dieser Auffassung hat der BGH auf Art. 6 und Art. 12 Abs. 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.19669 verwiesen, in denen ein Recht auf Leben und Freizügigkeit festgelegt wird. Ein Problem besteht darin, daß dieser Pakt zwar von der DDR ratifiziert, jedoch nicht in innerstaatliches Recht umgewandelt wurde. Weiterhin ist zu beachten, daß eine Vielzahl von Taten vor Inkrafttreten des Paktes begangen wurde. Der BGH hat dies im Ergebnis dahingehend gelöst, daß bereits vor Inkrafttreten des Paktes die Grundgedanken dieser Regelung Geltung haben müßten, da sie eine Konkretisierung der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 enthielten lO • Dieser Standpunkt wurde auch in Kenntnis der überwiegend kritischen Stimmen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung vom 5. Strafsenat des BGH ausdrücklich aufrechterhalten und ergänzend erläutert ll . Die Berufung auf diese ständige Rechtsprechung ersetzt sicherlich nicht die kritische Auseinandersetzung mit dieser Thematik. Bei allem Respekt für die ernstzunehmenden Bedenken gegen die Argumentation des BGH zu dieser Problematik muß jedoch ein Vorwurf, der in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung leider immer wieder aufgegriffen wird, entschieden zurückgewiesen werden. Der Begriff des politischen Prozesses ist - ganz gleichgültig, wie er gemeint ist - bereits durch seine Verwendung irreführend und schädlich. Es handelt sich um keine politischen Prozesse, sondern um rechtsstaatliche Prozesse, die selbstverständlich bereits aufgrund der Thematik einen gesellschaftspolitischen Hintergrund haben. Zumindest die Prozesse, die ich miterlebt habe, waren das genaue Gegenteil von einem politischen Prozeß. Die Beschäftigung mit der Tat und den Tätern nahm einen sehr breiten Raum ein, was bestimmt aufgrund unseres Strafprozeßrechtes richtig und der Bedeutung der Sache angemessen war. Die Opfer an der Grenze nehmen bei diesen Prozessen leider oftmals nicht den Raum ein, der ihnen gebühren würde. Als Vertreter der Staatsanwaltschaft 8 Radbruch. Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht: SJZ 1956, 105 ff. = GustavRadbruch-Gesamtausgabe 111 (1990) 225 f. 9 BGBI. 197311 1534; GBI.-DDR 1974 II 57. 10 S. oben Anm. 4. 11 BGHNJ 1995,539.

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lege ich daher besonders in Fällen, in denen kein Nebenkläger am Prozeß teilnimmt, Wert auf diesen Aspekt. Die Beschäftigung mit dem Opfer und den Angehörigen der Opfer dient letztlich vor allem jedoch wiederum den Tätern, die ihre eigene Vergangenheit und ihre Tat in der Konfrontation mit dem urplötzlich eine vita erhaltenden Opfer aufarbeiten können. Dabei ist es bereits sehr oft vorgekommen, daß die Angeklagten nach Durchführung des Prozesses geradezu erlöst schienen und dies sichtlich zum Ausdruck brachten. Ich kann jedem, der meint, es würden in diesen Fällen politische Prozesse durchgeführt und damit - gewollt oder nicht - suggeriert, rechtsstaatliche Grundsätze würden in diesen Fällen mißachtet, nur empfehlen, einmal an einem solchen Prozeß als Zuhörer teilzunehmen. Eine rechtliche Auseinandersetzung mit dieser Thematik, die im Einzelfall durchaus auch scharf geführt werden kann, ist richtig und wichtig. Ich gebe allerdings zu bedenken, daß derartig unsachliche Argumentationen nur allzuoft von denjenigen übernommen werden, die sich heute selbst als Opfer unserer Strafjustiz empfinden. Die Tatsache, daß diese Personen nunmehr rechtsstaatliche Grundsätze für sich entdeckt haben und in Anspruch nehmen, halte ich im Hinblick auf das, was sie den Menschen in der ehemaligen DDR angetan haben, für zynisch. Allerdings muß dies ebenso wie der Versuch mancher Verteidiger hochrangiger politischer und militärischer Funktionsträger der DDR, den Rechtsstaat durch prozeßtaktische Überlegungen zu beschädigen, gerade im Interesse der Aufrechterhaltung dieses Rechtsstaates zumindest bis zu einem bestimmten Grad toleriert - also ertragen - werden. Abschließend zu diesem Teil meiner Ausführungen möchte ich noch darauf hinweisen, daß die Voraussetzungen zur Strafverfolgung des DDR-Unrechts bereits vor der Wiedervereinigung durch die freigewählte Volkskammer geschaffen wurden. Es kann daher nur das Unrecht heute noch verfolgt werden, das ohnehin auch von einer fortbestehenden DDR nach dem Entschluß ihrer Volksvertretung in derselben Weise zu verfolgen gewesen wäre. Nach diesem Exkurs möchte ich noch die Ausführungen zur Problematik der Rechtswidrigkeit des Verhaltens der Grenzsoldaten kurz ergänzen. Die Beurteilung, ob eine Handlung rechtswidrig war oder nicht, von der Einhaltung der Bestimmungen zum Schußwaffengebrauch im konkreten Fall abhängig zu machen, halte ich rur bedenklich. Abgesehen von Ausnahmefiillen stellt sich die Tatsituation in der Praxis regelmäßig in der Weise dar, daß ein Warnruf allein aufgrund der oftmals mehrere Hundert Meter betragenden Entfernung aussichtslos war. Ein Warnschuß war oft untaugliches Mittel zur Fluchtverhinderung, weil der Flüchtende sich zumeist bereits in einer Ausnahmesituation kurz vor Erreichen des letzten Sperrelementes befand, er deswegen nicht mehr zu beeindrucken war und die Flucht auch aus Sicht der Grenzsoldaten nur noch durch gezieltes Dauerfeuer zu verhindern war. Der Flüchtende hatte dabei so

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gut wie nie eine echte Chance, auf die Warnung zu reagieren, wenn diese überhaupt wahrgenommen wurde. Ein Warnschuß hatte daher in vielen Fällen nur eine Alibifunktion, um sich formal an Dienstvorschriften zu halten. Die Angaben in den militärischen Berichten stimmen auch diesbezüglich in vielen Fällen nicht mit den Einlassungen der Angeklagten bzw. den Zeugenaussagen überein. Daher erscheint es wenig sachgerecht, die Stratbarkeit der Grenzsoldaten von der formalen Einhaltung der Bestimmungen zum Schußwaffengebrauch abhängig zu machen. Etwas anderes gilt in den Fällen, bei denen der Flüchtende bereits die Flucht aufgegeben hatte oder aufgrund tatsächlicher Umstände, wie z. B. wegen einer Verletzung oder wegen eines Sich-Verfangens im Grenzzaun nicht mehr fortsetzen konnte. In diesen Fällen war der Schußwaffeneinsatz weder durch die Bestimmungen zum Schußwaffengebrauch noch durch die Vergatterung gedeckt. Allerdings dürfte in diesen Fällen die Herleitung der Rechtswidrigkeit aus der Nichtbeachtung der Bestimmungen zum Schußwaffengebrauch regelmäßig daran scheitern, daß eine solche Situation für den Schützen zumeist nicht erkennbar war bzw. eine derartige Erkennbarkeit ihm nicht mehr mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit nachweisbar ist. Eine Ausnahme von dieser Feststellung läßt sich wiederum in absoluten Extremfällen machen. Hierzu gehört sicher der von mir bereits geschilderte "Hinrichtungsfall" . Des weiteren ist in diesem Zusammenhang ein Fall zu erwähnen, in dem Anklage erhoben wurde und das Hauptverfahren für Mitte des nächsten Jahres vor der Jugendkammer des LG Potsdam angesetzt ist. In diesem Fall hatte ein Grenzsoldat einen aus einem Bus steigenden und im Sperrgebiet wohnenden Zivilisten erschossen, der sich erkennbar von der Grenze weg nach Hause bewegte. Der Schuß soll nach der Aussage des nicht mitangeklagten Postens im Ermittlungsverfahren ohne Warnrufund Warnschuß erfolgt sein und traf das Opfer direkt tödlich in den Rücken. In diesem Fall entsprach das Vorgehen des Grenzsoldaten weder den Bestimmungen zum Schußwaffengebrauch noch der Befehlslage. Die Rechtswidrigkeit des Verhaltens des Angeklagten wurde daher in diesem Fall von mir auch aus der Nichteinhaltung der Bestimmungen zum Schußwaffengebrauch abgeleitet. Diese Ausnahmefälle ändern nichts daran, daß in der Mehrzahl der Fälle die entscheidende Frage weiterhin lautet, ob im Extremfall der Tötung von Flüchtenden eine rechtspositivistische Haltung mit dem Ergebnis der Anerkennung eines durch die Befehlslage geprägten Rechtfertigungsgrundes eingenommen werden kann oder ob mit dem BGH in diesen Fällen eine menschenrechtsfreundliche Auslegung bereits aus damaliger Sicht zur Unwirksamkeit des Rechtfertigungsgrundes führt.

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Aus Sicht der Praxis ist der vom BGH begründeten Absage an einen allzu einseitigen und strengen Rechtspositivismus zu folgen. Diese Argumentation muß natürlich - was der BGH in seiner Rechtsprechung immer wieder zu Recht betont - die Ausnahme bleiben. Der BGH hat diesbezüglich ausdrücklich auch in seiner Rechtsprechung zur Rechtsbeugung durch Todesurteile (und in seiner Rechtsprechung zur Rechtsbeugung in extremen Willkürfällen)12 auf den Ausnahmecharakter seiner Argumentation in diesen Fällen verwiesen und sich selbst und den erkennenden Gerichten diesbezüglich sehr strenge Maßgaben auferlegt. Unter diesen Voraussetzungen ist die Argumentation des BGH in sich schlüssig. 4. Unrechtsbewußtsein

Weitere Argumentationsgrundlagen ergeben sich zur Frage des Unrechtsbewußtseins der Grenzsoldaten. Der BGH hat auch diesbezüglich in ständiger Rechtsprechung\3 ausgeführt, daß es sich den Grenzsoldaten trotz intensiver politischer Indoktrination aufdrängen mußte, daß die Tötung eines unbewaffneten Flüchtenden ein schreckliches und jeder vernünftigen Rechtfertigung entzogenes Tun war. Die Tatsache, daß die Grenzsoldaten jedenfalls in sämtlichen mir bekannten Fällen auch Unrechtsbewußtsein zum damaligen Zeitpunkt bereits hatten, wird im wesentlichen durch folgende Erwägungen belegt: Die Angeklagten und die in den Hauptverhandlungen geh Ölten Zeugen haben mehrfach bestätigt, daß sie sich Gedanken über ihr Verhalten im konkreten Fall der Anwendung der Schußwaffe gemacht haben. Diese Gedanken wurden in Einzelfällen auch mit größter Zurückhaltung unter den Kameraden der Grenzkompanien angesprochen. In der Mehrzahl der Fälle wurden die aufkommenden Gedanken von den jungen Grenzsoldaten jedoch letztlich verdrängt. Allgemein hoffte man, daß die konkrete Situation zur Anwendung der Schußwaffe auf einen Flüchtenden einem selbst im Grenzdienst nicht widerfahren würde. Es sind jedoch auch bereits Fälle vorgekommen, in denen die Grenzsoldaten ihr Verhalten auch noch in der Hauptverhandlung als durchaus angemessen betrachtet haben. Viele Angeklagte und Zeugen haben hingegen glaubhaft versichert, daß sie sich fest vorgenomm~n hätten, keinesfalls auf einen Menschen zu schießen. Im Einzelfall konnten diese Einlassungen und Aussagen am Schießverhalten - insbesondere unter Berücksichtigung des Munitionsver-

12 BGH 16.11.1995,5 StR 747/94; BGH NJ 1995,653; BGH 15.9.1995, 5 StR 642/94 sowie 23,68 und 168/95; BGH 30.11.1995, 4 StR 777/94 und 4 StR 714/94. \3 Vgl. oben Anm. 7.

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brauchs und der spärlichen bzw. versteckt oder sogar offen kritischen Formulierungen in den militärischen Berichten - nachvollzogen werden. Die überwiegende Zahl der Angeklagten hat jedoch im entscheidenden Moment, der Befehlslage folgend, sich für die Verhinderung des Grenzübertritts um jeden Preis entschieden. Viele der Angeklagten räumten dies, nachdem sie sich aufgrund der Ermittlungen und der Hauptverhandlung mit ihrer Tat auseinandersetzen mußten, freimütig ein. Sinngemäß wurde geäußert, daß ihnen auch damals bereits deutlich war, daß ihr Verhalten, auf einen Menschen möglicherweise tödlich wirkende Schüsse abzugeben, nicht richtig war. Sie wollten niemanden töten, hielten sich allerdings aufgrund der Vergatterung durch die Vorgesetzten und der Androhung von Repressalien im Fall des Versagens für verpflichtet, den Grenzübertritt um jeden Preis zu verhindern. Mehrere Angeklagte waren nachweisbar nach der Schußabgabe völlig fassungslos, körperlich und psychisch angegriffen. Sie waren unfahig, weiter vorschriftsgemäß zu handeln und erlebten das weitere Geschehen nur im Unterbewußtsein. Ein Angeklagter eines Prozesses, an dem ich als Sitzungsvertreter teilgenommen habe, sagte unlängst unter Tränen aus, er habe niemandem - außer seiner Mutter - von dem Vorfall erzählt. Er sei bereits damals keineswegs stolz auf seine Tat gewesen. Mit irgend jemandem habe er ja reden müssen, weil er möglicherweise einen Menschen erschossen habe. Die Auszeichnung, die er erhalten hatte, überließ er seiner Mutter zur freien Verfügung. Hierbei handelt es sich nicht um einen Ausnahmefall. Ein anderer Grenzsoldat hatte die Auszeichnung noch während der Heimfahrt aus dem Zug geworfen, da er die Konfrontation mit seinem Vater fürchtete. Sehr häufig haben die Angeklagten damals weder ihre nahen Angehörigen noch später ihre Ehefrauen oder Kinder über das Vorkommnis informiert. Erhaltene Auszeichnungen wegen der Verrichtung vorbildlichen Grenzdienstes wurden - wenn sie nicht bereits vernichtet worden waren - zumeist nicht mehr in der Öffentlichkeit getragen. Im Politunterricht wurden Menschenrechte angesprochen, jedoch wurde aus dem Staatsverständnis der DDR argumentiert, daß die Grenzsicherung der DDR nur vom Westen unter dieser Thematik erörtert werde. Ferner befanden sich gerade in den 60er Jahren auf westlicher Seite vielfach Schilder, die mit ihrer Schrift nach Osten gerichtet waren und Hinweise auf Menschenrechte und die Aufforderung, sich dementsprechend zu verhalten, enthielten. Das kollektive schlechte Gewissen aller an der Verhinderung eines Grenzübertritts mit tödlichem Ausgang Beteiligten äußerte sich nicht zuletzt auch in der Vertuschungs- und Verschleierungspolitik, die nach einem derartigen Vorfall betrieben wurde. Das Hinterland wurde bei einem Grenzzwischenfall vor neugierigen Zivilisten abgeschottet. Das Begräbnis des Flüchtenden wurde in

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einem mir bekannten Fall vom Ministerium für Staatssicherheit organisiert und nach einer heftigen und verzweifelten Beschwerde des Vaters auch bezahlt. Sämtliche an dem Begräbnis beteiligten Personen wurden observiert, Eltern und Geschwister wurden ab diesem Zeitpunkt vom Ministerium für Staatssicherheit regelmäßig überprüft, obwohl die Eltern vorher als politisch linientreue Personen eingestuft worden waren. In weiteren Fällen schämte sich das Ministerium für Staatssicherheit nicht, den Angehörigen die Asche des Verstorbenen in einer Urne bzw. in Zeitungspapier zuzuschicken. Nach den bisherigen Mauerschützenprozessen läßt sich daher zwanglos die Feststellung treffen, daß die Tötung von Menschen an der Grenze weder von den angeklagten Grenzsoldaten noch von ihren Vorgesetzten als Recht angesehen wurde. Die angeklagten Grenzsoldaten stehen in vielen Fällen heute zu ihren Taten und können eine Bestrafung in dem regelmäßig verhängten Strafrahmen durchaus akzeptieren. Außerhalb einer Hauptverhandlung wurde mir jüngst bekannt, daß ein Angeklagter geäußert hatte, er hätte auch eine Bestrafung ohne Bewährung akzeptiert, da er damals wie heute genau gewußt habe, daß er schwere Schuld auf sich geladen habe. Die 2. Strafkammer des LG Neuruppin hat insbesondere zu dieser Problematik in einem bisher nicht veröffentlichten Urteil sehr ausführlich Stellung genommeni" wogegen sich der BGH diesbezüglich bisher bedauerlicherweise auffallend zurückgehalten hat. 5. Strafzumessung

Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BGH wird - um hieran anzuknüpfen - im Regelfall von einem minderschweren Fall ausgegangen, bei dem der Strafrahmen zwischen 6 Monaten bis zu 5 Jahren liegt. Allein aufgrund des langen Zeitablaufes und der besonderen Tatsituation, in der sich die Angeklagten befanden, ist - von extremen Ausnahmefällen abgesehen - von minderschweren Fällen auszugehen. Die Angeklagten haben meist vorher und nachher sozial eingeordnet gelebt und sind strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten. Nicht zuletzt haben sie zumeist nicht mit direktem, sondern mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt. Darüber hinaus entspricht es ständiger Praxis der Strafgerichte, vor allem bei damals 18- oder 19jährigen Grenzsoldaten Jugendstrafrecht anzuwenden. Die Jugendgerichtshilfe ist - wie auch sämtliche Prozeßbeteiligte - selbstverständlich mit einer nachträglichen Persönlichkeitsanalyse der einzelnen Angeklagten überfordert. Der Erziehungsgedanke des Jugendstrafrechts ist auf derartige Fälle ersichtlich nicht anzuwenden. Erziehungsdefizite lassen sich in der Regel allein aufgrund des langen Zeitablaufes nicht mehr feststellen. Es ist daher im Sinne 14

LG Neuruppin, Urteil vom 19.12.1995 - 12 Ks 61 1s 109/94 (61/94) 56 ff.

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der Rechtsprechung geboten, in diesen Fällen der Schwere der Schuld eigenständige Bedeutung zuzumessen. Allein das Alter der Angeklagten und die damalige Gefolgstreue gegenüber den Vorgesetzten gebietet die Anwendung von Jugendstrafrecht, zum al sie den Angeklagten die Möglichkeit eröffnet, sich registerrechtlich als unbestraft zu bezeichnen. Nach § 32 Abs. 2 Nr. 3 Bundeszentralregistergesetz wird eine Verurteilung mit Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren auf Bewährung nicht ins Führungszeugnis aufgenommen. Abgesehen von Extremfällen werden in der Praxis Bewährungsstrafen zwischen 1 Jahr und 2 Jahren verhängt. Hinsichtlich der Strafzumessung gab es bisher in den von mir wahrgenommenen Sitzungen nur in einem Fall eine gravierende Abweichung von den Vorstellungen der Verteidigung. Die Strafzumessung ist mittlerweile derartig moderat geworden, daß die Verteidigung die beantragten Strafen im Regelfall nicht mehr zum Gegenstand ihres Plädoyers macht. Die Strafzumessung wird aus meiner Sicht allgemein als gerecht empfunden. 6. Fazit

Abschließend ist folgendes Fazit zu ziehen: Die Rechtsprechung des BGH hat sich in der bisherigen Praxis bewährt. Entscheidend wird jedoch für das Gelingen der strafrechtlichen Aufarbeitung in diesem Bereich sein, ob auch die Vorgesetzten der Grenzsoldaten und die politisch Verantwortlichen strafrechtlich vermehrt zur Verantwortung gezogen werden. Würden die Grenzsoldaten weiterhin verurteilt, die im Hintergrund wirkenden Verantwortlichen jedoch nicht, wäre in der Tat zumindest dieser Teil der strafrechtlichen Aufarbeitung des DDR-Justizunrechts mißlungen. Der Respekt vor den völlig sinnlos zu Tode gekommenen Opfern an der innerdeutschen Grenze und ihren Angehörigen verpflichtet uns auch in Zukunft, mit den Mitteln des Rechtsstaates die Taten im einzelnen aufzuklären. Dazu gehören allerdings trotz aller ernstzunehmender Bedenken auch Strafprozesse gegen sogenannte "Mauerschützen" , da ihre eigenständige Verantwortung in jedem Einzelfall geprüft werden muß. Befohlenes Unrecht kann bekanntlich immer erst dann Wirkung entfalten, wenn es von willfährigen Befehlsempflingern in die Tat umgesetzt wird. In der Absage an einen allzu strikten Gesetzespositivismus bei der strafrechtlichen Beurteilung der menschenverachtenden Tötungsmaschinerie an der Grenze ist nicht die Preisgabe, sondern gerade die Manifestation des Rechtsstaates zu sehen. Rechtsstaat und Gerechtigkeit sind - um das oft strapazierte Zitat von Bärbel Bohley aufzugreifen's -leider nicht immer deckungsgleich, sie sind deswegen jedoch noch nicht zwei sich ausschließende Begriffe. Zumindest sollte unser oberstes Bestreben sein, den Rechtsstaat an der Gerechtigkeit zu 'S

Die Zeit 1992 Nr. 14 S. 44.

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orientieren. Der Rechtsstaat, meine Damen und Herren, und das möchte ich Ihnen abschließend zu bedenken geben, kann - um das eingangs erwähnte Zitat von Thomas von Aquin in Erinnerung zurückzurufen - nämlich auch durch eine der Sachlage nicht angemessene falsche Klugheit ad absurdum geführt werden.

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VERF ASSER UND HERAUSGEBER Prof Dr. Wolfgang Behlert Fachhochschule Jena, Fachbereich Sozialwesen, Jena Hans-Jürgen Heften Staatsanwaltschaft Neuruppin, Schwerpunktabteilung für Bezirkskriminalität und DDR-Justitzunrecht, Neuruppin Dr. Hartmuth Horstkatte Richter am Bundesgerichtshof a.D., Berlin Dr. Hans-Dietrich Lehmann 1988 - 1990 Richter am Obersten Gericht der DDR, Berlin Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit Senatorin für Justitz, Berlin Getzt Hamburg) Prof Dr. Herwig Roggemann Freie Universität Berlin, Osteuropa-Institut, Berlin Prof Dr. Hubert Rottleuthner Freie Universität Berlin, Fachbereich Rechtswissenschaft, Berlin Prof em. Dr. Günter Spendei, Zell am Main

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