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German Pages 314 [316] Year 2002
de Gruyter Studienbuch Jürgen Reischer Die Sprache
Jürgen Reischer
Die Sprache Ein Phänomen und seine Erforschung
w G DE
Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek —
CIP-Einheitsaufnahme
Reischer, Jürgen: Die Sprache : ein Phänomen und seine Erforschung / Jürgen Reischer. — Berlin ; New York : de Gruyter, 2002 (De-Gruyter-Studienbuch) ISBN 3-11-017349-2
© Copyright 2002 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Hansbernd Lindemann, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: WB-Druck, Rieden/Allgäu
Vorwort Mit diesem Studienbuch sind zumindest drei Ziele verbunden: Zum Ersten will es einen allgemeinen, lesebuchartigen Einblick in das Phänomen Sprache bieten, um so den Leser für diese faszinierende, allein dem Menschen vorbehaltene Fähigkeit zu gewinnen; zum Zweiten ist es nicht nur als Heranführung, sondern als vollwertige Einfuhrung in die Sprachwissenschaft konzipiert, die sich mit allen wichtigen linguistischen Teilbereichen befasst; zum Dritten schließlich soll der Leser motiviert und eingestimmt werden, sich auch im Selbststudium weiter mit der Sprache aus wissenschaftlicher Sicht auseinander zu setzen. Um dem Leser dies zu erleichtern, wurde versucht, einen einheitlichen Begriffsapparat zu etablieren, der mit einer ebenso einheitlichen Terminologie einhergeht, soweit dies aufgrund der oftmals inkonsistenten und divergierenden wissenschaftlichen Ansätze und Strömungen überhaupt möglich ist. Zudem wurden auch umgangssprachliche Phänomene mit einbezogen und beispielhaft wissenschaftlich hinterfragt, welche die heitere Seite der Sprache aufzeigen und deren Sonderstellung in der Evolution hervorheben. Mein besonderer Dank gilt meinem emeritierten ehemaligen Chef Herbert Brekle, dem dieses Buch zum Abschied gewidmet ist: in memoriam Allgemeine Sprachwissenschaft Regensburg. Ferner gebührt Helmut Weiß und Christian Trumpp Dank, die trotz eigener Zeit raubender Studien die Muße gefunden haben, meine Rohfassung zu evaluieren. Nicht zu vergessen sind auch Rotraud Chrobak, Janna Zimmermann und Michael Wittmann, die mich ebenfalls stets unterstützt haben. Verbleibende Fehler und Ungereimtheiten sind ausschließlich meiner Person anzulasten.
Regensburg, im Januar 2002
Jürgen Reischer
Inhaltsverzeichnis Vorwort
V
1 Einleitung
1
2 Wurzeln, Wesen und Wissenschaft der Sprache 2.1 Die Sprache und ihre Wissenschaft 2.2 Der Mensch und seine Sprache 2.3 Die Methode der Linguistik 2.4 Sprache und Gehim 2.5 Sprachliche Ebenen 2.6 Rekapitulation I
5 5 8 13 16 20 24
3 Werkstoff, Werkstatt und Wirkweise der Sprache 3.1 Das Sprachsystem I 3.2 Das Sprachsystem II 3.3 Zeichentheorie I 3.4 Zeichentheorie II 3.5 Zeichentheorie III 3.6 Zeichentheorie IV 3.7 Sprache und Kognition 3.8 Rekapitulation II
29 29 33 37 42 46 51 56 60
4 Sprachliches Wissen, Wollen und Wirken 4.1 Sprechen und Handeln 4.2 Denken, Sprache und Kommunikation 4.3 Konstruktivismus 4.4 Informationssysteme 4.5 Natürliche und Künstliche Intelligenz 4.6 Wissen als Kennen und Können 4.7 Kognitive Einheiten und Operationen 4.8 Rekapitulation III
66 66 72 77 83 88 93 99 106
VIII
Inhaltsverzeichnis
5 Sprache unter der linguistischen Lupe 5.1 Pragmatik 5.2 Semantik 5.3 Syntax und Morphologie 5.4 Phonologie und Phonetik 5.5 Lexikon(theorie) 5.6 Grammatik(theorie)
112 112 136 159 180 191 229
6 Der Witz der Sprache 6.1 Das Sprachspiel 6.2 Sprachkönnen und Sprachkunst 6.3 Sprachlicher Humor
260 260 268 276
7 Zusammenschau
282
8 Literaturhinweise
286
Literaturverzeichnis
289
Index
297
1 Einleitung Was tun Sprachwissenschaftler alias Linguisten eigentlich den ganzen Tag? Welche Art verschrobener Wissenschaftler liegt hier vor? Oder sind Linguisten vielleicht gar nicht so langweilige Wissenschaftler, wie man es immer von Juristen, Theologen oder Mathematikern behauptet? (Sie alle sollten mir verzeihen und einfach weiterlesen.) Dieses Buch will zeigen, wie faszinierend, komplex und vor allem unentbehrlich unsere Sprache ist. Menschen benutzen ihre Sprache in vielfältiger Weise: Sie tauschen Informationen aus, sie teilen ihre Gefühle mit, sie kehren ihr Innerstes nach außen, sie erfinden Geschichten, sie erzählen Witze, sie verwenden Ironie, sie beleidigen einander, sie teilen Komplimente aus, sie bedrohen, warnen, befehligen, fragen, rufmorden, beschwatzen, belügen und überreden Mitmenschen, und sie bringen andere auch zum Schmunzeln. Erst seit der Erfindimg der Sprache - oder war es vielleicht eine Entdeckung? — hat auch die komische Wendung ihren Siegeszug angetreten, mit dem ganze Berufsstände ihren Lebensunterhalt verdienen: Wir nennen sie heute Kabarettisten, Comedians, Politiker, Kinder, Zyniker, Laienkomiker oder ganz einfach nur Menschen. Sie alle sind mehr oder weniger freiwillig Meister der verbalen Situationskomik und kreative Köpfe der Kommunikation. Wir werden sie zum Abschluss unserer Reise durch die Geheimnisse der Sprache — zur Belohnung Ihres wissenschaftlichen Strebens — gebührend würdigen. Nicht nur, dass es höchst erstaunlich ist, wie der Witz einer Äußerung in unseren Köpfen überhaupt zustande kommt; allein die Äußerung selbst, sei sie nun komisch oder nicht, ist ein Wunderwerk unseres Gehirns: Kaum dass wir einen Gedanken fassen konnten, kaum dass wir ein Gefühl verspürten, und kaum dass wir etwas Bemerkenswertes gesehen haben, reden wir mit Leichtigkeit und ohne sichtbare Anstrengung drauflos, um das Erlebte mitzuteilen. Dabei produzieren wir normalerweise bis zu fünf Wörter pro Sekunde, die wir in eine
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Einleitung
passende Reihenfolge und Beziehung zueinander bringen müssen, deren Aussprache und Bedeutung wir aus zehntausenden von Wörtern zumeist problemlos heraussuchen, obgleich wir uns schon wieder mit dem nächsten Gedanken in unserem Kopf beschäftigen. Wie schafft es unser Gehirn und Sprachapparat nur, zugleich zu denken, die gewonnenen Ideen und Vorstellungen in Wörter und Sätze zu kleiden, diese korrekt auszusprechen, um dann aber fast im selben Augenblick die durch den Gesprächspartner vorgebrachte Erwiderung aufzunehmen und zu interpretieren? Der Linguist steht nun nicht völlig paralysiert vor diesem Phänomen Sprache, sondern nimmt sich ihrer an und versucht, ihr Wesen zu ergründen. Dabei interessieren ihn vor allem die formalen und inhaltlichen Strukturen eines Satzes oder Wortes, die Prozesse bei ihrer Kombinierung, und auch die beim Empfänger erreichten Wirkungen. Wir wissen heute schon sehr viel über die menschliche Sprache, wenn auch bei weitem noch nicht alles. Weil Sprache ein kognitives Phänomen darstellt, also zum Großteil im Gehirn verankert ist, bekommen wir es auch in der Linguistik indirekt mit diesem komplexesten Organ des Menschen zu tun. Irgendwie muss Sprache im Gehirn doch neuro(physio)logisch verankert sein, da wir ja stets unsere Gedanken zu äußern versuchen. Die Evolution hat uns mit der Sprache ein hochkomplexes Mittel bereitgestellt, wie wir unser Innenleben nach außen kehren können. Andererseits sind wir als Hörer aber auch in der Lage, über sprachliche Vermittlung am Innenleben anderer teilzuhaben. Da wir nicht telepathieren können, müssen wir eben sprechen. Dieses faszinierende Konstrukt, das uns die Evolution in bis heute (noch) ungeklärter Weise vor nicht allzu langer Zeit an die Hand gegeben hat - man rechnet in Zeitspannen von etwa 50.000 bis 100.000 Jahren - , erschließt sich dem Linguisten nicht einfacher als die Vorgänge in der Welt dem Physiker. Der Physiker hat jedoch den Vorteil, dass er die Welt (in)direkt beobachten und messen kann, um uns ihr Innerstes zu offenbaren und ihren Zusammenhalt aufzuzeigen. Der Linguist indes kann nicht einfach die Köpfe der Leute aufschrauben und den Gehirnzellen — den Neuronen — bei ihrem Schaffen zusehen, wie sie gerade Sprachliches verarbeiten. Nur sehr indirekt über komplizierte Bild gebende Verfahren wie die Computertomografie erhält der Linguist einen groben Einblick in die Abläufe beim Sprechen und Verstehen. Daher ist die Linguistik auch viel unspektakulärer als die
Einleitung
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Physik: Was dei Linguist braucht, sind nur die Wörter und Sätze, die wir ständig äußern. Was er jedoch damit hervorbringt, sind komplizierte Theorien über die menschliche Sprachfähigkeit, die sich dem Normalsprecher nicht so ohne weiteres erschließen wollen — und ihn womöglich auch gar nicht so sehr interessieren, denn er kann ja sprechen, wenn er vielleicht auch nicht genau weiß, wie und warum. Die Physiker haben es hier leichter, oder sie haben einfach einen besseren Weg gewählt, um ihre Theorien an den Mann und die Frau zu bringen: Wer interessiert sich nicht für Anfang und Ende des Universums, für schwarze Löcher und Neutronensterne, für die dem Alltagsverstand zuwiderlaufenden Absurditäten der Quantentheorie, für Überlichtgeschwindigkeitsphänomene, für Zeitreisen und Paralleluniversen, Supercomputer usw. Die Physik hat es durch ihre anschauliche bildhafte Sprache und die Konzentration auf das Notwendige geschafft, nicht nur bei Wissenschaftlern populär zu sein. Die Linguistik ist das offensichtlich noch nicht. Viele kennen diese Wissenschaft gar nicht, und wenn doch, dann fragen sie sich, wozu sie denn gut sei. Dass Linguistik nicht nur trocken und langweilig, unverständlich oder gar überflüssig ist, soll mit dem vorliegenden Buch unter Beweis gestellt werden. Es versteht sich nicht nur als wissenschaftlich orientiertes (Ein)lesebuch für den linguistisch interessierten Beginner und Fortgeschrittenen, sondern bietet neben einer im Schwierigkeitsgrad ansteigenden Einführung in die Linguistik und Heranführung an das Phänomen Sprache zugleich auch einen kleinen Einblick in die kreative und unterhaltsame Seite unserer Sprache. Es will zudem eine konsistente und interdisziplinäre Zusammenschau kognitiver neuro-, psycho- und computerlinguistischer Forschung bieten und versuchen, einen einheitlichen Begriffsapparat zu etablieren. Nicht zuletzt bietet es genügend Anregungen und Ansatzpunkte zur Diskussion und weiteren Beschäftigung mit dem Thema Sprache. An dieser Stelle sind noch einige Worte angebracht, um die Lesbarkeit und den Effekt des Textes zu erhöhen. Alle neu eingeführten linguistischen Termini sind fett gedruckt und an der entsprechenden Stelle näher ausgeführt - teilweise bewusst auch an mehreren Stellen, denn Redundanz im Sinne der Betrachtung eines Phänomens aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit verschiedenen Formulierungen hilft sehr beim Nachvollzug dessen, was ich Ihnen mit diesem Buch vermitteln will. Im Index sind sämtliche Fachausdrücke mit ihren erklä-
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Einleitung
renden Textstellen nochmals zusammengefasst; auch die wenigen benutzten Abkürzungen können hier nachgeschlagen werden. Zusätzliche Informationen speziell fur dieses Studienbuch sind darüber hinaus unter der Internet-Adresse www.das-phaenomen-sprache.de zu finden. Beispiele sind durchweg in KAPITÄLCHEN gesetzt. Normale Textauszeichnungen zur Betonung und Hervorhebung werden kursiv geschrieben. Der laufende Text ist nicht durch Quellenangaben oder Literaturhinweise 'verschmutzt'; bei Bedarf werden sie in Fußnoten realisiert. Die zugrunde gelegte linguistische ein- bzw. weiterfuhrende Literatur ist am Ende in einer thematisch sortierten und eigenständigen Übersicht zusammengestellt. Personenbezeichnungen sind zwar durchgehend in der männlichen Form verwendet, meinen aber selbstredend weibliche und männliche Formen zu gleichen Teilen. Weder will ich die Leserschaft mit 'LeserInnenschaft' noch mit 'Leser und Leserinnen' belästigen. Lehnen Sie sich jetzt zurück und gehen Sie mit mir auf eine Entdeckungsreise zu den Geheimnissen der menschlichen Sprache.
2 Wurzeln, Wesen und Wissenschaft der Sprache 2.1 Die Sprache und ihre Wissenschaft Die Linguistik — auch (Allgemeine) Sprachwissenschaft genannt - befasst sich mit dem Phänomen Sprache als der Lehre von den sprachlichen Zeichen im Sinne einfacher Wörter oder komplexer Sätze sowie den Regeln ihrer Kombination. Dabei wurde der Begriff 'Sprache' zunächst sehr undifferenziert benutzt: Er ist ambig - d. h. zwei- oder mehrdeutig - und bedarf einer Klärung. Unter 'Sprache' kann man zunächst einmal die Sprache als solche verstehen, die eine den Menschen auszeichnende Eigenschaft ist und ihn von den Tieren und ihren Tiersprachen unterscheidet (Affenlaute, Bienensprache). Ferner wird der Begriff 'Sprache' auch für bestimmte Sprachen verwendet, etwa für das Deutsche oder Englische; es existieren heute noch einige tausend verschiedener Sprachen - Tendenz stark abnehmend. Weiterhin kann man damit die je individuelle Sprache eines einzelnen Sprechers einer dieser Sprachen bezeichnen (man denke an: 'Er hat eine klare Sprache.'); man nennt dies dann Idiolekt. Und zuletzt mag auch noch das von einem solchen Sprecher tatsächlich Gesprochene gemeint sein ('zur Sprache kommen', Rede[n]). Was die Sprachwissenschaft nun tatsächlich untersucht, ist zum einen das gemeinsame Fundament aller Sprachen - also die Suche nach universal gültigen Strukturen und Prozessen in Form einer Art Universalgrammatik, ganz ähnlich der universalen Theorie der Physik zur Vereinigung aller Naturkräfte —, zum anderen die detailliertere Beschreibung einzelner Sprachen vor dem Hintergrund dieses gemeinsamen Fundaments. Für die Sprachen einzelner Menschen interessiert sich die Linguistik hingegen nicht; vielmehr abstrahiert sie von diesen Idiolekten und geht von einem ideal(isiert)en Sprecher und Hörer aus, der sozusagen eine 'optimale' Einzelsprache in seinem Kopf installiert hat. Nehmen wir ein erstes kniffliges Beispiel. Der Satz
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Wurzeln, Wesen und Wissenschaft der Sprache ALLE FRANZOSEN LIEBEN EIN MÄDCHEN.
scheint auf den ersten Blick harmlos. Bei genauerer Betrachtung und dem Versuch einer Reformulierung wird man jedoch feststellen, dass er in Wirklichkeit ambig ist — versuchen Sie es einmal, bevor Sie weiterlesen: (1) (2) (3) (4)
ALLE ALLE ALLE ALLE
FRANZOSEN FRANZOSEN FRANZOSEN FRANZOSEN
LIEBEN ZUSAMMEN 1 MÄDCHEN. LIEBEN JEWEILS 1 MÄDCHEN. LIEBEN ZUSAMMEN IRGENDEIN MÄDCHEN. LIEBEN JEVTEILS IRGENDEIN MÄDCHEN.
Linguisten interessieren sich nun ganz brennend dafür, wie und warum so etwas passieren kann. Die Antwort greift zwar weit voraus, sie ist jedoch auch hier vielleicht schon im Ansatz nachvollziehbar: Die Mehrdeutigkeit des ganzen Satzes beruht zunächst auf der Ambiguität (Zwei- bzw. Vieldeutigkeit) des Wortes EIN, das vor MÄDCHEN steht: Es kann zum einen bedeuten, dass man unter einem speziell numerischen Blickwinkel genau 1 bestimmtes Ding damit ausdrücken will - also ζ. Β. 1 Mädchen —, zum anderen irgendein (bestimmtes) Etwas damit meint.1 Das erscheint zugegebenermaßen erst einmal spitzfindig, wird aber einleuchtend, wenn man sich vergegenwärtigt, wie man den Bestandteil vor MÄDCHEN nachfragen kann: (\'/2r) Wie viele Mädchen werden geliebt? => (je) 1-es ( 3 ' / 4 ' ) Welches/Welch ein Mädchen wird geliebt? => (je) irgendeines2 Die Ambiguität von EIN hat uns also schon zwei Lesarten des obigen Beispielsatzes beschert. Es fehlen jedoch noch zwei weitere Interpretationsweisen, die sich nicht aus der Ambiguität eines einzelnen Wortes obigen Satzes ergeben, sondern durch die Kombinationsweise
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Der Fall mit dem nicht-numerischen EIN ist eigentlich noch diffiziler: Aus JACQUES WILL NÄCHSTES JAHR EINE BAYERIN HEIRATEN kann man herauslesen, dass er entweder (i) seine Zukünftige bereits kennt, oder (ii) sich erst noch in (irgendeine Unbekannte aus dem Bayernlande verlieben will. Der Unterschied wird deutlich darin, auf wen sich EINE BAYERIN bezieht: (i) auf eine bestimmte reale Person, über die man aber (noch) nichts weiß (außer dass sie Bayerin ist) oder (ii) auf irgendeine als 'prototypisch* vorgestellte Bayerin. Instruktiv ist hier auch das Folgende: Setzt man IRGENDEIN MÄDCHEN in die Mehrzahl, erhält man IRGENDWELCHE MÄDCHEN. Nach IRGENDWELCHE fragt m a n m i t WELCHE.
Die Sprache und ihre Wissenschaft
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mehrerer seiner Wörter entstehen. Die Bedeutungsdifferenz zwischen (1) und (2) bzw. (3) und (4) entsteht hier im Speziellen durch die (logische) Beziehung zwischen ALLE FRANZOSEN und EIN MÄDCHEN. Betrachtet man den Ausgangssatz, dann kann man entweder herauslesen, dass alle Franzosen genau eine einige Person X lieben — also alle dieselbe oder man interpretiert hinein, dass jeder Franzose jeweils (s)eitie eigene Person X; liebt, die (ausschließlich) sein Mädchen ist - also jeder eine andere: (L"/3") ALLE FRANZOSEN ZUSAMMEN LIEBEN (IRGEND)EIN MÄDCHEN. (2"/4") JEDER FRANZOSE FÜR SICH LIEBT (IRGENDEIN MÄDCHEN. Wir haben also zwei Lesarten erhalten durch die Ambiguität des Wortes EIN, und zwei weitere Lesarten durch die im Ausgangssatz an der Oberfläche nicht näher spezifizierte Beziehung zwischen ALLE X und EIN Y. Das ergibt insgesamt 2 mal 2 Möglichkeiten für die Interpretation. Im Falle des EIN liegt eine so genannte lexikalische Ambiguität vor, d. h. einem Wort sind mehrere potenzielle verwandte Bedeutungen zugeordnet. Hierunter fallen ζ. B. auch solche Wörter wie PFERD, mit dem man die Schachfigur, das Turngerät oder Tier meinen kann. Im anderen Fall handelt es sich um eine grammati(kali)sche Ambiguität 3 , weil die Mehrdeutigkeit hier nicht aus einem einzelnen Wort resultiert, sondern aus dem speziellen Zusammenwirken der beteiligten Wörter des Satzes. Sehr anschaulich wird dies auch in Sätzen wie PFERDE SIND NICHT MEHR AUF DEM FELD ALS BAUERNOPFER, wobei sowohl BAUERNOPFER wie der ganze Satz in mehrfacher Hinsicht ambig sind (wir werden das Puzzle am Ende auflösen). Das Lexikon ist der Aufbewahrungsort der Wörter, und in der Grammatik wird dann festgelegt, wie diese Elemente mehr oder weniger eindeutig zu komplexeren Wörtern und Sätzen verknüpft werden können. Was wäre uns doch alles erspart geblieben, wenn die Sprache einfach perfekt wäre und überhaupt keine Ambiguitäten zuließe! Warum nur müssen Wörter vieldeutig oder vage sein, und warum erlaubt eine Grammatik mehrdeutige Strukturen? Die Antwort klingt unglaublich, aber sie ist wahr: Wir könnten überhaupt nicht effizient kommunizieSie wird auch als syntaktische Ambiguität bezeichnet (dazu später noch mehr).
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Wurzeln, Wesen und Wissenschaft der Sprache
ren, wenn nicht dieses gewisse Maß an Unterbestimmtheit bzw. Spielraum in die Sprache eingebaut wäre. Wären Wörter etwa auf nur eine einzige spezielle Bedeutung beschränkt, wir brauchten Millionen davon, um die Dinge und Vorgänge in der Welt zu beschreiben (denken Sie an die vielen Bedeutungen von PFERD: Fast jedes andere Wort ist auch ambig oder vage); in der Tat kommen wir aber mit weit weniger als 100.000 aus. Müssten wir zudem jedes Mal sämtliche Bedeutungen und Zusammenhänge aller Wörter einer Äußerung so weit ausführen und spezifizieren, dass sich daraus ein gänzlich unzweideutiger Satz ergibt, würden wir vermutlich 90 % oder mehr unserer Äußerungen nur damit vollpacken zu explizieren, was genau wir mit einem Wort oder Satz meinten; die Erläuterung wäre aber selbst wieder ambig, und so müssten wir auch diese wieder erläutern, ad infinitum. Wir sollten uns einfach darauf verlassen, dass unser Gesprächspartner so viel Hintergrundwissen und Kenntnis über die gegenwärtige Kommunikationssituation besitzt, dass dieser von sich aus imstande ist, das vom Sprecher unter den gegebenen Sprechumständen (Kontext) Gemeinte möglichst detail- und inhaltsgetreu erschließen. Bei der alltäglichen Kommunikation gilt der Grundsatz, dass maximale Genauigkeit und Ausführlichkeit meist zu minimaler Verständlichkeit fuhrt.4 Grämen Sie sich im Übrigen nicht, falls Sie das Franzosen-Beispiel von oben noch nicht ganz verstanden haben sollten. Ich wollte damit lediglich demonstrieren, dass Linguistik keine Trivialwissenschaft ohne Tiefgang ist und sich durchaus mit dem Niveau der Physik messen kann. Sobald wir genug über die Sprache erfahren haben, werden wir uns den verliebten Franzosen nochmals zuwenden. 2.2 Der Mensch und seine Sprache Wir haben oben gelernt, dass Linguisten sich hauptsächlich für Einzelsprachen und deren sprachübergreifende Gemeinsamkeiten interessieren. Die einzelnen Sprachen werden jedoch immer vor dem Hintergrund eines gedachten 'perfekten' Sprechers einer dieser Sprachen 4
Sie kennen dieses Phänomen sicherlich: Je mehr man sich in Details zu verlieren anschickt, desto komplizierter werden auch die Sätze in formaler und inhaltlicher Hinsicht, und umso schwieriger fällt es, der Konversation zu folgen.
Der Mensch und seine Sprache
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untersucht. Dabei gilt es, jene vermuteten kognitiven Strukturen und Prozesse zu erkennen und zu beschreiben, wie sie beim Sprechen und Verstehen eine Rolle spielen (könnten). Die Linguistik kann man hier insofern als Naturwissenschaft betrachten, als sie es mit dem komplexesten Organ des Menschen — dem Gehirn — zu tun bekommt, aber auch, weil sie die naturwissenschaftliche Vorgehensweise des Beobachtens sprachlichen Verhaltens bzw. Erhebens sprachlicher Daten — nämlich der Äußerungen der Sprecher einer Sprache — bemüht, um diese zu analysieren und so in einen theoretischen Zusammenhang zu stellen. Da Sprache aber nicht ausschließlich als neurophysiologisches Phänomen zu betrachten ist — d. h. sich nicht nur auf die chemischen und neuronalen Vorgänge im Gehirn beschränken lässt - , deren Produkte (Äußerungen) der Linguist dann so gerne aufzeichnet, sondern jeder Sprecher auch in einen überindividuellen sozialen und kulturellen Kontext eingebettet ist, versteht sich die Linguistik zu Recht auch als eine Wissenschaft des Geistes, wie etwa die Psychologie oder Philosophie.5 Man kann Einzelsprachen nun nicht nur von einem statischen und gegenwärtigen Blickwinkel aus betrachten — was der Linguist als synchrone Sichtweise bezeichnet - , sondern auch nach der Entwicklung einzelner Sprachen bzw. ganzer Sprachfamilien forschen (diachron). Das geht so weit sich zu fragen, wie die Sprache beim Menschen überhaupt entstanden ist. Gibt es eine einzige Ursprache, von der alle anderen abgeleitet sind? Wenn ja, wann und wie ungefähr ist diese entstanden? Sie vermuten richtig, wenn Sie glauben, dass solche Fragen derzeit nicht eindeutig beantwortet werden können. Leider haben wir keine Zeitmaschine zur Verfügung, um diese wirklich aufregende Zeit der Menschheit näher zu untersuchen. Man muss sich ja vor Augen führen, dass unsere heutige moderne Zivilisation sicherlich allein das Produkt dieser Sprachfähigkeit ist! Oder haben Sie schon mal einen Delfin, Affen oder sonst ein 'intelligentes' Tier dieses Planeten gesehen, das Auto fährt, im Internet herumwa(r)tet und Kaffee kocht? Sie können sicher sein, dass unser Zivilisationsniveau nicht ausschließlich das Produkt höherer Intelligenz ist (was immer man darunter verstehen mag), sondern vor allem eine Leistung der gesprochenen Spra5
In der Tat gibt es hier eine Reihe von Mischwissenschaften: Psycholinguistik, Sprachpsychologie, Sprachphilosophie, Neurolinguistik, Computerlinguistik.
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Wurzeln, Wesen und Wissenschaft der Sprache
che, die durch die Erfindung der Schrift nochmals einen entscheidenden Schub erhielt. Denn mit ihrer Hilfe war es nun erst möglich, viel mehr Wissen zu konservieren, als es vorher durch mündliche Überlieferung möglich war. Jede nachfolgende Generation erweiterte dieses Wissen dann um neue Entdeckungen, Erfindungen und Fertigkeiten, und konservierte diese nicht nur in Form neuer gesprochener Wörter, sondern ζ. B. als detaillierte Beschreibungen für die Herstellung und den Gebrauch von Gegenständen (etwa Werkzeuge). Hiermit war es nun plötzlich möglich, schriftliche Handelsabkommen zu schließen6 — auf Basis von geschriebenen Gesetzen und Verträgen, mit detaillierten Inventar- und Vergütungslisten —, was auch die Inanspruchnahme mathematischer Zeichen und Operationen erforderte, die sich wahrscheinlich aus natürlichen Sprachzeichen entwickelt haben. Offenbar hat es bei der Spezies Mensch nicht nur einen Schritt hin zum Homo sapiens gegeben, sondern er ist im Wesentlichen auch ein Homo grammaticus geworden. Wie soll man sich das nun vorstellen, diese Auferstehung aus dem Dunkel der Sprachlosigkeit in das Licht des sprachgebundenen Denkens?7 Ist die Sprache wie ein Meteorit im Menschen eingeschlagen und hat alles von heute auf morgen verändert, oder war es ein länger andauernder Prozess, der mehrere Zwischenstufen passiert hat? Nach neuesten Erkenntnissen ist Letzteres der Fall. Angefangen haben muss alles mit isolierten Lauten bzw. Silben, die eine ganz spezifische Bedeutung hatten und vor allem nicht mehr (reflexhaft) automatisch verwendet wurden wie etwa die Warnrufe von Affen bei Feindkontakt: Denkbar wären etwa Bezeichnungen für essbare vs. giftige Nahrungsstücke, die 'namentliche Begrüßung' zweier Sippenkollegen durch eine besondere Lautsequenz oder Koordinationsrufe bei der Jagd. Dabei muss man sich im Klaren sein, dass wir es bereits mit einem Vorläufer des heutigen 'weisen' Menschen zu tun haben — einem modernen Hominiden - , der sich über mehrere zehnbzw. hunderttausend Jahre bis zum heutigen Stand weiterentwickelt hat. Wie diese Laute oder Rufe nun zu ihrer Bedeutung gelangten — 6
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Sie kennen doch die Sache mit dem symbolischen Handschlag, wo am Ende keiner was gesehen und gewusst haben will. Sozusagen der 'Urknall' der Sprache, um bei den Physikern zu bleiben. Den Zusammenhang der Sprache mit dem Denken werden wir noch eingehender durchleuchten.
Der Mensch und seine Sprache
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also etwa „Süße-Früchte!", „Hallo!" oder „Angriff!" - , darüber kann man wieder nur spekulieren. Dass aber irgendwann ein Hominid solche Zeichen kombiniert haben muss, um eine komplexe Bedeutung daraus zu erzeugen, steht außer Frage. Wie könnte so etwas zustande gekommen sein? Nehmen wir an, ein Hominid trifft auf ein Stück Aas in Form einer Raubkatze, die er zunächst nicht als tot identifiziert hat, und stößt in seiner ersten Panik (reflexartig) einen Warnlaut aus, bemerkt jedoch unmittelbar danach seinen Irrtum und liefert gleich hinterher einen Ruf für Aas (d. i. tote Nahrung). Ein halbwegs gewitzter Kollege, der beide direkt aufeinander folgenden Rufe mitbekommen hat, schließt daraus vielleicht, dass hier eine 'Aas-Raubkatze' am Boden liegt, die - weil sie ja totes Aas ist — gar keine Gefahr mehr darstellt. Der schlaue Sippenkollege könnte sich nun genau diese Lautkombination merken und bei der nächsten Gelegenheit selbst benutzen, was zwar zunächst bei einigen wieder zu kurzfristiger Panik in der Sippe führt, dann jedoch durch seinen zweiten unmittelbar darauf folgenden Ruf neutralisiert würde. Gewonnen hätte der Rufer dadurch den Vorteil, als Erster an der Nahrungsstelle zu sein und mit dem Mahl beginnen zu können, während die anderen noch ihre Gedanken sammeln. Diese bewusste und absichtliche Täuschung würde mit der Zeit auffliegen und jedes Sippenmitglied hätte bald eine Vorstellung davon, was die beiden Rufe in ihrer Kombination bedeuten, nämlich das hinter dem komplexen Ruf steckende, rein gedanklich-emotional-vorstellungshafte Konzept, RAUBKATZE-TOT bzw. TOTE-RAUBKATZE.8 Hiermit hätte man in der ganzen Sippe plötzlich eine bewusste Möglichkeit, die anderen intentional (absichtsvoll) zu beeinflussen, denn die Laute bedeuten nun ja für alle etwas, sowohl in ihrer Kombination als auch einzeln. Gerade die Rufkombination würde dann wohl allen klar machen, dass auch die Einzelrufe intentional verwendbar sind, ohne stets kombiniert werden zu müssen. Es hätte sich so eine Art von Einsicht bei den Sippenmitgliedern etabliert, dass Laute absichtsvoll — und eben nicht mehr reflexartig — zu bestimmten Zwecken verwendet werden können, gerade weil die anderen ebenfalls eingesehen haben, dass und wie man davon Gebrauch macht. Mit einer solchen stillschweigenden Übereinkunft (KonventiDie Großbuchstaben sollen andeuten, dass es sich nicht um Sprachliches (ζ. B. Wörter oder Sätze), sondern um Gedankliches im weiteren Sinne handelt.
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Wurzeln, Wesen und Wissenschaft der Sprache
on) ist bereits eine Art von System geschaffen und verfestigt, das sich als etwas Sprachähnliches nicht mehr aus der Gemeinschaft entfernen lässt: Alle Nachkommen übernehmen automatisch dieses (intentionale) Verhalten und ver- und bestärken damit dieses Kommunikationssystem.51 Die zufällige Sprachgeburt würde zum Selbsdäufer. Eine moderne Sprache haben wir dabei freilich noch nicht, bestenfalls eine Protosprache (eine Art Vorspräche10). Was ihr fehlt, ist das, was wir heute als Syntax und Morphologie zu bezeichnen pflegen: Letztere umfasst die Regeln, wie Wörter und/oder Wortbestandteile z u k o m b i n i e r e n sind - z . B . SCHLAF-EN, LEHR-ER-IN, HAUS-BAU etc.
—, Erstere bestimmt, wie wir diese Teile so zu einem neuen Satz integrieren, dass dabei dennoch möglichst wenig Mehrdeutigkeit entsteht - wir sagen HANS SCHNARCHT, wenn wir auf ein gegenwärtiges Ereignis verweisen, und HANS SCHNARCHTE, wenn wir ein vergangenes meinen. Die Freiheitsgrade bei der Vagheit und Ambiguität von Wörtern und Sätzen haben also auch ihre Grenzen: Die sprachliche Involution' hat sozusagen einen optimalen Mittelweg eingeschlagen zwischen Unterbestimmtheit und Präzision in Hinblick auf die (Un)missverständlichkeit von Äußerungen. Im obigen Affenruf-Beispiel etwa ist nicht einmal klar, ob wir ein komplexes Wort (AAS-RAUBKATZE) oder schon einen ganzen Satz gebildet haben (RAUBKATZE [IST] AAS/TOT). Die ungeregelte zufällige Aneinanderreihung v o n W ö r t e r n - d. h. Lauten
mit Bedeutungen) - ist das, was eine Protosprache auszeichnet. Voll ausgebildete menschliche Sprachen wie unsere heutigen indes kennen eine Vielzahl zusätzlicher Hilfsmittel, um die Beziehungen der Wörter oder Wortbestandteile zueinander zu regulieren: Dabei spielt ζ. B. die W o r t s t e l l u n g i m Satz eine Rolle (NOAM IST LINGUIST, vs. IST NOAM
LINGUIST?), die Betonung kann bedeutungsunterscheidend sein (UMFAHREN vs. UMFÄHREN), die Wörter tragen Flexionen (ER GEH-T vs. WIR GEH-EV) zur Anzeige grammatischer Merkmale wie Genus (Ge9
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Ob es tatsächlich so war, ist reine Spekulation; es ist jedoch ein mögliches Szenario. Der zufällige Urknall der Sprache wäre vergleichbar mit der (Un)Wahrscheinlichkeit der Entstehung von Leben, als zufällig an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit die richtigen Ausgangsstoffe und der richtige 'Zündfunke' vorhanden waren. Die schiere Masse an Stoffen und Reagenzorten lässt die Potenzialität eines solchen Ereignisses irgendwann Realität werden. So wie ein Prototyp noch nicht das endgültige Produkt ist, sondern eine Vorschau oder ein Testfall für selbiges.
Die Methode der Linguistik
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schlecht: ER vs. SIE vs. ES), Numerus (Anzahl: Ein2ahl vs. Mehrzahl = Singular vs. Plural), Kasus (Nominativ usw.) oder Person (1. vs. 2. vs. 3.) u. a.11 Erst all diese 'Hilfsmittel' zur Wort- und Satzgliederung machen eine Protosprache zu einer voll ausgebildeten Menschensprache, mit der maximal effizient kommuniziert werden kann.
2.3 Die Methode der Linguistik Wir haben im letzten Abschnitt über die Entstehung der Sprache in Form einer Protosprache spekuliert. Im Gegensatz zu einer voll ausgebildeten Sprache heutiger Prägung fehlt ihr die Möglichkeit, komplexe Sätze mit innerer Struktur zu bilden, also ζ. B. eingebettete Relativsätze (DERJENIGE, (WELCHER) oder abhängige Nebensätze (DIES, 1VEIL DAS), direkte bzw. indirekte Fragen (WER KOMMT? bzw. MARIA FRAGTE, OB/ITER) usw. Auch innerhalb des Satzes können komplexere Satzbestandteile wie DER GROßE BLONDE MIT DEM SCHWARZEN SCHUH (UND DER FIEDEL UNTER DEM A R M ) gebildet werden, was in einer Protosprache vollkommen unmöglich wäre. Hier würden lediglich Wörter aneinander gereiht, deren Beziehungen zueinander erraten werden müssten: BLOND GROß SCHUH SCHWARZ oder eben auch RAUBKATZE AAS/TOT - es spricht nichts dagegen, die Adjektive hinter die Substantive zu platzieren, wie es im Französischen der Fall ist. Dass dies zum Ratespiel ausartete und bei geschätzten fünf Wörtern sein natürliches Ende erfahren würde, ist nachvollziehbar.12 Das Entscheidende an unserer ausgebildeten Sprache sind solch unscheinbare Wörter wie MIT, UND, DER, SIE oder DASS/OB, WELCHER, KÖNNEN, WERDEN etc. Sie stiften einerseits Beziehungen zwischen verschiedenen Bestandteilen (MANN MIT DEM HUT, HANS UND EVA), andererseits erledigen sie ganz bestimmte Aufgaben im Satz (Ds4S K I N D vs.
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Es gibt noch einige mehr, aber wir wollen uns zunächst damit begnügen. Es gilt mittlerweile als gesichert, dass (Zwerg) schimpansen (Bonobos) zu einer Protosprache fähig sind. Man konnte einigen Individuen bis zu (über) hundert grafische Symbole beibringen, die von ihnen einzeln oder seltener auch in sinnvoller Kombination benutzt wurden. Haben sie mehrere Symbole aneinander gestellt, war deren Reihung oft willkürlich (dieser Punkt ist jedoch umstritten).
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Wurzeln, Wesen und Wissenschaft der Sprache
EIN KIND, EVA FÄHRT AUTO vs. SIE FÄHRT AUTO VS. ES WIRD AUTO GEFAHREN usw.).
Da auch anderen Primaten eine Protosprache gelehrt werden kann, muss sich der moderne Mensch in irgendeinem kognitiven und/oder physiologischen Detail von diesen unterscheiden. Die Evolution hat sicherlich nicht gezielt die Sprache in unser Erbgut eingebracht — zielen tut sie nie —, sondern bereits vorhandene Fähigkeiten des Gehirns wurden unfreiwillig oder zufällig 'missbraucht' und im Laufe der Zeit für sprachliche Zwecke so umfunktioniert, dass es für das Überleben des Einzelnen und der ganzen Sippe irgendeinen Vorteil brachte: Ein früher Hominid konnte auch ohne Sprache bereits denken, handeln und sich laut(lich) mitteilen, aber bestimmte Gedanken mit bestimmten Handlungen der Artikulation zu verknüpfen war neu. Im oben geschilderten Täuschungsszenario ist dies passiert, und so mag hier eine Erklärung für den Ursprung der Sprache liegen; vielleicht waren aber auch soziale Strukturen innerhalb einer (Beute jagenden) Gruppe die Triebfeder für immer ausgefeiltere Techniken, den Beutezug über Zuund Ermunterungsrufe zu koordinieren; auch einzelne Individuen als Freund oder Feind zu identifizieren, ihnen Eigenschaften zuzuschreiben (was hat X für mich getan? wie schnell kann Ζ laufen?), und sich selbst mit anderen Sippenmitgliedern in Beziehung zueinander zu setzen, war sicherlich ein Geburtshelfer für die Sprache. Dies setzt zum einen Vorstellungsvermögen voraus (was tut X, wenn ich ihn mit Y betrüge? ist Ζ stärker als ich?), zum anderen ein immer besseres Gedächtnis für Individuen und ihre Eigenschaften, so dass vielleicht eine parallele Entwicklung von Gedächtnis, Vorstellungsvermögen und erweiterten Ausdrucksmöglichkeiten durch einen zunehmend kontrollierbaren Lautapparat stattgefunden hat. Über die genauen Mechanismen kann man nur spekulieren; klar ist indes, dass es nicht das eine, alles entscheidende Sprachgen gibt, das uns zum Homo grammaticus machte. Vielmehr haben wir zufällig diejenige genetische Gesamtausstattung, die es uns erlaubt, eine bestimmte Weise der Kommunikation mit einer bestimmten Art von Sprache durchzuführen. Hätten wir eine andere Ausstattung, würden wir vielleicht telepathieren oder mit Hilfe zweidimensionaler Bilder auf unserer Haut 'sprechen' (Chamäleons und Sepien beispielsweise teilen sich über den Farbwechsel auf ihrer Haut mit). Aufgrund der akustischen Realisierung unserer Sprache sind wir aber gezwungen, linear in der Zeit zu kommunizieren; in
Die Methode der Linguistik
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diesen eindimensionalen Strom von Lauten müssen wir dann diejenige grammatische Struktur Tiineinzaubern', die uns die Beziehung der Wort- und Satzbestandteile zueinander anzeigt. Die Linguistik hat nun die wahrhaft nicht-triviale Aufgabe, genau diese Strukturen und Prozesse zu identifizieren, die es uns Sprechern und Hörern erlaubt, diesem unstrukturierten Lautgemenge des tagtäglich Gesprochenen und Geschriebenen einen Sinn beizumessen. Dabei ist die Sprachwissenschaft, wie etwa auch die Physik, darauf angewiesen, durch Beobachtung und Experiment Modelle oder Theorien menschlicher Sprachverarbeitung zu erstellen. Hierfür muss sie sich auf konstante und vor allem reproduzierbare Verhältnisse konzentrieren: Alles Veränderliche und Zufällige gilt es herauszulassen, weil anderenfalls zu viele Variable oder Unbekannte die Beobachtungen und Experimente nicht mehr nachvollziehbar werden lassen. Die Linguistik muss also Ordnung in die unendlich vielen Äußerungen bringen, die Menschen täglich in tausenden verschiedener Sprachen erzeugen. Wenn die Sprachwissenschaft nun jede dieser unzähligen Äußerungen einzeln analysieren müsste, wäre sie hoffnungslos verloren, denn eine Äußerung ist etwas E/«maliges in jedweder Hinsicht: Sie wird von einem ganz bestimmten Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort unter ganz bestimmten Umständen hervorgebracht (Kontext). All dies wäre nun bei der Auswertung einer Äußerung durch einen Linguisten zu berücksichtigen: aktueller psychischer und physischer Zustand des jeweiligen Sprechers (Wissen, Fähigkeiten, Aufmerksamkeit, Gesundheit, Alter, Geschlecht usw.), physikalische Situation und soziokultureller Hintergrund (Ort, Zeit, Temperatur, Religion, Ideologie u. a.), sowie der aktuelle Diskurs (das bisher Geäußerte und der allgemeine wie spezielle Themenbereich). Das alles ist selbst bei der heutigen Computertechnik undurchführbar. Deshalb sind Linguisten gezwungen, sich auf das Wesentliche und Wiederkehrende zu beschränken. Alle zufälligen Umstände einer Äußerung werden einfach herausgekürzt, und auf diese Weise erst wird der linguistische Untersuchungsgegenstand geboren: der Satz und das Wort als die Grundbausteine der/einer Sprache.13 Ein Satz und Wort 13
So wie die Physik ihre Elementarteilchen und Atome als Untersuchungsgegenstand hat, oder die Chemie das A t o m und Molekül, oder die Biologie die Zelle. Dies setzt allerdings voraus, dass man bereits eine gewisse intuitive Vorstellung
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ist im Gegensatz zu einer Äußerung etwas völlig Zeit- und Raumloses: Löst man von einer Äußerung den Sprecher, Ort/Zeit und Kontext (Umstände) ab, erhält man etwas gänzlich Abstraktes und Sprecherunabhängiges, das man erst jetzt bequem am Schreibtisch untersuchen kann. Ein Satz oder Wort ist wie das gemeinsame 'Extrakt' aller Äußerungen dieses bestimmten Satzes oder Wortes. Ich kann tausendmal den Satz W A S IST DER SINN DES LEBENS? oder das Wort HALLO! äußern, aber ich werde als Linguist immer nur den einen Satz W A S IST DER SINN DES LEBENS? bzw. das eine Wort HALLO! analysieren. Jeden Sat^ und jedes Wort gibt es überhaupt nur ein einziges Mal! Eine Äußerung eines Satzes oder Wortes hingegen kann unendlich oft existieren. Die (Allgemeine) Sprachwissenschaft konzentriert sich dabei nicht nur auf eine bestimmte Einzelsprache, sondern fahndet nach denjenigen sprachlichen Elementen, die möglicherweise allen Menschensprachen gemeinsam sind (Universalien). Hat man solche Einheiten gefunden, kann man dadurch vielleicht auf die kognitiven Fundamente unserer Sprachfähigkeit schließen: Wenn alle Sprachen auf den gleichen sprachlichen Basiselementen und Operationen gründen, dann müssen diese auch die wesentlichen und auszeichnenden Charakteristika unserer menschlichen Sprache an sich sein. Findet man schließlich auch noch heraus, welche speziellen Gehirnbereiche am Prozess des Sprechens und/oder Verstehens beteiligt sind, hat man gute Anhaltspunkte, um die evolutionär bedingten Besonderheiten der Menschensprache gegenüber Proto- und Tiersprachen zu bestimmen.
2.4 Sprache und Gehirn Im letzten Abschnitt haben wir etwas über den Untersuchungsgegenstand der Linguistik erfahren: die Sprache als ein System aus Wörtern und Regeln für den Aufbau von Sätzen. Sie gelten als die grundlegenden Einheiten jeder Menschensprache und der Linguistik: Wir äußern davon hat, was ein Satz bzw. Wort ist - ζ. B. aus der Schriftsprache, die Wörter deutlich durch Leerzeichen trennt und Sätze mittels Satzzeichen scheidet —, oder deren Eigenschaften wurden in einer Theorie vorab geklärt, so dass man weiß, wonach man Ausschau halten muss.
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Wörter oder Sätze, um uns anderen mitzuteilen. Die Regeln zur Erzeugung von Wörtern aus Morphemen und Sätzen aus Wörtern sind das, was eine Sprache ihrem Wesen nach ausmacht: Es existieren Regelhaftigkeiten, die in dieser Form bei Tieren nicht anzutreffen sind — auch nicht bei den Protosprachen von Affen. Jede sprachliche Realisierung eines Wortes oder Satzes als eine Äußerung beinhaltet letztlich ein immer wiederkehrendes Inventar fundamentaler Bedeutungseinheiten, die Morpheme: Sie sind die kleinsten Elemente einer Sprache, denen noch eine eigene, wenn auch oft nur minimale Bedeutung oder Funktion zugeordnet werden kann, also ζ. B. M E N S C H - E N SIND AUCH NUR SPRECH-EN-D-E T l E R - E (Morpheme getrennt). Morpheme mögen freie (selbständige) Elemente wie SIND, AUCH, NUR sein oder gebundene (unselbständige) wie M E N S C H - , - E N i , SPRECH-, - E N 2 , -D, - E i , T l E R - , -E2. 1 4 Wir werden noch sehen, warum dies so ist. Die Bildung komplexer Sprachketten ist für das Gehirn keine triviale Aufgabe, auch wenn wir in unserer Muttersprache davon eher wenig merken sollten: Es scheint ein Art Automatismus in unserem Gehirn zu geben, der uns zum einen in die Lage versetzt, als Kleinkind vergleichsweise einfach eine Sprache zu erwerben, ohne dass hierfür sonderlich viel Intelligenz vonnöten wäre, zum anderen diese erworbenen Kenntnisse jederzeit so einzusetzen, dass wir anderen unsere Absichten und Stimmungen ohne Anstrengungen vermitteln können. Das Kennen und Können einer Sprache nennt man in der Linguistik (sprachliche) Kompetenz: Man ist sozusagen auf dem Gebiet einer bestimmten Sprache kompetent, d. h. man kennt sie und kann sie jederzeit benutzen. Die Benutzung dieser Sprachkenntnisse nennt man dann Performanz, so als ob man eine sprachliche Terformance' auf Basis des zuvor einstudierten Wissens aufführt, ähnlich wie auch ein Schauspieler seine mühsam einstudierte Rolle (Kompetenz) zum Besten gibt (Performanz).15 In unserem Gehirn ist diese Unterscheidung durchaus wiederzutreffen: Die Verschaltung derjenigen Gehirnzellen (Neuronen) durch Verbindungsbahnen (Axone bzw. Dendriten), die im Besonderen für Sprache zuständig sind, erzeugt eine Art Schaltplan mit Knoten (Neu14
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Gebundene werden von freien Morphemen durch einen Strich an jener Stelle gekennzeichnet, wo eine notwendige Ergänzung anzubringen wäre. Der hat seine Rolle allerdings bewusst gelernt.
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ronen) und Verknüpfungen (Axone/Dendriten), die als netzwerkartige Struktur (Kompetenz) angesehen werden können. Sobald dann diese Strukturen tatsächlich benutzt werden, um darüber Daten bzw. Informationen abarbeiten zu lassen in der Absicht, eine sprachliche Äußerung zu erzeugen, sind Prozesse am Werk (Performanz), deren grobe Ablaufpläne sich indirekt in den bereits verschalteten Strukturen befinden. Die Computertechnik liefert hierfür eine anschauliche Analogie: Auf einem Mikroprozessor, der das Herz eines jeden PCs bildet, sind Leiterbahnen und Schalter(gruppen) aufgebracht, die als Verbindungswege und Rechenknoten fungieren. Die bloße Verdrahtung der Recheneinheiten (Kompetenz) bestimmt, wie aktuelle Daten dann bei der Prozessierung (Performanz) verarbeitet werden. In der Chipstruktur verkörpert ist die so genannte 'Maschinensprache', die alleinig als Steuerungswerkzeug des Prozessors dient: Der Mikrochip kennt die Bedeutung der einzelnen Befehle, die — ähnlich den Lauten - von einer ganz bestimmten Form oder Erscheinung sein müssen, damit ein Befehlsgeber auf das 'Innenleben' des Chips einwirken kann. So wie in der Schaltstruktur eines Prozessors das Wissen um die Maschinensprache niedergelegt ist (Kompetenz), installiert das Gehirn des Kindes während des Erwerbs einer natürlichen Sprache eine unbewusste (implizite) Kenntnis von ihr, indem seine Gehirnstruktur dementsprechend verschaltet und justiert wird. Die hiermit gewonnene sprachliche und kommunikative Kompetenz — das Wissen, wie man einerseits Wörter und Sätze bildet, zusammen mit dem Wissen, wie man sie andererseits adäquat in einer Kommunikationssituation verwendet — ist die Grundlage jedes Performanzaktes, bei dem dieses Wissen zur Lösung einer 'kommunikativen Aufgabe' benutzt wird (ζ. B. den anderen täuschen, ihn überreden oder überzeugen, ihn loben usw.). Die Realisierung und Lokalisierung der menschlichen Sprache in unserem Gehirn liegt im sekundären Interesse der Linguistik — jedoch mit steigender Tendenz - und im primären der Neuro- sowie Patholinguistik. Letztere beschäftigt sich mit dem durch physische und physikalische Einwirkungen geschädigten Teil des Gehirns (ζ. B. Kopfverletzungen, Schlaganfälle), der vermutlich für Sprache zuständig ist. Es ist wesentlich zu erkennen, welche Sprachfunktionen durch welche Schädigungen beeinträchtigt sind: Hat der Patient 'nur' Schwierigkeiten, Wörter zu finden, oder ist er gar nicht mehr in der Lage, Wörter zu Sätzen zu verbinden usw. Der (partielle) Sprachverlust solcher
Sprache und Gehirn
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Patienten (Aphasie) hat schon früh Wissenschaftler veranlasst, sich der Frage nach dem Wie und Wo der Sprache in unserem Gehirn zu widmen. Der Franzose Paul Broca und der Deutsche Carl Wernicke haben schon zum Ende des 19. Jahrhunderts Bereiche im Gehirn entdeckt, die - neben anderen peripheren - maßgeblich für die Sprachfahigkeit des Menschen zu sein scheinen: das dann nach ihnen benannte Broca- bzw. Wernicke-Areal. Diese beiden Bereiche sitzen jeweils in der linken Gehirnhälfte, grob der erste an der Schläfe, der zweite etwa an/hinter der Ohrspitze. Sie sind jeweils für spezifische Sprachfunktionen zuständig: das Broca-Areal für Sprachproduktion (Artikulation, Sprechmotorik; formale Aspekte der Sprache), das WernickeAreal samt angrenzender Bereiche für Sprachrezeption (Perzeption, Sprachverstehen; inhaltliche Aspekte). Schädigungen in diesen Bereichen führen zu entsprechenden Defiziten der Sprache (Kompetenz) bzw. des Sprechens (Performanz) bis hin zum vollständigen Sprachverlust, wenn weite Teile der linken Gehirnhälfte geschädigt wurden. Die Komplexität sowohl der Sprache wie des Gehirns lässt obige Charakterisierung der Lokalisation von Sprache jedoch als sehr grob zurück. Es existieren vermutlich eine Reihe weiterer, teils noch unentdeckter Sprachareale, die einen nicht unwesentlichen Einfluss auf das Sprechen und Verstehen ausüben mögen. Sämtliche Erfahrungen mit Aphasikern zeigen, dass es keine eindeutig umgrenzten Störungsbilder gibt, was die Therapie erschwert. Wünschenswert wäre daher eine enge Zusammenarbeit von Linguistik und Medizin, wie sie etwa in der Patholinguistik angedeutet ist: Die Erstere stellt Hypothesen über die Subsysteme der Sprache und deren Interaktionen auf, Letztere in Zusammarbeit mit Neurophysiologie bzw. -psychologie versucht, neuronale Entsprechungen hierfür zu finden. Die Grundlage jeder Therapie muss letztlich jedoch wieder die Linguistik bleiben, weil sie auf einer zunächst abstrakten Beschreibungsebene - losgelöst vom Korrelat im Gehirn — ähnlich der theoretischen Physik Modelle und Theorien aufstellt, die als Grundlage für die Erforschung des neuronalen Substrats dienen müssen. So wenig wie die Teilchenphysiker des CERN auch nur ein einziges 'esoterisches' Teilchen wie ein Higgs-Teilchen finden würden ohne vorherige Hypothese, wie und wo dies zu finden sei, so kann auch die Patho-/Neurolinguistik keine kognitiven Entsprechungen ohne vorherige linguistische Modellbildung ermitteln.
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2.5 Sprachliche Ebenen Im letzten Abschnitt wurde angedeutet, wie Sprache im Gehirn lokalisiert ist. Unterschiedliche neuronale Areale beinhalten dabei zumeist auch verschiedene Aspekte einer Sprache: Uns bereits bekannte Wörter sitzen an der einen Stelle, neu gebildete Wörter und Sätze werden an anderen Stellen verarbeitet. Wie wir zu dieser erstaunlichen Fähigkeit gelangen, eine oder gar mehrere Sprachen zu beherrschen, ist bis heute nicht vollständig geklärt. Tatsache ist, dass es uns keinerlei Mühe bereitet, wenn wir als Kind nur einer sprachlichen Umgebung ausgesetzt sind: Solange das 'Zeitfenster' hierfür nicht verlassen wird — es endet etwa mit dem Beginn der Pubertät ist jedes Kind in der Lage, ohne größere Anstrengungen die sprachliche Kompetenz auch mehrerer Muttersprachen zeitgleich zu erlangen. Dies gelingt aber nur, solange im genannten Zeitraum ein entsprechendes sprachliches Umfeld angetroffen wird, d. h. es bedarf eines sprachlichen 'Inputs', um den Sprachinstinkt16 des Kindes zu wecken. Dieser Input in Interaktion mit dem für Sprache vermutlich vorstrukturierten Gehirn erlaubt einen vergleichsweise schnellen Erwerb einer oder mehrerer (Muttersprachen: Innerhalb von nur etwa fünf Jahren erfährt das Kind eine dramatische Wandlung vom sprachlosen Wesen zum kommunikativen Menschen, ohne dass es auch nur eine einzige Lektion in Sprechen oder Kommunizieren erhalten hätte. Täglich erlernt das Kind im Schnitt Dutzende neuer Wörter, die nach und nach zu immer komplexeren (und 'korrekteren') Satzstrukturen verknüpft werden können. Dabei wird unter normalen Umständen des Spracherwerbs die Grammatik und das Lexikon einer Sprache innerhalb des genannten Zeitraums von etwa fünf Jahren so gelernt, dass praktisch keine grammatischen Fehler mehr begangen werden, und dies ohne einem Kind je eine einzige Regel oder ein einziges Wort explizit beigebracht zu haben!17 Allerdings dauert es gut dreimal so lange, bis alle Nuancen einer Sprache und Kunstfertigkeiten ihrer Verwendung ver-
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Ein Begriff, geprägt von S. Pinker; ähnlich zu finden bereits bei Ch. Darwin. Eltern wissen, was geschieht, wenn sie ihrem Kind versuchen zu erklären, dass und wie ein Satz fehlerhaft ist: Es ist völlig zwecklos, denn das Kind erkennt und versteht nicht, dass es einen Fehler in 'seiner' Sprache gemacht hat.
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innerlicht wurden: abstrakte Wörter, figurative Sprache, stilvolle Ausdrucksweise usw.18 Wenn also ein Kind bis zu einem gewissen Alter eine Muttersprache erworben hat, dann hat es seine eigene Version dessen intemalisiert, was wir allgemein unter Deutsch, Englisch oder Chinesisch verstehen. Dabei sind keine zwei Idiolekte irgendwelcher Sprecher einer Sprache völlig identisch: Jeder Sprecher kennt andere Wörter und hat so sein jeweils eigenes individuelles Lexikon im Kopf, und jeder verknüpft diese Wörter mit seiner eigen(willig)en Grammatik zu Sätzen. Im Großen und Ganzen jedoch sind sich diese Individualsprachen so hinreichend ähnlich, dass wir keinerlei Probleme haben, den anderen zu verstehen. Über die 'Richtigkeit' einer Äußerung entscheidet letztlich nur der Einzelne aufgrund seiner eigenen grammatischen Kompetenz: Wir können beurteilen, ob ein geäußerter Satz adäquat oder merkwürdig klingt. Nichtsdestotrotz wird versucht, beispielsweise in einer Grammatik des Deutschen niederzuschreiben, wie man den Regeln dieser Grammatik folgend korrekte deutsche Sätze bildet. Dies ist freilich wieder eine Idealisierung: Das Deutsche - als singuläres Phänomen — definiert sich als der übliche Sprachgebrauch der Mehrzahl seiner Sprecher (es sollte indes nicht als Norm oder Vorschrift zum richtigen Reden verstanden werden). Dies ist dann auch das, was ζ. B. der Duden in seiner Grammatik niederlegt oder in jeder Schulgrammatik zu finden ist. Ebenso bietet der Duden eine idealisierte Version dessen an, was der deutsche Wortschatz an Wörtern aufweist.19 Dieses idealisierte Konstrukt 'das Deutsche' als abstraktes Konglomerat der Äußerungen in dieser Sprache ist jedoch genau das, was logisch notwendig ist, damit ein Kind überhaupt zu seiner Sprache gelangt: Eine Vielzahl von Personen liefert sprachlichen Input für das Kind, und dies beinhaltet eine hinreichend gute Stichprobe aus der Grundgesamtheit aller Sprecher, damit das Kind ein halbwegs 'ideales' Deutsch erlernen kann. Da we18
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Setzt man also einen durchschnittlichen Zeitraum von etwa 1 0 Jahren für die gute Beherrschung einer Sprache an, dann erscheint das doch relativ lange: Als die früheren Menschen nur 30 Jahre alt wurden, war das 1 /3 ihres Lebens. Der deutsche Wortschatz ist selbstverständlich nicht endlich. Der Duden enthält nur so genannte 'lexikalisierte' Wörter, deren Gebrauch sich in der Sprachgemeinschaft durchgesetzt hat (vgl. die einstmaligen Neubildungen wie WARMDL'SCHER, KUMMERKASTEN o d e r NEUFÜNFLAND).
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der die Stichprobe noch das Kindergehirn 'perfekt' sind, internalisiert das Kind seine Version des Deutschen und erwirbt damit eine nur in seinem Gehirn verankerte Repräsentation der idealen Strukturen des Deutschen. Der so entstandene Idiolekt, das individuelle, mental verankerte Sprachsystem des Kindes oder Erwachsenen als die Kompetenz in einer Sprache, ist seinerseits die Grundlage zum tatsächlichen Gebrauch dieser Kenntnisse in einem Performanzakt, um Äußerungen hervorzubringen. Äußerungen sind das, was man unter Spontansprache versteht: Sie ist oftmals fehlerhaft, auch wenn das individuelle Sprachsystem dabei völlig in Ordnung ist, denn zum Sprechen (Performanz) gesellen sich neben der sprachlichen Kompetenz auch Faktoren wie Aufmerksamkeit, Gedächtnisleistung, Körperzustand, Konzentration usw. Insgesamt ergeben sich damit drei Blickwinkel, unter denen man 'Sprache' verstehen und vintersuchen kann: => als Ein^elsprache: Die Sprecher einer Sprachgemeinschaft 'erzeugen' durch ihre täglichen Äußerungen das, was Deutsch als eine bestimmte menschliche Sprache im Gegensatz zu einer anderen auszeichnet. Dabei wird beispielsweise allein durch den täglichen Sprachgebrauch der Mitglieder einer Sprechergemeinschaft festgelegt, dass ganz bestimmte Lautfolgen mit ganz bestimmten Bedeutungen korrespondieren, also etwa HUND ein vierbeiniges bellendes Tier mit Schwanz ist, das so und so aussieht, bellt und beißt (das Stereotyp HUND). Ferner werden hier die lexikalischen Einheiten und grammatischen Regeln zu deren Verknüpfung abstrakt 'gespeichert' (verteilt bewahrt), die letztlich aus sämtlichen Äußerungen aller Sprecher hervorgehen. Man spricht hier von 'extern(alisiert)er oder Einzelsprache' (E-Sprache).20 => als Individualsprache: Damit ist das Sprachvermögen eines einzelnen Sprechers gemeint. Seine sprachliche Kompetenz ist das Wissen, das notwendig ist, um im Akt der Performanz tatsächlich Äußerungen zu erzeugen. Dieser Idiolekt ist eine individuelle kognitive Implementie20
Man kann sich das in etwa so vorstellen: Wenn etwas im 'Bewusstsein' der Öffentlichkeit ist, dann deutet dies an, dass jedes Mitglied der Gemeinschaft über ein gewisses Maß an individueller Teilhabe und eigener Bewusstheit über einen Sachverhalt verfügt. Mit der Ε-Sprache verhielte es sich dann analog so, dass sie gleichsam im 'Unterbewusstsein' der Gemeinschaft verfestigt ist: Jeder trägt einen kleinen Teil zum großen Ganzen bei, indem er automatisch und stetig Gebrauch von seinen sprachlichen Fertigkeiten macht und sich somit an der Erhaltung und Erweiterung des Deutschen beteiligt.
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rung des Deutschen als ein bestimmtes Deutsch. Letzteres hat also im Gegensatz zu Ersterem eine materielle Existenz in den Strukturen eines Gehirns, wohingegen das Deutsch als nur abstraktes (Hilfs)konstrukt prinzipiell immaterieller bzw. ideeller Natur ist und sich nur in Form von Lexika und Grammatiken manifestieren kann. Diese 'intern(alisiert)e, individuelle Sprache' ist das, was die (modernere) Linguistik überwiegend untersucht; sie wird I-Sprache genannt.21 => als Spontansprache·. Sie ist die einzige Manifestierung der Sprache, die wir direkt wahrnehmen können. Jede mündliche oder schriftliche Äußerung basiert auf den Kenntnissen einer I-Sprache: Man muss ja bereits die Wörter und Regeln kennen, bevor man sie aktuell anwenden kann. Das, was tatsächlich das Sprechorgan eines Menschen verlässt, muss nicht immer eine perfekte Realisierung eines Satzes oder Wortes sein: Man kann Wörter verschlucken oder spontan nicht finden, man führt Sätze falsch fort oder beendet sie überhaupt nicht; hinzu kommen die aktuellen mentalen und körperlichen Umstände beim Sprechen. Man könnte dies dann 'Aktualsprache' (Α-Sprache) nennen. Zum besseren Verständnis ist hierfür vielleicht wieder eine Analogie aus der Computerwelt hilfreich. Um einen Rechner zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen, muss man ihn 'programmieren'. Dies tut man mit Hilfe künstlicher Computersprachen wie etwa Java, C oder Basic. Die meisten dieser Sprachen sind durch einen Akt expliziter Konventionalisierung entstanden, d. h. eine Reihe innovativer Informatiker hat sich zusammengesetzt und in Abstimmung untereinander festgelegt, welches Befehlswort im Rechner welche Bedeutung hat bzw. Wirkung erzeugt. Durch bestimmte syntaktische Konstruktionen kann man auch hier ganze Texte' verfassen, die wir dann Computerprogramme nennen. Der Rechner interpretiert jene Anweisungsfolgen und lässt sich somit über eine künstliche Sprache steuern. Im oben beschriebenen Akt der Konventionalisierung einer solchen Programmiersprache wird also einmal festgelegt, wie Java oder C funktionieren sollen, ζ. B. in Form einer Liste aller Befehle, deren erlaubte Kombinationen und deren Wirkungen, ganz ähnlich einem Lexikon
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Der Begriff geht auf N. Chomsky zurück, der von Ί-Language' spricht. Dort wird die I-Sprache allerdings so verstanden, dass sie bei einem idealen Sprecher implementiert ist, der sozusagen die Regeln des Deutschen perfekt beherrscht.
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und einer Grammatik. Dies wäre dann die Ε-Sprache das Java oder das C, fast analog dem Deutschen oder dem Französischen.22 Ist das Java oder das C erst einmal festgelegt, kann es als individuelles Sprachsystem auf verschiedenen Rechnertypen implementiert werden, ζ. B. auf Sun-Rechnern, Apple-Maschinen, PCs oder Großrechnern. Sie alle haben dann ihren eigenen 'Idiolekt', der auf die spezifischen Fähigkeiten der einzelnen Maschine abgestimmt ist. Zwar sind sich alle Computer hinreichend ähnlich, um Java beherrschen zu können - so wie alle Menschen sich hinreichend ähnlich sind, um etwa Deutsch oder Japanisch zu beherrschen —, jedoch sind sie auch hinreichend verschieden voneinander, um ihre eigene individuelle I-Sprache Java internalisieren zu müssen, so wie jeder Japaner sein eigenes Japanisch spricht. Auf Basis der individuellen Kenntnisse eines Rechnersystems über Java, die in der Kompetenz des Computers als Programm niedergelegt ist, dieses Java zu beherrschen, kann jede Anweisungsfolge dann vor dem Hintergrund des aktuellen Systemzustandes interpretiert werden: Dabei wird klar, dass auch die aktuelle Interpretation ein Performanzprozess ist, nicht nur die Produktion! 2.6 Rekapitulation I Sie haben jetzt bereits einiges über die Linguistik und ihren Untersuchungsgegenstand, die Sprache bzw. deren Bausteine, gelernt. An dieser Stelle erscheint es sinnvoll, das Wesentliche nochmals zusammenzufassen, um sich einen Überblick zu verschaffen und einige weitere wichtige Begriffe in diesem Kontext einzuflechten. Ziel der Sprachwissenschaft ist es herauszufinden, was Sprache ihrem Wesen nach ist und nach welchen konkreten und/oder abstrakten Mechanismen und Prinzipien sie funktioniert. Hierfür begibt sich die Linguistik auf die Ebene der abstrakten Sätze und Wörter: Diese rein hypothetischen Gebilde sind ihr Hauptuntersuchungsgegenstand. 22
Mit der einen Ausnahme, dass 'das Deutsch' nicht explizit vereinbart, sondern implizit konventionalisiert wurde. D. h. ein neues Wort oder eine neue syntaktische Konstruktion kann sich nur dann durchsetzen, wenn sie stillschweigend von der Mehrzahl der Sprecher akzeptiert und verwendet werden. Eine explizite Absprache ist hierfür nicht notwendig.
Rekapitulation I
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Sie wurden aller ihrer Zufälligkeiten entkleidet - also Ort und Zeit ihrer Äußerung, Alter, Zustand und Geschlecht der sprechenden Person sowie alle äußeren Umstände usw. —, um systematisch ihre Eigenschaften untersuchen zu können: Was bedeutet ein Wort, in welcher Satzposition kann es auftreten, wie wird es ausgesprochen, wie ist es mit anderen Wörtern verknüpfbar, welche Wörter in welcher Anordnung benötigt man, um einen grammatikalisch korrekten Satz zu bilden? Dabei ist es eben (zunächst jedenfalls) unerheblich, welche speziellen Umstände bei der tatsächlichen Äußerung vorlagen; wichtiger sind vielmehr die jeweiligen Kernmerkmale, die für sämtliche potenziellen Äußerungen eines Satzes ausgemacht werden können: Sagt ein Kind AUA!, weil es sich seinen Fuß gestoßen hat, ist dies etwas anderes, als wenn es dieselbe Äußerung tut, wenn es zugleich seiner Puppe einen Fuß ausreißt. In beiden Situationen soll damit ja eine Schmerzempfindung ausgedrückt werden, aber nur in der einen Situation lag tatsächlich auch ein Schmerz vor. Die Kernbedeutung oder wörtliche Bedeutung des einen Kv>A\-Sat%es/ Wortes ist in beiden Äußerungskontexten ein und dieselbe, nämlich damit einen Schmerz anzuzeigen; die tatsächliche, kontextgebundene 'Bedeutung' derjeweiligen Äußerung des entsprechenden Aua-Satzes — was zur besseren Unterscheidung dann Sinn genannt werden sollte23 - ist jeweils einmalig pro Kontext: einmal die Anzeige eines tatsächlichen Schmerzes, ein andermal die spielerische Simulation einer Schmerzempfindung. Der Sinn einer Äußerung muss also letztlich immer basieren auf der Bedeutung eines Ausdrucks (ζ. B. ein Wort oder Satz), so dass sich also vorläufig ergibt: Sinn — Bedeutung plus/im Kontext. Die Kenntnis der Bedeutung eines Ausdrucks ist die Kompetenz, diesen Ausdruck korrekt in einem Performanzakt zur Äußerungsproduktion oder -interpretation einsetzen zu können. Ausdrücke wie Sätze oder Wörter haben Bedeutung, tatsächliche Äußerungen dieser Ausdrücke haben Sinn. Unter der Kompetenz wurde die Beherrschung bzw. Kenntnis einer Sprache im Sinne des (Er)kennens und Könnens dieser Sprache verstanden; unter Performanz fallt das Benutzen der Sprachkenntnisse im Sinne der Verwendung des sprachlichen und kommunikativen Wissens beim tatsächlichen Sprechen zur Lösung einer Kommunika23
Ich folge hier einer Terminologie von Keller (1995). Die Bedeutung ist eigentlich immer 'wörtlich', nur der Sinn kann wirklich wörtlich oder übertragen sein.
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tionsaufgabe. Auf der Ebene der 'wörtlichen' Bedeutung eines Ausdrucks haben wir es mit der Kenntnis um die Bedeutung eines Wortes oder Satzes und seiner potentiellen Benutzungsweisen zu tun (Kompetenz), auf der Ebene des Sinnes einer Äußerung sprechen wir von der Anwendung der Kenntnis der (wörtlichen) Bedeutung, um den tatsächlichen speziellen Sinn im Kontext einer Kommunikationssituation zu erzeugen bzw. zu verstehen. Nehmen wir ein Beispiel: Wenn ich zu jemandem sage DU SIEHST ABER HEUTE TOLL AUS!, dann ist die wörtliche, kontextlose Bedeutung ja in der Tat, dass der/die Angesprochene toll aussieht. Nehmen wir weiterhin an, hinter dem/der Betreffenden und mir liegt eine lange Nacht, und wir treffen uns am nächsten Tag, um gemeinsam den Abend zu 'rekapitulieren'. Wenn ich dann obigen Satz äußere, ist anzunehmen, dass ich ihn ironisch gemeint habe, und der Sinn der Äußerung in diesem speziellen Kontext ist genau das Gegenteil der wörtlichen Bedeutung. Der obige Satz kann also je nach Kontext mehrere Sinne haben, aber nur eine Bedeutung! Er ist immer potenziell ambig (mehrdeutig), so wie im Grunde fast jedes Wort und jeder Satz Unterschiedliches meinen kann, und daher verschiedene Lesarten aufweist. Der Hörer bzw. Angesprochene muss ebenfalls anhand seiner Kompetenz - dem Wissen um die wörtliche Bedeutung der involvierten Wörter und den Regeln zu ihrer grammatikalischen Anordnung - den Sinn der Äußerung herausarbeiten, indem er unter Zuhilfenahme des Kontextes, der für Sprecher und Hörer in diesem Falle gleich ist, im Akt der Performanz - also der Benutzung des Wissens — die Äußerung interpretiert. Sprechen und Interpretieren sind Performanzprozesse, Kennen und Können einer Sprache sind Kompetenzzustände. Solange die Strukturen bzw. Zustände und Prozesse im Gehirn eines Sprechers intakt sind, beherrscht er oder sie eine Sprache, um damit dann ζ. B. eine Kommunikation in Gang zu setzen.24 Der Verlust der Kenntnis oder Anwendungsfertigkeit einer Sprache ist ein schwe24
Kommunikation ist im Übrigen nicht das Einzige, was man mit einer Sprache 'machen* kann. Die Sprache dient auch dazu, die Welt in Klassen bzw. Kategorien einzuteilen und diese Einteilungen in der Sprechergemeinschaft zu konservieren und zu tradieren. Ebenso ist Sprache ein effizientes Mittel zur Speicherung von Inhalten, weil vieles von dem, was wir täglich an Wissen anhäufen, nicht nur sprachlich vermittelt wird, sondern auch in Form von sprachlichen im Gegensatz zu visuellen oder akustischen - Inhalten abgespeichert wird.
Rekapitulation I
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rer Schlag für einen gesunden Menschen. Die ungewollte Sprachlosigkeit aufgrund physiologischer Schäden heißt Aphasie: Sie kann durch einen Tumor, einen Schlaganfall oder durch allgemeine Altersdemenz (d. i. Degeneration von Gehirnzellen ζ. B. bei Alzheimer) hervorgerufen werden, wenn hierbei ganz bestimmte Gehirnbereiche betroffen sind. Dies umfasst vor allem das Broca- und das Wernicke-Areal, aber auch andere Bereiche des Gehirns fuhren bei entsprechenden Schädigungen zu Sprach- oder Sprechausfällen. Manche aphasischen Defizite ähneln dem, was unsere hominiden Vorfahren in Form ihrer Protosprache versucht haben auszudrücken: Es fehlen dabei die syntaktischen Markierungen fur jene Satzbestandteile, die anzeigen, welches Wort welche Rolle im Satz einnehmen soll (ζ. B. Subjekt eines Satzes vs. Objekt[e]). So ist etwa in einem passivierten Satz die Subjekt- und Objekt-Rolle gegenüber dem entsprechenden Aktivsatz vertauscht (z. B . MARIA SCHLÄGT NOAM v s . NOAM WIRD VON MARIA GESCHLA-
GEN). In einer Protosprache und auch für manche Aphasiker ist dieser Unterschied nicht erkennbar. Sie identifizieren N O A M im Passivsatz zwar zu Recht als Subjekt, erkennen aber nicht den Bedeutungsunterschied: Der Satz würde nämlich so interpretiert, dass Noam Maria schlägt, einfach weil Noam zuerst im Satz erscheint und normalerweise das Subjekt auch der Agierende ist. Die Funktion einer Passivmarkierung - d. h. das Hilfsverb WIRD samt dem Partizip GESCHLAGEN — ist ja gerade, diese Fehlinterpretation zu vermeiden. Genau das kann mit einer Protosprache noch nicht bzw. der defizitären Sprache eines Aphasikers nicht mehr ausgedrückt werden. Die Störungen in der speziellen Sprache einer einzelnen Person — dem Idiolekt - wirken sich aber nicht auf das aus, was wir als Einzelsprache bezeichnen: Das Deutsche wird nicht deshalb fehlerhaft, weil manche Sprecher ihr eigenes individuelles Deutsch einbüßen. Die ISprache hat somit keinen direkten Einfluss auf die Ε-Sprache; jedoch wirkt die Benutzung der I-Sprache in ihrer Aktualität als A-Sprache dem tatsächlich hörbar Gesprochenen - zurück auf das Sprachsystem der Ε-Sprache. Letztere konstituiert sich ja gerade aus allem, was die Sprecher einer Sprachgemeinschaft zum Besten geben. Würde überhaupt keiner sprechen (wie in Affenpopulationen), gäbe es auch kein Sprachsystem wie das Deutsche. Jedes normal aufwachsende und gesunde Kind wird im Laufe seiner Entwicklung dieses Sprachsystem — die E-Sprache — in seinem Gehirn internalisieren und somit eine spe-
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Wurzeln, Wesen und Wissenschaft der Sprache
zielle Implementation und Installation dieses Systems als I-Sprache in seinem Kopf erschaffen, um dann Α-sprachlich tätig werden zu können. Wie es einst zum allerersten Sprachsystem gekommen ist, darüber lässt sich nur spekulieren. Man muss hier bedenken, dass es nicht hinreicht, wenn nur ein einziger Hominid auf die 'Idee' einer (Proto) spräche gekommen ist. Zur Etablierung und Erhaltung einer (E-)Sprache gehören mindestens zwei Sprecher-Hörer oder besser eine ganze Sippe (mit sich selbst 'kommunizieren' ist ziemlich sinnlos und langweilig). Hat die Lunte zum sprachlichen Urknall jedoch gezündet — wie exemplarisch dargestellt im RAUBKATZE-AAS-Beispiel - ist nicht nur ein effizientes Kommunikationsmittel gewonnen worden, sondern es findet auch eine Art 'Entängstigung' von der Welt für den Hominiden statt: Die Benennung der Phänomene der Welt - von Fressfeinden zu Sippenfeinden und -freunden bis hin zu wetterbedingten oder geologischen Ausnahmesituationen (Gewitter, Erdbeben) usw. - erschafft eine vertrautere Welt, die durch Belegung der Dinge dieser Welt mit jederzeit selbstbestimmt benutzbaren Lautkombinationen die Naturphänomene handhabbarer, verstehbarer und aufgrund von Kategorienbildung vor allem vorhersagbarer macht. Diese Benennungs- und Namensgebungspräferenz spiegelt sich auch heute noch bei Kindern im Spracherwerbsprozess wider, die mit Begeisterung alle neuen Gegenstände 'begreifen' und benennen (wollen): Diese TMaming Insight' hat womöglich schon eine indirekte genetische Fixierung erfahren.
3 Werkstoff, Werkstatt und Wirkweise der Sprache 3.1 Das Sprachsystem I Im Ironie-Beispiel des letzten Abschnitts wurde die essenzielle Unterscheidung zwischen der wörtlichen Bedeutung eines Ausdrucks und dem kontextbehafteten Sinn einer Äußerung getroffen. Das, was ausgesagt wurde, war etwas anderes als das, was letztlich gemeint war. Diese Distinktion in tatsächlich Gesagtes und schlussendlich Gemeintes ist wesentlich innerhalb der Linguistik, und findet sich so auch in den realen kognitiven Sprachverarbeitungsprozessen im Gehirn eines Sprechers wieder: Man muss logischerweise die wörtliche Bedeutung dessen, was man sagt, bereits kennen - im Sinne der Kompetenz zu wissen, wie und wozu man einen Ausdruck in einer Kommunikationssituation einsetzen kann —, um darauf gründend auch etwas damit meinen zu können. Primär untersucht die Linguistik ja die formalen und inhaltlichen Eigenschaften der Ausdrücke als dem Gemeinsamen aller zugehöriger Äußerungen, die ihrer kontextuellen Zufälligkeiten entledigt wurden. Sekundär muss sie sich aber trotzdem auf diese einlassen, denn eine so strikte Trennung zwischen diesen Sphären ist überhaupt nicht möglich: Sagbares/Gesagtes und Gemeintes, Sprachliches und Außersprachliches sind im Sprachverarbeitungsprozess stets miteinander verflochten (keine Performanz ohne Kompetenz), wobei sowohl Sprecher wie Hörer ja immerzu in einen kommunikativen Redekontext eingebettet sind, so dass eine völlig isolierte Beschreibung der sprachlichen Ausdrücke durch die Sprachwissenschaft ohne jede Bezugnahme auf die kontextuelle Einbettung der Gesprächspartner und deren Sprache/Sprechen weder möglich noch sinnvoll ist. Diese Unterscheidung zwischen Bedeutung und Sinn bzw. Sagbarem und Gemeintem spiegelt sich nun auch in den Unterdisziplinen der Linguistik wider: Die Lehre von der (wörtlichen sprachlichen) Bedeutung heißt Semantik, die Lehre vom (sprecher-/kontextbestimm-
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Werkstoff, Werkstatt und Wirkweise der Sprache
ten kommunikativen) Sinn wird Pragmatik genannt. Zusammen mit der Lehre von den Regeln des Aufbaus von Sätzen in der Syntax bilden diese drei den Kern der Sprachwissenschaft. Hinzu kommt noch die Morphologie als die Lehre von den Wörtern bzw. Wortbestandteilen (Morphemen) samt den Regeln ihrer Kombinierung, sowie die Lehre von den (Unregelmäßigkeiten hinsichtlich der artikulatorischakustischen Lautstruktur von Äußerungen bzw. Ausdrücken, genannt Phonetik bzw. Phonologie. In einer alternativen Weise der Zergliederung des linguistischen Gegenstandsbereichs beschäftigen sich das Lexikon bzw. die Lexikologie (Lexikontheorie) sowie die Grammatik(theorie) mit Wörtern und Sätzen als komplexen sprachlichen Gebilden, die zugleich phonologisch-phonetische, morphologisch-syntaktische sowie semantische Eigenschaften aufweisen. In der Lexikologie wird der interne Aufbau des (mentalen) Wörterbuchs und dessen darin enthaltenen Lexeme (lexikalische Elemente) untersucht, über die eine Sprache bzw. ein (idealer) Sprecher dieser Sprache verfugt; in der Grammatik(theorie) wird versucht, einerseits die grammatischen Regeln einer bestimmten Einzelsprache bzw. des Idiolekts eines (idealen) Sprechers zu erfassen, andererseits werden aber auch die Eigenschaften einer (guten) Grammatik selbst spezifiziert. Folgender Überblick macht die zwei Betrachtungsdimensionen sichtbar: Lexeme (Wörter und Wortbestandteile)
Grammeme1 (Sät%e und Sat^bestandteile)
* Phonologie (Aussprache, Betonung)
* Phänologie (Wort-/SatzmeIodie, Pausen)
* Morphologie (Wort-/Satzbausteine)
* Morphologie/Syntax (Wort-/Satzbau)
* Semantik (fixe Einzelbedeutungen)
* Semantik (variable Gesamtbedeutungen)
•=> Lexikon/Lexikologie
=> Grammatik(theorie)
Es ist offensichtlich, dass, wenn sich Sätze oder komplexere Wörter aus (einfacheren) Wörtern und Wortbestandteilen zusammensetzen — die selbst Gebilde aus phonologischen, morphologischen und semantischen Eigenschaften sind - , auch die gebildeten Sätze und Satzbestandteile diese Merkmale aufweisen müssen. Wir haben bereits gelernt, dass als Morpheme entweder selbständige (freie) oder unselbständige (gebundene) Sprachbausteine bezeichnet werden. Die ersten sind Wörter ohne interne Struktur wie WARUM, 1
Eine Bezeichnung von mir.
Das Sprachsystem I
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oder ZWISCHEN2, die ohne weitere Modifikationen schon frei als Wort im Satz verwendbar sind: Dies betrifft Wortarten wie ζ. B. Pronomen, Adverb (Umstandswort), Konjunktion, Interjektion oder Präposition (Verhältniswort). Die anderen sind die kleinsten Wortbestandteik komplexer Wörter, die ausschließlich gebunden mit anderen Bestandteilen in einem Wort oder Satz nutzbar sind, wie (einfache) Stämme bzw. Wurzeln und Affixe: • Stamm. Hiermit werden eine oder mehrere Grundformen eines Lexems bezeichnet, an das weitere Elemente gefugt werden können: GIB-, GEB-, GAB- und GAB- sind alles verschiedene Stämme des einen Lexems G E B E N . Der Stamm fungiert dabei als eine Art Rohbau für weitere Anbaumaßnahmen, der sowohl zur Bildung komplexerer Stämme daraus als auch zur Einpassung in den Satz verwendet wird. Verben (Zeitwörter) etwa brauchen im Deutschen ja eine Endung, die mit dem Subjekt eines Satzes zusammenpasst: EINER L A C H T vs. MEHRERE L A C H EN usw. Hierbei sollte der Stamm L A C H - jedoch nicht mit dem lautlich gleichen Imperativ - dem Befehlswort - L A C H ( E ) ! verwechselt werden: Letzteres ist bereits ein freies Morphem (Wort), Ersteres (noch) ein gebundenes. Dies wird deutlich an unregelmäßigen Verben wie S P R E C H E N , dessen Imperativ nicht * S P R E C H ( E ) ! J sondern S P R I C H ! ist, d. h., hier hat bereits ein Prozess eingesetzt, der das Stammmorphem gemäß seiner Aufgabe im Satz (als Imperativ) zum Wort aufbereitet hat.3 Ebenso ist bei Substantiven (Hauptwörtern) und Adjektiven (Beiwörtern) immer eine — wenn auch lautlich oftmals nicht feststellbare — Endung anzuheften, die der Umgebung entspricht, in die das Wort eingesetzt wird: D A S K L N D S T R E I C H E L T DEN K L E I N E N H A S E N , wobei K I N D eine lautlich nicht markierte Nominativ-Endung aufweist. • Wurzel·. Wurzeln sind diejenigen Stämme von Verben oder Substantiven (Nomen), die der Zitierform eines Lexems zugrunde liegen, d. h. mit jener Form korrespondieren, die normalerweise als Haupteintrag in einem Lexikon aufgeführt wird: L A C H - für L A C H E N , P A S S AUCH, WEIL, AUA
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Silben sind keine Struktur im Sinne eines bedeutung.(tragenden Morphems, sondern nur im Sinne ihrer lautlichen Eigenschaften. Ein Morphem ist aber zuvorderst über seine syntaktisch-semantische Struktur definiert, nicht über seine silbische (vgl. Silbenge\-bett2 vs. Morpheme GEH1-EN2). Das Sternchen vor einem Ausdruck deutet an, dass er ungrammatisch ist.
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Werkstoff, Werkstatt und Wirkweise der Sprache f u r PASSEN, SPRECH- f ü r SPRECHEN, FECHT- f ü r FECHTEN e t c . b e i
Verben, bzw. die Einzahlformen bei Nomen, ζ. B. KIND-, FRAU-, M A N N - oder LEUTE- und FERIEN- (in letzteren Fällen gibt es keinen Singular, hier ist die Pluralform die Wurzel). Ein Nomen oder Verb kann mehrere Stämme aufweisen, aber stets nur eine Wurzel: NEHM-, NAHM-, NIMM-, NAHM- sind alles Stämme, allein NEHMjedoch ist die Wurzel. Die Verbwurzel entspricht dabei immer dem Stamm der 2. Person Plural Indikativ Präsens, d. h. IHR SPRECH-T, GEB-T, WISS-T, FECHT-ET, ΝΕΗΜ-Ύ usw.* • Affix: Affixe sind jene Elemente, die an Stämme oder Wörter angebracht werden, um diese in irgendeiner Weise zu vervollständigen oder zu modifizieren. Man unterscheidet Affixe danach, in welcher Weise sie an ein Morphem angeknüpft werden müssen: einleitend, abschließend, umschließend oder eingebettet. Man nennt sie dann entsprechend Präfix, Suffix, Circumfix sowie Infix. Erstere drei kommen auch im Deutschen vor, z. B. KER-LACHEN, SPRECH-EN, GE-LACH-T (Affixe kursiv), das Infix dagegen tritt bei uns nicht auf. Mehrere Affixe können nun auch sukzessive in aufeinander folgenden Schritten angebaut werden: SCHLIMM => SCHLIMM-ER => VERS C H L I M M E R E => VERSCHLIMMER- UNG.
Zwei spezielle Morpheme sind einerseits bestimmte Stämme, die unikale Morpheme genannt werden, andererseits ein Affixtypus, der als Nullmorphem bezeichnet wird: • Όnikales Morphem·. Hierbei handelt es sich um einmalige Morpheme, die nur in einem einzigen Ausdruck einer Sprache auftauchen, wie etwa SCHORN-STEIN, KUNTER-BUNT oder HIM- und MOM-BEERE (Unikale kursiv). • Nullmorphem. Dies ist ein besonderes Morphem, das als 'Hilfskonstrukt' in der Linguistik verwendet wird. Es wird als lautlich (phonetisch) leer angenommen, weist jedoch verschiedenartige syntaktische oder semantische Funktionen auf, wenn es an einen Stamm angefügt wird. So wird beispielsweise der deutsche Dativ bei Nomen im Gegensatz zu anderen Fällen offenbar nicht (mehr) extra lautlich markiert: Kaum jemand sagt AM FOLGENDEN TAG-Ε, sondern es heißt zumeist AM FOLGENDEN T A G - 0 ( 0 bezeichnet das Null4
Alle Wurzeln sind Stämme, aber nicht alle Stämme sind Wurzeln. Vgl. hierzu Grewendorf & Hamm & Sternefeld ( 4 1990: 265).
D a s Sprachsystem II
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morphem). Man darf daraus aber nicht schließen, dass es deswegen keinen Dativ mehr gibt, sondern nur, dass er lautlich (im Singular) nicht mehr markiert werden muss.5 Ein Morphem ist also einer der vier Affixtypen, ein einfacher Stamm (jeweils gebunden) oder ein einfaches, nicht weiter zerteilbares Wort (frei).6 Sämtliche Morpheme sind im Lexikon aufgelistet und formen den Grundstock für weitere Konstruktionsmaßnahmen, um beispielsweise neue komplexe Wörter oder Sätze damit aufzubauen.
3.2 Das Sprachsystem II Im letzten Abschnitt wurde dargelegt, mit welchen Komponenten der Sprache sich die Linguistik beschäftigt und welche Arten von Grundbausteinen jene beinhaltet. Man geht davon aus, dass diese Einteilung nicht nur eine theoretische der Linguistik ist, sondern sich so auch im menschlichen Sprachwissen und bei der Sprachverarbeitung (zumindest teilweise) wiederfindet. Wie sich nun aus lexikalischen Einheiten neue grammatikalische Komplexe formen lassen, ist in jeder Sprache verschieden. Für das Deutsche oder Englische lässt sich jedoch eine Reihe von Gemeinsamkeiten im Hinblick auf die Wort- und Satzformung ausmachen. So gilt etwa der Stamm oder ein bereits komplexes Wort als Basiseinheit, mit der bei einer Wortbildung wie Komposition oder Derivation neue komplexere Stämme erschaffen werden können; bei der Flexion (Flektion) werden diese dann nur noch auf ihre Verwendung im Satz vorbereitet und zu Wörtern vervollständigt, indem sie an verschiedene syntaktische, semantische und/oder pragmatische Gegebenheiten angeglichen werden (müssen). Komposition und De5
D i e deutsche Dativmarkierung befindet sich so2usagen in der Phase des ' A u s sterbens'. D a s s es jedoch 'unausgesprochen' auch weiterhin einen Dativ geben wird, erkennt man nicht nur an festen Wendungen wie IM S I N N E / F A L L E VON usw., sondern v o r allem am Artikel: DEM M A N N ( E ) KANN GEHOLFEN WERDEN. Im gleichen Sinne wird o f t auch der Genitiv - v o r allem bei Wortimporten — nicht mehr angezeigt (vgl. DIE BEDEUTUNG DES LNTERNET-0); der Nominativ Singular hingegen ist systematisch unmarkiert (vgl. DAS K L N D - 0 ) .
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D i e Terminologie bzw. Begrifflichkeit innerhalb der Morphologie ist erstaunlich uneinheitlich und inkonsistent. Hier wurde v o r allem versucht, ein konsistentes System aufzustellen.
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Werkstoff, Werkstatt und Wirkweise der Sprache
rivation sind /«^///erzeugende bzw. -verändernde Prozesse, wohingegen Flexion nur einenJ&nwverändernden Prozess darstellt. Sehen wir uns diese drei Prozesse etwas genauer an: • Flexion: Im Prozess der Flektierung werden einfache oder komplexe Stämme durch Affigierung (Affix-Anheftung) an verschiedene Gegebenheiten angepasst, wobei deren semantische Grundstruktur erhalten bleibt: Substantive, Adjektive, Artikel und Pronomen sind im Deutschen ja stets nach Kasus, Numerus, Genus und Person zu bestimmen (d. i. Deklination), Verben sind bezüglich Tempus (Zeit), Numerus, Person u. a. zu spezifizieren (d. i. Konjugation), und Adjektive bzw. Adverbien sind zusätzlich noch steigerbar (d. i. Komparation). Zusammen ergeben Deklination, Konjugation und Komparation das Beugungssystem einer Sprache wie dem Deutschen (Flexion bedeutet wörtlich Oeugung'). Beispiele: ICH RUF-Ε LAUT v s . WIR R U F - S V LAUT, WIR RUF-EN LAUT-ER v s . IHR RUF-T LAUTER, ES RIEF (*RUF-7E) AM LAUT-EST-EN v s . DER LAUT-EJT-E R U F -
0 usw. Für unregelmäßige Flexionen wie RIEF stehen eigene Morpheme zur Verfugung, die die regelmäßigen Formen 'überdecken': GUT - BESSER, SPRECH - SPRICH, M A U S - MÄUSE.
• Derivation·. Hier liegt ein gänzlich anderer Prozess vor, der als Ableitung verstanden werden kann. Dabei werden neue Stämme gebildet, indem vorhandene Stämme oder Wörter vor allem semantisch durch Affixe modifiziert werden, wobei sich meist auch ein Wortartwechsel ergibt. Beispiele hierfür sind HERZLICH- aus H E R Z - und -LICH, SPARER- a u s SPAR- u n d -ERI, FÜNFER- a u s FÜNF- u n d -ER 3 ,
aus REGENSBURG- und -ER* (im letzten Beispiel hat die Wortart nicht gewechselt) usw. Eine besondere Form der Derivation ist die Konversion, bei der ein phonetisch leeres Derivationsaffix (Derivativ) aus einem Stamm einen neuen Stamm generiert, wobei hier jedoch die Wortart stets wechselt. Beispiele für diesen Vorgang sind (DAS) TURNEN- aus TURNEN und -0i, (DER) B A U - aus BAU- und -02 oder WEIT- als Verbwurzel (WEITEN) aus WEIT- als Adjektiv und -0 3 . • Komposition·. Bei diesem Prozess wird aus zwei Stämmen oder Wörtern ein neuer komplexer Stamm gebildet, wobei sich die Wortart jeweils aus dem rechten Bestandteil ergibt. Auch hier liegt im Gegensatz zur Flexion ein semantischer Prozess vor. Beispiele hierfür sind U N T E R + B O D E N - , LIEBLING[S]+ESSEN-, G R Ü N + S C H N A B E L - , REGENSBURGER-
Das Sprachsystem II
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u. v. a. Gerade das Deutsche ermöglicht in dieser Hinsicht äußerst kreative und produktive Kompositionen, weil hier sehr viele Kombinationen zwischen den Wortarten (vgl. oben) und darüber hinaus möglich sind: WEGSEHER-, ZEHNKAMPF-, JASAGER-, JELRITZAHLER-, J*ELTENDUSCHER- usw. Einteilen lassen sich Komposita - die Stämme, die bei der Komposition gebildet werden - in Koordinativ- bzw. Kopulativ- und Deteminativ-Ylorsvposita: Erstere bestehen aus einer Und-Verknüpfung zweier prinzipiell umstellbarer Bestandteile (TAUBSTUMM, STRUMPFHOSE), Letztere weisen einen 'gewichtigen' rechten Bestandteil auf, der vom linken Kompositumsteil semantisch nur noch weiter spezifiziert wird (eine COMPUTERMESSE ist eine ganz spezielle Messe, ein HELLGRÜN ist ein bestimmtes Grün, und DAUERDUSCHEN ist eine besondere Form des Duschens). In der Zusammenfassung lassen sich nun die erwähnten morphologischen Einheiten und Prozesse folgendermaßen darstellen und für unsere Zwecke definieren: • Wort, freies Morphem oder Morphemkomplex, die gegebenenfalls flektiert sind und somit in den Satz integriert werden können (ÜBER, WEITER+LAUFEN-
ALLEN, WIPFELN, HERRSCHT, STETS, STILLE-0\, SPRACH-0Z, D I C H T E R - ^ , UND, STÖRTE, SIE; Flexionen kursiv);
DER,
• Stamm. gebundenes einfaches Morphem oder auch Morphemkomplex (LAUS-, LÄUSE-, LAUSIG-, LAUS-, LAUSUNG-, LAUSBUB-/LÄUSEKOT-);
• Wurdet, (komplexer) Stamm, der der Zitierform eines Lexems entspricht und für die Wortbildung vorrangig ist (SPRECHBLASE, BESSERUNG HAUSBAU);1 Stamm und Wurzel können zusammenfallen; • Affix, gebundenes Morphem, das zur Flexion oder Derivation benutzt wird (Flexions-/Derivationsaffix = Flexiv/Derivativ); • Basis: Stamm oder Wort, woran ein Affix geheftet werden kann; • Lexem·. Wort oder Stamm oder Affix. Damit lassen sich die morphologischen Bildungsprozesse definieren: • Komposition: Basis plus Basis ergibt Stamm; • Derivation: Basis plus Derivativ ergibt Stamm; • Flexion: Stamm plus Flexiv ergibt Wort. Für Substantive ist diese Regel schwieriger aufrechtzuerhalten, denn man sagt zwar HAUSBAU, aber HA'USERKAMPF; dies muss semantisch motiviert sein.
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Weil ein Stamm bzw. ein Wort wiederum eine Basis ist, kann die Derivation oder Komposition unendlich oft angewendet werden. Die angeführten Beispiele sind meist bekannte (komplexe) Wörter, d. h. sie werden hinreichend oft benutzt, um als lexikalisiert zu gelten (Morpheme sind grundsätzlich lexikalisiert). Beim Prozess der Komposition ist jedoch zuvorderst die Neubildung solcher Wörter gemeint (Spontanbildung, Adhoc-Bildung von Komposita). Werden Spontanbildungen hinreichend oft verwendet - ζ. B. in den Medien so fließen auch sie in den Wortschatz einer Sprache mit ein und sind damit lexikalisiert (wie WINTERSCHLAF, FRÜHJAHRSMÜDIGKEIT, SÜßSAUER etc.). Für die Derivation gilt dies ebenso: Hinreichend oft wiederverwendete Derivationen sind als eigenständige lexikalische Einheiten zu betrachten (ζ. B. MALER, WEISHEIT, WITZIG usw.). Flektierungen gelten normalerweise nicht als lexikalisiert; es gibt jedoch unzählige unregelmäßige Formen, die einzeln im Lexikon gespeichert sein müssen (vgl. IST/SIND/WAREN, SEHEN/SAH, ICH/MICH, GUT/BESSER USW.).
In welcher Weise neue Wörter in einer Sprache zu bilden sind, ist durch die Grammatik dieser Sprache bestimmt. Dies gilt gleichermaßen für die Satzbildung, in der ganz ähnliche Mechanismen zur Erzeugung komplexer syntaktischer Einheiten - den Syntagmen - zur Anwendung kommen: Wörter konstellieren sich in bestimmter Weise zu Wortgruppen, die sich zu einer größeren syntaktischen Einheit mit innerer Struktur formen. Welche dies sein können, kann man ζ. B. an Idiomen — d. h. fest stehenden Wendungen mit zumeist verselbständigter Bedeutung — ablesen: • DER MANN IM MOND (Nomenkomplex mit Nomen als Kern), • NUR BAHNHOF VERSTEHEN (Verbkomplex mit Verb als Kern), • SELTEN DUMM (Adjektivkomplex mit Adjektiv als Kern), • DURCH DIE BANK (Präpositionskomplex mit Präposition als Kern), • EIN UNGLÜCK KOMMT SELTEN ALLEIN (Satz oder Sinnspruch). Ähnlich wie sich Wörter und Wortbestandteile auf verschiedene Weisen durch Wortbildung verknüpfen und über Flexion in den Satz einpassen lassen, mögen analog auch Sätze oder Satzbestandteile kombiniert und in den Text eingebaut werden: von einer einfachen Verkettung mittels einer Konjunktion (ζ. B. DICHTER UND MUSIKER analog dem Kompositum DICHTERMUSIKER) über die nähere Spezifizierung einer Gruppe (ζ. B. EINE PIZZA IM STEHEN ESSEN analog der Wortbildung JTEHPIZZAESSER) bis hin schließlich zur 'Flektierung' ganzer
Zeichentheorie I
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Sätze im Hinblick auf die Sprecherintention oder den Kontext (DASS HANS AUCH IMMER ZU SPÄT KOMMT, v s . IFENNHANS DOCH NICHT DAUERND ZU SPÄT KOMMEN WÜRDE! VS. OB HANS MAL WIEDER ZU
wobei ja der semantische Grundgehalt dieser Sätze nämlich das wiederholte Zuspätkommen von Hans - sich im Prinzip nicht ändert und nur die kommunikative Funktion markiert wird).8 Wie wir gesehen haben, besteht die menschliche Sprache also aus einem Inventar von Grundelementen, das über regelhafte Wort- und Satzbildungsprozesse spontan in jeder Kommunikationssituation um komplexere Einheiten erweitert werden kann. Das Lexikon beinhaltet dabei die Bausteine, die mittels einer zugehörigen Grammatik zu größeren Komplexen verbaut werden. Man könnte sagen, dass eine Sprache daher aus einem passenden Paar aus Lexikon und Grammatik besteht und dies das Sprachsystem einer Einzelsprache bzw. eines Sprechers dieser Sprache definiert. SPÄT KOMMT?,
3.3 Zeichentheorie I Die letzten Abschnitte beschäftigten sich unter anderem mit der Lexikologie als der Lehre vom Lexikon und den darin enthaltenen Lexemen sowie der Grammatik(theorie) als der Lehre von den grammatischen Strukturen, Prozessen und Merkmalen von Ausdrücken bzw. den sie erzeugenden Grammatiken selbst. Das Lexikon einer Sprache ist der 'Aufbewahrungsort' der Wörter einer Sprache, sowohl was den Umfang der in einer Sprechergemeinschaft kursierenden Wörter (ELexikon) als auch die persönlich verfügbaren Wörter eines bestimmten Sprechers dieser Gemeinschaft (I-Lexikon) betrifft. Jeder Einzelne verfugt damit über ein spezifisches Repertoire von Wörtern, die er tagtäglich beim Sprechen gebraucht, um dadurch bestimmte Inhalte bzw. Gedanken ausdrücken zu können. Ein Wort ist nun nicht einfach nur ein bestimmtes Lautmuster, das man zu gegebener Zeit mit seinen Sprechwerkzeugen - den Lippen, der Zunge, den Zähnen, dem Rachen u. a. - in die Umgebung entlässt, damit es von anderen gehört und interpretiert wird. Vielmehr ist es ein komplexes Gebilde aus phonologischen, morphologischen und 8
Die Parallelen zwischen Wort- und Satzbildung greifen wir nochmals auf.
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semantischen Merkmalen, die erst zusammengenommen das Wesen eines Wortes ausmachen: nämlich als sprachliches Zeichen beispielsweise in einem Kommunikationsakt dienen zu können. Erst die Verknüpfung dessen, was als Lautgestalt und Bedeutung eines Wortes zu begreifen ist, ergibt ein für den Sprecher und Hörer einer Äußerung relevantes Gebilde: das Zeichen. Wörter sind also Zeichen, mit denen wir einen bestimmten Inhalt auszudrücken vermögen: So weist ζ. B. das Wort HUND eine spezifische Lautgestalt auf (d. i. die phonologische Form) — d. h. wir wissen, wie wir es auszusprechen haben — und eine damit einhergehende Bedeutung (d. i. die semantische Form) d. h. wir wissen, wie wir es zu benutzen haben, um mit seiner Hilfe indirekt bestimmte inhaltliche Anhaltspunkte vermitteln zu können: Ein Hund ist ein vierbeiniges Säugetier, er bellt, hat eine Schnauze und einen Schwanz usw. Zusätzlich hat das Wort innerhalb des Satzes eine bestimmte Position und Funktion inne, beispielsweise ist HUND ein Substantiv, das sich zum Verweisen auf ganz bestimmte Objekte der Welt eignet (d. i. seine morphologische Form bzw. syntaktische Kategorie und sein semantisch-pragmatisches Potenzial). Im Laufe des Erwerbs unserer Sprache als Kind lernen wir, welche Lautketten welcher Bedeutung zugeordnet sind: Ab einem bestimmten Zeitpunkt sind wir in der Lage, durch Äußern des Wortes HUND auf einen spezifischen Hund unseres Wahrnehmungsbereichs zu verweisen, wobei uns jeder Zuhörer verstehen wird, welches Objekt wir damit meinen, solange auch er das Wort kennt (d. h. benutzen kann). Das Zeichen kann also wie ein Werkzeug verwendet werden, um damit vielleicht auf etwas aufmerksam zu machen, das sich in der näheren Umgebung befindet; genauso gut ist der Aussprecher eines Wortes aber in der Lage, im Hörer nur eine Vorstellung eines Hundes zu erzeugen, indem er ihn hierfür auch noch näher beschreibt (GROßER SCHWARZER HUND). Man kann sogar über fiktive und nicht-existente Hunde reden, ihnen utopische Eigenschaften zusprechen, die jenseits der alltäglichen Erfahrung mit Hunden liegen (ζ. B. die sprechenden Hunde in Fabeln, die nichtsdestotrotz Hunde sind). Die entscheidende Frage hierbei ist doch: Wie schafft es ein sprachliches Zeichen wie HUND, all diese Aufgaben zu erfüllen? Welchen Mechanismen treten zutage, wenn dieses Wort von einem Sprecher und/oder Hörer verarbeitet wird? Sind die Mechanismen beim Produzieren und Verstehen eines Wortes die gleichen? Was genau ist überhaupt ein Zeichen?
Zeichentheorie I
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Philosophen und Sprachgelehrte haben sich schon seit Jahrtausenden mit diesen Fragen auseinander gesetzt, und sie tun es im Grunde immer noch: Es geht darum, die 'magische' Kraft der Zeichen zu entlarven. Dabei haben sich zwei grundlegend verschiedene Auffassungen herauskristallisiert: Die eine Seite behauptet, Zeichen stehen für etwas (anderes); die andere ist der Meinung, Zeichen werden wie Werkzeuge gebraucht. Ich werde mich hier offen zu der letzteren Auffassung bekennen, und zwar aus folgenden Gründen: • Die Behauptung, ein X 'stehe für' ein Y, erklärt gar nichts, solange nicht klar umschrieben ist, was 'stehen für' hier eigentlich bedeuten soll: Aufgrund welcher besonderen Eigenschaft eines Zeichens X wird diese Beziehung zwischen X und irgendeinem Y gestiftet? • Ist mit einem Zeichen X nur seine wahrnehmbare (lautliche) Realisierungsform gemeint oder ist damit bereits etwas Inhaltliches oder Bedeutungshaftes verknüpft? Was ist dann Y? • Von welcher Art genau sind X und Y? Sind es existente Objekte in der Welt, Vorstellungen nur unseres Geistes, oder gar metaphysische Gebilde? Sind X und Y abtrennbare Einheiten, oder treten sie immer nur zusammen auf? Sind X und Y verschiedener Art oder zwei gleichartige Dinge? Dass diese Relation 'Stehen-für' kaum einer sinnvollen Interpretation zugänglich ist, mag man sich an folgendem Beispiel veranschaulichen: Sie fahren mit Ihrem Auto auf der Straße und sehen am Straßenrand ein Verkehrsschild stehen, auf dem ein Wagen abgebildet ist, der vom Rand der Straße in ein Gewässer fällt. Sie werden nun wohl nicht auf die Idee kommen, dass das, was Sie auf diesem Verkehrs^/ffo« sehen, 'für dasjenige steht', was abgebildet ist: einen in das Gewässer fallenden Wagen. Vermutlich ist bisher keiner hineingefallen, und vermutlich wird auch nie einer hineinfallen. Somit kann das Schild nicht 'für das stehen', was darauf zu sehen ist; genauso wenig kann es 'fur' Ihre oder des Schildaufstellers Vorstellung einer Warnung vor dem potenziellen Unfall-Ereignis 'stehen', denn kraft welcher Eigenschaften des Verkehrszeichens sollte es genau diese persönlichen Vorstellungen eines solchen Unfalls darstellen? Jedes Verkehrszeichen müsste dann ja für alle Vorstellungen aller möglicher An-diesem-Schild-Vorbeifahrer bzw. Schild-Aufsteller stehen. Das ist schlicht unmöglich: Die Relation 'Stehen-für' kann nicht sinnvoll bestimmt werden, egal von welcher Art X und Y sind.
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Vielmehr bewirkt dieses Schild in Ihnen die Vorstellung, dass etwas Schlimmes passieren könnte:. Die Verkehrsplaner haben es mit Absicht an diese Stelle gesetzt und sich etwas dabei gedacht. Diese Leute wissen, dass Sie die Bedeutung dieses Zeichens in der Fahrschule gelernt haben bzw. dieses bestimmte ErscheinungsM^ mit einer Assoziation zu verknüpfen imstande sind, die Sie dann schon die richtigen Schlussfolgerungen ziehen lassen wird, wenn Sie ihm begegnen. Diese Schlüsse ziehen Sie aber selbst, das Zeichen bewirkt sie lediglich über seine äußere Form und festgelegte Bedeutung. Damit muss jedoch keine direkte Verbindung hergestellt werden zwischen dem Zeichen, Ihnen und/ oder einer Situation (bzw. sonstigen Entität9) wie im Fall der 'Stehenför'-Relation. Das Schild dient hier als Werkzeug der Verkehrsplaner, um in Ihnen eine Reihe eigener Schlussfolgerungen zu bewirken, die dann auch ein bestimmtes Folgeverhalten bei Ihnen auslösen. Dieser Werkzeugcharakter eines Zeichens ist es auch, der für alle sprachlichen Zeichen wesentlich ist: Wenn Sie solche Zeichen als Sprecher benutzen und diese mit Hilfe Ihrer Grammatik zu Sätzen bzw. Äußerungen kombinieren, geben Sie Ihrem Gesprächspartner hiermit offen sichtbare bzw. hörbare Anhaltspunkte, was Sie von ihm wollen (könnten). Die Zeichen bewirken dann im Hörer bestimmte Schlussfolgerungen, d. h., er wird anhand der von Ihnen dargebotenen Worte versuchen zu erschließen, was Sie von ihm wollen könnten. Der Hörer kann jedoch solche Schlüsse nur dann durchführen, wenn er die Bedeutung der Zeichen bereits vorher kennt: Die Interpretation einer Äußerung durch den Hörer kann ja nicht ins Blaue hinein geschehen, es muss feste und unverrückbare Grundlagen geben, vor deren Hintergrund eine sinnvolle Interpretation überhaupt erst durchgeführt werden kann. Dieser Hintergrund ist das gemeinsame Wissen aller Sprecher um die Bedeutung eines Wortes: Sie alle wissen implizit, wie sie dieses Wort gebrauchen müssen, um ihren jeweiligen Gesprächspartnern etwas Bestimmtes zu verstehen geben zu können. Nicht nur, dass jeder Sprecher dieses Wissen internalisiert hat, wie man ein Zeichen in einer bestimmten Situation gebrauchen kann, jeder Sprachteilnehmer erwartet auch, dass jeder andere es in dieser Situation ebenso verwenden würde, um seine Absichten offen zu legen. Die gegenseitigen Erwartungshaltungen hinsichtlich der Benutzungs9
Ein Ding, ein Irgendetwas, das sich durch Eigenschaften charakterisieren lässt.
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weise eines Zeichens veranlassen uns letztlich auch selbst, dieses Zeichen in einer ganz bestimmten Weise einzusetzen. Würde die Sprachgemeinschaft andere Erwartungshaltungen hegen, würde auch ich andere Verhaltensweisen an den Tag legen; mein einziger Grund, eine bestimmte Verhaltensweise aus einer Reihe alternativer gleich guter Verhaltensweisen zu wählen, besteht ausschließlich darin, dass andere es genauso tun. Eine solche Konstellation gegenseitiger Erwartungshaltungen und Verhaltensregularitäten bzw. -regulierungen ist eine Konvention. Ein Verhalten ist dann konventional, wenn die Mitglieder einer Gruppe - ζ. B. sämtliche Sprecher einer Sprachgemeinschaft sich auf eine bestimmte Art und Weise nur aus dem einen Grund verhalten, dass jeder von jedem Anderen denkt, dass er es ebenso tut. Es spricht nichts dagegen, dass es auch ganz anders hätte sein können. Die Verwendung sprachlicher Zeichen folgt einer zumeist konventionalen Regel, d. h., die Sprechergemeinde hat implizit ohne Absprachen festgelegt, welche Bedeutung einem Zeichen in einer Äußerung bzw. besser im zugrunde liegenden Satz zukommt. Die explizite definitorische Fesdegung der Benutzungsregel eines Zeichens durch eine Absprache ist ebenfalls etwas Konventionales. Zeichen können folglich eine implizit-konventionale oder explizit-definitorische Verwendungsregel aufweisen, die jeweils auf einer Übereinkunft beruht. Für beide Fälle gilt jedoch, dass es zu der bestehenden Regel eine gleich gute Alternative geben muss — sonst brauchte man ja gar keine Kegel aufzustellen —, und insofern ist die Verwendungsregel eines Zeichens in jedem Fall konventional bzw. arbiträr (willkürlich) im Sinne einer (impliziten) Fesdegung, d. h., es spricht nichts dagegen, dass der Einsatzzweck des Zeichens auch ein ganz anderer hätte sein können. Eine Konvention ist vergleichbar mit einer 'Kollektivgewohnheit', der sich jeder hingibt: Wir alle verwenden die Zeichen aus Gewohnheit eben so, wie wir sie verwenden, wohl erwartend, dass die anderen es ebenso tun, wenn sie damit ζ. B. ihre Absichten mittels Zeichen signalisieren wollen. Eine Konvention ist zugleich auch die Lösung eines Koordinationsproblems, sei es durch explizite Absprache (wie bei einem Termin, zu dem ja zumindest zwei gehören) oder durch einen impliziten Prozess der Verabredung (wie bei sozialen Verhaltensweisen, ζ. B. dass man auf Beerdingungen Schwarz und bei Hochzeiten Weiß trägt, ohne dass dies meines Wissens irgendwo niedergeschrieben wäre).
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3.4 Zeichentheorie II Im letzten Abschnitt war davon die Rede, dass Wörter Zeichen sind, die aufgrund ihrer konventionalen Struktur von allen Sprechern eingesetzt werden können, um ihre Absichten anzuzeigen. Wörter sind dabei wie Dipole, an deren einem Ende eine Lautstruktur steht, mit der am anderen Ende eine Bedeutung einhergeht. Dieser unteilbare Komplex aus phonologischen und semantischen Eigenschaften fungiert als eine Art Werkzeug, das Sprecher und Hörer einsetzen: Ersterer wählt seine Worte so, dass das, was er mitteilen will (ζ. B. seinen Gedanken), optimal durch diese Zeichen verschlüsselt wird. Letzterer muss nun umgekehrt versuchen, diese Kette von Zeichen (Äußerung) zu entschlüsseln, indem er sie als Basis (Prämisse) seiner Schlussfolgerungen verwendet, um herauszubekommen, was vom Sprecher wohl gemeint sein könnte. Der Hörer muss also in einer Art von wortgesteuertem 'Rateprozess' herausfinden — dies setzt ja Suche bzw. Interpretation voraus —, was die Worte des Sprechers (das Gesagte) ihm zu verstehen geben wollen (das Gemeinte). Eine völlig irrige Vorstellung indes ist weit verbreitet, nämlich dass Worte und Sätze Gedanken direkt 'transportieren'. Damit hätten wir die Stellvertreterfunktion der Zeichen als Dinge, die für etwas anderes stehen, durch die Hintertür wieder eingeführt. Hier wird die Fehlkonzeption einer solchen Ansicht deutlich: Welche Eigenschaften halten Schallwellen als Hauptrealisierungsmedium von Äußerungen mit Gedanken, Emotionen oder Vorstellungen zusammen, die es dem Sprecher zu vermitteln gilt? Wie und warum können Schallwellen als (Anzeichen für eine Idee stehen? Die Antwort ist sehr einfach: überhaupt nicht. Wörter bzw. deren Lautung sind vielmehr wie Schlüssel, die der Sprecher dem Hörer an die Hand gibt, damit er mit ihrer Hilfe Einblicke in die Gedankenwelt des Sprechers gewinnen kann: Die einzelnen Wörter in ihrer Eigenschaft als Zeichen und die Art ihrer Kombinierung ertrugen im Hörer eine Anzahl (hörereigener) Vorstellungen, Erwartungen, Emotionen, Folgerungen und (Be)wertungen, und eröffnen ihm so indirekt Einsicht in die Ideenwelt des Sprechers. Die Laute sind stets nur ein Hinweis oder Indi% für den Hörer auf das geistige Innenleben des Sprechers: Aufgrund der Konvention, welche Laute mit welchen Inhalten verknüpft sind, kennen jeweils Sprecher und Hörer zugleich die Schlüssel zur Verschlüsselung und Entschlüsselung ihrer
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geistigen Zustände mit Hilfe von Zeichen und damit letztlich Schallwellen. Hierbei findet zwar eine Übermitdung von Schallereignissen, nicht aber von Inhalten, Bedeutungen oder Sinnhaftem statt. Zeichen können nun auf ganz unterschiedlichen sprachlichen Ebenen angesiedelt werden: zum einen auf der Ebene der Ε-Sprache (d. i. konventionale Sprachpraxis einer Sprechergemeinschaft) als Komplex aus einer Lautgestalt und einer Bedeutung, zum anderen auf der Ebene der I-Sprache (d. i. je individuelle Kompetenz zum Gebrauch eines Zeichens) als kognitives Korrelat im mentalen Lexikon eines einzelnen Sprechers dieser Sprachgemeinschaft mit phonologisch-phonetischen, morphologisch-syntaktischen sowie semantischen Eigenschaften. Beide Ebenen zusammen sind notwendig, um das sprachliche Interagieren eines Sprechers mit einem Hörer zu begreifen: Sowohl Ersterer wie Letzterer haben jeweils eine kognitive und individuelle Implementierung eines E-Zeichens in ihrem Kopf, die sich jedoch beide so hinreichend ähnlich sind, dass eine mittelbare Verständigung möglich ist. Die Konventionalität der E-Zeichen - sowohl was ihre Arbitrarität als auch ihre Gemeinschaftlichkeit betrifft - ist diejenige Ebene, auf der die Bedeutung eines Wortes (bzw. jedes Ausdrucks) als die Gebrauchsweise in der Sprache festgelegt ist: Die ganze Sprecherschaft legt letztlich fest, was ein Ε-Wort zu bedeuten hat. Ein geistig normaler Sprecher kann von der standardmäßigen Verwendungspraxis eines E-Wortes nicht einfach so abweichen, indem er seinem I-Pendant dieses Wortes eine vollkommen andere individuelle Verwendungsregularität gibt. Tut er es dennoch, wird er von den anderen Sprachteilnehmern nicht mehr verstanden und vielleicht sogar als geisteskrank hingestellt. In gleicher Weise nun wie die Bedeutung eines Zeichens wird auch die Regel zu seiner Realisierung, d. i. die Realisationsweise des Zeichens, in der Sprachgemeinschaft 'gehütet': Es gibt eine stillschweigende Übereinkunft (d. i. implizite Konvention) darüber, wie man ein Wort auszusprechen oder grafisch darzustellen hat. Wer diese Realisationsregel in zu starkem Maße missachtet, muss damit rechnen, nicht mehr verstanden zu werden, etwa wenn die individuelle I-Version der überindividuellen E-Realisationsregel eine (noch) zu schlechte Implementierung derselben ist (ζ. B. bei Kleinkindern oder Aphasikern). Das Zusammenwirken der E- und I-Ebene wird gerade im Spracherwerb bei Kleinkindern sichtbar. Diese 'zapfen' im Verlauf der Zeit stichprobenartig die E-Ebene an und erwerben sich ihr persönliches
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I-Pendant eines Zeichens, sowohl bezüglich der Gebrauchs- wie auch der Realisationsregel. Mit Erreichen eines bestimmten Alters — das bei abstrakten Wörtern sehr spät sein mag - kann man sagen, dass das Kind eine adäquate I-Repräsentation des Ε-Wortes erlangt hat. Ferdinand de Saussure (1857—1913) hat nun das Zusammenwirken der individuellen I-Sprache bzw. Α-Sprache und der überindividuellen (sozialen) Ε-Sprache mit den (franz.) Begriffen (faculte de) langage bzw. parole und langue unterschieden. Die I-Sprache, begriffen als Sprachvermögen des Einzelnen {Jfaculte de] langage) — was sowohl die grundsätzliche Fähigkeit des Menschen zum Erwerb einer Sprache (im Gegensatz etwa zum Tier) als auch ihr tatsächliches Haben und Benutzenkönnen (Kompetenz) einbezieht —, ist Grundlage der allein wahrnehmbaren A-Sprache («parole plus Performanz), die ihrerseits zusammen mit sämtlichen Α-sprachlichen Tätigkeiten aller Sprecher das konstituiert, was man als E-Sprache (langue) bezeichnet. Tarole' bezieht sich also auf das tatsächliche Sprechen - als Reden bzw. Rede(produkt) —, '(faculte de) langage' auf das Sprachvermögen und 'langue' auf das überindividuelle Sprachsystem (d. i. alles, was eine Einzelsprache ausmacht). In der Übersicht: E-Sprache:
I-Sprache:
A-Sprache·.
Sprache
Sprachvermögen
Sprechen
(Einzelsprache; Sprachsystem, Sprachgebilde)
(Kompetenz, Sprachkennt- (Reden und Rede[pronisse, Sprachbeherrschung) dukt); aktuelles sprachliches Verhalten)
langue
(faculte de) langage
parole + Performanz
Sprachgemeinschaft
Individualsprecher
Welt (Sprechender im aktuellen Kontext)
(sozial, überindividuell, kollektiv, verteilt; kulturell)
(psych[olog]ische bzw. neurophysiologische
(psychische, physische und physikalische
Strukturen)
Prozesse)
Konvention:
Assoziation:
Koinzidenz:
Lautgestalt + Bedeutung Lautbild + Vorst./Konzept Laute/Schall + Wirkung
Was sich auf der Ebene der Ε-Sprache als Konvention zeigt, nämlich die Paarung einer Lautgestalt (Realisationsregel) und einer Bedeutung (Gebrauchsregel), wird auf der kognitiven Ebene des Individuums zu
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einer kognitiv realen Assoziation eines Lautbilds mit einem Inhalt in Form einer Vorstellung oder eines Konzepts. Die Aktivierung einer der beiden Pole fuhrt zur automatischen Aktivierung des entgegengesetzten Pols: Höre ich eine bestimmte Lautsequenz, kann ich sie anhand meines im I-Lexikon gespeicherten Lautbilds abgleichen und erkennen, und in der Folge wird ein bestimmtes Lexem (also Wortfbestandteil]) mit all seinen dort gespeicherten Aspekten aktiviert, u. a. auch das zugehörige lexikalische Konzept bzw. eine Vorstellung. Die Lautkette | h-u-n-d | beispielsweise aktiviert alles, was ich über einen Hund weiß: was sie fressen, wie sie leben, wie alt sie werden u. v. m. (d. i. Konzept von Hund), wie sie aussehen, sich anfühlen usw. (d. i. Vorstellung von Hund). Umgekehrt aktiviert meine Vorstellung von einem Hund assoziativ vielleicht das Wort HUND, wodurch ich dann auch Zugriff auf das Lautbild habe und das Wort aussprechen kann. Das (lexikalische) Konzept und die Vorstellung von Hund zusammen ergeben das, was man unter einem Begriff verstehen kann. Als bloße Koinzidenz nurmehr ist schließlich das zufällige Zusammenwirken von Schallereignissen und deren potenzieller Wirkung auf der Ebene der Α-Sprache zu begreifen (das tatsächlich wahrnehmbar Ausgesprochene), denn Schallwellen selbst haben keinerlei Bedeutung bzw. keinen Sinn, vermögen aber Sinnhaftes im Hörer zu induzieren. Nichtsdestotrotz ist der Zusammenhang zwischen Schalllaut und potenzieller Wirkung vollkommen zufällig, weil beides ja ein jeweils einmaliges Zusammentreffen ist, das per Definition keiner Systematik zu unterwerfen ist. Diese Systematik existiert ausschließlich auf der Ebene der langue, da alle Sprecher einer Sprache letztlich bestimmen, welche Bedeutung welcher Lautgestalt zukommt. Und nur die gesamte Sprechergemeinde kann dies wieder ändern: Ein Einzelner wäre niemals in der Lage, durch seine individuelle I- bzw. Α-Sprache die Ε-Sprache nachhaltig zu beeinflussen, solange nicht alle anderen Sprecher ebenfalls mitziehen. Mit dem Aufkommen der Massenmedien ist dieser Prozess freilich vereinfacht und beschleunigt worden (vgl. LEITKULTUR u. a. 'Unwörter', MAUS als Computereingabegerät usw.). Zwischen dem individuellen und dem sozialen Sprachgebrauch besteht jedoch insofern ein Bruch, als ein Einzelner zwar in seiner Sprache von der Gemeinschaft abhängt, nicht aber die Sprechergemeinde von nur einem Einzelnen. Erst der (vorletzte Sprecher einer Sprache kann deren System durch
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sein Ableben nachhaltig beeinflussen: Stirbt er, stirbt auch diese Sprache. Auf der I-Ebene des ein2elnen Sprechers ist ebenfalls eine Art von Systematizität anzutreffen, die der Systematik der E-Ebene untergeordnet ist. Sprecher verwenden ihre individuellen Wörter ja nicht völlig wirr, sondern ebenfalls nach einem persönlichen Gebrauchsschema, das sich im Begriffsteil eines I-Wortes widerspiegelt, der ja mit einem Lautbild assoziiert ist. Saussuie verwendete hierfür auch die allgemeineren zeichentheoretischen Termini Signifikant (franz. 'signifiant' für das Bezeichnende, also das Lautbild) und Signifikat (franz. 'signifie' als das Bezeichnete, also der Begriff bzw. die Vorstellung/Konzept). Dass hierbei aber das Bezeichnete nicht immer als Vorstellung von einem konkreten Objekt zu verstehen ist, lässt sich leicht beweisen: Abstrakte Dinge wie G E R E C H T I G K E I T oder Z E I T G E I S T identifizieren ja keine Gegenstände in der Welt, sondern Konzept(komplex)e in unserer Kognition, mit denen wir auch ohne zugrunde liegende Realobjekte operieren können.
3.5 Zeichentheorie III Im letzten Abschnitt haben wir Zeichenmodelle kennen gelernt, die jeweils auf ihrer Ebene den Zusammenhang einer rein formalen Eigenschaft mit einer inhaltlichen Charakterisierung als das ein Zeichen Bestimmende herausgestellt haben: auf der einen Seite als assoziative und individuelle Verknüpfung eines Lautbildes mit einer Vorstellung, und/oder einem (lexikalischen) Konzept (zusammen Begriff), auf der anderen Seite als überindividuelle und stets konventionale Paarung einer Lautgestalt mit einer Bedeutung. Dabei bezog sich die Konventionalität sowohl auf die Lautgestalt - als die allgemein übliche Realisationsweise eines Zeichens — wie auch auf die Bedeutung — als die allgemein übliche Gebrauchsweise eines Zeichens —, d. h. beide sind jeweils die in einer Sprachgemeinschaft verfestigten Kollektivgewohnheiten bzw. verteilt getragenen Regeln, die in einem (E-)Zeichen zusammengehalten werden.10 Der Einzelne eignet sich im Laufe seines 10
Die zugrunde liegenden Fragen hierbei lauten schlicht: Nach welchen allgemeinen Regeln muss ein Zeichen (Wort, Satz) dargestellt (bzw. wahrgenommen)
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individuellen Spracherwerbs kognitive Korrelate dieser Regeln an und verinnerlicht damit seine persönlichen Gebrauchs- und Realisadons/rgularitäten eines Wortes. Die Arbitrarität der einzelnen Regeln — weil diese ja letztlich explizite oder implizite Vereinbarungen (d. h. Konventionen) sind — führt nun bei ihrem 'Zusammenschluss' in einem Zeichen dazu, dass auch das ganze Zeichen arbiträr ist. Hierbei ist also festzuhalten, dass Zeichen in verschiedener Weise als arbiträr zu charakterisieren sind: zum einen, weil deren Gebrauchs- und Realisationsregeln selbstjeweils arbiträr sind, zum anderen, weil eine Verknüpfung von Inhaltlichem und Formalem - unabhängig von deren jeweiliger Arbitrarität - zu einem Zeichen ebenfalls ein willkürlicher Akt ist in dem Sinne, dass der formale Aspekt in keiner Weise aus dem inhaltlichen Aspekt bzw. umgekehrt herleitbar ist. Warum ein Hund ζ. B. H U N D heißt, ist völlig arbiträr: Die Laufolge | h-u-n-d | hat nichts in sich, was von sich aus auf einen Hund schließen lassen könnte,11 und es hätte genauso gut jede andere Lautfolge sein können. Dass dies so ist, lässt sich ja leicht am Vokabular anderer Sprachen sehen: Im Englischen heißt H U N D D O G , im Französischen CHIEN etc., wobei keine dieser Wortgestalten etwas mit einem Hund gemeinsam hat. Ein (E-) Zeichen kann also in dreifacher Hinsicht als arbiträr bzw. konventional betrachtet werden: zum Ersten bezüglich seiner Benutzungsregel, zum Zweiten bezüglich seiner Lautungsregel, und zum Dritten bezüglich der willkürlichen Verflechtung beider Aspekte in einem Zeichen.12 Saussure bezog sich etwa hinsichtlich der Arbitrarität des (I-) Zeichens explizit auf Letzte-
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werden, und nach welchen kollektiven Regeln kann ein Zeichen interpretiert (bzw. angewendet) werden, so dass der Hörer in jedem Fall die Chance besitzt, das Zeichen (1) wahrzunehmen und (2) zu interpretieren (bzw. der Sprecher in der Lage ist, es innerlich anzuwenden und nach außen darzustellen). Dies gilt im Übrigen nicht für alle Typen von Zeichen, wie wir später noch sehen werden. Hier erkennt man, dass man Lautung und Bedeutung eigentlich nicht wirklich separieren kann: Ich kann nicht einer Benutzungsregel eines Zeichens als solcher folgen, wenn damit nicht zugleich auch etwas Wahrnehmbares verknüpft ist. Das ist etwa so, als würde ich als Physiker ausschließlich einen Plus- oder Minuspol konstruieren wollen: Das eine kriegt man nicht ohne das andere, und so kann man auch keinen isolierten Pol verwenden (wohl aber wissenschaftlich untersuchen).
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res und meinte damit genau die oben angesprochene Undurchsichtigkeit der Lautsequenz | h-u-n-d | bezüglich des Begriffs HUND: Wenn man nicht gelernt hat, dass jene vier Buchstaben (bzw. Laute) diese Bedeutung haben, kann man das Wort nicht verwenden. Mit der These von der Willkürlichkeit der Zeichen hat Saussure auch diejenigen Wörter gemeint, deren akustisches Erscheinungsbild einem bestimmten Aspekt des damit einhergehenden Gegenstandes ähnlich ist. Diese Wörter heißen Onomatopoetika, weil ihre Lautgestalt tatsächlich in gewisser Weise durch die Vorstellung vom entsprechenden Gegenstand motiviert ist. So sind der KUCKUCK oder WAUWAU jeweils über ihre charakteristischen Geräusche zu ihren Bezeichnungen gekommen. Auch Verben wie ZISCHEN oder LISPELN haben vielleicht einiges dessen in ihrer Lautgestalt realisiert, worauf sie sich als Beschreibung von Ereignissen beziehen. Diese Zeichen sind trotz ihrer Motiviertheit arbiträr, denn es gibt zum einen gleich gute Alternativen - ζ. B. HUND statt WAUWAU, KATZE statt MIEZE - , zum an-
deren konventionalisieren andere Sprachen deren Lautung teils erheblich anders: KUCKUCK heißt im Englischen CUCKOO, ZISCHEN HISS-
ING. Aus dem Fakt der Arbitrarität von Zeichen folgt deshalb nicht, dass Wörter stets unmotiviert sein müssen: Das Regelhafte ist immer konventional und das Konventionale immer arbiträr, aber das Arbiträre ist nicht immer unmotiviert, wenn auch meistens unbegründet. Die Arbitrarität der Wörter ist ein fur alle menschlichen Sprachen grundlegendes Charakteristikum. Zwei weitere wesentliche, von Saussure thematisierte Eigenschaften betreffen die Linearität und Konstanz der Zeichen. Das Erstere deutet an, dass unser Sprach- bzw. Sprechapparat nur in der Lage ist, Zeichen sequenziell zu verarbeiten, d. h. ein Wort nach dem anderen. Dies scheint nur auf den ersten Blick eine triviale Erkenntnis, denn davon hängt der ganze Mechanismus der Sprache ab: Könnten wir mit beiden Ohren gleichzeitig jeweils ein Wort verarbeiten, müsste unser kognitiver Sprachapparat vermutlich völlig anders organisiert sein und funktionieren. Das Letztere, die Konstanz, bezieht sich auf den relativ stabilen Charakter von Zeichen hinsichtlich der Verknüpfung ihrer phonologischen und semantischen Merkmale, die sich im Laufe der Zeit nur marginal ändern. Wie bereits gesagt wurde, ist ein Einzelner nicht in der Lage, die Aussprache und/oder Bedeutung eines Wortes einfach so zu ändern, ohne dass dies vom Rest der Sprachgemeinschaft unterstützt würde. Eine Ände-
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rung zu konservieren und damit zu konventionalisieren würde ja bedeuten, eine Kollektivgewohnheit zu ändern, und wie wir alle wissen, ist schon der einzelne Mensch ein Gewohnheitstier, das sich nur ungern auf Änderungen oder gar Neues einlässt. Rudi Keller hat in seiner Version der Charakterisierung von Zeichen Anleihen bei Saussure und vor allem Wittgenstein13 genommen, wobei einige Aspekte maßgeblich präzisiert wurden. Keller sieht Zeichen ebenfalls als Komplex zweier unauftrennbarer Eigenschaften an: Ausdruck und Bedeutung. Diese beiden Pole sind aber eben nicht die Bestandteile eines Zeichens, sondern dessen Aspekte·. Der eine ist der Aspekt der Wahrnehmbarkeit (d. i. Ausdruck) - die Regel %ur Realisierung oder Erkennung des Zeichens, nicht das Wahrgenommene selbst - , der andere ist der Aspekt der Interpretierbarkeit (d. i. Bedeutung) - die Regel ψΓ Einsetzung oder Interpretierung des Zeichens, nicht das Interpretierte. Zeichen müssen sowohl wahrnehmbar wie auch interpretierbar sein, um eine Rolle als Werkzeug im Spiel der Sprache einnehmen zu können. Beide Aspekte bedingen einander, so dass formale und inhaltliche Aspekte eines Zeichens nicht isoliert auftreten: Ein Zeichen ohne Realisationsmöglichkeit (Ausdruck, Lautgestalt) ist so wenig ein Zeichen wie eines ohne Benutzungsmöglichkeit (Bedeutung). Wir wollen uns obige Sachverhalte an einem konkreten Beispiel klar machen. Das Spiel 'Go' besteht aus einem Spielbrett sowie schwarzen und weißen Steinen; Ziel des Spiels und seine konkreten Spielregeln sind hier irrelevant. Für die Steine und das gesamte Spiel gelten nun Spielregeln, wie diese Figuren gehandhabt werden müssen, also ζ. B. wer wann an welcher Stelle einen Stein setzen darf (abwechselnd): Dies ist die Bedeutung eines jeden Steins (sei er schwarz oder weiß), also seine Gebrauchsregel. Hinzu kommen die Regeln, wie Steine wahrnehmbar zu realisieren sind: Sie müssen in einer bestimmten Farbe erscheinen und in bestimmter Weise an einen bestimmten Ort tatsächlich auf das Brett gelegt werden. Ich kann nicht, wie das Schachspieler oft für sich zu tun pflegen, in meinem Geiste das Spielbrett mit einem 'virtuellen' Stein auffüllen, denn der ist für den Spielpartner nicht wahrnehmbar, 13
Wittgenstein hat nicht explizit ein Zeichenmodell formuliert, sondern in verstreuten Anmerkungen u. a. das Wesen der Bedeutung zu ergründen versucht. Daher beziehe ich mich hier auf die Ausführungen in Keller (1995), der ein zusammenhängendes Bild der Wittgenstein'schen Auffassungen anbietet.
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verletzt also genau die Regel, wie ich mich mit einem Stein 'auszudrücken' habe (die Benutzungsregel jedoch kann korrekt gewesen sein!). Das System der Spielregeln beinhaltet also einerseits die Bedeutung eines jeden Steins als Gebrauchsregel - es gibt ja auch Spiele mit unterschiedlichen Figuren - und andererseits die jeweilige Realisationsregel, die die Wahrnehmbarmachung des Steins determiniert (schwarze und weiße Steine müssen klar unterscheidbar sein, einer bestimmten, aber doch variablen Formvorgabe gehorchen und erkennbar platziert werden). Beide Regelsätze sind hier durch einen expliziten Prozess der Konvention(alisierung) entstanden und verknüpfen sich als eine Art 'Zeichen' in einem Spielstein: Ein Stein hat damit eine Realisations- und eine Gebrauchsregel, d. i. Ausdruck und Bedeutung. Der wahrnehmbare Stein erscheint dabei nach seiner Platzierung auf dem Spielbrett dem Mitspieler wie ein offen sichtbares Anzeichen meiner Absichten, d. h. auch mein Gegenüber kennt die Regeln der Realisation und vor allem Verwendung der Spielfiguren, und kann nun versuchen, hieraus den tatsächlichen Sinn einer aktuellen Steinsetzung im Kontext der gegenwärtigen Situation auf dem Spielbrett unter Kenntnis aller Spielregeln zu erschließen (d. h. hineinzuinterpretieren, herauszulesen). Hier erkennt man auch, dass die Bedeutung (Gebrauchsregel) etwas Festes und Unverrückbares ist, wogegen der Sinn des Einsatzes eines Steins (Zeichens) etwas völlig anderes und jeweils nur im Kontext Existentes ist. Ich kann ζ. B. die Absicht verfolgen, meinen Mitspieler unmerklich in eine Falle zu locken, was der Gegner nur anhand seiner Kenntnis der Spielsituation und Spielregeln rekonstruieren oder erahnen kann: Der platzierte Stein wird dabei sozusagen ein sichtbarer Hinweis hierauf und muss als Basis für Schlussfolgerungen (Interpretationen) des Mitspielers dienen. Kommunizieren mittels Zeichen ist nun nichts anderes als ein solches Spiel: Es gehorcht gewissen festen Spielregeln, die zugleich Sprecher wie Hörer kennen müssen, um sich überhaupt verständigen zu können. Die Spielregeln beinhalten Regeln zum Gebrauch von Zeichen — also deren Bedeutung — sowie Regeln zur Realisierung dieser Zeichen — deren jeweiliger Ausdruck —, aber auch kommunikative Regeln - die Gesprächspartner sollten in einem gemeinsamen Kontext agieren, wobei idealerweise abwechselnd geredet wird usw. Die Zeichenrealisationen (-materialisationen) dienen dem Gesprächspartner dann als einzig wahrnehmbare Anhaltspunkte dafür, welche Absichten
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der Sprecher verfolgt, und sind eben keine Stellvertreter für irgendwelche Dinge. Dem Hörer bleibt damit nichts anderes übrig, als anhand dieser dargebotenen Anzeichen14 - die wahrnehmbaren 'Steine' auf dem Spielbrett und deren damit verknüpfte Bedeutungen sowie die vergangene und gegenwärtige Spielsituation ('Diskurs') — die Intention des Sprechers zu rekonstruieren.
3.6 Zeichentheorie IV Die Analogie zwischen der Kommunikation als Sprachspiel und einem Brettspiel ist äußerst hilfreich für das Verständnis von Sprache als einem Zeichensystem, das als Werkzeug des Kommunizierens fungiert. Womöglich liegt hier nicht mal eine Metapher vor, sondern Kommunizieren bzw. Sprechen funktioniert tatsächlich wie ein Spiel: Es folgt Spielregeln des wahrnehmbar Sich-Ausdrückens mit und interpretationsermöglichenden Gebrauchens von 'Spielsteinen' (Wörter und Sätze). Seine Intentionen kundzutun mittels Zeichen gelingt nur in einem Raum fester Spielregeln und vor dem Hintergrund eines gemeinsamen Kontexts ('Spielbrett' samt Aufstellung der 'Steine' bzw. Situation und Diskurs), die Sprecher wie Hörer heranziehen. Die Gebrauchs- und Ausdrucksregel eines Zeichens ist hierbei jeweils als Potenzialität zu verstehen: Sie legen lediglich einen Rahmen fest, wie man ein Zeichen verstehen bzw. realisieren könnte bzw. sollte 14
Hier liegt möglicherweise der Grund, warum 'Zeichen' so gerne als Stellvertreter für irgendwelche Entitäten oder Dinge (ζ. B. Gedanken/Sinne, Emotionen, Objekte u. a.) betrachtet werden: Das, was aufgrund einer Realisationsregel wahrnehmbar erzeugt wird, wird als Symptom (Anzeichen, Indiz, Hinweis) irgendeiner Entität oder eines Dings angesehen, die der Sprecher vermitteln will. Es ist aber nicht Symptom von irgendetwas, sondern nur Symptom eines Zeichens, das aufgrund seiner Gebrauchsregel selbst wieder mit einer außersprachlichen Entität verquickt ist (ζ. B. der Sinn einer Äußerung, das gemeinte Ding); dieses Etwas liegt aber nicht im Zeichen oder der Gebrauchsregel. Insofern ist das Symptom nur stellvertretend für das ganze Zeichen (ein Teil steht hier für das Ganze), aber nicht für eine außersprachliche Entität. Der Hörer muss also zunächst vom Symptom auf das zugehörige ganze Zeichen schließen, um dann auf Basis von dessen Bedeutung nochmals auf diejenige Entität rückzuschließen, die damit gemeint gewesen sein könnte - nach dem Motto: Was wollte mir der Sprecher damit wohl sagen/andeuten? Worauf wollte er hinweisen?
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bzw. darf. Die Realisierung eines Steins (Zeichens) auf dem Spielbrett (Kontext) erfolgt durch Aufnahme des Steins aus einer Menge vorgefertigter Steine und Platzierung auf das Spielbrett; der Spieler (Sprecher) könnte aber genauso gut spontan ein Papierschnipsel produzieren und auf das Spielbrett legen, wenn einige Steine verloren gegangen wären. Dieser Fall liegt in der Tat beim Sprechen vor: Wir produzieren den wahrnehmbaren Aspekt eines Zeichens für jeden Fall neu, wenn wir es spontan (gebrauchen. 15 Die auf der Ebene der Sprechergemeinschaft abstrakt verfestigte Gebrauchs- und Ausdrucksregel des Zeichens als Teil der Spielregeln — deren Existenz ja unabhängig von einem materiellen Niederschlag gewährleistet sein muss (vgl. Dialekte ohne Wörterbücher und Grammatiken) — sind als mentales Pendant in jedem Spieler alias Sprecher/Hörer abgelegt. Gemäß diesen Rßgulantäten des Einzelnen können dann spontan Zeichenmaterialisationen produziert oder interpretiert werden. Die gleichartigen Regularitäten aller Sprecher kristallisieren sich als Regel auf der Ebene der Sprechergemeinschaft heraus. Eine Regel ist etwas Einmaliges, der nur eine Gruppe von Mitgliedern folgen kann; eine Regularität hingegen ist etwas Viefcaches, der jeder Einzelne aufgrund seiner individuellen Teilhabe an der Regel in Form der Regularität gehorcht. Eine Regel muss stets Abweichungen zulassen können, sonst ist es schlicht keine Regel: „keine Regel ohne Ausnahme", keine Regel ohne Möglichkeit zur Verletzung derselben für eine Regularität gilt dies nicht. Weicht man ζ. B. von einer selbst gestellten 'Regel' ab, dann ist die Abweichung einfach Teil dieser Regularität, denn es gibt ja niemand anderen, der dies beurteilen könnte. Eine Regel indes wird von allen Mitgliedern einer Gruppe 'verteilt' getragen, und somit kann ein anderer die Verletzung der Regel beurteilen und sanktionieren (man kann sich nicht selbst sanktionieren, bestenfalls selbst bestrafen bei Verletzung eigener Grundsätze). Hier liegt ein Phänomen ähnlich einer Seuche vor: Eine Seuche ist etwas Kollektives, und ein Einzelner kann deshalb keine Seuche haben. Es hängt auch vom physischen Zustand anderer Gruppenmitglieder ab, ob man einfach nur eine bestimmte individuelle Krankheit hat, oder ob gar eine 'Kollektivkrank-
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Zu den Zeiten des guten alten Setzkastens war sogar der Ausdrucksaspekt der Zeichen bzw. Wörter in Schriftform vorgefertigt!
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heit' vorliegt.16 Im gleichen Sinne sind auch Spielregeln vom psychischen Zustand der anderen Mitglieder abhängig: Befindet sich nur ein Einzelner in einem bestimmten mentalen Zustand, ist es eben keine Regel, sondern nur eine Regularität. Eine Regularität eines Einzelnen kann jedoch dann zu einer Regel werden, wenn sich andere Individuen dieser Regularität anschließen. Fange ich irgendwann an, in meine neue Jeans aus Protest gegen das Establishment Löcher zu schneiden und andere finden das ganz toll und kopieren es, dann leistet jeder Einzelne einer Regel der Gruppe Folge, sofern auch ein Sanktionsverhalten etabliert ist - eine Abweichung von der Regel muss möglich, erkennbar und "bestrafbar' sein. Der wahrnehmbare Ausdruck 'Löcher' paart sich hier mit der Bedeutung Trotest': Die Verwendung jenes Zeichens ist jetzt regelgeleitet, konventional(isiert) sowie willkürlich (man könnte ja auch Blümchen aufmalen). Über die Benutzung des Zeichens gebe ich anderen etwas sichtbar zu verstehen, die daraus ihre Schlussfolgerungen ziehen müssen. Die richtigen Schlüsse können sie aber nur ziehen, wenn sie die Bedeutung dieses Zeichens ebenfalls kennen ('wider das Establishment!'); der tatsächliche Sinn ist dann das mit Hilfe des Zeichens Gefolgerte, ζ. B. 'dieser Typ will sich gegen das Spießertum auflehnen', 'verachtet seine Eltern' usw. Die individuellen Gebrauchs- und Realisationsregularitäten eines Zeichens im Gehirn eines Gruppenmitgliedes fungieren einerseits als Kenntnisbasis für dessen Schlüsse auf den aktuellen Sinn des Zeichens, andererseits ist diese Implementierung der Regularität auch eine Art 'mentales Programm', das die Basis der Verhaltensregulierung des Einzelnen und der Grund der Erwartungshaltung gegenüber den anderen der Gruppe ist: Die je eigenen Zeichenverwendungen basieren auf der individuellen Installierung einer Regel und orientieren sich somit indirekt an den Gegebenheiten der Gruppe, was wiederum deren Regel erhält bzw. konstituiert und so letztlich die Konvention auf Dauer stützt.
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Natürlich kann ich als Einziger in Deutschland eine Grippe haben. Diese wird aber nur deshalb als solche identifiziert, weil es schon mehrere Male zuvor eine starke Verbreitung dieses Krankheitsbildes gab. Hätte ich eine gänzlich neue Krankheit, die niemals jemand vorher hatte, könnte niemand sagen, ob es sich um eine potenzielle Seuche handelt.
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Anhand der Weise des Erschließens des Sinnes eines Zeichens lassen sich nun die drei wesentlichen Zeichentypen festmachen, nämlich Symptome, Ikone und Symbole: • Symptome sind An ^eichen dergestalt, dass sie auf etwas Verborgenes, Nicht-Offensichtliches hindeuten: Der Arzt ζ. B. interpretiert rote Male auf der Haut als Symptom von Röteln, die Träne ist Anzeichen von Trauer, die Delle im Kotflügel Hinweis auf einen Unfall usw. Entscheidend für Symptome ist, dass es niemanden gibt, der sie intentional hervorgebracht hat, d. h. Anzeichen gelten nur dann als solche, wenn es (zufällig) auch jemanden gibt, der sie interpretiert. Symptome besitzen deshalb keine feste konventionale Bedeutung, denn ihr 'Sinn' hängt ausschließlich von demjenigen ab, der sie interpretiert. Anzeichen lassen sich anhand der Weise ihrer Interpretation unterteilen: Es gibt solche, bei denen von einem Teil auf das Ganze geschlossen wird - ein Haar am Tatort als Hinweis auf den Mörder andere, bei denen man von der Wirkung auf die Ursache rückschließen kann — ein Unfall als Ursache einer Delle —, und solche, bei denen eine Mittel-Zweck-Analyse sinnvoll ist — der Hammer als Indiz, dass man gleich einen Nagel einschlagen wird. • Ikone sind Zeichen, die mit Hilfe assoziativer17 Schlüsse interpretiert werden können. Die kleinen Männlein oder Weiblein an einer Tür im Restaurant geben uns zumindest einen Anhaltspunkt, dass es sich hier um irgendetwas für Frauen oder Männer handeln muss (ζ. B. eine Toilette). Auch die kleinen Bilder bei den olympischen Spielen und auf dem PC lassen uns darauf schließen, was hier wohl dahinter stecken könnte. Und das X oder Ο aus X-/O-BEINE ist ebenfalls ikonisch gebraucht: Es zeichnet visuell die Form der Beine nach. Ikone sind also deshalb interpretierbar, weil sie eine gewisse — wenn auch oft weit hergeholte — Ähnlichkeit mit dem aufweisen, was der Autor darstellen wollte: Unsere Assoziationsgabe lässt uns aufgrund dieser Ähnlichkeit erschließen oder erraten, was er wohl gemeint haben könnte. Im Gegensatz zu Symptomen werden Ikone absichtsvoll verwendet, d. h. hier gibt es einen Produzenten, der damit auch etwas ausdrücken und bezwecken wollte. 17
'Assoziativ' bezieht sich hier nicht auf die feste Verknüpfung zwischen Formund Inhaltsaspekt eines Zeichens im Gehirn eines Sprechers. Vielmehr ist damit das freie und spontane Assoziieren gemeint.
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• Symbole schließlich sind die konventionalen sprachlichen Zeichen, über die wir in den letzten Abschnitten ausfuhrlich gesprochen haben. Ihre Interpretation erfolgt anhand regelgeleiteter Schlüsse auf Basis ihrer festen Gebrauchsregel (Bedeutung). Wie die Ikone auch werden Symbole absichtsvoll verwendet; im Unterschied zu diesen weisen sie jedoch mit dem T)argestellten' keinerlei Ähnlichkeit auf. In diesem Sinne sind Ikone also motiviert und nicht arbiträr, Symbole hingegen sind stets arbiträr (aber eventuell motiviert). Das KIKERIKI als Zeichen für einen Hahn ist in gewisser Weise auch ein Ikon, nicht nur ein Symbol. Wie wir Symbole interpretieren müssen, haben wir beim Erwerb unserer Sprache gelernt: Dort verinnerlichten wir die Bedeutung eines Ausdrucks als seine Gebrauchsregularität (abgeleitet aus der Gebrauchsregel), auf deren Basis man es dann interpretieren kann. Ikone hingegen bedurften dieses Prozesses nicht: Wir können vermutlich sofort ein neues Ikon interpretieren, auch wenn wir es noch nie zuvor gesehen haben; Symptome schließlich sind völlig frei hinsichtlich ihrer potenziellen Interpretationen. Der Zeichentheoretiker Charles William Morris (1901-1979) hat durch sein Zeichenmodell wesentlichen Einfluss auf die heutige Linguistik ausgeübt, weil er in seinem Zeichenmodell die drei Dimensionen herausstellte, hinsichtlich denen sich ein Zeichen untersuchen lässt: Die syntaktische, semantische und pragmatische. In der Syntax geht es um die Beziehung eines Zeichens zu den anderen Zeichen innerhalb desselben Zeichensystems; die Semantik beschäftigt sich (u. a.) mit der Beziehung des Zeichens zu den außersprachlichen Entitäten (Objekt oder Vorstellung als Aspekt der Bedeutung); die Pragmatik schließlich untersucht die Relation des Zeichens zu dessen Interpreten oder Produzenten. Auch bei Morris spiegeln sich die schon bei Saussure und Keller vorgefundenen formalen und inhaltlichen Elemente wider, die ein Zeichen konstituieren: Man benötigt einen Zeichenträger, der den wahrnehmbaren Aspekt eines Zeichens darstellt. Dieser konzentriert die oben genannten Dimensionen in sich: die syntaktische als formale Beziehung zu den anderen Zeichen (jedoch nicht als wahrnehmbarer Aspekt!), die semantische als inhaltliche Relation18 zu konkreten bzw. 18
Dies steht im Gegensatz zu obiger Auffassung, wo die Bedeutung eines Ausdrucks keine direkte Beziehung zum 'repräsentierten' Objekt etabliert.
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abstrakten Dingen (d. i. Denotate bzw. Designate), sowie die pragmatische Dimension als Beziehung des Sprechers/Hörers zum Zeichenträger, was die Interpretation eines Zeichens und die dadurch ausgelösten Wirkungen betrifft. 3.7 Sprache und Kognition Die letzten Abschnitte haben sich ausfuhrlich mit Zeichentheorie befasst. Dabei wurde klar, dass Zeichen vor allem in Form von Symbolen das sind, was eine Sprache letztlich ausmacht: Sprachliche Symbole sind die Wörter mit all ihren wahrnehmbaren und nicht wahrnehmbaren Aspekten (d. i. Form/Aussprache bzw. Inhalt/Bedeutung). Der Zusammenschluss einer Form und eines Inhalts ist arbiträr (willkürlich), d. h. welche Formen welche Inhalte bezeichnen, ergibt sich weder aus dem Bezeichnenden noch aus dem Bezeichneten. Das Wort HUND ist nur im Deutschen der Ausdruck bzw. die Bezeichnung für ein vierbeiniges, bellendes Säugetier; andere Sprachen haben für diese Bedeutung bzw. dieses Bezeichnete andere Ausdrücke gewählt. Man könnte nun ja auf die Idee kommen, der einzige Unterschied zwischen einzelnen Sprachen bestünde darin, dass sie für jede Entität nur jeweils eine andere Bezeichnung 'gewählt' hätten: Jedes konkrete oder abstrakte Objekt wäre immer dasselbe, nur anders benannt. Dies ist freilich falsch. Nehmen Sie das deutsche Wort FLEISCH und übertragen Sie es ins Englische: Man kann hierfür - je nach Verwendungskontext - MEAT oder FLESH übersetzen. Das Erstere bezieht sich dabei auf das essbare, tierische und tote Fleisch, das man zubereitet; das Letztere ist das Fleisch einer Frucht, eines lebenden Tieres oder das eines Menschen. Das Englische macht hier offenkundig eine tiefer gehende Unterteilung der Dinge unserer Welt, was aber nicht heißt, dass wir als Deutsche diesen Unterschied grundsätzlich nicht auch begreifen könnten (jeder Englisch sprechende Nicht-Engländer versteht es ja). Schwieriger wird dies allerdings bei derart abstrakten Dingen wie ZEITGEIST oder beim immer wieder zu Recht zitierten GEMÜTLICHKEIT. Versuchen Sie mal, einem Engländer dieses Wort in seiner eigenen Sprache zu erklären, sofern er es nicht schon kennt. Bis zu einem gewissen Grad ist das rein 'mechanisch' möglich; er wird jedoch kaum die ganze Gefühlswelt nachvollziehen können, die damit einhergeht.
Sprache und Kognition
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Die Bedeutung eines Ausdrucks ist eben noch mehr, als eine Erklärung der nackten semantischen Merkmale - wie etwa: Mehrere Leute sitzen entspannt zusammen, reden, trinken und essen usw. - hergibt. Was aufgrund solcher 'Unübersetzbarkeiten' dann typischerweise passiert, ist, dass dieses Wort, so wie es ist, einfach in die Sprache übernommen wird, mit allen seinen dahinter verborgenen Bedeutungsunschärfen, emotionalen Nuancen und situationsabhängigen Aspekten. War ein Engländer ζ. B. je in Bayern, dann hat er selbst erfahren, was dieses Wort heißt. Damit hat er aber auch die ganze Weitsicht' mitgenommen, die diesem Wort zugrunde liegt. Die Welt selbst ist (sogar) in Bayern dieselbe wie in England; die Weltsicht hingegen ist auch aber nicht nur - durch die Sprache geprägt. Welche Dinge für eine Gesellschaft oder Kultur von Belang sind, spiegelt sich u. a. in den Wörtern einer Sprache wider. Wörter zerteilen also zum einen die Welt in verschiedene konkrete Dinge, zum anderen erschaffen sie aber auch erst abstrakte Dinge oder Sachverhalte. Ohne bereits ein Wort für den mit ZEITGEIST einhergehenden Begriff zu besitzen und es dadurch verwenden zu können, ist es ziemlich schwierig, zu einem solchen Konzept von sich aus zu gelangen. Es ist zwar denkbar, dass ein Kind eine ganz eigene Bezeichnung für eine Katze oder einen Baum erfindet; es wird jedoch sicherlich kaum je von selbst ζ. B. die Idee einer SEELE entwickeln. Es bedarf wohl durchaus einer Art (kollektiven) Erfindungs- oder Entdeckungsprozesses, der sich beim Spracherwerb, Sprachwandel oder im wissenschaftlichen Forschen manifestiert und bisweilen zu (unbeabsichtigten Begriffsneubildungen führt - beispielsweise durch (gezielte) Uminterpretation oder Fehldeutung eines schon vorhandenen Ausdrucks. Sobald jedoch ein solcher Akt der Wortgenese vollzogen ist d. h. Ausdruck und Bedeutung verknüpft sind - ist das Wort und die damit einhergehende Vorstellung in einer Weise im Wortschatz einer Sprache verfestigt, dass jede nachfolgende Generation diesen Begriff automatisch mit dem Erwerb des entsprechenden Wortes verinnerlicht. Damit sind Mittel und Wege geschaffen, eine Unmenge an Wissen und Erkenntnissen verteilt über eine Sprecherschaft zu bewahren und weiterzugeben. Man darf nun nicht annehmen, dass jede Sprache auch eine eigene Weltsicht dahingehend konstituiert, dass sie mit anderen Weltsichten vollkommen unvereinbar wäre. Wir alle sind ja Menschen und haben
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Werkstoff, Werkstatt und Wirkweise der Sprache
dadurch (epi)genetisch auch die gleiche neuronale und kognitive Ausstattung in die Wiege gelegt bekommen: Wir alle können im Normalfall sehen, hören, tasten usw., eine Sprache erwerben und benutzen, Schlussfolgerungen ziehen, in die Zukunft denken u. a. Unsere prinzipiellen geistigen Fähigkeiten sind also im Wesentlichen die gleichen; was der Erwerb einer Sprache einem Menschen zusätzlich gibt, ist ein bestimmtes Raster, mit dessen Hilfe wir die Welt betrachten, kategorisieren und verstehen. Wir legen sozusagen das kognitive Netz unserer Sprache über diese Welt und erreichen damit eine bestimmte Aspektuierung, Orientierung und Konturierung derselben. Die Wörter einer Sprache sind gleichsam die natürlichste, ursprünglichste und vor allem erfolgreichste Theorie über die Welt. Die Sprache dient hierbei nicht nur dem Kommunizieren, sie ist vielmehr auch eine Enzyklopädie — und eben nicht nur ein Lexikon! - über die Welt, und auch ein Hilfsmittel zum Denken. Viele unserer Denkvorgänge laufen unter "Zuhilfenahme unserer Sprache ab, und dies hat in der Tat viele Menschen dazu veranlasst anzunehmen, Denken sei lediglich inneres Sprechen. Dass auch dies falsch ist, ist leicht zu zeigen: • Stellen Sie sich einen englischen Text vor, den Sie ins Deutsche übertragen müssen. Ein guter Übersetzer wird nun nicht Wort für Wort übersetzen, sondern eine sinngemäße Übersetzung versuchen (denken Sie an Wörter wie GEMÜTLICHKEIT). Eine solche Art der Übersetzung verlangt jedoch zwingend, dass Sie eine kon^eptuelle — d. h. unsprachliche, gedankliche, vorstellungshafte und emotionale — Repräsentation dessen gewonnen haben, was der englische Text meint und eben nicht wörtlich aussagt. Die englischen Wörter erzeugen in Ihnen einen oder mehrere Gedanken (dann haben Sie den Text verstanden), und diese übertragen Sie dann ins Deutsche. Es gibt also sozusagen 'hinter' der Sprache noch eine kognitive Ebene des Denkens in Konzepten, Vorstellungen oder Intentionen, und diese Schicht liegt jeder sprachlichen Formulierung zugrunde. • Jeder von uns kennt das Phänomen 'Es liegt mir auf der Zunge, aber ich komme nicht drauf. In der Linguistik nennt man das Tipof-the-Tongue-Phänomen. Sie wissen genau, was Sie gerne sagen würden, Ihnen fallen aber gerade die zugehörigen Wörter nicht ein, die das ausdrücken könnten. Das wiederzugebende Konzept bzw. der Gedankenteil sind Ihnen vollkommen klar, nur das sprachliche Material fehlt Ihnen. Hier begegnen wir also auch wieder der Dis-
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krepanz zwischen einer konzeptuell-intentionalen Gedankenebene und der Sprachebene. • Schließlich ist als stärkstes Argument für die Trennung von Denken und Sprache bzw. Sprechen etwas anzuführen, dessen wir uns kaum jemals bewusst sind: Wir alle können ja das, was uns jemand aufträgt, ausführen; das, was wir wahrnehmen, sprachlich beschreiben; und auch das, was wir uns innerlich ausgedacht haben, in eine sprachliche Form bringen. Alle diese Umsetzungsprozesse werden über eine abstrakte, konzeptuelle, nicht-sprachliche Ebene abgewickelt: Ein sprachlicher Befehl wird in motorische Anweisungen für die Muskeln überführt, ein gesehenes oder gefühltes Objekt kann sprachlich beschrieben werden, und eine Emotion oder ein in unserer Fantasie vorgestellter Gegenstand kann ebenfalls sprachlich wiedergegeben werden. All diese verschiedenen kognitiven Modalitäten - Sprache, Motorik, Wahrnehmung, Imagination/Vorstellung und Emotion brauchen ein gemeinsames kognitives Format, das eine Abbildung des einen Formats auf ein anderes Format erlaubt. Dies genau leistet das konzeptuelle System (die konzeptuelle Ebene), das die Ebene der Gedanken (Ideen, Vorstellungen), Intentionen (Absichten, Wünsche, Bedürfnisse usw.), Emotionen und Körperzustände (Schmerz, Befinden) einschließt und diese verschiedenen kognitiven Modalitäten (Formate) aufeinander abbildbar macht. Für den Modus Sprache ist diese Ebene besonders wichtig, denn hierüber kann Sprachliches eindringen und in andere Formate umgewandelt werden, wie auch innerliche Formate versprachlicht und damit geäußert werden. All dies deutet darauf hin, dass wir unsere Gedanken, die das Produkt des Denkens sind, reflexartig und unmittelbar in sprachliche Strukturen 'übersetzen' (in innere Wort- und Satzäußerungen), und zwar deshalb, weil diese zum einen leichter zu behalten sind - die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses ist auf 7+2 Einheiten beschränkt - , zum anderen damit die oft nebelhaften und ungeordneten Gedanken und Emotionen dadurch eine fassbare Konturierung und Ordnung erhalten, die uns beim Verstehen unserer eigenen Denkprodukte helfen.'9 19
Sie kennen den Effekt: Sie haben eine relativ verschwommene Vorstellung von etwas oder haben Schwierigkeiten, etwas zu verstehen; sobald Sie jedoch eine (eigene) Paraphrase hierfür gefunden haben, wird Ihnen manches klarer.
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Werkstoff, Werkstatt und Wirkweise der Sprache
Nicht nur die eben angeführten Punkte machen deutlich, dass unserem Sprechen ein Denken vorausgehen muss. Es ist wohl auch intuitiv zugänglich und fur jeden nachvollziehbar, dass wir nichts sagen können, bevor wir nicht wissen, was wir wie äußern wollen. Allem Geäußerten liegt auch eine Sprechabsicht zugrunde, da wir nichts sagen, ohne dafür einen guten Grund zu haben: Meist wollen wir andere Personen von dem, was wir mitzuteilen haben, überzeugen; oder wir wollen jemanden bitten, uns einen Gefallen zu tun, sei es nur eine Frage zu beantworten oder einen Auftrag auszuführen. In jedem dieser Fälle liegt der Äußerung eine Intention im Sinne einer dahinter steckenden Absicht zugrunde, hiermit etwas Bestimmtes erreichen oder bewirken zu wollen. Selbst im stillen Sprechen mit uns selbst ist dies nicht vollständig nivelliert: Wir haben oben gehört, dass stilles sprachliches Denken - das nur die reflexartige Versprachlichung unsprachlicher Formate ist - einige Vorteile birgt, nämlich u. a. die Verklarung des (Aus)gedachten oder Gefühlten. Auch aus diesem Grunde sprechen wir zu uns selbst, und eben nicht nur weil wir gerade ein unbefriedigtes Bedürfnis zur Kommunikation haben oder uns langweilen. Solche Sprech(er)absichten werden im Folgenden noch eine wichtige Rolle spielen.
3.8 Rekapitulation II Nachdem Sie nun bereits etwas tiefer in die Geheimnisse der Sprache vorgedrungen sind und viele neue Begriffe und Zusammenhänge kennen gelernt haben, will ich einiges von dem nochmals Revue passieren lassen, was in den vorangegangenen Abschnitten dargelegt wurde. Zunächst wurden das menschliche Sprachsystem und die hiermit einhergehenden linguistischen Disziplinen thematisiert, die den Kern und die Peripherie der Sprachwissenschaft bilden. Die moderne Linguistik kann sich hier jedoch nicht wirklich eine Abstufung erlauben, denn alle angesprochenen linguistischen Bereiche sind zur Untersuchung und zum Verständnis der Sprache von gleicher Relevanz:
Rekapitulation II
Disziplin Beschreibung Morphologie
Beispiele
Lehre von den Wörtern und Wortbestandteilen sowie den Regeln ihrer Verknüpfung. Wortbestandteile sind einfache Stämme bzw. Wurzeln und Affixe (Präfix, Suffix, Infix, Circumfix) sowie einfache Wörter, zusammen ergeben sie die MorphemeKomplexere Wörter werden aus Morphemen und/oder (bereits komplexen) Wörtern zusammengesetzt. Die Morphologie umfasst die Unterdisziplinen' Flexion, Derivation und Komposition.
Syntax
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Stamm/Wurzel.
LACH-,
EHR-, GELB-, LEUTE-
Affixe·. GE-...-T, UN-, -EN, -ER, VER-, -ST
Wörter. LACH-END-E, ΑΥΤΟ-S, GE-LACH-T, HAUS-ORDN-UNG-0 Flex.: (ER) LACH-T Deriv:. LACHERKomp.: LACHSACK-
Lehre von den Sätzen und Satybestandtei- HANS GEHT. GEHT HANS? MÖGE HANS len und den Regeln ihrer Verknüpfung. GEHEN!
Satzbestandteile sind Teilsät^e, Wortgrup- WEIL HANS LAHMT; DER LAHME HANS pen (Syntagmen) und einzelne Wörter. Semantik
Pragmatik
Phonologie
Lehre von den konventionalisierten und systematischen, Sprecher- (und kontext-) freien Bedeutungen von Morphemen, Wörtern und Sätzen (das durch einen Ausdruck Ausgesagte bzw. potenziell Aussagbari)
D u SIEHST HEUTE
Lehre vom aktuellen, unsystematischen, kontext- und sprecherbedingten Sinn von Äußerungen (das mit einer Äußerung Gemeinte samt verfolgtem Zweck.)
DU SIEHST HEUTE
ABER TOLL AUS!
([wörtliche] Bedeutung ohne Ironie: Kompliment)
ABER TOLL AUS!
(ζ. B. mit Ironie: Beleidigung)
Lehre von den Laut(klass)en und den SIE GEHT vs. GEHT Regeln ihrer Kombination (einbeziehend SIE? Ν vor Κ vs. Τ: Akzentuierung, Intonation, LautangleiHINKEN vs. HINTEN chungen, Pausen usw.)
Die Phonetik wurde hier bewusst weggelassen, denn sie ist von der Phonologie abzugrenzen. Letztere befasst sich mit den systematischregelhaften Lautmustern einer Sprache auf der Ebene der E-/I-Sprache, d. h., eine Sprache weist immer spezifische Regelhaftigkeiten auf,
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Werkstoff, Werkstatt und Wirkweise der Sprache
die es festzuhalten gilt: etwa wie sich einzelne Laute oder ganze Lautketten in bestimmten Lautumfeldern verhalten, ζ. B. dass Ν vor Κ wie NG ausgeprochen wird, Ν vor Τ aber Ν bleibt. Hierher gehören aber auch die Regeln, wie neu gebildete Wörter oder Sät^e zu betonen bzw. intonieren sind, ζ. B. wenn man aus dem Aussagesatz HANS SCHLÄFT die Frage HANS SCHLÄFT? bilden will. Die Phonetik dagegen beschäftigt sich mehr mit den physiologisch und physikalisch erfassbaren Eigenschaften tatsächlich produzierter Laute vor dem Hintergrund der ihnen zugrunde liegenden Artikulationswerkzeuge, die bei der AktualSprache eingesetzt werden (beim Sprechen erzeugte Äußerung). Insofern ist der Unterschied zwischen Phonetik und Phonologie auch der zwischen A- und I-/E-Sprache. Grob gesagt beschreibt die Phonologie also sämtliche Regelhaftigkeiten der systematischen E-/I-sprachlichen Ebene, wohingegen sich die Phonetik mehr mit den unsystematischen Idiosynkrasien (Eigenheiten) der Α-Sprache auseinander setzt. Ferner befasst sich die Phonetik aber auch mit dem allen Menschen grundsätzlich zur Verfügung stehenden Lautinventar, das letztlich nur durch die Physiologie der Sprechwerkzeuge beschränkt wird, und daher unabhängig von einer bestimmten Einzelsprache beschreibbar ist. In der Phonologie dagegen werden auch die fur eine bestimmte Sprache spezifischeren Lautregeln in der Grammatik dieser Einzelsprache erfasst. Das Lexikon beinhaltet dabei die durch Konvention festgelegte Lautung bzw. Realisationsweise eines Lexems. Diesem Ausdrucksaspekt eines Wortes (Zeichens) steht immer ein Bedeutungsaspekt zur Seite. Auf der Ebene der Ε-Sprache sind beide als Regeln existent und aufeinander angewiesen: Ein Zeichen ist nur dann ein Zeichen, wenn es sowohl eine Realisationsregel als auch eine Gebrauchsregel aufweist. Auf der Seite der jeweiligen I-Sprache eines Individuums liegen die beiden Regeln als entsprechende Regularitaten vor, wodurch die systematische Benutzungsweise eines Zeichens innerhalb der Sprecherschaft als systematizitäres (= reguläres) Einsatzschema in der Sprecherkompetenz implementiert wird. Im I-Zeichen sind dessen phonologische und semantische Pole assoziativ miteinander verknüpft, d. h., die Aktivation des einen Pols führt unter normalen Umständen auch zur Aktivierung des anderen Pols. Beim E-Zeichen liegt genau genommen keine Polarisierung vor, sondern das Zeichen weist als abstraktes ganzes Gebilde zwei Aspekte auf, hinsichtlich deren man es betrachten kann. In beiden Fällen — als E-Zeichen
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Rekapitulation II
bzw. I-Zeichen - ist das Zeichen ein arbiträres (willkürliches) Gebilde: Im ersten Sinne aufgrund seiner jeweils arbiträren bzw. konventionalen Regeln, die durch die Sprecherschaft verteilt getragen werden — und damit ist auch das Zeichen als Ganzes in der Zusammenschau beider Aspekte arbiträr —, im letzteren Sinne wegen der willkürlichen Verknüpfung eines Lautbilds mit einer Vorstellung und/oder einem (lexikalischen) Konzept, die jeweils nicht voneinander ableitbar sind. Schematisch: Aspekt der Wahrnehmbarkeit (Ausdruck) Aspekt der Interpretierbarkeit (Bedeutung) Ε-Zeichen: Keller (Wittgenstein)
I-Zeichen: Saussure
Die explizite oder implizite Verregelung der Benutzung eines E-Zeichens ist ebenso eine ausgesprochene oder unausgesprochene Ubereinkunft der Teilnehmer einer Sprachgemeinschaft über den koordinierten und damit gleichförmigen Einsatz bestimmter verbaler Hilfsmittel. Der Werkzeugcharakter des Zeichens — betreffend sowohl die Sprechergruppe als auch den Einzelnen - manifestiert sich als Kollektivgewohnheit bzw. individuelle Gewohnheit, zur Lösung bestimmter Aufgaben bestimmte Mittel einzusetzen: Der Einsatz eines sprachlichen Zeichens als Werkzeug dient dem Zweck, dem Kommunikationspartner wahrnehmbare Anhaltspunkte für seine dahinter stehende Absicht der Zeichenverwendung zu geben. Der Sprecher spielt hierbei das Spiel der Sprache unter Berücksichtigung der zumeist unabgesprochenen Spielregeln vor dem Hintergrund des aktuellen Geschehens. Der tatsächliche Sinn eines Spielzuges - der Einsatz eines Zeichens (als Wort, Satz oder Text) — muss sich aus den Regeln zur Setzung eines Steins (sprachlicher Term) auf das Spielbrett (Kontext) ergeben. Den Sinn kann der Spielpartner jedoch letztlich immer nur erraten, und zwar anhand der Bedeutung der Spielsteine (bzw. Zeichen) sowie dem aktuellen Stand des Spiels auf dem Spielbrett (Diskurs, außersprachliche Situation). Die durch den am Zug befindlichen Sprecher dargebotenen Zeichen sind eine Art Kode, den das Gegenüber
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Werkstoff, Werkstatt und Wirkweise der Sprache
erst entschlüsseln muss: vor allem durch regelgeleitete Schlussfolgerungen, aber auch durch allgemeine Erwartungen an eine Situation — ζ. B. bedeutet BANK in der Nähe eines Parks meist etwas anderes als in der Gegenwart eines Bankiers - , und durch Vorwissen, Weltwissen usw. Damit wird auch klar, dass Zeichen nicht für ein Ding stehen können, um es zu repräsentieren, sondern vielmehr benutzt werden für die Auslösung von kognitiven Prozessen der Schlussfolgerung im Hörer: Wäre Ersteres der Fall, käme das Zeichen als Repräsentant (Stellvertreter) dessen, was der Sprecher vermitteln will — eine Idee, Vorstellung usw. —, beim Hörer an. Das Zeichen reiste gleichsam unter Wahrung eines geheimnisvollen Bandes zum Sprechergedanken in Richtung Empfänger und würde dort als 'Ab(zieh)bild' diesen Gedanken verkörpern, ohne dass der Hörer ihn noch herauszuarbeiten brauchte (Telepathie wäre ein gutes Wort hierfür). Vielmehr benutzt man Zeichen(realisierungen), um dort regelhafte Schlussprozesse zu entfalten, die das 'Erraten' des Sinns auf Basis der Zeichenbedeutung bewirken. Nach der Weise nun, wie Zeichen solche Schlussprozesse auszulösen vermögen, werden drei grundlegenden Zeichentypen unterschieden: Symbole, Ikone und Symptome. Erstere werden durch regelgeleitete Schlüsse interpretiert, da deren Gebrauchs- und Realisierungsregeln notwendigerweise konventional(isiert) sind. Zweitere lassen sich mit Hilfe assoziativer20 Schlüsse interpretieren, da deren wahrnehmbarer Aspekt eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Bedeuteten aufweist. Sowohl Symbole wie Ikone werden intentional verwendet, d. h., der Absender hat sie realisiert in der Absicht, dass diese dann auch interpretiert werden. Im Gegensatz dazu werden Symptome gerade nicht intentional verwendet, sondern zufällig interpretiert; erst dann ist tatsächlich ein Symptom gegeben. Weder Symptome noch Ikone sind arbiträr, sondern allein Symbole, da nur sie regelgeleitet interpretiert werden. Deren Arbitrarität geht auch nicht automatisch einher mit Unmotiviertheit, da Symbole wie WAUWAU zwar vielleicht einmal Ikone waren, mittlerweile aber aufgrund der akustischen Ähnlichkeit motivierte Symbole sind (es gibt ja gleich gute Alternativen wie WUFFWUFF oder H U N D , und deshalb ist ihr Einsatz geregelt). Saussure hat Arbitrarität mit Bezug auf die will20
Hier wieder als freier Einfall, nicht als Verknüpfung Lautbild-Vorstellung.
Rekapitulation II
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kürliche Verknüpfung von Lautbild und Begriff herausgestellt; ferner hat er den linearen Charakter der Zeichen als sich eindimensional in der Zeit fortpflanzende Einheiten und ihre relative Konstanz erkannt. Durch die ähnlichen kognitiven Ausstattungen aller Menschen gelten die Zeicheneigenschaften fiir alle Sprecher, auch wenn die jeweiligen Einzelsprachen ihr kognitives (Konturierungs)raster über die Welt legen. Die Uniformität der menschlichen Kognition und Sprachfähigkeit zeigt sich auch darin, dass trotz der zum Teil erheblichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Sprachen jeder Mensch jede beliebige heutige Sprache erwerben kann. Wäre dem nicht so, würde daraus ja folgen, dass verschiedene genetische Abweichungen zwischen heutigen Hominiden(gruppen) bestehen müssten, die substanzielle neurophysiologische und/oder kognitive Diversität zur Folge hätten. Weil dies aber gerade nicht gegeben ist, muss davon ausgegangen werden, dass hier spezifische Beschränkungen für die Struktur von Sprachen existieren, die das Gehirn auferlegt. Sprachen können sich also nicht völlig wahllos in beliebige Richtungen weiterentwickeln. Daher ist anzunehmen, dass hier etwas wie eine universelle 'Grammatik' existiert, die einzelsprachunabhängige Universalien - für alle Sprachen gültige Strukturen und/oder Prozesse - beinhaltet, die sich in verschiedener Form auch in sämtlichen Sprachen wiederfinden lassen (ζ. B. lexikalische oder grammatikalische Kategorienunterscheidungen wie Nomen gegenüber Verb).21 Daneben ist weniger erstaunlich, dass sich ein universelles Basisinventar an Wörtern ausmachen lässt, die tatsächlich in allen Sprachen vorkommen (müssten), beispielsweise ICH/SPRECHER, DU/ANGESPROCHENER, GUT, SCHLECHT, NICHT etc.22 Vielleicht war dieses Universallexikon mit etwa 50—100 Einträgen auch das allererste Inventar an Wörtern, das unsere frühen Vorfahren ersannen, da sich hier die wichtigsten Unterscheidungen (in) der Welt widerspiegeln.
21
22
Echte sprachüche Universalien sind erstaunlich rar. Dies deutet darauf hin, dass hier eher allgemein kognitive (aber speziesspezifische) Restriktionen bestehen. Vgl. hierzu Wierzbicka (1996).
4 Sprachliches Wissen, Wollen und Wirken 4.1 Sprechen und Handeln Wir haben in den vorangegangenen Kapiteln schon einiges über die Sprache und das Sprechen erfahren können. Hinter dem Beherrschen einer Sprache und ihrer Benutzung beim Sprechen steckt jedoch viel mehr, als man 2unächst vermuten mag. Zumeist sprechen wir ja nicht völlig grund- und zwecklos in die Zuhörerschaft, sondern haben einen Hintergedanken: Oft wollen wir ζ. B. etwas von jemand anderem, vielleicht eine Information oder einen Gegenstand; andererseits wünschen wir aber auch unsere eigenen Gedanken und Gefühle dem Gesprächspartner zu vermitteln, wollen ihn vielleicht zum Verstehen eines speziellen Anliegens bewegen, oder ihn hereinlegen, beglückwünschen, beleidigen, begrüßen, loben, tadeln, motivieren, bestrafen, bezirzen usw. Dieses Etwas-Wollen, das dem Sprechen zugrunde liegt, ist die Intention, die dem sprachlichen Akt vorausgeht oder beiwohnt. Sie ist die Absicht bzw. der Zweck unseres Sprechens, die wir zu realisieren trachten bzw. den wir erfüllt sehen möchten. Hinter jedem Sprechen verbirgt sich eine Intention; selbst wenn wir nur zu uns selbst reden, mag dies ζ. B. ja den Zweck der Verklarung eines diffusen Gedankens erfüllen. Kurz und bündig: Ohne guten Grund sagen wir nichts, und sobald wir irgendein Bedürfnis (etwa nach Information), einen Drang (ζ. B. jemanden zurechtzuweisen) oder einen Wunsch (etwa jemandem vorgestellt zu werden) verspüren, können wir das mit Hilfe der Sprache ausdrücken und realisieren. Wir können es, wir müssen jedoch nicht: Sprache ist nur eines unter vielen Mitteln, etwas zu realisieren oder zu erreichen. Ein anderes ebenso gutes Mittel ist, etwas zu tun, also direkt und ohne Zuhilfenahme der Sprache zu handeln, um unsere Bedürfnisse, Wünsche und Anliegen zu befriedigen.
Sprechen und Handeln
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So können wir beispielsweise, wenn wir jemanden auf der Straße treffen, diese Person durch Handzeichen und Ziehen des Hutes grüßen, wenn sie sich auf der anderen Straßenseite befindet. Steht sie uns indes direkt gegenüber, sagen wir gleich „Guten Tag!", ohne weitere Aktionen durchzuführen. In beiden Fällen haben wir die Person gegrüßt, und in beiden Fällen haben wir die Handlung des Grüßens vollzogen. Es scheint möglich, sowohl durch Tun als auch durch Sprechen Handlungen zu vollziehen, die sogar den selben Zweck verfolgen können. Hier stellt sich einem zu Recht die Frage, ob nichtjedes Sprechen auch zugleich ein Handeln ist: In der Tat wurde diese These vor allem in den 60er Jahren populär und ist bis heute eine tragende Säule der Linguistik. Die beiden Sprachphilosophen John L· Austin und John R. Searle haben in diesem Zeitrahmen die so genannte Sprechakt-Theorie entwickelt, die besagt, dass jedes Sprechen auch ein Handlungsakt ist, dem eine Intention zugrunde liegt. Sprechen wird damit zu einer der vielen möglichen Handlungsformen, um seine Intentionen erfüllt zu bekommen. Wie sich im Beispiel oben gezeigt hat, kann man mit oder ohne Worte grüßen; man kann auch wortlos oder wortgewandt beleidigen (Stinkefinger, Zungenzeigen, Vogelzeigen vs. SIE SIND JA WOHL DAS LETZTE AUS EINER REIHE NICHT ERWÄHNENSWERTER INDIVIDU-
EN!); oder man kann um Hilfe bitten, indem man entsprechend HLLFE! ruft oder einfach nur mit den Armen winkt. In allen Fällen ist der Zweck der Handlung ein und derselbe, allein die Mittel zu seiner Erfüllung sind verschieden. Die Sprache kann man deshalb als eines der Werkzeuge zum Ausführen von Handlungen betrachten; andere sind ζ. B. die Hände (Gruß, Beleidigung, Hilfe), der Körper (Schwimmen zur Überbrückung einer Distanz, Rempeln zum Wegfreimachen usw.) oder der Kopf (Denken zum Lösen eines Problems, Mienenspiel zum Anzeigen einer Stimmung etc.). Auch Gebrauchsgegenstände wie Pistole, Hammer und Sichel sind Werkzeuge für Handlungen. Der Handlungscharakter des Sprechens wird besonders offenkundig bei denjenigen Sprechakten, die Tatsachen der Welt direkt verändern. Wenn der Chef zu seinem Angestellten sagt: „Ich befördere Sie hiermit zum Abteilungsleiter!", dann ist der Mitarbeiter eigentlich bereits befördert, weitere nicht-sprachliche Handlungen sind hierfür im Grunde nicht notwendig (möglich Unterschriften unter Verträge dienen nur der rechtlichen Absicherung). Wenn ein Hundefreund seine
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Sprachliches Wissen, Wollen und Wirken
'Neuerwerbung' aus dem Tierheim abholt und sagt: „Du heißt ab sofort Schnuffi", dann hat der Hund damit im Akt der Taufe einen neuen Namen erhalten (ob's ihm passt oder nicht). Besonders eindringliche Sprechakte können die Welt auf sehr dramatische Weise verändern: „Land X erklärt Land Y hiermit den Krieg", womit der Kriegs2ustand auch schon hergestellt ist. Die harmlosere Variante des Krieges ist die zweijährliche Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele mit den Worten „Hiermit erkläre ich die Olympischen (Sommer/ Winterspiele fur eröffnet". Bei all diesen Beispielen zeigt sich, dass nicht unbedingt jede Person solche weltverändernden Sprechakte durchführen kann. Nur das Oberhaupt eines Landes kann den Krieg erklären; wenn ein Junge auf der Straße so etwas zu einem Nachbarsjungen sagt, hat das überhaupt keine Konsequenzen fur das Land (bestenfalls für den Nachbarsfrieden). Auch die Olympischen Spiele können nicht von jedermann eröffnet werden, und nicht alle sind befugt, Mitarbeiter zu befördern oder zu entlassen. Namensgebungen hingegen unterliegen offensichtlich keinen so strikten Bedingungen: Praktisch jeder kann allem einen Namen geben, Personen jedoch darf in unserer Kultur wiederum nur das Standesamt auf Anweisung der Eltern 'taufen'. Die so genannten Glückensbedingungen oder Gelingensbedingungen — engl, 'felicity conditions' - der Sprechakte, d. h. die Umstände, unter denen die Welt tatsächlich nachhaltig von jemandem beeinflusst oder verändert wird, sind stets variabel und von Sprechakt zu Sprechakt verschieden. Zu den Glückensbedingungen zählt hier ζ. B. auch die Aufrichtigkeit (engl, 'sincerity [condition]1) beim Durchfuhren der Sprechhandlung. Wenn ein Rempelnder zum Angerempelten mit genervtem Unterton „Tschuldigung" sagt, dann darf man davon ausgehen, dass der Rempler zwar eine Entschuldigung gesagt hat, sie aber nicht meinte·. Es liegt sogar nahe, dass er so etwas wie „Pass doch auf, du Trottel!" im Hinterkopf hatte und daher die Aufrichtigkeitsbedingung aufs Gröbste verletzt hat. Seine Intention war es nämlich gar nicht, sich zu entschuldigen, sondern vielleicht nur seinem Stress Luft zu machen. In ähnlichem Maße sind die Aufrichtigkeitsbedingungen beim Schließen einer Ehe verletzt, wenn der Ehemann auf die Frage „Wollen Sie diese Frau ..., bis dass der Tod Euch scheidet" mit „Ja" antwortet, obwohl er sie nie geliebt hat, zugleich eine Liebschaft unterhält, und nur
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wegen der bevorstehenden Geburt des Kindes zum Standesamt geht (welch ein Klischee). Sprechen bedeutet also Handeln, und dieses Handeln wirkt sich in irgendeiner Weise auf die Welt aus. Jedem Handeln und damit auch jeder Sprechhandlung liegt eine Intention zugrunde, die vielerlei Aspekte umfassen kann: ein Wunsch, ein Bedürfnis, ein Ziel, ein Drang, ein Trieb u. a. Solcherlei Zustände fuhren in der Regel dazu, Aktionen in die Wege zu leiten, um dem Verlangen nachzukommen und es damit zu befriedigen. Die Kluft zwischen Begehrtem und Bestehendem kann mittels Handlungen überbrückt werden, und hierzu zählen auch die Sprechhandlungen. Schauen wir uns ein Beispiel an: Jemand verspürt Hunger, und früher oder später muss sich die Person ja zum Ziel setzen, sein Bedürfnis nach Nahrung(saufnahme) zu stillen. Dies kann und muss zumeist nicht sofort geschehen, so dass zwischen Ziel und Erreichung desselben eine bestimmte Zeitspanne vergehen kann. Nach der Setzung des Ziels wird der Hungernde dann auch irgendwann tatsächlich die Absicht oder den Plan fassen, seinen Hunger zu stillen, d. h., er führt Handlungen durch, deren Zwecke der Abstellung des Essensbedürfnisses bzw. Realisierung des Ziels dienen. Die beschriebene Kausalkette umfasst eine Reihe sehr problematischer Begriffe, die zum besseren Verständnis zunächst geklärt werden sollten: Verlangen (Bedürfnis usw.), Intention, Ziel, Absicht, Vorsatz, Plan, Zweck. • Verlangen/Begehren/Wollen·. Sie werden uns als Wünsche, Bedürfnisse, Dränge oder Triebe (unterbewusst und steuern letztlich unser Verhalten bzw. Handeln. Wünsche sind im Gegensatz zu den anderen Begehren motiviert, d. h., man kann meist einen Grund angeben, warum man etwas will. Die psychologischen Details werden wir uns hier ersparen; wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass all diese Wollensakte zum Setzen eines Ziels führen. • Ziel. Das Setzen eines (bewussten) Ziels ist der grobe Rahmen für die späteren Handlungen. Irgendein Ziel hat jeder immer im Hinterkopf, wobei es näher liegende und fernere gibt (ζ. B. innerhalb der nächsten halben Stunde etwas zu sich zu nehmen oder nächsten Winter in den Süden zu fliegen). Ziele führen letztendlich immer zu Absichten oder Plänen, die das Ziel zu erreichen trachten; in gewisser Weise 'begleiten' sie auch eine Intention.
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Sprachliches Wissen, Wollen und Wirken
• Absicht. Ein notorisch ambiger und falsch verwendeter Begriff, der zwei Lesarten aufweist: • Absicht, in der etwas getan wird; • Absicht, etwas tun zu wollen bzw. einfach etwas zu tun. Das Erstere ist das, was man unter Zweck verstehen kann {wo^u tut man etwas?); das Letztere ist ein Vorsatz oder Vorhaben (Plan) (was will man tun?). Zwecke werden erfüllt, Vorsätze/Vorhaben/Pläne realisiert, Ziele erreicht Die Absicht, überhaupt zum Kühlschrank zu gehen (Vorsatz = Absichtv) ist etwas anderes als die Absicht, in der man zum Kühlschrank geht (Zweck = Absichtz). • Intention·. Ein ebenfalls sehr problematischer Begriff, solange man nicht genau definiert, was man darunter verstanden haben will. Einerseits ist eine Intention eine Absicht im Sinne eines Vorsatzes oder Zwecks, den eine Person oder Handlung aufweisen kann. Andererseits kann man hierunter auch verschiedene Aspekte der Eingestelltheit zu oder Beurteilung von unserer Welt in jenem Sinne verstehen, dass unser Denken und Verstehen gerichtet ist und sich bezieht auf Inhalte von Wahrnehmungen oder Empfindungen (der Welt und von uns selbst).1 Wir werden 'Intention' hier vor allem als Absichtv (Plan) und/oder Ziel verstehen, es aber auch im Sinne der Eingestelltheit gegenüber bzw. Urteilshaltung bezüglich etwas verwenden. Handlungen nun sind intentional im Sinne der Absichtz, d. h., sie besitzen einen Zweck und dienen einem Ziel; Handelnde sind intentional im Sinne der Absichtv, d. h., sie fassen Vorsätze und setzen sich Ziele. Vorsätze müssen aber nicht notwendigerweise Handlungen bedingen, denn man kann sich alles (Unmögliche vornehmen, ohne es je zu realisieren — ζ. B. die berüchtigten guten Vorsätze zum neuen Jahr, von denen meist keine realisiert werden (im Übrigen: Etwas absichtlichv zu unterlassen ist bereits Handeln). Eine Sprechhandlung ist also intentional derart, dass sie einen vom Spechervorsatz und -ziel abgeleiteten Zweck hat und Letzterer bei deren Durchführung dem Ziel dient; ein Sprechhandelnder ist intentional, weil hierbei eine Absichtv mitsamt einem Ziel vorliegt. Der Zweck einer Sprechhandlung als potenzielle Umsetzung einer Sprecherintention dient einerseits der Rea1
Im Englischen nennt man dies 'aboutness', d. i. die Bezüglichkeit unseres Denkens und Empfindens.
Sprechen und Handeln
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lisierung des Sprechervorsatzes und andererseits im gleichen Zuge der Erfüllung des Sprecher(teil)ziels. Damit können wir uns diese Kausalkette nochmals an einem Beispiel verdeutlichen: Verlangen·.
Hunger. Essen
Wunsch: Erholung
l Zi φ):
Verringerung des Hungergefühls
Urlaub oder Entspannen
f Ä isicht(en)v.
Einkaufen(-Wollen) Essen(-Wollen)
Reisen(-Wollen) oder Sauna-gehen(-Wollen)
H Der Hörer kann den Rechner nicht reparieren. Letzteres hätte er natürlich auch direkt so sagen können; es muss jedoch gute Gründe geben, warum er genau das nicht tat: ζ. B. Ironie, Verwunderung, Verärgerung usw. All das hätte er aber durch eine direkte Antwort gerade nicht zustande gebracht. Die Annahme des rationalen Handelns hat hier so aus dem Interpretationsdilemma herausgeholfen. Was heißt es nun, rational zu handeln? Im Prinzip nur, dass vom Sprecher diejenigen sprachlichen Mittel zu wählen sind, die dem von ihm intendierten Zweck und Ziel am besten gerecht zu werden scheinen. Letztlich liegt hier die Optimierung der Mittel-Zweck-Relation vor, um den maximalen Nutzen bei minimalen Kosten herauszuschlagen, d. h., der Einsatz bestimmter sprachlicher Mittel — ζ. B. direkter vs. indirekter Sprechakt — hat einen Nutzen- wie Kostenaspekt, die es gegeneinander abzuwägen gilt:18 Wahlhandlungen
Nutzen
Persuasion
Repräsentation
Image
« Vgl. Keller (1995: 216).
Kosten
Beziehung
Ästhetik
Pragmatik
133
Der Nettonutzen errechnet sich aus dem Nutzen abzüglich der Kosten. Die Wahl einer Handlungsalternative — ob man also HALLO oder SCHÖNEN GUTEN TAG WÜNSCHE ICH IHNEN s a g t - m u s s d e n K o s -
ten· und Nutzenaspekt berücksichtigen. Die Kostenminimierung betrifft den kognitiven und motorischen Aufwand, der für eine Äußerung notwendig wird (vgl. das Begrüßungsbeispiel oben); die Nutzenmaximierung könnte man mit Hilfe von Maximen etwa folgendermaßen umschreiben:19 • Persuasiuität. Mache deinen Beitrag glaubhaft (d. h. wahr, eindringlich, überzeugend usw.). • Repräsentativität Mache klar und deutlich, was du sagen willst. • Imager. Stelle dich positiv dar. • Begehung. Sei höflich (respektvoll, unterwürfig, zurückhaltend etc.). • Ästhetik. Drücke dich schön aus (amüsant, anspruchsvoll usw.). Diese Aufzählung schließt auch das mit ein, was als Konversationsmaximen bekannt wurde, und in vier Einzelmaximen zerfällt:20 • Quantität. • Mache deinen Beitrag so informativ, wie es für den gegebenen Gesprächszweck nötig ist. • Mache deinen Beitrag nicht informativer als nötig. • Qualität • Versuche deinen Beitrag so zu machen, dass er wahr ist. • Sage nichts, was du für falsch hältst. • Sage nichts, wofür dir angemessene Gründe fehlen. • Relation! Relevant^. • Sei relevant. (Wahre die Relation zum Kontext.) • Modalität. • Vermeide Dunkelheit und unklare Ausdrucksweise. • Vermeide Mehrdeutigkeit. • Vermeide unnötige Weitschweifigkeit (sei kurz). • Vermeide Ungeordnetheit (der Reihe nach!). Die Maximen der Quantität, Qualität, Relation/Relevanz und Modalität gehen dabei in den oben dargestellten Maximen der Persuasivität und Repräsentativität auf. Alle Maximen sind hier aber nicht als Aufforderungen an einen Sprecher zum 'guten Kommunizieren' zu ver19 20
Vgl. Keller (1995: 217). Vgl. Keller (1995: 204), der die vier Gwf'schen Maximen wiedergibt.
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Sprache unter der linguistischen Lupe
stehen, sondern beschreiben das, was ein Sprecher bzw. Hörer stets berücksichtigen muss, wenn Äußerungen zu interpretieren sind. Die Verletzung einer der Maximen durch den Sprecher - der damit eine Implikatut21 erzeugt — ist dann für den Hörer als Indiz dafür anzusehen, dass das durch den Sprecher Gesagte einer Reinterpretation bedarf, um das Gemeinte hervorzuholen. Weil Sprecher und Hörer sich jener Maximen (un)bewusst sind und sie ganz automatisch anwenden, kann eine indirekte Kommunikation überhaupt nur funktionieren. Im Computer-Beispiel oben wurden mehrere Maximen verletzt: Repräsentativität, weil eben nicht unmittelbar klar wurde, was gemeint war; Image und Beziehung, weil der Antworter durch seine eher unfreundliche Art das eigene 'Image' beschädigt hat. Genau dies eröffnet nun aber reichlich Raum für Spekulation und Interpretation: Warum hat er das (so) gesagt? Um seinen Unmut über die Frage zu äußern, sein Unvermögen zu kaschieren, zu provozieren oder nur ironisch-sarkastisch zu sein? In jedem Fall ist das eigentliche Ziel, nämlich die Frage zu verneinen, erreicht worden; zusätzlich wurden jedoch noch andere Aspekte mitvermittelt, die zum Gesamtsinn dieser Äußerung beitragen (ζ. B. Ironie). Die Indirektheit des Antworters hat den Frager veranlasst, der Interpretation des (wörtlich) Gesagten eine zweite Interpretation anzuschließen, um den davon abweichenden (nicht-wörtlichen) Sinn zu ermitteln. Indirektheit wird — wie bereits angedeutet - häufig eingesetzt, um das Moment der Höflichkeit in eine Gesprächssituation einzubringen. Zusätzlich zu den konventionalen Höflichkeitsfloskeln — BITTE, DANKE, KÖNNTEN SIE ..., WÜRDEN SIE ..., WÄREN SIE SO FREUNDLICH ...
usw. — können nicht-konventionalisierte Formen der Höflichkeit verwendet werden, die dann vor dem Hintergrund obiger Maximen als solche erkannt werden müssen (Ζ. B . 'Mutmacher' wie BEIM NÄCHSTEN M A L KLAPPT'S DANN! statt Unmutmacher wie SIE SIND DURCHGEFALLEN!). Andere Gründe für das Ausbeuten von Indirektheit mögen sein, dass der Sprecher sich selbst oder den Hörer nicht zu sehr für etwas verpflichten will - SCHAFFST DU DAS BIS MORGEN? W E N N DU MIR EIN PAAR HEINZELMÄNNCHEN BESORGST! - , der Konversation ein breiterer Spielraum für Fortsetzung und/oder Ausweg gelas21
Grices Terminus für eine konventionalisierte (also kontextfreie) vs. kontextbehaftete Implikation (Implikatur).
Pragmatik
sen wird - KOMMST DU HEUTE ABEND MIT INS KLNO? ICH
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NOCH NICHT RECHT...), der (unterschiedliche) Status der beteiligten
Personen einen der Gesprächsteilnehmer zur Vorsicht mahnt - WÄRE ES EVENTUELL MÖGLICH, DASS SIE MIR DIE TÜR KURZ AUFHAL-
TEN? statt HALTEN SIE MIR DOCH MAL DIE TÜR AUF! - , der Sprecher
oder Hörer sich durch besondere Formulierungen heraus- und/oder d u m m stellen will - WO IST BITTE DER CHEF? IN SEINEM ANZUG,
WIE IMMER - , oder die Eindringlichkeit der Botschaft erhöht werden soll - KANN ICH HEUTE ABEND IN DIE DISCO? NUR ÜBER MEINE LEICHE!
Für Indirektheit wie fur alle pragmatischen Phänomene spielt der Kontext die entscheidende Rolle. Dabei ist vor allem wesentlich, unter welchen spezifischen Umständen der Sprechakt ausgeführt wurde: Wer hat etwas zu wem gesagt, wie hat er es wo^u gesagt, wo hat er es wann gesagt? Hinter diesen Fragen verbirgt sich das, was einen Kontext ausmacht: Sprecher und Hörer, Art und Zweck, Schauplatz und Zeit. In Bezug auf Sprecher und Hörer ist relevant, in welchem physikalischen, physischen und psychischen Zustand sie sich befinden: die physikalische Situation (Aufenthaltsort, Tageszeit, Anwesende, Gegenstände, Wetter usw.), der körperliche, mentale und emotionale Zustand aller Beteiligten (Gesundheit, Aufmerksamkeit, Milieu, Intelligenz, Erfahrung, Wissen etc.) sowie schließlich auch der spezielle und allgemeine Diskurs, d. h., was in der aktuellen Situation bisher gesagt wurde bzw. vor welchem Hintergrund dies gesagt wurde (allgemeiner oder spezieller wissenschaftlicher, politischer oder gesellschaftlicher Diskurs). Der aktuelle sprachliche Kontext (d. i. Diskurs) verknüpft die mittels sprachlicher Ausdrücke referierten Ereignisse und Objekte der Situation mit den mentalen Repräsentationen derselben, d. h., die wahrgenommenen Entitäten (Perzepte) sind auf entsprechende (lexikalische) Konzepte bezogen und eröffnen durch das dort über die Entität gespeicherte Wissen genügend Spielraum für die Fortsetzung oder den Abbruch der Konversation. Dies wird beispielsweise besonders deutlich bei Rahmenwissen (wie Handlungs-'Frames'), das standardisierte oder ritualisierte Vorgehensweisen auch für SprechhandlungsSequenzen beschreibt: Begrüßung, Smalltalk, Diskussion, Lesung usw. Aber auch bei allgemeinen Handlungsschemata wie Einkauf, Kinogang, Arbeit oder Party sind viele Abläufe sozialisiert, d. h. lassen wenig Spielraum für eigene Handlungsfortführungen. In diesem Sinne sind Kon-
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Sprache unter der linguistischen Lupe
texte auch klassifizierbar und lassen sich somit durch entsprechende Begriffe wiedergeben, die außersprachliche Situationen über sprachliche Ausdrücke mit assoziiertem Wissen zusammenbacken. Das zentrale Element des Kontextes in einer Sprecher-Hörer-Konstellation ist also sprachlicher Art und wird im Diskurs festgehalten, der sowohl im Sprecher wie Hörer im KZG verwaltet werden muss. Hinzu kommen außersprachliche Umstände und Zutaten aus dem LZG wie ζ. B. (Rahmen)wissen, Partnermodelle oder nicht-kognitive Gegebenheiten wie etwa die Konstitution der Beteiligten. Beträchtlichen Wert hat die Diskursrepräsentation auch für die Auflösung von anaphorischen und deiktischen Ausdrücken wie Pronomen (ICH, SIE, DIES), Komposita (DER HUTJÄGER) oder Kennzeichnungen (DER MANN, DER SEINEN H U T JAGT), die ohne Kontext nicht eindeutig interpretierbar sind.
5.2 Semantik Im letzten Kapitel wurde die Pragmatik als derjenige Teil der Linguistik definiert, der sich mit Sprecher- und kontextabhängigen Aspekten der Bedeutung bzw. des Sinns sprachlicher Ausdrücke bzw. Äußerungen auseinander setzt, wie sie beim Akt des Sprechens direkt gegeben sind oder indirekt zustande kommen. Eine deutliche Abgrenzung des Teilgebiets der Semantik als unabhängig von der Pragmatik ist nicht einfach zu erreichen. Im Großen und Ganzen beschäftigt sich die Semantik ja mit den Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke, also mit den kollektiven Regeln (oder individuellen Regularitäten) ihres Gebrauchs, die das potenziell Sagbare und/oder die wörtliche Bedeutung des Gesagten determinieren. Meint man jedoch, diese als ausschließlich kontextfrei konstruieren zu können, stößt man schnell an Grenzen, denn das Gesagte - die wörtliche Lesart eines Ausdrucks - ist ja bereits geäußert, also im Kontext verankert. Damit ist das nur potenziell mit einem Ausdruck Vermittelbare aber schon realisiert und zunächst auf eine wörtliche Lesart hin fixiert. Da wir uns hier jedoch nicht für das Gemeinte und die Intentionen des Sprechers interessieren, ist das Gesagte bzw. Aussagbare in jedem Falle sprecherunabhängig. Das wörtlich Ausgesagte basiert stets unmittelbar auf der Bedeutung des Ausdrucks, und deshalb werden wir uns hier auch mit jenen kontextbedingten Aspekten von Bedeutungen befassen können, die ohne Spre-
Semantik
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eher- oder Hörerbezug sind. Die Semantik beschreibt also zwar auch die systematisch kontextbezogenen Bedeutungsaspekte, diese sind jedoch frei vom Bezug zu einem Gesprächsteilnehmer.22 Die Pragmatik hingegen ist sowohl als Sprecher- wie auch kontextdeterminiert zu betrachten, da sie sich auch noch für das Gemeinte und Verstandene interessiert, wie es Sprecher und Hörer gedanklich intendieren oder rekonstruieren. Deutlich wird dieses Dilemma der Abgrenzung von Semantik und Pragmatik ζ. B. bei Ausdrücken, die zwar systematische Vieldeutigkeiten aufweisen - wie etwa das Wort S C H U L E in der Lesart als Institution oder Gebäude (ähnlich F I N A N Z A M T , P A R L A M E N T , U N I V E R S I T Ä T u. a.) - , deren tatsächliche Bedeutung bzw. Sinn sich jedoch erst im Redekontext ergibt, und damit auch das referenzierte Objekt - konkret in der Gebäudelesart, abstrakt in der Institutionslesart — erst im Äußerungszusammenhang ermittelt werden kann. Genauso verhält es sich bei Ableitungen auf - U N G wie E R Z I E H U N G , B I L D U N G , P E I L U N G usw., die meist als Prozess oder Ergebniss dieses Prozesses betrachtet werden können - die Erziehung ist das Ergebnis der Erziehung - und damit immerzu zwischen zwei Lesarten pendeln. Ist dies prinzipiell alles noch als sprecherunabhängig konstruierbar, ist der Einsatz deiktischer Ausdrücke, deren Hauptzweck ja im Verweisen auf in der Diskurssituation verankerte Entitäten liegt, ohne Sprecher- und Hörerbezug nicht realisierbar. Daher kann man Referenzphänomene zugleich unter semantischem wie pragmatischem Blickwinkel studieren — was sicherlich Sinn macht. Ähnlich problematisch zuzuordnen sind semantisch-pragmatische Phänomene der figurativen Sprache wie etwa Metaphern: Ihre Interpretation kann zum einen völlig systematisch und kontext- wie sprecherunabhängig sein - ζ. B. Personifizierungen wie M E I N PC S P I N N T H E U T E W I E D E R - , zum anderen aber genauso strikt nur unter ganz speziellen Umständen zum Erfolg fuhren - ζ. B. M E I N PC H A T H E U T E S C H L U C K A U F , wenn damit etwa das andauernde An- und Ausge22
Deutlich wird diese Vorgehensweise z. B. an Wörterbüchern, w o kategorisierte Kontexte (Kontextklassen) die jeweiligen Lesarten von Ausdrücken unterscheiden helfen: BRÜCKE als Bauwerk im Bauwesen (Kontexti), als Einrichtungsobjekt im Hauswesen (Kontext2), als Kommandostand/Landesteg im Schiffswesen (Kontexti), als Zahnersatzkonstruktion in der Medizin (Kontext») usw.
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hen eines Lüfters gemeint ist. Auch in diesen Fällen bereits zeigt sich eine Diskrepanz zwischen Gesagtem und Gemeintem: Man muss gar nicht die Ebene der Indirektheit von Sprechakten betreten — denken Sie an Ironie oder die Drohung in Form einer Warnung um NichtWörtliches aus Wörtlichem zu erhalten. Dafür genügen bereits die genannten figurativen Elemente, die Wörter oder ganze Sätze umfassen können. Dennoch kann man diese zwei Ebenen der Indirektheit bei Sprechakten und Figuration bei Ausdrücken nicht zu einem Phänomen reduzieren: Es kann möglich sein, dass die figurativen Lesarten zuerst vollständig interpretiert werden müssen, bevor ein indirekter Sprechakt überhaupt rekonstruierbar wird: So kann der Ausdruck ICH FÜRCHTE, IHREM PORTABLEN KOPFKINO WIRD GLEICH DER SAFT AUSGEHEN!
einserseits bedeuten, dass ein böser Mensch Ihrer Traumfabrik' (Gehirn) mittels Gewalteinwirkung das Blut (= Saft) entziehen und somit bewusstlos machen will, andererseits mag aber tatsächlich die Batterie Ihres Videohelms mit eingebauten Kopfhörern zur Neige gehen. Ob hier also eine wortreiche indirekte Drohung oder direkte Voraussage/ Warnung vorliegt, hängt lediglich von der wörtlichen oder übertragenen Lesart der Wörter KOPFKINO und SAFT ab, die %uvor anhand des Kontextes entschieden werden muss und auch immer kann. Die Rede vom Gesagten vs. Gemeinten setzt also an zwei Phänomenen an: Zum einen an der Wörtlichkeit vs. Nicht-Wörtlichkeit einzelner Ausdrücke bzw. Äußerungen bezüglich ihrer sprachlichen Bedeutung und damit einhergehend Referenzfixierung (normale vs. figurative Sprache), zum anderen an der Wörtlichkeit vs. Nicht-Wörtlichkeit einzelner Äußerungen hinsichtlich ihrer illokutiven Kraft (direkte vs. indirekte Sprechakte). Dieser unkontrollierbaren Vermengung und wechselseitigen Abhängigkeit ist es zu verdanken, dass Semantik und Pragmatik zwei schwer zu trennende Teilbereiche der Linguistik darstellen, deren zwanghafte Isolierung vielleicht mehr sprachliche Phänomene verschleiern als erhellen hilft.23 Ein damit verbundenes Problem ist die Betrachtungsebene semantischer Eigenschaften sprachlicher Einheiten: Untersucht man sie auf der Ebene des Sprachsystems 23
Man denke an die Diskussionen um das Phänomen der Präsuppositioneti, deren Status als semantische, pragmatische oder vollständig in anderen Phänomenen aufgehende Erscheinung bis heute ungeklärt ist. Wir werden darauf noch kurz zurückkommen.
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einer Einzelsprache (langue, Ε-Sprache) und setzt damit vollständige Kontext- und Sprecherunabhängigkeit voraus, oder versetzt man sich auf die Ebene des individuellen Sprachsystems (Sprachvermögen, ISprache) und hinterfragt kognitiv-semantische Phänomene vor dem Hintergrund der individuellen Kognition eines idealen Sprechers. Aufgrund der oben dargestellten Abgrenzungsproblematik soll hier folgender Weg beschritten werden: In diesem Abschnitt werden systematische, teils kontextbehaftete, aber sprecherunabhängige semantische Eigenschaften von (geäußerten) Ausdrücken untersucht, die sich mit den Gebrauchsgewohnheiten einer Sprecherschaft erklären lassen (ESprache). In den Kapiteln über 'Lexikon' und 'Grammatik' wird dann auch auf individuelle kognitive Aspekte der Semantizität sprachlicher Elemente eingegangen (I-Sprache, Kompetenz). Beide Blickwinkel erscheinen wichtig und notwendig, um den Zusammenhang kollektiver Gebrauchsregeln und individueller Gebrauchsregularitäten von Ausdrücken verständlich zu machen, damit semantische Phänomene erschöpfend beschrieben werden können.24 Beginnen wollen wir hierbei mit der bereits im letzten Abschnitt aufgenommenen Diskussion um das Denotat von Ausdrücken im Gegensatz zum Referenten; ferner werfen wir einen genaueren Blick auf das, was wir als Gebrauchsregel bzw. Bedeutung eines Ausdrucks thematisiert haben; damit einher geht auch die Betrachtung von Propositionen, Prädikat-ArgumentStrukturen sowie der Prädikatenlogik als Darstellungsmittel für Bedeutungen bzw. Inhalte; schließlich behandeln wir noch logische und semantische Relationen zwischen einfachen und/oder komplexeren Ausdrücken. Der Unterscheidung zwischen einem sprachlichen Ausdruck und dem Äußerungsexemplar dieses Ausdrucks entspricht nicht nur grob die Trennung von Semantik und Pragmatik, sondern betrifft auch die Verweisbeziehung zwischen dem Ausdruck bzw. der Äußerung und einer angesprochenen Entität. Wenn wir von Ausdrücken wie Wörtern und Sätzen sprechen, dann ist ja deren Relation zu einem Objekt oder Ereignis die der Denotation, d. h., Wörter oder Sät^e denotieren Entitäten. Die Beziehung der Referenz ist eine Relation zwischen Sprecher und Entität, d. h., Sprecher referieren im konkreten Sprechakt auf ein 24
Genau genommen müsste man hier dann zwischen E- und I-Ausdrücken unterscheiden.
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Element des Kontextes. Daraus folgt auch, dass die Denotationsrelation stabil sowie Sprecher- und kontextunabhängig ist, die Referenzbeziehung spontan und Sprecher- wie kontextbedingt. Der Ausdruck H U N D denotiert immer einen sozusagen 'platonischen' ideellen stereotypen Hund bzw. die Gesamtheit der Hunde - d. h. das, was sich eine Sprecherschaft unter einem Ausdruck Vorstellt' in dem Sinne, was jeder von jedem erwartet, dass er sich darunter vorstellen sollte - , eine Äußerung von H U N D kann indessen nicht nur auf einen tatsächlichen Hund verweisen, sondern damit kann auch die Hundehaftigkeit (d. h. Eigenschaften des Hundseins) auf andere Entitäten übertragen werden, so dass hier ζ. B. auch Personen als H U N D bezeichnet werden können. Dabei ändert sich nun die Denotation des Ausdrucks H U N D nicht, wohl aber weicht seine aktuelle Referenz davon ab. Die Denotation ist durch die Gebrauchsweise eines Wortes (seine Bedeutung) determiniert, die Referenz ergibt sich auf Basis dieser Bedeutung und trägt zum Sinn einer Äußerung bei. Das Denotat kann nicht nur ein ideelles Ding sein, sondern sich auch auf eine Eigenschaft oder ein Ereignis beziehen. Eine Denotation stellt keinen direkten Weltbezug her wie eine entsprechende Referenz; vielmehr beschränkt das Denotat die Reichweite der möglichen Referenzierungen. Zwischen Denotat und Referent muss - wie angeführt - kein direktes Verhältnis bestehen; es ist auch möglich, dass zwischen Denotat und Referenzobjekt ein weiteres Verweisobjekt tritt, das als eine Art von 'Zeiger' verwendet wird, das so genannte Demonstratum (häufig in Zusammenhang mit deiktischer Referenz). In dem Satz W A S H I N G T O N W I L L E I N R A K E T E N A B W E H R S Y S T E M A U F S T E L L E N ist Washington das Demonstratum, das unmittelbar vom Denotat abgeleitet ist, aber das eigentliche Referenzobjekt ist die amerikanische Regierung.25 Ähnlich verhält es sich mit (außersprachlichen Zeigegesten, wenn etwa unter Zuhilfenahme eines Demonstrationsobjekts die tatsächliche Referenz klar gemacht werden soll, ζ. B. sobald an einem Modell der Raumstation
25
In diesem Sinne ist ζ. B. jeder figurative Wortgebrauch durch ein Demonstratum vermittelt, nämlich durch das wörtlich gemeinte bzw. direkt beschriebene Objekt: BRÜCKE als konkretes Bauwerk in der wörtlichen Bedeutung und als abstraktes Verbindungselement in der übertragenen Lesart, abgeleitet aus der Funktion des Bauwerks zur Schließung einer Lücke/Kluft oder Verbindung zweier Elemente.
Semantik
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ISS am Boden durch die Äußerung DORT IST EIN LECK mittels DORT - eventuell begleitet von einer Zeigegeste - indirekt auf den tatsächlichen Ort des Lecks im All aufmerksam gemacht wird. Die Gebrauchsregeln der Ausdrücke ermöglichen nun solche indirekten Bezüge: Sie sind dergestalt, dass zwar durch deren Bedeutung normalerweise ein ganz bestimmtes Objekt damit einhergeht (das Denotat), andererseits jedoch die Praxis der Sprachgemeinschaft Abweichungen zulässt, die genau deswegen leicht zu erkennen sind, weil die Regel verletzt wurde, und dies notwendigerweise zur Reinterpretation einer Äußerung fuhren muss. Somit sind Sprecher und Hörer in der Lage, durch Missachtung der normalen Sprachpraxis - unter Hinzuziehung der Rationalitätsmaximen - wieder mehr zu meinen, als sie sagen. Die Gebrauchsregel für einen Ausdruck bzw. deren kognitives Pendant im Sprecher als individuelle Anwendungsbedingungen (Gebrauchsregularität) kann nicht nur zum Verweis auf Entitäten dienen, sondern umfasst eine Reihe weiterer Aspekte, die allesamt als Teil der Έetriebsanleitung' eines sprachlichen Ausdrucks wie Wort oder Satz angesehen werden können: • Verweis auf eine Entität. Benennung, Hervorhebung, Identifizierung oder Wiederaufnahme einer aus dem Denotat ableitbaren Entität; • Verweis auf die Eigenschaften einer Entität. Generische Referenz oder Klassifikation eines Exemplars; • Konstruktion einer Entität. Erzeugung eines mentalen Bildes (Imagination) einer aus dem Denotat ableitbaren Entität; • Aktivierung eines Begriffs·. Induktion des lexikalischen Konzepts und der entsprechenden Vorstellung im Hörer. Zu Deutsch: Verwende den Ausdruck HUND immer dann, wenn auf einen Hund des gemeinsamen Wahrnehmungsbereichs oder einen gedachten aber existenten Hund der Vorstellung verwiesen werden soll; benutze diesen Ausdruck zudem, um dessen Eigenschaften anzusprechen (d. i. das 'Hundewesen' in genetisch referierenden Ausdrücken wie EIN HUND BELLT oder auch klassifikatorischen Sätzen wie BRUNO IST EIN HUND); gebrauche ihn weiterhin, wenn du real inexistente Hunde mit imaginären Eigenschaften konstruieren willst (ICH STELLE MIR EINEN SPRECHENDEN HUND VOR); setze den Ausdruck HUND ferner dann ein, wenn du im Hörer stereotypes Wissen und/oder die prototypische Vorstellung eines Hundes aktivieren willst. Womöglich gibt es noch einige andere Gebrauchsaspekte.
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Ein (E-)Ausdruck folgt seiner Gebrauchsregel - worunter man die allgemeine Weise verstehen kann, wie man wozu einen Ausdruck benutzt - , und eine Äußerung durch einen Sprecher muss dessen jeweiliger Gebrauchsregularität gehorchen, die in der individuellen Anwendungsfunktion fur den zugehörigen Ί-Ausdruck' in der Sprecherkompetenz gespeichert ist. Die Anwendungsfunktion ist eine material-kognitive Implementierung oder Installierung der immaterial-abstrakten Gebrauchsweise der Sprecherschaft — die sich im besten Fall noch als Interaktionsphänomen manifestiert - und wird im Spracherwerb angeeignet. Die je individuelle Gebrauchsanweisung für einen Ausdruck ist die Voraussetzung zur Herstellung eines Äußerungsexemplars dieses Ausdrucks, wobei der geäußerte Ausdruck im Großen und Ganzen wieder der Gebrauchsweise der Sprechergemeinschaft entspricht, was seinerseits diese Gebrauchsregel bestätigt und 'am Leben erhält'. Kurz und gut: Die Gebrauchsweise eines Ε-Ausdrucks der Sprache X manifestiert sich über den Spracherwerb als individuelle Gebrauchsgewohnheit eines I-Ausdrucks (Kompetenz) eines Idiolekts X n eines Sprechers N, der auf dieser Basis Äußerungsexemplare des Ausdrucks erzeugt, die wiederum X konstituieren. Inhaltswörter wie Nomen, Verben und Adjektive — marginal Präpositionen und Adverbien — weisen alle ähnliche Gebrauchsregeln auf wie das oben beschriebene Nomen HUND. Verben bzw. Präpositionen können beispielsweise dazu benutzt werden, auf Vorgängiges wie Ereignisse, Aktionen, Zustände, Prozesse usw. aktuell oder generischhabituell zu verweisen (HANS RAUCHT GERADE vs. HANS RAUCHT 2 0 ZIGARETTEN PRO TAG) bzw. Relationen zu stiften (MARIA SITZT AUF DEM STUHL); mit Adjektiven wird auf Objekteigenschaften Bezug genommen, mit Adverbien auf Eigenschaften von Vorgängigem. Funktionswörter - alles, was nicht Inhaltswort ist - sind nicht-referenziell; das heißt aber nicht, dass sie ohne Bedeutung sind. Ihre Gebrauchsanleitung sieht nur nicht vor, dass sie via Denotat auf Entitäten Bezug nehmen, also über die Vorstellung im Begriff einen Referenten identifizieren (Deiktika haben schlicht kein Denotat). Vielmehr erfüllen sie einfach funktional-prozedurale Aufgaben: Sie verknüpfen Teilausdrücke (EIS OHNE STIEL) oder ganze Sätze (HANS GLAUBT, DASS MARIA IHN LIEBT), identifizieren Entitäten im Kontext (DIESE FRAU HAT EINEN Μ ANN), quantifizieren bzw. konstruieren Mengen (EINIGE KINDER, FÜNF KINDER) oder kennzeichnen grammatische Merkmale wie
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Kasus oder Plural (DES K l N D E J , DEN KINDERN) usw. Genau das ist nun die Bedeutung von Funktionswörtern und -affixen im Sinne ihrer Verwendung in einer Sprache, und sie sind fiir natürliche Sprachen ja fast wichtiger als Inhaltswörter, denn erst sie konvertieren eine Protosprache in eine 'echte' menschliche Sprache. Die Unterscheidung nach Funktions- und Inhaltswörtern ist nicht nur eine theoretische innerhalb der Linguistik, sondern findet sich so auch in den Gehirnstrukturen und -prozessen wieder, die jene Wörter speichern, abrufen und verarbeiten. Daraus folgt, dass die individuellen Gebrauchsregularitäten eines Ausdrucks in unterschiedlicher Weise an verschiedenen Orten des Gehirns abgelegt sind. Dies wirkt sich dann vor allem bei der gestörten Sprache aus, wenn das Gehirngewebe (partiell) zerstört wurde, und führt bei bestimmten Aphasien u. a. zu protosprachähnlichen Formulierungen, die eher auf die inhaltliche als die formale Seite der Sprachfertigkeit konzentriert sind. Diese Inhaltsseite der Sprache war auch schon immer der traditionelle Gegenstandsbereich der (Sprach)philosophie, Sprachpsychologie oder Psycholinguistik. Hier versucht man, die Bedeutungsaspekte sprachlicher Ausdrücke zu formulieren und vor allem zu formalisieren, um einen Apparat zur Darstellung und 'Berechnung' von Bedeutungen zu gewinnen. Solch ein formales Instrumentarium ist die Prädikatenlogik, die mittels Prädikaten und Argumenten versucht, Bedeutungen anhand von Prädikat-Argument-Strukturen zu formalisieren. Dabei werden zum einen durch Prädikate solche Ausdrücke in ihrer Bedeutung beschrieben, die so genannte Leerstellen (für Argumente) aufweisen, wie etwa Verben oder Präpositionen: Um sie zu 'sättigen', sind ein oder mehrere Argumente notwendig, die die Leerstellen ausfüllen. Ein Beispiel hierfür ist der Satz DER MANN GIBT DER FRAU EIN BUCH: Das Verb GEBEN - ein mögliches Prädikat - verfugt stets über drei offene Argumentstellen, nämlich den Geber (MANN), den Empfanger der Gabe (FRAU), und die Gabe selbst (BUCH), so dass dies in Prädikat-Argument-Schreibweise26 wie folgt dargestellt werden könnte: GEBEN(MANN,FRAU,BUCH) bzw. in allgemeiner Notation mit sichtbaren Leerstellen GEBEN (WER,WEM,WAS). Über Großbuchstaben wird hier angedeutet, dass es sich nicht um Wörter der deutschen Sprache handelt, sondern nur um (lexikalische) Bedeutungsein26
Hier handelt es sich noch nicht um eine prätükatenlogische Schreibweise.
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heiten. Dies zeigt sich auch daran, dass hier von allen formalsprachlichen und einigen funktionalen Aspekten abstrahiert wurde, so ist etwa nicht wiedergegeben, ob es sich um DAS BUCH oder EIN BUCH handelt (hierzu müssten zusätzliche Elemente in die Formel eingefugt werden, wie es die Prädikatenlogik verlangt). Relevant ist hier sozusagen nur der nackte Gehalt auf der Bedeutungsebene der Sprache; die Rückübersetzung des obigen Prädikats mit seinen drei Argumenten in einen sprachlichen Ausdruck könnte auch anders lauten: EIN MANN GIBT DER FRAU DAS BUCH, DER FRAU ΙVIRD VOM MANN EIN BUCH GEGEBEN, DER MANN GIBT DAS BUCH DER FRAU, DER MANN GIBT DAS B U C H AN DIE FRAU
usw. Alle diese Ausdrücke passen zu obiger
Gebrauchsregel. Terme wie GEBEN(X,Y,Z) als isolierte Bedeutungsbeschreibung sind nicht mit Ausdrücken zu verwechseln wie EIN X GIBT EINEM Y EIN Z: Ersteres ist sozusagen die komplexe Gebrauchsregel für einen dafür passenden, aber erst noch zu ermittelnden sprachlichen Ausdruck wie ζ. B. Letzteren. Da wir also nur die Inhaltsseite eines Zeichens vorliegen haben, ist auch gar keines gegeben, denn ein Zeichen ist nur dann ein Zeichen, wenn es sowohl einen Bedeutungs- wie auch Ausdrucksaspekt umfasst: Ein Ausdruck folgt (s)einer Gebrauchsregel. Haben wir also nur eine nackte Bedeutung im Sinne einer komplexen Gebrauchsregel wie GEBEN(MANN,FRAU,BUCH) vorliegen, kann man sich zumindest fragen, welcher Ausdruck einigermaßen auf diese Gebrauchsregel passen würde (ζ. B. DER MANN GIBT DER FRAU EIN BUCH, wenn die einzelnen Gebrauchsregeln für die beteiligten sieben Teilausdrücke lexikalisch gegeben sind). Die Lösung dieses Tuzzles' ist nichts anderes, als außersprachliche Inhalte wie ζ. B. Schmerz über eine Bedeutung - ζ. B. die Gebrauchsregel AU, die uns wissen lässt, dass wir den Ausdruck AUTSCH oder AU(A) dazu benutzen könnten, Schmerzen anzuzeigen - schließlich zu versprachlichen (AUA!). Der umgekehrte Weg, die Formalisierung der Bedeutung eines gegebenen Ausdrucks - was einer Interpretation gleichkommt — ist vergleichbar der Extraktion aller Funktionswörter aus dem Ausdruck, so dass man etwas Protosprachähnliches erhält: Entfernt man von DER MANN GIBT DER FRAU EIN BUCH die Artikel, das Funktionsaffix (3. Person Singular Präsens am Verb) und die Wottfomen, erhält man sofort MANN GEBEN FRAU BUCH. Bei der Prädikatenschreibweise werden Prädikate an den Anfang gestellt und die Prädikatsargumente
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Semantik
in Klammern gesetzt: GEBEN(MANN,FRAU,BUCH). Hiermit sind dann auch zugleich die Abhängigkeiten aller Argumente vom Prädikat aufgezeigt, denn Argumente sind stets die Argumente von einem Prädikat, d. h. dass MANN, FRAU und BUCH von GEBEN abhängen: GEBEN (Χ,Υ,Ζ)
X = MANN
Y = FRAU
Ζ = BUCH
Ähnlich wie bei einer mathematischen Funktion benötigt das Prädikat ein oder mehrere Argumente, um interpretierbar und vollständig zu sein, wobei die Anzahl der Argumente von der spezifischen Bedeutung des Prädikats abhängt. Es existieren ein- bis zu vierstellige Prädikate: • 1-stellig (unär): SCHLAFEN, TANZEN: MARIA SCHLÄFT/TANZT. • 2-stellig (binär)·. S E H E N , F O L G E N : HANS FOLGT/SIEHT EVA. • 3-stellig (trinär)·. S C H E N K E N , S T E L L E N : HANS STELLT DAS BUCH INS REGAL / EVA SCHENKT KURT EIN BUCH.
• 4-stellig (quartär): VERLAGERN:
DIE FIRMA VERLAGERT IHREN
HAUPTSITZ VON MÜNCHEN NACH BERLIN.
Es müssen dabei nicht jeweils sämtliche möglichen Argumente in einem entsprechenden Ausdruck explizit realisiert sein. Oftmals genügt es, nur einen Teil davon wiederzugeben, und den Rest kann man sich aufgrund der Prädikatsbedeutung 'dazudenken' und unspezifiziert lassen, wenn die Information nicht unbedingt notwendig ist oder auch bewusst verborgen werden soll (Ζ. B. DIE FIRMA VERLAGERT IHREN HAUPTSITZ genügt, wobei dann allerdings automatisch impliziert ist, dass es einen Ausgangs- und einen Zielort gibt). Allen einstelligen Prädikaten ist gemeinsam, dass sie ihrem Argument eine Art Eigenschaft zuordnen: HANS IST KLUG oder DER KLUGE HANS ist jeweils als KLUG (HANS) darstellbar. Mehrstellige Prädikate etablieren hingegen eine Relation zwischen ihren Argumenten: HANS LIEBT MARIA bzw. MARIA WIRD VON HANS GELIEBT kann als LIEBEN(HANS,MARIA) umschrieben werden (also eine Art "Beziehung' zwischen den beiden), HANS VERSPRICHT MARIA DIE EHE ist über VERSPRECHEN(HANS,MARIA,EHE) formalisierbar und beschreibt ebenfalls eine Relation zwischen den Argumenten. Somit sind
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neben einstelligen Verben wie SCHLAFEN oder LACHEN auch Adjektive (meist) als einstellige Prädikate anzusehen (vgl. das KLUG-Beispiel oben). Ebenso gilt für Präpositionen, dass sie Argumentstellen eröffnen: MIT(MANN,HUT) könnte als (EIN/DER) M A N N MIT (DEM/EINEM) HUT ausgedrückt werden. Schließlich sind auch bestimmte Nomen als mehrstellig zu betrachten: VATER-VON(HANS,EVA) oder KONKURRENZ-ZWISCHEN(FRANZ,HANS) mag ζ. B. als H A N S (IST [DER]) VATER VON E V A b z w . (DIE) KONKURRENZ ZWISCHEN
dargestellt werden.27 Nomen werden - unter Berücksichtigung der gerade beschriebenen Ausnahmen - meist auf Argumente abgebildet; Verben, Adjektive, Präpositionen wie auch einige Funktionswörter auf Prädikate. Jedoch kann jeder (vollständige) Prädikat-Argument-Komplex seinerseits wieder als Argument fungieren: DENKEN(EVA,SEIN(AN (MANN,STEUER),UNGEHEUER)).28 Wenn einzelne Gebrauchsregeln von Ausdrücken zu einer komplexen Bedeutung verknüpft werden, so wird dabei die Denotationsmenge der Einzelausdrücke, die durch die Gebrauchsweise determiniert ist, sukzessive minimiert: Denotiert MANN noch die Klasse aller Männer (bzw. den stereotypen Mann oder die TvTannheit'), so denotiert JUNG(MANN) nur noch die Klasse aller jungen Männer, und SCHLAFEN(JUNG(MANN)) schließlich schränkt diese Klasse noch weiter ein. Je komplexer also die Gebrauchsregel wird, desto spezifischer ist normalerweise die Denotation; die Komplexion von Bedeutungen kann nur über Prädikate (bzw. Prädizierung) geschehen, und dies ist ein Aspekt der Gebrauchsweise solcher Elemente: Sie benötigen Argumente zu ihrer Vollständigkeit, und dies wird durch die Gebrauchsregel festgelegt. Es ist sozusagen deren Bedeutungsnatur, dass sie Eigenschaften oder Relationen ausdrücken können. Unterschlagen wurden hierbei aber weitgehend solche Prädikate, die weniger Argumenten Eigenschaften zuweisen oder Relationen zwischen ihnen stiften, sondern mehr funktional und/oder prozedural zu interpretieren sind und ähnlich einer mathematischen Funktion Argumente aufnehmen, um diese zu verarbeiten. Dies betrifft beispielsweise die Artikel (Determinierer) wie EIN oder DER, deren Bedeutung die KonstruktiFRANZ (UND) H A N S
27 28
Es müssen dabei keine vollständigen Sätze entstehen. Die Interpretation dieser Bedeutungsbeschreibung und ihre Umsetzung in einen passenden Ausdruck überlasse ich dem Leser.
Semantik
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on oder Identifikation einer Entität im Kontext ist. Somit könnte der Ausdruck D E R MANN SIEHT DIE FRAU - statt die Funktionswörter zu entfernen - ebenso über SEHEN(IDENT(MANN),IDENT(FRAU)) formalisiert werden, wobei IDENT die Identifizierungsfunktion darstellt, die einen spezifischen Mann oder eine bestimmte Frau im Kontext identifiziert. Da ja auch Funktionswörter Bedeutung haben (ζ. B. eben IDENT), wäre deren Einbeziehung in eine Prädikat-ArgumentDarstellung ebenfalls wünschenswert, auch im Hinblick auf die Ermittlung eines korrespondierenden sprachlichen Ausdrucks. Da man aber zumeist nur die reine Inhaltsseite von Ausdrücken formalisieren will — sozusagen eine 'Inhaltsangabe' aufstellen möchte - , die vor allem durch die Inhaltswörter gegeben ist, lässt man diese meist weg in dem Wissen, dass der Linguist sie jederzeit 'dazuinterpreüeren' könnte. Ein alternativer Weg - ζ. B. auch bezüglich der Determinierung von Ausdrücken über Artikel - wird durch die Prädikatenlogik aufgezeigt, die hierfür strengere Formalisierungen vorsieht. Der Schritt nun von reinen Prädikat-Argument-Strukturen, die hier nur zur illustrativen Darstellung von Bedeutungen und Bedeutungszusammenhängen eingesetzt wurden, zur Prädikatenlogik bedarf einiger Erweiterungen und Präzisierungen: Es gelten hier zusätzlich bestimmte Restriktionen im Hinblick auf die Wohlgeformtheit prädikatenlogischer Terme. So ist es beispielsweise nicht möglich, einfach Terrae der Form GEBEN (MANN,FRAU,BUCH) zu formulieren, da alle Argumente existente Individuen oder Dinge sein müssen, denen man einen Eigennamen zuschreiben kann - korrekt wäre deshalb ζ. B. ein Term wie LIEBEN(HANS,MARIA), weil HANS und MARIA existente Individuen benennen. Natürlich kann man auch in der Prädikatenlogik Ausdrücke der obigen Art konstruieren; dies hat jedoch in einer formal ganz bestimmten Weise zu geschehen. Hierfür werden Variablen eingeführt, die Stellvertreter für Individuen sind - ähnlich wieder wie in der Mathematik und die dann mittels Qualifikation gebunden (spezifiziert) werden müssen. Die folgende prädikatenlogische Formel - die obiger Prädikai-Argumeni-Straktui GEBEN (...) gleichkommt — gibt einen Ausblick auf die Möglichkeiten der Prädikatenlogik: 3x 3y 3z [Mann(x) & Frau(y) & Buch(z) & Geben(x,y,z)p 29
Hier werden Prädikate großgeschrieben (oft auch nur mit dem Anfangsbuchstaben abgekürzt) und Individuen (variablen) klein (meist ebenfalls abgekürzt).
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Sprache unter der linguistischen Lupe
Diese Formel liest sich wie folgt: *Es existiert ein x, ein y und ein z, so dass gilt: Dieses χ ist ein Mann, das y eine Frau und das ζ ein Buch und zugleich ist eine Relation des Gebens zwischen x, y und ζ etabliert'. Das gedrehte Ε (3) ist dabei zu lesen als 'Es gibt (mindestens) ein' und folglich heißt 3x *Es gibt ein x, für das gilt: ...'; das & ist die Konjunktion. Was genau gilt, ist noch weiter zu spezifizieren, d. h., χ muss tatsächlich rechts des 3x nochmal auftauchen. 3 nennt man den Existenzquantor. Ebenso muss das χ gebunden sein, d. h. zumindest vom Existenzquantor abgesichert werden; man wüsste sonst gar nicht, wie man χ genau zu interpretieren hätte, denn es existiert noch ein weiterer Quantor — der Allquantor - der nicht einzelne Individuen 'erzeugt', sondern auf die Gesamtheit der angesprochenen Entitäten Bezug nimmt: Vx [Mensch(x) [Mann(x) ν Frau(x)]] Diese Formel kann interpretiert werden als: 'Für alle χ gilt: Falls χ ein Mensch ist, dann ist χ entweder ein Mann oder eine Frau'. Das umgekehrte A (V) stellt den Allquantor dar, der allen Dingen χ eine Eigenschaft zuweist bzw. alle x-e in Beziehungen setzt. Der Pfeil ist die logische Implikation30 und heißt umgangssprachlich in etwa so viel wie Wenn/Falls ... dann ...', das offene ν bedeutet 'oder' (Disjunktion). Für die Verknüpfung 'und' haben wir oben das leichter merkbare und oft verwendete & eingesetzt: Dies wird aber in Analogie zu ν auch als Λ geschrieben (zu), was wir von nun an beibehalten wollen. Man kann also durch den Existenz- wie Allquantor prädikatenlogische Aussagen über nur einzelne Gegenstände oder die Gesamtheit der beschriebenen Gegenstände formulieren. Zu den genannten Verknüpfungen v, Λ und ->, die weitgehend den normalsprachlichen Ausdrücken 'oder', 'und' sowie 'wenn ... dann ...' entsprechen, kommen zwei weitere gebräuchliche logische Operatoren hinzu: s (oder auch ) und -i, die so viel heißen wie 'genau dann wenn' bzw. 'nicht'. Der erste Operator ist aus der logischen Implikation -> herleitbar: Α = Β oder A Β entspricht [A Β] λ [Β -> Α], was in Umgangssprache etwa als Wenn aus Α Β folgt und aus Β auch A, dann und nur dann sind Α und Β äquivalent umschrieben werden kann. Ein Beispiel hierfür wäre:
30
Diese Art der Implizierung bzw. Implikation hat nur am Rande etwas mit der innerhalb der Pragmatik verwendeten Implikation bzw. Implikatur zu tun.
Semantik
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3x [Apfelsine(x) = Orange(x)] (A=Apfelsine(x), B=Orange(x)) Interpretiert: Έβ existiert ein x, so dass gilt: χ ist eine Apfelsine genau dann wenn χ (auch) eine Orange ist'. Analog könnte man schreiben: 3x [[Apfelsine(x) -» Orange(x)] A [Orange(x) -> Apfelsine(x)]] In Worten: 'Es existiert ein x, so dass gilt: Wenn χ eine Apfelsine ist, dann ist χ auch eine Orange, und wenn χ eine Orange ist, dann ist χ auch eine Apfelsine. Aus 3x [Hund(x) -> Tier(x)] folgt im Übrigen ja beispielsweise nicht, dass auch 3x (Tier(x) -> Hund(x)] gilt, so dass die Äquivalenz-Beziehung = hier nicht gegeben ist. Der Operator -ι schließlich dient der Negation von prädikatenlogischen Termen, so dass auch Verneinungen darstellbar werden: Vx [Mann(x) Frau(x)] Das heißt so viel wie 'Für alle χ gilt: Wenn χ ein Mann ist, dann ist χ nicht eine (keine) Frau'. Formal korrekt könnte man hier zwar auch schreiben Vx [Mann(x) Λ Frau(x)], damit behauptet man jedoch zwei unabhängige Sachverhalte - vor allem die Tatsache, dass jedes χ ein Mann sei (was ja falsch ist) — und bedingt nicht das Zweite durch das Erste wie in der Implikationsformel. Bei der Allquantifikation (= Allquantifizierung) muss man deshalb auf die richtige Formalisierung achten, wie im Satz ALLE FRANZOSEN LIEBEN EINE FRAU (vgl. auch allerersten Allsatz oben): Vx 3y [Franzose(x) [Frau(y) Λ Lieben(x,y)]] Das meint: 'Für alle χ gilt: Wenn χ ein Franzose ist, dann gibt es (je) eine Frau y, die χ liebt'. Falsch indes wäre eben (wie im Männer-Frauen-Beispiel oben): Vx 3y [Franzose(x) Λ Frau(y) A Lieben(x,y)] denn das lässt sich auch ausdrücken als 'Alle χ sind Franzosen und es gibt (je) eine Frau y und alle χ lieben y', was jedoch dem intendierten Sinn, dass nur alle Franzosen — und nicht alle überhaupt existierenden Dinge x, von denen behauptet wird, dass sie sämtlich Franzosen sind (es gibt auch noch andere Dinge als nur Franzosen) - eine Frau y lieben, widerspricht. Langsam können wir uns auch an das Franzosen-Beispiel vom Beginn dieses Buches heranwagen, wo es heißt: ALLE FRANZOSEN LIEBEN EIN MÄDCHEN. Dieser Satz ist aber hochgradig ambig, und die
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Sprache unter der linguistischen Lupe
Prädikatenlogik ist zumindest imstande, einen Teil dieser Ambiguität - nämlich die. grammatikalische - darzustellen und aufzulösen: ALLE FRANZOSEN LIEBEN JEWEILS (IRGENDEIN MÄDCHEN.
Vx 3y [Franzose(x) |Mädchen(y) A Lieben(x,y)]] Vx [Franzose(x) 3y [Mädchen(y) A Lieben(x,y)]]
oder alternativ
Interpretiert: 'Für alle χ gilt: Wenn χ ein Franzose ist, dann existiert auch jeweils (irgend)ein Mädchen y, das das jeweilige χ liebt'. ALLE FRANZOSEN LIEBEN (IRGENDEIN EINZIGES MÄDCHEN.
3y Vx (Franzose(x) - » [Mädchen(y) Λ Lieben(x,y)]] 3y [Vx [Franzose(x) -> [Mädchen(y) A Lieben(x,y)]]]
oder alternativ
Interpretiert: 'Es existiert ein y, so dass gilt: Für alle χ gilt: Wenn χ ein Franzose ist, dann ist y (irgendein einiges Mädchen, das das jeweilige χ liebt'. Der Unterschied der Lesarten ergibt sich und spiegelt sich wider durch die Stellung der Quantoren: Im ersten Fall bezieht sich der Aliquanter sozusagen jedes Mal wieder auf den Existenzquantor (für jedes χ ein neues y), so dass jeder Franzose ein anderes Mädchen liebt; im zweiten Fall ist dies nicht so, und daher existiert in der Tat nur ein einziges y, das ein Mädchen ist und von allen Franzosen geliebt wird. Die Stellung der Quantoren bestimmt somit die Reichweite des Quantors, d. i. sein Wirkungs- und Bindungsbereich; dies nennt man Skopus. Was in der Prädikatenlogik jedoch nicht dargestellt werden kann, ist die lexikalische Bedeutungsambiguität von EIN als Zahlwort im Gegensatz zum indefiniten Artikel; dies wird hier einfach gleichgesetzt. Durch die Verneinung lassen sich auch noch andere Quantifikationen (d. h. Mengenbeschreibungen) als EIN oder ALLE herstellen: NICHT ALLE MÄNNER RAUCHEN. = MIND, EIN M A N N RAUCHT NICHT.
-I Vx [Mann(x) -> Rauchen(x)] = 3x (Mann(x) Λ -I Rauchen(x)] KEINE FRAU RAUCHT, S ALLE FRAUEN RAUCHEN NICHT.
-I 3x [Frau(x) Λ Rauchen(x)] Ξ Vx [Frau(x) -> -I Rauchen(x)] Für Dinge mit (Eigen)namen muss kein (Existenz)quantor und somit auch keine Quantifizierung verwendet werden, da Individuen bereits als existente £/«heit gegeben sind, und somit keine Variable als Stellvertreter für eine Gesamtheit zu stehen braucht: HANS RAUCHT EINE ZIGARRE.
3x [Zigarre(x) Λ Rauchen(hans,x)]
MARIA ZEIGT HANS PARIS.
Zeigen(maria,hans,paris)
Semantik
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Für die Allquantifikation gilt, dass jeder Entität χ ein Prädikat zuerkannt wird, woraus folgt, dass dadurch keine genetische Referenz vorliegt: ALLE MENSCHEN HABEN ZWEI BEINE. (Faktum über Welt: falsch) MENSCHEN HABEN ZWEI BEINE, (stereotype Überzeugung: wahr) Die Allquantifizierung sorgt gerade dafür, dass wir mit einzelnen Elementen hantieren, und es nicht mit nur einem genetischen Typ zu tun haben. Die Prädikatenlogik ist zwar ein rigides formales Instrumentarium zur Formalisierung natürlicher Sprache, sie kann jedoch gerade wegen ihrer Striktheit bestimmte Ambiguitäten oder begriffliche Vagheiten nicht mit einbeziehen, da die natürliche Sprache geradezu das Gegenteil eines streng formalen Systems darstellt. Gleichwohl kann man mit dem unspezifischeren Instrumentarium einfacher Prädikat-ArgumentStrukturen, die ja viel weniger formal sind als prädikatenlogische Terme, sprachliche Bedeutungen zu erfassen versuchen. Man ist dadurch nicht nur imstande, die Abhängigkeiten zwischen den (semantischen) Elementen in einem Ausdruck aufzuzeigen, man erhält damit auch eine Möglichkeit, zugleich Inhalts- wie Funktionswörter in die Bedeutungsrepräsentation mit einzubringen (ζ. B. fallen in der Prädikatenlogik die (unbestimmten Determinierungen als prädikatähnliche Konstruktionen heraus, da sie im Existenzquantor landen). Es ist durchaus sinnvoll, Bedeutungen unabhängig von Ausdrucksaspekten zu untersuchen, weil hierdurch die gemeinsame Bedeutung verwandter Ausdrücke auch auf ein gemeinsames Format zurückgeführt werden kann; zudem werden wir später sehen, dass die Bedeutungen von Wörtern und Sätzen in systematischer Beziehung zueinander stehen. Die folgenden verwandten Sätze beinhalten nach allgemeiner Auffassung jedoch alle einen gemeinsamen Bedeutungskern: (Aussage) (Aussage) (Frage) (Wunsch) (Forderung) Der hierbei allen Ausdrücken zugrunde liegende Bedeutungskomplex ist GEBEN(HANS,EVA,BUCH). Aus den obigen Sätzen wurden lediglich die sprechaktspezifischen Elemente herausgekürzt, und übrig • HANS GIBT EVA EIN BUCH. • EVA WIRD VON HANS EIN BUCH GEGEBEN. • GIBT HANS EVA EIN BUCH? • So MÖGE HANS EVA EIN BUCH GEBEN! • HANS SOLL/MUSS EVA EIN BUCH GEBEN!
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Sprache unter der linguistischen Lupe
blieb der propositionale Bedeutungskern, der sich unter Zuhilfenahme der obigen Prädikat-Argument-Struktur darstellen lässt. Eine Proposition wurde bereits als sprachliche Wiedergabe eines Konzept(komplexe)s oder gar Gedankens definiert. Da wir uns hier aber auf der Ebene der 'langue' bewegen und gerade nicht die Prozesse im Gehirn untersuchen wollen (Konzepte und Gedanken sind mentale Einheiten), betrachten wir Propositionen einfach als Bedeutungsbeschreibungen, die komplexere Gebrauchsregeln wiedergeben. Propositionen umfassen hierbei all diejenigen Bedeutungsaspekte eines Ausdrucks, auf deren Basis ihre Wahr- oder Falschheit ergründet werden kann. D i e meisten Propositionen aber sind hinsichtlich ihres Wahrheitswertes nicht o h n e entsprechenden K o n t e x t bestimmbar: D i e propositionale Darstellung des Ausdrucks DER REGIERENDE KÖNIG VON SCHWEDEN IST KAHL könnte beispielsweise durch die Struktur
KAHL(IDENT(REGIEREND (SCHWEDEN-KÖNIG))) repräsentiert werden.31 Diese Proposition - die einen Sachverhalt ausdrückt, der alleinig wahr oder falsch sein kann - ist jedoch nur zu einem ganz bestimmten AußerungszziX$vmkt wahr, ohne Kontext ist deren Wahrheitsgehalt nicht fesdegbar. Nur für analytisch wahre Ausdrücke gilt, dass sie immer wahr sind, ζ. B. EINE LINIE IST GERADE ODER NICHT oder EIN DREIECK HAT DREI WINKEL. Derartige Sätze enthalten allerdings keinerlei neue Informationen, denn das Prädikat (HAT DREI WINKEL) ist semantisch bereits im Subjekt (EIN DREIECK) enthalten.32 Synthetisch wahre Sätze hingegen sind stets nur durch zusätzliche Kontextinformationen (empirische Fakten) als wahr oder falsch einzustufen, wie etwa der obige Königssatz.33 Überhaupt nicht bestimmbar hinsichtlich ihrer Wahr- oder Falschheit sind Urteile oder Meinungen wie REGENSBURG IST EINE SCHÖNE STADT und ICH MEINE, BENZIN IST NOCH ZU BILLIG. Ihre Wahr- bzw. Falschheit ist bestenfalls subjektiv und damit personen- wie zeitgebunden feststellbar, da die persönliche Meinung ja variieren kann (vgl. auch halb volles vs. leeres Glas). Es kommt noch hinzu, dass außer behauptenden asser31
32 33
Eine prädikatenlogische Darstellung wäre hier wesentlich sinnvoller, aber zur Verdeutlichung sollte dies genügen. Der erste Satz ist stets wahr aufgrund seiner Satzform Ρ ν -.P. Hier erkennt man auch wieder die Zeit- und Kontextlosigkeit von Ausdrücken gegenüber Äußerungen.
Semantik
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tiven Sprechakten keinen Äußerungen Wahrheitswerte zugesprochen werden können, obwohl viele Sprechakte einen propositionalen Kern besitzen (kursiv), auf den sich die illokutive Kraft bezieht: ICH WETTE MIT DIR, DASS HANS EVA BETRÜGT. Der propositionale Kern einer solchen Aussage wird im Dass-Satz wiedergegeben, und diesem kann unter geeigneten Umständen ein Wahrheitswert zugewiesen werden, aber nicht der gesamten Aussage, denn ein Wettangebot ist nicht hinsichtlich seiner Wahrheit evaluierbar. Eine Beleidigung wie TROTTEL! hat überhaupt keinen propositionalen Gehalt und ist damit auch gegenüber einer Wahrheitswertzuweisung immun. Auch die so genannten propositionalen Einstellungen wie ICH VERMUTE, DASS Ρ oder ICH GLAUBE/WEIß/MEINE, DASS Ρ (mit Ρ als beliebiger Proposition) entziehen sich einem vernünftigen Wahrheitsurteil. Trotzdem wurde in der formalen Semantik stets versucht, die Bedeutung von Ausdrücken bzw. Äußerungen auf deren Wahrheitsbedingungen in bestimmten Kontexten zurückzuführen. Um aber auch die genannten Schwierigkeiten wie Subjektivität, Zeit- und Weltabhängigkeit der Bedeutung von Aussagen auf der Basis eines wahrheitsbegründeten Rahmens beschreiben zu können, sind umfangreichere Erweiterungen notwendig, denen wir hier nicht nachgehen können. Interessanter und einfacher hingegen sind semantische Relationen zwischen den Ausdrücken zu beschreiben. In der Prädikatenlogik haben wir festgestellt, dass man für ein und denselben Inhalt zwei verschiedene Terme und Sätze formulieren kann (P war die Frau und Q das Rauchen): Vx [P(x) - Q(x)] ^ 3x [P(x) a Q(x)] Der Operator Ξ stellt dabei eine Relation zwischen den beiden Termen her, nämlich die der Äquivalenz: Beide Terme sind prädikatenformal ineinander umwandelbar, und jede Seite wird unter den gleichen Bedingungen wahr. Semantisch besteht hier die Relation der Synonymie, da beide prädikatenlogischen Formeln links und rechts des Äquivalenzoperators die gleiche Bedeutung aulweisen: ALLE FRAUEN RAUCHEN NICHT heißt so viel wie KEINE FRAU RAUCHT. Synonymie kann aber nicht nur für Sätze definiert werden — was man dann eher als Paraphrase bezeichnet —, sondern auch für einzelne Wörter, wie oben ebenfalls bereits gezeigt wurde: APFELSINE und ORANGE. Sie braucht auch nicht unbedingt als kontexfreie Relation zwischen zwei
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Sprache unter der linguistischen Lupe
bedeututigsglcichen Ausdrücken gesehen zu werden, sondern ihre Stnngleichheit kann sich erst im aktuellen Ko(n)text einer Äußerung ergeben: SEIN TOD/ABLEBEN WAR SEHR SCHMERZLICH ist völlig in Ordnung, nicht jedoch DER TOD / ?? DAS ABLEBEN IST EIN MYSTERIUM. Ohne Rekurs auf den Ko(n)text indes kann die bereits als Bestandteil der prädikatenlogischen Definition der Äquivalenz (bzw. Synonymie) verwendete Relation der logischen Implikation definiert werden: In allen Kontexten, in denen eine Aussage Α gilt, gilt ebenso Β (immer wenn Α wahr ist, ist auch Β wahr). Aus dem Ausdruck FLFFI IST EIN HUND folgt logisch FIFFI IST EIN TIER, d. h., der erste Satz impliziert den zweiten, wobei das umgekehrte Verhältnis - dies wäre ja wieder Äquivalenz - bzw. dessen Verneinung gerade nicht gilt. Die Implikationsrelation zwischen beiden Sätzen wird ausgelöst durch die Wörter HUND und TIER, die selbst durch eine Art Implikation miteinander verbunden sind: Was ein Hund ist, ist automatisch auch ein Tier (aber eben nicht umgekehrt). Die Relation zwischen solchen Begriffen wird Hyponymie bzw. Hyperonymie genannt, je nach Standpunkt: TIER ist Hyperonym (Oberbegriff) zu HUND, und HUND ist Hyponym (Unterbegriff) zu TLER. Sämtliche Eigenschaften, die auf ein Tier zutreffen, gelten ebenso für einen Hund zu. Kohyponymie ist die Relation zwischen zwei Begriffen, die dasselbe direkte Hyperonym aufweisen, also beispielsweise SÄUGETIER und REPTIL als Hyponyme von TLER, oder HUND und KATZE als Hyponyme fur SÄUGETIER. Begriffsanordnungen solcher Art bilden Taxonomien (Begriffshierarchien), die — ausgehend vom allgemeinsten Element — baumartig immer spezifischere Bedeutungen erlangen: ENTITÄT DING LEBEWESEN 'Mind, ein Ρ Qt'
Kontradiktion Kontradiktion 3x [P(x) Λ Q(x)] vs. 3x Ledig(x) vs. - 3x [P(x) Λ Q(x)] 3x Verheirat.(x)
Komplementarität Komplementarität Έίη Ρ Qt' vs. LEDIG vs. 'Kein Ρ Qt' VERHEIRATET
Kontrarietät Vx [P(x) -» Q(x)] vs.
Kontrarietät 'Alle Ps Qen' vs. 'Kein Ρ Qt'
Kontrar:/Kohypon. ALT vs. AAL vs. JUNG HECHT
Konversität Ά liegt auf B' vs. Έ liegt unter A'
Konversität BESITZEN vs. GEHÖREN
Reversität Ά betritt B' vs. Ά verlässt Β'
Reversität FÜLLEN vs. LEEREN
^3X[P(X)AQ(X)]
Kontrarietät 3x Alt(x) vs. 3xjung(x)
+ + + + + +
Legende: * Kompatibilität + Inkompatibilität
Begriffe finden dabei in Taxonomien und Meronomien zusammen: Ausdruck ι—Lexem ι—Morphem^—Affix ^^—Präfix -Suffix "Circumfix v Infix l einfache(r) Wurzel/Stamm lexikalisches einfaches Wort Komplex^— lexikalisch-komplexer Stamm γ- lexikalisch-komplexes Wort ^ idiomatische Wendung I Gram(flektiertes/komplexes) Wort mem Phrase (strukturierte Wortgruppe) ' Klausel (Teil-/Nebensatz) 'Satz
158 Wissenschaftliche Arbeit
Sprache unter der linguistischen Lupe
Vorwort Hauptteil
Einleitung Inhalt Kapitel 1 r-Absatz 1 r- Satz 1 Satz k Absatz m
Anhang
Literatur
Kapitel η
In der Tabelle oben wurde für eine sprachliche Implikation ein neuer Terminus benutzt: das (engl.) Entailment. Es ist nicht formal, sondern inhaltlich definiert und bezieht sich somit mehr auf Propositionen als auf prädikatenlogische (Satz)formen.36 So resultieren ζ. B. aus der Proposition VERHEIRATET(HANS,MARIA) die Propositionen EHEPAAR(HANS,MARIA) sowie K E N N E N (HANS,MARIA) und viele andere, die per semantischer Schlussfolgerung miteinander verbunden sind. Kurz und gut: Entailment liegt dann vor, wenn in jeder Situation, in der eine Proposition Α wahr ist, auch Β wahr ist (wie im Beispiel oben). Anders verhält es sich bei der Relation der Presupposition: Die zugrunde liegende Proposition muss nicht zwingend wahr sein, damit eine Präsupposition gültig ist. Ihr charakteristisches Merkmal ist nämlich, dass sie auch bei der Verneinung des Satzes erhalten bleibt: HANS LEBT IN REGENSBURG p r ä s u p p o n i e r t HANS EXISTIERT UND IST EIN MANN; aber auch die V e r n e i n u n g HANS LEBT NICHT IN
REGENSBURG hat dieselbe Präsupposition. Präsuppositionen sind ein Problem der Linguistik, denn sie sind nicht immer kontextunabhän-
gig: T O N I LIEBT MARIA (NICHT) p r ä s u p p o n i e r t , je n a c h d e m , o b T o n i
auf einen Mann oder eine Frau referiert, beispielsweise TONLFRAU IST LESBISCH/HOMOSEXUELL b z w . TONlMann IST HETEROSEXUELL. 3 7
36
37
Der Begriff des Entailments wird in der Linguistik sehr uneinheitlich verwendet: Er bedeutet etwa 'das Zur-Folge-Haben' (Folgerung, Folgern). Alle formalen Implikationen sind oft auch Entailments, aber eben nicht immer und nicht unbedingt umgekehrt. Man könnte im ersteren Fall ja argumentieren, dass, wenn ToniFrau Maria nicht liebt, sie auch nicht homosexuell ist. Dann würde man eine solche Aussage je-
Syntax und Morphologie
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5.3 Syntax und Morphologie Nach Semantik und Pragmatik wollen wir uns hier mit dem dritten großen Gegenstandsbereich der Linguistik beschäftigen: mit Morphologie und Syntax (oft auch: Morphosyntax). Ersteres befasst sich mit den Regeln zur Analyse oder Synthese von Wörtern aus Morphemen, Letzteres mit den Regelhaftigkeiten der Interpretation und Konstruktion von Sätzen aus Wörtern. Die kleinste Einheit der Morphologie ist dabei das Morphem (Stamm oder Affix), die größte das Wort, das dann als Eingabe für die Syntax dient. Analog ist für die Syntax die kleinste Einheit das Wort und die größte der Satz. In beiden Fällen existieren auch jeweils Komplexitätsebenen dazwischen, auf die wir später zurückkommen werden. Sinn der Untersuchung der Struktur von Wörtern und Sätzen ist zum einen die Klärung der Frage, nach welchen Gesetzmäßigkeiten beispielsweise im Deutschen Wörter und Sätze aufgebaut sind und ob hierbei gar Gemeinsamkeiten zwischen Wort- und Satzaufbau beobachtet werden können; zum anderen gilt es herauszufinden, wie ein kompetenter Sprecher fähig ist, mit seinem begrenzten Inventar von Morphemen und Wörtern prinzipiell unendlich viele neue Wörter und Sätze generieren zu können (Generativität). Zugrunde gelegt bei der Untersuchung von morphologischen und syntaktischen Phänomenen ist in jedem Falle, dass die Kompetenz eines Sprechers hinsichtlich seiner Wort- und Satzbildungfähigkeiten38 eine von allen anderen (außersprachlichen Modalitäten abgrenzbare Fertigkeit darstellt, so dass hier von Bedeutungs- und Kommunikationsaspekten (also Semantik und Pragmatik) abgesehen werden kann. Diese (Teil)kompetenzen exkludieren somit sämtliche anderen kognitiven Faktoren — Gedächtnis, Konzentration usw. — und versuchen, den Performanz-'Schmutz' herauszulösen, um sich auf das reine individuelle bzw. überindividuelle Sprachsystem konzentrieren zu können (I-Sprache vs. Ε-Sprache), in dem die Regelhaftigkeiten kontextfrei zu
38
doch nicht machen. IVeil man sie aber macht, set^t man gerade voraus, dass sie homosexuell ist, sonst wäre diese Behauptung nicht sehr rational und würde dem Prinzip der Relevanz widersprechen. Im Folgenden werden wir uns vor allem auf die Synthese von Wörtern und Sätzen beschränken; es ist vorausgesetzt, dass deren Analyse mit dem gleichen formalen Instrumentarium vonstatten gehen kann.
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Sprache unter der linguistischen Lupe
formulieren sind.39 Dies ist sicher ein starke Idealisierung und es stellt sich die Frage, ob die gänzlich bedeutungs- und kontextfreie Betrachtung morphologischer und syntaktischer Phänomene nicht -wieder zu Reduktionen der linguistischen Beschreibung fuhrt, die wichtige Faktoren ausschließt: Das Morphem wurde ja als die kleinste bedeutungstragende Einheit definiert - entweder hinsichtlich seines Inhalts oder seiner Funktion — und damit u. a. semantisch hergeleitet. Das Absehen hiervon erlaubt in der Morphologie etwa die Generierung solch unsinniger Wörter wie *STERBUNG oder *ΤΘΤΗΕΓΓ, wobei das -UNG bzw. -HEIT-Derivationsmorphem rein formal-morphologisch korrekt (Verb plus -UNG, Adjektiv plus -HEIT), morphosemantisch hingegen zumindest abweichend angewendet wurde. Ähnliches gilt für die Synt a x : ZAHNHAFTE TASTATUREN VEGETIEREN MITTELS DER WELTLO-
ist ein grauenhaft uninterpretierbarer Ausdruck, jedoch 'morphologisch' und 'syntaktisch' vollkommen in Ordnung. Man lässt sich hier also ganz bewusst darauf ein, dass auch Unsinniges der Kompetenz eines Sprechers bezüglich Wort- und Satzbildung entspringen kann (wie ich es soeben mehrfach demonstriert habe!).40 Gleichwohl muss hierbei ein gewisses Unbehagen erlaubt sein, denn die 'gewaltsame' Zerstückelung des linguistischen Gegenstandsbereichs - nämlich der Sprache als facettenreichen Gesamtsystems zum Zwecke der linguistischen Theoriebildung und Modellformulierung ist genau das, was diese Gesamtheit gerade zerstört. Trotz der engen Interaktion von Morphologie und Syntax werden wir nach einem Blick auf deren Gemeinsamkeiten getrennte Wege gehen und dabei morphologische sowie syntaktische Phänomene eigenständig diskutieren. Zunächst wollen wir jedoch eine Reihe gemeinsamer Strukturen und Prozesse diskutieren, nämlich die hierarchische Struktur der Wörter und Sätze, ihre Darstellung in Form von Baumdiagrammen oder Klammerungssequenzen (= indizierte Klammerung), die anhand von Phrasenstrukturregeln (PS-Regeln) und Merkmalstrukturen (Attribut-Wert-Matrizen) durch Parsing herSESTEN HÖLZERLACHER
39 40
Das ist des Linguisten liebster Umstand. Die Betrachtung von morphologischen und syntaktischen Strukturen und Prozessen, bei denen auch der Ausdrucks- und Bedeutungsaspekt (d. i. Phonologie und Semantik) eine Rolle spielen, erfolgt in späteren Kapiteln über Lexikon und Grammatik.
Syntax und Morphologie
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geleitet werden können, sowie auch die Kategorialität und Köpfigkeit morphologischer wie syntaktischer Einheiten. Schließlich werden die jeweils für Morphologie und Syntax relevanten Kategorien vorgestellt und die Prozesse diskutiert, die zur Bildung komplexerer Einheiten dienen bzw. eine Relation zwischen solchen Bestandteilen anzeigen: Innerhalb der Morphologie sind dies vor allem Flexion (Flekti011), Derivation und Komposition, in der Syntax betrifft dies Phrasenbildung und Kongruenz (engl. Agreement). Bevor wir zu den (grafischen) Darstellungsmechanismen der Struktur von Wörtern und Sätzen gelangen können, müssen wir die Einheiten und deren Typen identifizieren, aus denen jene zusammengesetzt sind. So werden die Elemente eines Satzes ja nicht alle als gleich angesehen, sondern in verschiedene Wortarten unterteilt, die wir schon kennen gelernt haben: Nomen (Hauptwort/Substantiv), Verb (Zeitwort), Adjektiv (Beiwort), Adverb (Umstandswort), Präposition (Verhältniswort), Pronomen (Stellvertreter), Artikel und Konjunktion etc. Dies ist deshalb notwendig, weil sie einerseits verschiedene Grundbedeutungen aufweisen - prädikathafte vs. argumenthafte - , zum anderen unterschiedliche Funktionen und Positionen im Satz einnehmen können. So folgt etwa einem Artikel wie DER meist ein Nomen (DER MANN) oder ein Adjektiv (DER ALTE MANN), aber nicht umgekehrt, einer Präposition wie FÜR/DURCH folgt so gut wie immer ein Artikel mit Nomen - eventuell zusätzlich mit vorangestelltem Adjektiv - , wie zuvor beschrieben. Letzteres deutet an, dass es offenkundig nicht nur verschiedene Wortarten gibt, sondern auch wiederkehrende Einheiten komplexerer Art, die mehrere Wörter in ganz bestimmter Anordnung gruppieren: [DAS KIND] vs. FÜR [DAS KIND], [DAS KLEINE KIND] vs.
FÜR [DAS KLEINE KIND] usw. Solche zusammengehörigen Gruppen aus Wörtern bestimmter Wortarten und Anordnung heißen Phrasen (ähnlich einem Syntagma). Wörter können sich also zu Phrasen gruppieren und Phrasen zu Sätzen; es ist in der Regel nicht der Fall, dass einzelne Wörter sich gleich zu Sätzen verbinden - außer vielleicht bei Einwortsätzen wie HILFE. So wie Wörter einem bestimmten syntaktischen Typ (Wortart) angehören, so können auch Phrasen einer spezifischen syntaktischen Kategorie zugerechnet werden, die sich aus ein bis mehreren Wörtern gruppiert oder ihrerseits wieder aus mehreren Phrasen besteht. Eine solche Phrase haben wir oben bereits kennen gelernt: die Nominalphrase (abgekürzt NP), die typischerweise aus ei-
Sprache unter der linguistischen Lupe
162
nem Artikel, eventuell einem nachfolgenden Adjektiv und schließlich einem Nomen aufgebaut wird. Es gilt nun vor allem herauszufinden, welche weiteren komplexen Kategorien (Phrasen, syntaktische Kategorien) neben den einfachen Wortkategorien in einem Satz auszumachen sind. Dazu kann man sich verschiedener Tests bedienen, die Aufschluss darüber geben sollen, welche wiederkehrenden Konstituenten — d. h. Bausteine mit ihren Wort- bzw. Phrasenkategorien — ein Satz enthalten kann. Die wichtigsten Tests sind u. a. • Fragetest Dabei sind alle Elemente eines Satzes, die durch ein Fragepronomen (auch W-Wort genannt, weil alle mit dem Buchstaben W beginnen) ermittelbar sind, Konstituenten: • Wer fährt Rad? Mögliche Antworten: FRANZ; DER FRANZ; DER M A N N ; DIE SCHÖNE FRAU; DER M A N N MIT DEM KOFFER; DER M A N N , DESSEN FRAU EIN KIND ERWARTET; DIESER; KEINER; ALLE u. a.;
• Wo wird Rad gefahren? Antworten:
DORT; IM W A L D ; AUF DEM
W E G ; AN JENER STELLE, WO GESTERN EIN KLND ÜBERFAHREN WURDE u s w . ;
• Wann wird Rad gefahren? Antworten:
MORGEN; NÄCHSTE W O -
CHE; DIESEN DIENSTAG; IN EINER W O C H E ; AM T A G , ALS DER REGEN KAM etc.;
• Wie wird Rad gefahren? Antworten:
SCHNELL; ÄUßERST RÜCK-
SICHTSLOS; OHNE JEDE RÜCKSICHT; WIE EIN IRRER; ALS OB ER KIFFTE u . a.;
• Warum wird Rad gefahren? Antworten:
DARUM; WEIL/DA MAN
KEIN A U T O HAT; UM ZUR ARBEIT ZU KOMMEN; FÜR/WEGEN DIE/DER GESUNDHEIT; DAMIT MAN GESUND BLEIBT;
• Wofür/Wot^u wird Rad gefahren? Antworten:
FÜR DIE GESUND-
HEIT; ZUR ERHALTUNG DER KONDITION; AUS GESUNDHEITSGRÜNDEN;
• Was tutjmacht man? Antworten:
EINEN BAUM PFLANZEN, R A D
FAHREN; MARIA EINE FREUDE BEREITEN; SICH ERKUNDIGEN.
Alle Elemente, die hier als Antworten dienen können, sind gültige Konstituenten eines Satzes. Dabei wird deutlich, dass als Antwort auf dieselbe Frage verschiedene Konstruktionen möglich sind, die vom einfachen Wort bis zum ganzen (Neben) satz reichen können (siehe warum. DARUM vs. DAMIT JEDER GESUND BLEIBT).
163
Syntax und Morphologie
• Pronominalisierungstest Verwandt mit dem Fragetest ist eine Probe, die gültige Konstituenten durch so genannte Proformen - also ζ. B. Pronomen - ersetzt (kursiv): • •
HANS UND EVA
SINGEN. SIE SINGEN.
HANS SOLLTE EINEN BRIEF SCHREIBEN. DAS MUSS ICH JETZT AUCH (TUN).
•
MARIA LEBT IN MÜNCHEN.
MARIA LEBT
DORT/DA/HIER.
•
MARIA MALT EIN BILD. MARIA MALT (ETJWAS.
•
HANS IST AUF EVAS
DIPLOM STOLZ. HANS IST DARAUF STOLZ.
• Topikalisierungstest (Verschiebeprobe)·. Hierbei wird alles als Satzkonstituente betrachtet, was sich an die Satzanfangsposition verschieben lässt: •
DEN RASEN GEMÄHT HAT HANS.
•
IN DIE STADT BEGAB SICH MARIA.
•
DEN HUND FÜTTERTE HANS.
•
VIEL ZU SELTEN SAH HANS MARIA.
•
DASS HANS DEN HUND FÜTTERTE, BEZWEIFELTE MARIA.
• KoordinationstesP. Hier wird davon ausgegangen, dass alles, was sich durch eine Konjunktion wie UND koordinieren lässt, auch eine Konstituente bildet: •
HANS
UND DIESER ANDERE
MANN
VERSCHWANDEN IN DER
NACHT. •
HANS GAB EVA
DEN LAUFPASS
UND SCHENKTE MARIA
EINEN
STRAUß.» •
MARIA WEINTE, DENN SIE LIEBTE HANS, ABER PETER HEIRATETE SIE.*2
•
GAR NICHT FROH UND WENIG MUNTER WAR HANS.
Alle Tests basieren vorwiegend auf den intuitiven Urteilen eines kompetenten Sprechers, und jede Probe weist Lücken auf oder liefert falsche Analysen. Zusammen genommen aber sind diese Tests sehr zuverlässig.43 41
42 43
Es ginge hier zwar auch H A N S GAB EVA DEN LAUFPASS UND MARIA EINEN STRAUß, jedoch bilden die kursiven Einheiten — das indirekte und direkte Objekt — nach allgemeiner Auffassung keine Konstituenten, so dass bei diesem und anderen Tests stets Vorsicht angebracht ist. ABER verhält sich wie UND mit zusätzlichen Bedeutungsaspekten. Was letztlich eine Konstituente ist, kann partiell auch von der jeweiligen Theorie abhängen, vor deren Hintergrund solche Tests durchgeführt werden. Wir
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Sprache unter der linguistischen Lupe
Die obigen Beispielanalysen haben nun bereits eine ganze Anzahl komplexerer Konstituenten aufgezeigt, die sich aus ein oder mehreren Wörtern zusammensetzen. Dabei lassen sich vor allem folgende syntaktischen Komplexe (Syntagmen) als Phrasen ausmachen: • Nominalphrasen (NPs): Sie bestehen im Kern aus einem Nomen, um das herum Adjektive und/oder Artikel gruppiert werden können; auch Ergänzungen wie Genitive (DES KINDES MUTTER, MUTTER DER ΝΑΉ0Τ4), Präpositionalphrasen (MUTTER MIT KLND) oder Relativanschlüsse (DIE MAMA, DIE EIN KIND AUF DEM ARM TRÄGT) sind möglich (jeweils kursiv); • Präpositionalphrasen (PPs): Ihr Kern ist eine Präposition (AUF, ÜBER, DURCH, SEIT, MIT, UNTER, ZWISCHEN usw.), die durch eine NP ergänzt wird; Beispiel: AN DER W A N D , ZWISCHEN HIMMEL UND ERDE, DEN FLUSS ENTLANG, ENTLANG DES FLUSSES;
• Verbalphrasen {VPs}. Deren tragendes Element ist das Verb, das Ergänzungen in Form von NPs, PPs oder abhängigen Nebensätzen zu sich nehmen kann (oder auch keines der genannten Elemente); Beispiel: LACHEN, DIE LAMPE AUF DEN TLSCH STELLEN oder MEINEN, DASS DIE ERDE EINE SCHEIBE IST;
• Adjektivphrasen (APs): Das Zentrum bildet das Adjektiv, um das herum verschiedene Erweiterungen möglich sind (Adjektive, Adverbien, Argumente); Beispiel: SEHR STOLZ AUF DIE AUSZEICHNUNG, EIN SEHR GROßER BESONDERS
DICKER ÄUßERST KRÄFTIGER
GE-
WICHTHEBER (letztere A P kursiv). All diesen Phrasen ist gemeinsam, dass ihr tragendes Element ein Inhaltswort ist — über manche Präpositionen lässt sich hier allerdings streiten - und die gesamte Phrase im Grunde von der gleichen Art ist wie ihr Kernelement: Eine Nominalphrase bezeichnet etwas, das spezifischer ist als dasjenige, was durch das nackte Nomen ausgedrückt wird. Im gleichen Sinne bezeichnet eine Verbalphrase durch angefugte Objekte etwas spezifischer Vorgängiges als das nackte Verb allein; und auch das Adjektiv wird durch seine Adverbien nur weiter spezifiziert. Nur die Präposition mutet ohne Erweiterungen etwas merkwürdig an und bedarf stets einer spezifizierenden Ergänzung - obwohl Nominalisierungen wie DAS FÜR UND WIDER oder DAS AUF UND Aß bewegen uns hier ja (noch) in einem 'theoriefreien' Raum, so dass allgemeinere und intuitivere Kriterien zur Anwendung kommen müssen.
Syntax und Morphologie
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andeuten, dass auch hier eine Interpretation ohne weitere Ergänzungen grundsätzlich möglich ist.44 Dieses Kernelement einer Phrase wird nun deren Kopf genannt: Nach diesem richtet sich die 'Art' der gesamten Phrase. Das bedeutet, dass sich viele Charakteristika des Kopfes auf die ganze Phrase übertragen (lassen), ζ. B. syntaktische Eigenschaften wie Numerus (FRAUEN ist Plural ebenso wie DIE VIELEN SCHÖNEN FRAUEN) oder Tempus (LAS ist Vergangenheit ebenso wie LAS EIN BUCH), aber auch semantische Merkmale wie der konzeptuelle Typ der denotierten Entität (HUND denotiert ein Lebewesen genau so wie GROßER BRAUNER HUND). An den Kopf können sowohl notwendige Ergänzungen (Komplemente) als auch nicht-notwendige Erweiterungen angebracht werden (Adjunkte). Erstere sind die Argumente, die ein Inhaltswort zu seiner 'AbSättigung' benötigt und normalerweise nicht weggelassen werden dürfen (kursiv): DER EHEMANN VON EVA, EINEN NAMEN VERGES-
SEN, IN DERBLBUOTHEK, DERLLNGUIYTIKTREU. Letztere sind solche Erweiterungen wie Modifizierer (Modifikatoren), die den Kopf nur weiter abwandeln und optional sind: DER HUND VON MARIA, INDER BIBLIOTHEK LESEN, DER TREUE FREUND.
Nachdem nun die Konstituenten eines Satzes ausgemacht werden konnten, ist man auch in der Lage zu bestimmen, welche Elemente einen (deutschen) Satz bilden. Klar ist, dass man ein Subjekt benötigt, das von einem Prädikat (Verb) gefolgt wird. Die möglichen Objekte des Verbs werden als Teil der VP betrachtet — so wie wir es oben bereits angenommen haben - , da Objekt(e) und Verb semantisch viel näher zusammen gehören als Subjekt und Verb. Dies wird ζ. B. deutlich bei idiomatischen Wendungen (Idiomen) wie DEN LÖFFEL ABGEBEN oder IN DIE FUßSTAPFEN DES VATERS TRETEN, wo immer ein Verb und sein(e) Objekt(e) eine Bedeutungseinheit formen, nie jedoch Subjekt und Verb.45 Ein Satz besteht demnach aus mindestens zwei syn44
45
Die satzartigen Phrasen, die durch eine Konjunktion eingeleitet werden, haben wir hier unterschlagen. Ihr Kern besteht aus einem Funktionswort als Ankerelement. Auf sie werden wir aber erst im Kapitel über Grammatik kurz eingehen. Rein syntaktisch ist dies nicht so eindeutig: Es ist ζ. B. ohne weiteres möglich, beide Objekte auch ohne Verb zu topikalisieren, wenn diese vorangestellte Einheit betont wird: MARIA HAT DEM HANS EIN BUCH GEGEBEN => DEM HANS EIN BUCH HAT MARIA GEGEBEN.
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Sprache unter der linguistischen Lupe
taktischen Konstituenten: einer NP als Subjekt und einer VP als Prädikat (d. i. Verb inklusive Objekt[e]). Man kann diesen Sachverhalt in einer Regel formulieren, die Phrasenstruktuttegel (kurz PS-Regel) genannt wird, weil hiermit der Aufbau von Phrasen beschrieben werden kann: S = NP + VP, d. h., ein Satz setzt sich zusammen aus einer Nominalphrase und einer Verbalphrase (Subjekt und Prädikat). Diese wiederum bestehen ihrerseits aus Phrasen oder Wörtern: NP = Art + Ν oder NP = Adj + Ν usw., VP = V + NP oder einfach VP = V. Um damit nun eine bestimmte Anzahl deutscher Sätze analysieren zu können, ist bereits eine ganze Reihe von Regeln notwendig: S = NP + VP NP = Ν NP = Art + Ν NP = Art + Adj + Ν VP = V VP = V + NP VP = V + NP + NP (S = Satz, Ν = Nomen, V = Verb, Art = Artikel, Adj = Adjektiv) Durch sukzessive Ersetzung der Elemente der rechten Seite (ζ. B. NP durch Art + N) kann eine Art Satzschema erzeugt werden, das für eine Reihe von Sätzen angewendet werden kann, beispielsweise S = [ A r t + N]NP + [ V + [ A r t + NJNPJVP46
liefert etwa für die Sätze D E R M A N N LIEBT DIE FRAU. D I E FRAU LIEBT DEN MANN. EIN MANN HILFT EINER FRAU. EINE FRAU HILFT EINEM MANN. EIN KIND IST EIN KIND.
syntaktische Analysen, also für sämtliche Verben mit einem (indirekten Objekt bzw. anderweitigen Ergänzungen. Für Verben ohne Objekt oder mit zwei Objekten braucht man jeweils eine andere Schablone, etwa S = [Art + N]NP + [V]VP S = [ A r t + N]NP + [ V + [ A r t + N]NP + [ A r t + N]NP]VP
Hat man so genannte Präpositionalobjekte oder Adjektivkomplemente wie IN MÜNCHEN aus dem Satz HANS WOHNT IN MÜNCHEN bzw.
46
Die Indizierung [...]χρ verdeutlicht, welche komplexe Konstituente/Phrase die Teile bilden.
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Syntax und Morphologie
aus MARIA IST SEHR HÜBSCH, benötigt man noch weitere Regeln (zusätzlich zu obigen): PP = Ρ + NP AP = Adv + A VP = V + AP (Adv = Adverb) Damit lassen sich die Beispielsätze dann auch analysieren: SEHR HÜBSCH
S = [ A r t + N ] N P + [ V + [ P + [N]NP]PP]VP S = [ A r t + N ] N P + [ V + [ A d v + A]AP]VP
Die Klammerung soll dabei zu erkennen geben, dass hier keine linearen Strukturen, sondern hierarchische vorliegen, d. h., jede Konstituente ist eingebettet in und abhängig von einer 'höheren' Konstituente, beispielsweise Art und Ν in/von NP. Solche hierarchischen Strukturen werden nun nicht nur mittels indizierter Klammerung dargestellt, sondern wesentlich übersichtlicher als Baumdiagramme (d. h. auf den Kopf gestellte Bäume wie links) oder auch als so genannte Attribut-Wert-Matrizen (eine 'ausgefaltete' Klammerung wie rechts): ΓΝΡ
VP
Art
DER
Ν
BAUER
V
LEHRT
NP
Art DIE Ν
Art
Ν
V
NP
NP
NP
Art DAS Ν
Art
Ν
Art
BÄUERIN
MELKEN
Ν
Beides ist eine hierarchische Darstellung ζ. B. für den Satz DER BAUER LEHRT DIE BÄUERIN DAS MELKEN. Der Baum ähnelt einer TeilGanzes-Struktur (Meronymie) und darf nicht mit der grafischen Realisierung einer propositionalen Darstellung (d. h. Prädikat-ArgumentStruktur) verwechselt werden. Die Attribut-Wert-Matrize — AVM für (engl.) Attribute-Value-Matrix — ist dergestalt aufzubauen, dass einem Attribut (ζ. B. S) immer ein Wert entspricht (ζ. B. die gesamte Klammer, die NP und VP einbezieht): Ein Wert kann somit eine Klammer sein oder ein einzelnes Element (ζ. B. ein Wort), je nachdem, ob das Attribut eine phrasale oder einer Wortkategorie ist.
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Sprache unter der linguistischen Lupe
Der Nachteil solcher Darstellungen ist der erhöhte Platzbedarf; der Vorteil ist die wesentlich bessere Übersichtlichkeit, da die Abhängigkeiten zwischen den Konstituenten unmittelbar sichtbar werden. Das Baumdiagramm und die AVM lassen direkt die komplexen phrasalen und einfachen wortbezogenen Kategorien erkennen, die man auch als nontetminale und terminale Kategorien bezeichnet. Terminal sind diese Wortarten deshalb, weil sie sich nicht weiter auf der syntaktischen Ebene zerlegen lassen (das kleinste Element der Syntax ist das Wort), wohingegen phrasale Kategorien wie NP oder VP noch weiter zerlegbar sind. Im Baumdiagramm sind die terminalen Wortkategorien immer am unteren Ende zu finden, in der AVM sind sie stets rechts. Praktisch sind kategorienindizierte und grafische Repräsentationen dann, wenn Ambiguitäten aufgelöst werden müssen. Der Satz MARIA BERÜHRT DEN MANN MIT DEM SCHIRM ist zweideutig: Entweder berührt sie ihn mit Hilfe des Schirmes oder der Mann hat einen Schirm bei sich und sie berührt ihn vielleicht mit ihren Händen. Der Unterschied muss bereits in den Phrasenstrukturregeln sichtbar werden, auf deren Basis dann erst die entsprechenden grafischen Darstellungen zu erzeugen sind: S = NP + VP PP = Ρ + NP NP = Ν NP = Art + Ν NP = Art + Ν + PP VP = V + NP VP = V + NP + PP Der entscheidende Faktor ist die Anbindung der PP: Sie kann einerseits direkt unter die VP gehängt, andererseits in die NP eingegliedert werden. Im ersten Fall ergibt sich die Interpretation, dass mit Hilfe des Schirmes berührt wird — die PP bestimmt ja die Art und Weise des Berührens, deshalb muss sie auf der 'Höhe' von V angesetzt werden —, im letzten Fall hat der Mann den Schirm dabei — die PP spezifiziert den Mann, daher ist sie auf der Höhe des Ν anzubringen. Die entsprechenden Bäume sehen wie folgt aus:
Syntax und Morphologie
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s
S
NP Ν
NP
VP
V
NP
Λ
Art Ν Ρ
PP
ΛNP Λ Art Ν
Ν
VP V
NP Art
Ν
PP Ρ
NP
A
Art
Ν
Diese beiden Bäume bzw. die dazu gehörenden Regeln geben einigermaßen die Intuition eines Sprechers über die beiden möglichen Strukturen obigen Satzes wieder. Hierbei wird auch deutlich, dass eine rein lineare Darstellung zur Veranschaulichung der Zusammenhänge einzelner Konstituenten im Satz nicht ausreicht: Nur eine hierarchische Struktur - und dies ist ja auch die geklammerte einzeilige Darstellung [[•••]np + [-]vp]s - kann die jeweiligen Verhältnisse korrekt aufzeigen. Betrachtet man die Bäume und vergleicht sie mit den entsprechenden PS-Regeln, wird erkennbar, dass allein die Regeln die möglichen Baumstrukturen determinieren. Jede Verzweigung entspricht dabei einer PS-Regel, wie leicht nachzuprüfen ist: Die linke Seite der Regel ist derjenige Knoten im Baumdiagramm, der alle Unterknoten der rechten Seite dominiert — beispielsweise dominiert NP die beiden Knoten Art + Ν oder eventuell nur Ν usw. - , zu denen die Kanten fuhren. Sämtliche von einem Knoten dominierten Unterknoten sind Schwesterknoten zueinander - ζ. B. sind Art und Ν Schwestern. Die Struktur des Baumes wird also zum einen durch die PS-Regeln festgelegt, die die erlaubten syntaktischen Beziehungen und Abfolgen der Konstituenten bestimmen; zum anderen ist auch der tatsächlich zu analysierende Satz für die Strukturbestimmung heranzuziehen: Ein Satz muss stets vor dem Hintergrund einer Menge syntaktischer Regeln analysiert werden. Daraus folgt, dass ein Satz einer Sprache nicht an sich eine Struktur besitzt, sondern nur im Rahmen einer PS-Regelmenge eine Struktur zugewiesen bekommt. Darüber kann dann auch
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Sprache unter der linguistischen Lupe
ermittelt werden, ob ein Satz syntaktisch 'richtig' ist oder nicht; dies wird aber ebenfalls ausschließlich durch die aufgestellte Syntax determiniert. Die Analyse und Zuweisung einer Satzstruktur mit Hilfe syntaktischer Regeln wird Parsing genannt (engl, für 'Satz zerlegen"). Ziel ist herauszufinden, ob und wenn ja welche Struktur ein Satz gemäß einer bestimmten Syntax hat, die sich über PS-Regeln definieren lässt. Dazu benötigt man in jedem Fall aus der bereits aufgezeigten Regelmenge ein Startsymbol (eine Startregel), die definiert, was die Spitze des Baumes bzw. der Ankerpunkt der Analyse sein soll. Zusätzlich benötigt man eine Menge lexikalischer Regeln, die den Wortschatz festlegen und im gleichen Format wie PS-Regeln angegeben werden können: Ν = {HANS, MARIA, M A N N , ...} (Es ist jeweils ein Element V = {SIEHT, LIEBT, BERÜHRT,...} der Menge zu wählen.) Als Startsymbol wird die Satzregel S = NP + VP gewählt. Bei entsprechendem Regelumfang sind prinzipiell alle Sätze einer durch diese Regeln definierten Sprache analysierbar, auch wenn die Menge dieser Regeln unüberschaubar groß sein wird. Dies wird jedoch dadurch gemildert, dass komplexe Konstituenten wie NPs immer wieder verwendet werden können. Geschieht dies in einer Weise, dass eine NP selbst irgendwann wieder eine NP enthält — als unmittelbare Konstituente auf der rechten Seite oder indirekt über eine weitere Regel — spricht man von Rekursion: NP = Art Ν PP NP = Art Ν NP PP = P NP indirekte Rekursion direkte Rekursion (DER M A N N MIT DEM H U T VON ...) (DAS K I N D DER FRAU DES ...)
Hiermit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass ein kompetenter Sprecher einer Sprache prinzipiell unendlich viele und komplexe Sätze auszudrücken imstande ist — begrenzt nur durch seine Performanzbeschränkungen im KZG und seine Lebensdauer. Rekursion spiegelt so die kreative Komponente der Syntax einer Sprache wider, die der zugrunde liegenden unendlichen Vielfalt unserer Gedankenwelt die entsprechenden Ausdrucksmöglichkeiten verleiht. Problematisch jedoch ist diese Art der Beschreibung des Aufbaus von Sätzen deshalb, weil viele grammatische Merkmale hierüber nicht
Syntax und Morphologie
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erfassbar werden. Es ist ζ. B. mit einfachen PS-Regeln nicht möglich, syntaktische Phänomene wie Numerus (Singular, Plural), Genus (Femininum, Maskulinum, Neutrum), Kasus (Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ) und Person (1., 2., 3.) bei Nomen, Adjektiven oder Artikeln zu verarbeiten (zusammen als Deklination bezeichnet), bzw. Numerus, Person, Modus (Indikativ, Konjunktiv), Tempus (Präteritum, Präsens, Futur) und Genus Verbi (Aktiv, Passiv) bei Verben (zusammen Konjugation). Dies ist aber für die korrekte Analyse eines Satzes und die Bewertung seiner Grammatikalität notwendig. Beachtet man das nicht, sind Ausdrücke wie D I E MANN LIEBEN DEM FRAU plötzlich syntaktisch korrekt, weil sie auf das normale Satzschema [[Art + Ν ] Ν Ρ + [V + [Art + N]NP]VP]S für transitive Sätze passen. Es ist deshalb unabdingbar, in irgendeiner Weise sicherzustellen, dass die grammatischen Merkmale von ζ. B. Subjekt und Prädikat übereinstimmen. Diese Übereinstimmung nennt man Kongruenz (engl. 'Agreement"); Kongruenz tritt im Deutschen auch noch zwischen Artikel plus eventuell Adjektiv und dem Nomen auf sowie etwa zwischen Relativpronomen und Bezugswort. Um die korrekte Kongruenz der betroffenen Satzteile untereinander zu überprüfen, kann man sich beispielsweise wiederum der AVMStrukturen bedienen, die ein allgemeines Instrumentarium zur Darstellung hierarchischer oder informativer Strukturen darstellen und nicht auf Teil-Ganzes-Beziehungen beschränkt bleiben müssen (wie wir sie bisher genutzt haben). Man spezifiziert je Wort des Lexikons, welche grammatischen Merkmale es umfasst, also ζ. B. DER: [Numerus: Sing, Genus: Mask, Kasus: Nom, Person: 3] DIE: [Numerus: Sing, Genus: Femi, Kasus: Akk, Person: 3] MANN: [Numerus: Sing, Genus: Mask, Kasus: Nom, Person: 3] FRAU: [Numerus: Sing, Genus: Femi, Kasus: Akk, Person: 3] LIEBT: [Numerus: Sing, Person: 3, Modus: Ind, Tempus: Präs]47 Die Artikel DER und DIE haben auch noch andere Spezifikationen als die hier angegebenen, denn DER kann beispielsweise auch der weibliche Genitiv sein: DER MANN DER FRAU; es müssen also teils mehrere 47
Genus Verbi wurde in der letzten Zeile weggelassen. Alle A V M s sind hier aus Platzgründen linear dargestellt worden und sollten wie eine entfaltete hierarchische A V M betrachtet werden (einzelne Zeilen sind durch Kommata getrennt). Die A V M s [...,...,...] haben aber nichts mit [[...]NP + [...]vp]s-Klammern zu tun!
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Sprache unter der linguistischen Lupe
Definitionen für ein Wort angeboten werden. Was passiert nun aber mit solchen Spezifikationen, die die einzelnen Wörter begleiten? Sie müssen ja in irgendeiner Weise verarbeitet werden, um feststellen zu können, ob eine oder mehrere Kongruenzverletzungen vorliegen wie im Beispielausdruck D I E M A N N LIEBEN DEM FRAU: Hier sind es insgesamt drei, nämlich jeweils in der NP zwischen Artikel und Nomen sowie zwischen Subjekt und Prädikat. Der Mechanismus, der diese Überprüfung durchführen kann, nennt sich Unifikation: Dabei werden zwei AVMs nach einem relativ einfachen Prinzip gegeneinander abgeglichen und zugleich zu einer einzigen neuen und größeren AVM verschmolzen. Es gibt hierbei nur zwei Teilprinzipien: • Gleiche Attribute müssen Werte besitzen, die kompatibel zueinander sind; • Attribute, die in der einen AVM, nicht aber in der anderen vorhanden sind, werden zur neuen AVM einfach addiert. So unifizieren etwa die beiden folgenden AVMs problemlos zu einer neuen: [Numerus: Sing, Genus: Mask, Kasus: Nom, Person: 3] DER/MANN + [Numerus: Sing, Person: 3, Modus: Ind, Tempus: Präs] LIEBT = [Numerus: Sing, Genus: Mask, Kasus: Nom, Person: 3, Modus: Ind, Tempus: Präs] Die beiden AVMs enthalten keine Widersprüche und können deshalb verschmelzen. Hingegen sind die folgenden beiden AVMs unvereinbar: [Numerus: Sing, Genus: Mask, Kasus: Nom, Person: 3] DER + [Numerus: Sing, Genus: Femi, Kasus: Akk, Person: 3] FRAU = [] (Fehler) Der Grund sind die jeweils inkompatiblen Werte der beiden Attribute Genus und Kasus. Aufgrund des so erhaltenen 'leeren' Ergebnisses lässt sich feststellen, ob zwei Konstituenten zueinander passen (d. h. kongruieren) oder nicht. Hiermit lässt sich unser Testsatz D I E M A N N LIEBEN DEM FRAU analysieren: Es wird sofort sichtbar, dass weder DIE zu M A N N noch DEM zu FRAU noch DIE M A N N zu LIEBEN passt. Was jedoch passiert, wenn die Strukturen alle korrekt sind, zeigt die folgende Ableitung:
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Syntax und Morphologie
Numerus: Sing Genus: Mask Kasus: Nom Person: 3
Numerus: Sing Genus: Mask Kasus: Nom Person: 3
Numerus: Sing Genus: Mask Kasus: Nom Person: 3
DER
MANN
DER M A N N
Numerus: Sing Genus: Femi Kasus: Akk Person: 3
Numerus: Sing Genus: Femi Kasus: Akk Person: 3
+
DIE
FRAU
Numerus: Sing Person: 3 Modus: Ind Tempus: Präs
Numerus: Sing Genus: Femi Kasus: Akk Person: 3
LIEBT
DIE F R A U
Numerus: Sing Genus: Femi Kasus: Akk Person: 3
ok
ok
DIE FRAU
Numerus: Sing (Genus: Femi) (Kasus: Akk) Person: 3 Modus: Ind Tempus: Präs
ok
LIEBT DIE F R A U
Bei diesem Mechanismus muss allerdings sichergestellt sein, dass sich jeweils nur die Kopfmerkmale - hier ζ. B. vom Verb LIEBT - an die neue Gesamtphrase weitervererben - hier an die VP LIEBT DIE FRAU. Diese enthält dann all die relevanten Merkmale, um den letzten Unifikationsschritt vorzunehmen, den Abgleich der Subjekt-Prädikat-Kongruenz: Numerus: Sing Genus: Mask Kasus: Nom Person: 3 DER M A N N
+
Numerus: Sing Person: 3 Modus: Ind Tempus: Präs LIEBT DIE FRAU
Numerus: Sing Person: ß Modus: Ind Tempus: Präs (Genus: Mask) (Kasus: Nom)
ok
D E R M A N N LIEBT DIE FRAU
Die Analyse eines Satzes ist damit eine Reihe von Anwendungen von PS-Regeln im gleichzeitigen Zusammenspiel mit der Erzeugung von komplexen Merkmalstrukturen aus einfachen lexikalischen AVMs. Es können dabei grundsätzlich zwei Wege beschritten werden: Entweder
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Sprache unter der linguistischen Lupe
man fängt beim Startsymbol an (hier Satz) und wendet die Regeln soweit an, bis sämtliche Wörter des Eingabesatzes auf das entstandene Satzschema passen; oder man geht umgekehrt vor und fasst die Wörter des Eingabesatzes anhand der Regeln zu höheren Konstituenten zusammen, bis man beim Satz- bzw. Startsymbol angelangt ist. Ersteres Vorgehen wird Top-Down-Vetfahten genannt, weil man sozusagen 'oben' beim Startsymbol S beginnt und die PS-Regeln nach 'unten' immer weiter anwendet und den Satz zerlegt, Letzteres BottomUp, weil man 'unten' bei den einzelnen Wörtern anfängt und sich so nach 'oben' bis zum Startsymbol durchhangeln muss. Jeweils ein Beispiel fur den Satz D I E FRAU BERÜHRT DEN M A N N soll hierfür genügen (die üblichen PS-Regeln zugrunde gelegt): Top-Down: S = NP + VP (Expansion des Startsymbols) S = [Art + N]NP + VP (Expansion der 1. Konstituente) S = [Art + N]NP + [V + NP]VP (Expansion der 2. Konstituente) S = [Art + N] N P + [V + [Art + N]NP]VP (Expansion der in die V P (Wörter passen auf Satzmuster) eingebetteten 3. Konstituente) Bottom-Up: Art = {DIE, DEN} (Zuweisung der WortN = {FRAU, M A N N } kategorien an die Wörter) V = BERÜHRT
NP
= [DIEArt FRAUN]
(Schaffung höherer Kategorien)
N P = [DEN Art MANNN] V P = [BERÜHRTy [DENArt MANNN]NP] S = [DIEArt FRAUN]NP [BERÜHRTv [DEN A r t MANNN]NP]VP
Diese Ableitungen sind jedoch insofern idealisiert, als hier von einer eindeutigen Analyse ausgegangen wird, d. h., wir wussten schon im Voraus, welche der PS-Regeln wir ζ. B. für NP anzuwenden hatten. Dies ist jedoch nicht der Normalfall, denn bei maschinellem Parsing kann der Rechner nicht 'schummeln': Meist gibt es hier mehrere alternative PSRegeln für die selbe Kategorie, so dass alle Möglichkeiten ausgetestet werden müssen, bis man zum gewünschten Ergebnis gelangt. Alles, was bisher an formalen Darstellungen und Operationen ausschließlich für Sätze vorgeführt wurde, lässt sich nun auch auf Wörter übertragen. Wörter sind genau wie Sätze aus kleineren Bestandteilen — den Morphemen — aufgebaut und besitzen ebenfalls Köpfe, die die
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Syntax und Morphologie
kategorialen Eigenschaften des Gesamtwortes bestimmen. Die Morpheme lassen sich hierbei in Stämme, Affixe und nicht weiter zerlegbare einfache Wörter unterteilen. Gebundene Stämme bilden bei den flektierenden Wortarten (Pro)nomen, Verb und Adjektiv gemeinsam mit den freien Wörtern bei den nicht-flektierbaren Wortarten Präposition oder Konjunktion die Basen, die nun ebenfalls kategorial spezifizierbar sind als Nomen-, Verb-, Adjektiv-, Präpositions- oder Konjunktionsbasen. Auch Affixe - Präfixe, Suffixe und Circumfixe - sind kategorisierbar, weil sie selbst nur an etwas Nominales, Verbales, Adjektivisches oder Präpositionales usw. angehängt werden können. Einige Beispiele mögen diesen Sachverhalt verdeutlichen: (i)
KlND-N-Basis
KlNDN-Basis-LICH-N/Adj-Suffix KlNDN-Samm-ERN-Suffix
(ii)
LACH-V-Basis
LACHV-Basis-HAFT-V/Adj-Suffix LACHv-Sramm-ENv-Suffix
(iii)
BLÖD-A-Basis
BLÖDA-Basis-HEIT-A/N-Suffix
(iv)
UND-K-Basis
VERK/VCircumfix-UNDK-Basis-0K/V-Circumfix48
(v)
BLÖDA-Stamm-ERA-Suffix
KlND N -Basis-FRAU-N-Basis
DUMMA-Basis -DREIST-A-Basis
ICHp ro-Basis~SUCHT-N.Basis
VORp-Basis"BlLD-N-Basis
Charakterisieren lassen sich dabei drei verschiedene Prozesse, die wir bereits einmal besprochen haben: Flexion, Derivation und Komposition. Dabei ist Flexion als ein lautlich-formaler und wortabwandelnder Prozess zu betrachten (3. Spalte von (i)-(iii) oben), Derivation und Komposition (2. Spalte von (i)-(iv) bzw. ganz (v) oben) sind mehr begrifflicher und •viox.tschöpfender Natur. Letztere hängen ihre wortbildenden (Derivations)affixe an Basen und bilden Stämme - die wiederum als Basis fungieren können - , Erstere bauen ihre wortangleichenden Affixe stets an Stämme an und erzeugen Wörter. Mit der Flexion werden einzelne Ausdrücke - die noch unflektiert sind - auf ihre Verwendung in der Syntax angepasst (ζ. B. Subjekt vs. Objekt), etwa hinsichtlich Genus, Person, Kasus, Numerus etc. Weil dies im Deutschen immer am einzelnen Wort (bzw. Stamm) markiert werden muss, verschmelzen hierbei im Zuge der Flexion morphologische und syntaktische Prozesse zur Morphosyntax. Flexionsprozesse dienen gerade nicht dazu, neue Wörter zu kreieren, vielmehr werden 48
VERUNDEN bzw. VERUNDUNG sind in der Logik u n d bei d e r P r o g r a m m i e r u n g gebräuchliche Ausdrücke für die U n d - V e r k n ü p f u n g zweier T e r m e . D e r rechte Circumfix-Bestandteil ist phonetisch zwar leer, weist jedoch syntaktische und semantische M e r k m a l e auf, die eine Ableitung z u m V e r b gewährleisten.
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Sprache unter der linguistischen Lupe
bestehende rein formal abgewandelt, um an der entsprechenden Stelle im Satz korrekt eingefugt werden zu können. Das Deutsche ist durch drei verschiedene Flexionsprozesse gekennzeichnet, nämlich Deklination, Konjugation und Komparation. Erstere bezieht sich auf Artikel, Adjektive, Nomen sowie Pronomen, Zweitere auf Verben und Letztere wieder auf Adjektive und marginal auch auf Adverben. Derivation und Komposition zeichnen sich dadurch aus, dass sie neue Wörter hervorbringen. Kennzeichnend für Derivationsprozesse ist einerseits, dass durch die Anwendung entsprechender Derivationsaffixe sich oftmals die Wortart ändert, wenn auch nicht immer (vgl. ZEUGENv V S . ER-ZEUGENv, aber Z E U G - U N G N ) ; andererseits werden bei der Derivation (Ableitung) neuer Wörter stets Stämme oder Wörter (also Basen) mit Affixen verknüpft, nie jedoch zwei Basen. Wenn letzterer Fall vorliegt, spricht man gerade von Komposition. Hierbei spielen marginal auch Fugenprozesse eine Rolle, wenn zwischen zwei Basen — die ja niemals flektiert sind — ein Fugenmorphem eingefügt wird: H E N N H V R E N N E N , D I E B E S G U T , B Ü C H E R W U R M , Z E I T U N G S A N NONCE.49 Sie gehören aber nicht zur Flexion, sondern sind ein nachgeschalteter oder (Bestandteil der Komposition noch vor der Flexion. Damit wird auch klar, dass die Prozesse der Komposition und Derivation vor der Flexion ansetzen müssen, denn alle hieraus hervorgehenden komplexen Stämme haben sich danach ohne Ausnahme formalen Prozessen zu unterwerfen, wenn sie in den Satzrahmen eingefügt werden sollen, denn die kleinste Einheit der Syntax ist das Wort, nicht der Stamm. Innerhalb der Wortbildung durch Derivation oder Komposition lässt sich die Derivation wiederum als vorgeschaltet betrachten, denn hier werden neue Wörter gebildet, die ihrerseits wieder als Eingabe für Derivations- oder Kompositionsprozesse dienen können. Diese Reihung lässt sich vor allem am Wortakzent ablesen: Flexionsprozesse ändern den Akzent überhaupt nicht50, Derivationen le49
Es handelt sich dabei nicht um eine Genitiv-Flexion, denn der Genitiv von ZEIist ebenfalls (DER) ZEITUNG, nicht *ZEITUNGS. Außerdem ist die Relation zwischen dem ersten und dem zweiten Kompositumsbestandteil nicht immer durch einen Genitiv ausdrückbar: ZEITUNGSANNONCE * ANNONCE DER ZEITUNG, sondern ANNONCE IN DER ZEITUNG. Es gibt wie immer Ausnahmen: SIE IST KEIN LEWRER, SONDERN EINE LEHRERIN. Allerdings könnte man auch rückschüeßen, dass es sicher hierbei gar nicht
TUNG
50
Syntax und Morphologie
177
gen innerhalb des Derivativums den Wortakzent fest und Kompositionen schließlich legen ihren eigenen Gesamtwortakzent über die Kompositumsbestandteile, ohne hierbei in eventuell im Kompositum vorhandene Derivativa einzugreifen, wie ζ. B. in [RAS-fiR]-[REPORT-^lGE] (der Akzent in RASER bleibt, REPORTAGE ändert sich von REPORT zu -ÄGE, der Hauptakzent des Gesamtworts ist auf dem ersten Kompositumsbestandteil, ohne die Derivativa-Nebenakzente zu ändern). Bei der Wortbildung mittels Derivation und Komposition wird erkennbar, dass, ganz ähnlich der Phrasenbildung, jedes komplexe Wort einen Kopf aufweist. Bei Komposita ist immer der rechte Bestandteil der Kopf, d. h., es vererben sich sämtliche grammatischen Merkmale an das Gesamtwort, und deshalb ändert sich auch niemals die Wortkategorie: Ein SCHÄFERHUND ist ein spezifischerer Hund, ein LANGSAMFAHER ist ein speziellerer Fahrer, und GELBGRÜN bezeichnet immer noch einen bestimmten Grünton. Offensichtlich modifiziert der erste Bestandteil stets den zweiten, d. h. spezifiziert seine Bedeutung. Es muss unterschieden werden zwischen lexikalisierten Komposita, die im privaten oder publiken Wortschatz einer Sprache bereits als Ganzheit vorhanden sind und auch so verarbeitet werden, und Adhoc-Komposita, die spontan aufgrund aktueller Notwendigkeiten produziert und interpretiert werden müssen. Erstere sind dabei ζ. B. semantisch noch nachvollziehbare Bildungen wie SCHMALSPURCASANOVA und DIJMMDREIST, deren Gesamtbedeutung sich aus den Bestandteilen ableiten ließe, oder auch semantisch nicht mehr durchsichtige (idiomatisierte) Komposita wie BAHNHOF oder LEBERFLECK. Zweitere sind dann jene, die bei der Analyse der Relation zwischen den Bestandteilen noch kontextunabhängig interpretierbar sind wie ζ. B. SCHMALSPUREROTIKER und DLJMMDOOF, oder aber gänzlich kontextgesteuerte Kompositionen, bei denen die Beziehung nur mit Hilfe des vorangegangenen Diskurses ermittelt werden kann wie in TAUBENHOF (ζ. B. als Hinterhof eines Hauses mit vielen Tauben) und LUNGENFLECK (ζ. B. Fleck auf einem Röntgenbild). Adhoc-Komposita verabschieden sich meist genauso schnell wieder, wie sie gekommen sind - was jedoch nicht heißen soll, dass einige Komposita ihr kurzes Leben aufgrund besonderer 'Relevanz' nicht beträchtlich ausdehnen können (vgl. ζ. B. AMum eine Flexion — die eventuell Kongruenz mit SIE bzw. EINE ausdrückt sondern um eine Derivation handelt, was sogar wahrscheinlicher ist.
178
Sprache unter der linguistischen Lupe
Das Deutsche gilt nun hinsichtlich der Bildung von Komposita als eine wahre Fundgrube, denn hier ist fast alles erlaubt; einige Beispiele nur mit den Hauptwortarten mögen diesen Umstand andeuten: Nomen + X: PELKOALITION).
N + N : WASSER+BOILER
N + V : WELLEN+REITEN 51
N + A : MAUS+GRAU
N+P:-
Adjektiv + X: A + N : GRÜN+SCHNABEL
A + V : SCHÖN+FÄRBEN 52
A + A : BLAU+GRÜN
A+P:-
Verb + X: V + N : TRENN+WAND
V + V : MÄH+DRESCHEN 53
V + A : RÖST+FRISCH
V+P:-
Präposition + X: P + N : AUF+WLND
P + V : ÜBER+SETZEN
P + A : ÜBER+VOLL
P+P: - μ
Bei der Derivation tritt nun der Fall ein, dass auch Affixe (bzw. Suffixe) als Kopf eines Wortes fungieren können und so auch die Wortart der Ableitung fesdegen, denn das Charakteristikum eines Derivationsaffixes ist gerade, dass es meistens zu einer Wortartänderung kommt: B I N D V - U N G N , W I N D N - I G A , D U M M - H E I T N , L A C H V - H A F T USW. Aber auch die die Wortart erhaltenden Ableitungen bereiten in dieser Hinsicht keine Probleme, denn die Wortkategorie des Gesamtausdrucks bleibt einfach dieselbe: G R Ü N A - L I C H A , B E R L I N - E R , E R - Z E U G E N . Der Kopf ist wie am Kompositum jeweils der rechte Bestandteil; daraus folgt auch, dass Präfixe (im Deutschen) keine Köpfe sein können A
A
N
51
N
V
V
WASSER+LASSEN bzw. RAD+FAHREN würde hier nicht gelten, denn es heißt ja E R LÄSST WASSER b z w . SIE FÄHRT R A D , a b e r ICH WELLENREITE (nicht: * D u REITEST WELLEN), SIE RUFMORDET o d e r E R SACKHÜPFT.
52
SCHÖNFÄRBEN ist eine der ganz wenigen A+V-Kombinationen, die mit einigem guten Willen nicht trennbar ist: ER SCHÖNFÄRBT DAS GEWALTIG vs. SIE FÄRBT DAS GEWALTIG SCHÖN (beides ist gleich schlecht); eventuell auch: ER/
53
Eine sehr seltene Klasse im Deutschen; auch RENNSEGELN, SPRECHSINGEN. Man könnte ja auf die Idee kommen, dass ZWISCHEN+DURCH doch eine P+PBildung ist. Das kann sein, das Ergebnis ist nur keine Präposition, und darauf kommt es hier an: Der rechte Bestandteil muss die Wortart des Kompositums bestimmen.
SIE TIEFKÜHLT ETWAS. 54
179
Syntax und Morphologie
und somit nicht wortartverändernd wirken.55 Für den Bereich der Flexion ist das Kopfprinzip hingegen nicht so ohne weiteres anwendbar, denn hier vererben sich grammatische Merkmale sowohl vom Wortstamm als auch vom Flexionsaffix an das Gesamtwort: Vom Stamm kommt etwa die Wortkategorie, vom Flexionselement ζ. B. Numerus und Kasus. Nichtsdestotrotz lassen sich auch hier Flexionskategorien für die Flexionsaffixe ausmachen, die ihre Anwendung auf bestimmte Stammkategorien beschränken (ζ. B. kann -ENv ja nur auf Verbstämme angewendet werden, um den Infinitiv anzuzeigen: GEHv-ENv). Aufgrund der Konstituenten- und Kopfstruktur von Wörtern lassen sich hier die gleichen Mechanismen der Beschreibung und Darstellung anwenden wie schon in der Syntax: Baum- und Klammerdarstellung, PS-Regeln und Merkmalstrukturen inklusive Unifikation: Nwort
=
Nstamm+NFlexions-Suffix
(DES) MANNN-Stamm-ESSuffix
Nstamm = VBasis+NDerivaOons-Suffix
SCHREIBv-Basis"ER-Suffix
Nstamm = NBasis+XFuge+Nßasis
KlNÖN-Basis-ERFuge-WAGEN-N-Basis
Hierbei gilt zu beachten, dass es zwei Sorten von Derivationsmoiphemen gibt: solche, die an den Kopf bzw. die Wurzel rechts angebracht werden und solche, die links (peripher) affigieren. Die Unterscheidung ist deshalb relevant, weil hier 'rechts vor links' gilt: Zuerst müssen die ersteren Morpheme angebracht werden, dann die letzteren. Es ist hier nicht möglich, die Reihung umzukehren, denn dann entstünden ungrammatische End- oder Zwischenprodukte: [ U N - [ O R D N - U N G ] I ] 2 ist korrekt gebildet, *[[UN-ORDN]I-UNG] 2 aber nicht, da [ U N - O R D N ] keinen Stamm ergibt, den man flektieren könnte. Die morphologischen PS-Regeln müssen diese Reihung beachten und wiedergeben. Zur Vereindeutigung und Veranschaulichung der Wortstruktur eignen sich auch hier Bäume als Darstellungsmittel:
55
Auch hier gibt es 'Ausnahmen': V E R V - E I S N - ( V E R E I S - E N ) , W O scheinbar das Präfix V E R - , das eigentlich nur auf Verben anwendbar sein sollte ( V E R V - L A C H E N V ) , auf ein Nomen appliziert wird. Allerdings könnte man VER\ - - 0 v auch als Circumfix - eventuell abstammend vom 'echten' VERV-Präfix - betrachten, das ein Verb aus einem Nomen ableitet, dessen eigentlicher 'Kopf rechts sitzt und dieser lautlich einfach leer bleibt.
180
Sprache unter der linguistischen Lupe
Ν
Ν TOILETTEN
N PAPIER
N
Ν
Ν
Ν
ROLLE
TOILETTEN
PAPIER
ROLLE
(TOILETTEN+[PAPIER+ROLLE]N]N
[(TOII^TTEN+PAPIERIN+ROLLEJN
Die Wahl der Alternative hängt ausschließlich davon ab, ob T O I L E T T E N P A P I E R oder P A P I E R R O L L E stärker lexikalisiert ist. Es wurden nun alle sprachlichen Einheiten beschrieben, von der kleinsten bis zur größten: Affix, Stamm, Wort, Phrase, Klausel, Satz. Eine Klausel (engl, 'clause') ist eine vollständig gesättigte Phrase mit allen Argumenten, die sich mit einer weiteren Klausel zu einem Satz ζ. B. Hauptsatz-Nebensatz-Gefüge - erweitern kann: [ [ H A N S D E N K T , DASS]KI AUS EN M A R I A J O S E F BETRÜGT]KIAUSEI-2]SATZ
Der Komplementierer
DASS
sättigt hierbei das Argument
WAS
von
DENKT: DENKEN(WER,WAS).
5.4 Phonologie und Phonetik Nachdem wir uns von der Pragmatik über die Semantik zur Morphologie und Syntax durch die sprachwissenschaftlichen Disziplinen gearbeitet haben, indem wir von wahrnehmbaren unsystematischen Äußerungen zu abstrakten und systematischen Ausdrücken in das Zentrum der Linguistik vorgedrungen sind, schließen wir hier den Kreis mit der Betrachtung von systematischen lautlichen Eigenschaften von Ausdrücken hin zu wieder äußerungsbedingten Merkmalen sprachlicher Gebilde. Für Letzteres zeichnet die Phonetik verantwortlich, für Ersteres ist die Phonologie zuständig. Beide Disziplinen sind eng verwandt — eigentlich fast zu eng —, und beide beschäftigen sich mit Lauten, also mit der gesprochensprachlichen Ausdrucksseite der Sprache. Eine genaue Abgrenzung dieser beiden Disziplinen hinsichtlich ihres Untersuchungsgegenstandes ist deshalb oft schwierig, und möglicherweise werden sie in Zukunft auch wieder auf nur eine einzige wissenschaftliche Disziplin zurückgeführt (Ansätze dazu gab es bereits). Als
Phonologie und Phonetik
181
wichtigstes Abgrenzungskriterium soll daher bei unserer knappen und eher einführenden Betrachtung gelten, dass sich die Phonetik mit den bei Äußerungen auftretenden universalen physiologischen und physikalischen Aspekten der Lautproduktion und -perzeption befasst, die Phonologie hingegen mit den grammatikalischen bzw. (einzel) sprachlichen Gegebenheiten und Vorgängen, was auch kognitionspsychologische Standpunkte mit einbezieht. In einer sehr groben Näherung mit fließenden Grenzen — wäre die Phonetik so eine Wissenschaft der Α-Sprache, die Phonologie sähe sich mehr mit der E- bzw. I-Sprache befasst. Als Phänomen der Ε-Sprache beschäftigte sich also die Letztere mit der Ausdrucksseite der bzw. einer Sprache (Lautgestalt), d. h. mit der Realisationsweise eines Ausdrucks und den Regeln der Verknüpfung mit anderen Ausdrücken, um beispielsweise auch Satzintonations- und Wortbetonungsregeln erfassen zu können.56 Die Implementierung dieses einzelsprachspezifischen Regelsystems im Gehirn eines Sprechers beim Spracherwerb realisiert dieses System als individuelles System von Regularitäten, das sprecherbezogene Realisationsund Verknüpfungsgewohnheiten fur die Ausdrücke zur Folge hat (wir gebrauchen Ausdrücke nicht nur individuell, wir realisieren diese - im zweifachen Sinne des Produzierens und Wahrnehmens — auch nach ganz persönlichen Gesetzmäßigkeiten). Aufgrund der angeführten Rahmenbedingungen lassen sich fur die Phonetik drei Subdisziplinen ausmachen, nämlich die auditive, akustische und artikulatorische Phonetik. Dabei ist Letztere derjenige Zweig, der sich mit den physiologischen Bedingungen bei der bzw. für die Inanspruchnahme der Artikulationswerkzeuge befasst; Zweitere zieht das Ergebnis des Artikulationsvorgangs als Untersuchungsobjekt heran, d. h., hier werden die physikalischen Eigenschaften eines Lautes — prinzipiell unabhängig von den tatsächlichen Sprechorganen - gemessen und beschrieben; Erstere schließlich beschäftigt sich mit der Wahrnehmung (Rezeption) von Lauten durch die Hörorgane sowie der Weiterverarbeitung der perzipierten Signale (hierbei ist zu beachten, dass der Sprecher meist auch sein eigener Hörer ist). Die Phonologie lässt sich ebenfalls in Unterdisziplinen zergliedern, die zum Teil historisch (diachron) begründet sind, zum Teil bedingt 56
Analog wurden in der Semantik ja die Gebrauchsbedingungen und die Regeln zur inhaltlichen Verknüpfung von Ausdrücken beschrieben.
182
Sprache unter der linguistischen Lupe
durch den Gegenstandsbeteich koexistieren (synchrone Perspektive). Hier sind vor allem die strukturalistische, die generative sowie die metrische Phonologie zu nennen. Mit dem Aufkommen der Ersteren wurde die Phonologie als eigenständiger linguistischer Teilbereich in Abgrenzung zur Phonetik erst begründet, weil hier vom konkreten Sprechen abstrahiert wurde und man sich auf die Sprache konzentiert hat (im Sinne der Ε-Sprache, langue); Zweitere ist eine neuere Richtung, die als Teil der generativen Linguistik zu verstehen ist, die sich ausschließlich mit dem sprachlichen Wissen eines ideal(isiert)en Sprechers auseinander setzt (d. i. I-Sprache, Kompetenz); Letztere legt ihr Augenmerk auf lautübergreifende Phänomene, d. h., es werden größere Lauteinheiten (Silben) hinsichtlich ihres Zusammenspiels ζ. B. bei der Akzentvergabe betrachtet. Zunächst jedoch wollen wir uns mit einem Teil der Phonetik befassen, weil diese Voraussetzung ist, um später überhaupt phonologische Phänomene diskutieren zu können. Dabei werden wir uns überwiegend auf die artikulatorischen Gegebenheiten bei der Sprachproduktion konzentrieren, weil hier am ehesten für die Sprache relevante Aspekte verborgen liegen. Im Bereich der akustischen Phonetik sind jedoch zumindest solche physikalisch messbaren Eigenschaften von Schallereignissen zu erwähnen, die einen realen Laut nach seinen Dimensionen Frequenz, Dauer und Intensität beschreiben. Dazu lassen sich verschiedene Mess- und Aufzeichnungsverfahren verwenden, die etwa eine Lautsequenz grafisch sichtbar machen (ζ. B. durch ein Sonagramm) oder deren Eigenschaften mathematisch beschreiben. Aufschlussreich ist hier die Feststellung, dass eine Lautsequenz ein Kontinuum darstellt, das von sich aus keinerlei Aufschluss über die lautlichen Segmente gibt, aus denen ein Wort oder Satz sich zusammensetzt. Meist sind in einer grafischen Darstellung oder numerisch-digitalen Aufnahme nicht einmal die Wörter voneinander abgrenzbar (als notorisches Problem der maschinellen Sprachverarbeitung bekannt). Für diese Aufgabe zeichnet sich der Wahrnehmungsapparat des Menschen und auch vieler Tiere als geeigneter aus, um den kontinuierlichen Lautstrom zu segmentieren und so einzelne Wörter bzw. Laute herauszuhören. Die auditive Phonetik hat sich nun mit den Randbedingungen des Sprachhörens oder -verstehens sowie den natürlichen bzw. künstlichen Verfahren zu befassen, die eine derartige Wahrnehmungsleistung zustande bringen und zu durchleuchten helfen. Es hat
Phonologie und Phonetik
183
sich dabei herausgestellt, dass natürliches Sprachhören auf kategorialer Wahrnehmung beruht, d. h., wir sind als Menschen in der Lage, stets einzelne wohlunterschiedene Laute aus dem Kontinuum herauszuhören.57 Die Erkennungs- und Einstufungsleistung bei Lauten wird marginal wohl noch erweitert durch die orthografischen Konventionen des jeweiligen Schriftsystems - sofern vorhanden. Die artikulatorische Phonetik befasst sich nun vor allem mit den Vorgängen beim Artikulieren, d. h. mit den physiologischen Bedingungen bei der Produktion von Lauten. Dabei ist von Interesse, welche Laute Menschen grundsätzlich hervorzubringen imstande sind im Gegensatz etwa zu Primaten und wie man diese Vielfalt ordnen und darstellen könnte. Es hat sich gezeigt, dass ein für alle Sprachen endliches Inventar an Lauten existiert, das die gesamte Bandbreite der menschlichen Lautbildungen erfassen kann. Zur Darstellung bedient man sich des Internationalen Phonetischen Alphabets (IPA), das von der Internationalen Phonetischen Assoziation (ebenfalls IPA) erstellt und gepflegt wird. Sie alle kennen es vermutlich noch aus dem Fremdsprachenunterricht, wo ζ. B. englische oder französische Wörter im Lexikon neben ihrer orthografischen Darstellung auch noch mit phonetischer Umschrift angegeben wurden. Allein dies kann als Anhaltspunkt zu deren Aussprache gelten, denn - wie wir alle leidvoll erfahren mussten - die Verschriftlichung basiert nicht immer auf der lautlichen Realisierung. Genau aus diesem Grund kann es auch nicht hinreichend sein, einfach nur die lateinischen Buchstaben zu nehmen und hieraus ein phonetisches Alphabet zu generieren. Erstens benötigt ein universales Alphabet viel mehr Buchstabenzeichen als die etwa 25 lateinischen, zweitens sind den verschiedenen lateinischen - oder griechischen oder kyrillischen etc. — Buchstaben oftmals verschiedene lautliche Realisierungen zugeordnet (vgl. etwa das Ε in SEE vs. SEKT vs. SÄUGER), und drittens existieren nicht-alphabetorientierte Schriften wie ζ. B. das Japanische und Chinesische, deren Grundbausteine aus Schriftzeichen bestehen, die Silben oder Morpheme wiedergeben. 57
Wir sind uns ζ. B. stets bewusst, ob wir TATEN oder DATEN gehört haben: D und Τ werden entweder als D oder als Τ verstanden, dazwischen existiert nichts. Es gibt also auch kein Kontinuum zwischen den Konsonanten. Ebenso können wir sagen, ob wir BEEREN oder BÄREN wahrgenommen haben (die Grenzen zwischen Vokalen sind fließender).
184
Sprache unter der linguistischen Lupe
Hinzu kommt, dass mehr als die Hälfte der Sprachen Tonsprachen sind, d. h., so wie sich im Deutschen die beiden Wörter SCHATZ und SATZ nur durch einen Anfangslaut unterscheiden (SCH ist ein Laut), so differenzieren Tonsprachen viele Wörter - trotz grundsätzlich gleicher Aussprache - nur mit Hilfe eines höher oder niedriger intonierten Vokals (denken Sie an den 'Singsang' vieler asiatischer Sprachen). Für den Bereich der Tonhöhe, den Tonhöhenverlauf und die Akzentstruktur können die so genannten Suprasegmentalia - segmentübergreifende Zusatzzeichen - verwendet werden, die über oder zwischen eine Gruppe von Lautzeichen geschrieben werden. Einzelne Lautzeichen des IPA werden ebenso mit diakritischen Zeichen kombiniert, um hiermit eine speziellere) Aussprache anzuzeigen. Zur Illustration soll hier das Lautinventar des Deutschen anhand von Beispielen wiedergeben werden. Die phonetische Umschreibung ist dabei immer in eckige Klammern [...] gefasst. • Die grundlegenden phonetischen Zeichen zerteilen sich zunächst in solche für Vokale, Gleidaute und Konsonanten:58 • Vokak. [a] wie in FALL, [a:] wie in BAHN, [α] wie in FABRIK, [α:]
• •
58
59
wie in FAHL, [ε] wie in STELLEN, [ε:] wie in STÄHLEN, [e] wie in STERIL, [e:] wie in STEHLEN, [a] wie in ATEM, [O] wie in ROTTE, [o] wie in MORAL, [o:] wie in ROT, [ce] wie in HÖLLE, [0] wie in ÖL, [0:] wie in HÖHLE, [1] wie in SCHIFF, [i] wie in SCHIKANE, [i:] wie in SCHIEF, [o] wie in RUM, [u] wie in KULANT, [u:] wie in RUHM, [y] wie in DÜNN, [y:] wie in RÜBE, [Y] wie in PHYSIK, [Y:] wie in DÜNE, [B] wie in OBER. Gleitlaute bzw. Halbvokale·, [j] wie in JUNG. Konsonanten·, [p] wie in PEIN, [b] wie in BEIN, [t] wie in TEICH, [d] wie in DEICH, [f| wie in FEIN, [v] wie in WEIN, [m] wie in MEIN, [n] wie in NEIN, [s] wie in REIßEN, [z] wie in REISEN, [R] oder [r] wie in REIN (Zäpfchen-r vs. gerolltes r), [1] wie in LEINEN, [J] wie in TASCHE. [3] wie in LOGE, [9] wie in REICH, [x] wie in RAUCH, [k] wie in KÖNIG, [g] wie in GANS, [η] wie in SINGEN, [h] wie in HAUS, f ] 5 9 wie in _AN, _IN, _OHNE, _UNTER usw. (alle mit Vokal beginnenden Wörter).
Vgl. Grewendorf & Hamm & Sternefeld ( 4 1990: 46), Ramers (1998: 31ff.) und Duden Universalwörterbuch ( 4 2001: 15). p] wird auch als Knacklaut bezeichnet.
Phonologie und Phonetik
185
• Suprasegmentalia sind beispielsweise (Liste unvollständig): • [*] bzw. [:] für die (Halb)längung eines Vokals (vgl. die Beispiele oben); • ['] bzw. [,] zur Anzeige der Haupt- bzw. Nebenbetonung (wird vor der Silbe neben dem ersten Laut der Silbe angebracht); • Π> Π> Π» Π u n d Π fr* extra-hohe, hohe, mittlere, tiefe und extra-tiefe Töne (kommt im Deutschen nicht vor). • Diakritika sind beispielsweise (unvollständig): • [~] für einen nasalierten Laut (ζ. B. im Französischen); • C1] fur einen aspirierten Laut, ζ. B. [th] wie in TOR oder AKT; • [ J für einen silbischen Konsonanten, ζ. B. [}] wie in NUDEL. Jede Äußerung lässt sich nun nach dem IPA transkribieren, d. h., man ermittelt die einzelnen Laute aus dem Kontinuum und versucht, diese auf die entsprechenden phonetischen Zeichen abzubilden. Hierzu bedient man sich des intuitiven Wissens um die Lautstruktur einer Muttersprache, wobei man oftmals auch auf die Kenntnis der orthografischen Realisierung zurückgreifen muss, um grobe Anhaltspunkte auf die innere Lautstruktur eines Ausdrucks zu erhalten. Der Vorteil des phonetischen Alphabets zeigt sich hauptsächlich für den Bereich des (Zweit) sprachlernens, aber auch für die Logopädie — d. i. die Lehre von den Sprachstörungen und deren Behandlung - ist es von zentralem Interesse, da Aphasiker häufig fragmentarische und von der Aussprachenorm abweichende Lautsequenzen äußern, die zu therapeutischen oder wissenschaftlichen Zwecken aufgeschrieben werden müssen. Was man dann erhält, ist ein phonetisches Transkript [...], das sich aus einzelnen Segmenten zusammensetzt. Ein Segment entspricht dabei im Prinzip einem Zeichen des phonetischen Alphabets, eventuell zusammen mit einem diakritischen Zeichen, und wird als Phon bezeichnet. Jedes Segment mag weiter nach phonetischen bzw. phonologischen Merkmalen unterteilt werden (Phone sind sozusagen keine unteilbaren Atome), die nach dem Ort und der Weise der Artikulation bestimmt sind. Jeder Laut muss mit mehreren der beim Sprechen benutzten Sprechwerkzeuge hervorgebracht werden, und diese sind für die Charakterisierung von Lauten entscheidend. Als Sprechwerkzeuge gelten die Lippen, die Zunge, die Zähne, der Gaumen, der Rachen(raum), das Zäpfchen, der Kehlkopf und die Stimmbänder. Letztere beispielsweise entscheiden, ob ein Laut stimmhaft oder stimmlos
186
Sprache unter der linguistischen Lupe
wird: [b], [g], [d], [z] etwa sind stimmhaft, [p], [k], [t], [s] hingegen stimmlos (stecken Sie Ihre Finger in die Ohren und summen Sie einmal [nnnn] fiir stimmhaft, dann [ssss] für stimmlos). Auf Basis der nackten Beschreibung der einzelnen Segmente bzw. Phone durch die Phonetik als von irgendeiner Sprache unabhängige Grundbausteine jedes Lautkontinuums lassen sich nun auch phonologische Grundeinheiten herausdestillieren, die die für eine bestimmte Einzelsprache relevanten lautlichen Charakteristika beschreiben. Solche (einzel)sprachspezifischen Eigenschaften legen fest, welche Laute in einer Sprache bedeutungsunterscheidend sind, und deshalb als minimal bedeutungs'tragende' Lautelemente gelten können. Im Deutschen etwa werden SCHEIN und SEIN durch genau einen Laut unterschieden, nämlich [J] und [z]; daher stellen diese zwei Phone ein für das Deutsche wesentliches Unterscheidungskriterium dar: Beim Austausch des ersten Segments ändert sich die Wortbedeutung. Analog lassen sich eine ganze Reihe weiterer Anfangslaute finden, die gleichfalls die Bedeutung beeinflussen: BEIN, DEIN, FEIN, KEIN, MEIN, NEIN, PEIN, REIN, WEIN mit den entsprechenden Lauten [b], [d], [fj, [kh], [m], [n], [ph], [r], [vj. Nicht relevant für das Deutsche dagegen ist ζ. B. die Unterscheidung nach [th] (aspiriert) und [t] (nicht aspiriert): Es wird kein Bedeutungsunterschied generiert, wenn TAL einmal als [tail], ein andermal als [tha:l] ausgesprochen wird (das mag von Sprecher zu Sprecher und Dialekt zu Dialekt variieren). Es gibt jedoch sehr wohl Sprachen, bei denen diese Änderung der Aspiration insofern bedeutungsunterscheidend wird, als damit zwei verschiedene lexikalische Einheiten angesprochen werden (wie ζ. B. im Thailändischen). Welche Elemente nun tatsächlich für eine Sprache relevant sind im Sinne einer Bedeutungsdifferenzierung, ist einzelsprachspezifisch festgelegt, wie die vorangegangenen Beispiele zeigten. Auf die oben dargelegte Weise lassen sich alle für eine bestimmte Sprache kontrastierenden Einheiten heraus filtern: Sie stehen sozusagen in Opposition zueinander, da sie nicht einfach füreinander einsetzbar sind, ohne dass damit auch verschiedene Morpheme oder Wörter bezeichnet würden — so wie [J] und [z] im Deutschen (ebenso alle anderen oben angeführten), oder [th] und [t] im Thailändischen. Diese kontrastierenden Eigenschaften sind aber keine wirklich physiologisch oder physikalisch festmachbaren Kriterien — sie werden lediglich artikulatorisch manifestiert —, sondern ergeben sich aus dem Gesamtsystem einer Einzelsprache: Es ist
Phonologie und Phonetik
187
die distinktive Funktion, die einem Laut einen bestimmten Wert innerhalb dieser Sprache zuweist, nicht seine tatsächliche Realisierung.60 Damit erhalten wir ein abstraktes Lautgebilde, das als Phonem bezeichnet wird und sich über seine für das Sprachsystem relevanten Eigenschaften definiert. Um den Unterschied anzuzeigen, werden Phoneme nicht in eckige Klammern [...], sondern Schrägstriche /.../ eingefasst. Ein abstraktes Phonem realisiert sich in einem oder mehreren konkreten Phonen: Als Standardbeispiel des Deutschen gilt /t/, das sich ja in Form eines [t] oder [th] manifestieren kann. Letztere beide werden dann Allophone von /1/ genannt. Weitere Beispiele sind zunächst, analog Obigem, /p/ mit den Realisierungen [p] und [ph] oder /k/ als [k] und [kh]; ferner aber auch /x/ in den Varianten [x] und [ς] (Konsonant in ACH vs. ICH).61 Das Phonem stellt so eine (abstrakte) Lautklasse dar, unter die eine Reihe verschiedener konkreter Realisierungen fallen. Seine Aufgabe besteht in der Zusammenlegung von einem oder mehreren in einer Sprache nicht distinktiven Phonen zu einer Klasse bedeutungsdifferenzierender Laute, die dann wegen ihrer funktionalen Eigenschaften in dieser Sprache mit anderen Phonemen (Lautklassen) in Opposition steht. Diese Oppositionen werden durch Minimalpaarbildung ermittelt, wie es ζ. B. am SCHEIN- vs. SEIN-Beispiel deutlich wurde. Das Phonem ist ein Gebilde, das in der strukturalistischen Phonologie Verwendung findet. Die generative Phonologie befasst sich weniger mit Phonemen als abstrakten Lautklassen, sondern vielmehr mit regelhaften phonologischen Prozessen, die im Rahmen der Grammatik einer Sprache zu beschreiben sind. Dabei werden die idiosynkratischen, d. h. nicht vorhersagbaren und eigenwilligen Lautmerkmale eines Ausdrucks - bedingt durch die Arbitrarität der Laut-BedeutungsZuordnung - im Lexikon der entsprechenden Sprache als phonologische Repräsentation niedergelegt. Bei der Verwendung eines lexikalischen Elements, also beispielsweise wenn aktuell ein Wort oder Satz gebildet werden soll, tritt diese Repräsentation in phonologische Prozesse der Grammatik ein, die dann darüber eine regelgeleitete Trans60
61
Der Wert 5 Euro ist unabhängig von seiner Realisierung als Schein oder Münzen; die distinktive Funktion (ζ. B. zu 10 Euro) liegt nur im abstrakten Wert. Die Wahl des Phonemzeichens ist prinzipiell nicht festgelegt: Statt /x/ bzw. /1/ hätte man auch /ς/ bzw. /t*1/ verwenden können.
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Sprache unter der linguistischen Lupe
formation vollzieht und so die endgültige phonetische Repräsentation generiert, die schließlich an die Artikulationswerkzeuge weitergegeben wird. Beispielhaft hierfür mag die Angleichung des [n] an ein nachfolgendes [g] oder [k] sein: [ng] bzw. [nk] wird stets als [r|] bzw. [qk] artikuliert. Diese Regelhaftigkeit kann als phonologische Regel ausformuliert werden, die diese Gesetzmäßigkeit wiedergibt, etwa /nk/ => [qk]. Ähnliches ist dann für die Aspiration am Wortanfang /k/ => [kh], den Knacklaut am Wortanfang bei Vokalen /a/ => Pa] (sowie alle anderen Vokale), und die so genannte Auslautverhärtung möglich, bei der z. B. finales /d/ oder /b/ als [t] bzw. [p] gesprochen werden (vgl. RAD und DIEB).
Sinn dieser Regelformulierungen ist zum einen, dass man das Phoneminventar einer Sprache verringern kann - ζ. B. fallt dann das [η] aus dem Deutschen heraus, weil es indirekt durch die Grammatik jeweils neu für die aktuelle Aussprache generiert wird; zum anderen existieren aber auch insofern Indizien für diese Sichtweise, als bisher unbekannte Wörter mit denselben Segmenten auch denselben phonologischen Prozessen unterliegen: Ein Deutscher wird in WONGE keine anderen Regularitäten entdecken als in WANGE und daher statt /ng/ [q] aussprechen. Solche fest in die Grammatik eingeprägten Regelhaftigkeiten werden besonders deutlich beim Lernen einer Zweitsprache, wenn wir zunächst mit starkem Akzent sprechen, weil wir ja automatisch die phonologischen Regeln des Deutschen über die neue Sprache legen: SNOB wird im Englischen mit [b] am Schluss gesprochen, im Deutschen jedoch meist als [p] wiedergegeben, weil hier die Regel zur Auslautverhärtung eingesetzt hat.62 Wenn man sagt, dass man eine fremde Sprache mit einem Akzent spricht, dann hat das auch damit zu tun, dass Wörter oft falsch betont werden. Auch für diesen Bereich stellen wir fest, dass es sprachspezifische Regeln gibt, wie lexikalische oder neu gebildete Wörter auszusprechen sind. In nicht geringerem Maße gilt dies auch für Sätze: Wir 62
Die Erstsprachabhängigkeit merkt man auch daran, dass native (eingeborene) Sprecher hinsichtlich anderer Sprachen ganz charakteristische Akzente aufweisen. Man kann meist sogar erraten, welche Erstsprache ζ. B. ein Zweitsprachler des Englischen spricht. Würde es keine für eine Sprache spezifischen phonologischen Regeln geben, die sich als Teil ihrer Grammatik manifestieren, gäbe es auch keine solchen Akzentphänomene (hinzu kommen auch die Probleme mit den in der nativen Sprache nicht vorhandenen Lauten, im Deutschen etwa TH).
189
Phonologie und Phonetik
als Sprechet des Deutschen wissen, dass wir jeden Aussagesatz in eine Frage verwandeln können, indem wir eine entsprechende Satzmelodie (Prosodie, Satzintonation) verwenden, die zum Ende des Satzes hin nicht abfällt, sondern ansteigt. Im gleichen Sinne haben für spontan gebildete Komposita, für die man nicht auf ein gelerntes Lautmuster aus dem Lexikon zurückgreifen kann, bestimmte Betonungsregeln zu gelten. Solche phonologischen Regeln erwirbt man offensichtlich zugleich mit den semantischen und morphosyntaktischen Regeln, die ja alle zusammen genommen die Grammatik einer Sprache ausmachen. Für die Beschreibung der Akzentstruktur von Wörtern interessiert sich nun vor allem die metrische Phonologie. Hierbei wird als Grundeinheit nicht ein einzelnes (Vokal) segment angenommen und untersucht, sondern die Silbe. Für die Darstellung der Silben- und Akzentstruktur bedient man sich der metrischen Bäume, in die man die betonten und unbetonten Silben einträgt (s für engl, 'strong' = stark/betont, w für engl, 'weak' = schwach/unbetont): s s SOM
w w MER
s
w RE
s GEN
SOM
s
w
w
s MER
RE
w GEN
Die beiden linken Teilbäume geben die Betonung der jeweils zweisilbigen lexikalischen Ausdrücke wieder; im rechten Teilbaum wird daraus ein Kompositum gebildet, dessen beide Teile SOMMER und REGEN ihrerseits einer 'höheren' Betonung unterliegen, d. h., einer der Kompositumsbestandteile ist als Ganzes stärker gewichtet als der andere (hier SOMMER). Hinzu kommt hier jedoch die Beobachtung, dass nicht alle Akzente der Silben des Kompositums gleich schwach oder stark sind. Diesem Umstand wird dadurch Rechnung getragen, dass man die relative Stärke bzw. Schwäche eines Akzents hinsichtlich der Gesamtstruktur angibt. Hierzu konstruiert man zusätzlich ein metrisches Gitter:
Sprache unter der linguistischen Lupe
190
s| 1 SOM * * *
w I 1 MER *
s I 1 RE * *
w 1 1 GEN *
Die Anzahl der Sternchen unter den Silben legt die Stärke des Akzents fest. Wörter mit noch mehr Silben können bedingen, dass auch mehr als drei Stärken möglich sind. Mit Hilfe solcher metrischen Bäume und Gitter können nun auch sprachspezifische Regularitäten formuliert werden, wie beispielsweise die Akzentverteilung und -generierung in deutschen Komposita (hierbei bestätigen zahlreiche Ausnahmen die Aufstellung dieser Regeln). Allgemein haben wir die Aufgabe der Phonologie ja darin gesehen, die in einer bestimmten Einzelsprache herrschenden Gesetzmäßigkeiten als Teil der Grammatik einer Sprache zu formulieren. Hierzu zählen auch die grundsätzlichen phonotaktischen Regeln der Lautverknüpfimg, d. h., es existieren je Sprache eine Reihe von Restriktionen über die überhaupt möglichen Lautverbindungen. Im Deutschen etwa kann am Wortanfang weder /tk/ noch /kt/ vorkommen, was in anderen Sprachen möglich sein mag; erlaubt ist hingegen /kt/ innerhalb eines Wortes (AKT) oder /tk/, wenn zwei Morpheme zusammenstoßen (ROTKOHL). Ebenso muss die Phonologie - wie soeben gezeigt auch die Phänomene der Wortakzentuierung, Satzintonation und die Angleichung (Assimilation) von Lauten an andere Laute in bestimmten Lautumgebungen beschreiben und erklären. Auf der Ebene ganzer Sätze untersucht die Phonologie dann jedoch nicht mehr einzelne Laute oder Silben, sondern Eigenschaften, die über alle Wörter eines Satzes hinweg gültig sind (ζ. B. bei Fragesatzbildungen). Hierzu muss auch die Untersuchung von Sprechpausen gerechnet werden, die einen erheblichen Einfluss auf die Rekonstruktion der grammatischen Struktur eines Satzes haben können, indem Phrasen- oder Wortgrenzen angezeigt werden (ansatzweise mittels Interpunktion in der Verschriftung realisiert).
Lexikon(theorie)
191
Besonders in Tonsprachen - das sind solche, die allein durch die Tonhöhe eines Lautes Wörter unterscheiden - wird der Zusammenhang zwischen Musik und Sprache deutlich. Aber auch die Akzentuierungsmuster von Wörtern und Sätzen deuten an, dass ein enger Zusammenhang zwischen Tönen, Takt(ung) und Sprechen besteht. Es ist sicher nicht als evolutionärer Zufall zu begreifen, dass der Mensch das einzige Lebewesen unseres Planeten ist, das sowohl über Sprache wie auch über Musik verfugt. Allein die Möglichkeit, Texte als Gesang wiederzugeben, zeigt, dass hier eine intime Beziehung bestehen muss, die vielleicht einmal in einer integrativen, kognitiv orientierten Theorie der Musik und Sprache formuliert werden kann. Takt(ung) konstruiert Struktur, und diese macht Musik und Sprache aus.
5.5 Lexikon(theorie) In diesem Abschnitt wollen und müssen wir die aus den vorangegangenen Kapiteln erworbenen Kenntnisse aus den Hauptdisziplinen der Linguistik - der Pragmatik, Semantik, Morphologie/Syntax und Phonologie/Phonetik — zusammenführen, denn die Lexikologie als Lehre von der Erforschung des Lexikons beschäftigt sich mit dem internen Aufbau des Wortschatzes, der als Sammelbecken der verschiedenen linguistischen Betrachtungsebenen begriffen werden kann. Umgangssprachlich wird unter dem Begriff 'Lexikon' zumeist so etwas wie ein Wörterbuch oder eine Enzyklopädie verstanden, die jeweils Wörter auflisten, zum Teil deren Bedeutung spezifizieren und eventuell zusätzliche Informationen bereitstellen. Diese Vorstellung ist bezüglich der linguistischen Betrachtung von Lexika gar nicht so falsch, denn hier wird ja auch eine bestimmte Wortform mit einem Inhalt korreliert, der neben einer bloßen Wortbedeutung auch zusätzliches wortbezogenes Weltwissen umfassen kann: Damit haben wir im Prinzip genau das, was wir als sprachliches Zeichen definiert haben. Ein Lexikon ist also ein Art von Übersicht über die in einer Sprache vorhandenen Wörter (bzw. Wortformen), ihre Bedeutung (Gebrauchsweise) sowie zusätzlichen Informationen über die durch das Wort denotierte Entität (allgemeineres und spezielleres Wissen).
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Mit dieser Vorstellung sind zweierlei Folgerungen verbunden: Zum einen die Tatsache, dass Linguistik aus zwei verschiedenen 'Blickwinkeln' heraus betrieben werden kann, deren Übergänge jedoch fließend sind - nämlich einem, der den linguistischen Gegenstandsbereich in weitgehend voneinander unabhängige Teildisziplinen wie Pragmatik, Semantik, Morphologie und Syntax sowie Phonologie und Phonetik zerlegt, und einem, der wie die Lexikon- und Grammatiktheorie die genannten Teildisziplinen integrativ und als abhängig voneinander betrachtet. Zum anderen ergibt sich aus obiger Vorstellung von einem Lexikon auch, dass wir damit offenbar kein individuelles mentales Lexikon eines einzelnen Menschen meinen, sondern ein externes überindividuelles und soziales Gebilde, das sich in Form materieller Lexika wie ζ. B. Bücher oder CD-ROMs niederschlägt. Lexikologie wird in diesem Sinne daher zu einer Angelegenheit des überindividuellen Sprachsystems einer Einzelsprache (d. i. Ε-Sprache, langue), weil wir oben ja von Wortformen und vor allem Bedeutungen (Gebrauchsregeln) gesprochen haben. Moderne Lexikologie bezieht sich heute jedoch meist auf das individuelle Sprachsystem (d. h. I-Sprache, faculte de langage oder Kompetenz) und seine Einbettung in die kognitiven Strukturen und Prozesse des Gehirns, so dass die Lexikologie mitderweile auch zu einer neuropsychologischen und -physiologischen Angelegenheit geworden ist. Was wir hier in diesem Kapitel erreichen wollen, liegt damit zum Teil auf der Hand: Da wir uns mit dem Lexikon und später auch mit der Grammatik befassen wollen, werden wir - wie bereits angedeutet - einen integrativen Standpunkt einnehmen und detailliert den Aufbau des Lexikons und der darin enthaltenen lexikalischen Einheiten (Lexeme) untersuchen. Hierbei werden wir vor allem das individuelle mentale Lexikon eines idealen Sprechers und dessen Funktionieren im Zusammenwirken mit anderen kognitiven Modalitäten betrachten, jedoch auch versuchen, eine Vorstellung von einem abstrakten überindividuellen Lexikon im Sinne dessen zu erhalten, was die Sprechergemeinschaft sich unter einem Wort oder Wortbestandteil Vorstellt'. Die vorrangige Betrachtung des I-Lexikons hat zur Folge, dass wir uns zuvorderst auch mit den kognitiven Korrelaten der linguistischen Teilbereiche zu befassen haben: Wie sind phonologische, morphologisch-syntaktische und semantisch-pragmatische Strukturen und Prozesse im Gehirn eines kompetenten Sprechers eigentlich implemen-
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riert? Die Beschäftigving mit I-Semantdk ist notwendigerweise ja eine konzeptuell bzw. kognitiv begründete Semantik, d. h., wir betrachten hier nicht mehr Gebrauchsregeln und Bedeutungen, sondern individuelle Verwendungsregularitäten (Gebrauchsgewohnheiten) oder Informationen. Dies gilt ganz analog für die kognitiven Entsprechungen phonologischer und morphosyntaktischer wie auch (diskurs)pragmatischer bzw. performativer Strukturen oder Prozesse. Die notwendigerweise neurophysiologische Grundlage solcher I-sprachlichen Phänomene bringt uns zurück zu Saussure, der das Zeichen als psychische Entität im Sinne eines Assoziationskomplexes aus Lautbild und Begriff (Vorstellung/Konzept) verstanden hat. Die I-Zeichen sind so materielle Korrelate der immateriellen Ε-Zeichen, die wir bereits als einen arbiträren und konventionalen Komplex aus Ausdruck und Bedeutung beschrieben haben. Das Lexikon als Aufbewahrungsort von Zeichen ist nicht nur auf Wörter beschränkt. Auch Einheiten unterhalb der Wortebene - Affixe und Stämme — und darüber — (idiomatische) Phrasen und Sätze müssen in das Lexikon aufgenommen werden: Das sind all diejenigen Ausdrücke, deren Bedeutung sich nicht aus den Bestandteilen ergibt, entweder weil der Ausdruck gar nicht weiter zerlegbar ist oder die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks ein Eigenleben entwickelt hat. Gerade auch bei solchen idiomatischen Wendungen zerfließen wieder die Grenzen zwischen Lexikon und Grammatik: Es gibt Idiome, die keinerlei Veränderungen vertragen - Ζ. B. MIT MANN UND MAUS =J> ?MIT FRAU UND MAUS, ?MIT MANN UND MOPS, POHNE MANN UND
- , und auch andere, die bis an gewisse Grenzen grammatischen Prozessen unterworfen werden können beispielsweise MIT FUG UND RECHT => MIT UNFUG UND UNRECHT (quasi als Negation des Idioms). Soll man Einheiten solcher Art nun als lexikalische oder grammatische Strukturen betrachten? Hier wird deutlich, dass auch die Trennung von Lexikon und Grammatik keine so eindeutigen Grenzlinien aufweist, wie man es gerne haben möchte. Grundsätzlich ist sie natürlich insofern sinnvoll, als Wörter notwendige Voraussetzung zur Bildung von Sätzen sind — Kinder müssen erst Wörter lernen, um überhaupt Sätze bilden zu können - , und Wörter anders im Gehirn repräsentiert und verarbeitet werden, als etwa Sätze aus grammatischen Prozessen hervorgehen. MAUS, PMIT M A N N ODER MAUS
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Mit dem Aufbau des kognitiven Lexikons und dem Erwerb einer grammatischen Kompetenz zur Benutzung dieses Lexikons erwirbt ein Sprecher nicht nur das Wissen, wie man Erscheinungen der Welt in Worte fassen kann, um sie damit zu kategorisieren und zu verstehen, sondern auch die Fähigkeit, andere Individuen über die eigenen Ansichten und Erkenntnisse zu informieren, sie zu beeinflussen und somit indirekt Zugriff auf ihre mentalen Strukturen zu erlangen. Ein Sprecher ist in der Lage, mit Hilfe seines mentalen Lexikons und seiner kognitiven Grammatik seine Intentionen, Pläne, Ziele, Imaginationen, Konzepte, Perzepte, Gefühle oder Ideen in sprachliche Ausdrucksformen zu übersetzen und diese zu artikulieren. In diesem Sinne ist die I-Sprache als Schnittstelle zwischen Gedanken- und Außenwelt zu betrachten, die die rein subjektiven Empfindungen — gemeint sind Eindrücke all jener Art, wie sie oben aufgezählt wurden - in objektive und damit auch von anderen Individuen interpretierbare Lautsequenzen kodiert. Lexikalische Einheiten müssen daher Eigenschaften dergestalt aufweisen, dass sie Anbindungen an verschiedene kognitive Modalitäten erlauben - wie Motorik, Wahrnehmung, Denken um so die Überbrückung zwischen diesen eigentlich inkompatiblen kognitiven Operations- und Repräsentationsmodi überhaupt bewerkstelligen zu können. I-Lexeme sind nun als Sammelbecken und Integrationsort dieser unterschiedlichen Modi zu betrachten, nicht nur im Hinblick auf sprachliche Kategorien wie phonologische, morphosyntaktische sowie semantisch-konzeptuelle Merkmale, sondern auch in Bezug auf pragmatische und außersprachliche Faktoren wie Diskursrepräsentation, Sprech (er) ab sichten (allgemeine Intention, spezielle IIlokution) oder begleitende Empfindungen wie Perzeptionen, Wertungen oder Gefühle/Emotionen. Irgendwie muss ein Sprecher es schaffen, nicht nur alle diese unterschiedlichen Empfindungen in ein und dasselbe Medium — die Sprache — zu gießen, sondern auch zwischen diesen verschiedenen Modalitäten zu 'übersetzen'. Wir alle sind nämlich imstande, • sprachliche Anordnungen (Befehle, Fragen) in mentale oder motorische Aktionen umzusetzen (GIB MIR BITTE DAS SALZ! W A S ERGIBT 13· 1 7 ? STELL DIR DIE EIER LEGENDE WOLLMILCHSAU VOR!);
• perrgpierte oder vorgestellte (imaginierte) Entitäten sprachlich auszudrücken (ICH SEHE EINEN BAUM; ICH HÖRE MUSIK; ICH TASTE ET-
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WAS WEICHES; ICH SCHMECKE SALZIGES; ICH RIECHE VERFAULTES; ICH STELLE MIR EIN EINHORN VOR);
• interne physische und psychische Zustände sprachlich zu vermitteln (ICH HABE HUNGER; ICH BIN ENTSETZT; ICH BIN NEIDISCH);
• kon^eptuelle Inhalte wiederzugeben
(DER MOUNT EVEREST IST DER
HÖCHSTE BERG DER E R D E ; WENN Α < Β UND Β < C IST, DANN IST AUCH A < C ) .
Dies alles kann nur dann funktionieren, wenn an irgendeiner Stelle in der Kognition ein geordneter und steuerbarer Zugriff auf eine koordinierte Menge sprachlicher wie außersprachlicher Elemente stattfinden kann, wobei die Einheiten verschiedener Modalitäten assoziativ-netzwerkartig untereinander verknüpft sind. Dieser Ort ist (ausschließlich) das Lexikon mit seinen lexikalischen Einträgen, die intern hinsichtlich phonologischer, morphosyntaktischer, semantisch-konzeptueller und auch pragmatischer Eigenschaften strukturiert sind, um damit sprachliche und außersprachliche Kategorien einzubeziehen (dies ist eine Erweiterung der bisherigen Sicht). Die Aktivierung eines (Inhalts)lexems wie etwa HUND - aktivieren Sie nun bitte diesen Ausdruck bei sich! fördert eine Reihe sprachlicher und nicht-sprachlicher Eindrücke zutage, etwa dass dies ein Nomen ist, das kein Argument braucht und ein Hyponym von TIER ist, das Wort so und so ausgesprochen wird, dass damit eine so oder so geartete (proto)typische Vorstellung eines Hundes einhergeht (ein Schäferhund? ein Dackel? ein Setter?), die mir das visuelle, taktile, akustische und olfaktorische Erscheinungsbild ins Bewusstsein ruft, und schließlich auch, dass sich mein gesamtes Wissen über Hunde und meine Erfahrungen mit ihnen hinter diesem einen Wort verbergen und zu jeder Zeit aktivieren lassen (was sie fressen, wie alt sie werden, wo sie leben, wie man sie erwirbt, wozu sie fähig sind usw.). Es scheint, als sei das Lexikon als Teil der Sprache die Ordnungsinstanz für die gesamte Kognition, um verschiedenste (Sinnes)eindrücke und auch andere Informationen aus einer bestimmten kognitiven Domäne in systematischer Weise zu Lexemen zu integrieren und damit einen gesteuerten Zugriff auf ein Bündel zusammengehörigen Wissens zu erhalten. Eine entscheidende Rolle hierbei spielt auch das so genannte kon^eptuelle System als derjenige Bereich der Kognition, in dem die außersprachlichen Modalitäten der Perzeption und Motorik wie des Denkens und Fühlens in systematischer Weise korreliert werden können. Eine
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Anweisung oder ein Gruß müssen ja nicht sprachlich formuliert werden, oft reicht dafüir auch eine Handbewegung oder ein entsprechender Gesichtsausdruck, so dass die sprachliche Modalität hier gar nicht ins Spiel kommen muss. Nichtsdestotrotz haben hier aber TJbersetzungsprozesse' stattgefunden, wenn die Interpretation einer Handbewegung zu motorischen Reaktionen fuhrt, ζ. B. zum Zurückgrüßen. Irgendwo müssen solche gesteuerten und steuerbaren Umrechnungsprozesse stattfinden - man hat es ja letztlich selbst in der Hand, ob man zurückgrüßt oder nicht, denn hier liegt kein unvermeidliches Reiz-Reaktions-Schema zugrunde und man schreibt diese eben dem konzeptuellen System zu. Dessen Eigenschaften sind gerade derart, dass zum einen verschiedene kognitive Domänen untereinander kompatibilisiert werden können, um hieraus intermodule. Konzepte zu erzeugen und Operationen ablaufen zu lassen, zum anderen aber auch von den zunächst domänenspezifischen Formaten abstrahiert werden kann, um zu ^modalen Konzepten und Operationen zu gelangen. Letzteres sind ζ. B. abstrakte Schlussfolgerungsschemata wie X -> Y (ist X der Fall, dann ist/wird auch Y der Fall) oder [[Χ Ξ Υ] Λ [Υ Ξ Ζ]] [X = Z] (wenn X äquivalent Y und Y äquivalent Z, dann gilt auch immer X äquivalent Z): Für Χ, Y und Ζ lassen sich hierbei beliebige Entitäten einsetzen, etwa Perzepte (ζ. B. drei gleiche Eier) oder mathematische Formeln ([[4a2 = (2+2)a2] A [(2+2)a2 = (2a)2]] -> [4a2 = (2a)2]) usw. ^Imodale Konzepte wie Operationen sind als abstrakte Einheiten verfügbar und können — wie gezeigt — in der konkreten Anwendung fur bestimmte Formate spontan spezialisiert werden — beispielsweise auf Perzepte, Formeln usw. Interniodale Konzepte und Operationen bestehen aus einer Vieh.ahl miteinander korrelierter Komponenten, die aus verschiedenen Modalitäten stammen und ein assoziatives 'Nebeneinander' begründen: Wenn irgendein Objekt mein Sichtfeld erreicht, vergleiche ich es zunächst mit allen mir zur Verfügung stehenden prototypischen Vorstellungen mir bekannter Objekte und versuche so, dieses Objekt zu kategorisieren, so dass ich ein entsprechendes Perzept davon erlangt habe; daraufhin kann ich mit Hilfe dieses Perzepts von ζ. B. einem Hund auch das entsprechende Lexem HUND und in der Folge mein gesamtes Wissen darüber - das größtenteils gerade nicht-perzeptueller Natur ist — aktivieren. Über beide Konzeptund Operationstypen - amodal wie auch intermodal - kann das kon-
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zeptuelle System also bestimmte Übersetzungen zwischen verschiedenen Modalitäten erreichen. Lexeme als zwischenmodale Gebilde können gleichsam als TJbersetzungsagenturen' charakterisiert werden, die aufgrund ihrer sprachlichen und außersprachlichen Elemente die gesamte Kognition kanalisieren: Mit dem Erwerb eines Lexems gibt es plötzlich einen Ort im Kopf, an dem zu diesem ganz bestimmten Gegenstandsbereich sämtliches Wissen auf einmal verfügbar wird. Dieser Schnittstellencharakter des Lexikons (wie auch der Grammatik) bzw. der ganzen Sprache unterstreicht auch nochmals ihren Werkzeugcharakter: Es ist einem Sprecher damit nicht nur möglich, die Außenwelt an seiner Innenwelt teilhaben zu lassen, sondern auch seine Kognition zu ordnen. Diese beiden Funktionen des Lexikons — im Sinne der darin enthaltenen IZeichen — müssen sich im internen Aufbau von Lexemen widerspiegeln: Zum einen muss es möglich sein, Wahrgenommenes zu benennen und zu kategorisieren, zum anderen auf potenzielle Gesprächspartner einzuwirken und sie mit der Äußerung von Wörtern und Sätzen zu bearbeiten'. Ein Hauptbestandteil jedes Lexems muss daher sein Bedeutungsaspekt bzw. seine inhaltliche Bestimmung sein: Wir haben bereits festgestellt, dass ein I-Zeichen eine Verknüpfung eines Lautbildes und eines Begriffs ist, der sich seinerseits als Komplex aus einem (lexikalischen) Konzept und einer (prototypischen) Vorstellung ergibt. Dieser kognitive Prototyp - eine Art exemplarisches Durchschnittsbild aller bisher tatsächlich wahrgenommenen konkreten Objekte derselben Kategorie, ζ. B. HUND - wird bei der Identifizierung bzw. Kategorisierung eines aktuell wahrgenommenen Objekts als Vergleichsmaßstab herangezogen, indem die in der Vorstellung gespeicherten prototypischen Merkmale 'statistisch' mit den aktuellen perzeptuellen Merkmalen verglichen werden, um so dieses Objekt (v)erkennen zu können.63 Ein entsprechendes lexikalisches Konzept umfasst neben diesen rein auf der Wahrnehmung basierenden Eigenschaften einer Entität auch noch zusätzliche konzeptuelle Merkmale und assoziiertes Wissen. Wir sind nämlich ebenso in der Lage, nicht nur ein Per-
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Es ist durchaus möglich, dass dies in einem eigenen per^eptuellen System vor sich geht, das unabhängig vom kon^eptuellen System agiert. Indirekt wird jedoch immer auch Letzteres mit einbezogen, wenn das erkannte Objekt (Perzept) das ihm entsprechende lexikalische Konzept aktiviert.
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zept einem lexikalischen Konzept zuzuordnen, sondern auch anhand einer gänzlich konzeptuell-propositionalen Beschreibung Objekte zu identifizieren: Es gibt ein X, das vier Beine hat, des Menschen zweitbester Freund ist, miaut und faucht, ein Fell hat und gern mit Wollknäueln spielt. Auch ohne ein derartiges Geschöpf wahrnehmen zu müssen, können wir diese rein sprachliche Beschreibung sofort einem Tier zuordnen. Dies geschieht über die im lexikalischen Konzept gespeicherten nicht perzeptuell basierten Merkmale, die sich als Konglomerat von Verwendungsbedingungen - benutze das Lexem KATZE, um ζ. B. das fragliche Objekt X zu benennen, nur dann, wenn X miaut oder einen Buckel macht und Mäuse jagt und/oder so weiter —, Verknüpfungsnetzen - X ist Hyp(er)onym zu Υ, X steht in assoziativem Verhältnis zu Y / Z (ζ. B. KATZE zu HUND und MAUS) - sowie zusätzlichem, nicht bedeutungsrelevantem (Spezial)wissen - X wird im Durchschnitt η Jahre alt, bekommt circa m Junge und besucht statistisch q-mal den Tierarzt - darstellen. Nach diesem ersten groben Blick auf die Konsistenz lexikalischer Einheiten können wir uns langsam etwas detaillierter an deren Innenleben heranwagen. Dabei ist der interne Aufbau sowohl des gesamten Lexikons als auch der einzelnen Lexeme darin allerdings noch immer der Gegenstand linguistischer Modellbildung und auch kontroverser Diskussionen. Deshalb soll hier zuerst ein informeller Überblick über deren Struktur gegeben werden, der zunächst einfach nur den mutmaßlichen Aufbau von Lexikon und Lexemen beschreibt. Später werden wir daran anknüpfend einen noch genaueren Blick darauf werfen müssen und einige Details explizieren. Wie wir bereits gelernt haben, beinhaltet die Spezifikation eines lexikalischen Elements sprachliche Merkmale — d. h. phonologische, morphosyntaktische und semantische Eigenschaften - sowie auch außersprachliche Merkmale - d. h. pragmatische und konzeptuelle Eigenschaften: • phonologische Merkmale·. Aussprache eines Lexems (d. h. Lautsegmente, Silbenstruktur, Betonung); • morphosyntaktische Merkmale·, das/die Morphem(e), aus dem/denen das Lexem zusammengesetzt ist (d. h. Stammform samt abgewandelte [unregelmäßige] Formen); Kategorie des Ausdrucks (d. i. Morphem-, Wort- oder Phrasenkategorie) und dessen mögliche syntaktische Argumente (Anzahl wie Typ);
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• semanttsch-pragmatische Merkmale. Diese teilen sich auf in sprachlichsemantische und (außersprachlich-pragmatische Eigenschaften: • semantische Merkmale: semantische und assoziative Verbindungen; Zahl und Typ der Argumente des Begriffs als Theta-Rollen (thema-
tische Rollen, semantisch-kon^eptuelle
Argumente);
• pragmatische Merkmale·, individuelle Anwendungs- bzw. Aktivationsbedingungen als essenzielle, charakteristische und periphere Merkmale bzw. 'Regeln'/Bedingungen (deklarativ und prozedural); zusätzlich nicht bedeutungsrelevantes Wissen; konzeptuelle/kognitive Kategorie des Begriffs-, Prototyp. Dieser Überblick bedarf freilich noch einer näheren Erläuterung. Zunächst haben wir die phonologischen Merkmale, die man als sprachliche Realisation des Lautbildes betrachten kann. Hier werden konkret die Regeln zur Aussprache oder Erkennung eines Ausdrucks implementiert, also letztlich phonetische Instruktionen fur die Artikulationsmotorik oder Hörwahrnehmung aktiviert. Hierbei ist die Silbenstruktur sowie das zugehörige Betonungsmuster (Intonation, Akzentuierung) des Gesamtausdrucks von Interesse: Welche Silbe oder welches Wort trägt den Hauptakzent, welche Lautsegmente können unterschieden werden und wie sind diese lautlich aneinander gefugt. Die phonologische Form eines Ausdrucks (Wort oder Satz) dient zum einen seiner Produktion (Aussprache), zum anderen wird sie auch zur Rezeption (Lautwahrnehmung) als Vergleichsmuster herangezogen.64 Die semantisch-pragmatischen Merkmale entsprechen all dem, was als Bedeutungs- oder besser Inhaltsaspekt eines Zeichens angesehen werden kann. Die semantischen Einträge beziehen sich hierbei ζ. B. auf die Korrelate der semantischen Relationen wie etwa Hyp(er)onymie, Synonymie/Antonymie oder Metonymie, aber auch auf die assoziativen Verknüpfungen wie Aktor-Aktion (HUND-BELLEN, BLUME - B L Ü H E N , WASSER-FLIEßEN usw.) oder Ursache/Gegebenheit-Wirk u n g / F o l g e r u n g ( K R I E G - E L E N D , SCHIFF-WASSER, LOTTOGEWINN
Diese Relationen sind in jedem Falle konzeptuell (da I-semantisch), aber nicht alle sind auch konventional: Meronymi-
-MILLIONÄR USW.).
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Die phonologische Form eines Lexems kann noch um die graphemische Form ergänzt werden, wenn zusätzlich noch die orthografischen Ausdrucksmöglichkeiten berücksichtigt werden sollen (in Form von Anweisungen an die Schreibmotorik bzw. visuelle Wortperzeption).
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sehe Beziehungen (Teil-Ganzes-Relationen) ergeben sich aus den ontologischen Eigenschaften der Dinge selbst — ihrer realweltlichen Beschaffenheit - und brauchen nicht konventionalisiert zu werden (sie müssen bestenfalls gelernt werden), hyp(er)onymische Relationen indes sind !WftW»«