Die spanische Inquisition : Geschichte und Legende 3423047003

'Es ist bequem, das Mittelalter und die Inquisition nach heutigen Maßstäben zu verketzern; eine solche Verdammung e

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German Pages [222] Year 1996

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Die spanische Inquisition : Geschichte und Legende
 3423047003

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Robert Lemm: Die Spanische Inquisition

dtv Wissenschaft

Das Buch Der Begriff »Inquisition« steht für gnadenlose Verfolgung politisch oder religiös Andersdenkender, Abweichler oder Oppositioneller durch Kirche und Staat. Das Phänomen selbst ist nicht aus der Welt, auch wenn es heute unter anderen Namen auftritt. Als Inbegriff ver­ weist man auf die Spanische Inquisition des ausgehenden Mittel­ alters, obwohl die Inquisition weder eine spanische noch eine christ­ liche Erfindung ist. Doch Spanien war zweifellos das erste Land im christlichen Westen, in dem sich die Inquisition mit der Staatsmacht verband und so zu einem bedeutenden politischen Instrument wur­ de. Daran knüpfte sich eine düstere Legende, die in den folgenden Jahrhunderten weiterlebte. Die Literatur trug fleißig zur Mythen­ bildung und damit zur Verfälschung der Geschichte bei. Dem Autor ist es ein Anliegen, die auf Quellen aus dem 15. Jahrhundert gestütz­ ten historischen Tatsachen mit der »Wirkungsgeschichte« zu kon­ frontieren. So folgt dem ersten Teil des Buches, in dem der Ursprung, die Funktion und der historische und politische Hinter­ grund der Spanischen Inquisition untersucht werden, ein zweiter Teil, der die Frage nach der unterschiedlichen Rezeption stellt. Archivalien, Volksliteratur, Hagiographie, Pamphlet, alte Chronik und moderne Detailforschung bilden die Grundlage, das Ergebnis ist eine enthüllende Untersuchung, die eine klare Trennlinie zwi­ schen historischen Fakten und literarischer Rezeption zieht.

Der Autor

Robert Lemm, geboren 1945, studierte Geschichte und Hispanistik und arbeitet als Schriftsteller und Übersetzer in Amsterdam. Veröf­ fentlichungen (in niederländischer Sprache) u. a.: »Das Erwachen Amerikas« (1989); »Parade der Diktatoren« (1991); »Der Schriftstel­ ler als Philosoph. Die innere Biographie des Jorge Luis Borges« (1991).

Robert Lemm

Die Spanische Inquisition Geschichte und Legende

Deutscher Taschenbuch Verlag

Aus dem Niederländischen übersetzt von Walter Kumpmann

Deutsche Erstausgabe August 1996 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München © 1993 Kok Agora, Kämpen Titel der Originalausgabe: >De Spaanse Inquisitie. Tussen geschiedenis en mythe< © 1996 der deutschsprachigen Ausgabe: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München Umschlaggestaltung: Dieter Brumshagen Umschlagbild: >Inquisitionsurteil< von Eugenio Lucas (1824—1870), (Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin) Satz: DTP Hartmut Czauderna, Gräfelfing, auf Apple Macintosh, QuarkXPress Druck und Bindung: C. H. Beck’sche Buchdruckerei, Nördlingen Printed in Germany • ISBN 3-423-04700-3

Inhalt

Vorwort ........................................................................................

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Kapitel: Zwischen Geschichte und Legende .................. 13 Kapitel: Ein anderes Bild ................................................... 25 Kapitel: Die mittelalterliche Philosophie ......................... 31 Kapitel: Die spanischen Missionare ................................. 37 Kapitel: Von der Überredung zum Zwang...................... 41 Kapitel: Spanien zwischen 1450 und 1500 ...................... 51 Kapitel: Die Einführung der Spanischen Inquisition ... 60 Kapitel: Torquemadas >Instrucciones< und der Briefwechsel mit Rom......................................................... 70 9. Kapitel: Spanien im 16. Jahrhundert ................................. 80 Die spanischen Geschichtsschreiber ................................. 90 Torquemadas Hagiographen ............................................. 96 Diego de Simancas ............................................................... 99 Samuel Usque ....................................................................... 101 Die politischen Feinde Spaniens ........................................ 102 Das neue Denken................................................................... 104 10. Kapitel: Die Inquisition beim Verfall der universalen Monarchie ............................................................................. 107 11. Kapitel: Spanien am Pranger der Aufklärung.................... 122 Die Legende aus katholischer Sicht.................................... 126 Die Kritik der französischen Aufklärung ........................ 129 Spanien während der Aufklärung ...................................... 133 12. Kapitel: Die Spanische Inquisition vor dem Tribunal der Romantik und des Realismus ...................................... 137 1. Die Romantik ................................................................... 137 Joseph de Maistre .............................................................141 William Prescott ...............................................................143 Karl Joseph Hefele ...........................................................145 2. Der Realismus ................................................................... 147 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Spanien als »Gegenbild« .................................................150 Spanien im Volksglauben .................................................152 3. Die historische Rekonstruktion .................................... 153 Aus jüdischer Sicht ........................................................... 153 Die katholische Reaktion.................................................156 Die philosophische Annäherung .................................. 163 Die Legende....................................................................... 165 13. Kapitel: Die Arena im 20. Jahrhundert ............................ 167 1. Ankläger ............................................................................. 171 Kirche und Staat ............................................................... 172 Konvertierte und Juden ................................................... 173 Das Kind von La Guardia ....................... 175 Zahlen ................................................................................. 177 Die Inquisition ................................................................. 178 Torquemada ....................................................................... 178 2. Verteidiger ......................................................................... 180 Kirche und Staat in Verbindung mit der Inquisition . 180 Ketzer und Juden, alte und neue Christen.................... 182 Reinheit des Blutes und Rassismus................................ 185 Zahlen ................................................................................. 186 Der Mythos, die Schwarze Legende und Fabeln .... 188 3. Neuerer............................................................................... 189 4. Unkonventionelle ............................................................. 193 Nachwort ..................................................................................... 203 Quellen und Literatur .................................................................208 Personenregister........................................................................... 216

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Vorwort It is certain my conviction gains infinitely, the moment another soul will believe in it. Joseph Conrad

Dieses Buch ist eine »reductio ad minimum« aus zehnjähriger Forschung, aus Lektüre und Nachdenken. Die Studien reichen bis ins Jahr 1981 zurück, als sich mir für ein halbes Jahr die Gele­ genheit bot, in Spanien nach Material über den »berüchtigten« Inquisitor Tomás de Torquemada zu fahnden. Die National­ bibliothek und das Historische Archiv in Madrid wie auch das berühmte Archiv von Simancas hatten, entgegen meinen Erwar­ tungen, nur wenig zu bieten. Alles, was ich fand, waren ein paar knappe hagiographische Lebensbilder und einige Briefe und Dokumente von der Hand des Inquisitors. Ich beschloß, meine Studien auszudehnen auf die Inquisition selbst, die von Torque­ mada mitbegründet worden war. Schon bald fand ich heraus, daß das Heilige Officium vom Spinnengewebe jahrhundertelanger Streitereien überzogen war, in dem Geschichtsschreibung und Legende nicht voneinander zu trennen sind. Im Jahre 1983 konnte ich einen Monat bei den Dominikanern vom Kloster Santo Tomás, vor den Mauern von Avila, verbringen. Dieses Kloster war von 1483 bis 1492 von Torquemada mit dem Geld der Katholischen Könige Isabella von Kastilien und Ferdi­ nand von Aragón, die Spanien vereinigt haben, gebaut worden. Obwohl es heute wieder in voller Pracht dasteht, findet sich dort von dem Inquisitor keine Spur mehr. Bei der Besetzung Spaniens durch die Truppen Napoleons am Anfang des vorigen Jahrhun­ derts wurde Santo Tomás geplündert; die Bibliothek wurde aus­ geraubt und die Überreste des Inquisitors wurden ausgegraben, verbrannt und vom Winde verweht. Die Mönche, die jetzt dort

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leben, wissen von dem Stifter lediglich das, was die meisten Bücher über die Inquisition wiederholen. Wieder in den Niederlanden, begann ich meine Aufzeichnun­ gen zu ordnen, und in den folgenden Jahren füllte ich ein Dossier mit Exzerpten aus neuen Büchern. Aus tausenden von Seiten, die ich zusammentrug, ist dieses Buch, wie schon gesagt, eine »reductio ad minimum«, die Quintessenz. Man erwarte keine neuen Fakten; die wesentlichen Tatsachen über die Inquisition sind längst bekannt. Das Ziel dieses Buches ist es, die Inquisition zu »begreifen«, zum Nachdenken über sie anzuregen und vor allem, alte Zeugnisse und Dokumente späteren Urteilen über die Inqui­ sition gegenüberzustellen und abzuwägen. Die Fragen, die mir dabei vorschwebten, lauten: Inwieweit ist es möglich, die Wirklichkeit des 15. Jahrhunderts, losgelöst vom späteren »Mythos«, zu erfassen? Ist es möglich, die Inquisition frei vom Glauben, von Idealen und Überzeugungen zu beurtei­ len? Schließlich fragte ich mich, ob man in den Vorstellungen von der Inquisition, im Denken über sie, eine Entwicklung erkennen könne. Am schwierigsten ist dabei die Vergegenwärtigung, das Nach­ empfinden dessen, was Barbara Tuchman in >Der ferne Spiegel* (1978) »das Christentum, wie es wirklich war,« genannt hat: »Es war zugleich Nährboden und Gesetz des Lebens, allgegenwärtig, wahrhaft zwingend. Sein nachdrückliches Prinzip, daß das Leben der Seele im Jenseits dem Hier und Jetzt, dem materiellen Leben auf der Erde, überlegen sei, wird von der heutigen Welt nicht mehr geteilt, ganz gleich, wie fromm einige moderne Christen auch sein mögen. Der Zusammenbruch dieses Prinzips und seine Verdrängung durch den Glauben an den Wert des Individuums und ein tätiges Leben, in dessen Mittelpunkt nicht unbedingt ein Gott steht, schufen die moderne Welt und beendeten das Mittelalter.« Das Mittelalter, einschließlich der Zeit der Spanischen Inquisition, ist - so Tuchman - ein »zu ferner Spiegel«. Für Johan Huizinga (»Herbst des Mittelalters*, 1919) war das Mittelalter »pessimistisch«, weil man damals das Leben als ein Jammertal, als 8

ein Tal der Tränen empfand und der Welt entsagte; man tröstete sich mit dem, was im Zeitlichen auf das Ewige verwies, man flüch­ tete in die Religion. C. S. Lewis (>The discarded imageHistoire critique de l’inquisition d’EspagneKritische Geschichte der Spanischen Inquisition«. Die französi­ schen Liberalen und die geflohenen Spanier lobten das Werk ein­ hellig; Zustimmung kam auch von den im Lande verbliebenen »Fortschrittlern«, die in der südspanischen, von den Engländern beeinflußten Stadt Cadiz 1812 eine liberale Verfassung entwarfen, womit sie den alsbald zurückkehrenden König Ferdinand VII. konfrontierten. Weniger begeistert war der Pariser Erzbischof, der Llórente nicht nur seines Priesteramtes entkleidete, sondern ihm oben­ drein die Kommunion und den Besuch der Messe verwehrte. Llórente schrieb daraufhin aus Rache die >Portraits politiques des papes« und schloß sich den Freimaurern an. Als Spanien 1820 eine Amnestie verkündete, nutzte die reaktionäre französische Regie­ rung die Gelegenheit, um ihn auszuweisen. Llórente starb 1823 in Madrid, verachtet, aber nicht vergessen. Seine Kritik der Spani­ schen Inquisition sollte Schriftsteller und Geschichtsschreiber noch lange beschäftigen. Rafael Sabatini nannte Llórente in seinem 1913 erschienenen Werk >Torquemada and the Spanish Inquisition« einen »redlichen und maßgebenden Historiker«, Marguerite Jouve denselben Lló­ rente 1934 in ihrer Torquemada-Biographie dagegen einen »durch Ressentiment angestachelten Landesverräter und Renega­ ten«. Trotz dieser gegensätzlichen Urteile setzten die beiden Historiker und dazu viele andere die Inquisition mit der Person Torquemadas gleich. Diese Gleichsetzung geht aber zurück auf den Verfasser der >Histoire critique«. Durch Llórente hat die heu­ te allenthalben verhaßte Inquisition ein Symbol erhalten; und aus diesem Symbol machten die Dichter einen Mythos. Dostojew­ skijs »Großinquisitor« (in den »Brüdern Karamasow«, 1880) und 14

Victor Hugos Drama >Torquemada< (1882) zählen zu den be­ kanntesten Beispielen. Torquemada, der bis ins 18. Jahrhundert im eigenen Land als Held und sogar als Heiliger gegolten hatte, verwandelte sich nach 1812 in ein teuflisches Monster, in die Quintessenz religiösen Fanatismus’, zum Schöpfer einer Institu­ tion, die Spanien für weit über dreihundert Jahre in Rückständig­ keit und Finsternis gestoßen hat. »Nach Philipp II. war Torque­ mada derjenige, der seinem Vaterland am meisten Schaden zuge­ fügt hat« - so lautet das stereotype Fazit Sabatinis. Daß Philipp II. und Torquemada in einem Atemzug genannt werden, das gehört zur sogenannten Schwarzen Legende, zu dem ungewöhnlich düsteren Bild von Spanien, das gegen Ende des 16. Jahrhunderts nicht ohne Zutun der Feinde des spanischen Weltreichs entstanden ist. Dazu muß einiges weitläufiger ausge­ führt werden, denn die Inquisition wurde ja vor 1812 hauptsäch­ lich mit der Person Pilipps II. in Verbindung gebracht. Zwischen Torquemäda und seinem Gegner Llórente liegt ein Zeitraum von dreihundert Jahren. Die Rolle, die Antonio Pérez bei der Verteu­ felung Philipps gespielt hat, findet ihr genaues Ebenbild in der Rolle Llorentes, wenn man von dem zeitlichen Abstand einmal absieht. Pérez war der Sekretär und Vertraute Philipps. 1578 wur­ de nun der engste Mitarbeiter von Donjuán d’Austria ermordet, dem Halbbruder des spanischen Königs und Nachfolger des Her­ zogs von Alba als Statthalter der Niederlande. Nach seinem Sieg über die Türken in der Seeschlacht bei Lepanto 1571 soll Don Juan sich mit der Absicht getragen haben, von den Niederlanden aus in England einzufallen, die Königin Elisabeth zu vertreiben und Maria Stuart, die gefangengehaltene katholische Königin der Schotten, zu heiraten. Um diesen Plan auszuführen, brauchte er die Unterstützung des Königs. Er schickte seinen Vertrauten Escobedo nach Madrid, um Philipp zu drängen. Doch während die Verhandlungen liefen, wurde Escobedo auf mysteriöse Weise ums Leben gebracht. Obgleich die Autoritäten diese Sache im Keime zu ersticken suchten, wurde es immer offensichtlicher, daß der Sekretär des Königs in den Mord verstrickt war. Inwiefern 15

Pérez mit dem Wissen oder gar auf Geheiß des Königs gehandelt hat, ist eine von den Historikern ungelöste Frage. Daß der König lange Zeit die Hand über seinen Sekretär gehalten hat, ist ziem­ lich sicher. Im Jahre 1590 wurde die Angelegenheit von neuem aufgerollt. Pérez wurde offiziell unter Anklage gestellt, er warte­ te jedoch seinen Prozeß nicht ab. Daß er so einfach aus dem Gefängnis entweichen konnte, läßt die Mitwirkung der Behörden vermuten. Wenn Pérez unschuldig war, worauf er trotz der Anklage gegen ihn bestand, dann kann man sich fragen, warum er den Prozeß nicht nutzte, um sich zu rechtfertigen. Wenn er floh, um den König nicht ins Gerede zu bringen, dann kann man fra­ gen, warum er den König im Ausland anschwärzen mußte. Wie auch immer - an den Höfen von Frankreich und England fand er williges Gehör, und nachdem er 1591 seine >Relaciones< veröf­ fentlicht hatte, verbreiteten sich die Gerüchte wie ein Lauffeuer durch ganz Europa. Weil die Feinde des mächtigsten Fürsten all­ zu gern das Schlimmste annahmen, wurde Pilipp II. des Mordes für mitschuldig befunden. Was das Motiv für diesen Mord gewe­ sen sein könnte, das blieb im dunkeln. Die herkömmliche Ver­ mutung, der König habe seinen draufgängerischen Halbbruder von einem ruchlosen Abenteuer abhalten wollen und deshalb dessen Ratgeber, der einen schlechten Einfluß auf ihn gehabt habe, wegschaffen müssen, klingt nicht sehr glaubwürdig. Philipp und Don Juan hegten zwar unterschiedliche Absichten, waren aber doch zu stark durch gleiche Interessen verbunden, als daß sie dem jeweiligen nächsten Mitarbeiter des anderen nach dem Leben getrachtet hätten. Holland und England hatten dagegen allen Grund, Don Juans Pläne zu durchkreuzen. Daß sich Könige durch Gesandte und Agenten gegenseitig im Auge behielten, war nichts besonderes; in Madrid saßen englische und in London spa­ nische Spione. Daß Pérez nach England floh, läßt die Vermutung, der Mord an Escobedo sei auch das Werk britischer oder hollän­ discher Agenten gewesen, als mindestens ebenso triftig erschei­ nen wie die Theorie vom sogenannten Bruderzwist, zumal, wenn man dabei im Auge behält, daß Don Juan unmittelbar nach sei­

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nem Vertrauten in den Niederlanden auf geheimnisvolle Weise ums Leben kam. Die Vorsicht gebietet uns aber, diese Affäre wei­ terhin zu den ungelösten Rätseln der Geschichte zu zählen. Die Legende erhielt aber Nahrung. Zu Perez’ Vorwürfen tra­ ten die zehn Jahre zuvor erschienenen Bezichtigungen Wilhelms von Oranien. In dessen >ApologieApologie< zwar als reine Kriegs­ propaganda demaskiert, aber die Schwarze Legende behielt ihre Anziehungskraft. Was Dostojewskij und Victor Hugo mit Torquemada anstellten, das taten Friedrich Schiller und Giuseppe Verdi mit Philipp II. In >Don CarlosDom Carlos. Nouvelle historique< des Abbé César Vichard de Saint-Réal (1672) entlehnt, der sich wiederum auf Geschichten stützte, die seit Antonio Pérez am französischen Hof kursierten. Llórente gab der Vorstellung, daß das spanische Königshaus von der Inquisition beherrscht werde, erstmals einen »wissenschaftlichen« Anstrich. Die >Relaciones< von Pérez waren zu offensichtlich durch per­ sönliche Motive bestimmt, als daß sie von späteren Historikern ernstgenommen worden wären. Nur in der Legende blieb das Pamphlet lebendig. Noch zu seinen Lebzeiten schwächte der übergelaufene Sekretär selbst den Wert seiner Aufzeichnungen ab. Nach dem Tod Philipps II. hatte der englische Hof kein Inter­ 17

esse mehr an seinen Informationen und Spitzeldiensten, und als er 1621 in Paris starb, war die spanische Vormachtstellung gebro­ chen. Mochte das politische Klima sich auch verändert haben, die spanischen Historiker haben Pérez den Verrat nie verziehen. Das aber kann man von Llórente nicht behaupten. Seine >Histoire critique de l’Inquisition espagnole« wurde 1822 und 1835 ins Spa­ nische übersetzt und hat die »progressiven« Strömungen in die­ sem innerlich gespaltenen Land immer wieder gestützt - im 19. Jahrhundert vor allem die Liberalen. So stehen die satirischen Graphiken Francisco Goyas zur Inquisition ganz im Geiste Llorentes. Aber auch eine Reihe von spanischen Dramatikern und Poeten boten, unter dem Einfluß der französischen Roman­ tik, Anzeichen einer kritischen Sicht auf die eigene Geschichte, was dann aber von den Bewahrern als ein Art von nationaler Selbstverleugnung abgestempelt wurde. Im 20. Jahrhundert über­ nahmen die spanischen Sozialisten die Fackel von ihren liberalen Vorläufern, wodurch Llórente wiederbelebt wurde. Während der Franco-Diktatur verschwand die >Historia crítica de la inquisi­ ción española< aus dem Blickfeld, aber seit 1975 sieht man das Werk wieder allenthalben in den Schaufenstern von Madrid und Barcelona. Für das Ausland blieben Torquemada und Philipp II. die Hauptakteure in der Schwarzen Legende, die mit der Inquisition, der spanischen Geschichte und der römischen Kirche ein einziges Knäuel bildet. Die handelnden Personen und die Institutionen sind in der Vorstellung des Volkes und in der Literatur außerhalb Spaniens unentwirrbar ineinander verwoben. Jeder Historiker, der sich mit spanischer Geschichte beschäftigt, stößt immer wie­ der auf dieses populäre Schauerstück mit seinen düsteren Zuta­ ten. Über Philipp II. existieren freilich Biographien von Nicht­ spaniern, die das Bild des spanischen Monarchen entmythologi­ sieren. Geoffrey Parker etwa zeichnet in seinem Werk >Philipp II of Spain< (1978) ein erheblich differenzierteres Bild des »vorsich­ tigen Königs« (wie er in der Geschichtsschreibung seines Landes genannt wird) als die Schwarze Legende, die von Nichtspaniern 18

traditionell als besonderer Leckerbissen genossen wird. Philipp mag düster und unergründlich bleiben, aber es kann überhaupt keine Rede davon sein, daß er »schlechter« war als seine Zeitge­ nossen, als etwa Elisabeth von England, Heinrich IV. von Frank­ reich oder Wilhelm von Oranien, der Begründer der Niederlan­ de. Daß er als der mächtigste Fürst seiner Zeit Feinde hatte, ist selbstverständlich, daß er protestantische Ketzer verfolgte, war nichts Besonderes, in England und Holland wurden die Katholi­ ken genau so hart verfolgt. Daß er Gegner, die dem Staat gefähr­ lich wurden, aus dem Weg räumen ließ, das rechnete bereits der Philosoph Montaigne, ein unparteiischer Zeitgenosse, zu den politischen Spielregeln, wobei er auf die Enthauptung der Grafen Egmond und Hoorn verwies. Ließ Elisabeth nicht Maria Stuart den Kopf abschlagen? Hat das freie Holland nicht etwa den ver­ dienten Jan van Oldenbarneveldt enthauptet? In diesem Punkt handelte Philipp nicht anders als seine Gegner. Parker hält allerdings daran fest, daß der spanische König seine Aufgabe ganz ehrlich darin gesehen habe, die Religion zu vertei­ digen. Und darin verbirgt sich meines Erachtens der harte Kern der Schwarzen Legende. Philipp glaubte, Spanien repräsentiere die »universale Christenheit«, und Gott habe ihn dazu bestimmt, den Feinden der römischen Tradition überall entgegenzutreten. Für ihn verkörperte die Tradition die Wahrheit, und unter den gegebenen Umständen brauchte er das, was er für die Wahrheit hielt, auch nicht in Zweifel zu ziehen. In den Ländern seiner Fein­ de mußten die Fürsten auf mächtige Minderheiten von Anders­ denkenden Rücksicht nehmen, in Spanien dagegen sorgte die Inquisition dafür, daß Abweichler keine Wurzeln schlagen konn­ ten. Daß Philipp sich berufen fühlte, das Ideal der christlichen Universalität zu bewahren und damit Gott zu dienen, nahmen ihm seine Gegner jedoch nicht ab. Für sie machte sich der spani­ sche König den sogenannten Wahren Glauben ausschließlich seiner eigenen zeitlichen Macht zunutze, und diese Macht unter­ schied sich nicht merklich von dem, was die Könige anderer Län­ der im Sinn hatten. Der Papst in Rom stützte, wenn auch nicht

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mit ungeteilter Freude, die Sonderstellung der spanischen Krone. Wenn die alte Kirche überhaupt noch ihre Autorität bewahren und den Protestantismus zurückdrängen wollte, dann war sie auf das Schwert Philipps angewiesen. Andererseits scheute Rom davor zurück, die Interessen der gesamten Kirche der spanischen Politik zu opfern. Philipp mußte sich also so »universal« wie möglich geben und überall, wo er seine Macht nicht direkt aus­ spielen konnte, der »katholischen Sache« beistehen. Die »über­ nationale« oder »göttliche« Politik war durch alles, was prote­ stantisch und damit »national« war, herausgefordert. Fürsten, die ein Glied vom »kirchlichen Leib« getrennt hatten, mußten dem Paladin der »universalitas« mißtrauen. Dieses berechtigte oder unberechtigte Mißtrauen ist wohl auch der wahre, der eigentliche Nährboden der Schwarzen Legende, die Unterstellung, da erstre­ be einer, mehr zu vertreten als ein beliebiges Stück aus dem von Gott für jedermann geschaffenen Planeten. Daß die Geschichtsschreibung die Legende noch nicht ganz verdrängen konnte, das liegt an der menschlichen Natur. Was man glaubt, das ist nun einmal weniger das Resultat von interesseloser Wahrheitsfindung als von Opportunismus und Bequemlichkeit. Philipp und Torquemada in einem Atemzug zu nennen und dabei durchsickern zu lassen, der König sei vom Inquisitor beherrscht worden, ist aber nach den Philipp-Biographien des 20. Jahrhun­ derts nicht mehr angängig. Eine Biographie Torquemadas gibt es indes noch nicht. Sooft der berüchtigte Name in Buchtiteln auch auftritt, stets stößt man auf die gleichen summarischen Angaben, die wenig mit einer Person von Fleisch und Blut zu tun haben und lediglich das Symbol weiter ausmalen. Torquemadas Name war, wie gesagt, vor Llorente außerhalb Spaniens nahezu unbekannt. Aber auch in der spanischen Geschichtsschreibung vom 16. bis einschließlich dem 18. Jahrhundert sind die Hinweise auf den ersten Großinquisitor selten. Obwohl die Biographie als Genre in Spanien noch nicht so recht entwickelt war - jedenfalls im Ver­ gleich mit Frankreich -, gab es von Zeitgenossen Torquemadas (wie von Königin Isabella und König Ferdinand, von Kardinal 20

Cisneros und Gonzalo de Córdoba, »el gran capitán«) ausrei­ chende Lebensbeschreibungen, auf die spätere Biographen zurückgreifen konnten. Wer über die Person des ersten Großin­ quisitors etwas mehr wissen will, muß sich mit hagiographisch getönten Gemeinplätzen, vor allem aus Dominikaner-Quellen, zufriedengeben. Llórente hat mit diesen Allgemeinheiten eine Karikatur gezeichnet, und die beiden Jahrhunderte nach ihm haben diese Karikatur befestigt oder bestritten, zumeist einfach ignoriert, sie jedenfalls noch immer nicht durch eine eingehende Lebensbeschreibung ersetzt. So lebt die Legende weiter. Eines der Probleme, die durch die Gleichsetzung von Torquemada und der Inquisition entstanden, ist, daß etwa dreieinhalb Jahrhunderte Geschichte über einen Kamm geschoren werden. Die Inquisition, die Torquemada mit­ begründet hat, war natürlich nicht mehr diejenige, die Llórente abzuschaffen half. Die Gründe, die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts Anlaß gaben für die Errichtung des sogenann­ ten Heiligen Officiums, gehörten im 18. Jahrhundert einer längst vergangenen Zeit an. Die Inquisition hatte sich in den Jahrhun­ derten dazwischen zugleich mit den Verhältnissen verändert. Die Inquisitoren aus der Zeit der spanischen Bourbonen glichen ja kaum denen aus der Zeit der Katholischen Könige, so wie auch die Verfolgten aus der Aufklärungszeit anders waren als die, wel­ che verfolgt wurden, als die spanische Monarchie entstand. Ganz allgemein kann man wohl behaupten, daß die Inquisition im Lau­ fe der Zeit an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Ebenso kann man sicherlich sagen, daß Llórente, der 1812 das Heilige Officium ver­ abschiedete, diese historische Entwicklung zu wenig beachtet hat. Die »Kritische Geschichte der spanischen Inquisition< ist typisch für das Denken der Aufklärung. So wie Voltaire im »Essai sur l’histoire générale et sur les mœurs et l’iesprit des nations* (1756) sieht Llórente die Vergangenheit als ein düsteres Vorspiel der Errungenschaften der eigenen Zeit. Erfüllt von einem liberalen Vertrauen in den Fortschritt der Menschheit, erblickt er im Han­

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del und in der Industrie die Hauptgründe für den Wohlstand der Völker, Gründe für das zurückgebliebene Spanien, England und Holland als Vorbilder anzusehen. Sehr exakt und umfassend führt er die Ereignisse und Geschichten auf, die den Leser Seite um Sei­ te von der Rückständigkeit und der Grausamkeit der Inquisition überzeugen soll. Der Ursprung allen Elends ist die Kirche; der Staat ist mal Opfer, dann wieder ist er mitschuldig. Ursprung und Verlauf der Inquisition waren in großen Linien aus den Chroniken und der Geschichtsschreibung Spaniens längst bekannt, aber Llórente war der erste Spanier, der die bekannten Ereignisse kritisch ins Licht rückte. Im westgotischen Reich Spaniens, das 711 durch die arabische Invasion unterging, waren erstmals Juden vertrieben worden; die Inquisition aber entfaltete sich erst im 13. Jahrhundert in Frankreich, als der Pre­ digerorden, die Dominikaner, von der Kirche im Kampf gegen die Katharer eingesetzt wurde. Der Orden war 1216 durch den Spa­ nier Domingo de Guzmän, den hl. Dominikus, gegründet wor­ den, der den Ketzern anfangs allein mit der Macht des Wortes zu Leibe rücken wollte. Als das nicht fruchtete, organisierte die Kir­ che mit Hilfe des Staates den ersten »internen« Kreuzzug. Kurz darauf wurde der Orden der Minderen Brüder, die Franziskaner, in die Inquisition einbezogen, und die Kirche ging dazu über, Ketzer der weltlichen Macht zu überstellen. Das Königreich Aragon blieb zunächst das einzige Gebiet Spaniens, wo die Inqui­ sition funktionierte. Erst über hundert Jahre später, gegen Ende des 15. Jahrhun­ derts, wurde die Inquisition auch in Kastilien etabliert, bald nach der Vereinigung dieses Königreichs mit Aragon. Neu an der »Spa­ nischen« Inquisition, die dann begann, war, daß sie sich nicht mehr gegen die Katharer richtete, sondern gegen die Christen jüdischer Herkunft. Die Tätigkeit Torquemadas begann 1483 und endete 1498. Im 16. Jahrhundert bekämpfte das Heilige Officium dann hauptsächlich protestantische Sekten und der Abweichung verdächtigte Intellektuelle. Im 17. Jahrhundert wurden vor allem portugiesische Finanziers, die seit dem Anschluß Portugals aus

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wirtschaftlichen Gründen nach Spanien gerufen worden waren, verfolgt, und das auch nur, weil sie für »Kryptojuden« gehalten wurden. Im 18. Jahrhundert gerieten die liberalen Intellektuellen und die Sympathisanten der Französischen Revolution ins Visier. Das sind, in wenigen Sätzen, Ursprung und Verlauf der Spani­ schen Inquisition. Zu den Quellen , auf die Llórente zurückgriff, zählen Histori­ ker aus dem 15. und 16. Jahrhundert wie Andres Bernäldez, Ber­ nardino Lopez de Carvajal, Esteban de Garibay y Zamoalla und Juan de Marina. Daß keiner von diesen Autoren die Interpretati­ on Llorentes unterschrieben hätte, unterliegt kaum einem Zwei­ fel. Sie alle waren nicht nur vom Nutzen, sondern auch von der Heiligkeit der Inquisition überzeugt. Llorentes Vorwurf, der Inquisition sei es vor allem um Geld gegangen, steht im Wider­ spruch zu der Ausweisung der Juden 1492, die einen finanziellen Aderlaß auslöste und im 18. Jahrhundert für den wirtschaftlichen Verfall Spaniens verantwortlich gemacht wurde. Llorentes Behauptung, das spanische Volk habe sich der Inquisition stets widersetzt, wurde von späteren Gegnern der Inquisition durch harte Tatsachen widerlegt. Diese Behauptung stützte natürlich Llorentes Feststellung, daß Torquemada verantwortlich gewesen sei für das »ganze System«. Typisch ist die Anekdote, nach der »der übermächtige Fanatiker den üblen Mut hatte, sich mit einem Kruzifix in die Gemächer von Königin Isabella und König Ferdi­ nand zu begeben und es ihnen vor die Füße zu werfen, damit sie nicht ebenso zu Verrätern würden wie Judas, der seinen Herrn für dreißig Silberlinge verkaufte«. Dies im Hinblick auf die 30000 Sil­ berstücke, die dem Königspaar von den jüdischen Räten angebo­ ten waren, falls sie von dem Plan, die Juden auszuweisen, abließen. Diese Geschichte, die sich in vielen späteren Büchern über die Spanische Inquisition findet, fehlt in der älteren Geschichtsschreibung. Ob wahr oder nicht, die Vorstellung, der König und die Königin hätten sich von ihrem Inquisitor das Gesetz des Handelns diktieren lassen, steht in Widerspruch zu den Berichten aus zahlreichen Chroniken, auf die Llórente sich 23

beruft. Etwas anderes ist die Frage, inwieweit die Krone und die Inquisition miteinander verbunden waren. In der Frage, ob die Krone über der Kirche stand oder die Kirche über der Krone, unterscheiden sich die späteren Historiker, gleich ob Apologeten oder Ankläger, in ihrer Auffassung. Auch bei den Zahlen gehen die Meinungen auseinander. Llórente zufolge hat Torquemada in seiner fünfzehnjährigen Amtszeit über 10000 Ketzer auf die Scheiterhaufen geschickt, davon übrigens mehr als die Hälfte »als Bildnis«. Die Kirche habe in ihrer langen Geschichte ihre Macht aus­ nahmslos mißbraucht, so Llórente. Die Ketzer sollte man deshalb als unschuldige Opfer oder heldenhafte Märtyrer ansehen, als Vorläufer des Fortschritts der Menschheit. Während der drei Jahrhunderte, die die Inquisition in Spanien herrschte, hätten 400 000 Menschen zum Nachteil von Kunst, Handel und Indu­ strie das Land verlassen müssen. Llorentes Fazit am Schluß seiner Aufzählung von Skandalen und Exzessen, von Machtmißbrauch und Geldgier ist, daß die von Torquemada gegründete Institution den Fortbestand der katholischen Kirche nicht hat gewährleisten können. Und damit war der Politik seiner französischen Auftraggeber gedient; das Heilige Officium konnte verschwinden. Daß die Inquisition des 18. Jahrhunderts nur noch die Fassade der Inquisition des 15. und des 16. Jahrhunderts vorwies, lag auf der Hand. Das Institut, das Llórente abkanzelte, war ein Körper ohne Seele. Wie es aber war, als der Körper noch eine Seele hatte, das steht nicht in seiner >Kritischen Geschichte der Spanischen Inquisition^

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2. KAPITEL

Ein anderes Bild

Im Gegensatz zur Behauptung Llorentes ist die Inquisition kei­ neswegs eine christliche oder kirchliche Erfindung. Sie ist eine uralte Form von Kontrolle über das geistige Gemeinwohl, die mehr oder weniger jeder Staat, jede organisierte menschliche Gemeinschaft jeweils ihrer Natur gemäß handhabt. Je dauerhaf­ ter und kultivierter ein soziales Gebilde ist, desto ausgeprägter ist seine institutionalisierte Moral. China etwa, das von einigen Zeit­ genossen Llorentes Europa als leuchtendes Vorbild hingestellt wurde, war viel weniger tolerant gegenüber der Freiheit des Indi­ viduums als das Spanien der Inquisition. In China galt der Dienst am Staate als höchste Tugend, Abseitsstehen und ein Leben als Einsiedler wurden als verwerfliche Laster oder beklagenswerte Notwendigkeiten angesehen. Die chinesische Gesellschaft war streng hierarchisch geordnet, die Macht des Kaisers war absolut, und er war grundsätzlich unfehlbar. Er sorgte dafür, daß die Ordnung gewahrt blieb, und dazu gehörte auch die Pflege der Literatur, der Arbeit von Dich­ tern und Geschichtsschreibern. Der Staat gab über seine Büro­ kraten den Auftrag zu schreiben und zu publizieren. Alle Veröf­ fentlichungen hatten Zeugnis abzulegen vom »Weg«; das ist ein ziemlich vager Begriff, der ein von oben diktiertes Ordnungs­ prinzip andeutet, ein Prinzip, das dafür sorgte, daß alles, das Kol­ lektive wie das Private, in den richtigen Bahnen verlief. Der ein­ zelne Mensch war dabei nur insofern interessant, als er dem Ganzen nützte, der Ordnung diente und das richtige Verhalten zeigte. Wer sich um die Gemeinschaft verdient machte, der konn­ te den Lohn im bleibenden Gedenken der Nachwelt erwarten. Nichts war schlimmer, als in Ungnade zu fallen und ein arbeits­ loser Untertan zu werden; jede Form von Amtlosigkeit kam einer

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Katastrophe gleich, sie führte dazu, daß man aus dem Gedächtnis des Volkes verbannt wurde. Literatur war in China nicht Ausdruck persönlichsten Gefühls; was ein Autor schrieb, mußte allgemeine Gültigkeit besitzen, archetypisch und unpersönlich sein, wenn es auch einer bestimm­ ten Person in den Mund gelegt und damit unmittelbar gefärbt war durch einen eigenen Charakter. Das Geschriebene mußte zudem die Sittsamkeit fördern. Die Liebe war kein seriöses Thema, sie war zu persönlich und ebnete nicht der Tugend den Weg. Allein der grundsätzlichen Ordnung des gesellschaftlichen Lebens stand die Schrift zu, nur, was den »Weg« verkündete, verdiente Beach­ tung. Wenn ein Kaiser Fehler machte, dann hieß das noch lange nicht, daß man die »Inquisition« als solche in Zweifel zog, denn ohne sie konnte der Staat nicht bestehen: »Kein größeres Übel als die Häresie, als die falsche Auffassung vom Wahren Weg.« Inwieweit das hier skizzierte Bild mit den wechselnden Gegebenheiten von Jahrtausenden übereinstimmt, kann ich nicht sagen, allerdings trägt auch die heutige Volksrepublik in mancher Hinsicht noch Züge des alten China. Hier geht es um die Feststellung, daß eine absolute Monarchie wie die Chinas dem Westen wesensfremd ist. Eine Religion wie die christliche, die glaubt, daß jeder Mensch eine unsterbliche Seele besitzt, kann sich nur schwer mit einer so radikalen Preisgabe der Person an den Staat abfinden. Vielleicht war das Spanien Philipps II. - noch nicht das seiner Vorgänger, der Katholischen Könige und Karls V. - im Westen dasjenige Land, das China am nächsten kam. Es gab dort eine Inquisition und einen Index, um die rechtgläubige Christenheit oder die Katholische Kirche vor abweichenden Ideen und Häre­ sien zu bewahren. Wie schon gesagt, es gab keinen Fürsten, der die Wahrheit der traditionellen Lehre so ernst nahm wie Philipp, und niemanden, der Staat und Religion so gleichsetzte. Im Ver­ gleich mit China fallen gleichwohl ein paar allgemeine Züge auf, die den heutigen Betrachter, der sich ein Urteil über die Inquisi­ tion bilden will, interessieren könnten. Philipp sah sich, wie jeder 26

andere christliche Monarch vor ihm und ganz im Sinne der scho­ lastischen Philosophie, als Glied einer übernatürlichen, unter Gott wirkenden Hierarchie. Vor Gott fühlte er sich verantwort­ lich für das Seelenheil seiner Untertanen. Der chinesische Kaiser dagegen verkörperte allein die höchste Macht, eine rein irdische Macht. Das Übernatürliche, die Ewigkeit und Gott gab es für die Chinesen nicht. Es gab keine überirdische Erste Ursache, keinen Urheber oder Schöpfer und somit auch keine Vorstellung vom Jenseits. Es gab nur die Ewige Wiederkehr oder den Endlosen Kreislauf, und der chinesische Philosoph kannte keine höhere Art der Kontemplation als die der Natur und die Hinwendung zur Gegenwart. Die tröstliche Aussicht auf eine letztendliche Ge­ rechtigkeit war ihm fremd, und er grübelte nicht über den Sinn des Lebens und der Welt. Die wahrnehmbare Wirklichkeit war für ihn das einzig Bestehende, das irdische Leben der Ausgangs­ punkt und das Ziel, Anfang und Ende. »Dinge und Sachen sind so, wie sie sind, weil sie nun einmal so sind«, heißt es bei dem Sinologen W. L. Idema. »Der Weg«, das höhere Prinzip, ist in der Welt und nicht außer ihr. Die Ordnung der politischen Welt war die einzige Tätigkeit von Bedeutung, und Unordnung mußte um jeden Preis vermieden werden. Das Schicksal des einzelnen spiel­ te keine Rolle, und wer meditierte, galt als nutzloser, asozialer Sonderling. Das Leben in dieser Welt als relativ aufzufassen kann ja nur dann empfohlen werden, wenn man von einem persönli­ chen Schicksal im Jenseits überzeugt ist. Das Spanien des 16. Jahrhunderts hatte keinen Mangel an »mystischen« Autoren, die den Menschen ihre ewige Bestim­ mung vor Augen hielten und sie zu Einkehr und Weltflucht anhielten. Diese Autoren wurden vom Staat weder verachtet noch verurteilt oder als nutzlos angesehen. Es mag zutreffen, daß die Inquisition sorgfältig beobachtete, was da geschrieben wurde, aber als ein Luis de León oder ein Juan de la Cruz für einige Zeit im Gefängnis landeten, da geschah das nicht wegen des Inhalts ihrer Schriften, sondern auf Betreiben mißgünstiger Kollegen und persönlicher Feinde; dieser war in die Reform seines Ordens 27

verwickelt und jener in das Labyrinth der Universität geraten. Aber den Schriften der großen religiösen Autoren konnte die Inquisition, obgleich sie manchmal vorübergehend auf dem Index standen, niemals nachweisen, daß sie der offiziellen Lehre zuwiderliefen. Große Geister haben nun mal immer mit Ver­ dächtigungen und Argwohn, kurzsichtigen Mäklern und eifer­ süchtigen Haarspaltern zu tun. Und freilich versuchten diese, die Inquisition vor ihren Karren zu spannen, aber daß die geistige Arbeit und die Meisterwerke der großen Autoren durch das Hei­ lige Officium unterdrückt und verketzert wurden, daß, die Kunst in Spanien über dreihundert Jahre unterdrückt wurde, das ist Legende und nicht Geschichtsschreibung. Philipp II. war voller Bewunderung für die Werke der religiö­ sen Autoren. Aus seinem Lebensbericht wissen wir, wie stark er selbst zu Einkehr, Gebet und Selbstverleugnung neigte. Als wie absolutistisch - nach späteren, westlichen Maßstäben - dieser spanische Monarch auch dargestellt wird, er war sich stets der Grenzen seines Königtums bewußt und hat sich wirklich als ein Werkzeug Gottes verstanden - nicht als Gott selbst, wie der chi­ nesische Kaiser. Der Vorwurf der Aufklärer, er habe die Religion benutzt, um seine Politik zu rechtfertigen, trifft, wie schon bemerkt, in gleichem Maße seine Gegner unter den protestanti­ schen Fürsten, die aber von der Aufklärung als Vorläufer des Fortschritts der Freiheit herausgestellt wurden. Man kann Phi­ lipp als den letzten Repräsentanten der »theokratischen Monar­ chie« sehen, des Eckpfeilers einer Weltordnung, wie sie Thomas von Aquin vorschwebte. Das zeigt deutlich der sogenannte >Traum Philipps II.Die Anbetung des Namens Jesu< zeigt im Vordergrund einen kleinen schwarzgekleideten knienden Philipp II. Seine Hände in schwarzen Handschuhen sind gefaltet, und sein Gesicht ist schräg aufwärts gerichtet, wie wenn er an einer Gruppe von frommen Menschen, die um einen kirchlichen Würdenträger geschart sind, vorbeischaute. Hoch darüber schweben Engel und 28

Heilige um das Christusmonogramm IHS unter einem Kreuz, zum Zeichen, daß der spanische König »in hoc signo« siegen wer­ de, wie einstmals der Kaiser Konstantin. Unter der triumphie­ renden Kirche zieht linker Hand eine Schar Auserwählter der himmlischen Herrlichkeit entgegen. Rechts davon, hinter dem Rücken des knienden Königs, verschlingt das offene Maul eines riesenhaften Untiers die Verdammten. Der König, die einzige schwarze kleine Figur in dem farbigen Ganzen, betet offenbar, um zu verhindern, daß der höllische Leviathan noch mehr Men­ schen verschluckt. Dieses Gesicht, diese Vision Philipps II. gibt in nuce das Weltbild wieder, das mit ihm für immer verschwand. Eine solche Darstellung wird man sich von keinem anderen Für­ sten seiner Zeit vorstellen können. Der Ort, an dem das Bild hängt, der Escorial, einst das Zentrum der Weltmacht, ist wahr­ scheinlich der letzte Palast, in dem eine Synthese von Zeitlichkeit und Ewigkeit zum Ausdruck kommt. Ein Jahrhundert später, als das Machtzentrum nach Frankreich verlagert war, ist das Mitein­ ander von irdisch und ewig vorbei. Das französische Königtum ist zwar dem Namen nach noch christlich, aber der Sonnenkönig ist als Mittler zwischen Himmel und Erde nicht mehr glaubwür­ dig. Der Louvre ist ein ganz und gar irdischer Palast. Philipp war vielleicht der absoluteste Herrscher Europas, aber im Vergleich zu irgendwelchen orientalischen Despoten war sei­ ne Macht ein Nichts. Wenn man ihn trotzdem einen Tyrannen nennt, dann kann man das nur vor einem Hintergrund späterer Ideale wie der Toleranz. Aus der Sicht der Aufklärung, der Fran­ zösischen Revolution und der bürgerlichen Demokratie war das Spanien des 16. Jahrhunderts ein Anachronismus. Der Fort­ schrittsglaube interessierte sich nur für seine eigenen Schrittma­ cher. Wie zum Beispiel Friedrich Schiller das Spanien Philipp II. in seiner »Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande« schildert, ist vor allem beeinflußt von den Idealen des deutschen Sturm und Drang. Der junge Schiller ist nicht in erster Linie auf der Suche nach historischer Wahrheit oder von Neugier auf die Wahrheit des 16. Jahrhunderts getrieben, er sucht vielmehr nach

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einer bildkräftigen Bestätigung seines Freiheitsdrangs, ganz all­ gemein für den Kampf gegen die Tyrannei der Väter und Herr­ scher. Seine Geschichtsschreibung ist im Grunde getarnte Pole­ mik, durchtränkt von einem exaltierten Verlangen nach einer neu­ en, besseren Welt. Der Glaube an den Fortschritt, an den immer höher wachsenden Turm des Wissens, an den Staat als System der Erneuerung und als Bildungsstätte verantwortlicher Bürger, der Glaube an den marschbereiten Hegelschen Weltgeist, machte aus dem Mittelalter ein düsteres, rückständiges und unmenschliches Zeitalter, das vom Spuk der Inquisition überschattet war. Die Aufklärung sah sich selbst gern als die Vergeistigung der von ihr entdeckten Renaissance. Die Aufwertung mußte warten auf den Bankrott der Vernunft, die Romantik jedoch bahnte aus der Ver­ gangenheit eher einen exotischen Ausweg als einen Spiegel für die Gegenwart.

3. KAPITEL

Die mittelalterliche Philosophie

Spanien war im Mittelalter vor allem das Land, in dem nebenein­ ander drei Religionen lebten. Die Romantik war davon fasziniert, allein es beseitigte nicht die Auffassung der Aufklärung, gerade die christliche Inquisition habe den wissenschaftlichen Fort­ schritt behindert. In Wirklichkeit gab es in der Scholastik, der christlichen Philosophie, für die Naturforschung, für das mit der »Vernunft« Erfaßbare, mehr Spielraum als in den beiden anderen Religionen. So stieß der Aristotelismus im Christentum auf weni­ ger Widerstand als bei der islamischen oder jüdischen Orthodo­ xie. Paradox ist es aber, daß die Kenntnis des Aristoteles gerade über jüdische und islamische Philosophen in den christlichen Westen eingedrungen war, und zwar via Spanien. Jüdische Den­ ker, wie Avicebron (Gabirol) und Moses Maimonides, und isla­ mische Philosophen, wie Avicenna (Ibn Sina) und Averroes (Ibn Ruschd), wurden jedoch vom eigenen theologischen Fußvolk mit größerem Argwohn betrachtet als bei den Christen Thomas von Aquin, dessen Einbeziehung des Aristoteles in die Religion wei­ ter reichte, als es bei den beiden anderen Offenbarungsreligionen möglich war. Aus heutiger Sicht fällt vor allem die Übereinstimmung der drei Religionen in der Philosophie auf. Naturforschung und meta­ physische Spekulation waren nur erlaubt, wenn man den geoffenbarten Gott, die Unsterblichkeit der Seele und die Schöpfung der Welt nicht in Frage stellte. Beim Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert etwa begann man aber die Grundsätze in Zweifel zu ziehen, und die Philosophie begann sich von der Religion zu lösen. Die Theologie war als Reaktion auf die klassische Philosophie entstanden. Als diese sich im christlichen Westen ausbreitete, 31

mußte die Kirche ihre Haltung gegenüber dem metaphysischen Denken festlegen, das vor allem der Aristotelismus, weniger stark auch der Platonismus mit sich führten. Im 12. Jahrhundert ent­ wickelten sich aus den Domschulen Universitäten, wo man sich mit Naturwissenschaften und mit Philosophie beschäftigte. Die Theologie hatte dafür zu sorgen, daß die Reinheit der Religion, die nun dem klassischen Denken ausgesetzt war, bewahrt blieb. Daß sie dabei »angesteckt« wurde, war nicht zu vermeiden. Man kann sogar die Theologie selbst als ein Resultat dieser anstecken­ den Konfrontation verstehen. Wie gesagt, wird dabei ein Unterschied gemacht zwischen der metaphysischen Seite der klassischen Philosophie und der rein naturwissenschaftlichen. Der Aristotelismus ließ sich bequemer in das Christentum integrieren, wo es um die sinnlich wahr­ nehmbare Wirklichkeit ging, als dort, wo es die Grundideen betraf wie die Unendlichkeit der Welt, den Ewigen Kreislauf und die Weltseele; das gleiche gilt für die platonische Seelenwande­ rung, für die Existenz der unsichtbaren Überwirklichkeit von Archetypen und der planetarischen Einflüsse, kurzum: für die vertrackte Hierarchie, die zwischen der Ersten Ursache und dem menschlichen Erdenleben installiert sein soll. Hier standen die religiösen Denker vor einer viel heikleren Aufgabe. Die neue Auseinandersetzung, zu der diese Aufgabe sie verpflichtete, stellt den Kern der mittelalterlichen Philosophie dar. An ihr orientier­ te sich die Philosophie, und eine der Folgen davon ist die Inqui­ sition. Die »Idee« der Inquisition, der Schutz alles dessen, was als reli­ giöse Wahrheit betrachtet werden mußte, gab es auch für Juden und Mohammedaner. In allen drei Religionen ging es dabei um die Prüfung, inwieweit die Vernunft zu verbinden war mit dem Glauben, der aus den geoffenbarten Schriften - der Thora, dem Neuen Testament und dem Koran - hervorging. Die Thora und die Bücher des Alten Testaments, das heißt die jüdische Überlieferung, halten ausreichende Gründe bereit, um das Prinzip der Inquisition zu rechtfertigen. In dem von Moses 32

geführten Volk gab es keinen Platz für Andersgläubige. Die spek­ takulärsten Beispiele dafür sind die Ausrottung Korachs und seines Anhangs (Numeri 16), die nach einem Gottesurteil vom Erdboden vertilgt wurden, und (im selben Buch, 25) von Tausen­ den von Israeliten, die sich auf Götzendienst eingelassen hatten, und gegen die der Zorn Gottes sich Aarons Enkel als Werkzeug bediente. Als das auserwählte Volk sich im Gelobten Land einmal niedergelassen hatte, wurde jedweder Umgang mit den »Heiden« hart gestraft, und ein ums andere Mal erhoben sich Richter, Pro­ pheten oder Heerführer, um Abgefallene an den Pranger zu stel­ len oder über die Klinge springen zu lassen. Auch die Vorstellung , für Gott Seelen zu gewinnen, und die handfeste Züchtigung von Verirrten (z. B. Sprüche 15,10) sind in der jüdischen Tradition gang und gäbe. Was denn anderes ist schließlich die Aburteilung Jesu durch die Hohenpriester als eine Art von Inquisition? Die Zerstörung des zweiten Jerusalemer Tempels und die Diaspora setzten der Inquisition kein Ende. Wer sich außerhalb der Ortho­ doxie stellte und hartnäckig an eigenen Ansichten festhielt, konn­ te ausgeschlossen oder in Acht und Bann getan werden. Der holländisch-jüdische Philosoph Baruch Spinoza (1632-1677) ist eines der bekanntesten Opfer. Aber auch einem mittelalterlichen Denker wie Moses Maimonides trat seinerzeit die jüdische Orthodoxie wegen seines unerhörten Studiums des Aristoteles was ihn übrigens zu einem Vorläufer Thomas von Aquins mach­ te - mit Mißtrauen entgegen. Maimonides (1135-1204) schrieb seinen >Führer der Unschlüs­ sigem für Gläubige, die sich mit Naturwissenschaften und der griechischen Philosophie befaßten. Der Philosoph müsse alles untersuchen, aber außerdem ein anständiges Leben führen. Des Aristoteles Erste Ursache identifiziert er als Gott, die herkömm­ lichen Sphären des Himmels setzt er den Heerscharen gleich, die im Namen Gottes die Erde mitregieren - aber damit endet auch die Ähnlichkeit mit der Aristotelischen Metaphysik. Denn, sagt Maimonides, Himmel und Erde sind nicht ewig, wie die Nach­ folger der Griechen annahmen, sondern in der Zeit geschaffen,

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mit einem Anfang und einem Ende. Gerade dadurch erweist sich die Schöpfung als absichtsvoll, als ein von der göttlichen Vorse­ hung begleiteter Plan. Der Gläubige hört nicht auf, nach dem Warum von allem zu fragen, derweil die Aristoteliker das Uni­ versum als Notwendigkeit abtun, als ewige Wiederkehr. Gottes gute Absichten mit dem Universum beziehen sich auf den ewigen Ablauf, während der sterbliche Mensch sich auf das versteift, was ihm in seinem begrenzten Dasein widerfährt und daraus häufig voreilige Schlüsse zieht - mit dem Resultat, daß er dem Bösen eine selbständige Rolle zuweist. Das Böse besitzt jedoch keinerlei Selbständigkeit, es ist nur da, um den Guten und Frommen zu prüfen, damit dieser sich die Glückseligkeit in Freiheit verdienen kann. Denjenigen, an die sich Maimonides richtet, wird empfoh­ len, alles zu erforschen, allerdings allein im Hinblick auf Gott und die schließliche Errettung. Zum mehr oder weniger gleichen Schluß kommt der arabische Philosoph Algazel (al-Ghazali, 1058-1111) in seinem Buch >Der Erretter vom IrrtumDirectorium Inquisitorum< des Nicolas Eymerich.

Nicolas Eymerich lebte in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhun­ derts (um 1320-1399) und war somit ein Zeitgenosse Vicente Ferrers. Er war Generalinquisitor von Aragon. Originell war er nicht. Es gab bereits ein >Manuel de l’inquisiteur< von dem Fran­ zosen Bernard Gui. Das Auftreten der Katharer und Albigenser hatte in Frankreich den Wunsch nach einer Inquisition laut wer­ den lassen. Aragon grenzte an Frankreich und hatte engen Kon­ takt mit Italien, zwei Länder, in denen abweichende Glaubensbe­ wegungen besonders stark auftraten. In Kastilien gab es jedoch keine Inquisition, und daraus mag man schließen, daß Ketzerei­ en, wenn sie überhaupt auftraten, höchstens einzelne ergriffen und keine soziale Gefahr darstellten. Es war ja so, daß die Inqui­ sition sich nur mit den »entarteten« Christen und nicht mit Anhängern anderer Religionen befaßte. Anfangs überließ die Inquisition die Folterung von Delinquenten dem »weltlichen Arm«, aber als es dabei offenbar zu grausam und willkürlich zuging, nahmen die kirchlichen Autoritäten die Folterung selbst

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in die Hand, ebenso die Errichtung von Kerkern. Die kirchlichen Gefängnisse waren, wie spätere Apologeten betonen, im Ver­ gleich zu den weltlichen vorbildlich, aber das ist, da der typische Delinquent schließlich keine direkte physische Bedrohung für die Allgemeinheit bedeutete, ja wohl nicht mehr als selbstverständ­ lich. Die Inquisition, der Eymerich zu Diensten war, nannte man später die »kirchliche«, oder auch die »alte« oder »mittelalterli­ che« Inquisition. Der Inquisitor war Teil der bischöflichen Hier­ archie, und die letzte Verantwortung lag beim Heiligen Stuhl in Rom. Wie gesagt, bediente sich die Inquisition bei der Verfolgung von Ketzern der weltlichen Obrigkeit, die ihrerseits an der Unterdrückung von subversiven Elementen interessiert war; gegen die Katharer und Albigenser wurde sogar ein offizieller Kreuzzug von Kirche und Staat gemeinsam geführt. Die Initiati­ ve bei der Inquisition »alten Stils« lag jedoch immer bei der Kir­ che. Erst mit Torquemada und mit der Spanischen oder »neuen« Inquisition übernahm der Staat die Initiative. Eymerichs >Directorium Inquisitorum< ist von Interesse, weil es ein direkter Vor­ läufer ist von Torquemadas >InstruccionesDirectorium< findet sich eine Stelle, wo sich ein Verdächtiger gegen diesen Vorwurf mit den Worten wehrt: »Den Fragen nach, die Ihr mir stellt, glaubt Ihr ja wohl, ich sei ein Jude« und fügte hinzu, er sein ein Christ und glaube alles, was Christen eben glaubten. Ver­ dächtige, die nicht gestanden, wurden in Haft genommen und konnten während der Gefangenschaft bespitzelt und ausgehorcht werden durch sogenannte Mitverdächtige, die in Wahrheit für den jeweiligen Inquisitor tätig waren. Offiziell erhielt der Gefan­ gene einen Anwalt, doch der arbeitete für die Inquisition und plä­ dierte nur ungern für Strafminderungen. Ketzer zu verteidigen war eine üble Sache, weil der Anwalt sich damit selbst verdächtig machte. Kinder konnten veranlaßt werden, gegen ihre Eltern auszusa­ gen und wurden, wenn auf schuldig erkannt war, mitbestraft. Wer seine Schuld eingestand, dem wurde vergeben, aber wer nach einem Freispruch erneut der Ketzerei verfiel, galt als »relapso« 44

und wurde um so schwerer bestraft und eventuell dem weltlichen Arm übergeben; und die Methoden dieses Gerichts waren um vieles härter. Solange das endgültige Urteil nicht feststand, konn­ te man beim Papst Berufung einlegen, ein Recht, das von Eymerich beklagt wird, weil der Inquisitor dann nach Rom gebeten wurde und so wegen seiner langen Abwesenheit die »Republik Christi« in Gefahr geriet. Der Inquisitor hatte einen Widerwillen gegen römische Einmischungen, und das scheint auch ein Jahr­ hundert später die Haltung Torquemadas gewesen zu sein, der sich trotz wiederholter Vorladung weigerte, nach Rom zu gehen, wobei er sich von der mächtigen spanischen Krone gestützt wuß­ te. Eymerichs Stand war weniger fest, ihm fehlte der entspre­ chende Rückhalt. Er brachte sogar den König von Aragon gegen sich auf, als er es wagte, die Schriften von Raymundus Lullus wegen Ketzerei ins Gerede zu bringen. Diesen Wagemut mußte er mit der Flucht bezahlen, nicht nach Rom, sondern an den päpstlichen Hof in Avignon. Eymerich mußte in seinem >Directorium< einräumen, daß die Folter nicht immer zu Resultaten führte. Es gebe Menschen, stell­ te er fest, die sehr gut Schmerzen ertrügen, obwohl sie schuldig sind; andererseits gebe es Unschuldige, die unter der Folter etwas zugäben, was sie gar nicht auf dem Gewissen haben. Hundert Jah­ re später meinte Michel de Montaigne, die Folter verrate uns nichts über das Gewissen eines Einzelnen, sondern nur über des­ sen Möglichkeit, Schmerzen auszuhalten (>Essais 11,5: De la conscienceDirectorium< von allem Mitleid, von jedem Funken Barmherzigkeit frei weiß. Der Verfasser ist ein analytischer, an Zynismus grenzender Geist, der Machiavelli viel näher steht als Lullus oder Ferrer. Man könnte Eymerich vom Ansatz her fast als »modern« bezeichnen. Wer geriet in die Fänge der Inquisition? Gotteslästerer, Hexen, Teufelsanbeter, Astrologen, Alchimisten, Päderasten, Zoophile, Exkommunizierte, Götzendiener, Sakramentsverweigerer, Ab­ trünnige, Konvertiten zu Judentum und Islam, Beschützer von Ketzern. Der Franziskaner Alonso de Espina (1412-1495) ist der Verfasser eines Pamphlets mit dem Titel »Fortalitium fidei contra judeos, sarracenos aliosque christianae fidei inimicosDirectorium< ist Espinas Erörterung eine deutliche Verschärfung. Während Eymerich sich noch auf die abtrünnigen Christen beschränkt, eröffnet das >Fortalitium fidei< den Angriff auf Juden und Saraze­ nen, insgesamt auf die »Bestie, die den Glauben bedroht«. Espina wendet sich gegen die Feinde, die unter den Christen leben in 47

einem Kastilien, das noch nicht von der Inquisition beschützt wurde. Espina ist kein Inquisitor, sondern ein pflichteifriger Mönch, der sich um das allgemeine Wohl sorgte. Die Sprache sei­ nes Pamphlets ist scharf und überzeugend. Sein Wissen über das Judentum ließ die meisten Historiker vermuten, er sei ein getauf­ ter Jude. Zu Beginn legt Espina dar, das Alte Testament müsse als Vorabdeutung des Neuen Testaments gesehen werden. Sodann unterteilt er die Ketzer in (erstens) solche, die das Evangelium als gefälscht bezeichnen, in (zweitens) solche, die den Nutzen der Beichte leugnen (mit einem Hinweis auf die Unwürdigkeit vieler Priester), in (drittens) jene, die das Fegefeuer ablehnen und damit den Sinn bestreiten, für verstorbene Gläubige zu beten, und in (viertens) diejenigen, die bestimmte Sünden entschuldigen, indem sie auf das Gestirn verweisen, unter dem sie begangen wurden. Diese letzte Gruppe erwähnt er vielleicht deshalb, weil in das Kastilien des 15. Jahrhunderts neben dem »Judaismus« auch heterodoxe Ideen von den Katharern eingedrungen waren. Espina wendet sich aber vor allem gegen die Juden. Er wider­ spricht dem Talmud, der auf die mündliche Überlieferung von Gott an Moses zurückgehen soll, in Wahrheit aber von späteren Rabbinern »erfunden« wurde, um die Juden vom Christentum abzuhalten und die eigene Macht zu sichern. Er zeigt die Weige­ rung der Juden, in Christus den Messias zu erkennen, an drei Ent­ täuschungen oder unerfüllten Erwartungen auf: das Ausbleiben (erstens) des Jüngsten Gerichts, (zweitens) des allgemeinen Frie­ dens auf Erden und (drittens) der Herrschaft der Juden über die Welt; deshalb könne Christus nicht der Messias sein, denn wäre er der Messias gewesen, dann wären diese Erwartungen für alle sichtbar in Erfüllung gegangen. Christus war somit ein gewöhn­ licher Mensch, sündig wie jeder andere, geboren von einer irdi­ schen Frau und gezeugt von einem Mann aus Fleisch und Blut. Daß er wie jeder andere gestorben ist, beweist das. Seine Frohe Botschaft hat er von einem anderen erhalten; und Christus kann nicht Gott sein, denn wenn er als Gott neun Monate im Leib einer Frau zugebracht hat, dann hat die Erde ja neun Monate ohne Gott 48

auskommen müssen, und das ist undenkbar. Außerdem hat Chri­ stus an der Welt nichts verändert, die Macht des Bösen ist nicht gebrochen. Christen sind nach der Auffassung der Juden Göt­ zendiener, weil sie vor Bildern knien, und Gotteslästerer, weil sie in der Eucharistie Gott in Stückchen verteilen. So denken die Juden, nach dem Zeugnis von Espina, über Christus und die Christen. Anschließend führt er die Vergehen der Juden auf: 1. der Mord am Messias; 2. immer wieder Morde an Christenkindern; 3. die Vergiftung von Brunnen und die Pfuscherei bei den Arzneien für kranke Christen; 4. das Verfluchen von Christen; 5. der aktive homosexuelle Verkehr (der passive Mann sündigt nicht); 6. die Lügen des Talmud; 7. das törichte Warten auf den Messias. Für all diese Vergehen sind die immer wiederkehrenden Verfolgungen der Juden Beweis genug. Das beginnt mit der Zerstörung Jerusa­ lems im Jahre 70 und setzt sich fort in späteren Vertreibungen aus dem spanischen Westgotenreich, aus Frankreich und England. Da man andernorts die Juden austreiben konnte, fragt Espina, war­ um Spanien sich da zurückhielt. Aber, so sagt er zum Schluß, wenn die Juden sich bekehren, dann sollen sie unter Christen aufgenommen werden. Solange sie das nicht tun, sollen sie sich äußerlich von ihnen unterscheiden, damit die Christen nicht in Verwirrung geraten. Die jüdischen Männer müßten den Bart wachsen lassen und dürften keine Chri­ stinnen heiraten. Die Juden sollen die Christen nicht finanziell ausbeuten und sie müssen die christlichen Riten respektieren. Den Sarazenen wird vorgeworfen, ihre Gesetze seien schlecht, und ihre Vorstellung vom Himmel sei kindlich und lüstern (was schon Thomas von Aquin bemerkt hatte). Mohammed habe kei­ ne Wunder vollbracht und könne deshalb keine echte Autorität einfordern. Die Mohammedaner stellten die christliche Lehre von der Trinität mutwillig als Karikatur dar, sie seien taub für die Wahrheit des Alten und Neuen Testaments. In einem kurzen Rückblick skizziert Espina die Entwicklung des Islam und zeigt, wie dem Christentum, das von Natur aus friedlich war, durch die

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arabische Expansion ein militanter Charakter aufgezwungen wurde, womit er das Phänomen der Kreuzzüge erklärt. Der aggressive Islam hat also die Christen zum Angriff gezwungen eine Entwicklung, die Espina zufolge fortdauern wird, bis die Bestie in die Hölle gestürzt und die Burg des Glaubens nicht mehr belagert ist. Das >Fortalitium fidei< stand also nicht allein da. Es waren ähn­ liche Schriften im Umlauf, doch die Darstellung des Alonso de Espina sollte bei denen eine durchschlagende Wirkung haben, die in Kastilien die Inquisition einführten und durchsetzten. Es war kurz vor der Vermählung von Isabella und Ferdinand, der Begründer Spaniens, geschrieben worden. Um diese Gründung geistig zu untermauern, brauchte der neue Staat das Christentum zur Identifikation. Das bedeutete nicht nur ein gemeinsames Auf­ treten nach außen gegen das letzte maurische Königreich auf ibe­ rischem Boden, sondern auch eine Säuberung im Innern, gerich­ tet gegen den jüdischen Einfluß bei Hofe. Diese beiden Aktionen hielten sich im Gleichgewicht. Solange Granada noch nicht erobert war, fanden die Mönche, die den Hof wegen der Auswei­ sung der Juden bedrängten, kein Gehör. Nicht nur, weil die Juden Geld vorstreckten für den heiligen Kampf gegen die Mauren, son­ dern auch, weil das Königspaar sich seiner Macht noch längst nicht sicher sein konnte. Es stand zuviel auf dem Spiel. Der Krieg mit Portugal war noch nicht beendet, Frankreich bedrohte andauernd die Grenze im Norden, und die Türken bildeten eine große Gefahr auf dem Mittelmeer. Und in Spanien selbst hatten Isabella und Ferdinand alle Hände voll zu tun, um den rebelli­ schen Adel der Zentralgewalt unterzuordnen. Die Errichtung der Spanischen Inquisition fiel zusammen mit dem Ausbruch des Krieges gegen Granada und das Ende dieses Krieges mit der Vertreibung der Juden.

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6. KAPITEL

Spanien zwischen 1450 und 1500

Die Einführung der »modernen« oder Spanischen Inquisition war also untrennbar verbunden mit der politischen Geschichte der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, als Spanien zu einer Ein­ heit zusammenwuchs. Als Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragón sich ver­ mählten, war die Lebensfähigkeit der neuen Monarchie höchst fragwürdig. Die Verbindung war von allen Seiten, im Innern wie von außen, bedroht. Im Innern durch Adlige, die in dieser Verei­ nigung einen Anschlag auf ihre Vorrechte witterten, von außen vor allem durch Portugal und Frankreich, die keinen starken Nachbarn dulden wollten. Schon die Nachfolge Isabellas auf dem kastilischen Thron war eine anfechtbare Angelegenheit. Sie war die Halbschwester des regierenden Königs Heinrich IV., der ver­ fügt hatte, sie dürfe den Thron nur dann besteigen, wenn sie einen Kandidaten seiner Wahl heirate. Ferdinand von Aragón war das nicht. Für Heinrich war es schon schlimm genug, daß er unter dem Druck unzufriedener Adliger seine eigene Tochter Johanna von der Thronfolge ausschließen mußte. Johanna war wohl nicht die echte Tochter des Königs, sondern seines »Favoriten« Don Beiträn de la Cueva. König Heinrich hieß »der Impotente«, und Johanna nannte man nach ihrem Erzeuger »La Beltraneja«. Wahr oder nicht, jeder glaubte halt, was ihm nutzte, und wer vom König, vom eventuellen Nachfolger, die Geschenke und Privile­ gien forderte oder erhoffte, die er von Heinrich IV. nicht bekam, der schloß sich den »Unzufriedenen« an, die Johanna zur Bastardtochter erklärten. Die Unzufriedenen richteten ihr Augenmerk auf Isabella, die auf der Burg ihrer Mutter ein zurückgezogenes Leben führte. Sie hatte kein Interesse daran, ihrem Halbbruder in die Quere zu 51

kommen, aber als ihr eigener Bruder Alfonso von den Rebellen als »Fahne« gegen die Truppen König Heinrichs mißbraucht wurde und dabei umkam, nahm der Druck auf sie zu. Sie fürch­ tete diesen Druck, weil sie begriff, daß er von Leuten ausging, die sie nur benutzen wollten, wie sie es mit dem jungen Alfonso getan hatten. Um der Sackgasse zu entkommen, bewegte sie sich auf den Sohn des aragonesischen Königs Johann II., auf Ferdinand zu, der so alt war wie sie selbst. Mit ihm konnte sie vielleicht derer, die sich ihrer bedienen wollten, Herr werden, und bei diesem Vorhaben wurde sie von ihren besten Freunden unterstützt. Heinrich IV. dagegen und eine Reihe von mächtigen Adligen wollten Kastilien mit Portugal verbinden oder notfalls auch mit dem französischen Königshaus verschwägern. Aber die Kandida­ ten aus Frankreich und Portugal mißfielen der Prinzessin, unter anderem wegen ihres Alters. 1469 fand die heimliche Hochzeit von Isabella und Ferdinand statt, und 1474 tat Heinrich IV. seinen letzten Atemzug. Im sel­ ben Jahr wurde das Ehepaar zu König und Königin von Kastili­ en und Aragon ausgerufen. Und das bedeutete Krieg mit einem Teil des kastilischen Adels. Die Unzufriedenen liefen über zum bejahrten König Alfons V. von Portugal, der im letzten Augen­ blick mit Johanna Beltraneja die Ehe schloß. Durch diese Heirat glaubte der portugiesische König ein Recht auf den kastilischen Thron zu erwerben, denn Johanna war immerhin offiziell die Tochter des verblichenen Heinrich IV. Daß das Volk Heinrich für impotent hielt, war ein Trumpf für Ferdinand und Isabella, doch die zu Portugal haltende Gruppe war für die neue spanische Mon­ archie eine starke Bedrohung. Die nahm noch zu, als Frankreich Partei für Portugal ergriff. Die antispanische Politik Frankreichs hatte Ferdinand mit in die Ehe gebracht, weil Aragon sich seit lan­ gem mit dem nördlichen Nachbarn um ein Stück Grenzgebiet stritt. So sah sich das Paar von Gefahren umringt, die den ruhigen Verlauf der spanischen Einigung, die Verwirklichung des goti­ schen Traums, das Spanien von vor der mohammedanischen Eroberung wiederherzustellen, sehr ungewiß werden ließ. Ein 52

Jahr nach der Inthronisation brach der Krieg mit Portugal aus, der bis 1479 dauern sollte. Daß Ferdinand und Isabella den Krieg gewannen, mag neben anderem ihrer glücklichen Verbindung zugeschrieben werden. Ferdinand begriff, daß er in Kastilien nur dann regieren konnte, wenn er Isabella als gleichrangig an­ erkannte. Daß ihm das gelang, lag auch an der Diskretion der Königin, die obendrein so feinfühlig war, ihren Mann bei allen Problemen um Rat zu fragen. Isabella war wohl eine Frau von ungewöhnlicher Charakterstärke. Nicht nur die damaligen Chronisten, auch viele spätere Historiker sind einhellig der Ansicht, sie habe die königlichen Zeitgenossen weit überragt. Sie warf ihren Schatten voraus, und Spanien blickte stets in Nostal­ gie zu ihr zurück. Ferdinand zeichnete sich aus durch Schläue und Tatkraft, und wenn Machiavelli ihn lobte, dann war das wohl nicht, wie es später allgemein verstanden wurde, notwendiger­ weise zynisch gemeint. Machiavelli sah in Ferdinand den starken Mann, den das hoffnungslos aufgesplitterte und von Spanien und Frankreich bedrängte Italien für die Auferstehung römischer Glorie so dringend brauchte. Das Ende des portugiesischen »Erbfolgekrieges« war der erste Schritt zur spanischen Weltmacht. In zwei Jahrzehnten sollten die Katholischen Könige, wie Ferdinand und Isabella später genannt wurden, in Europa das Wort führen, und das stach vor allem Frankreich in die Augen. Frankreich, das etwa zur gleichen Zeit damit beschäftigt war, sich als absolute Monarchie zu konsolidie­ ren, sah sich von der Verschwägerungspolitik der Katholischen Könige bedroht, die sich mit dem deutschen Kaiser und mit den englischen und portugiesischen Königshäusern verbanden und schließlich sogar in Italien festen Fuß faßten. Aber bevor Ferdi­ nand und Isabella mit dieser Politik erfolgreich waren, mußten sie im eigenen Reich einige Dinge in Ordnung bringen. Das bewerk­ stelligten sie, indem sie mit Hilfe des Volkes, von dem das Königs­ paar begeistert unterstützt wurde, den Adel bändigten und der Krone unterwarfen. Viele Adlige hatten sich nach der Niederlage Portugals auf die Seite der Sieger geschlagen. Wer sich der zentra­ 53

len Gewalt nicht beugen wollte, wurde mit harter Hand zum Gehorsam gezwungen. Nach und nach wurden die regionalen Privilegien durch eine neue nationale Gesetzgebung beseitigt, während die wieder aktivierten Landwehren, die sogenannten »hermandades«, Anarchie, Verbrechen und Willkür - Folgen der Streitigkeiten unter den adligen Gruppen, worunter in erster Linie das einfache Volk zu leiden hatte - zurückdrängten. Die Chroniken der Zeit und die späteren spanischen Geschichts­ schreiber sind allesamt des Lobes voll für Ferdinand und Isabel­ la, weil sie an die Stelle des rechtlosen Lehnswesen einen organi­ sierten Rechtsstaat setzten und dadurch das Fundament für das spätere Weltreich legten. Allenthalben auf der Halbinsel hielt das Königspaar Versammlungen ab, und jeder, der Klagen vorbrach­ te, fand an diesem umherreisenden Hof Gehör. Nie zuvor hatten die Menschen in Kastilien in diesem Maß ihre Unzufriedenheit vorbringen können. Erstmals hatten sie das Gefühl, daß sie sich ihr Recht holen konnten, und in jeder Stadt, die sie aufsuchten, erfuhren Ferdinand und Isabella, wie weit die Not schon gestie­ gen war. Unter der Regierung Heinrich IV. hatten die örtlichen Potentaten durch ihre einander widerstrebenden Machtgelüste die Untertanen straflos ausbeuten können. Seit 1476 konnte sich das Volk gegen den Adel auf die Krone berufen, was der Monar­ chie eine ungeahnte Popularität eintrug. Daß Ferdinand und Isabella bei der Zähmung des Adels so erfolgreich waren, war ein politisches Meisterstück, ein Schulbei­ spiel, wie es Philosophen wie Hobbes und Spinoza den Monar­ chen zwei Jahrhunderte später empfahlen. Der Unterstützung durch das Volk sicher, zogen sie einen Grande nach dem anderen auf ihre Seite. Die Konsolidierung ihrer Macht vollzog sich dadurch, daß sie jede neue Bestallung der Krone vorbehielten. Zuletzt waren alle militärischen und kirchlichen Würdenträger von den Monarchen selbst eingesetzt, was den Einfluß von Adel und Klerus so niedrig wie nie zuvor hielt. Rom konnte Kandida­ ten für die Bischofssitze vorschlagen, die endgültige Wahl blieb der spanischen Krone, und was das für die Inquisition bedeutete,

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werden wir im nächsten Kapitel sehen. Daß der Weg zur absolu­ ten Monarchie zu einer Erfolgsgeschichte wurde, hing damit zusammen, daß Ferdinand und Isabella in beispielloser Eintracht und mit absoluter Treffsicherheit den richtigen Mann auf den richtigen Platz zu stellen wußten. Dabei achteten sie auf die Eig­ nung der Bewerber und niemals auf deren Herkunft. Nie zuvor in der Geschichte Spaniens und auch später nicht, saßen so viele große Geister in Schlüsselpositionen. Wer sich bewähren wollte, konnte Karriere machen. Ferdinand und Isabella, die selbst mit wenig angefangen und schon ihre Rolle im Streit hatten erobern müssen und die ohne Rast im Harnisch von einer Front zur ande­ ren galoppierten, mußten noch nicht unter dem bürokratischen Ballast und den Hofintrigen regieren, welche die spanische Mon­ archie hundert Jahre später versteinern lassen sollten. Es fällt auf, daß die Geschichtsschreiber des 17. Jahrhunderts - das man selt­ samerweise das »goldene« nennt - stets auf die Zeit der Reyes Católicos verweisen, um ihre Klagen über Käuflichkeit, über die Anmaßung des Adels und den moralischen Verfall zu stützen. Aber auch die spanischen Chronisten des 15. Jahrhunderts spra­ chen merklich lobender vom ersten Königspaar als Philippe de Commynes und Machiavelli über ihre zeitgenössischen französi­ schen und italienischen Fürsten. Daß zu Ende des 15. Jahrhunderts in Spanien auffallend viele fähige und tüchtige Männer emporstiegen, ist auch ein Ergebnis des Zusammentreffens historischer Umstände. Das wichtigste war der »Kreuzzug« gegen das letzte maurische Fürstentum auf iberischem Boden, gegen Granada. Dieser Kampf, der 1482 begann und zehn Jahre dauern sollte, wurde schon damals mit dem Trojanischen Krieg verglichen und vom ganzen christlichen Europa verfolgt. Zahllose Helden taten sich hervor in diesem letzten Akt der Reconquista, die acht Jahrhunderte zuvor ihren Anfang genommen hatte und sich jetzt zu einer Apotheose aus­ wuchs. Von nah und fern strömten die »letzten Ritter« zu dieser Front, um sich für die »heilige Sache« zu schlagen, den Tod zu fin­ den und das himmlische Paradies zu gewinnen. Als 1492 der 55

Halbmond auf der Alhambra dem silbernen Kreuz weichen muß­ te, feierte ganz Europa ein Fest. Vor allem in Rom wurde dieses historische Ereignis prächtig eingerahmt und als süße Rache für den Verlust von Konstantinopel ein halbes Jahrhundert zuvor empfunden. Dieser Kriegstat verdankten Ferdinand und Isabella den Titel Katholische Könige und ihre Stellung als Führer der Christenheit im Kampf für das durch die Türken bedrohte Eu­ ropa. Im eigenen Lande war der Krieg gegen Granada dazu angetan, die regionalen Streitereien, die Fehden unter den adligen Ge­ schlechtern zu neutralisieren. Es bot sich die Gelegenheit, die Einheit des Landes zu festigen, indem man die Energie der rivali­ sierenden Barone und Grafen auf einen gemeinsamen Feind aus­ richtete und jedem einen ehrenvollen Anteil an diesem Kampf zugestand. Der zehnjährige Krieg war ein einziger, nur durch wenige Gegenschläge unterbrochener Siegeszug. Ferdinand und Isabella waren andauernd unterwegs zwischen den Kampfplätzen im Süden und dem unruhigen Hinterland. Eine »Hauptstadt« gab es für sie nicht. Das eine Mal hielten sie in Sevilla Gerichtstag, ein anderes Mal schlug Isabella einen Aufstand in Segovia nieder, wieder ein anderes Mal wurden ausländische Gesandte in Cordo­ ba oder Barcelona empfangen, aber während der Belagerung der maurischen Städte war Ferdinand zumeist in der vordersten Linie, während Isabella von Córdoba aus für den Nachschub sorgte. Der Krieg kostete Geld, woher das kam, war gleich. Die jüdischen Gemeinden und die Inquisition stellten große Summen bereit, und Isabella bot ihren persönlichen Schmuck an. Finanzi­ ell sollte der Vollendung des Kreuzzuges nichts im Wege stehen. Ferdinand erwies sich nicht nur als ein hervorragender Stratege, sondern auch als ein gewiefter Diplomat. Er wußte die Streiterei­ en untereinander im Königreich Granada zum eigenen Vorteil auszuspielen und ging niemals und nirgends ein Risiko ein bei der Belagerung der einzelnen Städte. Wo die christlichen Truppen auch eindrangen, überall wurden die Moscheen in Kirchen umge­ wandelt, überall wurden christliche Sklaven befreit. Weil eine 56

Invasion der Türken nicht auszuschließen war, ließ Ferdinand in den südlichen Küstengewässern Flotten patrouillieren. Als schließlich die Festungen in ganz Granada genommen waren und nur die Hauptstadt noch widerstand, ließ Ferdinand nicht weit von der Alhambra eine neue Stadt bauen, Santa Fé, von der aus der letzte Schlag in aller Ruhe vorbereitet werden konnte. Die Mohammedaner begriffen, daß die Katholischen Könige nichts mehr aufhalten konnte. Die Hilfe der Türken blieb aus, und man konnte nicht mit einer Invasion aus Nordafrika rechnen. Anfang 1492 übergab der letzte maurische König den Schlüssel der Alhambra an die, die fortan die absoluten Herrscher von ganz Spanien waren. Nach acht Jahrhunderten verschwand der Islam von der Iberischen Halbinsel und wurde der »gotische Traum«, wie ihn der Chronist Andres Bernäldez nannte, verwirklicht. Wie »gotisch«, das heißt, wie »christlich« Spanien wirklich war, das ist eine andere Frage. »1492« galt als politischer Triumph. Daß dafür außerdem die Juden geopfert wurden, empfand das ganze christliche Europa nicht nur als selbstverständlich, sondern sogar als dringlich. Spanien war vom übrigen christlichen Europa noch nie ganz für voll genommen worden. Durch die Vertreibung der Juden und Zwangstaufen der Muslime hoffte das neue Land nun, ein vollwertiges Mitglied der Christenheit zu werden. Daß diese Hoffnung nicht so bald in Erfüllung ging, erklärt sich aus dem Neid auf die Machtstellung Spaniens. Ein gängiges Argument lautete, die Spanier seien (wegen der Inquisition) doch ziemlich »exotisch« und aus christlicher Sicht einigermaßen »verdächtig«. Juden und Mauren, die sich taufen ließen, und das geschah in sehr großem Umfang, hatten sich mit den »Goten« vermischt, was der spanischen Bevölkerung den Charakter eines Mestizenvolkes gab, so wie ein anderes Mestizenvolk bald darauf die durch Spa­ nien entdeckte Neue Welt prägen sollte. Erasmus von Rotterdam etwa sah in Spanien ein »entartetes« Land, und die Niederländer, die sich später von Philipp II. freikämpften, beschimpften die Spanier als »Marranen«, also mit der verächtlichen Bezeichnung, mit der man in Spanien die »Scheinchristen« oder »Kryptojuden«

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bedachte. Wie mangelhaft das spanische Christentum für galli­ sche und niederländische Christen auch sein mochte, die römi­ sche Kirche ließ offiziell immer nur die »Reinheit des Glaubens« gelten. Die Ausweisung der letzten Juden, die sich, anders als die meisten ihrer Glaubensgenossen, nicht bekehren lassen wollten, und die folgenden Vertreibungen der Mauren waren nicht etwa die Folgen »rassistischer« Vorurteile, sondern des religiösen Fanatismus, wozu noch die Angst kam, die Anwesenheit von Mohammedanern auf der Iberischen Halbinsel könne eine türki­ sche Invasion anlocken. Die Eroberung von Granada fiel zusammen mit der Ent­ deckung Amerikas, aber es dauerte noch geraume Zeit, bis die Alte Welt deren Bedeutung erkannte. Isabella sah das deutlicher als Ferdinand, der wegen seines aragonesischen Hintergrundes eher nach Osten blickte. Sizilien gehörte zum Beispiel zu den überseeischen Gebieten Aragöns, und deswegen war Spanien auch von der italienischen Politik mitbetroffen. Italien war in eine Reihe von Stadtstaaten aufgeteilt, die miteinander stritten und dabei häufig an fremde Mächte appellierten. Als der französische König Karl VIII. sich aber berufen fühlte, eine Tat zu vollbringen, die »Granada« über­ träfe - die Eroberung des Heiligen Grabes in Jerusalem -, dafür aber zunächst seine vermeintlichen Ansprüche auf das Köni­ greich Neapel geltend machen wollte, da erging an Ferdinand der Ruf, dem bedrängten, mit Aragon verschwägerten Königreich zu Hilfe zu eilen. Und damit begann Spaniens Italienpolitik, die schließlich zur Unterwerfung Neapels als ein der spanischen Krone angeglieder­ tes Königreich führte. Unterdessen waren der älteste Sohn und die zweite Tochter der Katholischen Könige an eine Prinzessin und einen Prinzen des Hauses Habsburg verheiratet worden, das in Spanien Beistand suchte gegen die Vereinnahmung Burgunds durch den französischen König; die älteste und die jüngste Toch­ ter wurden in die Königshäuser von Portugal und Frankreich ver­ heiratet. Frankreich geriet durch diese Allianzen in die Isolation,

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und das hatte eine dauernde Atmosphäre von Rivalität und Arg­ wohn zwischen den beiden Großmächten zur Folge. So war, in großen Zügen, die politische Lage zur Zeit der Ein­ führung der Spanischen Inquisition.

7. KAPITEL

Die Einführung der Spanischen Inquisition

Im Sommer des Jahres 1391 fiel eine tobende Menge in das Juden­ viertel von Sevilla ein. Angestachelt vom Erzdiakon des benach­ barten ficija, Ferrant Martinez, brachten die Christen gegen vier­ tausend Juden um und zerstörten die Synagogen. Unter den Flüchtenden befand sich der Großvater des jüdischen Philoso­ phen Isaac Abravanel. Der Enkel kehrte 1485 von Portugal nach Spanien zurück und wurde Finanzberater am Hofe von Ferdi­ nand und Isabella. Daß 1391 ein Vorspiel war für 1492, wurde erst später deutlich. Die Plünderung des Judenviertels von Sevilla war indes sympto­ matisch. Die mittelalterlichen Könige der Iberischen Halbinsel beschäftigten häufig Juden als Ratgeber in Finanzsachen und übertrugen Juden auch das traditionell unpopuläre Geschäft des Steuereinzugs. Auch der Beruf des Geldverleihers wurde von Juden ausgeübt, denn Christen wollten ihre Hände damit nicht schmutzig machen. Stellt man sich die ewig Unzufriedenen vor, die von ihren Schulden erdrückt werden, dann versteht man, daß da bloß wenig passieren muß, um es zu einem Ausbruch kommen zu lassen. 1391 waren Steuererhöhungen der Anlaß. Der Unwil­ len wurde auf die übliche Weise an dem alten Sündenbock abrea­ giert, und alsbald ertönte die bekannte Beschuldigung an die Adresse derjenigen, die den Messias ermordet haben sollen. Die königlichen Behörden und die kirchlichen Würdenträger wider­ setzten sich im Prinzip solchen Rachezügen, aber ob sie damit Erfolg hatten, hing vom Willen und von der Stärke der jeweiligen Zentralgewalt ab. 1391 war der König von Kastilien ein kränkeln­ der Junge, der von sechs Vormündern mit unterschiedlichen Interessen gelenkt wurde, was ein beherztes Durchgreifen unwahrscheinlich werden ließ. Wie spätere katholische Apologe-

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ten berichten, wurden Galgen aufgerichtet, um die schlimmsten Rädelsführer einzuschüchtern, aber ob die Anstifter zur Rechen­ schaft gezogen wurden, bleibt unklar. Daß das Feuer auf andere Städte überschlug, steht fest; im gleichen Sommer wurden auch die Judenviertel von Córdoba, Valencia und weiterer Städte heim­ gesucht. Seit diesem Jahr begannen die Juden sich im großen Umfang taufen zu lassen. Die meisten wurden durch Verzweiflung und Angst dazu getrieben, oder aus Opportunismus. Der Missionar aus Valencia, Vicente Ferrer, fand willig Gehör. Zehntausende ließen sich von seinem Weihwasserwedel besprengen und erhiel­ ten so den Zugang bis zu den höchsten Stufen der Gesellschaft. Natürlich gab es unter ihnen auch solche, die den christlichen Glauben aus Überzeugung annahmen, aber ihre Zahl war gering. Doch übten diese »Überzeugten«, wie sich im sogenannten »Dis­ put vonTortosa« im Jahre 1414 zeigte, großen Einfluß aus. Wegen ihrer ausgezeichneten Kenntnisse der jüdischen Schriften wurden sie in solchen Debatten zwischen Verteidigern der beiden Reli­ gionen eingesetzt, um in aller Öffentlichkeit die Lehren der Rab­ biner zu widerlegen, was wiederum Wellen von Bekehrungen zur Folge hatte. Daß die Ideen Ferrers, der ein Traktat gegen die Juden geschrie­ ben hatte, das intransingente Verhalten von Ferrant Martinez und Konsorten beeinflußt haben, ist schwer nachzuweisen. Die Kir­ che stand offiziell auf dem Standpunkt, die Juden sollten nicht belästigt werden. Daß das trotzdem geschah, lag unter anderem an der Autoritätskrise innerhalb der Kirche zu Ferrers Zeit, aus­ gelöst durch das Große Schisma, als drei Päpste die Tiara bean­ spruchten. Die spätere Velotterung des römischen Hofes bewirk­ te zudem, daß die christlichen Fürsten den Papst nicht sehr ernst nahmen, was sich in der Zeit Torquemadas zeigen sollte. Durch die wachsende Zahl der »neuen Christen« - die als »conversos« in die Geschichte eingingen, oder unter dem Schimpfwort Marranen (abgeleitet vielleicht von dem spanischen »marrano«, was Schwein bedeutet, nach Llórente jedoch von dem

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aramäischen »maran atha« oder »der Herr kommt«, in diesem Falle der Messias, der noch »kommen werde«) - drohte im Lau­ fe des 15. Jahrhunderts die spanische Christenheit zu degenerie­ ren - wenigstens nach Auffassung der religiösen Puristen. Wie sehr dabei auch politische Erwägungen eine Rolle spielten, zeig­ te sich 1449 unter der Regierung Johanns II. von Kastilien, als in Toledo die Volkswut sich erstmals gegen die »neuen Christen« entlud. Diese Ex-Juden hatten, weil sie sich hatten taufen lassen, den Zugang zu Schlüsselstellungen erreicht. Unter ihnen waren Finanzberater des königlichen Günstlings Don Alvaro de Luna, der einige Jahre später auf dem Schaffott enden sollte. Favoriten des Königs erregten stets Neid, aber dieses Mal fand die Unzu­ friedenheit der städtischen Notabein - der natürlichen Feinde der königlichen Herrschaft - ein Ventil in dem Vorwurf, Alvaro de Luna sei von lauter Scheinchristen umgeben. Unter der Regierung Heinrich IV. (1454-1474) wurde das öffentliche Unbehagen noch größer als unter seinem Vorgänger. Der starke Mann am Hofe, Don Beiträn de la Cueva, machte der Königin in aller Öffentlichkeit den Hof, was, nach Meinung der Chronisten, den sittlichen und religiösen Verfall zur Folge hatte. Das Volk machte seiner Empörung Luft in den berühmten satiri­ schen >Coplas de Mingo Revulgo< (um 1464), die zur spanischen Literatur zählen. Darin werden der König und seine Hofclique aufs Korn genommen, und dabei geraten auch die »conversos« ins Schußfeld. Denn einer der Vorwürfe lautete, in Kastilien wisse niemand mehr, »welche Schafe Christus, welche Moses und wel­ che Mohammed gehörten«, wo der Brauch es doch verlange, »daß sie deutlich voneinander getrennt zu weiden hätten«. Dem fran­ zösischen Chronisten Philippe de Commynes fiel bei einem Tref­ fen mit dem französischen König Ludwig XL die Anwesenheit von »jüdischen« Diplomaten unter den kastilischen Gesandten von König Heinrich IV. auf. Wie eng politische und religiöse Motive ineinander verflochten waren, ist daraus ersichtlich, daß die Kritik sich immer gegen Bekehrte richtete, die wichtige Stellungen innehatten und offen

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»judaisierten«, wie das damals hieß. Sie ließen ihre Kinder nicht taufen, hielten an der Beschneidung fest, übergingen die kirchli­ chen Sakramente und beachteten den Sabbat und die jüdischen Feste - Christen waren sie nur zum Schein. Die große Gruppe der Scheinchristen oder Kryptojuden wur­ de zur Zielscheibe der Dominikaner und Franziskaner - nicht die Juden selbst. Andererseits war die gleiche Gruppe zugleich den Rabbinern ein Dorn im Auge. Für sie waren die »conversos« Überläufer, Abgefallene, Verräter, die ihre Seele für den besseren sozialen Aufstieg verkauft hatten. Daß es auch Juden gab, die aus Überzeugung übergetreten waren und durch die Kenntnis ihres alten Glaubens den antijüdischen Fanatismus verstärkten - viel­ leicht auch Alonso de Espina, der Autor des »Fortalitium fidei< -, war für die Synagoge außerordentlich peinlich. Die Masse der Bekehrten jedoch geriet in die Klemme zwischen den »canes domini« (den Wachhunden des Herrn), den Dominikanern, einerseits und den in die Enge getriebenen Rabbinern anderer­ seits. Die letzteren sahen mit leidvollen Augen ihre Schafe schwinden, die ersten saßen da mit dem Erbe des Vicente Ferrer. In seinem heiligen Eifer hatte der Wanderprediger sich wohl arg wenig um die innere Verfassung der Tausenden von Täuflingen geschert. Die Ironie ist nun, daß die »Ernte« des inzwischen hei­ liggesprochenen Ferrer zum »Brennholz« von Torquemada wur­ de. Die Juden selbst besaßen in Spanien noch immer mehr Freiheit als irgendwo sonst in Europa. Zwar mußten sie sich äußerlich kenntlich machen und in eigenen Vierteln wohnen, aber nirgends sonst in der Diaspora konnten sie sich mehr erlauben als in Spa­ nien, und deshalb sollte die Vertreibung von 1492 aus dem »zwei­ ten Gelobten Land« zu einer viel schmerzlicheren Erfahrung werden als die vorhergehenden. 1492 wurde zum »Begriff« in der jüdischen Geschichte. Die wichtigsten Finanzberater der Katholischen Könige waren, wie auch die ihrer Vorgänger Johann II. und Heinrich IV, Juden. Sie brachten große Summen auf für den »Kreuzzug« gegen

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Granada, und immer, wenn maurische Städte in die Hand Ferdi­ nands fielen, wurden nicht nur die christlichen Sklaven befreit, sondern auch die jüdischen Gefangenen aus der maurischen Skla­ verei von Abraham Senior und Isaac Abravanel, den jüdischen Eminenzen am spanischen Hof, freigekauft. Die meisten Juden waren kleine Selbständige. Sie konnten schlecht bezahlte Berufe ausüben, darunter den riskanten des Steuereintreibers. Außerdem waren sie Pfandleiher, Schuhmacher, Goldschmiede und zum größten Teil im Einzelhandel tätig. Mit Landwirtschaft beschäf­ tigten sie sich nicht, demnach wohnten sie in der Stadt, am lieb­ sten in der Nachbarschaft von ihresgleichen. Durch ihre Beschäf­ tigungen kamen sie täglich mit Christen in Berührung; wie stark sie sich äußerlich von diesen unterscheiden mußten, das war in den einschlägigen Vorschriften je nach den Umständen verschie­ den. Überdies verhielten sich nicht alle Juden gleich; die ganz orthodoxen setzten sich von Natur aus ab, aber die freieren nah­ men am alltäglichen sozialen Verkehr teil, ohne daß es weiter auf­ fallen mußte. Je höher sie aber im Ansehen stiegen, desto stärker zogen sie die Mißgunst auf sich. Der unmittelbare Anlaß für die Einführung der Inquisition hängt zusammen mit Ereignissen, die 1477 in Sevilla stattfanden. In diesem Jahr, als der Krieg mit Portugal noch voll im Gange war, besuchten Königin Isabella und König Ferdinand diese größte Stadt ihres Reiches. Sevilla war die reichste, aber auch die unbe­ zwingbarste Stadt. Sie war in zwei Lager geteilt und ein Zank­ apfel zwischen den mächtigsten Herren in Andalusien, dem Grafen von Cádiz und dem Herzog von Medina Sidonia. Diese Zwietracht hatte eine Blütezeit des Verbrechens zur Folge, denn wer in dem einen Lager etwas auf dem Kerbholz hatte, der nahm Zuflucht im anderen. In dieser Atmosphäre von Anarchie und Willkür wurde der Ruf nach Gerechtigkeit laut. Und um das Recht wieder einzusetzen, waren König und Königin nach Sevil­ la gekommen. Hatten sie Erfolg mit der Versöhnung des Grafen und des Herzogs, dann entzögen sie zugleich der allgemeinen Unzufriedenheit den Grund und gewönnen zudem zwei mächti-

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ge Herren für die Krone. In jedem Fall mußten sie verhindern, daß sie zu den Portugiesen überliefen. Während des Aufenthalts in der andalusischen Hauptstadt traten auch Mönche an die Köni­ gin heran und beklagten sich darüber, daß die »conversos« in großem Maße judaisierten, unter ihnen Rentmeister, Gemein­ deräte, Abte und sogar Bischöfe. Das Sprachrohr der Mönche war Alonso de Hojeda, der Prior des Dominikanerklosters San Pablo. Die von ihm vorgebrachten Argumente stammten direkt aus dem »Fortalitium fidei< des Alonso de Espina. Die »conversos« sollten sich der »herética pravedad«, der »ketzerischen Verderbtheit«, schuldig gemacht haben. Wurde es nicht höchste Zeit, in Aragon und Kastilien die Inquisition einzuführen? Der Chronist Andrés Bernáldez, ein andalusischer Dorfpfarrer im Dienste des Grafen von Cádiz, wußte, daß diese »herética pravedad mosayca« von den Rabbinern kam, die mit ihrem Talmud - »von dem niemand etwas versteht« - ihrem eigenen Volk und auch den »conversos« eine Unzahl von belanglosen Vorschriften auferlegten. Er hielt es freilich für nutzlos, mit »diesen störrischen Leuten« zu reden, denn »contra negantes nulla est disputado« (oder »contra negan­ tes principii non est disputandum«). Torquemada, der kurz dar­ auf auftrat, dachte anders darüber. Die Tatsache, daß die Bekehr­ ten mit der Synagoge in Verbindung blieben, ließ in ihm die Idee aufkommen, die Juden auszuweisen; er glaubte, daß, wenn die Synagogen erst einmal verschwunden wären, die »conversos« nicht mehr in die alten Gewohnheiten zurückfallen könnten und ganz von selbst zu guten Christen würden. 1477 war es für diese Gedanken noch zu früh. Ferdinand und Isabella hielten nicht viel von der Einführung der Inquisition, andererseits wollten sie nicht den Eindruck erwecken, die Rein­ heit des Glaubens sei ihnen gleichgültig. Isabella hoffte einfach, daß die Inquisition in ihrer Domäne nicht nötig sein würde. Dar­ um gab sie dem Erzbischof von Sevilla den Auftrag zu einer großzügigen Katechetisierungskampagne, und wenn die dann nicht das gewünschte Resultat brächte, sähe sie sich genötigt, sich beim Papst nach der Wünschbarkeit des heiligen Tribunals zu

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erkundigen. Noch im gleichen Jahr 1478 gab Papst Sixtus IV. sei­ ne Zustimmung zur Einsetzung der Inquisition. Es dauerte dann noch drei Jahre, bis das Tribunal zu arbeiten begann. Das ge­ schah 1481 in Sevilla unter der Leitung von Frater Morillo und Frater San Martin, den ersten beiden kastilischen Inquisitoren. Zu den ersten acht Ketzern, die auf dem vor der Stadt gelegenen Campo de la Tablada verbrannt wurden, zählten einige ein­ flußreiche Stadträte von Sevilla. Bernäldez berichtet, daß es dort zwischen 1481 und 1488 siebenhundert Verbrennungen und fünftausend Aussöhnungsverfahren gegeben habe. Die Inquisito­ ren der ersten Stunde traten aber so radikal und so unberechen­ bar auf, daß viele Menschen aus der Stadt flüchteten. Einige gin­ gen nach Rom, um sich beim Papst zu beklagen, was zu einem Briefwechsel zwischen dem Heiligen Stuhl und der spanischen Krone führte (mehr darüber im nächsten Kapitel). Die Folge war, daß diese ersten Inquisitoren entlassen und durch neue ersetzt wurden, unter ihnen der später so berüchtigte Tornas de Torquemada, Prior des Dominikanerklosters Santa Cruz in Segovia und Beichtvater von Königin Isabella und König Ferdinand. Auf ihn werden wir ebenfalls bald ausführlicher zu sprechen kommen. Nach 1484 wurde die Inquisition auch in anderen Städten Kastiliens eingeführt, so in Toledo, Saragossa und Valladolid. In Toledo bediente sich die Inquisition jüdischer und maurischer Denunzianten, die zweifellos von unedlen Motiven getrieben waren. In Saragossa stieß die Einsetzung der »Spanischen« Inqui­ sition auf den Widerstand der aragonesischen »conversos«, die sich auf spezielle Vorrechte der Aragonesen beriefen und Ferdin­ and an die Vereinbarung erinnerten, daß die Vereinigung mit Kastilien keine Beschneidung der regionalen Rechte bringen dür­ fe. Ferdinand legte diese Mahnung als Anschlag auf seine Auto­ rität aus und setzte seinen Willen durch. In Aragon wirkten bereits »kirchliche« Inquisitoren, aber die ließ er nun durch »Staats-Inquisitoren« ablösen. Die »conversos« übten Rache, indem sie einen von ihnen, Pedro de Arbües, in der Kathedrale von Saragossa umbrachten. Das war 1485. Der Mord hatte eine 66

unerwartete Wirkung. Das Volk sah in Arbúes einen Märtyrer, die Obrigkeit ließ die Mörder vierteilen. Fortan war die Spanische Inquisition in Aragon eine Gegebenheit. Ob das Auftreten Fer­ dinands in erster Linie dem Glauben diente oder mehr dem Staat, das war vor allem in Rom die Frage. Daß in Valladolid Bekehrte durch Juden bei der Inquisition angezeigt werden konnten, das wurde durch den Chronisten Hernando del Pulgar verurteilt. Dieser Chronist, der als Sekretär bei den Katholischen Königen arbeitete, gehört übrigens zu den wenigen, in deren Schriften Sor­ ge über die Praktiken der Inquisition anklingt. Er fragte sich, ob das Verbrennen von Menschen mit der Lehre Christi zu verein­ baren sei. Mit dieser »humanen« Ansicht stand er damals in Spa­ nien ziemlich allein. Nach dem Fall Granadas brauchte man das Kapital der Juden nicht länger, und so ergriffen die Mönche die Gelegenheit, um die Vertreibung durchzusetzen. Es ist erwiesen, daß Ferdinand und Isabella gezögert haben vor dieser »historischen« Entscheidung. Was die Gründe für ihre Zweifel waren, wissen wir nicht. Im all­ gemeinen wird Ferdinand vorgestellt als dem jüdischen Geld besonders zugetan, während Isabella sich wohl mehr von huma­ nen Gründen leiten ließ. Die Rolle, die Torquemada bei der letz­ ten Entscheidung gespielt hat, läßt sich leicht erraten. Daß er aber einen so starken Einfluß auf seine ehemaligen Beichtkinder gehabt haben soll, daß er sie mit einem Kruzifix bedrohen konn­ te, das ist in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung und in den Chroniken nicht zu finden. Die Chronisten hatten überhaupt keinen Grund, die »Kruzifix-Szene« zu unterschlagen. Genau so wenig Grund hatten sie, die Affäre vom »heiligen Kind von La Guardia« zu verschweigen. Auf diesen zweiten Fall kommen wir später zurück. 1492 wurden die Juden vor die Wahl gestellt, sich taufen zu las­ sen oder Spanien zu verlassen. Sie erhielten ein paar Monate Bedenkzeit. Sie durften kein Geld mitnehmen, und so gaben sie Häuser für Esel und Weingärten für Stofflappen her. Viele Juden, unter ihnen Abraham Senior, ließen sich taufen und blieben als

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Christen in Spanien; die anderen wählten das Exil. Die reichsten zogen nach Portugal, wo sie gegen Bezahlung bleiben konnten, bis auch dort die Inquisition eingeführt wurde. Die am wenigsten Unglücklichen gingen nach Italien; im päpstlichen Rom waren sie jedenfalls vor Plünderungen sicher. Die unglücklichsten fuhren nach Nordafrika; auf dem Weg dahin wurde vielen, weil sie Gold­ stücke verschluckt hatten, von berberischen Piraten der Bauch aufgeschlitzt. Manche gerieten nach dem Auszug so tief ins Elend, daß sie nach Spanien zurückkehrten und sich taufen ließen. Der Pfarrer Bernäldez erzählte, daß er im Hafen von San­ ta Maria mit eigener Hand Juden mit Taufwasser besprengt habe, wobei er ihnen dargelegt habe, sie blieben doch besser als Chri­ sten in Spanien, als daß sie wegen ihrer jüdischen Identität in Afri­ ka als Tiere behandelt würden. Manche Juden ließen sich im Osmanischen Reich nieder, wo sie wegen ihrer Kenntnisse über den Feind Spanien sehr willkommen waren. Ganz allgemein galt, daß, wer Geld besaß, überall willkommen war; wer keines hatte, wurde verfolgt. Isaac Abravanel, der wohl berühmteste Verbannte, war in Portu­ gal geboren. Sein Großvater, Finanzberater des kastilischen Königs Heinrich II., mußte 1391 bei der Plünderung des Juden­ viertels von Sevilla fliehen. Der Enkel Isaac wuchs am Hofe König Alfons’ V. auf und überlebte 1449 den Überfall auf das Judenviertel von Lissabon. Als Finanzberater des portugiesi­ schen Hofes hatte er Kontakte zu den Bankiers von Florenz. 1472 kaufte er jüdische Kriegsgefangene im nordafrikanischen Arzila frei, das die Portugiesen von den Mauren erobert hatten. 1475 unterstützte er finanziell Alfons’ V. Invasion in Kastilien. Als 1481 Johann II. an die Macht kam, ließ er sich auf eine Ver­ schwörung unter der Führung des Herzogs von Bragan^a ein, der sich zum Gegenkönig ausgerufen hatte und dafür 1484 hinge­ richtet wurde. Isaac Abravanel floh nach Spanien, dem Land sei­ ner Großeltern. In Portugal verurteilte man ihn in Abwesenheit zum Tode, was den Verlust seines Hab und Guts zur Folge hatte.

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In Spanien wartete die Bestallung zum Finanzratgeber König Ferdinands auf ihn. Er lernte Abraham Senior kennen, mit dem zusammen er 1487 nach der Einnahme von Málaga jüdische Kriegsgefangene freikaufte. Abravanel stand bei Hof in hohem Ansehen, und zweifellos hat er Torquemada wiederholt Auge in Auge gegenübergestanden. 1492 entschied er sich für die Aus­ wanderung. Er zog nach Neapel und wurde Minister des letzten Königs, der 1496 vom französischen König Karl VIII. verjagt wurde - dem Propheten Girolamo Savonarola zufolge ein »neu­ er Kyros«. Das aber war er nicht für Abravanel, der auf die spa­ nische Insel Sizilien auswich und dann in Apulien ein zurückge­ zogenes Leben führte. 1503 trat er in venezianische Dienste. Venedig war in Verfall geraten durch den Aufstieg Lissabons und den Seeweg um das Kap. Vielleicht erwies sich der alte Jude als nützlich durch Verbindungen zu seinem alten Land. Aber 1508 tat Isaac Abravanel seinen letzten Atemzug. Sein Sohn Leone Ebreo, der Autor der >Dialoghi d’amoreFons vitae< im Mittelalter als christlicher Traktat galt. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts erschien das Werk von Isaac Abravanel in Istanbul. Soviel über das Schicksal eines der berühmtesten Flüchtlinge von 1492.

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8. KAPITEL

Torquemadas »Instrucciones* und der Briefwechsel mit Rom

Die Einsetzung der Spanischen Inquisition geht auf eine Initiati­ ve leidenschaftlicher Mönche zurück, die in ein Ersuchen an die Krone mündete, die daraufhin die Zustimmung aus Rom erbat. Am 1. November 1478 gab Papst Sixtus IV. sein Einverständnis. Von spanischen Gesandten und kirchlichen Würdenträgern hatte er sich von der Ungewöhnlichkeit der Verhältnisse auf der Halb­ insel überzeugen lassen. Der Heilige Vater glaubte, die spanische Kirche werde durch eine übergroße Zahl von »malos cristianos« bedroht, von Christen, die nach dem Empfang der Taufe festhiel­ ten an der »superstición e perfidia de los judíos (guardando sus ceremonias, ritos e costumbres judaicos)«, also von Schein­ christen, die von ihrem alten jüdischen Aberglauben und ihren verderbten Sitten nicht lassen konnten. Weil nun diese Schein­ christen bis in die höchsten Positionen des Königreichs vorge­ drungen waren, war eine gesonderte Aktion erwünscht. Die von den spanischen Monarchen erbetene »Inquisition« brachte Rom jedoch in ein großes Dilemma. In Aragón gab es seit jeher eine Inquisition, eingesetzt von der kirchlichen Obrigkeit, und die Kirchenleitung in Rom hatte keine Lust, ihre eigenen Inquisito­ ren im Stich zu lassen. König Ferdinand drang jedoch bei Sixtus damit durch, die Inquisitoren von Aragón, die man auch »ordi­ narios« nannte, durch seine »Beamten« zu ersetzen. Damit erhob sich ein Machtkonflikt. Konnte Rom »Glaubensfragen« - moch­ ten sie auch noch so spanisch gefärbt sein - so mir nichts, dir nichts dem »weltlichen Arm« überlassen? Das Problem wurde dringlich, als im Jahre 1481 die Spanische Inquisition ihre Tätigkeit aufnahm und zwar mit einem solchen Schwung, daß viele »Verdächtige« nach Rom auswichen, um sich

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zu beschweren. Aus einem Brief von 1481 ist die Sorge von Six­ tus IV. ersichtlich, der dem Ersuchen von Ferdinand vorläufig nicht nachkommen will. Der darauf folgende Briefwechsel gibt das Tauziehen zwischen der Krone und dem Heiligen Stuhl wie­ der; im gleichen Jahr jedoch kam es zu einem Kompromiß: zur Bestallung von sieben Inquisitoren anstelle der ersten beiden, Morillo und San Martin. Zu diesen sieben zählte auch Torquemada. Der Papst stellte die Bedingung, daß beschuldigte »conver­ sos« das Recht erhielten, in Rom die nächste Instanz anzurufen. Zudem wollte er, daß die »ordinarios«, die kirchlichen Inquisito­ ren, weiterhin »reuevolle Sünder« mit der Kirche aussöhnen durften. Ferdinand wandte dagegen ein, viele nach Rom geflohe­ ne »conversos« hätten den Papst in die Irre geführt, und damit verlangte er nochmals die Einführung der Spanischen Inquisition in Aragón; die »ordinarios« müßten abgesetzt werden. Ferdinand konnte sich schließlich durchsetzen, auch durch den Einfluß des spanischen Kardinals Rodrigo de Borja, des später so berüchtig­ ten Papstes Alexander VI. Im Jahre 1483 sah sich Isabella genötigt, die Verleumdungen zu entkräften, nach denen es der Inquisition allein um das Geld der Ketzer ginge, doch der Papst versicherte, daß er diesen Verun­ glimpfungen niemals Glauben geschenkt habe. Noch im gleichen Jahr, zu Beginn des Krieges gegen Granada, errang die Krone zwei weitere »Siege«: die Einführung der Inquisition auf der spa­ nischen Insel Sizilien und die Einrichtung eines Appellationsho­ fes zu Sevilla unter der Aufsicht des Erzbischofs Iñigo Manrique. Damit entfiel die Möglichkeit, in Rom Berufung einzulegen. Aus dem Vorangegangenen kann man den Schluß ziehen, daß Roms Macht im Abnehmen begriffen war. Papst Sixtus IV, in ver­ schiedene Skandale verwickelt - unter anderem in den Mord an dem Bruder Lorenzos de Medici - und dazu unentwegt dem Nepotismus zugetan, war für die spanischen Fürsten weniger als Seelenhirt denn als Kunstkenner und Freund der Antike über­ zeugend. Die Reputation des kämpferischen Königspaars als Schild der Christenheit gegen den Islam ließ dem trägen Heiligen

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Vater nur wenig Raum, für die Unabhängigkeit des Glaubens auf­ zutreten. Was auch hätte der in Intrigen verstrickte Papst gegen die kraftvollen spanischen Fürsten vorbringen können, die das Christentum auf dem Schlachtfeld verteidigten? Selbst in Italien, dem noch das Blutbad, das die Türken in Otranto angerichtet hat­ ten, in den Knochen stak, war man lieber Untertan Ferdinands als der eigenen Fürsten, die in ihren Streitigkeiten untereinander nicht davor zurückschreckten, die Feinde des Glaubens zu Hilfe zu rufen. Die Neapolitaner zogen ja auch das spanischeJoch dem heroischen Märtyrertum unter dem Halbmond vor.

Im Jahre 1484 wurde Tomás Torquemada mit der Billigung Roms zum Generalinquisitor (Großinquisitor) für ganz Spanien bestellt. Damit war er der erste höchste Beamte im neuen König­ reich. Rom hatte nur noch die Macht, um Milde zu bitten. Tor­ quemada tat alles, um seinen königlichen Auftraggebern die neue Verantwortung einzuflößen; auf keinen Fall, unter keiner Bedin­ gung durfte der Glaube weltlichen Interessen geopfert werden. Für sich selbst hat der Großinquisitor stets alle Ehrentitel abge­ lehnt, und aus Hinweisen in Chroniken geht hervor, daß er immer ein Vorbild an Strenge und Genügsamkeit gewesen ist. Tomás de Torquemada wurde 1420 in Valladolid geboren. Sein Onkel Juan de Torquemada - seinem Bewunderer Hernando del Pulgar zufolge von jüdischer Abkunft - war Doktor der Theolo­ gie, Kardinal in Rom, Vorkämpfer für die Macht des Papstes gegen den Drang der Kardinäle, überall mitzureden, und gegen die Ansprüche von Konzilien, Mitbegründer des Buchdrucks in Italien und Wohltäter von Waisenkindern. Tomás trat, anders als sein Onkel, in den Dominikanerorden ein, wurde Doktor der Philosophie und lehrte Kanonisches Recht. Um 1440 bestellte man ihn zum Prior des Dominikanerklosters Santa Cruz in Sego­ via, der Hauptstadt Heinrich IV. Er wurde mehrmals zum Prior gewählt, und daß ihm das gefiel, zeigt die Tatsache, daß er sich für den Rest des Lebens Prior von Santa Cruz nannte und keinerlei Anspruch erhob auf andere Titel oder Ämter. Um 1465 muß er

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der Prinzessin Isabella begegnet sein. Fromme Freundinnen haben dem fünfzehnjährigen Mädchen den Prior wohl als mögli­ chen Beichtvater empfohlen. Wie der Kontakt zwischen den beiden genau zustandekam, meldet die Geschichte nicht, aber nach einer späteren Anekdote hat der Mönch die Prinzessin von der Notwendigkeit überzeugt, aus Kastilien ein Land nur des christlichen Glaubens zu machen. Die schwache Regierung Heinrich IV., an dessen Hof die Juden großen Einfluß besaßen, soll dem Prior ein großes Ärgernis gewesen sein. Daß Torquemada die Auffassung von Alonso de Espina teilte, kann man wohl annehmen, ebenfalls, daß er die Kandidatur Isabellas für den kastilischen Thron unterstützte. Als Isabella Ferdinand heiratete, wurde er auch dessen Beichtvater, aber es sollte noch einige Zeit dauern, bevor das königliche Paar ihm die Funktion übertrug, die seinen Namen für immer in die Geschichtsbücher schrieb. 1482 erschien also sein Name zum ersten Mal als einer der sie­ ben Inquisitoren, die an die Stelle der schrecklichen Morillo und San Martin traten. Aus dem Jahre 1484 stammen die ersten >Instrucciones< als Anleitung für die neue Inquisition. Wenn auch für ganz Spanien bestimmt und abgefaßt für den Gebrauch der Regierung, stimmten diese 28 Regeln oder Instruktionen, in Sevilla redigiert, in der Idee überein mit der für die Kirche geschriebenen Anleitung des Nicolas Eymerich hundert Jahre zuvor. Verglichen mit seinem Vorläufer ist Torquemada viel gründlicher und exakter, wohl auch unter dem Eindruck der Will­ kür, die die ersten Inquisitoren von 1481 in ein so schlechtes Licht gestellt hatte. Unbestechlich wollte der Prior von Santa Cruz den christlichen Acker von Unkraut befreien, ohne Ansehen der Per­ son, aber mit Hilfe des starken Arms seiner früheren Beichtkin­ der. Ferdinand und Isabella waren darin stets viel zuverlässiger als der Papst in Rom oder die Kardinäle, die Torquemada aus tiefster Seele verachtete, vergleichbar darin seinem dominikanischen Mitbruder und Zeitgenossen Girolamo Savonarola, dem jedoch die Unterstützung eines mächtigen Königs fehlte, um seine Reformpläne zu verwirklichen. Torquemada wußte die mächtig­ 73

sten Monarchen hinter sich. Und seine »Instrucciones* sollten zum Eckpfeiler einer konkreten Utopie werden, des Vorhofs vom Königreich Christi. Ein gewisser Messianismus, der vielleicht von seiner jüdischen Herkunft stammte, war Torquemada nicht fremd. In der Kathedrale und in den Kirchen wurde bekanntgegeben, bis zu welchem Zeitpunkt »Verdächtige« sich freiwillig melden konnten. Diese Verdächtigen nannte Torquemada »rebeldes« und »contradictores«, nicht »conversos«. Darunter verstand er jegli­ che Form des »Judaisierens«. Wer sich vor dem gesetzten Zeit­ punkt meldete, riskierte eine Buße, vorausgesetzt, man wollte sich öffentlich mit der Kirche aussöhnen. Daß viele diese Mög­ lichkeit nicht wahrnahmen, lag in der Angst vor dem Verlust des guten Rufes; außerdem durften diese Versöhnler bestimmte Ämter und Berufe nicht mehr ausüben, so etwa Rentmeister und Münzmeister, Chirurg und Bader, die zur Ader ließen, Apothe­ ker, Steuereintreiber, Eichmeister und Makler, also alles Berufe, in denen viele »conversos« tätig waren. Außerdem durften die zur Versöhnung Bereiten auf lange Zeit keine Prachtkleider und kei­ ne Juwelen tragen. Das Bußgeld wurde für den heiligen Krieg gegen Granada verwandt. Wer den Termin überschritt und unter starkem Verdacht stand, verlor automatisch all seinen Besitz. Wer sich noch nachträglich selbst meldete, wurde zwar bestraft, jedoch weniger schwer, als wenn er es auf eine Verhaftung durch die weltliche Obrigkeit ankommen ließ. Für diesen Fall war lebenslange Haft möglich. Wer aber Reue zeigte, dem konnte, wenn das Vergehen nicht all­ zu schwer war, die Gefängnisstrafe in Hausarrest umgewandelt und eventuell auch das beschlagnahmte Hab und Gut zurück­ gegeben werden. Für Minderjährige galten mildere Maßregeln; Kinder von Ketzern konnten in »gesunden« christlichen Famili­ en untergebracht werden, was eine gewisse Lockerung gegenüber dem >Directorium< von Eymerich bedeutete. Wer nach einer Aussöhnung in die Ketzerei zurückfiel, machte sich nach dem Gesetz strafbar, obgleich auch dann noch der Weg zu einer neu-

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erlichen Versöhnung offenblieb, allerdings unter der Bedingung, daß man sich unmittelbar und ohne Zögern der öffentlichen Abschwörprozedur unterzog und bei der Suche nach Verdächti­ gen half. Was die Belastungszeugen angeht, da war Torquemada viel ent­ schiedener als Eymerich. Sie mußten absolut vertrauenswürdig sein und durften nicht als persönliche Feinde des Beschuldigten bekannt sein. Daß diese Vorschrift häufig mißachtet wurde, zeigt sich in der Chronik des Hernando del Pulgar. Die Folter konnte angewandt werden, wenn der Verdächtige beharrlich leugnete, die Inquisition durfte jedoch nicht - im Gegensatz zu dem, was bei weltlichen Gerichten üblich war - denselben Verdächtigen zum zweiten Mal der Folter unterwerfen. Die Namen der Zeugen mußten, um Racheakte zu vermeiden, geheim bleiben. Der Ange­ klagte konnte einen Anwalt wählen aus denen, die von der Inqui­ sition vorgeschlagen waren, was im Vergleich zu Eymerich eine Verbesserung war. Die Inquisitoren mußten mindestens vierzig Jahre alt sein, einen tadellosen Leumund besitzen, und sie konn­ ten nur im Beisein eines der Ihrigen oder eines Vikars des Bischofs der betreffenden Diözese eine Folter durchführen. Geflohene Ketzer wurden steckbrieflich verfolgt, verstorbene Ketzer konnten aus dem Grabe geholt und nachträglich ver­ brannt werden, damit die Friedhöfe durch die Überreste nicht geschändet würden. Außerdem fiel deren nachgelassener Besitz an die königliche Staatskasse, von der die Inquisition unterhalten wurde. Granden und Caballeros waren verpflichtet, bei der Auf­ spürung von Ketzern Hilfe zu leisten. Beamte der Inquisition, die sich bestechen ließen, wurden exkommuniziert. Aus den Vor­ schriften von 1484 geht hervor, daß der Prior von Santa Cruz selbst jeden Mißbrauch untersuchte, denn das Tun und Lassen der Inquisition fiel unter seine persönliche Verantwortung, und er fühlte sich dafür in erster Linie der Krone verpflichtet. Der Papst hatte das zweite Wort. Der war im übrigen mit dem Ergebnis nicht unzufrieden. Noch im gleichen Jahr verfertigte er eine Bul­ le, in der Juden und Mohammedaner ermahnt wurden, sich von 75

den Christen fernzuhalten, um deren leibliche Gesundheit nicht zu gefährden. Juden durften zum Beispiel nach 1484 nicht mehr als Ärzte wirken. Als Innozenz VIII. Sixtus IV. auf dem päpstlichen Thron nach­ folgte, stieg die Macht von Torquemada. Der Papst lobte den Pri­ or unentwegt, der mit seinen Instruktionen jede Willkür und allen Mißbrauch beseitigt habe. Und dieser Verdienste wegen bekam er von Rom das »letzte Wort« bei Appellationen. Allerdings dräng­ te der Papst auf zügigere Entlohnung der Inquisitoren und auf die Beschleunigung der Prozesse, was Torquemada in seinen neuen Instruktionen dann auch festlegte. Wenn kirchliche Würdenträ­ ger in Verdacht gerieten, hielt der Papst die Möglichkeit offen, daß sie auf diskrete Weise ihren Irrtümern abschworen. Innozenz VIII. verlieh Torquemada die unbegrenzte Macht, innerhalb Spa­ niens jeden Verdächtigen zu verfolgen, auch im unberechenbaren Katalonien, wo man die Inquisition als einen Eingriff in die regio­ nalen Privilegien ansah, als eine zu weit gehende Kompetenzü­ berschreitung Kastiliens. Trotzdem flohen weiterhin Ketzer nach Rom, aber der Papst konnte nicht mehr tun, als Milde zu emp­ fehlen. Handelte es sich jedoch um Bischöfe, dann gab sich Rom alle Mühe, die Spanische Inquisition zu hintertreiben. Umgekehrt verlangte Rom von der Spanischen Inquisition jede Mitwirkung, wenn es sich um italienische Ketzer handelte, die nach Spanien geflohen waren. Dieser Fall trat 1487 beinahe ein, als der florentinische Humanist Giovanni Pico della Mirandola den Plan faß­ te, sich nach dort abzusetzen. Der Papst ersuchte die Inquisition, diesen »Pseudopropheten« in Gewahrsam zu nehmen. Pico nahm jedoch seine Zuflucht in Frankreich, sollte später seine Auffas­ sungen widerrufen und als Heiliger unter den Fittichen von Savonarola sein Leben aushauchen. Aus dem Jahre 1488 stammen vierzehn Instruktionen, die Tor­ quemada in Valladolid zusammengestellt hatte. Daraus ist zu sehen, daß viele Prozesse sehr schleppend verliefen, was zu Kla­ gen führte, denen der Prior von Santa Cruz mit neuen Verord­ nungen Schranken setzen wollte. Er verlangte fortan von jedem 76

Prozeß eine Abschrift des Protokolls. Außerdem besprach er die Prozesse mit dem Rat der Heiligen Inquisition. Alle Schriftstücke wurden an einem zentralen Ort aufbewahrt, eine Maßregel, die der von der Krone verfolgten Politik der Machtkonzentration entsprach. Aus weiteren Maßregeln von 1488 ist zu entnehmen, daß die Gefangenen nicht völlig isoliert waren und einen locke­ ren Kontakt mit der Außenwelt unterhielten. Zudem sollte der Verzug bei den Zahlungen an die Inquisition ein Ende finden, und deshalb wurde die Krone gedrängt, ihre Steuerbeamten zu größe­ rer Eile anzutreiben. Gefangene auf Lebenszeit mußten ihre Zeit in Arbeitslagern absitzen, wo sie, um Kosten zu sparen, zu ihrem eigenen Lebensunterhalt beitrugen. Inquisitionsbeamte durften künftig keine Mittelsmänner mehr einschalten, was offensichtlich wohl vorgekommen war. 1488 berief der Papst drei Inquisitoren, die sich speziell mit den wirtschaftlichen Aspekten der Inquisition zu beschäftigen hat­ ten. Torquemada hatte alle Hände voll zu tun. Als aber im glei­ chen Jahr der Bischof von Mallorca zum Berufungsrichter ernannt wurde, begann die Macht des Priors zu sinken. 1489 machte der Papst einen noch vergeblichen Versuch, die Katholi­ schen Könige zu veranlassen, für Torquemada wegen seines Alters einen Nachfolger zu bestellen. Mit der Wahl des neuen Papstes, dem laschen Spanier Alexander VI., setzte die Wende ein. 1494 wurden dem alten Großinquisitor vier Assistenten aufgedrängt, die ihn bei seiner schweren Aufgabe unterstützen sollten. Doch sollte es noch vier weitere Jahre dauern, bis der bejahrte, an Gicht leidende Mönch ausrangiert war. Seine letzten Instruktio­ nen stammen aus dem Jahre 1498, seinem Todesjahr. Er hatte sich in das Kloster Santo Tomás vor den Mauern Avilas zurückgezo­ gen, das er mit Hilfe seiner königlichen Schirmherren erbaut hat­ te. Obwohl er sich weiterhin Prior von Santa Cruz in Segovia nannte, verließ er Avila nicht mehr. In seinem Kloster bestattete er den Kronprinzen Johann, der 1497 in der Blüte seiner Jugend gestorben war. Noch einmal wurde der ausgediente Inquisitor von seinen königlichen Schützlingen besucht. Die Juden, die er

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1492 vertrieben hatte, fürchtete er so sehr, daß er sich in Rom aus­ bedungen hatte, daß niemals Mönche von jüdischer Herkunft in sein Kloster eintreten durften, eine Vorschrift, die es ein halbes Jahrhundert später einem Bruder der Teresa von Avila unmöglich machte, Dominikaner in Santo Tomás zu werden. Wenn Torquemada sich außerhalb der Klostermauern aufhielt, wurde er gegen befürchtete Anschläge von »conversos« von zweihundert »fami­ liares« bewacht; in seinem Arbeitszimmer glaubte er durch einen Talisman gegen Vergiftungen geschützt zu sein. In seinen letzten Instruktionen schrieb er vor, jedes Inquisiti­ onstribunal müsse zwei Inquisitoren haben, einen Theologen und einen Juristen, womit er das wachsende Prestige des Jurastudiums vorhergesehen hat. Wer im 16. Jahrhundert eine interessante Stel­ lung ansteuerte, wurde besser Rechts- als Gottesgelehrter, wor­ aus hervorgeht, daß die Inquisition sich unter den Habsburger Königen von einer überwiegend religiösen zu einer stärker staats­ rechtlichen Institution entwickelt hat. In den letzten Instruktio­ nen betont Torquemada auch, daß der Inquisitor über jede An­ standsnorm erhaben sein müsse; er sollte keine Waffen tragen und sollte nicht für seine »familiares« aufkommen müssen, womit er jede Form von Nepotismus - ein verbreitetes Übel jener Zeit - zu unterbinden hoffte. Ketzer sollten nur dann festgenommen wer­ den, wenn es genügend Beweise gab; offensichtlich war das nicht immer der Fall. Gegen Verdächtige hatte man unverzüglich ein­ zuschreiten. Lebenslange Haft durfte nicht mit Geld ausgelöst werden. Versöhnler mußten gut beobachtet werden, denn die Simulation nehme kein Ende. Falsche Zeugen mußten härter angepackt werden. Die Inquisitoren der verschiedenen Tribunale werden ermahnt, öfter Rücksprache mit dem Großinquisitor zu halten. Die weiblichen und männlichen Gefangenen sollten stren­ ger getrennt gehalten werden. Beamte aus dem Laienstand sollten bei der Versöhnung von verdächtigen Geistlichen nicht anwesend sein; das gebiete der sichere Schutz des Gottesdienstes vor dem Staatsdienst. Torquemada starb 1498. Sein Nachfolger war Diego de Deza, 78

der im Jahre 1500 den Instruktionen seines Vorgängers neue Vorschriften hinzufügte. Unter ihm kam es, mit dem Aufstieg und der Verbreitung des Buchdrucks, zur ersten Zensur von Büchern.

9. KAPITEL

Spanien im 16. Jahrhundert Les juifs sans lesquels nous ne serions pas chrétiens ne seraient donc pas hommes sans nous! Que dira la postérité de ce lamentable mélange de vénération et de culte pour les pères, de mépris et de barbarie pour les enfants? Antoine de Rivarol, 1789

In Spanien war die Macht Roms durch die Katholischen Könige zurückgedrängt worden; unter den Nachfolgern verlor die Rolle der Päpste noch weiter an Bedeutung. Der Heilige Stuhl suchte sich im 16. Jahrhundert dadurch zu behaupten, daß er die beiden Großmächte Spanien und Frankreich gegeneinander ausspielte. Je mehr die Kirche an Glaubwürdigkeit einbüßte, desto mehr erhoffte man sich vom Staat. In Italien hatte Machiavelli nach dem starken Herrscher gerufen, der Dichter Ariost glaubte ihn in Kai­ ser Karl V. entdeckt zu haben, der als Hirte den »vereinigten Schafstall« des abendländischen Christentums vor den andrän­ genden Türken schützen sollte. Dieser Traum zerschlug sich mit dem Auftreten Martin Luthers 1517 und dem Sacco di Roma, der Plünderung der Ewigen Stadt durch die Söldner Karl V., zehn Jah­ re später. Die Humanisten flüchteten sich in die Philologie (Eras­ mus von Rotterdam), in die Hirtendichtung (Jacopo Sannazaro), in die Verfeinerung des Hoflebens (Baldassare Castiglione) und die Utopie (Thomas Morus, François Rabelais). Das alte Verlan­ gen nach einer unverdorbenen Menschheit, dem »Goldenen Zeit­ alter« Hesiods und dem hochgepriesenen Landleben von Vergil und Horaz, war verknüpft mit der Wirklichkeit einer neuen, viel­ leicht ganz unschuldigen Welt im Westen und der Rückschau auf die Tugendhaftigkeit der klassischen Zeit. Die Sehnsucht nach einer besseren Gesellschaft und die autonome Stellung des Men80

sehen in der Welt wurden in der Literatur zu Gemeinplätzen und verdrängten das mittelalterliche Bewußtsein der Vergänglichkeit, von »contemptus mundi« und »memento mori«. Das Los des Menschen und der Welt schien in erster Linie vom persönlichen Einsatz und von gemeinschaftlichen Projekten abzuhängen. In welchem Maße Spanien teilhatte an der Renaissance, das ist eine Frage, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Kultur­ historiker beschäftigt. Unverkennbar war seit Columbus der Bei­ trag Spaniens zur »räumlichen Ausbreitung«. Unleugbar war gleichfalls die Entwicklung der Wissenschaften an den spanischen Universitäten. Salamanca, die älteste Universität der Halbinsel, und die durch den Kardinal Cisneros gegründete Universität von Alcalá de Henares standen anderen Zentren der Gelehrsamkeit wie Paris, Oxford, Bologna und Löwen in nichts nach. Der Ein­ fluß des Erasmus in Spanien, verbreitet durch die Höflinge des in Flandern erzogenen Karl V., setzte eine Verinnerlichung des reli­ giösen Lebens in Gang, auch eine neue Empfindsamkeit in der Sprach- und Literaturwissenschaft und sogar einen gewissen Utopismus. Jedoch blieb Spanien überwiegend der »mittelalterli­ chen Nüchternheit« verhaftet. Antonio de Guevara, Hofprediger Karl V. und Vorläufer Montaignes, warnte in seinen Schriften vor zu hohen Erwartungen an den Staatsdienst, vor der Illusion, daß man Gott damit automatisch wohlgefalle. Zum ersten Mal seit der Begründung Spaniens im Jahre 1476 erging an die Höflinge der Ruf, das Zentrum der Macht rechtzeitig zu verlassen und sich in der vertrauten Nähe des eigenen Herdes, vielleicht mit erbauli­ cher oder anregender Lektüre auf den Knien, auf den Tod vorzu­ bereiten. Der Kaiser hörte auf diesen Ruf und zog sich 1555 in das Kloster von Yuste, in die abgelegene und rauhe Provinz Extre­ madura zurück.

Bis 1515, dem Jahr, als Karl aus Flandern nach Spanien kam, um als Enkel der Katholischen Könige sein königliches Amt zu über­ nehmen, befand sich das Land in einer Art von Machtvakuum. Nach dem Tod von Königin Isabella war König Ferdinand ver81

heiratet mit der französischen Prinzessin Germaine de Foix. Mit ihr sollte er den Sohn zeugen, der dann mit Einverständnis von Frankreich und auch Spanien Neapel regieren sollte. Ferdinand starb aber, ohne für diese Lösung gesorgt zu haben. Neapel blieb spanisch, und so erbte Karl den Krieg mit Frankreich. Zunächst hatte er allerdings in Spanien selbst Ordnung zu schaffen. Die flä­ mischen Höflinge, die mit seinem Vater, dem 1506 gestorbenen Philipp dem Schönen, nach Kastilien gekommen waren, wurden von den einheimischen Granden als bedrohlich empfunden, weil sie zuviel an Privilegien und an Geld für sich beanspruchten. Die­ se Unzufriedenen, die sich noch vermehrten, als Karl ein flämi­ sches Gefolge nach Spanien brachte, suchten dessen Mutter für ihre Interessen zu gewinnen, aber Johanna die Wahnsinnige, obgleich vor der Ankunft ihres Sohnes als Thronfolgerin verei­ digt, stand wegen ihrer Unzurechnungsfähigkeit als Folge des Verlustes ihres Mannes unter Vormundschaft, unter anderen des Kardinals Francisco Jiménez de Cisneros. Cisneros war Diego de Dezas Nachfolger als Großinquisitor von Spanien. Obgleich Erzbischof von Toledo und Primas von Spanien, war Cisneros kein Bürokrat wie Torquemada, sondern ein Mann der Tat. 1499 hatte er den Plan gefaßt, die Mauren von Granada zu bekehren. Der Chronist Alonso de Santa Cruz berichtet, daß es dabei hauptsächlich um Mauren ging, die sich hatten taufen lassen, die aber ihre »alten Gewohnheiten« nicht aufgeben wollten - eine »furchtbare Sünde«, laut Santa Cruz. Cisneros’ Kampagne hatte einen Aufstand zur Folge, dem die christliche Bevölkerung zum Opfer zu fallen drohte. Der Gou­ verneur der Katholischen Könige, der seit sieben Jahren in der Alhambra residierte, mußte rasch eingreifen, um zu verhindern, daß der Kardinal, der den Koran beleidigt hatte, gelyncht wurde. Nachdem es wieder ruhig geworden und eine Amnestie verkün­ det worden war, wurden fünfzigtausend Mauren getauft. Santa Cruz erwähnt allerdings nicht, daß Granada sich 1492 unter der Bedingung ergeben hatte, daß die Mohammedaner weiterhin nach ihrer eigenen Religion leben konnten. Daß dieses Abkom-

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men gebrochen wurde, geschah, nach dem Historiker Juan de Mariana, aus Angst vor einer türkischen Invasion und wegen der Gefahr, daß die »mudejares« (Mauren unter christlicher Regie­ rung) sich dann auf die Seite des Feindes schlagen könnten. Im Jahre 1500 wurden die Mauren vor die Wahl gestellt, sich entwe­ der taufen zu lassen oder auszuwandern. Um zu verhindern, daß solche Aktionen zu Repressalien an Christen führten, die im Nahen Osten lebten, schickten die Katholischen Könige einen Gesandten nach Kairo. Wie heikel diese Mission war, zeigt der Umstand, daß das Treffen des Gesandten - es handelte sich um Pietro Martire d’Anghiera, den Mailänder Humanisten und einen der ersten Chronisten der Neuen Welt - mit dem Sultan streng geheimgehalten werden mußte. In Kairo stieß Anghiera auf Juden, die 1492 aus Spanien hatten fliehen müssen. Ein Ereignis, das sich fünf Jahre später, unter Diego de Deza, zutrug, betraf unmittelbar die Inquisition. In Cordoba war eine große Gruppe von Ketzern aufgespürt worden, die sich »jüdische Riten« hatten zuschulden kommen lassen. Der lokale Inquisitor Lucero hatte daraufhin ins Werk gesetzt, was Santa Cruz eine »wüste Menschenverbrennung« nannte. Die Autoritäten warfen den »entarteten Inquisitor« ins Gefängnis, aber einige Jahre spä­ ter wurde er wieder auf freien Fuß gesetzt. Juan de Mariana stuf­ te dieses Ereignis als einen Fall von »Rebellion und Ungehorsam« ein, wofür die Autoritätskrise in der Übergangszeit von den Katholischen Königen zu Karl V. verantwortlich sei. Ebenso wurde ein Vorfall von 1506 in Lissabon beurteilt. Als der portugiesische König Manuel I. im Jahre 1497 Isabella, die älteste Tochter der Katholischen Könige, heiratete, versprach er, auch in seinem Lande das Heilige Officium einzuführen oder nach dem Chronisten Jerónimo de Zurita - auf jeden Fall »die Juden zu vertreiben«. Das war leichter versprochen, als getan, denn die Juden, die 1492 nach Portugal ausgewichen waren, waren trotz der Bestimmung, daß kein bares Geld ausgeführt werden durfte, nicht arm. Eine Einsetzung der Inquisition konn­ te sich hier nicht dem Verdacht entziehen, daß es um Geld gehe,

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und vielleicht schob König Manuel aus diesem Grund das Vorha­ ben auf. Inzwischen übte er auf die Juden starken Druck aus, sich taufen zu lassen. Aber der König hatte seine Rechnung ohne das »fromme Volk« gemacht. Die Pestepidemie von 1506 wurde von hitzköpfigen Patres als Strafe Gottes für die Duldung der Juden interpretiert. Was 1391 in Sevilla geschehen war, wiederholte sich nun in Lissabon. Der Bürgermeister, der das Blutbad unter den Juden verhindern wollte, wurde gesteinigt. Während der folgen­ den ungezügelten Verbrennungen sprachen Prediger den Bann­ fluch über die Häuser der »novos cristäos«. Der König griff zu harten Strafen: Er ließ die Anstifter zu dieser Plünderung in einen brennenden Feuerofen werfen, »in den sie jedoch nur zu gern hineinsprangen, damit sie von den Zuschauern als Märtyrer aus­ gerufen würden«, schreibt Santa Cruz. Der portugiesische Hof sah sich jedoch genötigt, die Juden zur Taufe zu zwingen. Anders als in Spanien hatten sie hier nicht die Möglichkeit auszuwandern. Man wollte ihr Geld nicht verlieren. Durch diesen Zwang war die Zahl an unglaubwürdigen Bekehrten oder Kryptojuden in Por­ tugal wesentlich höher als in Spanien. Es dauerte übrigens noch vierzig Jahre, bis die Inquisition in Portugal eingeführt wurde. In Spanien selbst herrschte Unsicherheit und Verwirrung über die Nachfolge, aber außerhalb des Landes heimste Ferdinand einen Erfolg nach dem anderen ein. Seit 1500 hatten die Spanier unter der Führung des Gran Capitán Gonzalo Fernández de Cordoba Neapel erobert und den Franzosen, die Ansprüche auf den italienischen Stiefel erhoben, aber die ländliche Bevölkerung gegen sich aufgebracht hatten, eine Niederlage nach der anderen zugefügt. 1510 wurde Ferdinand offiziell zum König von Neapel gekrönt, der Versuch jedoch, auch dort die Inquisition einzu­ führen, stieß auf soviel Widerstand, unter anderem von Seiten spa­ nischer Juden, daß Papst Julius II. den König dazu überredete, den Plan fallen zu lassen; erst unter Philipp II. wurde das Heilige Officium in Neapel eingesetzt. Um sich für den Glauben Ver­ dienste zu erwerben, entschloß Ferdinand sich zu einem Kreuz­ zug in Nordafrika mit dem Ziel, türkische Forts zu schleifen und 84

Piratennester der Barbaresken auszuheben. Zusammen mit Cisneros gelang es ihm dabei, Oran und Tripolis zu erobern. Fünf Jahre später wurde Navarra Spanien einverleibt. So war, im großen und ganzen, die Lage, als Karl V. (als Karl I.) König von Spanien wurde. In seinen italienischen Besitzungen, in Flandern und in der Neuen Welt war es relativ ruhig. Aber der Krieg mit Frankreich dauerte an, und über seinen Großvater von Vaters Seite mußte er sich zudem mit den deutschen Lutheranern auseinandersetzen. Den inländischen »Krieg« gegen die unzu­ friedenen kastilischen Adligen, die die Städte gegen den »frem­ den« König aufgewiegelt hatten, führte er 1520 erfolgreich zu Ende. Im Jahr darauf festigte er auch seine Macht in Navarra. In der Schlacht um Pamplona wurde Ignatius von Loyola schwer verwundet, ein Ereignis, das große Folgen haben sollte. Das Jahr 1517 erscheint in der umfangreichen >Historia general de España« (von Adam und Eva bis 1588) des Jesuiten Juan de Mariana als ein »Jahr der Katastrophen«. Denn auch die Thesen, die Martin Luther in Wittenberg anschlug, sollten große Folgen zeitigen. Mariana faßte die Ursache der Reformation ganz simpel folgendermaßen zusammen: Die Päpste Julius II. und Leo X. beschlossen, eine Kirche zu bauen, die alle vorausgehenden in den Schatten stellen sollte. Dazu brauchten sie viel Geld, und so ließ Rom in allen Ländern der Christenheit Kollekten abhalten. In Deutschland stieß die Sammlung durch den Erzbischof von Mainz und seinen Helfer, den verwerflichen Dominikaner Johan­ nes Tetzel, auf Widerstand. In Wittenberg rief der Augustinermönch Martin Luther das Volk auf, nichts zu spenden. Der Her­ zog von Sachsen nahm den Mönch in Schutz, und damit war die Rebellion gegen die Macht der römischen Kirche eine Tatsache. Der Aufstand führte zu einer Reihe von Konflikten, in die Karl V. hineingezogen wurde. Nachdem Karl die Franzosen aus Italien vertrieben und König Franz gefangengenommen hatte, befürchtete Papst Clemens VII. eine Störung des Gleichgewichts der beiden Großmächte. Der Papst wandte sich den Franzosen zu, worauf der empörte Karl die 85

Ewige Stadt besetzte. Die Plünderung Roms, der Sacco di Roma von 1527, brachte den spanischen König um die Sympathie der Humanisten. Aber die Türken standen vor Wien, und in den deutschen Territorien breitete sich das Luthertum aus. Der Papst schloß deshalb mit Karl Frieden und besiegelte diesen 1530 in Bologna mit dessen Krönung zum Kaiser. Im Jahr darauf ließ der englische König Heinrich VIII. seine Ehe mit der spanischen Tante von Karl auflösen. Rom verweigerte der Scheidung die Zustimmung, was zur Folge hatte, daß England sich von der Mut­ terkirche löste. Karl mußte überall zugleich sein. In Nordafrika setzte er den Keuzzug seines Großvaters fort, in Italien verhin­ derte er, daß die Franzosen Mailand an sich rissen, und in Deutschland trat er den Lutheranern entgegen. Die vereinte Christenheit, von der Ariost noch, wenn auch nur für kurze Zeit, geträumt hatte, gab es nicht mehr. Im Jahre 1540 fand in Rom die Gründung der Societas Jesu, des Jesuitenordens, statt, ein letzter Versuch, das »universale Chri­ stentum« zu retten. Ein paar Jahre später begann das Konzil von Trient, auf dem das Luthertum als Häresie verurteilt wurde. Und das bedeutete neue Arbeit für die Inquisition. Aber der Kaiser rückte den Ketzern lieber mit dem Schwert zu Leibe, um seine politische Macht in Deutschland wiederherzustellen. Die Kam­ pagne von 1548 wurde zu einem Fehlschlag, und als Karl 1555 sei­ nen Beruf an den Nagel hängte, um sich in Yuste auf den Tod vor­ zubereiten, war Europa stärker zerrissen als 1515 bei seinem Regierungsantritt. Sein Bruder Ferdinand sollte nun die deut­ schen Probleme lösen, sein Sohn Philipp II. künftig von Spanien aus das Weltreich regieren.

War Spanien unter dem Kaiser ein verhältnismäßig »offenes« Land gewesen - über die Inquisition gibt es aus dieser Zeit eigent­ lich nichts Besonderes zu berichten -, so sollte sich das Land unter seinem Sohn »abschließen«. Hatte Karl V. wie auch seine Großeltern, kaum ein Hofleben gekannt, so wurde Spanien unter Philipp II. eine »Bürokratie«. Obwohl der König, zurückgezo86

gen im Escorial, so wenig wie möglich aus der Hand gab und sich sehr genau um alle Einzelheiten der Regierung selbst kümmerte, bildeten sich in seiner Zeit die ersten »Ministerien«, fünf an der Zahl: das Staats- und das Finanzministerium, das Ministerium für Indien und die Ministerien vom Königlichen Rat und von der Inquisition. Unterhalb dieser Ministerien arbeitete eine ganze Hierarchie von Verwaltungsstellen. Der Adel - unter den Katho­ lischen Königen eine mobile und militante Schicht von »Krie­ gern«, die sich im »Kampf« auszeichneten - und der Klerus - ehe­ dem angeführt von Eisenfressern wie Torquemada und Cisne­ ros - verwandelten sich nun in »Kasten«. Die Positionen, klagte Pater Luis de León, der größte Geist der Ära Philipps II., waren nicht mehr abhängig von jemandes Verdiensten. Die Zahl der Universitäten wuchs, um den Bedürfnissen der sich bürokratisie­ renden Gesellschaft nachzukommen. Die Studentenschaft stieg an, aber der geistige Antrieb aus der Zeit der Katholischen Köni­ ge und der aufkeimende Humanismus aus der Zeit Karl V. ver­ sandeten unter Philipp II. in trockenen dogmatischen Debatten zwischen den Fakultäten, wo die Ehrgeizlinge einander mit Haarspaltereien den Rang streitig machten. Die Theologie, um die Jahrhundertwende noch das angesehenste Studienfach, mach­ te im Laufe der Zeit immer mehr dem Studium der Rechte und der Medizin Platz. Wissen wurde zur Macht, und es ist sicherlich kein Zufall, daß die Blüte der spanischen Mystik in eben diese Zeit fällt, was sich auch als eine Reaktion auf diese Veränderun­ gen erklärt. Am unteren Rand der Gesellschaft entstand eine Klasse von Verarmten und Vagabunden, wie sie bekannt sind aus dem ersten Schelmenroman »Lazarillo de Tormes< (1554). Unterdessen ent­ völkerte sich vor allem Kastilien durch die Auswanderung nach Amerika, wo man schnell reich zu werden hoffte. Das Geld aber, das von den Kolonien ins Mutterland floß, verschwand in den andauernden Kriegen und versickerte in unsichtbaren Kanälen über das sich fatal ausbreitende Netz von »Vermittlern«, vor allem Flamen und Genuesen, die den vertriebenen Juden auf den 87

Posten im Finanzwesen gefolgt waren, naturgemäß jedoch viel weniger loyal zur spanischen Monarchie standen als ihre jüdi­ schen Vorgänger. Die Bürokratisierung zeitigte zudem einen frischen Impuls an Reformbewegungen von Geistlichen, die zurück zu den asketi­ schen Ursprüngen ihrer Orden strebten. Vor dem Hintergrund des Rationalismus der späten Scholastik an den Universitäten bil­ dete sich eine Literatur der Einkehr und Selbstbesinnung, viel­ leicht beeinflußt vom Protestantismus. Die Inquisition verfolgte diese Entwicklung mit Argusaugen, als »Wachhund« des Triden­ tiner Konzils (1545-1563) und unterstützt von der neu gegrün­ deten Societas Jesu. Die Jesuiten waren die Vorkämpfer der Gegenreformation, sie hatten den Auftrag, von der Lehrautorität zu retten, was noch zu retten war. 1559 hat das Heilige Officium durch den Großinquisitor Fernando de Valdes erstmals einen Index erstellt, worin Bücher verzeichnet waren, die unter der Regierung von Karl V. noch niemand als gefährlich angesehen hatte, wie etwa die Werke des Erasmus von Rotterdam. Seit 1559 galt nicht nur der holländische Humanist als verderblich für die »gesunde Lehre«, sondern auch der bald darauf wieder gelobte >Guia de pecadores< (Wegweiser für Sünder) des Paters Luis de Granada oder die Schriften des später heiliggesprochenen Fran­ cisco de Borja. Bibeln in den Volkssprachen wurden verboten, man hatte sich an die traditionelle lateinische Vulgata des Hieronymus zu halten. Im gleichen Jahr 1559 begannen in Valla­ dolid und Sevilla die Prozesse gegen protestantische Ketzer. Der Historiker Mariana erwähnt diese Prozesse gar nicht, wahr­ scheinlich weil es hier um nur einige Dutzend Menschen ging, die obendrein die Sicherheit des Staates nicht gefährdeten. Anders war das mit dem Prozeß gegen den Erzbischof Carranza von Toledo; darüber später mehr. Das »geschlossene Spanien« Philipps II. wurde zum katholi­ schen Bollwerk schlechthin, zum Garanten der rechtgläubigen Lehre. Dank der Inquisition blieb Spanien frei von Lutheranern und Calvinisten, den Urhebern der Religionskriege, die England

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und auch Frankreich überzogen. 1557 errang Philipp II. einen (ausführlich im Escorial im Bild dargestellten) Sieg über die calvinistischen »Ketzer« bei der französisch-flandrischen Stadt Saint-Quentin, nachdem das durch die Protestanten geschwäch­ te Frankreich zum Frieden mit dem Paladin des Katholizismus gezwungen war. 1568 erhoben sich die Niederlande im Namen des Calvinismus gegen den »Tyrannen«, wie sie ihn nannten. 1571 schlug dieser Tyrann in der Seeschlacht bei Lepanto die Türken, den traditionellen Feind der Christenheit. Aber als der spanische König 1588 das ketzerische, vom Papst mit dem Bann belegte England wegen der Enthauptung der katholischen Maria Stuart strafen wollte, da ging seine unüberwindliche Armada jämmer­ lich zugrunde. Und das war der Anfang vom Untergang des Spa­ nischen Weltreiches. »Gott hat mit dieser Katastrophe viele und schwere Sünden unseres Volkes strafen wollen«, schließt Juan de Mariana daraus. Der Untergang zog sich noch ein Jahrhundert hin. Die Inquisition wurde unter Philipp zu einem eigenen Ministe­ rium. Die Inquisitoren, zur Zeit Torquemadas meistens Theolo­ gen, waren nun Juristen. Die Verfolgten, früher judaisierende Bekehrte, waren jetzt die Protestanten, die Quietisten oder Pseu­ domystiker (»iluminados«, »alumbrados«, die sogenannten »Erleuchteten«, oder die, die für ihr Gotteserlebnis kirchliche Dogmen und die Sakramente für überflüssig hielten) und, im minderen Maße, die »Morisken«, die getauften Muslime, und die »Kryptojuden«. Fortan befaßte sich die Inquisition auch mit dem Kampf gegen alle möglichen Arten von Hexerei, mit Gotteslästerern und mit sexuell Pervertierten. Die »Glaubens­ reinheit« wurde so unter Philipp II. zum unlösbaren Bestandteil der Staatssicherheit.

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Die spanischen Geschichtsschreiber

Alonso de Santa Cruz war Kartograph und Geschichtsschreiber Kaiser Karl V. Seine Chronik, um 1552 vollendet, sollte zu seinen Lebzeiten nicht erscheinen und erst vier Jahrhunderte später auf­ tauchen. Seine Quellen sind die Chronisten Heinrich IV. und der Katholischen Könige aus dem 15. Jahrhundert, vor allem Hernando del Pulgar. Wo der letzte seine Historie abschließt (1491), setzt Santa Cruz ein, mit dem Ziel, das Werk des Vorgän­ gers bis zum Tode König Ferdinands im Jahre 1516 fortzuführen. Mit großer Distanz und kühler Aufzählung der Tatsachen ver­ zeichnet Santa Cruz den Prozeß, der zur Einheit Spaniens führ­ te. Der Bedeutung der Neuen Welt, die sogar im vorigen Jahr­ hundert noch unterschätzt wurde, ist sich die Zeit von Santa Cruz völlig bewußt. Spanien ist ein Weltreich geworden, und Kaiser Karl V. überragt als der nun unbestrittene Führer der Christen­ heit alle europäischen Fürsten. Im Hinblick auf »1492« schreibt Santa Cruz, die Juden hätten ihre Ausweisung vor allem ihrer Proselytenmacherei zu verdan­ ken. Im gleichen Jahr sollen die »Gesetze über das reine Blut« in Kraft getreten sein. Darüber findet sich nichts in der Chronik des Andrés Bernáldez (1515), der gar keinen Grund hatte, so etwas zu verschweigen. Aber auch die übrigen Historiker des 16. Jahrhun­ derts erwähnen diese Maßnahme nicht, was die Frage aufwirft, ob bei Santa Cruz nicht der Wunsch der Vater des Gedanken gewesen ist, und wenn nicht, was dann genau die Art und die Gültigkeit dieser Gesetze waren. Handelte es sich um allgemeine Vorschriften, die die ganze Gesellschaft von oben bis unten »reinigen« sollten, oder um Ad-hoc-Bestimmungen, die nur für Schlüsselpositionen und einige Berufsgruppen galten? Santa Cruz gibt keine Erklärung. Es steht fest, daß solche Reinheits­ vorschriften für Rom nicht akzeptabel waren, abgesehen davon, daß sie schwierig anzuwenden gewesen wären in einem Lande, in dem sich Menschen verschiedenster Herkunft seit Jahrhun­ derten mischten. Außerdem: Wie stand es dann mit Westindien, 90

mit all den Spaniern, die sich mit Indianerinnen verbunden hat­ ten? Was unter der Proselytenmacherei der Juden zu verstehen ist, erklärt Santa Cruz ebensowenig, aber wahrscheinlich sind darun­ ter die Versuche der Synagogen zu verstehen, »jüdische« Christen zurückzugewinnen; das waren ja auch die wesentlichen Grün­ de für Torquemada, die Ausweisung durchzuführen. Viel Ver­ ständnis für die Juden brachte Santa Cruz nicht auf. Er »beschul­ digte« sie zum Beispiel auch, lukrativen Berufen nachzugehen, wie etwa dem des Steuereintreibers, ohne dabei zu berücksichti­ gen, daß die Juden nun einmal traditionell zu bestimmten Beru­ fen gezwungen waren; und der des Steuereintreibers war per definitonem schon eine Tätigkeit, die nur Haß erzeugte. Jerónimo de Zurita konnte seine »Anales de la corona de Aragón< (1562-1579) nicht nur veröffentlichen, sie wurden auch immer wieder nachgedruckt; man war sichtlich angetan von seinem Bild der spanischen Geschichte, diesmal aus der Sicht des ehemaligen Königreiches Aragón. Durch Aragón wurde Kastilien in den Krieg mit Frankreich einbezogen und gewann Einfluß in Italien. Die Vereinigung führte zur Eroberung von Granada und später zur Einverleibung von Navarra. Santa Cruz lobt die kluge Art und Weise, in der die Katholischen Könige dem Papst geistliche Macht ablisteten im Tausch gegen politische Unterstützung und zeigt, wie der Staat nach und nach über die Kirche triumphierte. Aus den sechs umfänglichen Teilen, aus denen die Annalen beste­ hen, wollen wir uns auf drei Geschehnisse beschränken: die Ein­ führung der Inquisition, den Fall Arbües und die Vertreibung der Juden. Vor dem Hintergrund des Konzils von Trient und der Gegen­ reformation zieht Zurita den auf der Hand liegenden Vergleich, daß die Lutheranhänger seiner Zeit das sind, was die meisten »conversos« von damals waren: nämlich Ketzer. Die Reinheit des Glaubens ist für den Staat von vitalem Interesse, und dank der Inquisition ist Spanien bewahrt worden vor der »protestanti­

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sehen Pest«, von der das nördliche Europa heimgesucht wird, wo es leider keine Inquisition gibt, um die Reinheit des Glaubens zu bewahren. In Spanien dagegen ist das »wohltätige« Institut schon fast ein Jahrhundert tätig dank der heiligen Begeisterung Torquemadas, dessen Vorgehen auf eine Stufe gestellt wird mit dem sei­ ner bereits heiliggesprochenen Vorgänger Dominikus und Vicen­ te Ferrer. Er beschreibt Torquemada als einen Mann »von reiner und edler Abstammung« (»limpio y de noble linaje«). Das Wort »limpio« bedeutet zweifellos »frei von jüdischem Blut«, was im Gegensatz zu dem steht, was Hernando del Pulgar behauptete. Zurita nennt die Inquisition ein »santo oficio« und ein »santo negocio«, eine »heilige Angelegenheit«, aber diese Angelegenheit stand ihm zufolge völlig und stets im Dienste der Vereinigungs­ politik von Isabella und Ferdinand. Diese heilige Institution war, nach Zurita, nicht eine Gründung, die sich gegen die Juden rich­ tete, sondern gegen »jüdische und maurische Christen«, die nicht nach dem Glauben lebten, den sie mit der Taufe erworben hatten. Zwischen 1483 und 1520 wurden nach ihm allein in Sevilla vier­ tausend Ketzer verbrannt, während dreißigtausend sich aussöh­ nen ließen. Das Geld aus den Konfiskationen kam, wie der Chro­ nist anmerkt, frommen Werken zugute; daß reiche Juden Geld spendeten für die Eroberung des Königreichs Granada, davon sagt Zurita nichts. Ausführlich geht Zurita auf den Widerstand gegen die Ein­ führung der Inquisition in Aragon ein. Der kam sowohl von den kirchlichen Inquisitoren (den Nachfolgern Eymerichs), als auch von wohlhabenden »conversos«. Beide Gruppen beriefen sich auf die Sonderrechte Aragöns und erblickten im Auftreten Torquemadas eine zu weit gehende Bevormundung durch die zentrale Macht. Daß die Ausweitung der Staats-Inquisition über das gesamte Königreich der Politik von Ferdinand und Isabella ent­ sprach, wurde oben bereits gezeigt. Hier soll aber noch ange­ merkt werden, daß Zurita von aragonesischer Warte aus diese Politik voll und ganz unterstützte. Opfer oder besser Märtyrer dieser Politik wurde Pedro de Arbües, einer der neuen Inquisito­ 92

ren, die 1484 von Torquemada nach Saragossa geschickt worden waren. In der Nacht des 13. September 1485 wurde er in der Kathedrale der Stadt von Meuchelmördern erstochen. Die Täter erreichten damit, wie schon gesagt, das Gegenteil dessen, was sie wollten. Kaiser Karl drängte Papst Paul III. zur Heiligsprechung Arbúes’, was aber erst hundert Jahre später geschah. Im Scheitern der Inquisition bei der Trennung von Juden und Christen sieht Zurita die Ursache der Vertreibung von 1492. Dadurch seien die »conversos« mit ihren alten Glaubensbrüdern in Verbindung geblieben. Durch die Ausweisung der Juden habe man gehofft, die Bekehrten würden dann von selbst zu guten Christen werden. Diese Maßnahme bedeutete aber auch einen finanziellen Aderlaß, wie Zurita hervorhebt, und damit war nicht jeder einverstanden. Dann gab es andere, die einwandten, die Juden außerhalb Spaniens würden durch die fehlende Kontrolle in ihrer Abtrünnigkeit verharren. Zurita sagt leider nicht, von wem diese Einwände kamen. Ebensowenig erklärt er, wie die Juden Geld außer Landes bringen konnten. Aber er macht klar, daß durch den Exodus die hohen Abgaben ausfielen, welche die wohlhabenden Juden der Krone zu entrichten pflegten. Zwischen 170000 und 400000 Juden verließen laut Zurita das Land: Fez, Rom, Griechenland, Konstantinopel, Neapel, Venedig, Frank­ reich und Portugal waren die hauptsächlichen Ziele. In Portugal fanden die reichsten eine vorübergehende Zuflucht, bis auch dort die Inquisition eingeführt wurde. In seinen Darlegungen spricht Zurita stets von der Reinheit des Glaubens, nicht von der Rasse­ reinheit. Juan de Mariana war Jesuit, hatte in Rom und Paris studiert. Seine >Historia general de EspañaHistoria del orden de Santo Domingo«, daß bis­ lang keine Biographie von Tomás de Torquemada geschrieben wurde. Er wiederholt, daß Tomás, der Neffe des Kardinals Juan de Torquemada, von jüdischer Herkunft sei. Aus wenigen Ge­ schichten und Anekdoten, die Juan de la Cruz ihm aufgrund der »vox populi« und »communis opinio« zuschreibt, geht hervor, wie stark Torquemada das Gewissen der Katholischen Könige beeinflußt hat, was jedoch nicht in den Chroniken des 15. Jahr­ hunderts, die in ihm vor allem ein Werkzeug der Vereinigungs96

politik sahen, zum Vorschein kam. De la Cruz weiß ferner zu berichten, daß Torquemada nicht davor zurückschreckte, mäch­ tige »conversos« zu attackieren, wie etwa Bischöfe, die dann beim Papst oder beim König von Neapel Hilfe suchten, und dadurch geriet die Inquisition in Kollision mit Autoritäten, die ihre Macht schließlich zu beschränken wußten. Torquemada sorgte dafür, so de la Cruz, daß Spanien lieber arm und rein, als mit den Juden reich war. Portugal, Neapel und Rom, wo man sich von jüdi­ schem Geld erweichen ließ, sollten sich deshalb an Spanien ein Beispiel nehmen. Auch Hernando del Castillo ist in seiner >Historia general de Santo Domingo y de su orden de predicadores< (1585), die Philipp II. gewidmet ist, voll des Lobes für den ersten spanischen Inquisitor. Als Vorläufer Torquemadas nennt er die Propheten Moses, Elias und Jeremias und Johannes den Täufer, die das Prin­ zip der Inquisition begründet haben sollen. Für die neuere Zeit verweist er auf Dominikus, der seinen Orden für den Kampf gegen die Katharer gründete, und auf Pietro di Verona und den hl. Petrus Martyr, die 1252 von den Manichäern in Mailand ermor­ det wurden. Nach Hernando del Castillo war Torquemada nicht der Neffe des Kardinals, also auch nicht jüdischer Abkunft. Zwi­ schen 1481 und 1492 soll er zweitausend judaisierende Christen verbrannt und siebzehntausend zur Aussöhnung geführt haben. Die Zahl der Juden, die Spanien verließen, betrug nach ihm 124 000. Torquemada war fromm, tapfer, streng, arm und genüg­ sam, ein hartes Richtmaß für das Gewissen des Königspaars. Er war unbestechlich und verfolgte Ketzer ohne Ansehen der Per­ son. Er verhinderte es, daß 1492 reiche Juden ihr Bleiben mit Geld erkaufen konnten. Obwohl der Papst ihn einige Male nach Rom vorlud, hat er das stets ignoriert; statt selbst dort zu erscheinen, schickte er seinen Sekretär Alonso de Badaja. Um sich gegen Attentate zu schützen, pflegte der Inquisitor sich auf Reisen mit zweihundert »familiäres« und fünfzig Reitern zu umgeben; an seinem Arbeitstisch mußten ihn ein Stück Horn und eine Skor­ pionzunge vor Vergiftungen bewahren. Am Ende seines Lebens 97

litt er an Gicht. Er starb am 16. September 1498 im Kloster von Santo Tomás vor den Mauern Avilas, das er selbst hatte bauen las­ sen, mit Hilfe unter anderem des königlichen Schatzmeisters. In diesem Kloster wurde die »Hostie von La Guardia« aufbewahrt, auf die wir später noch zu sprechen kommen. Der Bischof von Monópoli, der die Geschichte des Hernando del Castillo zu Ende führte, behauptete, daß Torquemada »von reiner Herkunft« war, aber auch die Familie des Kardinals Juan de Torquemada, die Hernando del Pulgar zufolge von Juden abstammte. 1579 wurde das Grab Torquemadas im Kloster zu Avila geöffnet: Ein Duft von Rosen soll dabei der Gruft entströmt sein, worauf die Mön­ che eine ehrfürchtige Prozession abhielten. Letzteres wird bestätigt durch Esteban de Garibay y Zamoalla, der in seinen >Memorias< (1586) über einen Besuch im Kloster zu Avila am 23. November 1582 berichtet. Der Leichnam des Großinquisitors mußte dem eines Bischofs von Salamanca wei­ chen, und während der Umbettung war dabei ein »übernatürli­ cher Geruch« aufgestiegen, der die Umstehenden gerührt habe. Garibay y Zamoalla, der drei Jahre später davon hörte, fühlte sich verpflichtet, den Großinquisitor Quiroga davon in Kenntnis zu setzen, damit der »heilige« Torquemada an seine ursprüngliche Ruhestätte zurückgebracht werde, was dann 1586 auch geschah. »Ich bin in aller Frömmigkeit davon überzeugt, daß diese Dinge dort oben ihren Ursprung haben, als glorreiches Zeugnis des hei­ ligen und apostolischen ersten Großinquisitors.« Daß Philipp II. für den ersten Großinquisitor eine tiefe Bewunderung hegte, steht außer Zweifel. Versuche, ihn heiligsprechen zu lassen - wie Karl V. Pedro von Arbües -, hat er indes nicht unternommen. Rom stand Torquemada wohl eher kritisch gegenüber, schließlich hatte er dem Heiligen Stuhl viel Macht zugunsten der spanischen Monarchie entwunden. Der Papst war zwar auf Philipp angewie­ sen in seinem Kampf gegen Türken und Protestanten, aber er war auch besorgt wegen einer noch weitergehenden Unterstellung von Glaubensfragen an Spanien. Torquemada verkörperte für Rom eine Vergangenheit, an die man sich nur ungern erinnerte. 98

Diego de Simancas

Diego de Simancas, der sich in einer Autobiographie selbst recht­ fertigte, entstammte einer Adelsfamilie in Córdoba, »sin mixtura de judíos, moros ni herejes«, unbefleckt von jüdischem, mauri­ schem oder ketzerischem Blut. 1545 wurde er Ratgeber der Inquisition; er veröffentlichte ein Werk auf Latein über katholi­ sche Inquisition und die Ausrottung der Ketzerei. Im Jahre 1558 wurde in Valladolid eine Gruppe von Luthera­ nern ins Gefängnis geworfen, unter ihnen Carlos de Sesso und Pedro de Cazalla, die das Fegefeuer leugneten. Zur gleichen Zeit wurde in Murcia eine Synagoge entdeckt. 1559, als der Großin­ quisitor Fernando de Valdés den Index der verbotenen Bücher einführte, wurde der Erzbischof von Toledo, Bartolomé Carran­ za de Miranda, in Haft genommen. Domingo de Rojas, sein Gehilfe, starb auf dem Scheiterhaufen; er war der Sohn des Gra­ fen yon Poza (dessen Name ein paar Jahrhunderte später in Schil­ lers >Don Carlos< wieder auftauchtj. Dem Erzbischof wurde zugestanden, in Rom bei Pius V., dem Papst des Trienter Reform­ konzils, Berufung einzulegen, der politisch zwischen Frankreich und Spanien stand. 1566 wurde Simancas vom neuen Großinqui­ sitor Espinosa nach Rom geschickt, um den offensichtlich ver­ gessenen Prozeß gegen den Erzbischof von neuem zu eröffnen; unterstützt wurde er darin von dem Theologen Melchior Cano, der in dem Katechismus, den der Erzbischof veröffentlicht hatte, unter anderem auf die häretische Behauptung gestoßen war, »daß Christus alle unsere Sünden ein für allemal verbüßt hat, so daß die Gläubigen aus ihrem Herzen keine Mördergrube zu machen brauchen«. In Rom entdeckte Simancas, daß der Prozeß absichtlich ver­ schleppt wurde und daß der Erzbischof Helfer hatte, unter ihnen »conversos«, die vom Inquisitor als Marranen abgetan wurden. Ihm ist es ein Dorn im Auge, daß man in Rom keinen Unterschied machte zwischen alten und neuen Christen. Indem er sich auf Spaniens »Reinheit des Blutes« beruft, schreibt Simancas eine 99

Broschüre, die 1575 in Antwerpen veröffentlicht und von dem spanischen Jesuiten Luis de Molina hoch gepriesen wurde, der zu dieser Zeit den »freien Willen« betonte gegenüber dem domini­ kanischen Standpunkt der »Abhängigkeit von der göttlichen Gnade«, was dem verurteilten Lutherschen Standpunkt von der unfreiwilligen Auserwählung gefährlich nahekam. 1572 starb Pius V. Eben schien es noch so, als sollte Diego de Simancas zum Kardinal erhoben oder zum Vizekönig von Nea­ pel ernannt werden. Aber die Zeiten änderten sich. In Spanien trat ein neuer Großinquisitor ins Rampenlicht, Quiroga, und der war Simancas weniger gewogen als Espinosa. Erzbischof Carranza de Miranda wurde freigesprochen und konnte das Gefängnis von Castel Sant’Angelo verlassen. Zur gleichen Zeit veröffentlichte ein gewisser Lobo ein Pamphlet gegen die »limpieza de sangre« (Reinheit des Blutes). König Philipp II. kehrte Simancas den Rücken zu. Ganz Rom bejubelte den freigelassenen Erzbischof von Toledo. Simancas nahm Rache in seiner Autobiographie: Er schrieb dort, der Erzbischof sei gestorben an der Zurückhaltung seines Urins während eines Zuges durch die Kirchen von Rom; dem späteren Kommentator Navarro zufolge hat Simancas den Erzbischof zu Tode gequält, indem er ihm keine Möglichkeit zum Harnlassen gab. Die Inquisition vermochte es aber nicht zu ver­ hindern, daß der Erzbischof in der Kirche Santa Maria sopra Minerva ehrenvoll begraben wurde, wo auch die Überreste des Kardinals Juan de Torquemada lagen. Sieben Jahre später kehrte Diego de Simanca nach Spanien zurück. Seine alten Tage verbrachte er in der Einsamkeit seines Bistums Badajoz, von Gicht geplagt, sich tröstend mit dem Rat des Hieronymus, daß, wer Tag für Tag über den Tod nachdenke, lerne, das Leben belanglos zu finden. Philipp II. tröstete ihn mit dem Bistum Zamorra, schickte aber 1578 einen Mauren zu ihm mit dem Auftrag, herauszufinden, wie christlich denn dieser »von Bluts wegen Unreine« sei. Der Auftrag war nicht frei von Ironie. Kurz vor seinem Tode erfuhr Simancas, daß der Mann, den er ver­ folgt hatte, postum von jedem Makel befreit worden war. Menen100

dez y Pelayo, der die Autobiographie des Diego de Simancas im 19. Jahrhundert herausgab, warf ihm vor, er habe Tatsachen ent­ stellt und sei persönlich rachsüchtig gewesen.

Samuel Usque

Samuel Usque wurde zu Ende des 15. Jahrhunderts in Portugal geboren. Seine jüdischen Eltern hatten Spanien 1492 verlassen müssen. 1530 verließ er Portugal, fünfzehn Jahre bevor auch dort die Inquisition eingeführt wurde. In Neapel lernte er die Kinder Isaac Abravanels kennen, unter ihnen Leone Ebreo, den Autor der >Dialoghi d’amore«. Nach einem Besuch Safeds im Heiligen Land zog er via Prag in die italienische Stadt Ferrara, wo ein tole­ rantes Klima herrschte. Hier veröffentlichte er unter den Auspi­ zien der jüdischen Mäzenatin Doña Grazia Nasi 1553 ein Werk mit dem Titel »Consola^am as tribula^oens de Israel«, vielleicht das erste jüdische Geschichtswerk der Diaspora seit Flavius Josephus. 1581 erlebte das Buch in Holland eine zweite Auflage. Die >Consola?am< oder Tröstung behandelt die Geschichte der Juden vom Ersten Tempel über den Zweiten Tempel bis in Usques Gegenwart. Das Buch hat die Form eines Gesprächs zwischen drei Hirten und trägt weit mehr den Charakter einer Prophetie und Ermahnung als den einer chronologischen Tatsachenge­ schichte. Die Zerstreuung der Juden wird hier dar gestellt als Stra­ fe Gottes für ihre Treulosigkeit, für ihre »Bekehrungen« aus Unsicherheit, Angst oder Opportunismus. So wie Gott in alten Zeiten Assyrien und Babylonien als Peitsche benutzte, um die störrischen Auserwählten zur Besserung zu treiben, so benutze er in neuerer Zeit fanatische Mönche, die das Volk gegen die reichen Juden aufhetzten oder gegen Juden, die sich an Hostien oder Christenkindern vergriffen haben. Usque beklagt, daß so viele Unschuldige zu Schlachtopfern würden für das, was nur wenige verbrochen haben. Aber - so tröstet Usque das Volk Israel - der­ einst würden die Henker, unter ihnen Vicente Ferrer, ihrerseits

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von Gott gestraft werden. Die Inquisition, diese Geißel Gottes, wird in der >Tröstung< beschrieben als ein »aus Rom stammendes apokalyptisches Monster«, als ein feuerspeiender Drache. Einst wird dieser Drache von Gott vernichtet werden, und dann wer­ den für die Auserwählten bessere Zeiten anbrechen. Spätere jüdische Historiker (Graetz, Baer, Loeb) haben die Quellen, die Usque benutzte, auszumachen gesucht. Sie nannten die Bibel, Flavius Josephus, Lukan, Plutarch, Augustinus, Neuplatoniker wie Abravanel (von Usque gleichgesetzt mit Hermes Trismegistos) und Leone Ebreo. Aber auch Alonso de Espina!

Die politischen Feinde Spaniens Die Niederlande, nördlichster Teil des spanischen Reiches, hatte Kaiser Karl V. seinem Sohn Philipp II. übertragen. Dem Vater, der aus diesem Lande kam, fühlten sich die Niederländer noch ver­ pflichtet; vom Sohn, in dem sie einen Fremden sahen, fühlten sie sich mißverstanden und unterdrückt. Sie meinten, ihr Wohlstand werde zu arg belastest, und als der König, als Folge des Zulaufs der Calvinisten, mit der Inquisition zu drohen begann, empfan­ den sie das als einen Anschlag »auf die Freiheit des Gewissens«. Sie verfaßten eine Bittschrift, mit der sie über die Landvögte beim spanischen König auf mehr Verständnis drangen, und als das nichts fruchtete, lehnten sie sich auf. Philipp schickte den Herzog von Alba nach Norden, und in Brüssel rollten die ersten Köpfe. Die Anführer der Rebellion konnten rechtzeitig nach Deutsch­ land fliehen, unter ihnen Marnix van Sint Aldegonde und Wil­ helm von Oranien. Ersterem wird ein Pamphlet zugeschrieben mit dem Titel >De Bijenkorf der H. Roomsche Kercke< (1569; deutsch: >Bienenkorb des heil. Röm. Immenschwarms«, 1579, von J. Fischart). Darin werden im Anschluß an Calvins >Christianae religionis institutio« (1559) eintausendfünfhundert Jahre Chri­ stentum bis zu Luther dargestellt als ein »Hexenkessel von Kir­ chenvätern, Talmud, Koran, Kabbala und Aristoteles«. In dem

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»dunklen Loch« vor dem Jahre 1517 sorgten allein die Albigen­ ser, die Waldenser und die Anhänger von Wycliff und Hus für etwas Licht. Aber als das Licht mit Luther endlich durchbrach, schlug der Satan mit der Inquisition zurück, und das Konzil von Trient mit dem Irrsinn des freien Willens und der Sakramente, darunter die heidnische Eucharistie, verbreitet von gefräßigen und lüsternen Mönchen, die mit abtreibenden Nonnen Fusel sof­ fen. Und das alles unter der Führung Philipps II., der so unter der Fuchtel der Inquisition stand, daß er seinen eigenen Sohn Don Carlos, der dem Durchbruch des Lichtes in den Niederlanden mit warmem Herzen zustimmte, dem Moloch opferte. Zur gleichen Zeit ließ Wilhelm von Oranien in einer >Warnung< seine Soldaten wissen, daß der König von Spanien ein Tyrann sei, und rief dessen Untertanen auf, das Joch abzuschütteln. Philipp tat den künftigen Vater der Niederlande in Acht und Bann, woge­ gen sich Wilhelm von Oranien mit der Schrift »Apologie« (1581) verwahrte. Daß er ein Rebell, ein Ketzer, ein Heuchler, ein Fremdling und ein Verräter sei, stritt er darin ab. Philipp II. dage­ gen habe sich des Ehebruchs schuldig gemacht, habe seine erste und seine dritte Frau umbringen lassen, seinen Sohn ins Gefäng­ nis geworfen und Bastarde in die Welt gesetzt, und das alles mit der Zustimmung des Papstes in Rom, der sich aufführe wie Gott auf Erden. Ferner wirft er den Spaniern die Ausbeutung der Nie­ derlande, ein blutrünstiges Regiment in Westindien und die Unmenschlichkeit ihrer Inquisition vor. Außerdem seien die Spa­ nier nicht nur Giftmischer, sondern auch unreine Christen, durchsetzt mit maurischem und jüdischem Blut. Und aus all die­ sen Gründen sei ihm, Wilhelm, kein anderer Ausweg geblieben, als mit Rom zu brechen und sich dem Calvinismus anzu­ schließen. Drei Jahre darauf wurde er von einem Meuchelmörder Philipps erschossen. Inwieweit das alles zur Schwarzen Legende beigetragen hat, ist im ersten Kapitel dieses Buches hinreichend ausgeführt worden.

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Das neue Denken Viel wichtiger als diese düstere Kriegspropaganda waren die Betrachtungen einiger Philosophen, die sich gegen Ende des 16. Jahrhunderts der neuen Wirklichkeit zuwandten. Der Prote­ stantismus war nicht mehr rückgängig zu machen, und daraus ergab sich, daß der Staat entweder die eine oder die andere Form von Protestantismus zur offiziellen Religion erheben oder ver­ schiedene Konfessionen und Sekten in seinem Gebiet nebenein­ ander dulden mußte. In Holland, wo letzteres geschah, konnte man sich fragen, was denn die verschiedenen Gruppen voneinan­ der halten sollten und wie die Identität des Staates beschaffen sein sollte. Dieses Problems war sich Dirk Volkertszoon Coornhert vielleicht am meisten bewußt. Um zu verhindern, daß das neue Land durch Sekten, die sich bekämpften, zerrissen wurde, plä­ dierte er für ein allgemeines ethisches Bewußtsein auf der Grund­ lage einer »eklektischen Theologie«, ergänzt durch die klassi­ schen Tugenden. Eine Inquisition, betonte er, kann den Glauben nicht retten, denn Glaube läßt sich nicht erzwingen. Er war aber realistisch genug, um zu sehen, daß die von ihm geforderte Phi­ losophie nur einer Minderheit vorbehalten war, und daß dem Staat keine andere Lösung blieb als ein starker Mann an seiner Spitze. In Holland konnte sich ein autoritäres Regime wohl nicht halten; die unvermeidliche Folge waren Religionsstreitigkeiten. Das Denken des Flamen Justus Lipsius kam bei den Holländern noch schlechter an als das von Coornhert. Weniger eklektisch, eher einem toleranten Katholizismus zugewandt, äußerte Lipsius einen viel radikaleren Zweifel am Staat. Warum sollte Gott, argu­ mentierte er, sich um das eine Stückchen Christentum mehr küm­ mern als um das andere? Warum sollte er eher auf der Seite Hollands als auf der Spaniens stehen, oder umgekehrt? Durch den Nachweis, daß die Menschen ihre Katastrophen sich selbst zuzuschreiben haben und daß die Welt schon immer voller Krie­ ge war, entzog er dem Streit in den Niederlanden die »heilige« Grundlage. Durch den Hinweis, daß der Mensch die eigene 104

Gemütsruhe zu suchen habe, indem er sich vom nationalen Pathos und der kollektiven Selbstrechtfertigung abwendet, sprach er eine ebenso kleine Minderheit an wie Coornhert und brachte besonders die Calvinisten gegen sich auf. Frankreich blieb Rom offiziell treu, die calvinistischen Huge­ notten erlangten jedoch einen so starken Einfluß, daß es zu Reli­ gionskriegen kommen mußte. Philipp unterstützte natürlich die Katholiken, während Holland und England den Protestanten halfen. Michel de Montaigne war sich, so wie Coornhert und Lipsius, der neuen Wirklichkeit bewußt, und auch er wies den Weg des Ausgleichs, der Ruhe des Gemüts, des Studiums der Klassi­ ker und der Selbstkritik. Stark beeinflußt von Antonio Guevara, zog er sich aus dem Staatsdienst zurück. Obgleich er auf Seiten Roms blieb, lehnte er die Inquisition ab. Folterung, schrieb er, mache aus niemandem einen Gläubigen und erprobe nur jeman­ des Leidensfähigkeit. Wer schwach sei, komme schnell durch, aber niemand garantiere dafür, daß Bekenntnisse irgend jeman­ den der Wahrheit näherbrächten. Meistens bekomme der Inqui­ sitor nur das zu hören, was er hören will, in erster Linie eine Bestätigung der formulierten Anklage, und damit sei weder Gott noch dem Glauben gedient. Was die Geschichtsschreibung be­ trifft, so mißbilligt Montaigne die Gewohnheit, Gott in die Geschehnisse miteinzubeziehen. Wer zum Beispiel aus dem glücklichen Verlauf der Schlacht von Lepanto gegen die Türken (1571) den Schluß zöge, Gott sei auf der Seite der Christen gewe­ sen, gehe das Risiko ein, bei einer Niederlage seinen Glauben zu verlieren. Nur das »letztendliche« Ergebnis zähle, wiederholt Montaigne mit Hiob. Uber die »Zwischenzeit« könne man nichts mit gottähnlicher Sicherheit sagen. Vielleicht war Montaigne kein Gläubiger im wahren Sinn des Wortes, der einen schlechten Verlauf als die gerechte Strafe Gott­ es für die eigenen Sünden erklärt. So sahen es die Juden im Alten Testament, so sah Samuel Usque es, und so sahen es auch viele Historiographen des Mittelalters. Was Montaigne angreift, ist der Mißbrauch Gottes für die rein weltliche Machtpolitik. Und 105

die Inquisition ist ab jetzt von dieser Politik nicht mehr zu tren­ nen. England hatte sich unter Heinrich VIII. von Rom losgesagt, aber damit waren die Katholiken noch nicht besiegt. Mit ihrem Beifall rechnend, versuchte Philipp II. die in seinen Augen ketze­ rische Insel für die Wahrheit zurückzugewinnen, aber Gottes Ratschluß war anders, und die Armada wurde von den Elemen­ ten verschlungen. Nach 1588 mußten die Katholiken die Hoff­ nung vorläufig begraben. Aber auch diejenigen Protestanten, deren religiöse Auffassung sich von der des Königshauses unter­ schied, hatten einen schweren Stand. In England konnte man glauben, was man wollte, solange man dem Staat gehorchte. Die eindeutigste Demonstration dieser Neuerung ist die Philosophie von Francis Bacon. Wo Montaigne in den >Essais< seine Skepsis über die Aufsicht des Staates bekundet, bezeugt Bacon seinen Glauben an den Staat. Hielten sich Mariana und selbst Machiavelli noch an das Gewissen, so ist das für Bacon keine Belastung mehr. Handel, Geld, materielle Wohlfahrt sollen die Ziele sein für das eigene Stückchen Erde oder den Staat, Kolonien sind nur Herrschaftsgebiete im Dienste des Mutterlandes. Ein Volk ent­ wickelt sich nur auf Kosten anderer Völker, was eine Rechtferti­ gung von Piraterie und Kaperei beinhaltet. Vom spekulativen Denken der Zeitgenossen wie Coornhert, Lipsius und Montaig­ ne hält Bacon nichts, ihm geht es um die praktischen Wissen­ schaften, mit Resultaten, die der Menschheit weiterhelfen. Selbst­ erkenntnis, die zur Gemütsruhe oder zur Beruhigung führt, ist von Übel; für Bacon hat sie nur einen Sinn, wenn sie einen greif­ baren Fortschritt bringt und wenn dadurch die Gemeinschaft andere Gemeinschaften hinter sich läßt. Diese Art zu denken, die Bacon einführte, sollte sich in den fol­ genden Jahrhunderten durchsetzen und zu einer anderen, unaus­ gesprochenen Art und Form von Inquisition führen, einer Inqui­ sition, die Körper tötete, die ohne Seele sind.

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10. KAPITEL

Die Inquisition beim Verfall der universalen Monarchie

Das spätere Urteil über die Spanische Inquisition - wie es im 15. Jahrhundert aufkam und sich im 16. Jahrhundert fortbildete war von einer Zeit beeinflußt, in der sie gar nicht mehr ernst­ genommen wurde. Der Beginn ihrer Unglaubwürdigkeit hängt mit dem Niedergang Spaniens im 17. Jahrhundert zusammen. Die Idee der »universalen Monarchie«, einst von Spanien ver­ kündet, um die christliche Ordnung Europas zu bewahren, war bereits von Holland und von England in Frage gestellt worden. Im 17. Jahrhundert begannen jedoch auch Rom und Frankreich die spanische »Anmaßung« zu untergraben. Bereits während des Prozesses gegen den Erzbischof Carranza gegen Ende des 16. Jahrhunderts geriet die »spanische« mit der »römischen« Inquisition in Konflikt. Vor allem die Jesuiten, Nachfolger der Dominikaner in der Leitung des Heiligen Officiums, wandten sich gegen die spanische Einmischung bei bestimmten Glaubens­ fragen. Für sie waren etwa die Frage der »Blutreinheit« und die Unterscheidung zwischen »alten« und »neuen« Christen Ne­ bensächlichkeiten. Sie forderten bei Eintritten in ihren Orden eine unmittelbare Rücksprache mit Rom. Während des 17. Jahrhunderts versahen die Jesuiten den geist­ lichen Dienst am spanischen Hof, dessen politische Macht freilich im Sinken begriffen war. König Philipp III. und König Philipp IV. überließen »starken Männern« die Regierungsgeschäfte, wie ihre Vorgänger im 15. Jahrhundert Alvaro de Luna und Beiträn de la Cueva. Nun, im 17. Jahrhundert, waren es der Herzog von Ler­ ma und der Graf und Herzog von Olivares. Das Auftreten dieser Favoriten ließ Fraktionen entstehen, die um Einfluß stritten. Das Zentrum der Macht verlagerte sich vom strengen Escorial Phi-

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lipps II. über Valladolid unter dem frommen Philipp III. nach dem frivolen Buen Retiro in Madrid unter Philipp IV. Der Über­ gang von Strenge und Frömmigkeit zur Frivolität stellte die Anhänger der universalen Monarchie auf eine harte Probe. 1615 wurden die spanische Infantin Anna von Österreich mit dem französischen Kronprinzen Ludwig XIII. und die französi­ sche Prinzessin Isabelle de Bourbon mit dem spanischen Kron­ prinzen Philipp IV. vermählt. Dieses doppelte Band hielt Frank­ reich nicht davon ab, die deutschen Protestanten gegen den Kaiser in Österreich zu unterstützen, der im Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) spanische Hilfe erhielt. Richelieu, der starke Mann des französischen Königs, sah seine Außenpolitik nicht im Widerspruch zum Vorgehen gegen die Hugenotten im eigenen Lande. Die »Staatsräson« machte beide Maßnahmen erforderlich. In den Augen Richelieus konnte Frankreich nur auf Kosten von Spanien vorankommen. So lag es in seinem Interesse, die Habs­ burger Allianz, die Achse Madrid - Wien, als reine Machtpolitik zu denunzieren und jeden Anspruch Spaniens, sich berufen zu fühlen, für den Katholizismus einzutreten, scheitern zu lassen. Olivares, Richelieus Gegenspieler, konnte die französische Politik als Verrat an der katholischen Sache auslegen, Madrid schreckte jedoch selbst nicht davor zurück, den Kronprinzen des protestantischen England zu hofieren und wegen einer möglichen Vermählung mit einer spanischen Prinzessin vorzufühlen. Die Hochzeit kam freilich nicht zustande, aber die Absicht war deut­ lich gewesen: Spanien wollte in den Niederlanden die Hände frei haben. 1609 hatte Spanien aus ökonomischen Zwängen mit Holland einen Waffenstillstand schließen müssen. Das war dem Handel beider Länder zugute gekommen. Als Olivares 1621 zur Macht kam, brach er den zwölfjährigen Waffenstillstand, unter anderem mit dem Argument, die Holländer verfolgten gegen alle Abspra­ chen weiterhin die Katholiken im eigenen Lande. Das sprach wohl nicht für den Glauben an die universale Monarchie. Aber als die schlimmen Folgen dieser idealistischen Geste sich abzuzeich­ 108

nen begannen, änderte Olivares seine Meinung. Die Wiederauf­ nahme des Krieges brachte zwar die erfolgreiche Einnahme von Breda (1625), aber auch den Raub der Silberflotte aus Amerika durch Piet Hein (1628). Und als Spanien einige Jahre später dem Kaiser gegen Gustav Adolf zu Hilfe eilen mußte, der aus Schwe­ den in Deutschland eingefallen war, um den Protestanten beizu­ stehen, schienen die dauernden Kriege die Staatskasse zu erschöpfen. Um die Monarchie vor dem Bankrott zu bewahren, brauchte Olivares Geld. Außerdem fand er, daß die Spanier für eine »Men­ talitätsänderung« reif seien. Er gründete neue Institute (»juntas«) und erließ »memoriales«, mit denen die Spanier ermutigt wurden, etwas zu unternehmen und sich auf den Handel zu verlegen. Um die Wirtschaft zu sanieren, holte er portugiesische Bankiers und Kaufleute ins Land, denen er mehr traute als den Genuesen und Flamen, die das Kapital ins Ausland abfließen ließen. Portugal war seit 1508 Bestandteil der spanischen Monarchie, so konnten die Portugiesen sich überall frei niederlassen. Diese Politik sollte 1643 mit zum Fall von Olivares beitragen, als der erwartete Erfolg auszubleiben schien. Die Geld verschlingenden Kriege gingen nämlich wie gewohnt weiter. Das bedeutete Steuererhöhungen, wogegen sich besonders Portugal und Katalonien und selbst Andalusien auflehnten. Diese Provinzen hatten nicht das Gefühl, für die universale Monarchie aufkommen zu müssen, an die nur noch Kastilien glaubte. Portugal erklärte sich mit Hilfe Frank­ reichs für unabhängig, aber Spanien erkannte die Unabhängigkeit erst 1668 an. Wie immer, so suchte das Unbehagen auch jetzt ein Ventil. Die Portugiesen waren nicht nur Rebellen, sie waren auch »Kryptojuden«. Und dieses Mal wurden sie nicht für eine Pestepidemie verantwortlich gemacht, sondern für den Staatsbankrott. Aus den Prozessen, die die Inquisition in den letzten Jahren König Philipps IV. führte, geht hervor, daß sowohl die Ankläger wie die Beschuldigten ungläubig waren. Für die Inquisition war die »Reinheit des Glaubens« nur noch ein Vorwand; die Opfer, von

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denen die wenigsten beschnitten waren, verrieten einander und schienen keineswegs die Absicht zu haben, als jüdische Märtyrer gebrandmarkt zu werden. Sie unternahmen alles, um ihr »Christ­ sein« herauszustellen und ihre Ankläger als persönliche Feinde zu entlarven. Die Prozesse schleppten sich endlos hin, sie waren der Politik und dem Hof ganz gleichgültig, denn daß die vermeintli­ chen jüdischen Portugiesen für den Staat gefährlich waren, das glaubte die königliche Bürokratie gar nicht. Öffentliche Hinrich­ tungen, wie es sie früher gegeben hatte, gab es dann auch gar nicht mehr. Alles war Verdächtigung und Mißgunst, wobei die könig­ liche Verwaltung und die Inquisition sich gegenseitig auszuste­ chen suchten. Ebenso unglaubwürdig waren die Prozesse, die zu dieser Zeit gegen andere Delinquenten geführt wurden, so etwa gegen Pseu­ domystiker, Hexen und Sittenstrolche. Mit Glaubensreinheit hat­ te das kaum etwas zu tun. Der Hof Philipps IV. ließ sich durch Ketzer nicht mehr beein­ drucken. Der König und sein Gefolge widmeten sich lieber Festen und dem Theater, der Jagd und der Musik. Während Spa­ niens sogenanntem Goldenen Zeitalter verkehrten sich Glaube und Frömmigkeit, die Kennzeichen der Periode Philipps II., in ihr Gegenteil, in Aberglauben und Scheinheiligkeit. Tüchtigkeit und Verdienste spielten bei der Besetzung von hohen militäri­ schen und kirchlichen Posten keine Rolle mehr. Wer nicht von guter adliger Abkunft war, der suchte über eine der Cliquen sei­ ne Karriere zu fördern oder vielleicht gar einen Posten zu kaufen. Der Glaube an die »übernatürliche« Monarchie lebte nur noch in anachronistischen Idealisten wie Olivares und dem Dichter Fran­ cisco de Quevedo. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts fehlte selbst den »starken Männern«, den Regierenden, der poli­ tische Durchblick. Karl II., der letzte Sproß der HabsburgerMonarchie, war völlig wirklichkeitsfremd. Eine Redensart des Volkes lautete: »Si el rey no muere, el reino muere« (Wenn der König nicht stirbt, stirbt das Königreich).

HO

Das Goldene Zeitalter der spanischen Kunst fällt zusammen mit der staatlichen, religiösen und moralischen Erschöpfung. Das schlug sich schon in der Literatur der ersten Jahrzehnte des Jahr­ hunderts nieder. Die Dramen von Lope de Vega etwa verweisen zurück in die Zeit von Ferdinand und Isabella, in eine Zeit also, als die königliche Macht noch die Gerechtigkeit auf der Welt hochhielt. Andere Dramen, wie die von Ruiz de Alarcön und Tirso de Molina, stellen Typen vor, die zur Zeit Philipps II. unmöglich gewesen wären: Schwindler und Frauenhelden. Die Lyrik, am Ende des vorigen Jahrhunderts noch ein Mittel, um tiefste religiöse und philosophische Gedanken auszudrücken, war nun zum scharfsinnigen Spiel und zur bloßen Wortkunst geworden. Miguel de Cervantes, der noch den ruhmreichen Tag von Lepanto selbst miterlebt hatte, an dem das spanische Welt­ reich seinen Zenit erreichte, klagte bereits 1605, im ersten Teil des >Don Quijote«, in Spanien sei alles zum Schein geworden; die Noblen beschützten nicht mehr die Armen, und die Geistlichen beachteten nicht mehr die Lehre Christi. Sancho Pansa wurde von seinem Schöpfer »cristiano viejo« genannt, ein alter Christ (im Gegensatz zum »converso« oder neuen Christen), aber bei Cervantes ist das kein Vorzug mehr, im Gegenteil: »Cristianos viejos« sind Trottelchristen, Kirchensklaven. Die Inquisition - so steht im zweiten Teil des >Don Quijote« von 1615 zu lesen - ist nicht mehr Christus und der christlichen Lehre dienlich, sondern dem frömmlerischen Status quo - die härteste Kritik an der Inqui­ sition, die im Spanien des 17. Jahrhunderts zu finden ist. Francis­ co de Quevedo, viel bissiger und trauriger als Cervantes, ließ nie­ mals ein kritisches Wort über das Heilige Officium oder den »Santo negocio« verlauten. Obwohl keiner mehr als er die Rän­ der der spanischen Gesellschaft beschrieben und kein anderer die Scheinheiligkeit heftiger angeprangert hat, ist Quevedo zugleich der letzte, der an die universale Mission der spanischen Monar­ chie glaubte. Darum auch seine scharfen Angriffe auf die Politik der Franzosen unter Richelieu (der ja als Katholik nicht davor zurückschreckte, mit den Protestanten zusammenzuarbeiten), 111

auf die Gottlosigkeit Wilhelms von Oranien und die Ketzer in den Niederlanden. Quevedo sah aber ebenso »die Mauer seines Vaterlandes« einstürzen und das Ende Spaniens kommen. In den Fußstapfen von Cervantes und Quevedo, den beiden größten Dichtern ihres Jahrhunderts, folgten die übrigen Litera­ ten dem Pfad der Philosophie des »desengaño«, der Ernüchte­ rung und der stoisch-christlichen Beruhigung im Sinne von Justus Lipsius. Man soll lernen, von der Welt Abstand zu nehmen und sich nicht länger über die möglichen Mängel des irdischen Gerichts aufregen und über die Art, in der eine Ordnung der anderen weichen muß. Man soll die Verantwortung für sich selbst in der Ruhe des Gemüts wiederfinden, mit sich selbst ins reine kommen als Vorbereitung für die Ewigkeit. Mit dieser Philoso­ phie ging das spanische Imperium zugrunde. Pedro Calderón de la Barca, der das Leben als einen »Traum« sah, bevor er sein eige­ nes im Jahre 1681 aushauchte, ist der letzte originelle Geist, den Spanien der Welt geschenkt hat. Das Land, das hundert Jahre lang ein Modell gewesen war, sollte sich künftig nach anderen aus­ richten, zunächst nach Frankreich. Sich auf die Nostalgie einlassen, das kennzeichnet auch die spani­ sche Geschichtsschreibung des 17. Jahrhunderts. Was die Inqui­ sition betrifft, da gibt es kaum etwas Neues zu berichten. Es gab keine Juden, keine Mauren und keine Protestanten mehr. Die Ausweisung der Morisken von 1609, von Jayme Bleda in seiner >Corönica de los moros de España« von 1618 erwähnt, um damit das historische Verständnis der Entstehung der verderblichen Sekte Mohammeds zu vertiefen, ist mit den unbedachten zyni­ schen Randnotizen versehen, daß Torquemada es schon 1492 als sinnlos angesehen habe, die Mauren zu bekehren, und daß Ferrer mit seinem Taufwasser niemals aus Juden Christen gemacht habe. Diego de Colmenares legt in seiner >Historia de la insigne ciudad de Segovia y compendio de las historias de Castilla« von 1637 dar, daß 1492 »das Unkraut mit allen Wurzeln ausgerissen werden mußte, weil in einem Land mit vermischten Religionen allzeit der 112

Atheismus gedeiht«. Aber von Atheismus weiß die Zeit Torquemadas noch nichts. Diego Ortiz de Zúñiga nennt in seinen >Anales eclesiásticas y seculares de la muy noble y muy real ciudad de Sevilla, metrópoli de Andalucia< geschrieben unter der Regierung Karls II., »1492« eine »schwierige, sehr verzwickte Angelegenheit menschlicher Politik« und beklagt den Verlust an Wohlstand, der durch den Auszug der Juden entstanden sei. Diese Klage spiegelt vor allem das Bewußtsein wider, daß Spanien sich einen wirt­ schaftlichen Rückstand eingehandelt hatte. Am Ende des 16. Jahrhunderts waren Spaniens Finanzen er­ schöpft, trotz seiner Kolonien in Ubersee. Holland und England wurden reicher durch die von ihnen eroberten Länder. Die spa­ nischen Besitzungen in Amerika waren weitgehend selbständige Vizekönigreiche, neue Spanien, die ihre eigenen Probleme hatten. Natürlich liefen regelmäßig Schiffe voller Silber und Gold zum Mutterland aus, aber viele versanken unterwegs im Atlantik oder wurden von englischen oder holländischen Freibeutern ausge­ raubt. Das Geld, das ankam, verschwand in den Taschen von Mit­ telsmännern oder wurde von den Kriegen in Flandern und Deutschland verschlungen. Die königliche Verwaltung zu Madrid mußte sich zudem um ein riesiges Weltreich kümmern. Als Karl II. offensichtlich nicht in der Lage war, einen Nach­ folger zu zeugen und im Jahre 1700 kinderlos starb, entbrannte zwischen Österreich und Frankreich, deren Königshäuser mit dem spanischen verwandt waren, der Erbfolgekrieg. König Lud­ wig XIV. präsentierte seinen Enkel Philipp von Anjou, Kaiser Leopold I. seinen zweiten Sohn, den Erzherzog Karl. Holland und England unterstützten den österreichischen Kandidaten, weil sie ein starkes Frankreich fürchteten, aber der schlaue Son­ nenkönig setzte sich durch. Da Erzherzog Karl seine Kandidatur über die etwas abseits stehenden und separatistischen Katalanen zu sichern hoffte, ging Philipp von Anjou die Sache bei der zen­ tralen Macht an. Er gelobte, sich als Spanier zu verhalten, und erhielt dafür als Philipp V. die Unterstützung von allen, die um

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jeden Preis die Einheit des Landes garantiert sehen wollten. Und damit begann für Spanien die französische Ära unter der Bour­ bonendynastie.

Kritik an der Inquisition muß man im 17. Jahrhundert, anders als im 16., bei den Feinden Spaniens suchen, und selbstverständlich zuerst bei den Holländern. Die >Nederlandse Historien< von Pie­ ter Corneliszoon Hooft (1642) formten den Archetypus der Kri­ tik und die Fortsetzung der Schwarzen Legende. Hooft beschreibt die Zeit zwischen 1554 und 1585 in zwanzig Büchern. Daß die Niederlande sich gegen Spanien erhoben, sei Philipp II. zu verdanken, der offenbar ein Tyrann war und keinerlei Rück­ sicht nahm auf die Vorrechte und die Eigenart des Landes, das er von seinem Vater geerbt hatte. Der Tyrann begann im großen Maße Ketzer zu verfolgen und wollte die Spanische Inquisition einführen. (Zuvor hatte in den Niederlanden die alte oder bischöfliche Inquisition aus Köln und Paris gegolten). Um dieser Zuständigkeit das »freie Gewissen« entgegenzusetzen, suchten die holländischen Edlen den Tyrannen mit einer Bittschrift zu erweichen. Philipp vermutete, daß der Adel sich bereits innerlich von ihm losgesagt hatte, und schickte den Herzog von Alba nach Norden, der die Grafen von Egmont und Hoorn hinrichten ließ. Damit begann ein Krieg, der offiziell achtzig Jahre dauern sollte, doch seit dem Westfälischen Frieden von 1648 war Spanien bereits so ohne Gewicht, daß zu den Verhandlungen kaum noch Vertreter dieses Landes zugelassen waren. Holland war nun das mächtigste Land der Welt und hatte viel größere Schwierigkeiten mit England, als mit dem Enkel des Tyrannen. Eine machtvolle Nation braucht eine Geschichte, und dieses Bedürfnis befriedig­ te Hooft. Holland war, nach Hooft, reich und wohlhabend, fromm und friedvoll, es wurde von den Herzögen von Burgund gehegt und gepflegt. Philipp II. war dort ein Fremdling. Außer spanisch sprach er nur ein wenig gebrochen französisch. Ab 1559 begann er die Calvinisten zu bekämpfen, die er als Ketzer ansah. Dazu 114

wünschte er eine »nationale Hierarchie«, getrennt von den Bistü­ mern Köln und Paris, so daß er die Ketzer unmittelbar belangen konnte. Der Papst war ihm dabei behilflich, weil »er mit großem Ernst das Konzil von Trient vorantrieb«. Außerdem war er ja sehr reich »durch die Schätze, die nach der Niederwerfung der einfäl­ tigen und wehrlosen Völker Westindiens herübergeschickt wor­ den waren«. In Holland hat er die Autodafés einführen wollen, eine »prächtige, naturgetreue Bühnensensation... ein Drama, in dem man ehrbare Männer und einfältige, kaum mündige Frauen wegen eines einzigen Meinungsunterschiedes ins Feuer führte«. Dieser Brauch war verbunden mit der Inquisition, einst dazu bestimmt, »die letzten Wurzeln der Herrschaft Mahomets auszu­ reißen, mit der auch die der Juden einherging«. Der »Überrest der Christen blieb mit einem großen Anteil dieser beiden Sekten ver­ mischt, und das erzeugte in der Brust des neuen Staates einen Widerwillen«, der »ernsthafte Wachsamkeit, Ordnung und Ge­ genwehr erforderte. Doch so wie ihm die Religion im Munde erstorben, das Herz aber voller Trug und Bosheit war, so lief sein Trachten auf einen Entschluß hinaus, der mehr nach Blutdurst und ungezügelter Habgier, als nach christlichem Eifer und lan­ desväterlicher Liebe zu den Untertanen oder nach der nötigen Fürsorge roch.« Und so bestellte man »mit der Billigung von Papst Sixtus IV. ein Vierergespann, das nicht allein öffentliche und nachweisbare Ärgernisse mit dem allerschmählichsten und schmerzhaftesten Tode strafte, nebst dem Griff nach dem Hab und Gut«, das Vier­ gespann mußte auch »die abgefeimtesten Schurken zusammensu­ chen, um Menschen zu bedrängen, auf ein schuldiges Gewissen zu durchschnüffeln und den Gefangenen die tiefsten Geheimnis­ se ihres Herzens durch gräßliche und dem Auge unerträgliche Drohungen wie durch empfindlichste Verletzungen grausam zu entreißen«. Dieses »nicht nur unchristliche, sondern auch unmenschliche Mordgeschäft erhielt den Namen des heiligen Gerichts der Inquisition. Es wurde von Alexander VI. bestätigt, der aus spanischem Blut war und die am meisten verfluchte Erin­

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nerung der Italiener selbst ist, und seit Luthers Zeiten hat sich auch die Kunde von diesem Geschehen unter den Christen im Gewand der Religion ausgebreitet.« Hooft legt dann dar, wie die Inquisition zu Werke ging. Die Verhöre und die Folter werden als unmenschlich beschrieben; die Gefängnisse waren verdreckt, und die Gefangenen bekamen kaum zu essen; »aller Trost und jeder Besuch, ja selbst das Singen sind als zu erquicklich in diesem Alleinsein verboten«. Wer seiner Ketzerei abschwörte, erhielt zur Auflage, einen »sacco bendito«, einen »gesegneten Sack« zu tragen, und er ging all seiner Habe verlustig. Blieb er bei seiner Leugnung, dann »verurteilt man ihn, auch wenn er erklärt, ein guter römischer Christ zu sein, zum Feuer«. Das Opfer wußte nicht, wer es beschuldigt hatte, wenn es aber Feinde hatte, dann »kann er es mutmaßen und ihn eventuell beschuldigen«. Hatte er mit der Angabe über seine Freunde kei­ nen Erfolg, dann blieb das vage Zeugnis gleichwohl in Kraft. »Die Tortur erfolgte auf einer Bank, mit Feuer und Wasser, durch den Folterknecht und in einem düsteren Keller; der Henker ist vom Scheitel bis zur Sohle in schwarzes Leinen gekleidet, mit Löchern darin für die Augen. Es gibt solche, die zwölf oder dreizehn Jah­ re einsitzen, und ihr Ende ist doch der Tod. Der Besitz fällt an den König, wovon jedoch die Hälfte an den Händen des Viererge­ spanns und ihrer Helfer kleben bleibt. Es fehlt nicht an Beispie­ len von Leuten, die, obwohl sie aufrechte Römische sind, das Gegenteil bekannten, um durch scheinbare Büßfertigkeit freizu­ kommen. Andere Christen - was noch schlimmer ist -, die im Herzen gläubig waren, hat man durch den Abscheu vor solch einem Wüten oder durch das Anhören von Reden gegen das Judentum, die ihnen zu kümmerlich vorkamen, zu dieser Lehre getrieben.« Die Urteile wurden abgeschlossen mit einer »Prozession, so als würde eine große Hochzeit gehalten. An der Spitze gingen die Geistlichen in voller Pracht und mit einem frommen Lied auf den Lippen. Hinter ihnen wurden die Verurteilten geführt, jeder in einem grellgelben, mit Teufeln bemalten Rock, den Kopf bedeckt

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mit einer Mitra aus Papier, auf der man einen von Flammen umzüngelten menschlichen Leib und umherfliegende Teufel abgebildet sieht.« Die zum Tode Verurteilten wurden kurz vor der Exekution mit einer Henkersmahlzeit beehrt, aber eine »Zun­ genschraube raubte ihnen die Sprache, weil man einen Widerruf befürchtete«. Das alles wurde noch feierlicher durch Abte, Kano­ niker und eine »Standarte mit der Fratze von Papst Alexander auf der einen und der von König Ferdinand auf der anderen Seite«. Zum Schluß »besteigt man eine Bühne, verliest die Urteile und übergibt sie dem weltlichen Arm, mit dem Ersuchen, so wenig Blut wie möglich zu vergießen. Während die Standhaften leben­ dig verbrannt wurden, wurden die ihren Glauben Verleugnenden vorher erdrosselt.« Hooft zieht daraus den Schluß, daß viele versucht haben, die »Plage« mit »Kisten voller Gold« abzuwenden. Andere, wie die Neapolitaner, hatten den Mut, sich diesen Greueln zu widerset­ zen. »Ist es ein Wunder, daß die Niederländer, die so lange Jahre hindurch mit großer Sanftheit regiert worden sind und vom Geschmack der Freiheit verwöhnt waren, schon bei dem Schat­ ten eines landesweiten Zwanges in den Aufstand traten? Die Nie­ derländer konnte man heilen ohne Anschläge, ohne Inquisition, nur durch ein wenig Zucht und Sittenstrenge von Seiten der Geistlichkeit.« Die kirchliche Inquisition genüge Holland durch­ aus, folgert Hooft. Die Inquisitoren der Kirche konnten »Ketzer« ja dem weltlichen Richter übergeben, sie hatten aber nicht das Recht, »die Gemeinden zu beschnüffeln... und noch viel weni­ ger, jemanden zu strafen, dessen Hirn nur mit einem einzigen Unverständnis geschlagen schien«. Mit anderen Worten: Holland war aufgeklärt genug, es brauchte keine Inquisition. Was auch seine Quellen gewesen sein mögen, das Bild, das Hooft von der Inquisition zeichnet, ist eine Karikatur. Im Fol­ genden wiederholt er die bekannten Lästereien über den spani­ schen König, die Wilhelm von Oranien verbreitet hatte; aller­ dings ist bei ihm die Ermordung des Prinzen Don Carlos nicht das Werk Philipps II., sondern von dessen Halbbruder Don Juan

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d’Austria, der für eine kurze Zeit Statthalter der Niederlande gewesen war und den Hooft einen »Bastard« nennt. In Spanien hatte der »Glaubenseifer« für die Einheit des Landes gesorgt. Wie aber war das im Holland Hoofts ? Daß es dort so vie­ le Sekten in einem einzigen Territorium gab, war bereits für Coornhert eine mögliche Gefahr gewesen. Wenn das Land keine nationale Identität erwerben sollte, war ein Bürgerkrieg wohl denkbar. Hooft selbst war ein Mitstreiter in dem vorhersehbaren Krieg zwischen denen, die meinten, Staat und Religion müßten getrennt sein, so daß man den Handelsinteressen den Vortritt ließe, und denen, die darin einen Angriff auf die Religion erblick­ ten. Jan van Oldenbarneveldt, der Wilhelm von Oranien als »star­ ker Mann« gefolgt war, wurde von den letzteren 1619 enthauptet, zum Schrecken seines Bewunderers Hugo Grotius, der Holland mit seiner Schrift >De jure praedae< (1604) das Recht zugestanden hatte, auf See Beute zu machen. Holland war geteilt in fanatische Calvinisten, überwiegend aus der Provinz und dem Hause Ora­ nien zugetan, und in »rekkelijken«, Freisinnige, von denen die Religion am Ende des 16. Jahrhunderts so wenig ernstgenommen wurde, daß sie von Coornhert als »Geldisten« beschimpft wur­ den. Was die verschiedenen Konfessionen beieinanderhielt, war die Börse, der Mammon, was laut Jean Baptiste Stouppe (>La religion des Hollandais«), dem französischen Gesandten des Son­ nenkönigs, das Interesse der Holländer an der Philosophie Baruch de Spinozas verriet. Ludwig XIV. hatte etwas übrig für die holländische Idee, das Gewinnstreben vom Glauben zu trennen, und auch Spaniens Olivares hatte ein Auge für die Vorteile einer solchen Einstellung. Aber Frankreich und Spanien waren noch zu katholisch, um diese Philosophie anzuwenden. Spinoza war schon modern: Der Staat selbst ist die Religion. Oder: Man muß aus dem Staat einen Kult machen, was auf Staats­ dienst mit religiöser Färbung hinausläuft. Überraschend ist dabei, daß Spinoza, von spanisch-jüdischer Herkunft, auf das Vorbild Spaniens verweist. Den Haag solle sich ein Beispiel nehmen an

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der Politik von Ferdinand und Isabella, die mit so großem Erfolg dafür gesorgt haben, daß sich ihr Land eine Identität erwarb; schließlich waren die Juden nirgends stärker assimiliert als in Spa­ nien. In Portugal, so fährt Spinoza fort, machte man den Fehler, Juden, die Christen geworden waren, nicht in hohe Stellungen zu lassen, und deshalb ließen sich viele gar nicht erst taufen, und so gab es keine Assimilation, und dadurch blieb der Staat in sich geteilt. Die gleiche Gefahr drohe auch Holland. Aber Spinoza predigte in einer Wüste, wie übrigens auch Hugo Grotius (Huigh de Groot). Der Mann, der seinem Lande das Recht auf die Kaper­ fahrt gegeben hatte, wurde durch dieselben Calvinisten verjagt, die Johan de Witt, den Schirmherrn Spinozas, umbrachten. England näherte sich in der Regierungsform dem, was Spinoza vorgeschwebt hatte: dem Staatskirchentum. Der Preis dafür war, was aus herkömmlicher, das heißt katholischer Sicht der Wahre Glaube hieß; die »Wahrheit« stieg vom Sockel. Oder: man konn­ te glauben, was man wollte, solange man der Krone Gehorsam leistete. Und so wurde England zur Heimat des modernen Skep­ tizismus und damit der gegenseitigen Entfremdung. In den spa­ nischen Königsdramen von Lope de Vega und Calderön trium­ phiert stets die göttliche Gerechtigkeit mittels ihres irdischen Stellvertreters, des Königs. Shakespeare, viel moderner, stellt die Welt als ein Schachbrett voller aufeinander prallender Ambitio­ nen dar, auf dem die Protagonisten von Gott oder von den Göt­ tern in Ruhe gelassen werden. John Donne nannte die Wahrheit eine rein persönliche Angelegenheit und sagte, daß Gott sich um die Welt gar nicht mehr kümmere; auf Erden gelte allein die Macht des Stärkeren, und da das Universum unendlich ist, wie Galilei und Kopernikus gezeigt haben, sei es eine Illusion, in ihr nach einem Sinn zu suchen. Ordnung sei eine überholte Idee. Thomas Hobbes ging noch einen Schritt weiter als Spinoza, als er darlegte, daß es sinnlos sei, nach Gott, nach der Seele und nach der Ewigkeit zu fahnden, und daß vernünftige Menschen sich aus­ schließlich mit der realen Wirklichkeit beschäftigen sollten. Und zu dieser sichtbaren Wirklichkeit gehörte der Streit zwischen den 119

Puritanern und den Anhängern des Königs, und deshalb mußte Hobbes nach Frankreich ins Exil gehen. Die Staatskirche hatte die Einheit nicht herstellen können, die »allgemeine Identität«, die Coornhert und Spinoza, mit allem was dazugehört, als not­ wendig erachteten, und für die Hobbes es sogar zulässig fand, die Untertanen zu unterdrücken. John Milton, ebenso vernünftig wie Hobbes, stand dem Staatsdienst vollkommen ablehnend gegen­ über. Und wie sehr man in England auch die Schwarze Legende nachplapperte - die Mönche waren stets lüstern und abergläu­ bisch (Robert Burton, >The anatomy of melancholyHudibrasDom Carlos. Nouvelle historique* in Amsterdam. Als das Buch offenbar zu einem Erfolg wurde, traten auch Pariser Verleger auf den Plan, und so wurde die Schwarze Legende auch in Frankreich zu einem beliebten Thema. Wie gesagt, blieb die Inquisition von dieser Legende das »pièce de résistance«. Die Inquisition war im 17. Jahrhundert nicht mehr glaubwürdig, weil die »universale Monarchie« die gleiche Philo­ sophie erstrebt hatte, durch die die »rein nationalen Gebilde« zu den mächtigsten und wohlhabendsten in Europa wurden. Die Anprangerung der Inquisition des 15. und 16. Jahrhunderts - wie die von Hooft - verrät die Projektion des eigenen 17. Jahrhun­ derts. Damals ging es tatsächlich, aber nun allenthalben, nur noch ums Geld.

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11. KAPITEL

Spanien am Pranger der Aufklärung

Wann immer der einzelne oder ganze Völker ihre Religion oder ihren »Glauben« verlieren, wenden sie sich meistens etwas Neu­ em zu. Im 18. Jahrhundert gab es einen ganzen Fleckenteppich von Teilbekenntnissen, so die Bildung (Montesquieu, Voltaire), die Natur (Swift, Rousseau), die Kultur (Lessing, Goethe), die Vernunft (Kant) und die Erkennbarkeit des mit den Sinnen erfaß­ baren Universums (Locke, Newton), die Leugnung der Erkennt­ nis (Berkeley, Hume), die allgemeine Sinnlosigkeit (Sterne, Dide­ rot) und die Überlieferung (Johnson, Burke) - alles in allem: die Aufklärung. England, Frankreich und Deutschland gaben dabei den Ton an; Spanien und Holland, die im 17. Jahrhundert noch aus der Kraft eigenen Geistes gelebt hatten, machten sich im 18. Jahrhundert durch folgsame Nachahmung und durch Verfall bemerkbar. In England und Holland war das Gewinnprinzip am weitesten fortgeschritten. Die Religion war auf ein Maß zurückgedrängt, bei dem ein jeder persönlich das glaubte, was er wollte. Der Staat war auf den materiellen Wohlstand aus und räumte den privaten Unternehmern dafür die größtmögliche Freiheit ein. Die Starken konnten tun, was sie wollten, solange sie nur der allgemeinen Wohlfahrt oder den nationalen Interessen keinen Schaden zufüg­ ten. Die offiziöse »Philosophie« der beiden seefahrenden Natio­ nen war eine Mixtur von verwässertem Protestantismus und Liberalismus, ein Glaube an das »Glück ohne zu leiden« und »den gesunden Menschenverstand«, an den »Fortschritt durch Wissenschaft und Industrie«. Daß die unteren Klassen bei dieser »prometheischen« Philosophie das Nachsehen hatten, daß die Besitzungen in Übersee für den Ruhm des Mutterlandes auf­ kommen mußten und daß der schöne Wohlstand auf dem Skla122

venhandel beruhte, das war in England noch eher Anlaß zu her­ ber Kritik als in Holland. Daniel Defoe etwa empörte sich über den Sklavenhandel; die Rückständigkeit Spaniens erklärte er im übrigen daraus, daß es zu wenig vom Handel verstehe (»Robinson Crusoe«, 1719). Die Kritik von Jonathan Swift war um vieles hef­ tiger: Der Staat sei das institutionalisierte Laster; was den Skla­ venhandel angehe, da liefen sich England und Holland einander den Rang ab; die Historiker, die diese Piratenstaaten verherrlich­ ten, verfälschten das wirkliche Geschehen (»Gullivers’s travels«, 1726). George Berkeley und David Hume sagten dem Anspruch der Wissenschaft den Kampf an, alles in Raum und Zeit verstehen zu können und dadurch die Menschheit stetig voranschreiten zu lassen (»Treatise concerning the principles of human knowledge«, 1710, und »Treatise of human nature«, 1739). Der objektivste Kritiker seiner Zeit und vielleicht einer der größten Geister des 18. Jahrhunderts aber war Samuel Johnson (1719-1784), der Verfasser des ersten »Dictionary of the English language« (1747-1755). Er propagierte, in der Nachfolge von Thomas Browne und Hugo Grotius, ein allgemeines oder uni­ versales Christentum; er prangerte den britischen Individualis­ mus an, und das Ideal der Toleranz entlarvte er als »kalten Haß gegen die überlieferte Religion«. Nach Johnson glaubten Voltai­ re und Rousseau selber nicht an das, was sie ihrem Publikum in den Pariser Salons verkündeten. Und James Macpherson, der Vater der Romantik, war seiner Ansicht nach ein Lügner und Geschichtsfälscher. Der gleiche Johnson vertrat die Meinung, von der »modernen Philosophie« aus könne man die Inquisition nicht verurteilen. Er sagte voraus, daß der säkularisierte Staat zu einer anderen, viel schlimmeren »Inquisition« führen werde, zu einer unausgesprochenen, raffinierten Leugnung Gottes und der Seele. Er prophezeite die Marginalisierung und die Ausrottung von Ständen und Gruppen, sobald die »Teil-Bekenntnisse« sich zu utopischen Heilsordnungen entwickeln sollten (James Boswell, »Life of Samuel Johnson«, 1791). Jedoch predigte Johnson, der Prinzipien wie Demokratie, Menschenrechte, öffentliche Mei­

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nung und Revolution stark in Frage stellte, vor tauben Ohren. Der neue Geist war nicht mehr aufzuhalten. Edward Gibbon beschwört gegen Ende des ersten Teils seiner >History of the decline and fall of the Roman Empire* (1776-1788) bei einem Rück­ blick auf das weströmische Reich diesen neuen Glauben: »Seit der ersten Erfindung der Künste haben Krieg, Handel und Religi­ onseifer diese unschätzbaren Gaben unter den Wilden der alten und neuen Welt verbreitet; sie sind ununterbrochen fortgepflanzt worden und können nie wieder verloren gehen. Wir mögen uns daher mit der freudigen Gewißheit beruhigen, daß jedes Zeitalter der Welt den wirklichen Reichtum, das Glück, die Kenntnisse und vielleicht auch die Tugend des menschlichen Geschlechts vermehrt hat und noch fortwährend vermehrt.« Wie brüchig die­ ses Mosaik von Idealen war, zeigte sich einige Jahre später, in der blutigen Schreckensherrschaft der Guillotine. Das Recht des Stärkeren schlug zum Nachteil von Holland aus, das seit dem letzten Viertel des 17. Jahrhunderts seinen Reichtum zugunsten Englands schwinden sah. Der Bürgerkrieg zwischen Calvinisten und »Geldisten« setzte sich im 18. Jahrhundert hin­ ter neuen Masken fort: Da waren einerseits Anhänger der Oranier in der Provinz, die ihre Hoffnung auf England und Preußen setz­ ten, und andererseits aristokratische und großbürgerliche Patrio­ ten, die ihr Heil aus Frankreich erwarteten. Aber die Engländer bemächtigten sich der überseeischen Besitzungen Hollands, und die Franzosen benutzten die Patrioten, um ihren Einfluß in der Republik durchzusetzen. Die einzigen, die davon profitierten, waren die müßigen Rentiers, Verschwender des in »goldener Zeit« aufgehäuften Kapitals. Von einem geistigen Klima konnte man, verglichen mit anderen Ländern, nicht mehr sprechen. Man französierte, las Bücher aus dem Ausland, und die eigenen Schriftsteller erzeugten mittelmäßige Uberlebensliteratur, die sich durch sklavische Nachahmung auszeichnete. Der Philosoph Franz Hemsterhuis, einer der wenigen bedeutenden Autoren, wurde als einziger auch im Ausland gelesen. Der Geist nahm in

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Holland ab und die Überfremdung zu. Als am Ende des Jahr­ hunderts die Franzosen kamen und die Batavische Republik aus­ gerufen wurde, war der Widerstand dann wohl auch kaum der Rede wert. Der Niedergang Hollands verlief parallel zum Aufstieg der deutschen Staaten. Preußen, der mächtigste unter ihnen, nahm die Ideen der französischen Philosophen auf und formte sie um zur eigenen »Aufklärung«. Sie unterschied sich von ihrem französi­ schen Gegenstück durch ein viel weniger feindliches Verhältnis zur Religion. Der Glaube an den Fortschritt der Menschheit war in Deutschland nicht eine rein rationale Angelegenheit, wie in Frankreich, oder ein kühles Vertrauen in die Wissenschaft, wie in England; er stützte sich vielmehr auch auf die Religiosität - den sogenannten Pietismus - und auf die Volksliteratur. Wenngleich die preußischen Fürsten nicht mehr glaubten, daß ihre Macht »von Gottes Gnaden« komme, und obwohl die Philosophen des Deutschen Idealismus in einem geistigen Vakuum schwebten, hoch über der alltäglichen Wirklichkeit des noch rohen, halb abergläubischen Volkes, brauchten sie die Vergangenheit und die Tradition nicht so radikal zu verleugnen wie im »aufgeklärten« Frankreich und in den utilitaristischen Wohlfahrtsstaaten an der Nordsee. Die deutsche Aufklärung war eine Legierung von Kul­ turtrieb, einem Hang zur Allwissenheit, von Pantheismus und Naturmystik und von Schwärmerei. Daß Friedrich Schiller, eines der Leuchtfeuer des deutschen Aufstiegs, Spanien an den Pranger stellte, wurde im ersten Kapi­ tel dies Buches bereits gesagt. Sein >Don Carlos« (1787) geht zurück auf Saint-Réals »Dom Carlos« (1672); beide stützen sich direkt auf die »Apologie« des Prinzen von Oranien (1581) und die »Relaciones« des Antonio Pérez aus dem späten 16. Jahrhundert. Am Vorabend der Französischen Revolution traf der Kampf um Freiheit von den Tyrannen ja auf offene Ohren. Schiller aber beschränkte sich nicht auf die Dichtung. In seiner »Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regie­ rung« (1788) kam die »Wahrheit« zum Zuge, die sich unter ande125

rem auf die französische Übersetzung von Robert Watsons »History of the reign of Philip the Second, King of Spain« (1777), Jan Wagenaars »Allgemeine Geschichte der vereinigten Nieder­ lande« (1756/58) und die »Romani et Societate Jesu de belle Bélgi­ co« des Jesuiten Famianus Strada (1551) gründete. Dieser letzte gehörte auch zu den Quellen von P. C. Hooft. Spanische Histo­ riker kommen bei ihm nicht vor, und das gab Schillers Vorstellung vom Spanien des 16. Jahrhunderts dieselbe Einseitigkeit wie sei­ nem Drama. Dazu kommt noch, daß der Calvinismus, der Motor des Abfalls der Niederlande, Schiller nicht vertraut war.

Die Legende aus katholischer Sicht

Frankreich stieg im 18. Jahrhundert zur maßgebenden Nation in Europa auf. Überall wurden die Sprache und die Umgangsfor­ men des bourbonischen Hofes zur Norm. Wer als kultiviert gel­ ten wollte, der blickte auf Paris; wer geistig auf der Höhe bleiben wollte, der las die Artikel der Enzyklopädisten. Jacobus Quétif und Jacobus Echard waren keine Enzyklopädi­ sten, sondern Dominikanermönche. Sie verfaßten die »Scriptores ordinis Praedicatorum«, ein gewichtiges Werk in lateinischer Sprache mit biographischen Abrissen berühmter Dominikaner, das 1719 in Paris erschien. Es enthielt auch ein kurzes Lebensbild von Fray Tomás de Torquemada (Turrecremata). Auf der Grund­ lage unter anderem von Bleda, Castillo und Zurita stellten Quétif und Echard den Prior von Santa Cruz als ein Muster an Lauter­ keit und Gelehrsamkeit dar; obgleich er zu seiner Zeit in hohem Ansehen stand, habe er stets bescheiden alle Ehrenämter abge­ lehnt. Dank Torquemadas Wirken wurde Spanien zur vorbildli­ chen Monarchie. Frankreich sah sich, auch durch das Familien­ bündnis der Bourbonen, als Nachfolger dieser Monarchie. Lud­ wig XIV. war der neue Philipp II., aber Versailles symbolisierte nicht dasselbe wie der Escorial. »Cuius regio, eius religio«: Der Sonnenkönig bestimmte, welche Religion zu herrschen habe, 126

machte aus ihr einen Stützpfeiler der Monarchie und sah sich selbst als die Verkörperung des Staates. Philipp dagegen habe sich stets als Diener einer Religion gesehen, die weit über sein König­ tum erhaben war. Soweit man überhaupt von einer Französischen Inquisition sprechen könne, so nur als von einer Einrichtung des Staates zur Erhaltung der öffentlichen Ordnung. Ausführlicher als Echard und Quétif ist A. Touron in seiner »Histoire des hommes illustres de l’ordre de Saint Dominiques die 1756 in Paris »avec approbation et privilège« Ludwig XV. erschien. Touron schöpfte aus den gleichen spanischen Quellen wie seine Vorgänger, schrieb jedoch mit Sinn für das »romanti­ sche Detail«, in der Tradition der Madame de Lafayette. Die Bio­ graphie als Genre beginnt sich zu entfalten. So erfahren wir, daß die Prinzessin Isabella häufig mit ihrer Mutter nach Segovia fuhr, um bei einem »heiligen Mönch« Rat zu suchen: beim Prior von Santa Cruz. »Turrecremata kannte den vollen Preis des Schatzes, den man in seine Hände gelegt hatte, und er begann gewisser­ maßen die Ruhe und das Glück der Völker zu sichern, indem er effektiv an der Vervollkommnung einer Prinzessin wirkte, die dazu be-stimmt war, sie eines Tages zu regieren.« Der heilige Mönch lehrte die Prinzessin, die königliche Würde als Verpflich­ tung vor Gott zu sehen, Sein Reich schließlich rein zu erhalten. Sich auf Esprit Fléchiers »Histoire du cardinal Ximenez« (1693) stützend, schreibt Touron, daß Torquemada Isabella das Verspre­ chen abgenommen habe, falls sie den Thron besteigen sollte, die Verfolgung der Ketzer um der Reinhaltung des Glaubens willen aufzunehmen; sie verbürge damit zugleich den Frieden des Lan­ des. Es ist offensichtlich, daß Touron mit einer solchen Abschweifung mehr im Sinn hatte als romantische Erzählerei oder die Ausgrabung von Wissenswertem. Er wollte Frankreich vor der freien Philosophie warnen; er legte dar, daß Toleranz schließlich zum Untergang der Religion und damit zum Unter­ gang der Monarchie führen werde. Touron sieht Ferdinand und Isabella, mit Hinweis auf den Geschichtsschreiber Juan de Mari­ ana, völlig unter dem Einfluß Torquemadas, in dessen Hände sie

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nicht nur die Seelen, sondern auch den Körper des Königreichs legten. Was die Inquisition betrifft, - »eine heilige Unternehmung zur Verteidigung und Mehrung des rechten Glaubens« -, so betont Touron, Torquemada habe gut dafür gesorgt, daß dabei keine Unschuldigen verfolgt wurden. Torquemada war ein Vor­ bild in der Nächstenliebe und in der Entsagung; er mied den Hof, lehnte Ehrentitel ab und war fünfundzwanzig Jahre hindurch der Beichtvater seiner königlichen Pflegebefohlenen, für die er die »göttliche Vorsehung« verkörperte. Seine »Instrucciones« waren dazu bestimmt, die Inquisition vor Mißbrauch zu bewahren. Er war der »Motor« im heiligen Krieg gegen Granada, und er hielt die »Ehre der Religion« über die des Staates. Die Mauren waren »verdorben« und hatten ganz zu Recht über die Klinge springen müssen oder waren versklavt worden. Die »neuen Christen« waren »Scheinheilige«, die bei ihrem »Handel« die »Zwecke des Glaubens ausbeuteten« und eine »Gefahr für den Staat« bildeten. 170000 Familien (800000 Juden) wurden 1492 vertrieben. Tou­ ron bestreitet die Auffassung (u. a. von Mariana), daß diese Ver­ treibung Spanien arm gemacht habe - eine auffallende Feststel­ lung im Jahre 1756, als der wirtschaftliche Rückstand Spaniens zu einem Gemeinplatz geworden war. Gott selbst habe die Weige­ rung der Katholischen Könige, gegen Zahlung von jüdischem Geld einzulenken, mit der Entdeckung Amerikas belohnt. Mit Recht habe Torquemada die »Reinheit des Glaubens« für wert­ voller als den »wirtschaftlichen Wohlstand« gehalten, und Spani­ en habe durchaus keinen Anlaß, sich wegen der Vertreibung zu schämen. Wohl aber das Ausland, das vom jüdischen Kapital pro­ fitiert habe: In Portugal durften Juden sich niederlassen, wenn sie jährlich acht Gold-Escudos für jede Person zahlen konnten. Zum Schluß seiner Biographie berichtet Touron, Torquemada sei im Jahre 1494, als Rodrigo de Borja zum Papst gewählt wurde (Alex­ ander VI.), einer der Kandidaten gewesen. Der neue Papst soll von Torquemada viel gehalten haben. Touron selbst ist sowohl für den von Hooft abgelehnten Papst des Lobes voll, wie auch für Savonarola, aus dem er, wie auch schon Mariana, einen Heiligen 128

macht. Und das ist sonderbar, wenn man bedenkt, daß ausge­ rechnet Alexander VI. der Henker Savonarolas gewesen ist. Touron verharmlost diese Untat, indem er darauf hinweist, daß der Papst falsch informiert gewesen sei, und lobt Savonarola, weil er Gott mehr gehorchte, als dem Papst. Soviel über die Verteidigung Torquemadas und die Inquisition in Frankreich. Interessant ist, daß weder Quetif und Echard noch Touron die Affäre des »heiligen Kindes von La Guardia« erwäh­ nen, über die sich spätere Historiker den Kopf zerbrechen soll­ ten.

Die Kritik der französischen Aufklärung

Den Gegnern der katholischen Kirche sollte mehr Einfluß zu­ kommen. Um mit Montesquieu zu beginnen: Seine >Lettres persanesEsprit des lois< auf den Index -, sollte es großen Einfluß haben. Die Tatsache, daß er zum Akademiemitglied ernannt wurde, zeigt, daß die adligen Kreise seiner Kritik zustimmten. Dieselben Kreise standen Vol­ taire und Rousseau ebenso wohlwollend gegenüber, ohne zu begreifen, - wie Alexis de Tocqueville hundert Jahre später schrieb -, daß sie damit die Revolution auf sich selbst hernieder­ riefen. Voltaires >Essai sur l’histoire générale et sur les mœurs et l’esprit des nations< (1756) ist eine Zusammenstellung von historisch Wissenswertem, die sich gegen die traditionelle christliche Geschichtsschreibung richtet, vor allem gegen die von Jacques Bossuet. Das neue Ideal der Toleranz, das, wie gesagt, auf Gleich­ gültigkeit der Religion gegenüber hinausläuft, setzte alle früheren Kulturen gleich und läutete das Ende der ausschließlich christli­ chen Sicht der langen Kette der Generationen ein. Die typischen Sitten und Bräuche der verschiedenen Völker stehen nun unter dem Vorzeichen des menschlichen Geistes und nicht des Heiligen Geistes. Der »esprit des hommes« erhebt sich aus der Steinzeit und steigt Stufe für Stufe empor bis zum Sonnenkönig. Der Baby­ lonische Turm, ehedem für Juden und Christen das Symbol für eine schlechte Ordnung, ist für Voltaire der Beginn der Zivi­ lisation. Der »esprit« - Vorläufer von Hegels Weltgeist - kam von China und Indien über Ägypten und Griechenland nach Rom, um dann in Europa Frankreich für die Führungsrolle vorzube­ reiten. Von der wegbereitenden Rolle des Geistes im Spanien des 15. Jahrhunderts zeichnet Voltaire ein recht ungünstiges Bild. Wie der Jesuit Mariana, so verteidigt auch Voltaire das Recht des Stärkeren. König Heinrich IV. von Kastilien sei an seiner Wollust zugrunde gegangen, und ob seine Tochter Johanna, die Beltraneja, ein Bastard war oder nicht, das sei uninteressant. Die Unzu­ friedenen haben zu Recht Isabella berufen, die wiederum voll­ kommen zu Recht Johanna als Bastard hinstellte. Die Vertreibung der Juden fand nach der Eroberung Granadas statt, als die beiden Fürsten die Hände frei hatten. 150000 sollen Spanien verlassen

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haben. Voltaire fand diese Vertreibung »barbarischer als alles, was orientalische Despoten ihren Untertanen jemals angetan haben«, andererseits warf er den Juden vor, steinreich gewesen zu sein. Mit ihrem Wohlstand und ihrer andauernd präsentierten Überle­ genheit als »auserwähltes Volk« haben sie ihr Schicksal selbst her­ beigerufen. Ihr Exodus war ein finanzieller Aderlaß für Spanien, aber das Gold aus Amerika glich einiges wieder aus. Sixtus IV, der Papst, der Spanien die Zustimmung zur Einrichtung der Inquisi­ tion gab, ist für Voltaire nicht nur ein Mörder, sondern obendrein ein Atheist. Savonarola, Opfer des Papstes Alexander VI., einem »greulichen Verbrecher«, war kein Heiliger, sondern der typische mittelalterliche Fanatiker, während Pico della Mirándola - der schließlich bei Savonarola seine Zuflucht fand - für Voltaire ein Vorbild war für bewunderungswürdige Aufklärung in dunkler Zeit. König Ferdinand wird von ihm gelobt für seine Schlauheit, weil er die Religion für seine Machtpolitik nutzte. Wer sich von der Macht aus freien Stücken zurückzieht, wie Kaiser Karl V, ist geistig zurückgeblieben und noch ganz dem Mittelalter verhaftet. Martin Luther war zwar ekelhaft grob, seine Revolution jedoch war eine gesunde Sache. König Heinrich VIII. von England brachte jeden um, der weiterhin zum Papst hielt, aber Thomas Morus und John Fisher waren nach Voltaire dennoch keine Hei­ ligen. Der Bruch mit Rom bescherte England zwar eine große Verwirrung durch neuentstehende Sekten, Königin Elisabeth machte jedoch den Staat zur neuen Religion, und damit konnte Voltaire sich abfinden. Die Inquisition hielt er für dumm: durch sie gingen mehr Seelen verloren als gewonnen wurden. Das Ver­ brennen von Menschen vergleicht er mit den Menschenopfern bei primitiven Völkern. Das Schlimmste an der Inquisition ist jedoch, daß sie die »gesunde Philosophie« und den Fortschritt des menschlichen Geistes bremste. »Die menschliche Natur ist nie­ mals so erniedrigt, wie wenn sich abergläubische Ignoranz mit Macht ausstattet.« Die Eroberung von Amerika hatte fatale Fol­ gen für die eingeborene Bevölkerung, aber Voltaire ließ doch kei­ nen Zweifel daran, daß die weiße Rasse den anderen überlegen sei:

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Neger würden völlig zu Recht zu Sklaven gemacht. Die Spanier machten sich in großem Maße der Habgier schuldig, ausgenom­ men die Jesuiten, die in Paraguay einen utopischen Staat gegrün­ det haben. Philipp II. ist für Voltaire dem römischen Kaiser Tiberius vergleichbar, den er allerdings an Schändlichkeit noch übertraf wegen seiner »Scheinheiligkeit«. Er war nicht nur ein Ehebrecher - dieser Vorwurf von einem Autor aus der Zeit der »liaisons dangereuses«! -, obendrein ermordete er auch seine erste und dritte Frau, und er hatte ein düsteres Vergnügen daran, Ketzer auf dem Scheiterhaufen brennen zu sehen. Den Aufstieg der mächtigen holländischen Republik konnte er nicht verhin­ dern. Diese Republik und England steckten der Welt ein »Licht« auf, mit Seefahrt und Handel zu neuen Idealen der Menschheit zu gelangen. Dennoch seufzt Voltaire: »Wenn man die Weltge­ schichte durcheilt, sieht man, daß die Schwächeren bestraft wer­ den, und die großen Verbrechen Glück bringen, und das Univer­ sum als eine gewaltige Bühne der Räuberei, die dem Zufall ausge­ liefert ist.« Der Autor zieht daraus für sich selbst keine Konse­ quenzen. Der Geist müsse Stufe um Stufe emporschreiten, obwohl Erdbeben und andere Katastrophen uns weiterhin auf die Probe stellen und das »Vertrauen auf einen guten Gott« lächerli­ cher werden lassen (>CandideCartas de Marru­ ecos« (nach dem Vorbild der >Lettres persanes« von Montesquieu), räumt ein, daß Hernan Cortés, der heldenhafte Eroberer Mexi­ kos, gegen die Eingeborenen zu hart aufgetreten sei. Gaspar Melchor de Jovellanos (1744-1811), zweifellos der bedeutendste Kopf im Spanien des 18. Jahrhunderts, kam mit der Inquisition in

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Konflikt, weigerte sich aber, sein Land anzuschwärzen. Er plä­ dierte für die Aufklärung und wies darauf hin, daß Spanien durch Amerika gar nicht reich geworden war; offenbar war er einer der wenigen, die sich der Französierung entgegenstellten und die Politik Napoleons durchschauten. Die >Defensa crítica de la Inquisición contra los principales ene­ migos que le han perseguido y le persiguen injustamente< des Melchor Macanaz (1788), eine »kritische Verteidigung« der Inquisition, ist die erste und vorläufig auch die letzte »Apologie« einer Einrichtung, an die selbst in Spanien so recht niemand mehr glaubte. Die Würfel waren geworfen, und der Teppich war aus­ gerollt für Juan Antonio Llórente, welcher der Inquisition inter­ national und im Lande den Todesstoß versetzen sollte.

12. KAPITEL

Die Spanische Inquisition vor dem Tribunal der Romantik und des Realismus

Mit der Besetzung Spaniens durch Napoleon 1808 fällt über die Inquisition der Vorhang. Seitdem können die Urteile über das Heilige Officium gefällt werden, ohne durch »Aktualität« beein­ trächtigt zu werden, frei von den Interessen und Erfahrungen der Beteiligten und Betroffenen. Wie die Bewertungen mit den jewei­ ligen Zeitströmungen Zusammenhängen, das ist das Thema der folgenden Kapitel.

1. Die Romantik

Nachdem 1805 bei Trafalgar mit der französischen auch die spa­ nische Flotte untergegangen war, konnten die Engländer die spa­ nischen Kolonien in Amerika ausrauben, ohne behelligt zu wer­ den. Die Ara des Britischen Weltreiches brach an, und allenthal­ ben kam damit eine neue Ideologie zum Zuge: der Liberalismus. Das Prinzip des Laissez-faire, den von Natur aus Stärkeren so ungehindert wie möglich sich entfalten zu lassen, der freie Han­ del und die aufsteigende Industrie hatten England groß werden lassen, und das war das Gesetz, das die anderen Länder dann vom erfolgreichsten Land in der Hoffnung übernahmen, an dem Wohlstand teilhaben zu können. Das galt nicht nur für Frank­ reich, wo man nach der Revolution und der Napoleonischen Ära nach einem Ausgleich zwischen Monarchie und Bourgeoisie suchte, sondern auch für Spanien. Die Schwierigkeit für Spanien war freilich, daß es keine Revolution erlebt hatte und nun unmit­ telbar von einem Ancien régime aus einen liberalen Weg suchen wollte. Das jedenfalls war der Wunsch der fortschrittlichsten 137

Köpfe, die seit 1812 in der britisch orientierten Enklave von Cadiz eine moderne Verfassung entworfen hatten und sie dem später aus dem französischen Exil heimkehrenden König Ferdi­ nand VIII. unterbreiteten. Der König aber schien für den Libera­ lismus nichts übrig zu haben und wollte unter dem Einfluß des reaktionären Adels und des Klerus sogar die Inquisition wie­ der einführen. Francisco Goya, der dem Freiheitskampf seiner Landsleute gegen die Franzosen so leidenschaftlich Ausdruck gegeben hatte, war durch den Schrei »¡Viva la inquisición!« aus reaktionären Kehlen auf der Straße so verschreckt, daß er im auf­ geklärten Frankreich Zuflucht suchte. Aus der Sorge, sein Land würde in die »mittelalterliche Düsternis« zurückfallen, schuf er seine berühmten Karikaturen von der Inquisition, Symbole der monströsen und abergläubischen Kräfte, die in jedem Menschen schlummern. Goya starb 1828 im Exil, die spanischen Liberalen setzten jedoch den Kampf gegen den »Rückfall« fort. Das Land bot im 19. Jahrhundert das Bild einer Arena, in der die »Bewah­ renden« und die »Fortschrittlichen« unaufhörlich einander bekämpften, wo Vergangenheit und Zukunft sich vergeblich mühten, zu einer ausgleichenden Gegenwart zu verschmelzen. Die Inquisition wurde nun abwechselnd zu einer liberalen und zu einer reaktionären Legende. Ob die Wiege der Romantik nun in England oder in Deutsch­ land stand, Spanien importierte sie jedenfalls aus Frankreich. Das 18. Jahrhundert zeigte vor allem Selbstzufriedenheit, das 19. Jahrhundert weniger. Die Romantiker erfuhren die eigene Wirklichkeit als enttäuschend und suchten Trost im Gestern oder im Morgen, im Anderswo oder in sich selbst. Die Welt, die aus der großen Umwälzung aufgestiegen war, das neue Bürgertum mit seinen quantitativen Idealen, ließ die Intellektuellen und die Künstler unzufrieden. Die empfindsamsten Naturen kehrten der Gesellschaft den Rücken. Der Natur, bislang nur Hintergrund, wurden mystische Kräfte zugeschrieben. Der Untergang des »christlichen Weltbildes« und die »Entthronung der Vernunft« ließen eine neue Weltanschauung als erstrebenswert erscheinen.

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Die deutschen und die englischen Romantiker gelangten am schnellsten auf den Weg, der zur »Kultur« führte. Sie waren die Entdecker der klassischen Antike, des Mittelalters, der exotischen Fernen und Tiefen und selbst der unsichtbaren Welt jenseits des Grabes. In Frankreich und besonders in Spanien und Italien war die Romantik vor allem eine dekorative Angelegenheit, und ande­ rerseits waren Spanien und Italien für die Deutschen und die Engländer romantische Themen und Objekte. Für das deutsche Sprachgebiet war Spanien eher exotisch und mysteriös als schaurig, wie es in Erzählungen von Heinrich von Kleist und Heinrich Heine erscheint. Außerdem waren die Deut­ schen die ersten, die trotz Schiller auch die positiven Seiten Spa­ niens sahen. August Wilhelm Schlegel zum Beispiel übersetzte Calderön, Ludwig Tieck Cervantes’ >Don QuijoteLe génie du christianisme* (1802) bereit, mit den Mächten der Heili­ gen Allianz dem spanischen Thron zu Hilfe zu eilen. Auf der anderen Seite wurde Victor Hugo zur Galionsfigur der Liberalen. Der aufsehenerregenden Premiere seines Stückes >Hernani< 1830 in Paris folgte in Spanien eine Lawine von romantischen Dramen, die das Bild der Schwarzen Legende festigten, und von denen eine Anzahl in den Opern von Giuseppe Verdi fortlebten. Vor dem Hintergrund dieses »gespaltenen Spanien« muß man sich die »Histoire critique de l’inquisition d’Espagne* von Juan Antonio Llorente vorstellen, von der 1822 die erste Übersetzung ins Spanische erschien. Wir wollen uns hier nicht noch einmal über dieses Werk verbreiten. Die wichtigsten Punkte der Kritik seien nur kurz wiederholt, weil sich die Polemik des 19. Jahrhun­ derts damit beschäftigte. Nach Llorente ist die Kirche für das Heilige Officium verantwortlich gewesen, und dabei waren der Staat und das Volk (wenigstens im Anfangsstadium) die Leidtra­ genden. Habgier war die Triebkraft, und die Inquisition hat sich dem »Licht des Fortschritts« in den Weg gestellt. Die »Ketzer« sind als Märtyrer und Heroen des Fortschritts zu sehen. 140

Joseph de Maistre Inwieweit de Maistre (1753-1821) - Franzose, Monarchist, Reak­ tionär - mit der Kritik Llorentes vertraut war, ist nicht klar. Sein >Lettres ä un gentilhomme russe sur l’inquisition* (Moskau 1815) ist jedenfalls eine Verteidigung der Spanischen Inquisition gegen die Anwürfe aufgeklärter und liberaler Polemiker wir Montes­ quieu und Voltaire aber auch gegen einen unmittelbaren Vorgän­ ger Llorentes, Antonio Puigblanch (>La inquisición sin máscara*, 1812) sowie den Außenseiter Joseph Townsend (>Voyage to Spain during the years 1786/87*) und Autoren von Schauergeschichten wie Ann Radcliffe, Horace Walpole und Percy Bysshe Shelley. Gegen diese Ankläger führte de Maistre die »Defensa de la inqui­ sición* von Melchor Macanaz (Minister unter Ferdinand VI.) und die »Voyage d’Espagne et d’Italie* (1713) des Abbé de Vayrac ins Feld wie auch die Philosophie des Hugo Grotius und den gesun­ den Menschenverstand. Letzterer lehre, wie Montaigne zeige, daß Gesetze relativ sind und Gerechtigkeit eine Utopie ist. Wer Pläne für den idealen Staat entwirft, gerate unvermeidlich an diese oder jene Art von Indoktrination mit dazugehöriger Inqui­ sition. Und dafür macht de Maistre die Philosophen des 18. Jahr­ hunderts und deren liberale Nachfolger verantwortlich. Die Aufklärung habe zur Verfolgung der traditionellen katholischen Einrichtungen geführt. Napoleons Truppen zum Beispiel, die unter dem Einfluß von Voltaire dem dunklen Spanien die Auf­ klärung bringen sollten, haben südlich der Pyrenäen Klöster und Kirchen zerstört. In England, schreibt de Maistre, »verfolgte man die Wahrheit und beschützte die Sekten«, in Spanien dagegen »schützte man die Wahrheit und verfolgte die Sekten«. Letzteres dank der Inquisition. Nach einem kurzen Blick auf die Entwicklung der Inquisition, die im 13. Jahrhundert gegen die manichäischen Albigenser, Katharer und Waldenser, die das südliche Frankreich unsicher machten, eingeführt wurde, legt de Maistre dar, daß diese Institu­ tion erstmals im 15. Jahrhundert mit der staatlichen Macht in 141

Berührung gekommen sei. Den unmittelbaren Anlaß dazu hätten die »judaisierenden Christen« geboten, die zu einem Staat im Staate zu werden drohten. Der erste Großinquisitor Torquemada, heutzutage von jedermann verunglimpft, so de Maistre, wur­ de in seiner Zeit jedoch hoch gelobt. De Maistre möchte drei Mißverständnisse über die Inquisition beseitigen. Erstens sei das Heilige Officium kein kirchliches, sondern ein Instrument des Staates gewesen; dies ist gegen Voltaire gerichtet, der aus Haß auf die Religion die Kirche des Mißbrauchs der Macht beschuldigte. Zum zweiten habe die Kirche keine Märtyrer geschaffen und zwar wegen des kirchlichen Grundsatzes, daß Blutvergießen der christlichen Lehre widerspreche. Die Kirche habe die Hinrich­ tungen ja auch dem »weltlichen Arm« übertragen. Inwieweit die­ se Einstellung der des Pilatus vergleichbar ist, ließ de Maistre dahingestellt sein. Drittens seien nur die Ketzer verbrannt wor­ den, die lange Zeit hindurch halsstarrig blieben; man sei nicht so mir nichts dir nichts auf den Scheiterhaufen geraten. An­ schließend widerlegt de Maistre noch zwei Vorurteile. Als erstes die fast allgemein verbreitete Auffassung, Spanien habe die In­ telligenz unterdrückt; ein Blick auf die Kunst des Goldenen Zeitalters genüge vollauf, um diesen Vorwurf Lügen zu strafen. Zweitens geht de Maistre gegen die von französierten Spaniern stammende Ansicht vor, die Inquisition sei eine verhaßte Ein­ richtung gewesen. Nichts sei weniger wahr. Die Inquisition habe die ganze Unterstützung des spanischen Volkes genossen, und das düstere Bild, das die spanischen Liberalen jetzt vom 15. und 16. Jahrhundert zeichneten, sei nichts anderes als eine modische Übernahme der Verleumdungen, die besonders in England und Frankreich über die Epoche Philipp II. in Umlauf sind. De Maistres Fazit lautet, der Staat habe sich zu allen Zeiten här­ terer Verfolgung schuldig gemacht als die Kirche - Grund genug, um vor der Verabsolutierung utopischer Vorstellungen zu war­ nen.

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William Prescott Prescott (1796-1859), ein liberaler und romantischer Historiker aus Nordamerika, ist der Verfasser der >History of the reign of Ferdinand and Isabella, the catholic kings of Spain< (3 Bde, 1838). Er stützt sich auf historische Werke des 18. Jahrhunderts über die Katholischen Könige, u. a. von Abbé Mignot (1766) und Rupert Becker (1790), sowie auf die alten spanischen Chronisten und Geschichtsschreiber, die er, anders als Llórente, nicht im Wider­ spruch zu ihren Intentionen interpretiert. Was die Inquisition betrifft, läßt er sich jedoch leiten von entschiedenen Anklägern wie Llórente und Puigblanch, in dessen >La inquisición sin más­ cara* das Heilige Officium verantwortlich gemacht wird sowohl für die Zerstörung des Christentums als auch für den Untergang Spaniens, sodann von dem holländischen Arminianer Philip van Limborgh, einem Geistesverwandten von Montesquieu, Bayle und Locke, dessen >Geschiedenis van de inquisitie« (1692) erst­ mals die Vertreibung der Juden anprangerte, und von Montanus, einem vermeintlichen spanischen Protestanten, der nach Holland flüchtete und zwischen 1563 und 1566 die Inquisition als verfolg­ ter Lutheraner attackierte. Dennoch kommt Prescott zu einem überraschend nuancierten Urteil: »Wie schädlich das Treiben der Inquisition in Spanien auch gewesen sein mag, grundsätzlich gesehen war ihre Errichtung nicht schlimmer als viele andere Maßnahmen, die unter viel weniger Kontrolle abliefen, und zwar in einem viel fortschrittlicheren und zivilisierteren Zeitalter.« Wie das Zitat zeigt, teilt Prescott den Glauben des 18. Jahrhunderts an Kultur und Fortschritt, jedoch ohne, wie Voltaire es tat, die Ver­ gangenheit als rückständig hinzustellen. Er sucht sich in die Ver­ gangenheit einzuleben, dem »anderen« seine Würde zu lassen und die Geschichte als Spiegel der Gegenwart zu benutzen. Hier tritt erstmals ein echter Historiker hervor, aber auch ein begei­ sterter Literat und ein passionierter Beobachter. Prescotts Enthusiasmus erinnert an Carlyles Heldenverehrung, stützt sich aber auch auf Hegels Glauben an den »sittlichen Wert« 143

des Staates. Seine Bewunderung für Ferdinand und Isabella ist groß; daß diese Fürsten sehr tüchtige Männer um sich sammelten, ohne sich um deren Herkunft zu scheren, sieht Prescott als revo­ lutionär und fortschrittlich an. Kardinal Cisneros, der Große Kapitän (der Eroberer von Italien) und Christoph Columbus sind nur die bekanntesten. Ihnen und den Einrichtungen, die für das Europa ihrer Zeit ganz modern waren, wie etwa die Volksvertre­ tung der Cortes, verdanke Spanien seine führende Rolle nach 1492. Für Torquemada allerdings hat Prescott keinerlei Anerken­ nung übrig. Mit Llorente tut er den ersten Großinquisitor als einen »hochmütigen Betbruder« ab. In vielen Punkten stimmt er dann aber mit Llorente nicht überein. Die Beschuldigung zum Beispiel, daß die Inquisition die Namen von Belastungszeugen geheimhielt, weist er zurück: das war und ist seiner Meinung nach durchaus üblich zu allen Zeiten und unter allen Umständen. Man müsse ja die Familie des Zeugen gegen Racheaktionen schützen. Prescott bezweifelt auch nicht, daß die Inquisition die Unterstüt­ zung des Volkes hatte. Daß man in einer »gemischten« Gesell­ schaft auf die »Reinheit des Blutes« achtete, ist für ihn völlig nor­ mal. Er mißbilligt dagegen den religiösen Fanatismus und die Intoleranz und beklagt, als Liberaler, die katastrophalen Folgen der Ausweisung von 1492 für die nationale Wirtschaft. Er bedau­ ert auch das Verschwinden des »farbenreichen« Islam aus Spani­ en. (Als Prescott dies schrieb, standen die Vereinigten Staaten gerade im Begriff, sich die Hälfte des »farbenreichen« Mexiko einzuverleiben). Insgesamt fällt das Urteil dieses Amerikaners über das Spanien des 15. Jahrhunderts recht günstig aus. Im Ver­ gleich mit allen anderen Ländern zu dieser Zeit zeichne sich, so schreibt er, das Reich der Katholischen Könige durch einen »höheren moralischen Standard« aus. Und der Vergleich zwi­ schen Isabella von Spanien und Elisabeth von England falle in jeder Hinsicht zugunsten der ersteren aus. Die spanische Königin war nicht nur kultivierter und viel charaktervoller als ihr briti­ sches Pendant, sie war außerdem eine viel fähigere Politikerin.

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Karl Joseph Hefele Der katholische Kirchenhistoriker und Bischof von Rottenburg (1809-1893) ist der Autor des 1844 in Tübingen erschienenen Werkes >Der Cardinal Ximenez und die kirchlichen Zustände Spaniens am Ende des 15. JahrhundertsDer Rabbi von Bacharach< (1840) erzählt Heinrich Heine von einem legendären, von Juden in der Karwo­ che an einem Christenkind verübten Mord, der die Wut des Volkes gegen die Juden kehrte. Daß es falsche Ritualmordbe­ schuldigungen mit anschließenden Ausschreitungen gegen die Juden im Spanien des 15. Jahrhunderts wie auch im mittelalterli­ chen Deutschland und im Polen des 19. Jahrhunderts gegeben hat, daran besteht kein Zweifel. Aber erst jetzt fanden sie Eingang in die Geschichtsschreibung, und dadurch wurde die Legende bestärkt. In Heines Erzählung wurde Spanien übrigens, wie in der Romantik üblich, als ein exotisches Land geschildert, das sogar aufgeklärt war im Vergleich zu den düsteren Verhältnissen im zentralen Europa. Das »faszinierende« Spanienbild der frühen Romantiker verschwand aber unter dem Einfluß der Geschichts­ wissenschaft. Deutschland, das geringere Vorurteile gegenüber Spanien hatte als England, Holland und Frankreich, wurde kriti­ scher seit Jacob Burckhardt.

Spanien als »Gegenbild«

Jacob Burckhardts >Kultur der Renaissance in Italien« (1860) brachte einen neuen Begriff in das europäische Denken: die Kul­ tur. Das 18. Jahrhundert kannte den Begriff Zivilisation, der fast ausschließlich auf das zeitgenössische Frankreich oder besser: auf Paris zutraf. Die Vergangenheit und die Ferne hatten »aufgeklär­ te« Aristokraten nur insofern interessiert, als sie dem höfischen Salonleben der Gegenwart Profil verliehen. »Kultur« dagegen, das Ideal der deutschen Gesellschaft ein Jahrhundert später, war die Verwissenschaftlichung der italienischen Reisen von Goethe und Winckelmann, eine Flucht aus der Gegenwart an einen fernen Ort und in eine vergangene Zeit: ins Italien des 14. und 15. Jahrhunderts, wofür man den Begriff Renaissance fand. Vor 150

allem der Stadtstaat Florenz hatte es den gebildeten Deutschen angetan. Florenz wurde zum Symbol von kultiviertem Leben, eines utopischen, erstrebenswerten Lebens. Kultur bedeutete freie persönliche Entfaltung in einem gut geordneten, möglichst stabilen Staatswesen; ein Maximum an Individualismus hinter gesicherten Grenzen. In Florenz standen Kunst und Bank, Chri­ stentum und Spekulation Hand in Hand. Der Glaube tolerierte neue Empfindungen, für die Kabbala, den Neuplatonismus und sogar für »östliches« Denken. Florenz wurde alles angedichtet, was der kultivierte Deutsche seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erstrebte: Ruhm, eine Vergangenheit, die von der klassischen Antike durchtränkt ist, eine Bibliothek voller kostbarer Folian­ ten. Man war Dilettant und Weltbürger. Goethe und Winckelmann wußten noch, daß sie träumten, Burckhardt und seine Nachfolger nahmen den Traum aber ernst, als ob sie glaubten, Florenz und Athen und ähnliche Oasen hätte es jemals gegeben bis Nietzsche die Kultur platzen ließ. Inzwischen aber blieb Spa­ nien gleichsam auf der Strecke. Denn alles, wofür Florenz stand, war nun ausgerechnet von »Spanien« bedroht. Der fanatische Katholizismus der Gegenreformation, das düstere Kloster Phi­ lipps II. und die Inquisition gaben genau das Gegenbild dessen her, was man idealisierte. Burckhardt übersah dabei allerdings, daß ohne das Schwert Spaniens das wirkliche Italien des 15. Jahr­ hunderts von den Türken vernichtet worden wäre. Pico della Mirándola, Marsilio Ficino, Erasmus von Rotterdam und andere »Vorläufer« der von Burckhardt hochgelobten Kultur hatten viel weniger Illusionen über die wirklichen politischen Verhältnisse ihrer Zeit gehabt als die Deutschen des 19. Jahrhunderts, die »Florenz« als einen Musterstaat rühmten und Spanien als Hemm­ schuh der idealen Kultur verabscheuten. Inzwischen stand dem Kulturtraum der Alptraum gegenüber: Italien war das Licht, Spanien die Finsternis.

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Spanien im Volksglauben

Die Legende lebte vor allem im populären Bereich. Was das Dra­ ma für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts gewesen war, das war für seine zweite Hälfte die Oper. Wem Realismus und Naturalis­ mus in der gehobenen Kunst zuviel wurden, der konnte über das Musikdrama zur guten alten Romantik ausweichen, zu einer ein­ fachen Geschichte mit Helden und Schurken, die häufig vor dem Hintergrund der kunterbunten Welt spielte, die Mittelalter hieß. Weil es um die Arien und die Orchestermusik ging, mußten die Geschichten historisch ja nicht stimmen, sie mußten aber bekräf­ tigen, was man so irgendwie wußte oder gerne glauben wollte. Die Librettisten der Opern haben ganz offensichtlich die »Legen­ de« weitergegeben. So blieb Giuseppe Verdis >Don Carlos« (1868) der gleiche, der er schon hundert Jahre vorher für Schiller gewe­ sen war: ein heldenhaftes Opfer eines tyrannischen Vaters, der mit einer teuflischen Inquisition paktiert hatte. So gut wie gar nichts stimmt in Verdis Version mit der Wirklichkeit überein. Das gleiche gilt für zahllose andere Opern. In Giacomo Meyerbeers »Afrikanerin« (1865) zum Beispiel treffen wir auf einen Großin­ quisitor, der die Entdeckungsreisen des Portugiesen Vasco da Gama zu einer Zeit verhindern will, als es in Portugal noch gar keine Inquisition gibt. Der Unterstellung, die Inquisition habe die Entdeckungsreisen verzögert, steht zudem die Tatsache ent­ gegen, daß Columbus in Diego de Deza, dem Nachfolger Torquemadas, einen seiner begeistertsten Anwälte am spanischen Hof besaß, als er dort um Unterstützung für sein amerikanisches Abenteuer bat. In >La Gioconda« (1876) von Amilcare Ponchielli begegnen wir, diesmal im Venedig des 17. Jahrhunderts, einem verheirateten Inquisitor - eine unbedingte Seltenheit! Nächst der Oper gab auch die Poesie ihr Scherflein: Bei Paul Verlaine zum Beispiel gibt es in >La mort de Philippe II« (1866) einen gruseligen, im Sterben liegenden Philipp II., der im finsteren Escorial liegt und von einem dämonischen Inquisitor gezwungen wird, »Juden zu verbrennen«.

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So kann man, an Hand weniger Beispiele, konstatieren, daß sowohl auf großbürgerlicher wie auf populärer Ebene die Legen­ de vom düsteren Spanien Philipp II. und der Inquisition unver­ wüstlich blieb.

3. Die historische Rekonstruktion Was die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts betrifft, so möchte ich vier Tendenzen ins Auge fassen. Die erste ist neu, die anderen drei sind Fortsetzungen dessen, was im frühen 19. Jahrhundert seinen Anfang nahm.

Aus jüdischer Sicht

Seit etwa 1860 begann die jüdische »Aufklärung« sich durchzu­ setzen, die Suche nach jüdischer Identität im Lauf der Geschich­ te. Das schließt unter anderem ein, daß man die Spanische Inqui­ sition erstmals aus jüdischer Sicht darstellte. Die >Historia social, política y religiosa de los judíos de España y Portugal« von José Amador de los Ríos gilt als ein Meilenstein. Erstmals 1848 veröf­ fentlicht, in erweiterter Auflage 1875, ist diese Geschichte zudem eines der ersten spanischen Zeugnisse der sogenannten wissen­ schaftlichen Methode: soziale Rekonstruktion einer vergangenen Epoche auf Grund von Archivstudien und neuem Zahlenmateri­ al, Historismus auf der Grundlage einer liberalen und positivi­ stisch-utilitaristischen Philosophie. De los Rios war einer der ersten Spanier, die das Vorgehen seines Landes gegen die Juden beklagten, vor allem aus ökonomischen Gründen. Damit schloß er sich den Ansichten der englischen Liberalen und der französi­ schen Enzyklopädisten an, die bereits ein Jahrhundert zuvor die wirtschaftliche Rückständigkeit Spaniens der späten Übernahme des Profitprinzips zugeschrieben hatten. Die Juden bildeten in diesem Prozeß, so de los Rios, ein unentbehrliches Zwischen­

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glied. Aber gerade weil sie im mittelalterlichen Spanien mit dem Finanzwesen betraut waren, wurden sie zur Zielscheibe von Ver­ folgungen. Dem Argument, die Juden hätten sich des Wuchers schuldig gemacht und damit die Wut des Volkes auf sich gezogen, begegnet de los Rios mit der Erklärung, sie seien zu bestimmten Berufen gezwungen worden, unter anderem zu dem des Steuer­ eintreibers. Außerdem hätten sich die Könige der Juden als Finanzberater bedient, dadurch seien sie an den Hof gelangt und mit dem Adel in Kontakt gekommen. Dabei kam es zu Ver­ schwägerungen, und als die Juden an Ansehen gewannen, nah­ men Eifersucht und Neid kein Ende, und so flammte der Juden­ haß auch in den besseren Kreisen von Zeit zu Zeit auf. Im allge­ meinen hatten die Juden ein Interesse an einer starken königli­ chen Autorität. Schwache Könige wurden bald zum Spielball der sie umringenden Favoriten und Höflinge, und dann erhielten Demagogen auf Grund der gegensätzlichen politischen Interes­ sen freie Hand zur Aufwiegelung der Meute. Dann wurden Judenviertel überfallen, ohne daß der König und die Kirche viel dagegen tun konnten oder wollten. So war es 1391, als das Judenviertel von Sevilla, eines der größ­ ten und wohlhabendsten in Spanien, vom Volk geplündert wur­ de. So sehr auch Rom und der König von Kastilien diese Frevel­ tat verurteilten, gegen die Anstifter wurde, laut Amador de los Rios, offiziell niemals Anklage erhoben. Nach diesem Überfall ließen sich die Juden in großem Umfang taufen, im Zuge der mas­ siven Bekehrungskampagne des Vicente Ferrer. De los Rios sieht einen direkten Zusammenhang zwischen 1391 und 1492: In die­ sen hundert Jahren seien so viele Juden konvertiert, daß zuerst die Inquisition und dann die Vertreibung durchgeführt wurden, denn die Haltung der »neuen Christen« war überwiegend jüdisch, und zwar so weitgehend, daß de los Rios keinen Unter­ schied macht zwischen »conversos« und Juden. Das war eine neue Sicht, denn bislang rechneten die (christlichen ) Historiker die »conversos« oder »marranos« zu den Christen. Die Inquisiti­ on habe sich offiziell nie mit den Juden beschäftigt. Deren Ver­ 154

folgung schreibt de los Rios dem christlichen Neid und dem jüdi­ schen Selbsthaß zu. Die heftigsten Verfolger - Pablo Cristiano, Raymundo Martin, Jerönimo de Santa Fe, Alonso de Espina und Tomas de Torquemada - seien sämtlich von jüdischer Abkunft gewesen. Nebenbei weist de los Rios darauf hin, daß Rom es offi­ ziell allezeit als seine Pflicht angesehen habe, die Juden vor Aus­ beutung zu schützen, aber auch, sie zu bekehren. So wurden sie dreimal im Jahr gezwungen, eine Predigt anzuhören, in der nach­ gewiesen wurde, daß Jesus Christus der Messias war. Was Tor­ quemada angeht, so übernimmt de los Rios das negative Bild Llorentes, auch dessen Auffassung, Torquemadas Macht sei größer gewesen als die von Papst und König. Je mehr sich das 19. Jahrhundert dem Ende zuneigte, desto umfangreicher wurden die Archivstudien. Immer neues Material, darunter Inquisitionsprotokolle, kam ans Tageslicht. Unter ande­ rem durch die Arbeiten von Isidor Loeb, Heinrich Graetz - Ver­ fasser einer elfbändigen >Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart* (1853-1876) - und Fidel Fita. In einem später oft zitierten >Boletin de la Real Academia de la Historia* (Teil 3, Heft 5, Madrid 1893) finden sich ihre Funde ver­ zeichnet. Eines der ausgegrabenen Stücke ist eine >Widerlegung des Talmud* durch einen »converso«, die in Torquemadas Hände gelangt war. Aus ihr ist zu ersehen, wie feindselig die Juden den Christen gegenüber waren, und das paßte gut zu der Kampagne, die der Großinquisitor führte, um die Vertreibung der Juden von 1492 durchzusetzen. Außerdem ließ Torquemada - entgegen den Grundsätzen der Inquisition - Rabbiner als Belastungszeugen auftreten. Dabei sei darauf hingewiesen, daß die »conversos« auch für die Rabbiner ein Stein des Anstoßes waren. Man nannte sie »meshumad«, Verräter und Überläufer, also Opportunisten. Nur die »anusim«, also Juden, die sich unter Zwang taufen ließen, wurden von der Synagoge offiziell noch als Juden anerkannt. Wie viele zur ersten oder zweiten Kategorie gehörten, bleibt die Fra­ ge. Es steht nur fest, daß in Portugal der Zwang eine Rolle gespielt hat. In Spanien wurde offiziell niemand gezwungen, Christ zu

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werden. Andere neue Unterlagen betreffen den Fall des bereits erwähnten sogenannten »heiligen Kindes von La Guardia«. Im Jahre 1491 sollen einige »conversos« und Juden ein Christenkind vom Portal der Kathedrale in Toledo entführt und in der Karwo­ che in einer Höhle in der Nähe des Dorfes La Guardia gekreuzigt haben. Torquemada ließ den Fall, der seiner Strategie zur Vertrei­ bung sehr gelegen kam, gründlichst untersuchen. Zunächst ist zu sagen, daß diesem Fall in der Geschichtsschreibung soviel Gewicht zukam, als wäre es ein zentrales Ereignis zur Erklärung des Geschehens von 1492. Einigen früheren Geschichtsschrei­ bern (Hernando del Castillo, Samuel Usque) war die Affäre dage­ gen lediglich eine Fußnote wert gewesen, oder sie war als Illust­ ration benutzt worden. Torquemada beschuldigte die Juden zudem, die »conversos«, die offiziell Christen waren, zu zwingen, in die Synagoge zurück­ zukehren. Mit der Vertreibung von 1492 hoffte er, daß die »neu­ en Christen«, die nun nicht mehr zur Synagoge zurück konnten, von selbst zu guten Christen würden. Loeb, Graetz und Fita sahen die Verfolgung durch die Inquisition deshalb als so unmenschlich an, weil es dabei um so unschuldige Dinge gegan­ gen sei wie »das Festhalten an jüdischen Ritualen«. Bei allem Respekt für ihre Forschung in den Archiven erscheint mir ihr Urteil als ziemlich oberflächlich oder als selbstverständlich, als auf der Hand liegend. In Wahrheit wiederholen Loeb, Graetz und Fita mit ihren Detailstudien das Urteil von Llorente.

Die katholische Reaktion

Zum Staub, den der Untergang des kirchlichen Staats aufwir­ belte, gehört die antiliberale Enzyklika »Quanta cura< von Papst Pius IX. von 1864, der eine Liste von achtzig »Irrtümern unserer Zeit«, der sogenannte »Syllabus«, angefügt war. Davon aufge­ weckt und in den Fußstapfen von Chateaubriand und Joseph de Maistre, glaubten einige Historiker weiterhin an die Wiederher156

Stellung der Kirche als politischer Macht. Einer von ihnen ist der Spanier Francisco Javier García Rodrigo, dessen »Verdadera historia de la inquisiciön< im Jahre 1878 in Madrid erschien, im Anschluß an die Wiedererrichtung der Monarchie nach dem Scheitern der kurzlebigen »gottlosen« Ersten Republik. García Rodrigo ist ein typischer Vertreter der katholischen Reaktion, der von dem Historiker René François Rohrbacher in seiner >Histoire universelle de l’église catholique< (28 Bde, Paris 184249) vorgetragenen Auffassung, das Kreuz sei ohne das Schwert zum Untergang verurteilt. Trotzdem schreibt er, die Inquisition sei ein kirchliches Instrument gewesen, das aber nur der Staat benutzt habe. So weit durften de Maistre und frühere Reaktionä­ re gar nicht gehen; sie unternahmen vielmehr alles, um die Kirche von der Inquisition freizusprechen und die Verantwortung dem weltlichen Arm anzulasten. García Rodrigo führte triumphie­ rend an, die Inquisition habe Spanien vor den Religionskriegen verschont, die im 16. und 17. Jahrhundert andere europäische Länder zerrissen. In Spanien sei es zu dieser Zeit ruhig gewesen; deswegen habe es das Goldene Zeitalter des Geistes und der Erfindungen gegeben. Die Inquisition habe Kunst und Wissen­ schaft gefördert, indem sie die Seelen vor Unsinn und Aberglau­ ben bewahrt und gegen die materialistische Philosophie geschützt habe. Damit wendet sich García Rodrigo gegen seine eigene Zeit. Früher, führt er aus, da habe es noch echte Ketzer gegeben, heute dagegen gebe es nur »unbewußte Ketzer« und »schlechte Katho­ liken«. Im Verschwinden der scholastischen Philosophie erblickt er die eigentliche Ursache der Oberflächlichkeit der Katholiken und der Beschränktheit der Ketzer, die er überall wahrnimmt. Der echte katholische Denker steuere das Paradox als das We­ sensmerkmal seiner Philosophie an. Er verwerfe sowohl den rationalen wie den individualistischen Skeptizismus - der aus dem Nominalismus, einer Absplitterung des scholastischen Den­ kens, gekommen sei - als auch den utopischen und materialisti­ schen Pantheismus, der aus dem Realismus, der anderen Absplit­

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terung des scholastischen Denkens, entstanden sei. Diese beiden Extreme beherrschten die Philosophie des 19. Jahrhunderts. Bei­ des seien Irrwege. Der »haereticus« setze seine persönliche Auf­ fassung auf Kosten des Ganzen oder der Totalität durch. Der Schaden, den er damit anrichte, sei scheinbar unbedeutend, er treffe aber den Körper der Gesellschaft und führe entweder zur Verfremdung oder zum Totalitarismus. Kirchenväter des frühen Mittelalters wie Martin von Tours, Augustinus und Ambrosius seien erklärte Gegner der Gewalt gegen Häretiker gewesen. Als aber im 13. Jahrhundert die Katharer Unruhe stifteten, sei die Gefahr für die Gesellschaft so groß gewesen, daß der Kirche nichts anderes übrig geblieben sei, als zum Kreuzzug gegen sie aufzurufen; zum ersten »inneren« Kreuzzug, denn bis dahin führte die Kirche nur Kreuzzüge »nach außen«, gegen das von den Mauren beherrschte Heilige Land. García Rodrigo ist der Meinung, daß die Kirche »Blut vergießen dürfe«, wenn die Ket­ zer ihren Fortbestand ernsthaft bedrohten. In seiner Geschichte findet sich keine Kritik an der Kirche. Llórente stellt er als Verrä­ ter dar, der sich für französisches Geld verkauft habe; Prescott wirft er Protestantismus vor. García Rodrigos Fazit lautet, daß die Gegner der Inquisition in folgenden Punkten versagt hätten: 1. Sie haben Ketzer und Judaisierende für unschuldig gehalten; 2. sie haben die Härte der Inquisition und die Zahl der Opfer übertrieben; 3. sie haben behauptet, daß hochgestellte Personen der kirchlichen Willkür ausgesetzt waren. García Rodrigo beruft sich auf Luis de Páramo, Melchor Machanaz und unparteiische Ausländer. Torquemada wird von ihm von jeglichem Makel ger­ einigt und zum Helden der Wahrheit erhoben. García Rodrigo mochte ein Raktionär sein, an Intelligenz und Mut fehlte es in seiner >Wahren Geschichte der Inquisition< nicht, im Gegensatz zu anderen spanischen Reaktionären, die sich auf fromme Entrüstung beschränkten. Cayetano Cienfuegos, Domi­ nikaner und Autor einer >Breve reseña histórica del Real Colegio de Santo Tomás de Avila< (1895), ist dafür ein typisches Beispiel. In diesem Buch über das von Torquemada in Avila begründete 158

Kloster von Santo Tomás (vor den Mauern), in dem die endgülti­ ge Vertreibung der Juden geplant wurde, rühmt er die Inquisiti­ on als die »Geheimpolizei des Heiligen Geistes«, die gegen die Geldwölfe und die Wucherer zu kämpfen hatte. Torquemada sei die »Quintessenz des besten Spanien«. Diese Quintessenz ging im Spanien des 19. Jahrhunderts verloren. Die Franzosen unter Napoleon, die 1804 aus dem Kloster einen Pferdestall machten, haben die Überreste von Torquemada zu Asche gemacht und in alle Winde zerstreut. Spanien hat keinen Fürsprecher und Vertei­ diger mehr, klagt Cienfuegos. Letzteres stimmt nicht ganz. Zeugen dafür sind zum Beispiel die nichtspanischen Reaktionäre: die Deutschen Stephan Lederer (>Der spanische Kardinal Johann von TorquemadaKirchengeschichte von Spanien«, 1879), beide Verkünder des päpstlichen >Syllabus< und Anhänger des ultra­ montanen Katholiken Rohrbacher, jedoch weniger engagiert als García Rodrigo. Der erste ist voll des Lobes für Juan de Torque­ mada, den Onkel des Großinquisitors, der in der bewegten Zeit des Schismas und der Konzilien die Macht und die Unfehlbarkeit des Papstes gegen die Ansprüche der Kardinäle verteidigte - ein aktuelles Thema in der Zeit Pius’ IX. und des kommenden Modernismus. Trotzdem meint Lederer, der Kardinal sei in sei­ nem Enthusiasmus zu weit gegangen. Den Neffen Tomás de Tor­ quemada getraute er sich jedoch nicht zu verteidigen. Ebenso wenig wie Gams, der die Verantwortung für die Inquisition von der Kirche auf den Staat abwälzt. Llórente wird von Gams als Renegat und Lügner hingestellt, Prescott fertigt er als »Dumm­ kopf« ab; das spanische Volk wird als fanatisch gerügt und das Habsburger Königshaus des autokratischen Verhaltens bezich­ tigt. Spaniens Christianisierung der Neuen Welt dagegen erntet Lob. Nach Gams wurden die Juden zu Recht vertrieben, weil sie einen Staat im Staate bildeten; die späteren projüdischen Histori­ ker (u. a. Graetz und Amador de los Rios) hätten unter dem Ein­ fluß von Llórente die jüdische Gefahr für die spanische Krone bagatellisiert. Tomás de Torquemada ist jedoch für den deutschen

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Katholiken Gams zu sehr verleumdet und zu belastet, als daß er dessen Entmythologisierung betreiben könnte. Der bei weitem vielseitigste katholische Historiker ist Ludwig Freiherr von Pastor (1854-1928), Professor in Innsbruck, Direk­ tor des Österreichischen Historischen Instituts in Rom, zuletzt Gesandter Österreichs beim Vatikan. Von ihm stammt eine >Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters« (16 Bde, 1886-1933). Das Besondere an dieser Geschichtsschreibung ist das vorur­ teilsfreie Interesse des Autors. Wenn man weiß, daß der Vatikan ihm sein Archiv vollständig öffnete und daß sein Werk von katho­ lischer Warte aus verfaßt wurde, könnte man eine Verteidigung der päpstlichen Politik erwarten oder wenigstens eine Be­ schwichtigung. Das ist aber nicht der Fall. Niemand hat ein so detailliertes und nuanciertes Bild von der Periode gezeichnet, die man Renaissance nennt, wie Pastor. Keine idealistische Darstel­ lung der Kultur im Stile Burckhardts, keine theoretische Ge­ schichtsschreibung wie im 20. Jahrhundert, sondern die komplet­ te »Wirklichkeit«, wobei möglichst viele Facetten Italiens seit dem Ende des 15. Jahrhunderts beleuchtet werden. Voltaire kam in seinem »Essai sur l’histoire générale et sur les mœurs et l’esprit des nations« zu dem Schluß, die Geschichte sei nichts anderes als ein Katalog der menschlichen Niederträchtig­ keiten. Zynisch oder nicht, sein Fazit steht jedenfalls in flagran­ tem Widerspruch zu seinem Fortschrittsglauben, für den er in der Geschichte nach Bausteinen suchte. Pastor kommt zum gleichen Schluß wie Voltaire, teilt aber nicht dessen Aberglauben. Unter den Schlechtigkeiten, die in seinem Werk Revue passieren, fehlen die der Päpste keineswegs: Sixtus IV. war ein Nepotist, Inno­ zenz VIII. ein Schwächling und Alexander VI. das Opfer seiner eigenen Laster. Daß er Kinder gezeugt hatte, wurde ihm von sei­ nen Zeitgenossen, die das gewohnt waren, nicht übelgenommen; daß er das Papstamt gekauft hatte, wurde ihm als Sünde ange­ kreidet. Die Herrscher in den italienischen Stadtstaaten standen in ihren Lastern dem Heiligen Vater in nichts nach. Der französi160

sehe König Karl VIII., der das Heilige Grab befreien wollte und statt dessen Neapel besetzte, war ein von seinen Höflingen irre­ geleiteter Wirrkopf, in dem Savonarola ganz zu Unrecht einen neuen Kyros erblickte; Savonarola war laut Pastor kein Heiliger, sondern ein Pseudoprophet, der von Alexander VI. ganz zu Recht verfolgt wurde. Niemand habe das Recht, die Kirche im Namen Gottes zu belehren, und niemand brauche die Welt vor Gott zu verantworten. Wie heidnisch und sinnenfroh die Päpste auch immer gewesen waren, der Glaube ist von keinem von ihnen angetastet worden. Eine große Gefahr bestand jedoch darin, daß er in der Verweltli­ chung ertrinken würde. Leo X. mußte darum 1513 sogar die »Unsterblichkeit der Seele« zum Dogma erklären, denn was ehe­ dem für jedermann selbstverständlich war, drohte in Vergessen­ heit zu geraten und zu einem bloßen Thema der spekulativen Philosophie zu werden. Pastor legt überzeugend dar, daß die Renaissance, so sehr sie sich auch aus religiöser Sicht verirrt hat­ te, doch von der Aufklärung noch sehr weit entfernt war. Machiavelli, Poggio, Lorenzo di Medici, Valla und andere Humanisten hatten viel weniger mit Voltaire, Diderot und anderen Atheisten des 18. Jahrhunderts gemein, als die Kulturhistoriker des ^.Jahr­ hunderts sich das vorstellten. Darum ist es, nach Pastor, ein Irr­ tum, im Italien des 15. Jahrhunderts ein Vorstadium der Moder­ ne sehen zu wollen. Wie wenig tugendsam die genannten Renaissancegeister auch lebten, das einfache Volk war im allgemeinen »fromm«. Auch aus dem Adel kann Pastor zahlreiche bewundernswürdige Beispiele der Askese anführen. Es mangelte dem 15. Jahrhundert nicht an vorbildlichem Leben, an dem man sich religiös und ethisch erbau­ en konnte. Der Himmel war noch sichtbar auf Erden, und inmit­ ten von Sinnlichkeit und Untugend wandelten echte Heilige, die auch von den verkommensten Würdenträgern sehr verehrt wur­ den, wenn sie ihnen nicht gar nachstrebten. Das war nun wirklich ein sehr großer Unterschied zur Aufklärung, in der das Sünden­ bewußtsein schwand und Heilige verlacht wurden. Denn die Phi­ 161

losophen des 18. Jahrhunderts glaubten nicht mehr an die Seele und ihre Bestimmung für die Ewigkeit. Der Florentiner mochte sinnenfroh und auf Spekulation aus sein, er war aber kein Got­ tesleugner. Pico della Mirándola ist dafür das beste Beispiel; die Modernität, die ihn für sich in Anspruch nimmt, unterschlägt sein Lebensende. Über Spanien spricht Pastor auffallend positiv; Ferdinand und Isabella heben sich günstig ab von den anderen Monarchen und Herrschern ihrer Zeit. Viel weniger zum Nepotismus geneigt als die italienischen Fürsten, unterschieden sich die spanischen durch die Berufung von tüchtigen Leuten in führende Positionen. Der spanische Klerus war im Vergleich zum italienischen vorbildlich; Simonie, eine römische Plage, gab es am spanischen Hof nicht. Die Tatsache, daß Königin Isabella über ihren Gesandten in Rom - den Vater des Dichters Garcilaso de la Vega - Papst Alex­ ander VI. fragen lassen konnte, ob er sich nicht anständiger auf­ führen könne, spricht für sich. In der Inquisition sah Pastor ein »gemischtes Tribunal«, in das Staat und Kirche verwoben waren, wobei die Kirche letztendlich die Verantwortung trug. Im Herbst des Mittelalters oder der Renaissance waren Kirche und Staat noch nicht voneinander zu trennen, und deshalb ist es historisch ungerecht, die Inquisition einer der beiden Gewalten anzulasten oder zuzusprechen. Rom hatte seine Zustimmung für das »heili­ ge Tribunal« gegeben, weil in Spanien eine ganz besondere Situa­ tion entstanden war als Folge der großen Zahl von »judaisierenden Christen«, von denen einige hohe Posten besetzt hatten. Man habe diese Gruppe bereits als für den Staat gefährlich angesehen. Torquemada war ein »weltlicher« Inquisitor, aber Rom trug für sein Wirken die Verantwortung. Pastor fällt kein Urteil über Tor­ quemada und auch nicht über die Inquisition in dieser ihrer Zeit. Urteile über Epochen abzugeben, dazu sei der Historiker nicht befugt, denn dazu müßte er alle Epochen bis in die Details überblicken können, und das sei keinem Menschen gegeben.

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Die philosophische Annäherung

Fjodor Dostojewskij ist vielleicht derjenige, der das »Problem« der Inquisition am tiefsten in ihrem Wesen ergründet hat. Nicht nur die des 15. Jahrhunderts, sondern die Inquisition aller Zeiten. In der Legende vom Großinquisitor in den »Brüdern Karamasow« (1880) stellt er den christlichen Staat dem liberalen Staat gegen­ über, wobei er das Paradox des ersten und das Gefährliche des zweiten ganz deutlich nachweist. Das Paradox des christlichen Staates wird deutlich bei der Begegnung des Inquisitors mit dem »zurückgekehrten Christus«. Die Welt ist untauglich für die Leh­ re, auch die andere Wange hinzuhalten, für die »Freiheit« des Evangeliums. Denn die Freiheit setzt das persönliche Gewissen voraus, und die meisten Menschen suchen in erster Linie Ge­ wißheit und Sicherheit, Brot und Spiele. So war die Masse, so ist sie, und so wird sie bleiben. Und das erfordert unbedingt eine Führung von oben, und Führung ist stets auf bestimmte Prinzi­ pien gegründet, sei es auf die der Kirche oder des säkularisierten Staates. Die Liberalen werfen der Kirche ihre Kreuzzüge und die Inquisition vor, die Kirche kann den Liberalen und den Soziali­ sten mit dem gleichen Recht deren Kreuzzüge und deren Inqui­ sition vorhalten, denn auch sie verfolgen, was nicht in ihre Ideo­ logie paßt. Dostojewskij weist an der Person des Aljoscha die Un­ vereinbarkeit von Fortschrittsglauben und Menschenliebe - der Paradepferde der Liberalen - nach. Wer die »Seele« leugnet und Gott leugnet, wird schließlich auch die Menschen leugnen, und der säkularisierte Staat wird zu einem totalitären Monster entar­ ten. Aljoscha folgt Christus, ohne jedoch - konsequenterweise dem christlichen Staat abzuschwören. Iwan, der Vertreter des liberalen Denkens, stellt Christus und Torquemada gegenüber und läßt den Inquisitor den Sohn Gottes verfolgen, weil die Wirklichkeit lehrt, daß die Welt für seine Fro­ he Botschaft nicht reif ist. Die teuflische Vereinfachung des Man­ nes, der den Verlust des Gewissens für die wahre Ursache der Inquisition hält, der aber sein Gewissen selbst längst verloren hat, 163

hat in Wirklichkeit die Vernichtung des Christentums zum Ziel. Der kluge Aljoscha, die Maske Dostojewskijs, konfrontiert die liberale Figur mit den Folgen seines eigenen Ideals. Wenn der Staat sich von der Kirche lossagt, entsteht früher oder später eine unmenschliche Ordnung (wofür Hitler, Stalin, Big Brother als Symbole gelten können), oder, zu Ende gedacht, der »freie« öko­ nomische Urwald, in dem der Stärkste überlebt. Dostojewskij nimmt damit das ganze 20. Jahrhundert vorweg. Big Brother, ob nun kommunistisch oder kapitalistisch, leugnet Gott, der Inquisitor nicht. Der verbrannte Leiber, um Seelen zu retten, Big Brother verbrennt Leiber, die keine Seele haben. Für das Indivi­ duum auf Erden mag das nichts bedeuten, aber für die Gesell­ schaft ist das Tag für Tag von Bedeutung. Der moderne Mas­ senmensch ist den irdischen Gerichten völlig ausgeliefert; der Untertan einer christlichen Monarchie kann von der Inquisition verfolgt und verbrannt werden, seine unsterbliche Seele ist jedoch in den Händen des ewigen Gerichts. Auch die Seele Torquemadas, der sich verantworten muß. Big Brother glaubt nicht an See­ len. Er verkörpert die »gewissenlose« oder »unbewußte« Ord­ nung, die nach dem Verschwinden der Inquisition auftreten wird. Die verfallende Kirche ist erträglicher als der säkularisierte Staat. Dostojewskij nimmt den Faden von Joseph de Maistre auf und wirft mit seiner Analyse seine Schatten weit voraus. Marcelino Menéndez y Pelayo, Autor der >Historia de los hete­ rodoxos españoles« (1880), erwartet von der Wissenschaft das Heil. Dieser bedeutendste spanische Kulturhistoriker des 19. Jahrhunderts hielt es zunächst für notwendig, alle Denker und Autoren und Sekten aus dem Staub von tausend Jahren spani­ scher Geschichte zusammenzufassen, die nicht zur orthodox­ katholischen Tradition gehört hatten. Er eröffnete damit ein neu­ es Kapitel der spanischen Geschichtsschreibung. Menéndez y Pelayo lehnt Verleumder wie Puigblanch ab, rühmte aber auslän­ dische protestantische und jüdische Historiker, die die Inquisiti­ on auf kritischer und wissenschaftlicher Basis verurteilt hatten. Er mußte feststellen, daß Spanien traditionell ein katholisches

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Land ist, daß aber stets Andersgläubige auf spanischem Boden gelebt haben. Das Judentum und der Islam bleiben dort unüber­ sehbar, und sie haben Einfluß auf das spanische Christentum gehabt. Die Vertreibung von 1492 war nach Menéndez y Pelayo »weder gut noch schlecht«, wobei er hinzufügt, die Juden seien »zu ihrem eigenen Besten« verbannt worden. Das Material, das Menéndez zusammentrug, zeigt wenig Zusammenhang; das Werk steht für eine eklektische Gelehrsamkeit, die für das kom­ mende Jahrhundert typisch wurde.

Die Legende Die Legende ist, wie gesagt, unverwüstlich. Das romantische Drama lebte in der Oper fort, 1882 erschien aber von dem welt­ berühmten Victor Hugo noch ein Drama, das in vielen populären Romanen des 20. Jahrhunderts fortlebte: >TorquemadaIsabel la Católica, fundadora de España* (1938), daß neue Archivalien unser Bild des 15. Jahr­ hunderts nicht wesentlich verändern würden. Die wichtigsten Fakten seien bereits in den Berichten der alten Chronisten zu fin­ den. Spätere Geschichtsschreiber hätten nichts anderes getan, als diese Berichte mit den eigenen Worten wiederzugeben, vielleicht angereichert mit späteren Ereignissen, zumeist gesehen von einem bestimmten Standpunkt aus und durchgehend geprägt von und gedeutet aus den zeitgenössischen Verhältnissen. Dokumen­ te, die lange unter dem Staub der Archive gelegen haben, führten selten zu einer neuen Sicht der Vergangenheit und handelten fast nur von Nebensächlichkeiten. Das sagt Silio Cortés im Hinblick auf die Regierungszeit der Katholischen Könige und die Spani­ sche Inquisition. Dem modernen Historiker, der sich der Inqui­ sition zuwendet, bleibt nach seiner Meinung nichts anderes übrig, als die großen Ereignisse nachzuerzählen. Wie er das tut, werde durch sein Urteil bestimmt. Was die Inquisition angeht, so kommt Silio Cortés zu dem Schluß, jeder Geschichtsschreiber sei entweder Ankläger oder Apologet. Wer versuche, einen Stand­ punkt zu vermeiden, falle unweigerlich in eine lästige Indifferenz oder in Gleichgültigkeit. Das Buch von Silio Cortés, repräsenta­ tiv für Franco-Spanien, ist eine Verherrlichung der Katholischen Könige und auch eine Verteidigung der Inquisition. Fast ein halbes Jahrhundert später, nach dem Tod Francos, schrieb der Historiker Angel Alcalá in seiner Einleitung zu dem Sammelwerk >Inquisición española y mentalidad inquisitorial* (1984), daß unter der Diktatur in Spanien keine kritischen Studi­ en über die Inquisition erscheinen durften. Die etwa dreißig Spe­

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zialisten aus den verschiedensten Nationen, die an diesem Buch über die Spanische Inquisition mitarbeiteten, hatten in in- und ausländischen Archiven minutiöse Forschungsarbeit geleistet. Die Beiträge beschäftigen sich mit Einzelfragen des Inquisitions ­ geschehens, mit genauen Datierungen, finanziellen Aspekten und demographischen Analysen, und alles das mit Tabellen, Zahlen und Fußnoten: Es ist der Niederschlag von Kongressen, die zwi­ schen 1976 und 1983 mit dem Ziel stattgefunden hatten, zu »eva­ luieren«, was die Inquisition für Spanien bedeutet hat. Fast alle Forscher berufen sich auf das Buch >A history of the Spanish inquisition< (1906) von Henry Charles Lea als Grundlage der »wissenschaftlichen Arbeitsmethode«. Daß Lea die Inquisition verurteilte, wird jedem Leser klar; für seine Nachfolger gilt das­ selbe. Der wichtigste Unterschied zu seinen Vorgängern aus dem 19. Jahrhundert ist der Zeitabstand und das aus diesem Grunde geringere Engagement für das Thema. Alcalá und seine Beiträger vertreten den für die siebziger und achtziger Jahre unseres Jahr­ hunderts an den Universitäten typischen Ansatz. Die Spanier in diesen Jahrzehnten suchen sich deutlich gegen die Franco-Peri­ ode abzusetzen. Man kann der Inquisition wieder mit Kritik begegnen, was auch die Wiederveröffentlichung von Juan Anto­ nio Llorentes >Historia crítica de la Inquisición española< von 1812 zeigt. Uber eines ist Angel Alcalá mit Silio Cortes einer Mei­ nung: Es gibt nicht Neues über die Inquisition.

Was nun das 20. Jahrhundert angeht, scheint es mir deswegen gerechtfertigt, die Bewertung zentral vorzunehmen. Die Ge­ schichtsschreiber der Inquisition - und wir berücksichtigen hier vor allem ihre Anfangszeit, die Zeit Torquemadas - lassen sich etwa in folgende Gruppen einteilen: 1. Ankläger, Gegner, Kritiker; 2. Verteidiger, Apologeten; 3. Innovative, Neuerer; 4. Unbefangene, Unkonventionelle, »Paradoxe«. Die dritte Gruppe enthält die Historiker, die, von den bekannten 170

Tatsachen ausgehend, zu einer überraschenden Interpretation gelangen; die vierte umfaßt die Betrachter, welche, die Komple­ xität von Mensch und Gesellschaft im Blick, gar kein historisches Urteil fällen wollen. Es ist natürlich klar, daß die beiden letzten sich in manchen Bereichen mit den beiden ersten überschneiden.

1. Ankläger Im allgemeinen unterscheiden sich die Ankläger von den Vertei­ digern dadurch, daß sie die Vergangenheit nach Maßstäben ihrer eigenen Gegenwart beurteilen. In Freiheit und Gleichheit, Plura­ lismus und materiellem Wohlstand sehen sie wichtige Errungen­ schaften der neuen Zeit und in der Geschichte den Prozeß, der zu diesen Resultaten geführt hat. Der Fortschrittsglaube stellt ihnen eine klassenlose Gesellschaft von Gleichberechtigten in Aussicht, möglichst ohne Grenzen und unter der Regierung von überna­ tionalen humanitären Einrichtungen, die unter einem Weltparla­ ment stehen, das Krieg und Hunger verbannt. Einst hatte die Kir­ che diese Funktion. Dann hatten die einzelnen Staaten dafür zu sorgen, daß die menschlichen Gemeinschaften sich nicht gegen­ seitig ausraubten und ausrotteten. Weil die Mittel dazu nun umfassender als je zuvor geworden sind, ist die Utopie zu einer zwingenden Notwendigkeit geworden. Daß Freiheit der Preis der Utopie ist, kann man nach den tota­ litären Experimenten von Kommunismus und Faschismus kaum noch bezweifeln; andererseits ebensowenig, daß das Prinzip des Laissez-faire den Urwald zur Folge hat, in dem der Stärkere über­ lebt. Auch die Auflösung der Mitten setzt dem ewigen Gesetz kein Ende, nach dem des einen Brot des anderen Tod ist, und daß der Reichtum des einen Teils der Erde aus der Armut des anderen Teils stammt. Skepsis gegenüber dem allgemeinen Fortschritt und der Verbesserung der Menschheit als Pessimismus abzutun, ist für die Utopisten kennzeichnend. Wenn Pessimismus und Optimis­ mus weit mehr mit »kulturellen Verhältnissen« als mit »philoso-

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phischen Traditionen« zu tun haben und auf »individuelle Auf­ fassungen über das relativ Gute und Böse in der Welt« zurückge­ hen, »das unserer persönlichen Erfahrung der Welt entspringt«, und wenn »Optimismus und Pessimismus je nach dem individu­ ellen Temperament und den ganz persönlichen Erfahrungen vari­ ieren«, so die >Encyclopedia of philosophy< von 1967, dann kann man, was die Ankläger der Inquisition betrifft, daraus folgern, daß sie von einem sozialen Optimismus getrieben sind. Man fin­ det sie bei den Liberalen und den Marxisten, bei den Humanisten und bei progressiven Christen.

Kirche und Staat Ob die Kirche oder der Staat für die Inquisition verantwortlich gemacht werden müssen, diese Frage hat besonders die Histori­ ker zu Anfang des 20. Jahrhunderts beschäftigt. Für die Schuld­ zuweisung an die Kirche können als Exempel Henry Charles Leas schon erwähntes Werk, >Torquemada and the Spanish inquisition< (1913) von Rafael Sabatini und »Torquemada und die Spa­ nische Inquisition< (1926) von Emil Lucka angeführt werden. Lea wiederholt, in der Nachfolge Voltaires, die Kirche lehre, daß »Gerechtigkeit und Menschlichkeit Sünden gegen Gott« seien. Sabatini stellt, in den Fußstapfen Llorentes, das spanische Volk als Opfer einer von der Kirche bewahrten Finsternis hin; die Ketzer seien die Fackelträger von Kultur und Fortschritt gewesen. Lucka, der die Auffassungen von Lea und Llorente wieder vor­ bringt, wendet sich gegen die deutschen Historiker Leopold von Ranke und Ludwig Pfandl, die seiner Meinung nach zu Unrecht ihre Hand schützend über die Kirche hielten und die Inquisition verharmlosten. Alle drei Autoren sind sich darin einig, daß die Inquisition ein politisches Mittel war, mit dem die Einheit Spani­ ens erreicht werden sollte, die Kirche dieses Mittel jedoch zu Unrecht geheiligt habe. Der marxistische Historiker Henry Kamen (>The Spanish inquisitiom, 1965) teilt die bislang vorge­ 172

stellten Ansichten, meint jedoch - mit Lea und gegen Llorente und Sabatini daß die Inquisition, obschon der Kirche anzula­ sten, ganz gewiß auch dem spanischen Volkswillen entsprungen sei. Daß nicht die Kirche, vielmehr der Staat die Verantwortung für die Inquisition getragen habe, ist die Meinung von Marguerite Jouve (>Torquemada, grand-inquisiteur d’EspagneSpaanse aspecten en perspectieven*, 1939) und Pierre Dominique (>L’inquisitionNeuen Katechismus’* die Inquisition »eine schwarze Seite in der Ge­ schichte der Kirche«; man müsse sie als ein »politisches Instru­ ment«, das der Gesellschaft eine religiöse Identität aufdrängen wollte, verurteilen. Die spezielle Situation Spaniens im 15. Jahr­ hundert wurde von den Herausgebern nicht in Betracht gezogen.

Konvertierte und Juden Die Chronisten des 15. Jahrhunderts und die Geschichtsschreiber der folgenden Jahrhunderte haben stets deutlich unterschieden 173

zwischen Juden und Bekehrten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnt diese Unterscheidung zu verschwim­ men. Unter dem Einfluß von José Amador de los Rios schert Lea die »conversos« und die »judaisantes« über einen Kamm, wodurch der Eindruck entsteht, die Inquisition habe alle Bekehr­ ten verfolgt. Cecil Roth (>A history of the marranosInquisiçâo e cristäos novosInquisitionDe Spaanse Inquisitie en de Portugezem, 1971, und >Un portugues entre los castellanos«, 1974), geht hervor, daß die Portugiesen nicht immer Juden waren. Die Inquisition des 17. Jahrhunderts besaß nicht mehr die Unterstützung der Monarchie und operierte sogar gegen die »ökonomische Politik« der könig­ lichen Administration (wie Gregorio Maranon und J. H. Elliot im Zusammenhang mit dem Grafen und Herzog von Olivares, dem starken Mann König Philipp IV, nachgewiesen haben). Der Staat distanzierte sich damals von der Inquisition, die die »Reinheit des Glaubens« für ihre eigenen Ziele mißbrauchte. Nach Willemse, der sich unter anderem auf die spanischen Soziologen Julio Caro

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Baroja und Antonio Domínguez Ortiz beruft, wurden die Por­ tugiesen der finanziellen Wirren nach dem Sturz Olivares’ geop­ fert. 1643 gewannen die Falken unter den Inquisitoren die Ober­ hand; die portugiesischen »Juden« nahmen mit Juden im Ausland Kontakt auf; das Kapital floß wieder ab, und wer damit zu tun hatte, konnte nach der Reinheit des Glaubens gefragt werden. Willemse berichtet, daß einige portugiesische »Juden« einander anzeigten, und daß sie in den Prozessen darauf bestanden, als Christen zu gelten. Vor allem letzteres ist ein interessanter Unter­ schied zuder Zeit von 1481 bis 1492, als viele »conversos« für ihre Überzeugung dem Scheiterhaufen trotzten. Die Inquisitoren waren zu Politikern geworden und die Kryptojuden waren keine Juden mehr.

Das Kind von La Guardia

Im Jahre 1926 erschien in Madrid ein Buch aus der Feder von Dr. Martín Martinez Moreno, Pfarrer in dem bei Toledo gelege­ nen Dorf La Guardia, mit dem Titel >Historia del martirio del Santo Niño de la Guardias Es stützt sich auf eine 1785 dem Erz­ bischof von Toledo und König Karl III. gewidmete Schrift und rekonstruiert so folgende Geschichte: Im Jahre 1490 wollte eine Gruppe von Juden und Bekehrten, die in Toledo ein Autodafé miterlebt hatte, die Inquisition und die Vorherrschaft des Chri­ stentums in Spanien beseitigen. Sie glaubte, das erreichen zu kön­ nen, wenn sie das Herz eines Christenkindes zusammen mit einer geweihten Hostie auf rituelle Weise opferte. Am Portal der Kathedrale von Toledo entführten sie das Kind einer blinden Bettlerin, das sie ein halbes Jahr lang in einer Höhle bei La Guar­ dia versteckt hielten. In der Karwoche wurde das Kind im Beisein von elf Leuten gekreuzigt. Das Herz wurde ihm entnommen und aufbewahrt, bis einer der Täter einen gelehrten Juden in Zamora um Rat fragen konnte wegen der nun anstehenden Rituale. Die­ ser Mann hieß Benito García. Er wurde unterwegs in Astorga

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angehalten, weil die Hostie in seinem Gepäck Licht ausstrahlte. Die Täter wurden ergriffen, und einige von ihnen wurden ins Inquisitionsgefängnis von Avila gesperrt. Torquemada wollte diesen Fall bis auf den Grund untersuchen, um damit den Erlaß für die Vertreibung der Juden von 1492 durchzusetzen. Martinez Moreno, der die Prozeßakten eingesehen hat, muß einräumen, daß die Leiche des Kindes nie gefunden wurde und die Höhle von La Guardia keine Blutspuren aufgewiesen hat. Er berichtet aber, daß im 15. und 16. Jahrhundert in der Höhle Wunder geschehen seien und daß das »heilige« Kind Juan geheißen habe, von seinen Mördern aber Cristobal genannt wurde. 1893, über dreißig Jahre zuvor, hatte sich Fidel Fita im >Boletin de la Real Academia de la Historia< (Teil XXIII, Heft 5), an dem auch die jüdischen Historiker Isidor Loeb und Heinrich Graetz mitarbeiteten, diesem Fall an Hand von Archivalien zugewandt. Torquemada, der sich selten mit absonderlichen Fällen befaßte, hat sich monatelang aus Avila das Neueste von den Verhören berichten lassen. Dies war ein Fall, den er den Katholischen Köni­ gen vorhalten konnte, die trotz des Drängens der Inquisition die Juden nicht aus Spanien vertreiben wollten. Bekräftigte dieses Vorkommnis nicht die Bezichtigungen von Alonso de Espina? Die Ankläger der Inquisition aus dem 19. Jahrhundert, ange­ fangen mit Llórente, haben die La Guardia-Affäre bereits er­ wähnt. Die späteren Apologeten bedauerten, daß diese Freveltat von einer Anzahl verkommener Juden und Bekehrten als Vor­ wand gedient habe, um die Vertreibung das ganzen jüdischen Volkes 1492 zu rechtfertigen. Die Chronisten der ersten Stunde haben der Affäre keine Aufmerksamkeit geschenkt, was die Fra­ ge aufwirft, inwiefern sie für das große Ereignis von 1492 über­ haupt eine Rolle gespielt hat. Bei den Anklägern aus unserem Jahrhundert ist bemerkens­ wert, daß sie die La Guardia-Affäre abstreiten oder als typische Verleumdung abtun, eventuell der Schrift von Espina zur Last legen. Lea nennt sie eine »Erfindung von Torquemada«. Sabatini dagegen druckt die Verhöre der Prozesse ab und wirft Torque176

mada vor, die Affäre mißbraucht zu haben. Er distanziert sich damit von Isidor Loeb, der als erster bestritt, daß so etwas jemals stattgefunden habe. Die »Encyclopedia Britannica« von 1911 nennt den Fall eine »mythe«, einen Vorwand, um die Juden ver­ bannen zu können. Lucka hält »die ganze Angelegenheit« für »offenkundig aus der Luft gegriffen«. Dieser Meinung schloß sich auch Roth an. Eine >Catholic Encyclopedia< nach 1958, die sich auf Ankläger wie Verteidiger stützt, läßt D. W. Lomax schrei­ ben: »Torquemada ließ einen angeblichen Ritualmord in La Guardia bekannt werden, um die Vertreibung der Juden zu for­ cieren.« Alle folgenden Kritiker haben die Sache gar nicht mehr erwähnt.

Zahlen Das 20. Jahrhundert ist mehr als seine Vorgänger ein Jahrhundert der Zahlen. Nie zuvor wurde ihnen ein so großer wissenschaftli­ cher Wert beigemessen. Die Zahl, früher vor allem proportional verwandt, als Symbol oder zur Illustration benutzt, hat nun eine fast metaphysische Bedeutung erhalten. Die Inquisitionshistori­ ker nahmen daran regen Anteil. Hier die Ergebnisse: Die Zahl der Juden, die 1492 Spanien ver­ lassen mußten, variiert nach den einzelnen Anklägern zwischen 160000 und 1 700000. Die höchsten Zahlen bringt die »Encyclopedia BritannicaDe marranen«, 1977) geben 300000 an, Christian Houillon (>Torquemada, le grand-inquisiteurEncyclopedia Britannica< übernimmt die Zahlen von Llorente: 10 220 Verbrannte. Larousse macht dar­

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aus 80000, ein >Diccionario enciclopédico hispanoamericano« 105 304. Am niedrigsten liegen die Angaben von Jouve mit 4 000 und der >Catholic Encyclopedia« mit 2 000 Opfern. Das zeigt, daß die Ankläger sich über die Zahlen der Opfer sehr uneins sind; gleiches gilt, wenn auch in geringerem Maße, von den Apologeten.

Die Inquisition Das endgültige Urteil lautet bei allen Anklägern gleich. Für Lea und Sabatini war das Heilige Officium ein Instrument der Into­ leranz, das mißbraucht wurde, um die Einheit Spaniens zu errei­ chen. Lucka vergleicht sie 1926 mit der Staatspolizei Lenins. Johan Brouwer spricht 1939 ebenfalls von einer Staatspolizei, einem Zwangsinstrument, einem geheimen Sicherheitsdienst. Die »Catholic Encyclopedia« nennt die Inquisition ein »spiritual poli­ ce system«. Pierre Dominique zieht 1969 eine Parallele zur Gesta­ po im Dritten Reich. Carlos Barbo (>A Inquisi^äo«, 1982) charak­ terisiert die Inquisition als ein Instrument des Teufels, und Edward Peters stellt in der Entwicklung des Heiligen Officiums einen Übergang von der »Überzeugung« zum »Zwang« fest.

Torquemada Lea ist der Ansicht, der erste Großinquisitor sei vor allem durch seine Habsucht angetrieben worden. Der »Larousse« gibt an, er habe große Summen aus der Staatskasse geraubt, und stempelt ihn zum einem Symbol allgemeiner Grausamkeit. Die »Encyclopedia Britannica« von 1911 schreibt: »Torquemada war kein echter Staatsmann und auch kein Diener des Evangeliums, sondern ein blindwütiger Fanatiker, der nicht zu sehen vermochte, daß der Glaube, ein Geschenk Gottes, keinem Gewissen mit Gewalt auf­ erlegt werden kann.« Sabatini bezeichnet ihn als Verkörperung

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der Inquisition, als einen gefährlichen Fanatiker, eben weil er so unbestechlich und bedürfnislos war; hinter der Demutsmaske habe sich möglicherweise Hochmut verborgen. Lucka vergleicht Torquemada mit Lenin; er sei lieblos, ungerecht, egoistisch, monoman und unmenschlich gewesen. Für Jouve war Torque­ mada die personifizierte Starrköpfigkeit; auf dem Sterbebett soll er sich ausbedungen haben, daß er anonym begraben werde, damit das Gedächtnis an ihn nicht lebendig bleibe. Eine Enciclo­ pedia Italiana< von 1949 schreibt ihm einen übermäßigen Eifer zu und »una estrema durezza, severitä, intransingenza«. Das »Dic­ cionario enciclopédica hispanoamericano* nennt ihn den syste­ matisierten Terror; die »Encyclopedia Britannica* nach 1930 fügt dem hinzu, daß »seine starre Unversöhnlichkeit durch die öffent­ liche Meinung seiner Zeit gestützt wurde, obgleich das unmög­ lich zu rechtfertigen ist«. Die »Catholic Encyclopedia« berichtet von seiner jüdischen Abstammung und nennt ihn »selbst für sei­ ne Zeit außergewöhnlich intolerant«. Das negative Urteil gewinnt noch mythische und legendäre Züge unter anderem durch Howard Fast (»Torquemada*, 1966), der den Großinquisitor als ehebrecherischen teuflischen Maso­ chisten darstellt. Pierre Dominique rückt ihn neben Hitler, und Christian Houillon nennt ihn in einem Atemzug mit Judas und dem legendären Kindermörder Gilles de Rais. Carlos Barbo weiß zu berichten, Torquemada habe ein geheimes Liebesverhältnis mit einer maurischen Frau gehabt, in Saragossa Theologie stu­ diert und 1481 in Sevilla dreihundert Menschen in den Feuertod geschickt. Die Inquisitoren selbst werden von Barbo als sexuell frustrierte Greise hingestellt, die sich ihre Lust dadurch ver­ schafften, daß sie weibliche Gefangene in düsteren Kerkern ent­ kleideten und folterten. Spätere wissenschaftliche Kritiker haben die Schwarze Legen­ de um die Inquisition und um Torquemada als unter ihrer Würde beiseite geschoben. Daß auch der moderne säkularisierte Staat seine eigene Form der Inquisition praktiziert, wird zwar von eini­ gen Historikern erwähnt, mäßigt aber keineswegs ihr Urteil. 179

2. Verteidiger Das wichtigste Charakteristikum der Verteidiger der Inquisition besteht darin, daß sie sich weigern, die Vergangenheit an heutigen Maßstäben zu messen. Nach ihrer Meinung hat jedes Zeitalter seine eigenen Normen, seine eigene Weltanschauung, seine eige­ nen Gewohnheiten und sozialen Strukturen. Der Vorteil dieser Auffassung ist, daß die Geschichte als Spiegel für die Gegenwart dienen kann. Durch das Andere wird das Eigene deutlicher erkennbar. Der Nachteil ist die Nostalgie, der Glaube, früher sei alles besser gewesen als heute. Allgemein kann man feststellen, daß die Verteidiger die gleichen Quellen benutzen wie die Kritiker. Die spanischen Apologeten, besonders die vom Ende des 20. Jahrhunderts, sind in der Mehr­ zahl geneigt, die Rolle der Kirche bei der Inquisition zu übertrei­ ben, während die nichtspanischen Historiker die Rolle des Staa­ tes hervorheben.

Kirche und Staat in Verbindung mit der Inquisition

Der holländische Hispanist Johan Brouwer, der das katholische Spanien bis zum Jahre 1936 inbrünstig verteidigt, übernimmt in seinen frühen Werken die Auffassung von Ludwig von Pastor, nach der die Inquisition ein »gemischtes Tribunal« gewesen sei, in dem Staat und Kirche nicht voneinander zu trennen wären. Die­ ses Tribunal habe dafür gesorgt, daß Spanien von dem Unsinn und dem Aberglauben verschont geblieben sei, unter denen vor allem der Norden Europas zu leiden hatte. Außerdem wandte es sich gegen die Juden, die für den Staat eine gefährliche Minderheit bildeten. Die Kirche habe die Juden stets in Schutz genommen. Nach Brouwer ist die Inquisition nicht verantwortlich für den Verfall von Wohlstand und Kultur in Spanien. Die Blüte der Kün­ ste im Goldenen Zeitalter bezeuge eher das Gegenteil. Alle Apo180

logeten machen sich mehr oder minder dieses Urteil zu eigen. Die von Augustin Fliehe und Victor Martin herausgegebene große »Histoire de l’église« (1934 ff.) und Tarsicio de Azcona (»Isabel la Católica«, 1964) stellen übereinstimmend fest, daß man Kirche und Staat in der Inquisition nicht trennen könne. Das Urteil »frommer« spanischer Apologeten fällt dagegen radikaler aus. Alonso Getino (»Dominicos españoles confesores de reyes«, 1917), Paulino Alvarez (»Santos bienaventurados de la orden de los predicadores, 1922) und Miguel de la Pinta Llórente (»La Inquisición española«, 1948) heben rühmend hervor, daß die Inquisition eine nationale spanische Angelegenheit gewesen sei, die vom Volke getragen war und von Rom lediglich genehmigt werden konnte. Dank der Inquisition, behauptet letzterer, wur­ den Rom und der Katholizismus gerettet. Der gemäßigtere Ber­ nardino Llorca führte gegen Apologeten des 19. Jahrhunderts wie de Maistre, Hefele und Gams aus, nicht Spanien sei für die Inqui­ sition verantwortlich gewesen, sondern Rom. Über die »ausglei­ chende« Rolle der Kirche sind sich alle hier aufgeführten Histo­ riker einig. Daß die Inquisition notwendig war, um aus Spanien eine Einheit zu machen, darüber sind alle einer Meinung. Daß die Getauften und später die Juden der Einheit geopfert wurden, findet vor allem die Zustimmung der spanischen Vertei­ diger. A. S. Turberville, der seine »Spanish inquisition« (1948) gegen die typischen Vorurteile des angelsächsischen Publikums schrieb und Toleranz die »bequemste Tugend der Skeptiker« nannte, interpretiert Machiavellis Deutung des »klugen« Königs Ferdinand als »negativ« oder fanatisch und beklagt den »Zwang« der Inquisition. William Thomas Walsh dagegen führt in seinem Werk »Characters of the inquisition« (1948) das Prinzip der Inqui­ sition auf Gott zurück, der ja Adam aus dem Paradies vertrieben habe, und erblickt in der Vertreibung von 1492 eine natürliche Anwendung dieses Prinzips, wobei er darauf hinweist, daß Rom noch nie jemanden gezwungen habe, Christ zu werden. Fernand Hayward (»Que faut-il penser de l’inquisition?«, 1958) nennt die Inquisition eine Notwendigkeit für die Kirche, um den Glauben

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zu sichern, räumt aber ein, daß der Staat bei der Sicherung seiner Macht aus der Notwendigkeit eine Tugend gemacht habe. Luis Suárez Fernández (>Judios españoles en la edad media«, 1980) definiert die Inquisition als ein kirchliches Instrument zu Staats­ zwecken.

Ketzer und Juden, alte und neue Christen

Vor allem die nichtspanischen Apologeten weisen darauf hin, daß die Inquisition keine spanische Erfindung gewesen ist. Das mit­ telalterliche Südfrankreich erforderte die erste Institutionalisie­ rung zur Sicherung des wahren Glaubens. Domingo de Guzmán, der hl. Dominikus, leistete dazu Spaniens wichtigsten Beitrag. Sein Orden der Dominikaner spielte in diesem ersten Kreuzzug »nach innen«, das heißt gegen die christlichen Häretiker, die Hauptrolle. Neu-Manichäer, Katharer und Albigenser bildeten die erste große Bedrohung von Kirche und Staat. Dominikus glaubte an die Kraft der überzeugenden Rede, aber als das nichts bewirkte, brach die Gewalt los. Fernand Hayward sowie Guy und Jean Testas (>L’inquisitionThe friars and the jews. The evolution of anti-judaism« (1982) untersucht worden. Cohen ist der Meinung, die Mönche hätten mit dem Streit begonnen. Adin Steinsaltz, der in seinem Buch >The essential Talmud« (1976) dem Ursprung des Talmuds nachspürt, berichtet, daß dessen erster Druck 1482 in Guadalajara in Spanien erschienen ist. Suärez Fernandez und Walsh sind der Auffassung, daß die Juden damit die Kirche in Spanien gegen sich aufgebracht haben. Salvador de Madariaga, der in der Biographie >Vida del muy magnífico señor Don Cri­ stóbal Colón« (1940) nachzuweisen versucht hat, daß Columbus von den Juden abstammte, behauptet - so wie übrigens der Kriti­ ker Sabatini auch -, daß die Juden ihre Verfolgung selbst ausgelöst hätten. Und zwar nicht nur durch ihre Wuchergeschäfte, sondern auch durch die Betonung des Andersseins auf alle mögliche Art und Weise. Es wurde schon dargelegt, daß die Juden nach 1391 begannen, sich in großer Zahl taufen zu lassen, ferner, daß Getaufte, die in die alten Gewohnheiten zurückfielen, als »Ketzer« angesehen wurden und so mit der Inquisition zusammenstießen. Turberville weist darauf hin, daß Ketzer als »seriös« galten; man wurde nicht so mir nichts dir nichts ins Gefängnis gesperrt, gefoltert und verbrannt. Zuvor gab es endlose Verhöre, und nur, wenn der Beschuldigte lange Zeit hindurch standhaft geblieben war - sei es, daß er auf seiner Unschuld beharrte, obgleich es genügend Anzei­ chen für das Gegenteil gab, sei es, daß er seine Irrtümer weiterhin als dem rechten Glauben gemäß vertrat -, konnte er auf dem Scheiterhaufen enden. Man ließ sich also genügend Zeit, und man behandelte den Ketzer als Individuum - im krassen Unterschied etwa zu den Nazis, die anonyme Menschen, nur wegen ihrer Ras­ sezugehörigkeit, ins Gas trieben. Für die meisten Verteidiger der Inquisition sind das Gründe, jeden Vergleich mit den Opfern moderner totalitärer Regime von der Hand zu weisen. Tarsicio de Azcona stellt fest, daß die Inquisitoren nicht nur zwischen »conversos« und Juden unterschieden, sondern die erste Gruppe außerdem einteilten in gezwungene, überzeugte,

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rezente und alte Bekehrte. Die Synagogen machten ihrerseits einen Unterschied zwischen denen, die unter Zwang getauft wor­ den waren, und den Opportunisten. Daß vor 1492 Juden in Spa­ nien zur Taufe gezwungen wurden, ist neu (jedenfalls für die christliche Geschichtsschreibung). Daß die Juden vertrieben wurden, weil sie sich nicht assimilieren wollten, ist ein bei einem Apologeten wie Azcona immer wiederkehrendes überraschendes Argument, auch mit dem Zusatz, daß die Assimilation in Spani­ en viel weiter gegangen war als im übrigen Europa, was übrigens auch die Ankläger nicht abstreiten. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang vielleicht, daß die französischen Soldaten im Krieg Frankreichs gegen Spanien in Süditalien (1502-1504) die spanischen Soldaten als »Marranen« beschimpften, was von den Holländern übrigens später übernommen wurde. Die Gebrüder Testas verweisen unter anderem auf die Neue Welt, wo die Spani­ er sich mit den Indios vermischten und die Inquisition kaum Fuß fassen konnte. Nach Eloy Benito Ruano (»Toledo en el siglo XVLe mythe aryenStaat< und die jüdische Inquisition, die Spinoza verbannte. Suärez Fernandez wiederholt, daß der Rassismus in Spanien kein Thema war und daß allein der »Glaube« zählte.

Zahlen

Die Zahl der von Torquemada verbrannten Opfer der Jahre 1482 bis 1489 variiert bei den Apologeten zwischen 2000 und 6 000,

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dem 10 000 Versöhnte gegenüberstehen. Dabei fällt auf, daß die »frommen« spanischen Historiker (Alvarez, Pinta Llórente und Justo Cuervo in dem Werk »Historiadores del convento de San Esteban de Salamancas 1914) die Zahl eher erhöhen als senken, während Gemäßigte, wie etwa Bernardino Llorca, und Auslän­ der, wie Turberville, die Zahl so weit wie möglich herabdrücken. Was 1492 angeht, so bieten die Apologeten ein einheitliches Bild. Darnach haben etwa 160000 Juden Spanien verlassen, vielleicht waren es auch bis zu 400 000, da man bei der ersten Zahl wohl nur die Familienhäupter rechnete. Die Zahlen stützen sich auf die Kirchengeschichte von Fliehe und Martin sowie auf Pinta Lló­ rente. Weitaus die meisten der Vertriebenen sollen nach Portugal gezogen sein. Ganz allgemein kann man wohl sagen, daß die Apo­ logeten weniger an Zahlen interessiert sind als die Kritiker. Die Kritik der Verfechter an den Anklägern fällt vernichtend aus. Bernardino Llorca wirft Juan Antonio Llórente vor, er habe sich von Haß leiten lassen und die Zahlen manipuliert (die übri­ gens von Miguel de la Pinta Llórente mit entgegengesetztem Ziel übernommen wurden). Lea wird »protestantischer Vorurteile« bezichtigt. Miguel de la Pinta Llórente tut Lea als »nicht katho­ lisch« ab, den alten Llórente als »liberal«, während er Amador de los Rios übergeht; Walsh verdient sich ein Kompliment und Américo Castro wird freundlich zitiert, um zu zeigen, daß die Inquisition eine »spontane Äußerung des Volkes gewesen ist«. Turberville lehnt sowohl J. A. Llórente als auch die katholischen Apologeten ab. Walsh verketzert J. A. Llórente, Prescott, Lea, Graetz, Loeb und Roth; Llórente soll gefälschte Zahlen verbrei­ tet haben, Lea sei lückenhaft, und Loeb und Roth wird vorge­ worfen, sie hätten den Fall des Kindes von La Guardia geleugnet. Tarsicio de Azcona geißelt die Ankläger als progressiv-liberal, als grollende Protestanten, als nationalistisch-jüdisch und als pro­ gressiv-katholisch, aber er tadelt auch die konservativen Katholi­ ken. Nach der Kirchengeschichte von Fliehe und Martin war Lea ein Nachbeter von Llórente und Kamen ein Nachbeter von Lea.

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Der Mythos, die Schwarze Legende und Fabeln Der Mythos der Inquisition ist ein Teil der Schwarzen Legende, die von den Feinden des Spanischen Weltreiches verbreitet wur­ de und bis auf den heutigen Tag lebendig geblieben ist. Die Ver­ teidiger der Inquisition haben vergeblich versucht, den Mythos und die Legende zu entkräften und zu widerlegen. Die Spanier unter ihnen haben dem einen anderen Mythos entgegengestellt: den des Goldenen Zeitalters. Diese glorreiche Vergangenheit begann mit den Katholischen Königen und reichte bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Unter der Diktatur General Francos wurde dieses historische Erbe im großen Stil politisch nutzbar gemacht. Die Epoche der Begründer des Spanischen Reiches wurde damals als Heldenzeitalter interpretiert: Columbus, der Entdecker Ame­ rikas, Hernan Cortés und Francisco Pizarro, die Eroberer von Mexiko und Peru, Gonzalo de Córdoba alias der Große Kapitän, Schrecken der Mauren und Eroberer des Königreichs Neapel, Kardinal Cisneros, Eroberer von Oran, Gründer der Universität Alcalá de Henares und Reformer des religiösen Lebens, wurden in diesen Jahren mit neuen Biographien gefeiert. Torquemada blieb tabu. Von der Person Torquemadas ist fast nichts bekannt. Einige über ihn in Umlauf gesetzte Anekdoten wurden von den Vertei­ digern ins Reich der Fabel verwiesen. Für die Geschichte zum Beispiel, daß er der Prinzessin Isabella vor ihrer Inthronisation das Versprechen abgenommen habe, Spanien von Ketzern zu säu­ bern, gibt es laut Bernardino Llorca nirgends einen Anhalt. Die Behauptung, er habe auf seinem Schreibtisch ein Stück eines Ein­ horns gehabt, um sich gegen Vergiftungen zu schützen, und die Erzählung, er habe die 300 000 Maravedís, mit denen sich die Juden die Aufhebung der Vertreibungspläne erkaufen wollten, mit den dreißig Silberlingen des Judas verglichen, sind nach Walsh von den Gegnern der Inquisition erfunden worden. Der Vorwurf, der Inquisition sei es um Geld zu tun gewesen, wurde von allen Apologeten den Anklägern angelastet. 188

Die spanischen Verteidiger der Inquisition haben die Kritiker nicht beeindrucken können. Auch die Arbeiten von ausländi­ schen Apologeten haben die Schwarze Legende nicht behindern können. Spanien war nun einmal gekennzeichnet als ein unge­ liebtes und unerwünschtes Bollwerk des Katholizismus, als ein Ausbund von Fanatismus und ein Musterbeispiel überholter Gesittung. Im Jahre 1913 warf der katholische französische Schriftsteller Léon Bloy in den >Exegesen der Gemeinplätze« Vic­ tor Hugo und Jean-Marie de Villiers de L’Isle-Adam vor, mit ihren >Torquemada< und >Pedro de Arbues« der liberalen Bour­ geoisie das gegeben zu haben, was sie hören wollte: Scheiterhau­ fen mit Ketzern darauf und satanische Inquisitoren. Bloy warf ihnen Feigheit vor, denn wahrhaft große Schriftsteller sollten dem Publikum nicht nach dem Munde reden. Der katholische engli­ sche Schriftsteller Evelyn Waugh beschrieb in seiner Biographie Edmund Campions (1935), wie die »Inquisition« zur Zeit der Königin Elisabeth gegen die Katholiken vorging: um vieles will­ kürlicher als die spanische Inquisition, denn in England war die Inquisition eine reine Staatsangelegenheit. Auch der Historiker Turberville weist auf die Inquisition unter Elisabeth hin. Die bel­ gische Historikerin Ghislaine de Boom (>Don Carlos, l’héritier de Jeanne la Folie«, 1955) wiederholt Johan Brouwers Widerlegung der Verleumdungen um Philipp II. Ihre Studien auf der Grundla­ ge von Dokumenten haben jedenfalls das Bild des schrecklichen spanischen Königs einigermaßen verändert.

3. Neuerer Unter Erneuerern beziehungsweise Innovativen verstehe ich die­ jenigen Historiker, die, ausgehend von den bekannten Fakten, eine neue Interpretation der spanischen Geschichte, einschließ­ lich der Inquisition, gewagt haben. Man wird hier von Kulturge­ schichte reden können, und der Begriff Kultur ruft sogleich Jacob Burckhardt in Erinnerung, einen der ersten, die ihn benutzt

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haben. Das Italien der Renaissance galt im 19. Jahrhundert als Wiege und Pflegestätte der »Kultur«. Spanien war Burckhardt zu fanatisch katholisch und zu militant, als daß sich dort der indivi­ duelle Geist hätte entwickeln können. Gegen diese Einschätzung begehrte Marcelino Menéndez y Pelayo auf. In seiner >Historia de los heterodoxos españoles* von 1880 zeigte er, daß es in Spanien genügend »Andersdenkende« gegeben hat, um einen alten Anspruch auf Kultur zu stützen. Ihm folgten zwei Kulturhisto­ riker auf dem Fuße: der Spanier Américo Castro und der Fran­ zose Marcel Bataillon. Beide sollten Schule machen. In seinem Buch »Erasme et l’Espagne* von 1937 sucht Bataillon uns glaubhaft nahezubringen, daß es im Spanien des 16. Jahrhun­ derts mehr gegeben hat als den braven katholischen Gehorsam, das heißt alles das, was den mittelalterlichen »contemptus mundi«, das orthodoxe Weltbild hinter sich ließ. Unter dem Einfluß des Erasmus von Rotterdam blühte eine Empfindsamkeit, ein pazifistisches Christentum auf, spontan und frei von Dogmen, ein utopischer Glaube an eine von Sünden freie, durch Christus ein für allemal regenerierte Welt. Die Bibel wurde von der Über­ lieferung getrennt und von den Fesseln der lateinischen Überset­ zung entbunden. Ein introvertiertes, sich auf die Frohe Botschaft gründendes Christentum brach sich Bahn auf Kosten des asketi­ schen, der Welt entsagenden Christentums eines Thomas von Kempen. Vor allem die Höflinge um den jungen, in Flandern geborenen Kaiser Karl V. waren vom »Erasmismus« beeinflußt, der durch den aus Italien stammenden neuen Geist, den man »Humanismus« nennt, verstärkt wurde. Im weiteren Verlauf des Jahrhunderts kam es freilich zu einem Rückschlag der Erneue­ rung. Nach dem Sacco di Roma von 1527 begann bei den Huma­ nisten die Bewunderung für den Kaiser zu schwinden, und als dieser den Streit mit den Anhängern Luthers vom Zaune brach, fielen die erasmitischen Humanisten mehr und mehr in Ungnade. Durch das Konzil von Trient und die Thronbesteigung Philipp II. wurde das Feuer ausgetreten. 1559 kam der »Index der verbote­ nen Bücher*, und darauf folgten die Verdächtigungen. Die Inqui190

sition schlug zu, und alles, was nach Licht und Verbesserung der Welt drängte, wurde unterdrückt. Daß Philipp II. das »verschlos­ sene« Spanien verkörperte, ist von nahezu allen Kulturhistori­ kern im Gefolge von Bataillon ganz zu Recht übernommen wor­ den. Das »gesunde heterodoxe Denken« ging in den Untergrund, flüchtete sich in die Mystik oder äußerte sich verschlüsselt in Schelmenromanen und im Theater, in der Poesie und in der Sati­ re, zu einer Zeit, die man später das Goldene Zeitalter nannte. Bataillon findet allenthalben noch Spuren von Erasmismus, sogar in den Schriften von später durch die Kirche kanonisierten Heili­ gen. Spanien blieb so kulturell wirklich beachtenswert. Zum gleichen Ergebnis kommt Américo Castro, dessen Hauptwerk >La realidad histórica de España< 1954 erschienen ist. Aber schon vorher hat Castro in Artikeln und Abhandlungen von sich reden gemacht. Ihn interessiert vor allem das Mittelalter. Von der gegenseitigen Beeinflussung der drei auf der Halbinsel exi­ stierenden Religionen ausgehend, entwirft er ein neues Bild vom mittelalterlichen Spanien. So wie Bataillon ist Castro ein über­ zeugter Anhänger des Modernismus und des Fortschritts, und eigentlich rührt daher sein Interesse an der »Heterodoxie«. Wie »modern« war Spanien? Das ist die Frage, die seinem Werk zugrundeliegt. Das Spanien des 18. und 19. Jahrhunderts sieht er als eine geistlose Wüste, als ein Erbe der »Theokratie« der Habs­ burger Dynastie, die 1700 ein Ende fand. Ein Vorbote des »geschlossenen« Spanien war, nach Castro, das Jahr 1391, als sich der Zorn über die hohen Stellungen der Juden entlud, und zwar in dem Augenblick, als ein schwacher König am Ruder war. Die Welle von neuen Christen, die darauf folgte, führ­ te zur Inquisition und zur Vertreibung von 1492. Damit wurde das heterodoxe Spanien unterdrückt, und es entstand ein Reich der katholischen Ideologie. Unter der Oberfläche des alltäglichen Lebens aber lebte das »andere« Spanien im Erasmismus weiter, von Castro charakterisiert als »der messianische und utopische Traum eines Katholizismus jenseits von Zeremonien, das in der Überlieferung des Volkes seine Wurzeln hatte«. Castro zufolge

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haben die »conversos« darin ihr verborgenes Heil gesucht sowie in einem »lebensbejahenden antiklerikalen, dem Sozialismus vor­ greifenden semitischen Christentum«. Judentum und Islam, wenn auch offiziell unterlegen, drückten dem spanischen Katho­ lizismus ihre Stempel auf, der sich in seinem messianischen und militanten Charakter beträchtlich von dem Christentum im übri­ gen Europa unterschied. Ferdinand und Isabella sahen in den Spaniern das »auserwählte Volk« und führten »heilige Kriege«. Die überhebliche und streitbare Art des spanischen Katholizis­ mus führt Castro auf die Juden und die Mohammedaner zurück. Santiago, der hl. Jakob, der die Christen auf einem weißen Pferd gegen die Mauren anführte, vergleicht er mit Mohammed, und sein Heiligtum im Nordwesten der Halbinsel hatte die Funktion der Kaaba in Mekka. Der »caudillismo«, die Herrschaft von cha­ rismatischen Führern über ein »kollektives Projekt«, sei ebenso semitischen Ursprungs. Auch den Fanatismus der Inquisition schreibt Castro den semitischen Wurzeln der spanischen Chri­ sten zu. Die Schwarze Legende führt er auf ausländische Histori­ ker zurück, die von diesem Spanien zu wenig begriffen hatten. Selbstverständlich war nicht jedermann mit Castros Spanien­ deutung einverstanden. Zu seinen einflußreichsten Widersachern gehört Claudio Sänchez Albornoz (>Espana, un enigma historicoThe marranos of SpainDie vierzig Tage des Musa Dagh< im Hinblick auf den säkularisierten Staat, der 1915 das armenische Volk ausrottete, am Vorabend des anderen Genozids der Jahre 1940 bis 1945. Der verantwortliche Diktator und seine Parteige­ nossen waren »moralischen« Argumenten nicht zugänglich. Sie waren »gewissenlose« Übermenschen, die mit dem Einverständ­ nis des »Volkswillens« (der Mehrheit) eine Minderheit in die Wüste trieben, wo sie den Tod fand. Der türkische Diktator wird von Werfel nicht als »schlecht«, sondern als »erschreckend unschuldig« beschrieben, als großes Kind. Wer kein Gewissen habe, sei sich keiner Untat bewußt. Die Inquisition habe verfolgt, 197

gefoltert und verbrannt, aber nicht anonym und nicht, ohne sich auf das Gewissen zu berufen. In letzter Instanz habe sie zugege­ ben, daß sie zwar den Leib, aber nicht die Seele verbrennen kön­ ne und daß das endgültige Urteil über jedes Individuum dem Ewigen Gericht zukomme. Ein schwacher Trost freilich, und sicherlich für den heutigen Menschen, aber nicht ohne Sinn und ohne Wert für die Opfer, die häufig als Märtyrer für ihren Glau­ ben oder ihre Meinung den Flammen trotzten. Niemand wurde damals ohne Prozeß hingerichtet. Die Armenier dagegen wurden ohne jeden Prozeß als Kollektiv umgebracht, eine extreme Folge des säkularisierten Staates ohne Gewissen. Daß der Staat amora­ lisch und seelenlos zu sein habe, haben Dostojewskij und Nietz­ sche verlangt. Nun haben die Kinder, wie Werfel sagt, selbst die Verantwortung zu tragen. Und wozu das führen kann, das haben die Nazis unter Hitler und die Bolschewisten unter Stalin gezeigt - später auch Chinas Kulturrevolution und der Terror eines Pol Pot. Valeriu Marcu ist meines Wissens der einzige Autor über die Epoche der Spanischen Inquisition, der das »Paradoxe« erkannt hat. Sein Buch >Die Vertreibung der Juden aus Spanien« ist 1934 erschienen, aber nirgends habe ich es bei den heutigen Kennern der Inquisition und Spaniens im 15. Jahrhundert zitiert gefunden. Marcus Sicht liegt ganz auf der Linie Dostojewskijs, Shaws und Werfels. Trotz einiger sachlicher Unstimmigkeiten und sehr dürf­ tiger Quellenangaben vermittelt das Buch das ausgewogenste Bild, das aus den Ereignissen, die zum Jahre 1492 geführt haben, gewonnen werden kann, einen sehr klaren Blick in die Komple­ xität »sub specie aeternitatis«. Niemand ist tiefer in die Herzen von Juden, Christen und Marranen, von Papst, König, Königin und Inquisitor vorgedrungen als dieser rumänische Schriftsteller, der wohl kein Fachhistoriker ist. Seine Diagnose ist glänzend, ihm macht keine Ideologie zu schaffen, und es ist nicht ersicht­ lich, daß er aus christlicher oder jüdischer Sicht schreibt. Er ist weder Ankläger noch Apologet und eigentlich auch kein Neue­ rer. Seine Sicht ist unkonventionell und unbefangen.

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Die historischen Fakten setzt Marcu als bekannt voraus. Ihm geht es um die Hintergründe, die Zusammenhänge und die tiefe­ re Bedeutung des Dramas Spanische Inquisition. Kernpunkt die­ ses Dramas ist nach ihm der Gegensatz von Juden und Christen, mit den dazugehörigen symbolischen Bedeutungen vom »alten« und »neuen« Menschen, im Sinne der jüdischen Christen oder des christlichen Juden Paulus. Das Paradoxe ist, daß der »neue Mensch« die Macht innehat, obwohl dieser nun gerade keine Macht haben sollte; der »alte Mensch«, der Macht besitzen sollte, hat sie nicht. Der alte Mensch erwartet einen überweltlichen Mes­ sias, der seine Oberherrschaft auf Erden begründet; der neue Mensch blickt auf einen von der Welt verurteilten Menschen, der ihn aus dem irdischen Jammertal in die Ewigkeit aufnimmt. Der alte und der neue Mensch stecken jedoch in jedem von uns. Jeder neue Mensch ist aufgerufen, den alten, seinen natürlichen Trieben ausgelieferten Menschen zu überwinden. Diesen inneren Prozeß nach außen zu tragen und den alten Menschen außer sich selbst zu suchen oder gar einen leibhaftigen Mitmenschen zu unter­ drücken, ist unchristlich. Angewandt auf das Spanien des 15. Jahrhunderts, beobachtet Marcu eine Entwicklung, die von der Missionierung über die Kraft der Überzeugung zum Zwang verläuft. Während Vicente Ferrer 1391 noch die Juden durch Überzeugung bekehrte, bediente sich Torquemada seit 1482 des Zwangs gegen »schlechte Konvertiten«. Daß Rom den Spaniern erlaubte, Zwang auszuüben, war unchristlich; das war der Kirche bewußt, und darum drängte sie immer wieder auf Mäßigung und Milde. Das mußte sie tun, denn die spanische Krone sah in der Inquisition ein göttliches, durch Rom geheiligtes Werkzeug. Die Kirche hatte gleichwohl, wie auch die spanische Monarchie, ganz konkrete weltliche Interessen und war deshalb nicht frei, um das, was sie wollte, durchzusetzen. Die Kirche war somit im Grunde »schwach«, schwach in der Lehre Christi. Die schwache Kirche und die von der Kirche beeinflußte Monarchie waren aber immerhin noch besser als ein säkularisierter Staat. Marcu konnte feststellen, daß, aus jüdischer Sicht, Spanien im 199

Vergleich zum übrigen Europa gut abschnitt. Die Juden wurden dort zwar gehaßt und verfolgt, sie wurden aber nicht als »Unge­ tier« angesehen, was anderorten der Fall war. Daß die Marranen die Verfolgung selbst auf sich zogen und Neid und Mißgunst erzeugten, weil sie sich so auffallend anders verhielten und in gesonderten Stadtvierteln wohnen wollten, ist Marcus Auffas­ sung wie auch die der Apologeten, während die Kritiker immer behauptet haben, sie seien von der Obrigkeit gezwungen worden, sich zu unterscheiden und in eigenen Vierteln zu leben. Es gab für einen Getauften überhaupt keinen Grund, sich nicht niederzulas­ sen, wo er wollte, und sich nicht zu assimilieren, wie er es wollte. Nur die Juden wollten anders sein, aber um die kümmerte sich die Inquisition ja nicht. Die hatten ihre eigene »Inquisition«, wie sie ja auch ihre eigenen Gebräuche pflegten. Marcu glaubt nicht, daß die Inquisition Spanien geschadet hat. Wie Johan Brouwer ist er der Ansicht, die Spanische Inquisition habe das Land vor Religi­ onskriegen und Hexenverfolgungen, die das übrige Europa heim­ suchten, bewahrt. Mit den meisten Historikern ist er der Auffas­ sung, daß das Jahr 1492 den wirtschaftlichen Rückstand Spaniens verursacht hat, weil das jüdische Know-how in Finanzfragen ent­ fiel. Der »neue Mensch« hatte nun mal kein Gespür für Geld, und die Anheuerung von Genuesen, Flamen und Griechen half nicht weiter, weil die für Spanien keinerlei Loyalität aufbrachten. Die Juden waren immerhin Spanier gewesen, die neuen Bankiers und Finanziers waren und blieben aber Fremde, auch wenn sie sich wie Katholiken verhielten und damit den Anschein von »neuen Menschen« boten. Marcu bedauert, daß ein Land, in dem das Blut so stark ver­ mischt war, in der Rassereinheit ein Kardinalproblem gesehen habe. Aber ist das denn überhaupt ein großes Problem gewesen? Hat die Frage der Blutreinheit jemals auch nur einen rechtschaf­ fenen Menschen behelligt? Philipp II. jedenfalls nicht, wie aus sei­ ner Behandlung des Inquisitors Diego de Simancas zu Ende des 16. Jahrhunderts hervorgeht. Wessen Blut war denn in Spanien »rein« ? Schon vor der Einführung der Inquisition, berichtet Mar-

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cu, waren fünfzig Prozent der Juden zum Christentum überge­ treten. Sefarad und al-Andalus, das jüdische und das maurische Spanien, waren so weit im christlichen Spanien aufgegangen, daß ein Glaube an die Blutreinheit als reiner Unsinn empfunden wer­ den konnte. Daß es solche Wahnsinnigen gegeben hat, mag nicht bezweifelt werden, daß aber ernsthaft und rechtmäßig die Makel­ losigkeit von jemandes Abkunft überprüft worden ist, das halte ich für eine moderne Legende, wie das auch Leon Poliakov 1971 in seinem Buch >Le mythe aryen< überzeugend dargelegt hat. Ab­ stammungsmythen hat es schon immer gegeben, aber vor der Französischen Revolution hat man im allgemeinen geglaubt, jeder Mensch stamme von Adam ab. Auch die Indios in der Neu­ en Welt im Westen stammten nach Meinung der alten spanischen Chronisten von Adam und Eva ab, ob sie nun über die Bering­ straße eingewandert waren oder es sich um einen verirrten Stamm Israels gehandelt hat. Erst seit der Aufklärung begann man an unterschiedliche Abstammungen zu glauben, mit den dazu­ gehörigen Schöpfungsgeschichten, nach Poliakov ein »Aberglau­ be«, den man auf Neuerer wie Luther, Bruno, Hobbes, Hume, Schopenhauer, Hegel, Fichte, Wagner und Nietzsche zurück­ führen könne. Darwin habe, mit seiner Lehre von der Abstam­ mung des Menschen vom Affen, den Tiefpunkt in dieser Frage erreicht. Also: Rassismus ist eine ziemlich neue Erfindung, und die Ironie der Geschichte: Es sind ausgerechnet neuere Histori­ ker, die dem Spanien der Inquisition Rassismus vorwerfen. Das Bild der Spanischen Inquisition ist in weitem Maße bestimmt durch ihre »Entwicklung«, die parallel zu den sich ändernden Verhältnissen verlief. Im 17. Jahrhundert war diese Institution nicht mehr glaubwürdig. Scheinheiligkeit und Aber­ glaube kennzeichnen den Hof Philipps IV. und seiner Nachfolger. Dafür kann man aber, wie es Geoffrey Parker in seinem Buch >Philipp II of Spain< (1978) tut, Philipp II. nicht verantwortlich machen. Jedoch zur Zeit seines frivolen Enkels verkehrt sich alles ins böse Gegenteil, wie Gregorio Maranön in seinem Buch >E1 conde-duque de Olivares< (1936) feststellt. Die Höflinge des

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Goldenen Zeitalters beriefen sich aus Mangel an eigenen Ver­ diensten auf ihre Herkunft, die Mönche, die am Hofe weilten, waren nur zum Schein heilig. Die Inquisition war eine Karikatur dessen, was sie einst gewesen war. Das Heilige Officium, ehedem bestrebt, den Glauben und den gesunden Geist in Schutz zu neh­ men, gab sich nun mit hysterischen Nonnen und sogenannten portugiesischen Juden ab. Als die Bourbonen den spanischen Thron bestiegen, wurde der Glaube selbst zur Fassade. Die Inqui­ sition hatte keinen Grund mehr weiterzuleben. Mit dem Verschwinden der Inquisition verschwand die Kirche als Macht. Dostojewskij war vielleicht der letzte, der die Folgen erkannte: die Vorherrschaft des Staates mit seinen totalitären Auswüchsen gewissenloser Herdenmenschen. Das 20. Jahrhun­ dert sollte das am eigenen Leib erfahren. »Bis auf den heutigen Tag leiden wir unter der Tatsache, daß Dostojewskij auf den überwältigenden Zynismus des Großinquisitors in den >Brüdern Karamasow< keine Antwort gibt!«, heißt es in einem >Times