Die Sozialtheologie Thomas Chalmers (1780-1847) und ihre Bedeutung für die Freikirchen: Eine Studie zur Diakonie der Erweckungsbewegung 9783666623967, 9783525623961


138 124 3MB

German Pages [320] Year 2007

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Die Sozialtheologie Thomas Chalmers (1780-1847) und ihre Bedeutung für die Freikirchen: Eine Studie zur Diakonie der Erweckungsbewegung
 9783666623967, 9783525623961

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

$

Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie

Herausgegeben von Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne Steinmeier in Zusammenarbeit mit den Zeitschriften PASTORALTHEOLOGIE und WEGE ZUM MENSCHEN und der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie

Band 52

Vandenhoeck & Ruprecht

Harald Beutel

Die Sozialtheologie Thomas Chalmers (1780–1847) und ihre Bedeutung für die Freikirchen Eine Studie zur Diakonie der Erweckungsbewegung

Mit 2 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Für Petra

„If I leave this world tomorrow, Lord, let me leave a little love behind.“ Glenn Kaiser: If I Leave This World Tomorrow, Grrr Music/Universal Songs, Chicago 1994

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-62396-1

© 2007, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Satzspiegel, Nörten-Hardenberg Druck und Bindung: l Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt Zum Geleit (Siegfried Großmann) . . . . . . . . . . . . . . .

9

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.

KAPITEL Einleitung: Methodologische Orientierung, das erkenntnisleitende Interesse, zum Forschungsstand und der verwendeten Literatur . . . . . . . . . . . . . . . 13

1.1 Erkenntnisleitendes Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.2 Zum Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.3 Zum Forschungsstand bzw. zur literarische Orientierung . . . 20 2.

KAPITEL Zur Vorgeschichte von Chalmers Ansatz: Die covenanting traditions im 16. und 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . 27

2.1 Die covenanting traditions als Teil der angelsächsischen Föderaltheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Kirche als covenanted community im schottischen Presbyterianismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Individuum und Gemeinschaft bei den Covenanters . . 2.2.2 Das gottgefällige Gemeinwesen als gesellschaftliche Utopie 2.3 Covenanting traditions im Puritanismus: Die Kirche als covenanted community bei den Kongregationalisten und Baptisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Die Kirche als Bundesgemeinschaft . . . . . . . . . . 2.3.2 Das Bewusstsein der gesellschaftstheoretischen Relevanz der kongregationalistischen Ekklesiologie . . . . . . . 2.3.3 In der Trennung von Staat und Kirche Religions- und Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Bedeutung der covenanting traditions für die Entwicklung der westlichen Demokratien . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Der Einfluss der covenant theology auf die Gesellschaftstheorien des 17. Jahrhunderts und 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Die Wirkung der föderaltheologischen Traditionen auf die amerikanische und britischen Demokratie . . . . . 2.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27 32 33 35

38 38 41 42 45 45 47 52 5

3.

KAPITEL Kontexte des sozial-theologischen Konzeptes Chalmers . . .

54

3.1 Zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Großbritanniens zwischen 1750 und 1850 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 3.2 Die Erweckungsbewegung als ökumenisches, europäisches und nordamerikanischen Phänomen . . . . . . . . . . . . . 57 3.2.1 Charakterisierung der Erweckungsbewegung . . . . . 57 3.2.2 Die Eigenart des britischen Teils der Bewegung . . . 64 3.2.3 Zur diakonischen Dimension der Erweckung in Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 4.

KAPITEL Leben und Werk Thomas Chalmers

. . . . . . . . . . .

4.1 Kindheit, Jugend und die ersten Jahre im Pfarrdienst und die Wende zum Evangelical . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Der Pfarrdienst nach der Wende zum Evangelical in Kilmany und in Glasgow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Professuren in St. Andrews und Edinburgh und die church extension campaign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Patronatskonflikt und Free Church . . . . . . . . . . . . 5.

KAPITEL Der sozial-theologische Ansatz von Thomas Chalmers . . .

5.1 Anknüpfungen an die theologischen Traditionen des 16. und 17. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Der Bezug zur schottischen Reformation . . . . . . 5.1.2 Chalmers Anknüpfung an die freikirchlichen Puritaner 5.1.3 Die protestantische Synthese . . . . . . . . . . . . 5.2 Der theologische Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Die Perspektive des Reiches Gottes . . . . . . . . . 5.2.2 Enlightened Evangelicalism – Aufgeklärte Erweckungstheologie . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Zum Einfluss William Wilberforces auf den theologischen Ansatz Chalmers . . . . . . . . . . . 5.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.

73 73 78 83 89

95 95 95 97 107 107 107 119 135 143

KAPITEL Das Konzept der diakonischen Gemeinde . . . . . . . . .

146

6.1 Die St. Johnsgemeinde in Glasgow als Modellprojekt . . . 6.2 Der Bezug zum Stadtteil – die Gemeinde als Geh-Struktur . 6.3 Der ehrenamtliche Schwerpunkt . . . . . . . . . . . . .

146 150 157

6

6.4 Die Armenfürsorge . . . 6.5 Die Gottesdienste . . . 6.6 Die Schulen . . . . . . 6.6.1 Die Sonntagsschulen 6.6.2 Die Werktagsschulen 6.7 Zusammenfassung . . .

. . . . . .

162 175 178 179 181 185

KAPITEL Thomas Chalmers Perspektiven einer Kirchen- und Gesellschaftsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

188

7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7

Die Gesellschaft auf dem Weg zum godly commonwealth . . Kirchenstrukturen mit einer Option für die Armen . . . . . Ein ökumenisches Gemeindenetzwerk . . . . . . . . . . Mission als demokratische Veranstaltung . . . . . . . . . Partizipation – Chalmers Perspektive für die Unterschichten Die Rolle des Staates in der sozialen Sicherung . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

188 191 198 207 216 224 231

8.

KAPITEL Zur Wirkungsgeschichte Chalmers . . . . . . . . . . . .

234

7.

. . . .

. . . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

8.1 Einflüsse Chalmers auf das Elberfelder System . . . . . . . 8.1.1 Zur Chalmersrezeption der kirchlichen Diakonie in der Elberfelder Region . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.2 Die Entwicklung einer neuen Konzeption für das Armenpflegesystem Elberfelds 1850–52 . . . . . . . 8.1.3 Die ab 1853 geltende „Neue Armenordnung der Gemeinde Elberfeld“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Einflüsse Chalmers auf Johann Hinrich Wichern . . . . . . 8.2.1 Wicherns erste Begegnung mit Chalmers Ansatz . . . 8.2.2 Wicherns Chalmersrezeption . . . . . . . . . . . . 8.3 Weiter Beispiele der Wirkungsgeschichte . . . . . . . . . 8.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.

KAPITEL Die Bedeutung von Chalmers sozial-theologischem Ansatz für die Diakonie der Freikirchen und die ökumenische Konsequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9.1 Die freikirchliche Anthropologie – der soziale und mündige Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.1 Gemeinschaftliche Kirche und Freiwilligkeit – Propria der freikirchlichen Theologie . . . . . . . . . . . .

234 235 237 239 241 241 243 246 253

255 255 255 7

9.1.2 Der Stellenwert des freikirchlichen Menschenbildes für Chalmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.3 Individualität und Sozialität in der freikirchlichen Diakonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Die Transzendierung der Grenzen – das Reich Gottes als Horizont der kirchlichen Diakonie . . . . . . . . . . . . 9.2.1 Die Perspektive des Reiches Gottes als Beitrag der Erweckungsbewegung zur freikirchlichen Theologie . . 9.2.2 Der Horizont der Diakonie und das Marktprinzip in den Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Die ökumenische Konsequenz . . . . . . . . . . . . . .

257 260 262 262 265 268

Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

270

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

273

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

295

Gedanken über den weltweiten Frieden. Predigt von Thomas Chalmers, gehalten am 16. Januar 1816 . . . . . . . .

299

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

317

8

Zum Geleit Wer diese spannend geschriebene Dissertation liest, stellt fest, dass in der Person von Thomas Chalmers Ansätze verknüpft werden, um deren Integration wir heute in Kirche und Diakonie ringen und deren Bedeutung für den ökumenischen Dialog nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Chalmers macht deutlich, dass die Kirchen für das Wohlergehen jedes Menschen in ihrem Einflussbereich verantwortlich sind. Dabei müssen sie aber das religiöse Selbstbestimmungsrecht achten. Ausgangspunkt seiner sozialen Theologie ist die Erwartung des Reiches Gottes, und gerade deshalb müssen sich Christen an den Ansätzen zu seiner Verwirklichung beteiligen. Weil das Bedürfnis zur Selbsthilfe und Wohltätigkeit schöpfungsgemäß gegeben ist, braucht es die örtliche Gemeinde und das ehrenamtliche Engagement, um die vollen Möglichkeiten sozialer Fürsorge zu entfalten. Hier verbindet sich sein Ansatz mit dem Gedanken des allgemeinen Priestertums aller Glaubenden, das im evangelikalen Spektrum stark verankert ist. Chalmers fordert darüber hinaus ein Wirtschaftssystem, das die Unterschicht am wirtschaftlichen Wachstum beteiligt und alle angemessen entlohnt. Chalmers ganzheitlicher Ansatz wurde bisher nicht angemessen rezipiert und hat für die heutige Situation eine hohe Bedeutung. Das freikirchliche Verständnis der Gemeinde als Gemeinschaft der Glaubenden macht den Menschen fähiger zur sozialen Verantwortung, und das Freiwilligkeitsprinzip der Gemeindemitgliedschaft stärkt seine Mündigkeit. Der mündige Bürger, der fähig ist, soziale Verantwortung zu übernehmen, ist die Basis des Konzeptes von Chalmers. Damit zeigt er eine Verbindung zwischen Aufklärung und Evangelikalismus, die wir heute neu buchstabieren sollten, weil wir diese Verknüpfung in Diakonie und Ökumene dringend brauchen. Dem Autor ist zu danken, dass er diesen weiten Horizont in seiner Dissertation durchgehalten hat und damit den Kirchen und der Diakonie für ihre heutigen Aufgaben einen ganz wesentlichen Ansatz vermittelt. Seesen, im Januar 2007

Siegfried Großmann Präsident der Vereinigung Evangelischer Freikirchen

9

Vorwort Die vorliegende Studie wurde im Wintersemester 2004/05 von der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung ist sie geringfügig überarbeitet worden. So wurden die Zusammenfassungen etwas gekürzt und im Anhang findet sich nun die deutsche Übersetzung einer Predigt Thomas Chalmers. Durch diesen Text soll exemplarisch zum einen etwas von der Weite seines Ansatzes deutlich werden, zum anderen soll er eine Vorstellung davon vermitteln, woher Chalmers Reputation als einer der bedeutendsten Kanzelredner des 19. Jahrhunderts rührt. Ich bin dankbar dafür, dass ich nach Jahren der Praxis als Gemeindepastor diese Untersuchung schreiben konnte. Das wäre ohne die Hilfe lieber Menschen nicht möglich gewesen. Zuerst möchte ich meiner Frau Petra danken, die geduldig und mit Interesse die Entstehung der Arbeit in allen Phasen begleitet hat. Ihr ist dieser Band gewidmet. Dann gilt mein Dank dem Kolloquium der Doktorandinnen und Doktoranden des Diakoniewissenschaftlichen Institutes für den fruchtbaren Gedankenaustausch. Ich danke auch dem Leiter des Diakoniewissenschaftlichen Institutes und Koreferenten meiner Dissertation Prof. Dr. Heinz Schmidt für seine wertvolle Anregungen. Bei Prof. Dr. Jörg Thierfelder bedanke ich mich ebenfalls für seine fachliche Beratung. Nach Edinburgh geht mein Dank an den Kirchenhistoriker Prof. Dr. Steward Brown, der den Horizont von Chalmers Theologie wie kein anderer beschrieb. Von seiner Gesprächsbereitschaft konnte ich profitieren. Der Bibliothekarin am New College in Edinburgh Pam Gilchrist bin ich ebenfalls dankbar. Sie hat meine Recherchen tatkräftig unterstützt, sodass mir auch die ungedruckten Quellen der Chalmers Papers zur Verfügung standen. Mein Dank geht auch an den Edinburgher Fotografen Alan Wilson, der mir erlaubte, sein Bild des Chalmersdenkmals im Anhang abzudrucken. Den Mitarbeiterinnen und dem Mitarbeiter der Wissenschaftlichen Regionalbibliothek in Lörrach Regine Kienemann, Renate Huber und Kai-Jürgen Dönneweg danke ich für die freundliche Unterstützung bei der Benutzung ihrer Bestände, sowie der geduldigen Bearbeitung der zahlreichen Fernleihvorgänge. Ein spezielles Dankeschön geht an meine Eltern Horst Beutel-Thomé und Edith Thomé dafür, dass sie mich immer wieder motiviert haben den Faden der Untersuchung weiter zu verfolgen und mich bei der Korrekturlektüre unterstützten. Auch Teresa Wieland bin ich für ihr Korrekturlesen zu Dank verpflichtet. Patrick Wössner und Matthias Pfleiderer sei gedankt für ihre Hilfe bei der Übersetzung der Predigt im Anhang. 11

Dem Evangelischen Oberkirchenrat in Karlsruhe danke ich herzlich für seinen namhaften Druckkostenzuschuss. Dieser Beitrag zur Entstehung des vorliegenden Buches ist auch deshalb besonders erfreulich, weil der hier beleuchtete Ansatz die Diakonie nicht einem konfessionellen, sondern dem ökumenischen Kontext zuordnet. Die Badische Landeskirche zeigt durch ihre Unterstützung, dass dieser Gedanke auch ihre Praxis bestimmt. Zuletzt möchte ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Dr. Theodor Strohm danken. Von ihm habe ich gelernt, wie gesellschaftliche Entwicklungen und die Entstehung theologischer Positionen zusammen wahrgenommen werden können. Er hat mich neugierig gemacht, dem Beitrag der Kirchen zur Humaninisierung der Welt nachzugehen. In der Tat war und ist Versöhnung angesichts fragmentierter Gesellschaften nicht nur ein Postulat betroffener Christen. Chalmers zeigte dies u. a. in seinen Modellprojekten. Menschen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten, Denominationen und politischer Provenienz konnten sich hier zusammenfinden, um Diakonie zu leben. Seine auf sozialen Ausgleich zielenden Analysen und Bewertung der staatlicher Politik gewannen ihr Gewicht durch beachtliche Kenntnisse des ökonomischen Diskurses seiner Zeit. Nicht zuletzt deshalb ist ihre Wirkungsgeschichte noch nicht zu Ende. Lörrach, im Januar 2007

12

Harald Beutel

1. KAPITEL

Methodologische Orientierung, das erkenntnisleitende Interesse, zum Forschungsstand und der verwendeten Literatur 1.1 Erkenntnisleitendes Interesse Thomas Chalmers könnte man als das reformierte Gegenstück zu Wichern bezeichnen. Ihm war zwar nicht die gleiche Wirkungsgeschichte vergönnt wie dem Initiator des Centralausschusses für Innere Mission, aber auch sein Name ist wenigstens im angelsächsischen Protestantismus bis heute nicht vergessen. Wie sein jüngerer Zeitgenosse in Deutschland ausgehend von der lutherischen Tradition die Reichweite der Diakonie deutlich machte, so war für Chalmers der Calvinismus der Ausgangspunkt seiner Sozialtheologie. Die Verwerfungen der frühen Industriegesellschaft bildeten für beide den Anlass, den Stellenwert der Diakonie mit neuem Nachdruck geltend zu machen. Chalmers sozial-theologisches Konzept war das Werk eines Mannes, der sich zeitlebens zur Volkskirche bekannte. Dennoch ist dieser Ansatz geeignet, einen Beitrag zur Reflektion eines freikirchlichen Zugangs zur Theologie des Sozialen zu leisten. Weit mehr als in Mitteleuropa haben sich in Großbritannien protestantische Volks- und Freikirchen gegenseitig beeinflusst. Dies soll im Laufe der Arbeit auch am Beispiel Chalmers deutlich werden. So ist sein Konzept zuletzt nicht nur formal im ökumenischen Horizont angesiedelt, es ist ebenfalls im Blick auf die volkskirchlichen und freikirchlichen Traditionen genuin ökumenisch. In ihm gewinnen auch spezifisch freikirchliche Theologumena eine Gestalt, die heute noch in der Lage ist, der kirchlichen Praxis Impulse zu vermitteln. Diese Arbeit möchte aber nicht nur Freikirchler anregen, ihre eigene Theologiegeschichte zu reflektieren. So wie sich Chalmers Gesichtsfeld durch freikirchliche Einsichten erweiterte, kann seine volkskirchliche Perspektive die Überwindung von Engführungen der freikirchlichen Tradition begründen helfen. Dies gilt insbesondere für den Auftrag der Kirche in der Gesellschaft. Wenn hier von Freikirchen gesprochen wird, so sind damit in erster Linie die Kirchen gemeint, die sich als Gemeinden der Glaubenden verstehen, also solche, die beispielsweise in Deutschland in der Vereinigung 13

Evangelischer Freikirchen zusammengeschlossen sind.1 Traditionslinien der freikirchlichen Theologie werden vor allem am Beispiel angelsächsischer Freikirchen aufgezeigt. Die Spezifika der geschichtlichen Entwicklung der mitteleuropäischen Freikirchen müssen aus Platzgründen weitgehend außerhalb des Horizontes dieser Studie bleiben. Ungeachtet dessen geht die Arbeit davon aus, dass sie auch und vielleicht gerade deshalb ein Beitrag zur Theologie der mitteleuropäischen Freikirchen sein kann. Die Reflektion der eigenen theologischen Propria bedarf nicht notwendigerweise der Betrachtung der eigenen Geschichte. Das Verständnis der Kirche als Gemeinde von Glaubenden ist allen Freikirchen gemeinsam, auch denen, die keine direkte Verbindung zueinander hatten. So antizipierten die Täufer der Reformation bereits die Ekklesiologie der puritanischen Freikirchen, und die große Bedeutung des mitteleuropäischen Pietismus für viele deutschsprachige Freikirchen des 19. Jahrhunderts stellt keineswegs die Tatsache in Frage, dass das von ihnen vertretene Kirchenmodell, die gleichen Implikationen aufweist wie das ihrer britischen Schwesterkirchen. Aber viel mehr als in Mitteleuropa war in Großbritannien die Mitgestaltung der Gesellschaft ein Bereich, in dem diese Überzeugungen umgesetzt wurden. Die Diakonie ist seit ihren Anfängen untrennbar mit den Freikirchen verbunden. Sie ist für sie Teil des Wesens der Kirche.2 Darin unterscheiden sich die Gemeinden der Glaubenden nicht von den anderen protestantischen Konfessionen. Dennoch änderte sich im Laufe ihrer Geschichte der Raum, den die Diakonie in den Freikirchen einnahm. Stück für Stück erweiterte sich ihr Horizont durch neue Handlungsfelder, die ihr zugeordnet wurden. Stand am Anfang oft nur das karitative Engagement, das nicht über das unmittelbare Umfeld der Gemeinde hinaus ging, so kamen im Laufe der Zeit ambulante und stationäre Einrichtungen für Kranke und Alte, für Menschen mit Behinderungen und in anderen besonderen Lebenslagen hinzu. Heute ist die Vielzahl der Felder freikirchlicher Diakonie kaum noch zu überblicken. Sehr früh schon bekam die Diakonie eine internationale Dimension. Das Wachsen der Diakonie in neue Bereiche hinein verlief nicht ohne Konflikte. Ein Beispiel hierfür sind die anfänglichen Widerstände gegen die Einführung des Diakonissenamtes in den Freien evangelischen- und Baptistengemeinden.3 Mit der 1 Im englischen Sprachbereich wird der gleiche Begriff – believers churches – verwendet. Die weiter gefasste Bezeichnung, voluntary churches, schließt auch die so genannten konfessionellen Freikirchen mit volkskirchlichen Wurzeln ein. Vgl. Durnbaugh, Donald F.: The Believers’ Church. The History and Character of Radical Protestantism, Scottdale u. a. 1985; Glass, J. M.: Art. Believers’ Church, in: Dictionary of Christianity in America, Daniel G. Reid (Hg.), Downers Grove 1990, 125; Reid, Daniel G.: Art. Voluntaryism; Voluntarism, ebd., 1227f. 2 Vgl. Großmann, Siegfried: Das Profil der freikirchlichen Diakonie – Ein Aufriß, Verband freikirchlicher Diakoniewerke, 1993. 3 Vgl. Giebel, Astrid: Glaube, der in der Liebe tätig wird. Diakonie im deutschen

14

Gründung des Hilfswerkes wurden die Freikirchen in eine gemeinsame Diakonie protestantischer Kirchen in Deutschland integriert. Versteht man den diakonischen Auftrag der Kirchen als die Wahrnehmung der Verantwortung für die Menschen, die Hilfe benötigen, dann ist die Politik der Kirchen ein Teil ihrer Diakonie. Zum christlichen Ethos gehört das Eintreten für Menschenrechte und Menschenwürde. Die Diskussion um die Bioethik, um lebenswertes und lebensunwertes Leben macht u. a. deutlich, dass die christlichen Kirchen zur Klärung des Begriffs der Menschenwürde in unserer Gesellschaft etwas beizutragen haben. Sich für die Würde aller Menschen einzusetzen, bedeutet für die Kirchen auch, ihren Beitrag zu politischen Entscheidungsprozessen zu leisten. Hier ist ebenfalls den Freikirchen die Frage gestellt, was sie zur Ausgestaltung sozialstaatlicher Strukturen im nationalen und europäischen Rahmen beitragen können. Wo etwa durch das Wachsen der Europäischen Union gänzlich neue Strukturen zu schaffen sind, sind Ansätze gefragt, die Orientierungspunkte für die weitere Sozialpolitik sein können. Entlang der neuen Ostgrenze der Union wird ein extremes soziales Gefälle verlaufen, das eine besondere Herausforderung für die Kirchen sein wird. Ein großer Teil der Protestanten in der GUS sind Freikirchler. Daher wird der freikirchlichen Diakonie eine besondere Verantwortung zukommen, gemeinsam mit anderen Kirchen an einer Integration dieser Länder in ein soziales Europa zu arbeiten. Die Diakonie der Freikirchen steht nicht erst am Anfang, ihren Auftrag in dieser Spannweite wahrzunehmen. Diese Arbeit nimmt historische Wurzeln des theologischen Zugangs dieser Kirchen zu ihren nun vielfältigen diakonischen Aktivitäten in den Blick. Die Studie macht es sich zur Aufgabe, in dem Werk Thomas Chalmers wesentliche Linien seiner Sozialtheologie zu zeigen. Der Begriff Sozialtheologie schließt hier an Clemens Sedmak an, der sie als „die Begegnung zwischen Theologie und Sozialtheorie“ versteht. So wird für ihn „das soziale Leben“ zum „locus theologicus“.4 In der Tat hatte Chalmers diesen Anspruch. Er wollte, wenigstens in Ansätzen, ein christliches Modell der Gemeinschaftsgestaltung präsentieren, welches von den kleinsten Sozialkreisen bis zu Ansätzen der Reform der gesamten Gesellschaft reichte. Die Arbeit will zudem auch deutlich machen, wie Chalmers Ansatz in der Gegenwart einen Beitrag zur Reflektion der freikirchlichen Diakonie leisten kann. Warum kann gerade dieser schottische Theologe für die deutschsprachigen Freikirchen von Bedeutung sein? Chalmers wurde von den mitteleuropäischen Freikirchlern als einer der Ihren wahrgenommen.5 Baptismus von den Anfängen bis 1957, Kassel 2000, 111ff; leben helfen. 1896–1996: 100 Jahre Bethanien. Eine Dokumentation, Otto Imhof (Hg.), Solingen 1996, 65. 4 Sedmak, Clemens: Sozialtheologie. Theologie, Sozialwissenschaft und der „Cultural Turn“, Frankfurt a. M. 2001, 8. 5 In jüngerer Zeit noch von Astrid Giebel: Glaube, 8.

15

Die im Jahr 1843 von ihm mitgegründete Free Church of Scotland leistete der Gründung von weiteren Freikirchen auch in Mitteleuropa Vorschub und führte hier auch erst den Begriff Freikirche ein.6 So wäre es denkbar, Chalmers Bedeutung für die Freikirchen der Gegenwart darauf zurückzuführen, dass er Teil der eigenen Vergangenheit und somit Teil freikirchlicher Identität sei. Zwei Gründe sprechen jedoch gegen eine solche Verknüpfung des britischen Sozialreformers mit den mitteleuropäischen Freikirchen von heute: 1. Wirkte sein Ansatz im 19. Jahrhundert vor allem auf Vertreter deutschsprachiger Landeskirchen. Eine nennenswerte Rezeption durch deutschsprachige Freikirchler hat es offenbar bisher nicht gegeben.7 2. Lebt konfessionelle Identität nicht nur von einer historischen Kontinuität, sondern muss sich vielmehr ihrer theologischen Propria bewusst sein. Die historische Kontinuität einer Kirche oder Kirchenfamilie als ein Ergebnis der Kirchengeschichtsforschung ist ohne systematische Bezugspunkte nicht möglich. Daher sollte eine Erforschung der Geschichte, die ihrem Gegenstand gerecht werden will, von einer Dialektik zwischen den gegenwärtigen Fragestellungen und der zu erforschenden Vergangenheit ausgehen. So sind es zwei Anknüpfungspunkte, welche sich aus der heutigen Identität der Freikirchen ergeben, die Chalmers in das freikirchliche Interesse rücken. An erster Stelle steht seine Anthropologie. Wie die Freikirchen nahm er den Menschen als mündiges Individuum und in seinen sozialen Bezügen wahr. Zweitens ist es seine von der Erweckungsbewegung geprägte Eschatologie, die ihm einen universalen Horizont eröffnete. Es gibt in den Freikirchen heute verschiedene Positionen bezüglich der Art, wie ihre eigene Tradition der Erweckungsbewegung zugeordnet werden sollte. Ein Konsens besteht jedoch darüber, dass die Erweckungsbewegung von prägender Bedeutung war. So finden sich die wesentlichen Motive der Bewegung im 19. Jahrhundert auch in den Freikirchen an zentraler Stelle. Die weitere Entwicklung der Kirchen wurde davon entscheidend mitbestimmt, sodass diese Strömung als Teil freikirchlicher Identität gelten kann.8 Der Zeithistoriker Niethammer warnt davor, mit der Behauptung kollektiver Identitäten künstliche Gebilde zu erschaffen, die keinem Erkenntnisinteresse dienen, stattdessen aber Feindbilder erzeugen.9 In der Tat ist gerade die Erweckungsbewegung und ihre Rezeptionsgeschichte nicht frei davon. Die Wirkungsgeschichte der Bewegung in den Freikirchen ist aber mehr als eine Behauptung. Es ist ein legitimes Erkenntnisinteresse, ihre klassische Phase für die Reflektion der freikirchlichen Gegenwart fruchtbar zu machen. 6 Vgl. Geldbach, Erich:Freikirchen. Erbe, Gestalt und Wirkung, Göttingen 1989, 29. 7 Vgl. Kapitel 8. 8 Vgl. 9.2.1. 9 Vgl. Niethammer, Lutz: Kollektive Identität. Heimliche Quelle einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek 2000.

16

Chalmers Konzept gewinnt seine Bedeutung für die Diakonie aus seiner Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität. Die soziale Hilfe beginnt beim Einzelnen, hat als ein wesentliches Instrument die diakonische Gemeinde und endet bei der Reform der ganzen Gesellschaft. Zudem ist für ihn kirchliche Diakonie in der Konsequenz ein ökumenisches Projekt. Diese Arbeit will etwas von der Genese der theologischen Perspektive deutlich machen, die es Chalmers ermöglichte, einen so weit gespannten diakonischen Ansatz zu entfalten. Die Rolle der Freikirchen in den theologischen Traditionen, aus denen er schöpfte, soll aufgezeigt werden. Dies ist von dem Interesse bestimmt, Ansatzpunkte für eine spezifisch freikirchliche Sozialtheologie der Gegenwart zu finden, indem die Potenziale der eigenen Propria in den Blick genommen werden. Dabei sollte deutlich werden, dass sich ein erkennbares Profil freikirchlicher Diakonie nicht weitgehend von dem anderer Kirchen unterscheiden muss. Es sollte aber der Zusammenhang mit der freikirchlichen Identität deutlich sein. Hieraus können sich zudem Impulse für die Reflektion der Diakonie im ökumenischen Rahmen ergeben. Zur Zeit Chalmers bahnte sich, weltweit zuerst in Großbritannien, unser Industriezeitalter an. Die Frage soll diese Arbeit begleiten, wie er aus seinem theologischen Kontext heraus mit diesen revolutionären Entwicklungen und spezifischen gesellschaftlichen Verwerfungen das christliche Ethos zusammengebracht hat. Welche Bedeutung hatte für ihn in diesem Zusammenhang das christliche Gottesverständnis? Welchen Blick auf die Welt ermöglichte es ihm und welche Rolle kam von daher den Christen und Kirchen zu?10 Haben seine Zugänge noch heute Bedeutung für uns, die wir nun am Beginn eines neuen Abschnitts desselben, des Informationszeitalters, stehen? Chalmers Sozialtheologie wird hier nicht als etwas Übergeschichtliches verstanden; vielmehr befand sie sich in einer Wechselbeziehung mit gesellschaftlichen und politischen Prozessen. So soll dem Kontext, in dem der Ansatz entstand und von dem er auch bestimmt wurde, Rechnung getragen werden. Der schottische Sozialreformer lebte trotz der Parallelen in anderen wirtschafts-, sozial- und allgemeinpolitischen Bezügen, die in der Wahrnehmung seiner Position berücksichtigt werden müssen. Der Zusammenhang von Chalmers Ansatz mit der heutigen Diakonie ergibt sich aus dem Verständnis der Kirchen10 Strohm weist auf die Notwendigkeit hin, solche Fragen immer wieder neu zu stellen: „Das christliche Ethos ist kein abgeschlossenes System von Sätzen und Regeln. Es befindet sich vielmehr in dauernder Bewegung; es bedarf ständig der erneuerten Vergewisserung. Denn einerseits ist es nötig, ständig auf neue Weltsituationen und auf das veränderte Selbstverständnis des Menschen einzugehen, andererseits ist der Rückbezug auf die biblische Botschaft immer neu zu verifizieren.“ Strohm, Theodor: Die diakonisch-soziale Verantwortung der Kirchen im europäischen Einigungsprozeß – Ergebnisse eines Forschungsaustausches, in: ders. (Hg.): Diakonie in Europa. Ein internationaler und ökumenischer Forschungsaustausch, Veröffentlichung des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg, Bd. 8, Heidelberg 1997, 54.

17

und Säkulargeschichte als Prozess. Das reformatorische semper reformanda entfaltet sich in einem Diskurs. Dieter Senghaas spricht von einem auf Demokratisierung zulaufenden Konflikt unterschiedlicher Positionen in der Gesellschaft.11 Indem auch von einem solchen auf Diakonisierung abzielenden Diskurs in den Kirchen ausgegangen werden kann, gewinnt Chalmers Beitrag hierzu an Relevanz. Er konnte die Diakonie verschiedener Kirchen beeinflussen, vor allem aber leistete er einen wesentlichen Beitrag in dem Diskurs über die Diakonisierung der Kirche und die Humanisierung der Gesellschaft. Sein Ansatz ist Teil einer Tradition, soziale Fragestellungen zu thematisieren, an die heute in verschiedenen Kirchen und in der Politik12 bewusst oder unbewusst angeknüpft wird. Indem sie aus heutiger Sicht und vor dem Hintergrund ihrer Rezeptionsgeschichte erneut in den Blick genommen wird, können von ihr ausgegangene Engführungen ebenso wie durch sie eröffnete zukunftsweisende Perspektiven aufgezeigt werden.

1.2 Zum Aufbau der Arbeit Die Arbeit gliedert sich in neun Kapitel. In Kapitel 1 wird das Thema eingegrenzt und der Zugang zu ihm beschrieben. Es informiert über das Interesse, welches Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist und wodurch das Ziel der Arbeit vorgegeben wird. Die Methoden werden beschrieben, mit denen der Gegenstand erfasst wird und eine Erläuterung der Gliederung erfolgt. Zudem wird hier ausgeführt, welche Literatur der Studie zu Grunde liegt. Kapitel 2 nimmt die Föderaltheologie des angelsächsischen Calvinismus im 16. und 17. Jahrhundert in den Blick. In anderer Weise als auf dem europäischen Festland wurde hier der Begriff des Bundes eine zentrale Kategorie der Ekklesiologie verschiedener Konfessionen. Das Verständnis der Kirche als Bundesgemeinschaft ermöglichte Ansätze einer theologisch begründeten Gesellschaftstheorie. Damit wird die barocke Bundestheologie zu einem bedeutenden Aspekt der Vorgeschichte von Chalmers Ansatz. Das Kapitel macht den historischen Hintergrund der für die schottische Aufklärung und Erweckungsbewegung charakteristischen Wahrnehmung des sozialen Raumes deutlich und zeigt den Beitrag der Freikirchen hierzu auf. Kapitel 3 widmet sich der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Großbritanniens und der Erweckungsbewegung als Kontexten von Chalmers Sozialtheologie. Die Erweckungsbewegung wird in ihrer ökumenischen und internationalen Ausdehnung charakterisiert und die Spezifika ihrer britischen Variante deutlich gemacht. Der letzte Abschnitt zeigt wesentliche Bereiche ihrer Diakonie in Großbritannien. 11 Senghaas, Dieter: Zivilisierung wider Willen. Der Konflikt der Kulturen mit sich selbst, Frankfurt a. M. 1998. 12 Dies gilt vor allem für die angelsächsischen Länder.

18

Die Kapitel 4 bis 7 bilden den Hauptteil der Arbeit. Zunächst wird in einer Skizze der Stationen von Chalmers Biographie deutlich gemacht, mit welchen Ausschnitten seines Lebens wir uns hier befassen sowie was die Tätigkeiten und Interessen waren, die Einfluss auf das Denken dieses Mannes hatten. Zudem werden seine wichtigsten Publikationen vorgestellt. Kapitel 5 zeigt zunächst wie Chalmers an die theologischen Traditionen des 16. und 17. Jahrhunderts anknüpfte. Hier wird deutlich, dass er einerseits den landeskirchlichen Reformatoren verpflichtet war, andererseits aber das theokratisches Gesellschaftsverständnis von Calvin und Knox mit den Argumenten der freikirchlichen Puritaner korrigierte. In zwei Abschnitten werden dann wesentliche Linien seines theologischen Ansatzes hervorgehoben. Zunächst geht es um seine eschatologische Perspektive und deren Implikationen für die Sozialreform. Das ihm zu Grunde liegende ReichGottes-Verständnis wird theologiegeschichtlich eingeordnet. Von daher wird sein Stellenwert für eine theologisch verantwortete Mitgestaltung der Gesellschaft auch in der Gegenwart deutlich. Der nächste Abschnitt nimmt die aufklärerische Dimension von Chalmers Ansatz in den Blick. Hier werden auch die Berührungspunkte zwischen Aufklärung und Erweckungsbewegung genannt, insbesondere wird hervorgehoben, inwiefern der Gedanke der Emanzipation beiden zu Eigen war. In Abschnitt 5.2.3 geht es um William Wilberforces Konzept einer christlichen Gesellschaftsreform, das er bereits Ende des 18. Jahrhunderts vorgestellt hatte. Dies war der erste namhafte Beitrag der britischen Erweckungsbewegung zum politischen Diskurs. Der Vergleich von Wilberforces und Chalmers Ansatz klärt die Frage, ob und wie der Schotte seinen älteren Zeitgenossen rezipiert hat. Zudem macht er die Charakteristika der beiden Konzepte deutlich. Das nächste Kapitel widmet sich der St. Johnsgemeinde in Glasgow und zeigt die verschiedenen Ebenen, auf denen hier die Diakonie verortet wurde. Dieses Modellprojekt, seine Struktur, Intentionen und nicht zuletzt die Methodik seiner Armenfürsorge fanden breiten Raum in Chalmers Veröffentlichungen und begründeten vor allem sein Renommee als Sozialreformer. In dem Kapitel wird gezeigt, dass eine Reihe von Maßnahmen und Zugängen, die heute zentrale Bestandteile der professionellen Sozialarbeit sind, von Chalmers bereits antizipiert wurden. Kapitel 7 macht den Facettenreichtum von Chalmers Reformprogramm jenseits der Stadtteilarbeit deutlich. Die eschatologische Hoffnung, dass die Gesellschaft schließlich ein gottgefälliges, christliches Gemeinwesen sein wird, ließ ihn vielfältig in der Kirche und im Staat für gerechtere Strukturen eintreten. Der rote Faden in allen hier dargestellten Themenfeldern war die Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen. In diesem Kapitel wird auch die Entwicklung seines Ansatzes gezeigt. An Chalmers Lebensende hatte die Ökumene ein größeres Gewicht und dem Staat kam eine größere soziale Verantwortung zu. Das 8. Kapitel geht auf die Wirkungsgeschichte des Schotten ein. Hier wird gezeigt, welche Aspekte seines Konzeptes vor allem rezipiert 19

wurden und was wenig oder gar nicht Beachtung fand. Seine Bedeutung für das Elberfelder Armenpflegesystem und Johann Hinrich Wichern wird genauer untersucht. Die internationale Rezeption wird durch markante Beispiele in den Blick genommen. Kapitel 9 zeigt die Bedeutung Chalmers für die Diakonie der Freikirchen und die Ökumene. Zunächst wird die freikirchliche Anthropologie und ihr Stellenwert für ihn deutlich gemacht sowie die Perspektiven, welche sich daraus für die Gegenwart eröffnen. Abschnitt 9.2 geht auf die Impulse ein, welche Chalmers Eschatologie der freikirchlichen Diakonie vermitteln kann. Indem die Perspektive des Reiches Gottes als Beitrag der Erweckungsbewegung zur freikirchlichen Theologie in den Blick genommen wird, kann sein Konzept den Horizont der freikirchlichen Diakonie bestimmen helfen. Gegenwärtige theologische Zugänge zur gesellschaftlichen Verantwortung werden hier mit ihren historischen Wurzeln zusammengebracht. Der Abschnitt 9.3 zeigt die ökumenische Konsequenz der Perspektive des Reiches Gottes, welche bereits in der klassischen Erweckungsbewegung wahrgenommen wurde. Hier wird darauf hingewiesen, wie der Schotte diese Erkenntnis umgesetzt hat und welche Anstöße sich hieraus ergeben können. In einem kleinen Ausblick wird schließlich auf die aktuelle Dimension des Rahmens hingewiesen, in den Chalmers die Diakonie gestellt hat. 1.3 Zum Forschungsstand bzw. zur literarischen Orientierung Zum Forschungsstand bzw. zur literarischen Orientierung in drei Themenfeldern, die diese Arbeit streift, sollte noch etwas angemerkt werden: Zahlreiche Studien widmen sich der Föderaltheologie des frühen angelsächsischen Calvinismus. Im Wesentlichen können diese Publikationen zwei verschiedenen Intentionen zugeordnet werden. Zum einen führte die Entdeckung der Bedeutung dieser Bundestheologie für die Entstehung der westlichen Demokratien zu einer Flut meist amerikanischer Publikationen, welche die Entwicklung der partizipativen Gesellschaftstheorien erhellen wollen. Vor allem die US-amerikanische Geschichte steht hier im Mittelpunkt des Interesses. Viele nordamerikanische Gemeinden unterschiedlicher Denominationen verstehen sich zudem nach wie vor als Bundesgemeinschaft. Bei einer Anzahl theologischer Arbeiten soll die Erforschung der barocken Bundestheologie von daher auch der Reflektion der Gegenwart dienen angesichts der Potenziale ihrer Tradition. Eine zweite Gruppe meist britischer Studien widmet sich dem Bundesbegriff in der Schottischen Kirche. Hier nehmen die schottischen Covenanters und der durch sie ausgelöste Bürgerkrieg in der Mitte des 17. Jahrhunderts einen breiten Raum ein. Diese Untersuchungen sind vor allem von der Frage nach ihrem Einfluss auf die weitere Entwicklung der Schottischen Kirche und Gesellschaft bestimmt. 20

Das umfangreichste Werk über den Zusammenhang von Föderaltheologie und Gesellschaftsverfassung ist eine vierbändige Studie von Daniel Elazars. In den letzten drei Bänden wird u. a. die angelsächsische Bundestheologie untersucht.13 Elazar macht in dieser Publikation deutlich, dass demokratische Strukturen und Traditionen der Gesellschaft und der Kirche in einer Wechselbeziehung stehen. So führt er auch die frühe Vorherrschaft von ausgeprägt partizipativ verfassten Kirchen in einigen Regionen auf ältere demokratische Traditionen zurück. Der umgekehrte Weg konnte wiederum zur Demokratisierung von Gesellschaften führen. Eine der wenigen Studien zum Thema, die in deutscher Sprache zugänglich sind, ist William Everetts Arbeit Gottes Bund und menschliche Öffentlichkeit.14 Diese Untersuchung schlägt den Bogen vom alttestamentlichen Bundesbegriff über Stationen der Kirchengeschichte bis zur systematisch-theologischen Reflektion der Gegenwart. Sie ist ein Beispiel für die Lebendigkeit der hier behandelten covenant theology in Nordamerika. Aus den Veröffentlichungen über die schottischen Covenanters soll hier vor allem die von John Morrill herausgegebene Aufsatzsammlung hervorgehoben werden, in der Intentionen und Auswirkungen des mit ihnen verbundenen Konfliktes beleuchtet werden.15 Steven Brachlows Publikation über die Ekklesiologie der puritanischen Separatisten,16 sowie die beiden deutschen Dissertationen von Poppers17 und Förster18, machen etwas von den Zusammenhängen zwischen der kongregationalistischen Föderaltheologie und der Entwicklung der Demokratie in Großbritannien deutlich. Poppers und Försters Arbeiten sind hierzu immer noch die gründlichsten Studien in deutscher Sprache, obwohl sie bereits vor mehreren Jahrzehnten entstanden sind. Coggings Untersuchung über die erste historisch nachweisbare Baptistengemein13 Elazar, Daniel J.: Covenant and Commonwealth. From Christian Separation through the Protestant Reformation, The Covenant Tradition in Politics Bd. II, New Brunswick/London 1996; Ders.: Covenant and Constitutionalism. The Great Frontier and the Matrix of Federal Democracy, The Covenant Tradition in Politics Bd. III, New Brunswick/London 1998; Ders.: Covenant and Civil Society. The Constitutional Matrix of Modern Democracy, The Covenant Tradition in Politics Bd. IV, New Brunswick/London 1998; Der erste Band des Werkes kann hier unberücksichtigt bleiben, er widmet sich dem Bundesbegriff im biblischen Israel. 14 Everett, William Johnson: Gottes Bund und menschliche Öffentlichkeit, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt v. Gerd Decke, Ökumenische Existenz heute Bd. 8, München 1991. 15 Morrill, John (Hg.): The Scottish National Covenant in its British Context, Edinburgh 1990. 16 Brachlow, Stephen: The Communion of Saints. Radical Puritan and Separatist Ecclesiology 1570–1625, Oxford u. a. 1988. 17 Poppers, Hirsch Leib: Die Entstehung des Kongregationalismus aus der puritanischen Bewegung und seine Bedeutung als Indepedentismus für die englische Staatsgeschichte des 17. Jahrhunderts, Berlin 1936. 18 Förster, Winfried: Thomas Hobbes und der Puritanismus. Grundlagen und Grundfragen seiner Staatslehre, Hamburg 1969.

21

de19 und McBeths umfangreiches Werk über die Geschichte der Baptisten20 informieren am genauesten über die frühe baptistische Theologie und Praxis. Aus der vorliegenden Arbeit werden sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede der presbyterianischen und kongregationalistischen covenanting traditions deutlich. Um die Verschiedenheit der beiden Traditionslinien zu unterstreichen wird hier von den „Bundestraditionen“ im Plural gesprochen. In der Literatur wird der Begriff covenant theology im Singular meist für die in der Barockzeit entstandene Ekklesiologie der Baptisten und Kongregationalisten verwendet. Wenn hier statt dessen von Traditionen geredet wird, dann deshalb, weil damit die presbyterianische Linie auch berücksichtigt werden kann, in der die Kirche als Bundesgemeinschaft nicht wie bei Kongregationalisten ein expliziter Teil der Theologie war. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die kongregationalistische Ekklesiologie von der presbyterianischen Tradition beeinflusst wurde. Dieser Zusammenhang ist jedoch noch ein Forschungsdesiderat. Elie Halévys These bestimmte lange Zeit die angelsächsische Forschung in der Beurteilung der Erweckungsbewegung. Halévy ging davon aus, der Evangelicalism im Allgemeinen und insbesondere der Methodismus hätte als ein konservatives Instrument der Verbürgerlichung gewirkt, das Großbritannien vor einer Revolution der organisierten Arbeiter bewahrt hätte.21 Halévys These wurde in der Folge nicht nur oft wiederholt, z. B. von Edward Thomson,22 sie regte auch weitere Studien an, die das Verhältnis der britischen Erweckungsbewegung zur Arbeiterbewegung beleuchteten. So kann das Verhältnis der beiden Phänomene heute differenzierter beschrieben werden. Offensichtlich wirkte die Erweckungsbewegung nicht nur kontraproduktiv auf die Arbeiterbewegung, sie gab ihr auch Impulse, beeinflusste ihre Motive und ihre Strukturen.23 In jüngerer Zeit versuchen vor allem Bebbington, Noll und Rawlyk in ihren Publikationen die emanzipatorische Dimension der angelsächsischen Erweckungsbewegung auch jenseits der Arbeiterschicht in den Blick zu nehmen.24 Der Zusammenhang von Aufklärung und Erweckungsbewegung sowie die Bedeutung der Evangeli19 Coggins, James Robert: John Smyth’s Congregation. English Separatism, Mennonite Influence, and the Elect Nation, Waterloo/Scottdale 1991. 20 McBeth, H. Leon: The Baptist Heritage, Nashville 1987. 21 Halévy, Elie: Histoire du peuple anglais au XIXème siècle I, L’Angleterre en 1815, Paris 1931; Die englische Übersetzung des Werkes hieß: A History of the English People in the Nineteenth Century I, England in 1815, London 1961. 22 Thompson, Edward P.: The making of the English working class, London 1963. 23 Vgl. hierzu z. B. Laqueur, T. W.: Religion and Respectability. Sunday Schools and Working Class Culture 1780–1840, New Haven/London 1976 und Hempton, David: Methodism and Politics in British Society 1750–1850, London u. a. 1984. 24 Bebbington, David W./Noll, Mark A./Rawlyk, George A. (Hg.): Evangelicalism. Comparative Studies of Popular Protestantism in North America, the British Isles, and Beyond 1700–1990, New York/Oxford 1990 und Bebbington, David W.: Evangelicalism in Modern Britain. A History from the 1730s to the 1980s, London u. a. 1989.

22

cals für den Aufbau demokratischer Strukturen in den Anfängen der USA werden hier thematisiert. Den Einfluss der Erweckungsbewegung auf sozial- und wirtschaftspolitische Konzepte in Großbritannien hat Boyd Hilton 1988 untersucht.25 Hilton unterteilte die Evangelicals in einen liberalistischen und einen paternalistischen Flügel. Diese Arbeit setzt sich mit seinen Thesen auseinander.26 Die Publikationen William Reginald Wards über die Erweckungsbewegung zeichnen sich vor allem durch ihren Detailreichtum aus.27 Ward gehört auch zu den wenigen englischsprachigen Kirchenhistorikern, die sich in ihren Forschungen nicht auf die angelsächsischen Evangelicals beschränken. Den europäischen Kontext, Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Zusammenhänge der britischen und mitteleuropäischen Erweckungsbewegung nimmt Ward ebenfalls in den Blick. Für den deutschen Sprachbereich hat Karsten Ernst in seiner Dissertation über den Alttestamentler Heinrich A. C. Hävernick (1810–1845) durch seine gründliche Darstellung insbesondere der angelsächsischen Literatur eine Lücke geschlossen. Hier referiert er über 65 Seiten die Konzeptionen, die mit den Begriffen Erweckung, Erweckungsbewegung28 bzw. revival in der mitteleuropäischen und englischsprachigen Forschung verbunden wurden.29 Auf diese detaillierte Darstellung des Forschungsstandes zum Thema kann hier nur verwiesen werden. Einen kürzeren aber bis an ihre Anfänge zurückreichenden Überblick über die Erforschung der Erweckungsbewegung bietet auch Hartmut Lehmann in der Einführung des vierten Bandes der Geschichte des Pietismus.30 Die Entwicklung der deutschsprachigen Forschung lässt sich so zusammenfassen: Bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts verstand man unter der Erweckungsbewegung einhellig eine kritische Erneuerungsbewegung, die sich über zahlreiche Länder und Kirchen erstreckte. Man ging davon aus, dass sich trotz der Verschiedenheit ihrer Erscheinungsformen und der in ihr präsenten theologischen Traditionen ihre Repräsentanten vor allem durch drei Gemeinsamkeiten auszeichneten: Sie lehnten erstens die Aufklärung und den von ihr geprägten Teil der Kirchen ab, zweitens betonten sie die persönliche Erfahrung des Heils, drittens stellten sie die praxis pietatis in der Gestalt von missionarischem und diakonischem Handeln in den Mittelpunkt.31

25 Hilton, Boyd: The Age of Atonement. The Influence of Evangelicalism on Social and Economic Thought, 1795–1865, Oxford 1988. 26 Vgl. 5.2.3 und 7.4. 27 Vor allem: Ward, William Reginald: Religion and Society in England 1790–1850, London 1972 und Ders.: The Protestant Evangelical Awakening, Cambridge 1992. 28 Teilweise wird auch der Plural Erweckungsbewegungen verwendet. 29 Ernst, Karsten: Auferstehungsmorgen. Heinrich A. Chr. Hävernick Erweckung zwischen Reformation, Reaktion und Revolution, Gießen/Basel 1997, 1–65. 30 Lehmann, Hartmut u. a. (Hg.): Glaubenswelt und Lebenswelten, Geschichte des Pietismus IV, Göttingen 2004, 1–8. 31 So z. B. Schmidt, Martin: Art. Erweckungsbewegung, in: EKL I, 1956, 1135–1144; Beyreuther, Erich: Die Erweckungsbewegung, Göttingen 1963; Benrath, Gustav Adolf: Art.

23

In seinem Buch Auferstehungszeit32 setzt sich Ulrich Gäbler für eine neue Bewertung der Erweckungsbewegung ein. Vor allem an zwei Punkten versucht er die deutschsprachige Forschung zu korrigieren: Die Beschreibung von Erweckungsbewegung und Aufklärung als rivalisierende Strömungen verkenne die Gemeinsamkeiten und Zusammenhänge zwischen beiden Phänomenen. Es gäbe bewusste Anknüpfungen der Evangelicals an die Aufklärung sowie auch einen Einfluss von ihnen auf die Bewegung, dessen sich die Erweckten gar nicht bewusst waren. Beide Bewegungen ließen sich nur im Kontext aufklärerischer Ziele verstehen. Zweitens geht Gäbler davon aus, dass die Kategorien, mit denen die Erweckungsbewegung bisher beschrieben wurde, den regionalen Unterschieden zu wenig Rechnung trügen. Trotz der Beziehungen, die etliche Protagonisten der Bewegung über Ländergrenzen und Kontinente hinweg miteinander pflegten, hätte sich die Erweckungsbewegung in sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen und konfessionellen Kontexten manifestiert. Dennoch seien die Gemeinsamkeiten der Bewegung unübersehbar. Gäbler nennt eine Reihe von Kennzeichen oder Motive, die sich mehr oder weniger überall in der Erweckungsbewegung finden würden.33 Die relative Unschärfe von Gäblers Kategorien soll es möglich machen, die unterschiedlichen Flügel der Erweckungsbewegung gemeinsam in den Blick zu nehmen. Die vorliegende Arbeit knüpft an Gäblers Bewertung der Erweckungsbewegung an. Der Abschnitt 6.2.2 dieser Untersuchung versucht zudem den Zusammenhang von Aufklärung und Erweckungsbewegung noch genauer auszuloten. Am Beispiel Chalmers soll darüber hinaus gezeigt werden, dass die Bewegung nicht nur als Phänomen verstanden werden kann, das die Bedeutung der Kirche relativierte, sondern dass sie in der Tat auch einen kirchlichen Zweig besaß. Etliche kürzere Darstellungen widmen sich dem Leben und Werk Thomas Chalmers. Bei den deutschsprachigen Veröffentlichungen steht an erster Stelle der Aufsatz Thomas Chalmers und die Anfänge der kirchlich-sozialen Bewegung von Karl Holl.34 Er ist zwar bereits 1913 erschienen, aber immer noch lesenswert. Holl erkannte schon, dass Chalmers den Arbeitern das Recht auf Selbstorganisation zusprach und damit fortschrittlicher als viele Zeitgenossen war. Aus den Publikationen der jüngeren Zeit ist Ulrich Gäblers Darstellung Thomas Chalmers – Die neue Kirche in dem Buch Auferstehungszeit hervorzuheben.35 Hier wird ChalErweckung/Erweckungsbewegungen I Historisch, in: TRE X, Berlin/New York 1982, 205–220. 32 Gäbler, Ulrich: „Auferstehungszeit“. Erweckungsprediger des 19. Jahrhunderts, 6 Portraits, München 1991. 33 In Abschnitt 3.2.1 wird Gäblers Charakterisierung der Bewegung vorgestellt. 34 Holl, Karl: Thomas Chalmers und die Anfänge der kirchlich-sozialen Bewegung, erstmals erschienen 1913, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 3, Tübingen 1928, 404–436. 35 Gäbler: Auferstehungszeit, 29–54.

24

mers im Spannungsfeld zwischen Volks- und Freiwilligkeitskirche angesiedelt. Viele englischsprachige Untersuchungen sind einzelnen Aspekten des Werkes von Chalmers gewidmet. Ihre Ergebnisse sind in neun Dissertationen eingeflossen, die den Schotten zum Gegenstand haben.36 Die vier jüngsten beschreiben im Wesentlichen den gegenwärtigen Stand der Chalmersforschung. Mary Theresa Furgol hat insbesondere sein Armenfürsorgekonzept und dessen Rezeption in Großbritannien in den Blick genommen.37 In ihrer Bewertung des Ansatzes steht der Anspruch, der an die Hilfsbedürftigen gestellt wurde, im Vordergrund, sie geht auch von einer deutlichen Entwicklung des Konzeptes aus, in dem allein der Selbsthilfegedanke gleich blieb. Ein differenzierteres Bild von Chalmers vermitteln Roxborogh, Voges und Brown. John Roxboroghs Arbeit erschien 1978 und widmet sich dem Leben und der Theologie des Schotten.38 Besonders wird sein Missionsverständnis untersucht, aber auch der Stellenwert der Common-Sense-Philosophie in Chalmers Konzept sowie das Verhältnis von Kirche und Welt bekommen hier Tiefenschärfe. Die Dissertation von Friedhelm Voges ist die umfangreichste deutschsprachige Studie über den Schotten. Sie beschäftigt sich mit dem „Denken von Thomas Chalmers im kirchen- und sozialgeschichtlichen Kontext“.39 Die Konzeption von Voges Studie geht über ältere Untersuchungen der Theologie Chalmers hinaus. Neben den geistesgeschichtlichen Aspekten werden hier auch seine Motive untersucht und die mentalitätsgeschichtliche Dimension dieses Abschnitts der schottischen Kirchengeschichte aufgezeigt. Den weitesten Bogen in der Chalmersforschung spannt die Arbeit des Edinburgher Kirchenhistorikers Steward Brown.40 Er zeigt, dass Chalmers Ansatz von dem Ideal des gottgefälligen Gemeinwesens (godly commonwealth) bestimmt war. Sein Ziel war eine vom christlichen Ethos bestimmte Reform der Gesellschaft. Diese Arbeit zieht die Linie Browns in zwei Richtungen weiter. Einerseits werden die historischen Wurzeln von Chalmers Gesellschaftsideal im Calvinismus des 17. Jahrhunderts in den Blick genommen, andererseits werden die verschiedenen Ebenen der Reform des Gemeinwesens deutlich gemacht. Eine genauere Wahrnehmung dieses Reformansatzes soll hier zudem dadurch ermöglicht werden, 36 Eine niederländische, eine deutsche und sieben englischsprachige. 37 Furgol, Mary Theresa: Thomas Chalmers’ poor relief theories and their implementation in the early nineteen century, Dissertation Edinburgh 1987. 38 Roxborogh, John: Thomas Chalmers and the mission of the Church with special reference to the rise of the missionary movement in Scotland, Dissertation Aberdeen 1978, veröffentlicht unter dem Titel: Thomas Chalmers: Enthusiast for Mission. The Christian Good in Scotland and the Rise of the Missionary Movement, Edinburgh 1999. 39 Voges, Friedhelm: Das Denken von Thomas Chalmers im kirchen- und sozialgeschichtlichen Kontext, Frankfurt am Main/Bern/New York 1984. 40 Brown, Steward J.: Thomas Chalmers and the Godly Commonwealth in Scotland, Oxford 1982.

25

dass sein Zusammenhang mit Chalmers Reich-Gottes-Erwartung aufgezeigt wird. Bei den Quellen wurde hier vorwiegend auf bereits gedrucktes Material zurückgegriffen. Mit Ausnahme einer Reihe von Predigten, die Chalmers in einer noch nicht entzifferten Kurzschrift abfasste, ist sein gesamtes Werk veröffentlicht worden. Der größte Teil findet sich in der bereits zu seinen Lebzeiten erschienenen 25 bändigen Werkausgabe.41 Diese wurde posthum ergänzt durch eine neunbändige Ausgabe, die von Chalmers Schwiegersohn herausgegeben wurde.42 Neben diesen Büchern war die einzig größere Publikation ein zweibändiges Werk, das durch eine Stiftung des Earl of Bridgewater finanziert worden war.43 Darüber hinaus wurden auch Aufsätze einbezogen, die in Broschüren, Zeitschriften oder Zeitungen erschienen waren. Die Texte der Werkausgabe unterscheiden sich gelegentlich geringfügig von der Version ihrer ersten Publikation. So wurde hier immer wieder auch auf diese Erstveröffentlichungen zurückgegriffen. Weitere Quellen liegen in der vierbändigen Biographie Chalmers vor, die von seinem Schwiegersohn veröffentlicht wurde.44 Zahlreiche Briefe, Reden und Kirchenprotokolle sind hier vollständig abgedruckt. Nicht zuletzt deshalb ist diese Veröffentlichung mit ihrer zweifellos auch hagiographischen Note immer noch unverzichtbar. Ein Aufenthalt in Edinburgh ermöglichte es mir aber auch ungedruckte Quellen aus dem Chalmersarchiv45 zu berücksichtigen. Ein beträchtlicher Teil hiervon ist allerdings schon in älteren Studien ausgewertet worden und konnte deshalb vernachlässigt werden. Freilich finden sich im Archiv mit seinen ca. 14000 Briefen, Protokollen und unentzifferten Predigten auch noch Forschungsdesiderate.

41 Chalmers, Thomas: The Works I–XXV, Edinburgh und London 21848–1854 (Nachdruck der 1. Auflage von 1836–1842). 42 Chalmers, Thomas: Posthumous works I–IX, William Hanna (Hg.), Edinburgh 1847–1849. 43 Chalmers, Thomas: On the Power, Wisdom and Goodness of God as Manifested in the Adaptation of External Nature to the Moral and Intellectual Constitution of Man I–II, London 1833. 44 Hanna, William: Memoirs of the Life and Writings of Thomas Chalmers I–IV, Edinburgh 1851–1852. 45 Das Chalmersarchiv (The Chalmers Papers) befindet sich in der New College Library in Edinburgh.

26

2. KAPITEL

Zur Vorgeschichte von Chalmers Ansatz: Die covenanting traditions im 16. und 17. Jahrhundert 2.1 Die covenanting traditions als Teil der angelsächsischen Föderaltheologie Schon früh entwickelten sich im britischen Protestantismus sozial-theologische Ansätze. Gemeint sind Traditionen, die im 16. Jahrhundert ihren Anfang nahmen, in denen der Begriff Bund (covenant) in besonderer Weise der Kirche und der Gesellschaft zugeordnet wurde. Covenant wurde hier zu einem Begriff, der einen theologischen Zugang zu der sozialen Struktur der Kirche und Gesellschaft eröffnete und Perspektiven für eine christliche Sozialethik bot. Den Kontext dieser covenanting traditions bildete die reformierte, angelsächsische Föderaltheologie. Auf den britischen Inseln bekannten sich im 16. und 17. Jahrhundert die schottischen Presbyterianer und ihr englisches Äquivalent, die Puritaner, zur reformierten Form des Protestantismus. Beide strebten eine Kirche an, die weitgehend durch Calvins Theologie geprägt war, wenngleich sie diese aber in eigener Weise interpretierten. Sie waren sich einig in der Ablehnung der bischöflichen Verfassung der Kirche und in der Betonung des reformatorischen sola gratia. Der Puritanismus begann fast zeitgleich mit der schottischen Reformation in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Zunächst bildeten die Puritaner nur ein Richtung innerhalb der anglikanischen Staatskirche, relativ bald gab es aber auch einen freikirchlichen Flügel. Unter den Puritanern wurden zwei verschiedene Typen von Kirchen favorisiert, der presbyterianische und der kongregationalistische. Die Presbyterianer wollten eine Kirche, die wie die schottische verfasst war: Die Gemeinden sollten durch Kirchenvorstände geleitet werden, die von den Gemeinden gewählt oder zumindest bestätigt waren. Diese sollten Delegierte zu Bezirkspresbyterien, Regionalen- und Landessynoden senden, auf denen durch demokratische Beschlüsse die Geschicke der Kirche bestimmt werden sollte. Für die Kongregationalisten bestand die sichtbare Kirche nur aus den Ortsgemeinden. In ihnen sollten alle Gemeindeglieder gleichberechtigt auf Gemeindeversammlungen basisdemokratisch den Kurs der Gemeinde bestimmen. Die kongregationalistischen Pfarrer, Presbyter und Diakone sollten von den Gemeinden gewählt werden und als deren ausführende Organe verstanden werden. Neben den Presbyterianern und Kongregatio27

nalisten können auch die Baptisten zu den Puritanern gezählt werden. Ihre Ekklesiologie und Verfassung war mit der der Kongregationalisten identisch. Um eine Reformation der anglikanischen Staatskirche im puritanischen Sinn bemühten sich sowohl Presbyterianer als auch ein Teil der Kongregationalisten. Die Baptisten und ein anderer Teil der Kongregationalisten vertraten das freikirchliche Modell mit einer strikteren Trennung von Staat und Kirche. So gut wie sich eine kongregationalistische Verfassung der Kirche von einer presbyterianischen unterscheiden lässt, so wenig lassen sich beide Kirchengruppen grundsätzlich voneinander trennen. Schon bald gab es Mischformen zwischen beiden. Es bildeten sich kongregationalistische Gemeindeverbände mit regelmäßig tagenden Synoden und es gab kongregationalistische Gemeinden, die presbyterianisch geleitet wurden.1 Ebenso gab es presbyterianische Puritaner, deren Theologie und kirchliche Praxis stark kongregationalistisch geprägt war.2 Der Kontext der britischen covenanting traditions, die angelsächsische Föderaltheologie, fand ihr bedeutendstes Dokument in der Westminster Confession von 1647, welche bis heute die wichtigste Bekenntnisschrift der Presbyterianer und, leicht modifiziert, auch der Kongregationalisten ist. Das wichtigste baptistische Bekenntnisse des 17. Jahrhunderts, die London Baptist Confession von 1689, ist ebenfalls eine Variante des Westminster Bekenntnisses. Im 7. Kapitel des Bekenntnisses wird das Heil als ein Bund beschrieben, den Gott mit den Menschen schließt.3 Im Bekenntnis von Westminster ist Gott alleiniges Subjekt des Bundes. Covenant ist hier eine Kategorie, mit der die reformatorische Gnadentheologie entfaltet wird. Neben dieser unilateralen Föderaltheologie fanden sich in Großbritannien Entwürfe, die mit dem Begriff des Bundes noch einen anderen Aspekt zur Sprache bringen wollten: Den Menschen als das durch Gottes Zuwendung ermächtigte Subjekt. Der covenant mit Gott wurde dann als ein an gegenseitige Verpflichtungen geknüpfter Vertrag verstanden. Die jeweilige Interpretation des Bundes hing von dem Kontext ab, in dem der Bundesbegriff verwandt wurde. Der Bund war immer dann eine mutua obligatio, wenn von den zur Eigenverantwortlichkeit ermächtigten Menschen geredet wurde. Er war Ausdruck der Gnade,

1 In der amerikanischen Cambridge Erklärung von 1647/48 formulierten Kongregationalisten z. B., dass Synoden zwar nicht für das „esse“ (unto the being) der Gemeinden nötig seien, wohl aber für das „bene esse“ (unto the well-being). Larsen, Paul E.: Democracy and Congregationalism, in: Hawkinson, James R./Johnston, Robert K. (Hg.): Servant Leadership. Authority and Governance in the Evangelical Covenant Church I, Chicago 1993, 138–157, 146. Henry Barrow, einer der führenden englischen Kongregationalisten bis zu seiner Hinrichtung 1593, vertrat z. B. die presbyterianische Form der Gemeindeleitung. Nicht die Gemeindeversammlung sollte seiner Meinung nach die Geschicke der Gemeinde lenken, sondern die von ihr bestätigten Ältesten. Poppers: Entstehung, 101. 2 Hawkinson/Johnston: Servant Leadership, 93. 3 Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche, E. F. Karl Müller (Hg.), Leipzig 1903, 558ff.

28

wenn das extra nos des Heilshandelns Gottes zur Sprache gebracht wurde.4 So tritt auch im Bundesbegriff des schottischen Reformators John Knox (ca.1505–1572) der Mensch als Handelnder Gott gegenüber in Erscheinung. Knox fügte dem Bund aber noch eine weiter Dimension hinzu. Die menschlichen Bundesgenossen verpflichten sich zusätzlich voreinander den Grundsätzen des reformierten Glaubens treu zu sein und sie zu verteidigen. Anders als in den meisten anderen protestantischen Ländern wurde in Schottland die Reformation nicht durch die Regentin durchgesetzt, sondern vielmehr gegen sie. Die Königin Mary Stewart musste schließlich dem Druck der Reformierten weichen und zurücktreten. 1556 initiierte Knox den ersten dieser Bünde für die Reformation. In seinem Beisein „verbanden“ sich im Haus des Laird of Dun eine Reihe von Gutsbesitzern „die rechte Verkündigung des Evangelium von Jesus Christus zu befördern.“5 In den nächsten Jahren folgten zahlreiche ähnliche Bundesschlüsse, in denen sich jeweils kleine Gruppen von Männern, meist Aristokraten, zusammenschlossen. Knox knüpfte hierbei zunächst an eine alte, bis in die Völkerwanderungszeit reichende, schottische Tradition regionaler Bündnisse, so genannter bands an.6 1558 beschrieb Knox zum ersten Mal ein solches band als einen zwischen Menschen und mit Gott geschlossenen Bund und bezog sich dabei auf alttestamentliche Bündnisse.7 In seiner Schrift Apellation to the Nobility, and the Estates of Scotland sprach er von einer kollektiven Verantwortung vor Gott und einander, welche die Mitglieder einer Gemeinschaft zu einer gemeinsamen Bestimmung vereint. Dabei sollten sie von dem Gehorsam gegenüber der Idee des Bundes geleitet werden.8 Nicht nur die Anhänger der presbyterianischen Staatskirche Schottlands traten als Covenanters9 in Erscheinung. Auch ihr englisches Gegenstück, die Puritaner, haben covenanting traditions. Durch die theolo4 Brachlow: Communion, 34. 5 „bound themselves . . . to maintain the true preaching of the Evangel of Jesus Christ.“ John Knox’s History of the Reformation in Scotland, W. Croft Dickinson I (Hg.), London 1950, 22, zit. n. Greaves, Richard L.: Theology and Revolution in the Scottish Reformation. Studies in the Thought of John Knox, Washington 1980, 121. 6 Vgl. Elazar: Commonwealth, 132ff; Elazar macht in seinem vierbändigen Werk zur Geschichte der covenants auf die Wechselbeziehung zwischen demokratischen Traditionen und Strukturen der Gesellschaft und der Kirche aufmerksam. So zeigt er auch den Zusammenhang zwischen den britischen covenantal churches und Traditionen der freien Bündnisse in den verschiedenen Regionen der Insel auf und weist auf den Zusammenhang zu anderen demokratischen Traditionen hin, wie z. B. der Königswahl im mittelalterlichen Schottland durch die Aristokraten des Landes. 7 2 Kg 23; 15,9–24, 2 Chr 15; Vgl. Greaves: Theology, 119 und Elazar: Commonwealth, 274. 8 Vgl. Stelen Margaret: The ’Politick Christian’. The Theological Background to the National Covenant, in: Morrill: National Covenant, 31–67: 63. 9 Bundesgenossen.

29

gische Nähe zu den schottischen Presbyterianern10 kam es zudem zu gegenseitigen Beeinflussungen. William Tyndale (ca.1490–1536) führte als Erster die Kategorie des Bundes in die protestantische Theologie Englands ein. Er kann als Wegbereiter der puritanischen Theologie angesehen werden.11 Über sein Leben ist wenig bekannt. Ab 1524 lässt sich ein längerer Aufenthalt auf dem europäischen Festland nachweisen, wo er wichtige Impulse empfing. Auch bei Tyndale sieht der Bund, den Gott mit den Menschen schließt, den Menschen als aktives Gegenüber Gottes: „Alle guten Verheißungen, die uns durch die Schrift zugesprochen werden um Christi Willen [. . .] sind unsererseits an die Bedingung oder den Bund geknüpft, dass wir fortan das Gesetz Gottes lieben, darin wandeln und es tun und unser Leben danach gestalten.“12

Der Bund, verstanden als eine gegenseitige Übereinkunft zwischen Mensch und Gott, gewann dann im englischen Puritanismus zentrale Bedeutung. William Perkins (1558–1602) gilt hier als einer der Hauptvertreter. Perkins formulierte: „Der Bund besteht aus zwei Teilen – Gottes Versprechen an den Menschen, des Menschen Versprechen an Gott. Gottes Versprechen an den Menschen ist, sich an den Menschen zu binden und sein Gott zu sein, sofern er [der Mensch] die Bedingung einhält. Des Menschen Versprechen an Gott ist, dass er seine Treue seinem Herrn gelobt und die Abmachung zwischen ihnen einhält.“13

Möglicherweise angeregt durch das schottische Vorbild14 ergänzten, im ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhundert, die Kongregationalisten und Baptisten die bilaterale puritanische Föderaltheologie um die Dimension der Kirche. So konstituierten sie ihre Kirchen als Gemeinschaften von Bundesgenossen. Aber anders als bei den Presbyterianern war dieses Faktum bei ihnen Teil ihrer theologischen Reflektion. Der Bund Gottes definierte für sie gleichzeitig das Verhältnis des Glaubenden 10 Die gemeinsam verfasste Westminster Confession ist deutlichstes Zeichen ihrer Nähe. 11 Vgl. Poole, David N. J.: Stages of Religious Faith in the Classical Reformation Tradition. The Covenant Approach to the Ordo Salutis, Lewiston/Queenston/Lampeter 1995, 152ff. 12 „All the good promises which are made us throughout all the scripture, for Christ’s sake [. . .] are all made us on this condition and covenant on our party, that we hencefore love the law of God, to walk therein, and to do it, and fashion our lives thereafter.“ Tyndale, William: Expositions and Notes on sundry Portions of the Holy Scriptures, 6, zit. n. Strehle, Stephen: Calvinism, Federalism, and Scholasticism. A Study of the Reformed Doctrine of Covenant, Bern/Frankfurt/New York/Paris 1988, 324. 13 „Covenant consists of two parts – God’s promise to man, man’s promise to God. God’s promise to man is that whereby he bindeth himself to man and to be his God, if he perform the condition. Man’s promise to God is that whereby he voweth his allegiance unto his Lord and to perform the condition between them.“ Perkins, William: The Works of William Perkins, Appleford 1970, 220, zit. n. Poole: Stages, 170f. 14 Vgl. 2.3.

30

zu Gott und zu den Mitchristen. Die Kirche selbst wurde als bewusster Bundesschluss ihrer Mitglieder verstanden. Darüber hinaus wurde covenant zum Leitbegriff, mit dem die Puritaner auch die soziale Dimension des Lebens außerhalb der Kirche erfassten. Ihr Ideal der Gesellschaft war ein Netzwerk von Bünden. William Perkins beschrieb es in einer Predigt so: „Wir sind von Natur aus Bundesgeschöpfe, miteinander verbunden durch unzählige Bünde und mit unserem Gott verbunden durch einen Bund. So ist unsere menschliche Beschaffenheit. So ist dies irdische Leben. So ist Gottes Schöpfung. Gesegnet seien die Bande, die uns binden.“15

Eine vergleichbare Theorie der Gesellschaft im Kontext der reformierten Föderaltheologie lässt sich auf dem europäischen Festland kaum finden. Eine bedeutende Ausnahme bilden allerdings die Schriften des Emdener Stadtsyndikus Johannes Althusius (1557–1638), die im übrigen auch in der angelsächsischen Welt gelesen wurden.16 So ist Poole zuzustimmen, der nur England, Schottland und den hiervon beeinflussten amerikanischen Kolonien signifikante Ausprägungen einer solchen föderalen Theorie im politischen Bereich zuordnet.17 Um das Jahr 1700 hatte der Begriff covenant in England und Schottland eine Bedeutung gewonnen, die Perspektiven für ein neues Verständnis von Kirche und Gesellschaft eröffnete. Hier bahnten sich bereits die Umwälzungen an, die in den darauf folgenden Jahrzehnten ganz Europa erschüttern sollten. Sie fanden auf den britischen Inseln ihren Ausdruck in blutigen Bürgerkriegen. Die Machtverhältnisse änderten sich in diesen Jahren grundlegend. Gegen Ende des Jahrhunderts gehörte Großbritannien zu den am weitest entwickelten Demokratien in Europa. Die kirchliche Landschaft war hier zu dieser Zeit so vielgestaltig wie nirgendwo sonst auf dem Kontinent. Der Zusammenbruch alter Strukturen ermöglichte es, Kirche und Staat neu verstehen zu können. Gleichzeitig war die covenanting theology, die sich in diesem Kontext entwickelte, aber auch ein Motor der Veränderungen. Bund war eine, wenn nicht die, zentrale theologischen Kategorie des angelsächsischen Calvinismus im 16. und 17. Jahrhundert. In Nordamerika sind die damit verbundenen föderaltheologischen Konzepte in 15 „We are by nature covenant creatures, bound together by covenants innumerable and together bound by covenant to our God. Such is our human condition. Such is this earthly life. Such is God’s good creation. Blessed be the ties that bind us.“ zit. n. Elazar: Commonwealth, 239. 16 Zum Beispiel stützte Archibald Johnston of Wariston, der einer der Köpfe der schottischen Covenanters des 17. Jahrhunderts war, seine Argumentation für den covenant u. a. auf die Lektüre der Politica Methodice Digesta von Althusius. Vgl. Stelen: Politick Christian, 49. 17 „Nur in England, Schottland und den Amerikanischen Kolonien hatte die Theorie des politischen Bundes in herausragender Weise gestaltende Funktion.“ „Only in England, Scotland and the American colonies did the political covenant theory figure prominently.“ Poole: Stages, 275.

31

vielen Kirchen bis heute von Bedeutung. Die ihnen entsprechende Ekklesiologie – Kirche als covenanted community – hat auf dem europäischen Festland kein Gegenstück. Gerade hierin zeigt sich die Besonderheit der englischsprachigen reformierten Tradition im Kontext des Protestantismus.

2.2 Kirche als covenanted community im schottischen Presbyterianismus Der in der beschriebenen Weise von Knox mit Inhalt gefüllte Begriff covenant sollte so in den 100 Jahren nach seinem Tod von vitaler Bedeutung für die Schottische Kirche werden. Wie am Anfang nur durch Bünde, in denen sich Menschen verpflichteten, gemeinsam für den reformierten Glauben einzustehen, die Reformation in Schottland Raum greifen konnte, so waren es danach auch covenants, die das Überleben der Schottischen Kirche als eigenständige presbyterianische Glaubensgemeinschaft sicherten. 1581 wurde der erste covenant von leitenden Persönlichkeiten aus ganz Schottland unterzeichnet.18 In ihm verwarfen die Unterzeichner angesichts einer drohenden Rekatholisierung der presbyterianischen Kirche eine Anzahl römisch-katholischer Dogmen. Auch der König, James VI. wurde genötigt, den Bund zu unterzeichnen. Der covenant von 1581 wurde 1590 und 1596 erneuert.19 Der Nachfolger von James VI. war Charles I.20 Charles versuchte in der Schottischen Kirche die anglikanische Kirchenordnung einzuführen. Dies führte 1638 in Schottland zu einem erneuten National Covenant. Der Text des covenant nahm Bezug auf seinen Vorgänger von 1581, bekannte sich zur presbyterianischen Lehre und Verfassung der Kirche und dazu, dass diese vom König wie bisher gesetzlich zu schützen sei und verpflichtete die Unterzeichner „sich gegenseitig im Einsatz für diese Sache“ zu unterstützen.21 An zwei Punkten unterschied sich dieser Bund von seinem Vorgänger. Erstens waren nicht allein Männer der Führungsschicht aufgerufen ihn zu unterschreiben, sondern ausnahmslos jeder Kirchgänger. Zweitens gehörte der König, wenn auch widerstrebend, zu den Unterzeichnern des covenant von 1581, während der Bund von 1638 sich trotz verbaler Loyalitätsbekundungen gegenüber dem König, ausdrücklich gegen die Politik des Regenten wandte. Im ganzen Land wurden die Gottesdienst18 Der covenant von 1581 wird auch als Confessio Scoticanae posterior oder Confessio Negativa bezeichnet. Bekenntnisschriften, S. xxxvi. 19 Vgl. ebd., S. xxxvi; 263ff und Elazar: Commonwealth, 276. 20 Ab 1603 war James VI ebenso wie später seine Nachfolger in Personalunion König von England und Schottland. In England war er James I. 21 „to support ’every one of us of another in the same cause“ Scottish Historical Documents III, Edinburgh 1974, 194ff, zit. n. Stelen: Politick Christian, 43. In deutscher Übersetzung findet sich der covenant von 1638 leicht gekürzt in: Sack, Karl Heinrich: Die Kirche von Schottland. Beiträge zu deren Geschichte und Beschreibung II, Heidelberg 1845, 1–14.

32

besucher von den Pfarrern aufgefordert, per Handzeichen ihre Zustimmung zu dem Bund zu bekunden. Der covenant fand eine große Anhängerschaft.22 Die Bürgerkriege und die politischen Wirren, die in den folgenden Jahrzehnten die britischen Inseln heimsuchten, waren nicht zuletzt eine Folge des covenant.23 Am Ende dieser Phase stand in Schottland aber eine gegenüber dem Staat relativ eigenständige presbyterianische Kirche und ein gegenüber dem König aufgewertetes Parlament. Der church covenant wurde bei den englischen Puritaner zu einer zentralen Kategorie ihrer Ekklesiologie. Dies war in Schottland anders. Hier war der covenant nur eine Ausdrucksform der Kirche, etwas wodurch sie sich kirchenpolitisch konstituierte. Dennoch implizierte der schottische Bund eine Theologie des sozialen Raumes, die bis heute zur Identität der Church of Scotland gehört. Das Individuum und die Gemeinschaft hatten hier eine herausragende Stellung. Der Staat sollte ein gottgefälliges Gemeinwesen werden. 2.2.1 Individuum und Gemeinschaft bei den Covenanters John Knoxs Föderaltheologie geht von dem Bund Gottes mit dem Menschen als mutua obligatio aus.24 D. h. das Individuum wurde zum mündigen Gegenüber Gottes ermächtigt. Sein Nachfolger, Andrew Melville, machte die presbyterianische Verfassung verbindlich für die Schottische Kirche. Jedem Kirchgänger wurde zugetraut, die Presbyter und Pfarrer der Gemeinde selbst zu wählen oder wenigstens durch ein Einspruchsrecht ihre Einsetzung zu verhindern.25 So hatte schon im 16. Jahrhundert der frei entscheidende Einzelne eine herausragende Stellung in der Church of Scotland. Als 1638 in allen presbyterianischen Kirchen Schottlands, die Anwesenden aufgefordert wurden ihre Zustimmung zum National Covenant kundzutun, trat die reformierte Kirche in Schottland zum ersten Mal als Zusammenschluss mündiger Individuen an die Öffentlichkeit. Alle bisherigen Bünde waren ausschließlich von Vertretern der führenden Schicht des Landes unterzeichnet worden, stellvertretend für die gesamte Kirche.26 Dieses Mal war in dem Bund prinzipiell jedes 22 „[. . .] der Bundesschluss war [. . .] ein Dokument der Schottischen Nation. Die meisten Männer schlossen sich ihm an, wenige widerstanden ihm.“ „[. . .] the Covenant was [. . .] a document of the Scottish nation. Most men took it and few resisted it.“ Morril: National Covenant, 15. 23 Das nur relativ kurze Zeit währende Bündnis der englischen und schottischen Presbyterianer im Bürgerkrieg wurde bezeichnenderweise auch Solemn League and Covenant (Feierliche Übereinkunft und Bund) genannt. 24 Vgl. Greaves: Theology, 116f. 25 Diese demokratische Verfassung der Kirche setzte sich in regionalen und in der nationalen Synode fort. 26 Das waren Vertreter der ländlichen Aristokratie, der städtischen Oligarchien und des Klerus. vgl. Stelen: Politick Christian, 45.

33

Mitglied der Kirche vertreten. Damit waren Bund und Kirche deckungsgleich. Durch den Bund wurde ausdrücklich die Vorstellung verworfen, jeder Mensch hätte die Pflicht, sich in jedem Fall den natürlichen Autoritäten unterzuordnen. Dem wurde die individuelle Verantwortung vor dem Gewissen gegenübergestellt, das von der religiösen Überzeugung bestimmt wird. Dass dem Gewissen zu folgen, auch politische Auswirkungen haben konnte, wurde bewusst in Kauf genommen. Hierdurch wurde die paternalistische Struktur des Staates und der Kirche grundlegend revidiert. Unterordnung wurde durch Wahlfreiheit ersetzt. Indem der Bund alle Bürger des Staates einschließen sollte, war jedem zugetraut, freiwillig Verantwortung für die ganze Gesellschaft zu übernehmen. Der Bund, der als Vertrag verstanden wurde, machte alle an dem Bund beteiligten zu Vertragspartnern. Die Solidaritätsverpflichtung der Covenanters untereinander wurde als Vertragspartnerschaft zwischen Gleichen verstanden. Im National Covenant artikulierte sich die Vorstellung, dass das Fortbestehen der gegenwärtigen presbyterianischen Kirchenordnung nur durch einen Bund gewährleistet werden konnte.27 Im Bund etablierte sich die Kirche als Gemeinschaft. Solidarität wurde zu ihrem Wesensmerkmal. Wörtlich hieß es in dem Bundesdokument: „Was auch immer dem Geringsten unter uns getan wird um dieser Sache willen, soll so betrachtet werden, als ob es uns allen gemeinsam angetan worden sei und speziell jedem von uns.“28

Alle covenants der Schottischen Kirche wurden in Situationen geschlossen, in denen die Kirche als von außen bedroht angesehen wurde. Die Confessio Negativa von 1581 hatte als Bekenntnisschrift quasi autoritativen Charakter und konnte so als Vorbild für den neuerlichen covenant dienen. Das Recht der Kirche wurde hier im Konfliktfall über das Recht des Staates gestellt. Der National Covenant war nicht nur selbst eine demokratische Veranstaltung, er hatte auch eine demokratische Kirche zum Ziel. Die Kirchenverfassung, zu der sich der Text bekennt, benennt von den Gemeinden gewählte Presbyter und Pfarrer sowie Regional- und Landessynoden aus gewählten Vertretern als einzig rechtmäßige Organe der Kirche. Ein Bischofsamt wird ausdrücklich verworfen.29 Der National Covenant war zudem die prophetische Stimme der Kirche, mit der sie König und Parlament ihre von Gott gestellte Aufgabe zuwies, den rechten Glauben zu verteidigen.30 Der covenant beinhaltete nicht nur die Pflicht

27 Ebd., 38. 28 „Whatsoever shall be done to the least of us for that cause, shall be taken as done tu us all in general, and to every one of us in particular.“ Scottish Historical Documents III, Edinburgh 1974, 194ff, zit. n. Stelen: Politick Christian, 44. 29 Vgl. Stelen: Politick Christian, 40. 30 Vgl. ebd., 43.

34

der Solidarität gegenüber den anderen Covenanters. Der Beitritt zum Bund wurde selbst als eine Pflicht gesehen, als der Beitrag des Einzelnen zur Verantwortung für das ganze Land. Gesellschaft und Kirche wurde da, wo ihre christliche Grundstruktur gefährdet war, als etwas verstanden, das nur als Solidargemeinschaft existieren kann. Das Land selbst wurde dadurch zu einem solidarischen Gemeinwesen. Indem der Bund als zuerst mit Gott und dann mit den Menschen geschlossen galt, war die durch den Bund gestiftete Gemeinschaft in der Gemeinschaft mit Gott verankert. Der Mensch wurde durch das Bundesangebot Gottes zum mündigen Individuum mit Wahlfreiheit. Genauso wurde aber auch seine Identität als soziales Wesen im Bund Gottes mit ihm begründet. Hier kommt die Analogie zum alten Israel zum Tragen:31 Das Volk Israel wird erst dadurch zum Volk Gottes, dass es von Gott dazu berufen wird. Im National Covenant der Schottischen Kirche von 1638 zeigte sich diese Kirche nicht nur als Institution mündiger Individuen, sondern auch als ein Bund von solchen. Die Legitimation, die die presbyterianische Kirche durch diesen Vorgang für sich beanspruchte, beruhte nicht allein darauf, dass sich eine große Summe von Individuen zu den Grundsätzen der Kirche bekannt hatte, sondern auch darauf, dass diese sich verbindlich zusammenschlossen. Die Frage des Beitritts zum National Covenant wurde von den Covenanters als status confessionis verstanden. Da, wo die presbyterianische Kirche von außen in ihrer Existenz bedroht war, gab es die Kirche nur in der Gestalt der Menschen, die entsprechend dem Bund, den Gott mit ihnen schloss, sich selbst zu einem Bund zusammenschlossen. Dieser Bund wurde zur Konkretion der communio sanctorum. Jeder, der diesem Bund beitrat, bekannte sich damit nicht nur persönlich zum reformierten Glauben, sondern auch zu seiner sozialen Gestalt. Damit war die soziale Gestalt der Kirche eine solidarische Gemeinschaft. Die Ekklesiologie, die der National Covenant der Schottischen Kirche implizierte, wurde in den kongregationalistisch verfassten Kirchen expliziert. Die Kirche als Bund im Sinn einer solidarischen Gemeinschaft war hier ausdrücklich Teil der notae ecclesiae.32

2.2.2 Das gottgefällige Gemeinwesen33 als gesellschaftliche Utopie Alttestamentliche Bünde bestimmten wesentlich den Bundesbegriff des schottischen Reformators John Knox.34 Hierdurch wurde die Vorstellung der Gesellschaft als godly commonwealth geprägt. In geringerem Umfang war für ihn in diesem Zusammenhang auch Eph 2,12 von Bedeutung, 31 32 33 34

Vgl. 2.2.2. Vgl. 2.3. godly commonwealth. Vgl. 2.1.

35

wo die Christen zum „Gemeinwesen Israels“ gehörig bezeichnet werden. In der Tat wollte er nicht nur die Kirche zu ihren apostolischen Ursprüngen zurückführen, sondern auch den Staat reformieren. Als Anwalt des rechten Gottesdienstes im Land sah er sich in der gleichen Rolle wie die alttestamentlichen Propheten. Die Kirche und ihre Vertreter, so auch er selbst, sollten zwar der staatlichen Autorität untergeordnet sein, ausdrücklich endete für ihn die Pflicht zur Unterordnung aber dort, wo die Obrigkeit sich Gottes Geboten widersetzte. So konstatierte Knox: „Wir wünschen uns, dass das Volk und die Regierenden Gott und seinem heiligen Willen untertan sind, der klar in seinem heiligsten Wort offenbart ist.“35 Im 17. Jahrhundert war die Identifikation mit dem alttestamentlichen Israel, als dem erwählten Volk, bei den schottischen Presbyterianern ein verbreiteter Topos. Als Henry Rollock, einer der führenden Covenanters für den National Covenant warb, tat er es mit folgenden Worten: Der „Bund zwischen Gott und Israel [. . .] und zwischen Gott und diesem Land, wurde nun aus zwingendsten Gründen erneuert, als die Erneuerung unserer Beteiligung, indem wir unseren Namen in unseres Vaters Hand geben und den Handschlag erneuern, nachdem wir ihm vorher schon die Hand gegeben haben, als einziges Mittel uns entweder an Gott zu binden oder an uns selbst, als das gnädigste, ruhmreichste Werk, das jemals unser Gott der Herrlichkeit diesem Land hat angedeien lassen.“36

Beginnend mit der Confessio Negativa von 1581 bis zum covenant von 1638 waren alle schottischen Bünde landesweite covenants. In ihnen artikulierte sich eine von staatlicher Gängelung freie Landeskirche, aber auch eine nach Selbstbestimmung strebende Nation.37 Beides wurde mit 35 „We desire the people and the Rulers to be subject unto God, and unto the holy will plainly reveled in his most sacred Worde.“ Knox, John: The Works of John Knox V, New York 1966, 463, zit. n. Greaves: Theology, 112. Greaves entfaltet hier auch den genannten Zusammenhang des Zitats. 36 „The ‚covenant betwixt God and Izrael [. . .] and betwixt God and this land, now renewed upon most pressing reasons, as the renovation of our infeftments, putting our naime in our fathers hands and the schaiking hands a new after our former schedding, as the only means to kmet us eyther to God or amongst ourselves, as the most gracious work that ever our God of glory did to this land.‘“ Diary of Archibald Johnston of Wariston, 1632–1639, I, Edinburgh 1911, 326, zit. n. Stelen: Politick Christian, 53. Neben der Gleichsetzung der eigenen religiösen oder ethnischen Gruppe mit dem alten Israel spielten bei der Entfaltung der Idee des godly commonwealth auch chiliastische Vorstellungen ein Rolle. Das „gottgefällige Gemeinwesen“ welches errichtet werden sollte, wurde von manchen Covenanters zugleich als bereits angebrochenes tausendjähriges Reich Christi gedacht. Vgl. Everett: Bund, 63. 37 Die covenants wandten sich ja gegen Bestrebungen der Church of Scotland, ein katholisches oder anglikanisches Gepräge zu geben. Dies wurde auch als „Römischer“ und „Englischer“ Hegemonieanspruch interpretiert. Letzteres ist jedenfalls nicht ganz von der Hand zu weisen. Auslöser für den covenant von 1638 war wie erwähnt das Bestreben Charles I. die Schottische Kirche im anglikanischen Sinn zu reformieren und das hieß letztlich auch, sie der Englischen anzugliedern. Architekt dieser Kirchenreform war William Laud, der Erzbischof von Canterbury.

36

diesen covenants identifiziert. Für die Entwicklung politischer Strukturen waren diese Vorstellungen insofern von Bedeutung, weil sie diese in den Aufgabenbereich der Kirche rückte. Die Anhänger dieser Vorstellungen sahen sich berufen, an der Gesellschaft gestaltend mitzuwirken. In diesem Zusammenhang wurde im 17. Jahrhundert in Schottland auch vom covenanted king38 gesprochen. Damit knüpfte man zum einen an den Bund von 1581 an, der ja auch vom König unterzeichnet worden war. Zum anderen verband sich mit dem Begriff ein Königsamt, welchem zwar auch die Verteidigung des rechten Glaubens zugeordnet war, das aber dem obersten presbyterianischen Gremium, der Generalsynode untergeordnet war. Diese demokratisch gewählte kirchliche Institution sollte weitgehend die Gesellschaft als godly commonwealth gestalten dürfen. Die Covenanters verstanden sich so als Volk Gottes, das die Pflicht hatte, sich dem König als der von Gott bestimmten Obrigkeit unterzuordnen hatte. Was aber die christliche Ordnung war, die der König durchzusetzen hatte, sollte letztlich die landesweite Synode zu bestimmen haben.39 Durch den National Covenant von 1638 wurde auch ein neues Instrument in die Politik Großbritanniens eingeführt, und seine breite Basis gab dem Widerstand gegen eine Maßnahme der Regierung eine andere Dimension. Protest wurde bisher durch Petitionen artikuliert. Der covenant war die erste formelle Kampagne für einen Treueeid aller Schotten.40 Der Gedanke, der schon von John Knox formuliert wurde, dass die Regierung die rechte Religion zu schützen hätte, wird im National Covenant dahingehend weiterentwickelt, dass durch das Bundesdokument das Parlament gegenüber dem König aufgewertet wird. Der covenant maß in erster Linie dem Parlament die Aufgabe zu, die rechte Kirche zu schützen, erst in zweiter Linie sollte dies auch die Pflicht des Königs sein. Schon der covenant von 1581 war ohne den König auf den Weg gebracht worden und ihm erst nachträglich angetragen worden. 1638 tritt nicht nur der Nationale Bund als kirchliche demokratische Struktur in Erscheinung, er nimmt auch als das staatliche Gegenüber der Kirche eine demokratische Institution wahr.41 Indem jeder Schotte gefragt wurde zu einer Maßnahme der Regierung in dem Bund Stellung zu beziehen, war zugleich ein neues politisches Instrument eingeführt, welches eine weitaus 38 zum Bund gehörender König. 39 Vgl. Stelen: Politick Christian, 56. Dass diese Beschränkung der königlichen Macht zum Wesen des presbyterianischen Kirchenmodells gehört, hatte König James VI. bereits im Jahr 1604 erkannt, als er auch den englischen Thron bestieg. In jenem Jahr ließ er verlauten, „er sei nicht gesonnen, das schottische Presbyterium in England einführen zu lassen, denn dieses vertrage sich mit einer Monarchie wie Gott mit dem Teufel. [. . .] Dann werden sich Jack und Tom und Will und Dick treffen und werden sich daran ergötzen, mich und meinen Kronrat zu kritisieren.“ zit. n. Poppers: Entstehung, 110. 40 Vgl. Stelen: Politick Christian, 37. 41 Vgl. ebd., 41.

37

größere demokratische Legitimation als das Parlament hatte: Eine außerparlamentarische pressure group.42 Margared Stelen weist darauf hin, dass die spätere ungebrochene Popularität der Covenanters nicht allein darauf zurückzuführen war, dass sie als diejenigen angesehen wurden, die in einer religiösen und politischen Debatte auf der richtigen Seite standen. In der Tat hätten sich zu Chalmers Zeit nur noch sehr wenige Schotten mit ihren z. T. rigiden Grundsätzen identifizieren können.43 Die fortlaufende Popularität der Covenanters ist vielmehr auf die Implikationen ihres Bundes zurückzuführen, in dem die Einzelnen als mündige Menschen in Erscheinung traten, die sich dazu berufen wussten, ihre Kirche und Gesellschaft mitzugestalten.44 2.3 Covenanting traditions im Puritanismus: Die Kirche als covenanted community bei den Kongregationalisten und Baptisten 2.3.1 Die Kirche als Bundesgemeinschaft Die Kirche als covenanted community war zuerst bei den Kongregationalisten Gegenstand der theologischen Reflektion. Robert Browne (ca. 1550–ca. 1635) gilt als der Begründer des organisierten Kongregationalismus. 1580 gründete er in Norwich die erste von der Staatskirche unabhängige Gemeinde.45 1581 wurde Browne wegen seiner separatistischen Aktivitäten für kurze Zeit inhaftiert. Nach seiner Entlassung aus der Haft schließt seine Gemeinde zum ersten Mal einen covenant und versteht sich von da an als Bundesgemeinschaft.46 Diese Gemeinde war offenbar die erste kongregationalistische Gemeinde, die sich als Bund ihrer Mitglieder konstituierte. Im selben Jahr, 1581, wurde in Schottland der erste National Covenant geschlossen. Es liegt nahe, dass die Norwicher Gemeinde hierdurch zu ihrem Schritt angeregt wurde. Der covenant wurde zu einem wesentlichen Teil von Brownes Ekklesiologie.47 Noch im Jahr 1881 musste sich die Gemeinde mit dem Gedanken einer vorübergehenden Emigration beschäftigen, um der Strafverfolgung durch 42 Vgl. ebd., 45. 43 Dazu gehörte z. B. dass das Feiern der katholischen Messe mit härtesten Strafen verfolgt werden sollte. 44 Vgl. ebd., 59. 45 Diese Gemeinde in Norwich war nicht die erste Gemeinde mit einer kongregationalistischen Verfassung in England. Es war aber die erste, die auf den späteren Kongregationalismus eine nennenswerte Wirkung entfalten konnte. Dies ist vor allem auf die publizistische Tätigkeit Brownes zurückzuführen. Die ersten freikirchlichen Gemeinden in England, die schon in der Mitte des 16. Jahrhunderts dort nachweisbar sind, waren nicht selten Täufergemeinden. Browne selbst wurde verdächtigt Täufer zu sein. Vgl. Poppers: Entstehung, 21. 46 Poppers: Entstehung, 24f. 47 Brachlow: Communion, 50.

38

den englischen Staat zu entgehen. Zunächst wurde wegen der theologischen Nähe der Kongregationalisten zu den Presbyterianern Schottland als Ort des Exils in Erwägung gezogen. Dann entschied sich die Gemeinde aber doch dazu, in das niederländische Middelburg zu gehen.48 Zwei Jahre später kehrten die Brownisten nach England zurück. Der Bundesschluss der Brownschen Gemeinde von 1581 wurde für die Kongregationalisten zum Prototyp der Konstituierung einer Kirche. Dies gilt für die gesamte puritanische Epoche. Rückblickend beschrieb Browne den church covenant von 1581 so: „Deshalb gaben sie zuerst ihre Zustimmung, sich dem Herrn anzuschließen, in einem Bund und einer Gemeinschaft und stimmten zu Einigkeit zu halten und zu suchen unter seinen Gesetzen und seiner Leitung.“49

Die Kirche wurde wie ein Wirtschaftsunternehmen durch einen freiwillig abgeschlossenen Vertrag konstituiert. Sie war für Browne eine „Gesellschaft von Glaubenden“.50 Der erste Vertragspartner in diesem Bund ist Gott, an zweiter Stelle stehen die anderen Gemeindemitglieder. Henry Jacob (1563–1624) war Mitverfasser des ersten kongregationalistischen Katechismus. Er definierte die Kirche so: „Wir glauben, dass die Natur und das Wesen von Christi wahrer sichtbarer Kirche (die politisch ist) unter dem Evangelium eine freie Gemeinde von Christen zum Dienst an Gott ist, oder ein wahrer geistlicher, politischer Körper, der nicht mehr als eine gewöhnliche Gemeinde umfasst und diese als unabhängige. [. . .] Das bedeutet, sie hat von Gott das Recht und die Macht der geistlichen Verwaltung und Regierung in sich selbst, und über sich selbst durch die allgemeine und freie Zustimmung der Leute, unabhängig und unmittelbar unter Christus.“51

Wahlrecht und freie Zustimmung bildeten sowohl die Grundlage für den Covenant-Schluss wie für alle Entscheidungen, die in der so konstituierten Gemeinde gefällt wurden. Kirche als gewählte Gemeinschaft wurde 48 Schmidt, Martin: Kongregationalismus, in: Heyer, Friedrich (Hg.): Konfessionskunde, Berlin/New York, 609–615, 611. Separatistische Kongregationalisten mussten in England in den Jahren nach 1580 mit der Todesstrafe oder langjährigen Gefängnisstrafen rechnen. Poppers: Entstehung, 83ff. 49 „First therefore thei gave their consent, to ioine them selves to the Lord, in one covenant & fellowship together & keep & seek agreement under his lawes & government.“ Browne, Robert: A True & Short Declaration both of the gathering and joining together of certaine Persons, ca. 1583, zit. n. Poppers: Entstehung, 26. 50 companie of believers Poppers: Entstehung, 41. 51 „Wee believe that the nature & essence of Christs true visible (that is, politicall) Church under the Gospel is a free Congregation of Christians for the service of God, or a true spirituall bodie politike conteyning no more ordinary Congregations but one, and that independent. [. . .] That is, it hath from God the right and power of spitituall Administration, and Goverment in it selfe, and over it selfe by the common and free consent of the people independently, and immediately under Christ.“ Jacob, Henry: A Confession and Protestation of Faith of Certain Christians in England, 1616, B verso, zit. n. Förster: Hobbes, 97.

39

Teil der formulierten Ekklesiologie. Nicht allein Gott gliedert einen Menschen in die Kirche ein, sondern erst seine Zustimmung zum Bund macht ihn zum Vollmitglied der Kirche. Ungefähr 1607 gründete John Smyth (ca.1570–1612) in Gainsborough bei Nottingham eine kongregationalistische Gemeinde, die sich durch einen church covenant konstituierte. Wegen der kurz darauf einsetzenden Verfolgung emigrierte auch diese Gemeinde. Sie ließ sich im niederländischen Amsterdam nieder. Ca. 1609 verwarf Smyth die Säuglingstaufe und taufte zuerst sich selbst und dann den Rest der Gemeinde. Damit war die erste historisch greifbare Baptistengemeinde entstanden. Smyth selbst betonte später, dass die Ursprünge seiner baptistischen Theologie im Kongregationalismus lagen.52 1612 kehrte sein Mitarbeiter Thomas Helwys mit einem Teil der Gemeinde nach England zurück und begründete die erste Baptistengemeinde auf englischem Boden.53 Ähnlich wie Jacob betonte Smyth die Unabhängigkeit der örtlichen Gemeinden und das Recht der Mitglieder auf Selbstverwaltung: „Wir sagen, der Kirche oder zwei oder drei gläubigen Menschen, die von der Welt getrennt sind und die sich in einem wahren Bund zusammen geschlossen haben, ist beides gegeben, Christus, der Bund und die Verheißungen und die Autorität des Dienstes Christi.“54

Indem die Kirche wesentlich eine von ihren Gliedern gewählte Gemeinschaft ist, wird im Lichte des reformatorischen sola fide jeder Mensch als mündig wahrgenommen. Glaube ist ein Geschenk der Gnade Gottes und gleichzeitig die Antwort des Menschen auf den Bund, den Gott in Christus mit ihm schließt. Ebenso wird die Kirche als von Gott gestiftet verstanden und jedes einzelne Mitglied der Kirche als von Gott darein berufen. Gleichzeitig ist der Beitritt zur Kirche eine Entscheidung jedes Beitretenden und seine Antwort auf den sich in der Kirche konkretisierenden Bund Gottes. Die Kirche ist die modellhafte Bundesgemeinschaft, in der schon etwas von der eschatologischen Utopie der Glaubenden sichtbar wird. Ein wesentliches Element der eschatologischen Gemeinschaft der Kirche ist die Emanzipation des Einzelnen vom Objekt zum Subjekt. Im Glauben, der als Antwort auf die Verkündigung verstanden wird, wird der Mensch zum Subjekt, ihm wird zugetraut und die Freiheit zugestanden, für sich selbst entscheiden zu dürfen. So war in den kongregationalistisch verfassten Kirchen die Gemeinde der Souverän. Der 52 Vgl. Brachlow: Communion, 156. 53 Die genaueste Rekonstruktion der Chronologie und Theologie dieser Baptistengemeinden findet sich bei: Coggins, James Robert: John Smyth’s Congregation, Waterloo/Scottdale 1991. 54 „We say the Church or two or three faithful people separated from the world and joined together in a true covenant, have both Christ, the covenant, and promises, and the ministerial power of Christ given to them [. . .]“ Smyth, John: The Works of John Smyth, Cambridge 1915, 403.

40

Gedanke der Priesterschaft aller Glaubenden bestimmte die Strukturen und Abläufe in den Gemeinden. Indem jedem Gemeindemitglied der Heilige Geist verliehen ist, sprach Gott durch jeden. Der Geist manifestierte sich in ihm als „innere Berufung“ (inwarde calling) und stellte alle auf die gleiche Stufe. Die Gemeindeversammlung wurde so zu einer kollektiven Gottesstimme.55 Bei Meinungsverschiedenheiten galt das Mehrheitsprinzip. Die demokratische Abstimmung aller Mitglieder wurde zu einem wesentlichen Element der Gemeindesteuerung.56 So wurden auch die Amtsträger57 von der Gemeinde gewählt. Neben den von der Gemeinde gewählten Amtsträgern, hatte prinzipiell jeder die Möglichkeit, in der Gemeinde zu predigen.58 Nach kongregationalistischem Verständnis gehörten die Pfarrer nur zum bene esse, nicht zum esse der Kirche. In der Cambridge Erklärung von 1647/48 der amerikanischen Kongregationalisten heißt es: „Eine Kirche das ist eine Anzahl von Menschen, die durch einen Bund zusammengeschlossen sind, um Gott zu verehren. Dabei kann es die Essenz und das Sein einer Kirche geben, ohne irgendeinen Amtsträger.“59

Die Amtsvollmacht hatte prinzipiell jedes Mitglied der Gemeinde inne.60

2.3.2 Das Bewusstsein der gesellschaftstheoretischen Relevanz der kongregationalistischen Ekklesiologie Die Ekklesiologie der frühen Kongregationalisten und Baptisten nahm den Menschen als verantwortliches Individuum und als Zoon politicon wahr. Dass dieses auch von gesellschafts- und staatstheoretischer Relevanz war, war schon der Gründergeneration dieser Kirchen bewusst. Die 55 Vgl. Poppers: Entstehung, 50. Poppers bezieht sich hier auf: Browne, Robert: A Booke which sheweth the life and manners of all true Christians, Middelburgh 1582. 56 Poppers: Entstehung, 26. 57 Bei Browne waren das die Pastoren, die Lehrer, die Presbyter und die weiblichen oder männlichen Armenpfleger. 58 Poppers: Entstehung, 43. 59 „A Church being a company of people combined together by covenant for the worship of God, it appeareth therby, that there may be the essence & being of a church without any officers [. . .]“ Cambridge Platform VI, 1, Walker, W.: The Creeds and Platforms of Congregationalism, Boston 1960, 144, zit. n. Strehle: Calvinism, 344. 60 „Diese Form, die gewöhnlich der Kirchenbund genannt wird, ist der sichtbare Bund, die Übereinkunft oder Zustimmung, wodurch sie sich selbst dem Herrn hingeben, zusammen in derselben Gemeinschaft die Gebote Christi zu befolgen. Wir sehen keine andere Möglichkeit, wie Mitglieder übereinander kirchliche Autorität haben können.“ „This Form is the Visible Covenant, Agreement, or consent whereby they give up themselves unto the Lord, to the observing of the ordinances of Christ together in the same society, which is usually called the Church-Covenant; for wee see not otherwise how members can have Churchpower one over another mutually.“ Cambridge Platform VI, 3, Walker: Creeds, 144, zit. n. Strehle: Calvinism, 344.

41

Gemeinde konnte als Modell für die Gesellschaft dienen. Die Pflichten und Rechte der Gemeindemitglieder, ihre Partizipation an der Leitung der Gemeinde und das Verständnis der Kirche als zur Solidarität verpflichtete Gemeinschaft, eröffnete eine Perspektive auf einen Staat, der auch dies alles seinen Bürgern bot. Henry Jacob beschrieb die Kirche als erschaffen „durch ein freies gegenseitiges Einverständnis von Gläubigen, sich zusammenzufinden und zu verbünden, um als Mitglieder einer heiligen Gemeinschaft zusammen zu leben in allen religiösen und tugendhaften Pflichten wie es Christus und seine Apostel im Evangelium eingeführt und praktiziert haben. Mit solchem freien gegenseitigen Einverständnis beginnen auch alle vollkommenen bürgerlichen [oder: staatlichen] Gemeinwesen.“61

Robert Browne sah die Parallele zwischen der demokratisch legitimierten Gemeindeleitung und der Notwendigkeit einer solchen Legitimation der staatlichen Regierung. Hiermit bietet er eine theologische Begründung des allgemeinen Wahlrechts: „Gemeindeleiter haben die notwendige göttliche Berufung und Begabung zur Führung der Kirche zu besitzen. Sie müssen aber auch ‚durch gebührliche Zustimmung und durch Vertrag mit der Kirche‘ aufgenommen werden. Desgleichen bedürfen Staatslenker der göttlichen Zustimmung zu ihrer Amtswaltung und Machtstellung. Sie müssen auch durch Zustimmung und ‚durch einen Vertrag mit dem Volke und den Untertanen‘ entsprechend aufgenommen und berufen werden.“62

2.3.3 In der Trennung von Staat und Kirche, Religions- und Gewissensfreiheit Browne und Jacob vertraten eine deutliche Trennung von Staat und Kirche. Die Gemeinden sollten sich selbst verwalten dürfen. Dennoch gingen beide davon aus, dass die Regierung die Pflicht habe, die Gesellschaft als gottgefälliges, christliches Gemeinwesen (godly commonwealth) zu gestalten. Ihr Gesellschaftsbild trug theokratische Züge. Pop61 created „by a free mutual consent of Believers joining and covenanting to live as members of a holy Society together in all religious and vertuous duties as Christ and his Apostles did institute and practise in the Gospell. By such free mutuall consent also all Civill perfect Corporations did first beginne.“ Jacob, Henry: A Confession and Protestation of Faith, zit. n. Elazar: Commonwealth, 245. 62 „Church governers, are persons receyving their authoritie & office of God for the guiding of his people the church receyved and called thereto by due consent and agrement of the church.“ „Civill Magistrates are persons receyving their authoritie & office of God for the due guiding of the common wealth, whereto they are duely receyved and called by consent and agreement of the people and subjects.“ Browne, Robert: A book, 70/117, zit. n. Poppers: Entstehung, 46.

42

pers geht davon aus, dass das Ziel der Browneschen Gemeinde nicht eine ecclesiozentrische Absonderung von der Welt war, sondern vielmehr „die Verbesserung der religiösen und gesellschaftlichen Verhältnisse.“63 Nicht nur einzelne Bürgerinnen und Bürger, die einen „unchristlichen“ Lebenswandel führten, sollten ihrer Meinung nach vom Staat sanktioniert werden, sondern auch Kirchen und kirchliche Funktionsträger, die diesem Maßstab nicht entsprachen.64 Die ersten Puritaner, die dem Staat jegliche Befugnisse über religiöse Angelegenheiten absprachen, waren die Baptisten. John Smyth schrieb in seiner Confession von 1612: „Dass die Regierung sich nicht Kraft ihres Amtes einmischen darf in die Religion oder in Angelegenheiten der Gewissensüberzeugungen, Menschen zu dieser oder jener Form von Religion oder Lehre zu zwingen oder ihr zu unterwerfen, sondern christliche Religion frei jedermanns Gewissensüberzeugung zu überlassen hat, und sich nur zu befassen hat mit Übertretungen bürgerlicher Art.“65

Auch Smyths Mitarbeiter, Thomas Helwys, konstatierte im selben Jahr (1612), dass der Staat über keinerlei religiöse Überzeugung ein Urteil fällen darf und bezog dies nicht nur auf die verschiedenen christlichen Konfessionen, sondern auch auf andere Religionen: „Lasst sie Häretiker, Türken, Juden oder was auch immer sein, es steht der irdischen Macht nicht an, sie auf die geringstes Weise zu strafen.“66 Damit war zum ersten Mal in der Neuzeit der Grundsatz der unbegrenzten Religionsfreiheit zum Ausdruck gebracht, welcher sich auch in der Toleranz gegenüber anderen Überzeugungen niederschlägt. Bemerkenswert war, dass die ersten Baptisten den religiös und weltanschaulich pluralistischen Staat nicht nur forderten, um selbst ihre Überzeugungen ungehindert praktizieren zu können. Sie begründeten diese Forderung vielmehr theologisch. Die ersten Baptisten verstanden das reformatorische sola fide auch als Emanzipation von staatlichen oder kirchlichen Autoritäten, die das Individuum entmündigten. Kein Staat, keine ethnische Gruppe und auch keine Kirche sollte das Recht haben, Vorentscheidungen hinsichtlich der Überzeugungen Einzelner zu treffen. Glauben konnte und musste in ihren Augen jeder selbst. Alle kirchlichen oder staatlichen Strukturen, die dies relativieren konnten, standen für die Baptisten im Widerspruch zur christlichen Botschaft. Luthers Ver-

63 Poppers: Entstehung, 44. 64 Ebd., 46ff und Förster: Hobbes, 103. 65 „That the magistrate is not by vitue of his office to meddle with religion, or matters of conscience, to force or compel men to this or that form of religion, or doctrine: but to leave Christian religion free, to every man’s cocience, and to handle only civil transgressions.“ zit. n. McBeth: Heritage, 70. 66 „Let them be heretickes, Turcks, Jewes, or whatsoever it apperteynes not the earthly power to punish them in the least measure.“ Helwys, Thomas: The Mistery of Iniquity, London 1612, 69, zit. n. McBeth: Heritage, 86.

43

ständnis des Priestertums aller Glaubenden war hier weiter gedacht. Der christliche Glaube war für die ersten Baptisten nicht denkbar ohne das Bewusstsein, sich selbst freiwillig dafür entschieden zu haben. Dieses setzte die Wahlfreiheit voraus, also eine Gesellschaft, die es ermöglichte, sich auch anders entscheiden zu können.67 Die Gesellschaft, verstanden als corpus christianum, war von daher für diese Freikirchler eine mittelalterliche Vorstellung, die durch die Reformation überwunden worden war. War es doch das Wesen der mittelalterlichen Gesellschaft, dass es keine Wahlfreiheit im religiösen Bereich gab. Heute ist die Überzeugung, dass der religiös- und weltanschaulich pluralistische Staat notwendig eine Konsequenz der reformatorischen Theologie ist, Konsens in den protestantischen Kirchen. Diese Erkenntnis ist einer der wichtigsten Beiträge der Freikirchen zum Protestantismus. Nachdem das Zweite Vatikanische Konzil das Bekenntnis zur Religions- und Gewissensfreiheit auch zum Bestandteil der römisch-katholischen Lehre erklärte, ist dieser Grundsatz nunmehr auch Teil der ökumenischen Theologie. Das erste Gemeinwesen, in dessen Verfassung diese Grundsätze verankert waren, bildete die englische Kolonie Rhode Island in Amerika. Rhode Island war eine baptistische Gründung und ihre 1663 in Kraft gesetzte Verfassung ging im Wesentlichen auf den Baptisten Roger Williams68 zurück. Bereits 1644 hatte er seine Überzeugungen so in Worte gefasst: „Es ist der Wille und Befehl Gottes, seit dem Kommen seines Sohnes, des Herrn Jesus, dass allen Menschen in allen Nationen und Ländern, die heidnischsten, jüdischen, türkischen oder antichristlichsten Gewissensüberzeugungen und Riten erlaubt werden [. . .] Eine erzwungene Gleichförmigkeit der Religion überall in einer Nation oder einem bürgerlichen Staat bringt das Bürgerliche und das Religiöse durcheinander und verleugnet die Prinzipien des Christentums und der Zivilisiertheit und verleugnet auch, dass Jesus im Fleisch gekommen ist [. . .] Beides, wahre Zivilisiertheit und wahres Christentum kann in einem Staat oder Königreich ungeachtet der Erlaubnis verschiedener und gegensätzlicher Gewissensüberzeugungen gedeihen.“69

67 Ebd. 68 Williams wandte sich nach einer gewissen Zeit wieder vom Baptismus ab. Die Trennung von Staat und Kirche sowie die Religions- und Gewissensfreiheit, wie sie von Smyth und Helwys angedacht worden war, blieb aber für den Rest seines Lebens seine Überzeugung. 69 „It is the will and command of God that, since the coming of his Son the Lord Jesus, a permission of the most Paganish, Jewish, Turkish, or anti-christian consciences and worships be granted to all men in all nations and countries [. . .] An enforced uniformity of religion throughout a nation or civil state, confounds the civil and religious, denies the principles of Christianity and civility, and that Jesus Christ is come in the flesh [. . .] true civility and Christianity may both flourish in a state or kingdome, notwithunderstanding the permission of divers and contrary consciences.“ Williams, Roger: The Bloudy Tennent of Persecution for Cause of Conscience Discussed, London 1644, zit. n. McBeth, H. Leon: A Sourcebook for Baptist Heritage, Nashville 1990, 83f.

44

Williams ging offensichtlich davon aus, dass die Kirchen durch eine solchermaßen pluralistische Gesellschaft nicht geschwächt, sondern gestärkt werden. Erich Geldbach weist auf den Unterschied zwischen der Religionsund Gewissensfreiheit und der staatlich gewährten religiösen Toleranz hin: Die Toleranzgesetze, welche lange Zeit in Europa als Errungenschaft der Aufklärung galten, erklärten die Religion zur Privatsache eines frommen Individuums. Die Religions- und Gewissensfreiheit hingegen lässt die verschiedenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen ein Teil der Öffentlichkeit sein.70 Gerade dadurch, dass die Öffentlichkeit von einer solchen Pluralität der Überzeugungen bestimmt wird, wird die Gesellschaft demokratisch. Die Pluralität trägt „in ihrer Öffentlichkeitsfunktion zur Heranbildung demokratischer Verhaltensnormen“ bei.71

2.4 Die Bedeutung der covenanting traditions für die Entwicklung der westlichen Demokratien Heinz-Dietrich Wendland sah in dem Erbe der „revolutionär“ gestimmten, christlichen Gemeinschaften der englischen und amerikanischen Revolution und des Puritanismus den sozial-theologischen Ansatz, der „die Kirche Christi in die Lage versetzt“ auf eine „Neuordnung der Gesellschaft unter dem Leitbild der verantwortlichen Gesellschaft“ hinzuwirken.72 Diese Tradition eröffnet nicht nur Perspektiven für die weitere Humanisierung unserer demokratischen Gesellschaft. Sie war in der Tat schon maßgeblich an der Entstehung der westlichen Demokratien beteiligt. Die covenanting traditions waren von wesentlicher Bedeutung für ihre Entwicklung, und auf mehreren Ebenen wirkten die church covenants auf die Ausbildung partizipativer Strukturen in den westlichen Gesellschaften.

2.4.1 Der Einfluss der covenant theology auf die Gesellschaftstheorien des 17. Jahrhunderts und 18. Jahrhunderts Schon Browne diente der Gedanke des Vertrages nicht nur dazu, das Wesen der Kirche zu erfassen. Er verstand ihn auch als Paradigma für 70 „Während Toleranz ‚gewährt‘ wird und also eine Instanz wie den Staat voraussetzt, der solches tut, ist Religionsfreiheit ein konkretes Recht.“ Erich Geldbach: Die Stellung der Freikirchen zu Staat und Gesellschaft, Referat des 3. Symposiums des Vereins zur Förderung der Erforschung freikirchlicher Geschichte und Theologie, April 1991, (als Manuskript vervielfältigt) Münster 1991, 23. 71 Ebd., 81. 72 Strohm, Theodor: „Verantwortliche Gesellschaft“. Zur Gegenwartsbedeutung der Sozialethik Heinz-Dietrich Wendlands, in: Ders.: Diakonie in der Perspektive der verantwortlichen Gesellschaft. Beiträge zur sozialen Verantwortung der Kirche II, Volker Herrmann (Hg.), Heidelberg 2003, 96–118: 109f.

45

alle sozialen und rechtlichen Beziehungen der Menschen.73 Die Gesellschaftstheoretiker Thomas Hobbes (1588–1679) und John Locke (1632–1704) knüpften mit dem Gedanken des Gesellschaftsvertrages74 bewusst an die kirchlichen covenants an. Hobbes, der zum Staatsphilosoph des Absolutismus wurde, gestand dem Menschen die Wahlfreiheit allerdings nur im Naturzustand zu. Der freiwillig geschlossene Gesellschaftsvertrag ist bei ihm das Ende dieser Freiheit. Durch den Vertrag werden die Freien zu Untertanen des Staatsoberhauptes. Wie die puritanischen church covenants Hobbes Staatstheorie beeinflusste, hat Winfried Förster gezeigt. Er geht davon aus, dass Hobbes „die Lehre vom covenant“ übernimmt, sie aber „in seinem spezifischen Sinne“ verändert, „so dass seine Covenant-Lehre im Widerspruch zu der puritanischen steht. In Hobbes Covenant-Interpretation aus der Heiligen Schrift stehen die einzelnen Partner immer in einer vertikalen Beziehung [. . .] Mit dem einmaligen Akt des covenanting, der einen alle repräsentierenden Souverän etabliert, hat der einzelne Untertan seine Rolle als staatsbildendes Element erfüllt.“75

John Locke hingegen diente der Gedanke des Gesellschaftsvertrages zur Begründung der parlamentarischen Demokratie. Everett weist auf den Zusammenhang der Gesellschaftstheorie Lockes und der schottischen covenanting tradition hin.76 In gewisser Weise können also Hobbes und Lockes Staatstheorien als säkularisierter Puritanismus verstanden werden. Das Schottland des 18. Jahrhunderts gilt als der Geburtsort der gegenwärtigen Gesellschaftswissenswissenschaften. Männer wie Adam Ferguson (1723–1816) und Adam Smith (1723–1790) untersuchten hier mit einem bisher beispiellosen Differenzierungsvermögen das Individuum in seinen sozialen Bezügen.77 Der Begriff des Bundes hatte zu diesem Zeitpunkt in der Theologie der Church of Scotland keine Bedeutung mehr, nicht zuletzt weil er in der Mitte der blutigen Auseinandersetzung um die schottischen Covenanters gestanden hatte. Dennoch liegt es nahe, dass der Stellenwert der sozialen Dimension in der Schottischen Kirche einen wesentlichen Beitrag zu dem Entstehen des geistigen Klimas geleistet hat, in dem solche Aspekte thematisiert werden konnten. So war Thomas Chalmers auch nicht der einzige schottische Theologe seiner 73 Poppers: Entstehung, 47. 74 „Unter dem Gesellschaftsvertrag (pactum unionis; social contract proper; pacte d’association) versteht man den freiwilligen Zusammenschluss von Menschen zu einem politischen Gemeinwesen. Beim Vertragsschluss kommt man überein, persönliche Rechte im Interesse der Allgemeinheit an die Gesellschaft abzutreten, um aus dem Naturzustand herauszukommen. Diese Theorie ist daher eng verbunden mit der Lehre von den Naturrechten, die individuell aufgefasst werden und sich von der Natur des Menschen herleiten lassen. Die Quelle des Naturrechts ist Gott oder auch die Vernunft. Es ist somit unabänderlich und steht über dem aus ihm hergeleiteten positiven historischen Recht.“ Förster: Hobbes, 75. 75 Förster: Hobbes, 221. 76 Everett: Bund, 62; vgl. auch Elazar: Commonwealth, 263. 77 Vgl. hierzu 5.2.2.

46

Zeit, der die gesellschaftswissenschaftliche Perspektive mit der Tradition seiner Kirche in Verbindung bringen konnte. Chalmers politisches Engagement war schließlich auch ein Beispiel dafür, wie die gesellschaftswissenschaftlichen Ansätze Schottlands einen Beitrag zur Demokratisierung des Staates leisteten.78 2.4.2 Die Wirkung der föderaltheologischen Traditionen auf die amerikanische und britischen Demokratie Viele Kongregationalisten, Baptisten und Presbyterianer wanderten im 17. Jahrhundert nach Amerika aus. In den neuen britischen Kolonien bildeten sie nicht selten die Mehrheit der Bevölkerung. Ihre covenanting tradition und mehr noch das damit verbundene Verständnis der Gesellschaft prägten die Gemeinwesen der neuen Amerikaner. Elazar und Everett machen deutlich, wie sehr die Entwicklung der englischen Kolonien zur ersten neuzeitlichen Demokratie mit der covenanting tradition der britischen Siedler verbunden ist.79 Relativ unabhängig vom Mutterland waren sie im 17. Jahrhundert genötigt, die politischen Gemeinwesen in der neuen Welt zu organisieren. An vielen Orten übertrugen sie den Bundesbegriff ihres Kirchenverständnisses auf das säkulare Gemeinwesen. Die Gründungsdokumente der amerikanischen Siedlungen sind zum großen Teil Verträge zwischen gleichberechtigten Partnern mit gleichen Rechten und Pflichten.80 Ein prominentes Beispiel für ein solches Gründungsdokument ist der als Mayflower Compact81 bekannt gewordene Vertrag der Auswanderer auf dem Schiff Mayflower aus dem Jahr 1620. Diese Emigranten, die später die „Pilgerväter“ genannt wurden, waren mehrheitlich Kongregationalisten.82 Bemerkenswert an dieser Vereinbarung war aber, dass nicht alle Unterzeichner des Dokumentes zur kongregationalistischen Kirche gehörten, ja nicht einmal Puritaner waren. Dies zeigt, wie früh schon die Strukturen eines church covenants auf eine säkulare Gemeinschaft übertragen wurden.83 Im Mayflower Compact heißt es: „Wir, die Unterzeichner, die loyalen Untertanen unseres ehrwürdigen, obersten Herrn, König James [. . .] haben zur Ehre Gottes und zur Förderung des christlichen Glaubens, [. . .] eine Fahrt unternommen, um die erste Kolonie in den nördlichen Gebieten Virginias zu gründen, [. . .] wir verbünden uns und schließen uns zusammen zu einem bürgerlichen Gemeinwesen, um unsere Angelegenheiten besser regeln und uns besser schützen zu können und zur Förderung des oben genannten Ziels; und um Kraft dieser Vereinbarung Ge78 79 80 81 82 83

Vgl. 7.4. Vgl. Elazar: Constitutionalism und Everett: Bund. Elazar: Constitutionalism, 34ff. Eigentlich: Plymouth Combination. Dale, R. W.: History of English Congregationalism, London 1907, 205f. Elazar: Constitutionalism, 39.

47

setze zu erlassen und Ämter einzusetzen von Zeit zu Zeit, wie es am meisten dem Gesamtwohl der Kolonie dient und ihm am meisten entgegenkommt.“84

Die Arten, wie sich die verschiedenen Siedlungen in Amerika organisierten, waren unterschiedlich. Sehr viele integrierten jedenfalls verschiedene Elemente der Partizipation ihrer Bewohner an der Regierung in ihr Gründungsdokument. Dies war insbesondere in den kongregationalistisch dominierten Kolonien der Fall. Allerdings wurde hier, wie das Beispiel Massachusetts zeigt, der Kongregationalismus zur Staatskirche erklärt. Die Gesellschaft wurde als Theokratie verstanden. Abweichende Überzeugungen wurden blutig verfolgt. In von Presbyterianern dominierten Gebieten wurde analog zur presbyterianischen Kirchenstruktur die Magistratssouveränität und die föderalistische Organisation der Region eingeführt. Es kann davon ausgegangen werden, dass die föderalistische Struktur der USA nicht zuletzt auf den Einfluss der Presbyterianer zurückzuführen ist.85 Das von Roger Williams mitgegründete Rhode Island war das erste Gebiet, in dem Religions- und Gewissenfreiheit herrschte. Schon in der ersten von Williams hier angelegten Siedlung Providence wurden diese Prinzipien konsequent umgesetzt. Ein bemerkenswertes Beispiel hierfür ist die Ausweisung eines gewissen Joshua Verlin aus Providence,86 der seiner Frau nicht gestattete, den Gottesdienst zu besuchen, mit dem Hinweis darauf, dass nach der Bibel seine Frau sich ihm unterzuordnen hätte. Wenn er nicht in die Kirche ginge, dürfe sein Frau dies auch nicht. Der Grund seiner Ausbürgerung war nun nicht Verlins eigener Atheismus, sondern die Tatsache, dass er die religiöse Überzeugung seiner Frau nicht achtete. Dies zeigt, dass die Betonung der Gewissensfreiheit hier auch bereits die Rechte der Frauen als selbstverantwortliche Personen begründete. Nachweislich beeinflusste Williams mit seiner Entfaltung des Grundsatzes der Religions- und Gewissensfreiheit auch die Verfassung der Vereinigten Staaten.87 Einer der Väter dieser Verfassung, Thomas Jefferson, schrieb 1781: „Meinungsverschiedenheiten sind der Religion zuträglich.“88 Religiöser Pluralismus ist in den USA nicht nur in der Verfassung verankert, sondern prägt bis heute in der öffentlichen Meinung das Bild der christlichen 84 „We whose names are under-writen, the loyal subjects of our dread soveraigne Lord, King James [. . .] having undertaken, for the glorie of God, and advancemente of the Christian faith [. . .] a voyage to plant the first colonie in the Northerne parts of Virginia, [. . .] covenant and combine our selves togeather into a civill body politick, for our better ordering and preservation and furtherance of the ends aforesaid; and by vertue hearof to enacte, constitutions, and offices, from time to time, as shall be thought most meete and convenient for the generall good of the colonie.“ Lutz, Donald: Documents of Political Foundation Written by Colonial Americans, Philadelphia 1986, zit. n. Elazar: Constitutionalism, 19. 85 Elazar: Constitutionalism, 77. 86 Vgl. McBeth: Heritage, 130. 87 Vgl. McBeth: Sourcebook, 83. 88 „differences of opinions is advantageous to religion“ Thomas Jefferson: The Complete Jefferson, Saul K. Padover (Hg.), New York, 1943, 675, zit. n. Geldbach: Erbe, 82.

48

Kirchen. Hier ist auch eine Tradition von Ökumene zu Hause, in welcher gerade die Verschiedenartigkeit der christlichen Kirchen ernst genommen wird. Das kirchliche Leben in den USA ist bis heute keineswegs konfliktfrei, aber es gibt einen Konsens zwischen allen Lagern, dass die Öffentlichkeit, auch die politische, ein Handlungsfeld der Kirchen ist.89 Von den 1640er Jahren bis zur Einführung der konstitutionellen Monarchie im Jahr 1689, mit der wieder relativ stabile Verhältnisse einkehrten, wurde Großbritannien von wechselnden kirchlichen und politischen Parteien kontrolliert. Die Phase erwies sich als außerordentlich bedeutsam für die Entwicklung demokratischer Strukturen. Während dieser Zeit wurden die verschiedensten gesellschaftlichen Modelle propagiert und diskutiert. Die episkopalen Anglikaner strebten eine absolutistische Monarchie an. Die Presbyterianer tendierten zu einer Oligarchie, deren Rückgrat das Parlament sein sollte, welches von Aristokraten und Patriziern kontrolliert werden sollte.90 Demokratischere Ansätze wurden vor allem von Kongregationalisten und Baptisten vertreten. Nachdem 1640 die bischöfliche Kirchenverfassung in der englischen Staatskirche vorübergehend abgeschafft worden war, kam es zur Rückwanderung von Emigranten aus Holland und Amerika. Viele der Rückwanderer traten für den New England way ein.91 Die amerikanischen Kolonien wurden als geglückte Modelle puritanischer Staatswesen angesehen. Einer der zurückgekehrten Emigranten war Roger Williams, der gleich nach seiner Rückkehr seine Überzeugungen zu publizieren begann.92 Neben ihm meldeten sich noch andere Baptisten zu Wort. McBeth geht davon aus, dass Vertreter dieser Kirche gerade in den 1640er Jahren ihr Gedankengut in hunderten von Publikationen verbreiteten und somit die öffentliche Debatte durch ihre theologischen und gesellschaftspolitischen Positionen beeinflussten.93 Auch die Schriften des amerikanischen Kongregationalisten John Cotton (1584–1652) wurden viel gelesen. Er sandte eine Abhandlung nach England, die er 1642 in London drucken ließ.94 Poppers 89 An die Stelle der Religions- und Gewissensfreiheit trat in Europa zunächst die staatlich gewährleistete Tolerierung anderer Konfessionen. In Folge des so verstandenen „Toleranzgedankens“ verlief die Entwicklung in Europa anders. Das Recht jedes „nach seiner Façon selig werden zu dürfen“, führte zu einem Abdrängen der Kirchen aus Bereichen, in denen die Gesellschaft gestaltet wurde. Geldbach geht davon aus, dass die etablierten Kirchen „die Entwicklung zu einer ‚Entöffentlichung‘ der Religion [. . .] durchaus gespürt haben, doch zog man die falschen Konsequenzen“. Das Bündnis großer Fraktionen der Kirchen mit den politischen Kräften, die die legitimen Forderungen der Opfer der Industrialisierung weitgehend ignorierten, war eine von ihnen. Geldbach: Erbe, 84. 90 Vgl. Förster: Hobbes, 224. Die Position der führenden schottischen Covenanters unterschied sich freilich teilweise von dieser der presbyterianischen Parlamentarier. 91 Poppers: Entstehung, 118f. 92 Vgl. Anmerkung 68. 93 McBeth: Heritage, 66. 94 Das war The True Constitution of a Peculiar Visible Church proved by Scripture, London 1642.

49

hebt hervor, dass Cotton und Williams die ersten waren, die in England die Vorstellung der „Souveränität des Volkes [. . .] ausgebildet und verbreitet haben“.95 Zwischen 1653 und 1658 stand mit Oliver Cromwell erstmals ein Kongregationalist an der Spitze des englischen Staates. Er verstand sich als Lord Protector des Christentums. Das Land sollte ein godly commonwealth sein und das Christentum die öffentliche Religion Englands. Cromwell stand für einen toleranten Kongregationalismus. Jeder Anhänger irgendeiner christlichen Religionsgemeinschaft hatte das Recht, sich auf den Lord Protector zu berufen, um vor ihm das Recht auf Gewissensfreiheit einzuklagen. Auch die Juden, die seit dem 13. Jahrhundert aus England vertrieben waren, durften sich wieder im Land niederlassen.96 Dennoch hatte die religiöse Freiheit im Staat Cromwells ihre Grenzen. Die Episkopal- und die römisch-katholische Kirche waren verboten. Zum letzten Abschnitt des britischen Puritanismus gehörte der Politiker John Milton (1608–1674). Er war ein freikirchlicher Kongregationalist und trat für einen Staat ein, in dem in gewissem Umfang Meinungsfreiheit herrschen sollte. Die Ermöglichung dieser Freiheit jedes Bürgers war für ihn eines der wichtigsten Ziele jedes Staatswesens, vor allem die Rede- und Gedankenfreiheit. Jede Art von Zensur lehnte er ab.97 Die Verfassung sollte föderalistisch und republikanisch sein. Er befürwortete aber auch nur eine begrenzte Form der Demokratie: Von einer Minderheit der Bevölkerung sollte ein nationaler Rat auf Lebenszeit gewählt werden. Dem sollten noch regionale Räte gegenüber stehen.98 Milton übertrug die Sozialtheologie der Kongregationalisten in differenzierter Weise in seine Staatstheorie. Den Gesellschaftsvertrag und die Volkssouveränität begründete er so: „Kein Mensch, der irgendetwas weiß, kann so dumm sein zu leugnen, dass alle Menschen naturgemäß frei geboren sind, wobei sie das Bild und die Ähnlichkeit Gottes selbst sind und dass sie, unter allen Geschöpfen das Vorrecht hatten geboren zu sein, um zu bestimmen und nicht zu gehorchen und dass sie so lebten bis sie durch die Wurzel von Adams Übertretung miteinander gefallen sind, Böses und Verletzendes zu vollbringen, und dass sie voraussahen, dass solch ein Lebenswandel notwendigerweise zur Zerstörung von ihnen allen führen musste, deshalb kamen sie überein, durch ein allgemeines Bündnis sich gegenseitig zu hindern, einander Schaden zuzufügen und kamen überein, sich gemeinsam zu verteidigen gegen jeden, der eine solche Übereinkunft untergräbt oder dagegen opponiert [. . .] Die Macht von Königen und Regierenden ist nur sekundär, sie ist ihnen von dem Volk zu treuen Händen übertragen und anvertraut zum Gemeinwohl von allen, von dem Volk, dem 95 Ebd., 4. 96 Vgl. Endelman, Todd M.: The Jews of Britain, 1656 to 2000, Berkeley/Los Angeles/London 2002, 15–27. 97 Vgl. Elazar: Commonwealth, 261. 98 Vgl. Förster: Hobbes, 124ff.

50

die Macht nach wie vor grundsätzlich verbleibt und von dem sie nicht genommen werden kann ohne sein naturgemäßes Geburtsrecht zu verletzen.“99

Noch weitgehendere Formen der demokratischen Partizipation wurden von so genannten Levelers vertreten. Auch sie gehörten zu den freikirchlichen Kongregationalisten. Sie forderten das allgemeine Wahlrecht.100 Insgesamt war das Demokratieverständnis im freikirchlichen Flügel des britischen Puritanismus weiter entwickelt, als im staatskirchlichen. So leisteten die Freikirchen einen wesentlichen Beitrag dazu, dass sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Großbritannien die konstitutionelle Monarchie mit einem gewählten Parlament etablieren konnte.101 Die britischen Inseln wurden damit Vorreiter für die demokratische Entwicklung in Europa. Wie weit das Verständnis von Religions- und Gewissensfreiheit reichte, zeigte sich in Großbritannien über einen langen Zeitraum an der Haltung gegenüber den Katholiken. Die Rechte, die man den Katholiken zugestand, war das Schibbolet des Grundrechtes der Gewissensfreiheit. Für Anglikaner, Presbyterianer und die staatskirchlichen Kongregationalisten war die katholische Kirche gleichzusetzen mit Unfreiheit und deshalb zu verbieten. Die meisten von ihnen erklärten in der Tat alle anderen Konfessionen als ihre eigene für illegal.102 Allein unter den Freikirchlern gab es Vordenker einer umfassenden Religions- und Gewissensfreiheit, die sich auch in der Toleranz gegenüber anderen Überzeugungen niederschlägt.103 Unter ihnen war auch Roger Williams, der schon in der Mitte des 17. Jahrhunderts für die Gleichstellung der Katholiken im Staat eintrat.104 Auch Samuel Richardson, ein baptistischer Mitarbeiter Cromwells, trat für die Toleranz gegenüber den „falschen 99 „No man who knows aught can be so stupid to deny that all men naturally were born free, being the image and resemblance of God himself, and were, by privilege about all creatures, born to command and not to obey; and that they lived so, till from the root of Adam’s transgression falling among themselves to do wrong and violence, and foreseeing that such course must needs tend to the destruction of them all, they agreed by common league to bind each other from mutual injury and jointly to defend themselves against any that gave disturbance or opposition to such agreement [. . .] The power of kings and magistrates is only derivative, transferred and committed to them in trust from the people to the common good of them all, to whom the power yet remains fundamentally, and cannot be taken from them without a violation of their natural birthright.“ Milton, John: Tenure of Kings and Magistrates, Cambridge 1991, zit. n. Elazar: Commonwealth, 244. 100 Vgl. Förster: Hobbes, 126. 101 Vgl. dazu, ebd., 56ff. Bei den Wahlen zu diesem Parlament konnte allerdings von allgemeinem Wahlrecht noch nicht die Rede sein. Nur eine Minderheit der Männer durfte wählen. Das Wahlrecht aller wurde erst wesentlich später in Europa, vor allem nach dem Vorbild der USA, eingeführt. 102 In der Westmister Confession (Kapitel 20.4) beispielsweise wird statuiert, dass gegen Abweichler von der richtigen (presbyterianischen) Konfession auch mit der „Strafgewalt der bürgerlichen Obrigkeit“ vorgegangen werden soll. Bekenntnisschriften, 586f. 103 Geldbach: Erbe, 60. Neben den Baptisten waren in England vor allem die Levelers Vorkämpfer einer umfassenden Gewissensfreiheit. Vgl. Förster: Hobbes, 116ff. 104 Ebd., 69.

51

Religionen“ ein. Die Regierung habe seiner Meinung nach die Pflicht, auch die Untertanen zu beschützen, die solchen „falschen Gottesdiensten“ anhingen. Einen Irrglauben könne keine Macht der Welt unterdrücken. Er könne nur durch den Heiligen Geist reformiert werden. Der Geist wirke aber zu seiner Zeit. Ihm könne und dürfe man nicht durch weltliche Machtmittel zuvorkommen.105 In Großbritannien konnte die grundsätzliche Religions- und Gewissensfreiheit zunächst nicht durchgesetzt werden. Aber immerhin wurde 1689 das Act of Toleration erlassen. Ein Gesetz, durch das die römischkatholische Kirche und die Freikirchen wenigstens toleriert wurden. Allerdings waren Angehörige dieser Kirchen von vielen Ämtern ausgeschlossen. McBeth geht davon aus, dass dieses Gesetz vor allem eine Frucht der politischen Arbeit der Baptisten war.106 Es war das Jahr des englischen Toleranzgesetzes, 1689, als John Locke seinen ersten Letter Concerning Toleration veröffentlichte. Die Toleranz gegenüber anderen Überzeugungen, die Locke am Beispiel verschiedener christlicher Bekenntnisse entfaltete, wurde einer der Grundgedanken der Aufklärung und die Voraussetzungen ihrer weiteren Entwicklung. Erst die Gewissheit, keine Repressalien befürchten zu müssen, ermöglichte es den Aufklärern ganz neue Forschungsfelder betreten zu können. Entsprechendes gilt für die weitere Entwicklung demokratischer Strukturen in der Gesellschaft. Demokratie bedeutet nicht nur Teilhabe an Entscheidungsprozessen, sondern auch Wahlfreiheit zwischen verschiedenen gleichermaßen legitimen Optionen. Die auf Partizipation aller zielende Struktur der Freikirchen und ihre Forderung nach Religions- und Gewissensfreiheit war in Großbritannien ein wesentlicher Motor der Demokratisierung.

2.5 Zusammenfassung Bund (covenant) war eine, wenn nicht die zentrale theologischen Kategorie des angelsächsischen Calvinismus im 16. und 17. Jahrhundert. Es zeigte sich, dass die sozial-theologischen Ansätze der puritanischen Epoche jedoch sehr unterschiedliche Gesellschaftsmodelle hervorbrachten. Sie reichten vom theokratischen godly commonwealth der Presbyterianer und Kongregationalisten bis zum religiös- und weltanschaulich pluralistischen Staatswesen der Baptisten. Beim Menschenbild gab es allerdings große Übereinstimmungen. Die Puritaner und die schottischen Presbyterianer im 17. Jahrhundert sahen den Menschen, mehr als andere Pro105 Richardson, Samuel: The Necessity of Toleration in Matters of Religion, London 1647, 217f. 274, zit. n. Geldbach: Erbe, 61f. 106 „Keine andere Gemeinschaft kann beanspruchen mehr für das Toleranzgesetz verantwortlich zu sein.“ „No group can claim more credit for the Act of Toleration.“ McBeth: Heritage, 99.

52

testanten ihrer Zeit, als selbstständig agierendes Individuum. Jeder Mensch war verantwortlich für sein Tun, hatte die Wahlfreiheit und war auch für die Konsequenzen seiner Wahl verantwortlich. In Schottland wurde eine Reihe historischer Bundesschlüsse Teil der presbyterianischen Identität, indem nur dadurch die Existenz dieser Konfession gesichert werden konnte. Die theologische Reflektion der presbyterianischen Kirche als covenanted church geschah hier allerdings erst in Ansätzen. Bei den Puritanern hingegen wurde in den kongregationalistischen und baptistischen Kirchen die Gemeinde als covenanted church in expliziter Weise Teil der Ekklesiologie. Indem Glaube wesentlich als etwas selbstgewähltes verstanden wurde, wurde alle Fremdbestimmung im religiösen Bereich als etwas begriffen, was Glauben verschleiert und verhindert. So wurde dem Gedanken der Selbstbestimmung Vorschub geleistet. Verfassungen sollten die Partizipation aller Mitglieder ermöglichen. Die Ekklesiologie der kongregationalistisch verfassten Kirchen nahm den Menschen darüber hinaus auch als soziales Wesen wahr. Der Abschluss des church covenants war freiwillig. Er definierte die Beziehung der Bundesgenossen untereinander, indem er Rechte und Pflichten im Umgang miteinander einschloss. Bereits in der Gründergeneration der kongregationalistischen und baptistischen Kirchen wurden die Gemeinden als Paradigma für die Gesellschaft gesehen. So strebten die ersten Kongregationalisten und Baptisten schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts diesen Grundsätzen entsprechende Reformen im Staat an. Die in jener Zeit für Europa vorbildliche Bedeutung des Parlamentes sowie die Tolerierung abweichender religiöser Überzeugungen im britischen Staat am Ende des 17. Jahrhunderts war eine Folge dieser Traditionen. Die Theologie der covenanting traditions leistete einen wesentlichen Beitrag zur Konstituierung des allgemeine Wahlrechts, der föderalistischen Demokratie und der pluralistischen Gesellschaft. Sie ordneten die Religionsund Gewissensfreiheit dem christlichen Ethos zu und lieferten damit einen Beitrag zum Menschenrechtsgedanken. Die Gesellschaftstheoretiker der Aufklärung griffen viele dieser Erkenntnisse auf und formulierten sie in säkularen Systemen.

53

3. KAPITEL

Kontexte des sozial-theologischen Konzeptes Chalmers 3.1 Zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Großbritanniens zwischen 1750 und 18501 Großbritannien erlebte in den Jahre 1750 bis 1850 früher und heftiger den Übergang von einer Agrargesellschaft zu einer Industriegesellschaft als alle anderen Länder der Welt. Es kann als das „Pionierland der modernen Welt“2 bezeichnet werden. Indem man von einer Industriellen Revolution spricht, hat man versucht, die Dynamik dieser Periode auf den Punkt zu bringen. Allerdings beschränken sich die Veränderungen, die Großbritannien in dieser Zeit erlebte, keineswegs nur auf den Industriesektor.3 Neben der industriellen kann man auch von einer demographischen Revolution sprechen.4 Zwischen 1800 und 1850 wuchs die Bevölkerung Großbritanniens um 75 %. Die Bevölkerungszunahme war von Migrationsbewegungen begleitetet: Auswanderung nach Übersee, Binnenwanderung und Einwanderung insbesondere von Iren. Die neue Zusammensetzung der Bevölkerung in den Ballungszentren führte zum schwinden alter, vorkapitalistisch geprägter Solidarisierungspotenziale. Auch die britische Landwirtschaft erlebte ab der Mitte des 18. Jahrhunderts eine fundamentale Umstrukturierung und Modernisierung. Durch Rationalisierung der Anbaumethoden fielen Arbeitsplätze weg. Großagrarier schränkten durch das Einzäunen der Weiden5, die Weidemöglichkeiten des Viehs der Landbevölkerung auf den Dorfwiesen ein. Diese Entwicklung ging auf Kosten der kleinen Bauern, die zu Pächtern und Landarbeitern wurden oder sich als Arbeiter in den 1 Vgl. Niedhard, Gottfried: Geschichte Englands im 19. und 20. Jahrhundert, Geschichte Englands in 3 Bänden, III, München 1987; Ders.: Geschichte Englands vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Geschichte Englands in 3 Bänden, II, München 1993; Ders.: Großbritannien 1750–1850, in: Handbuch der Europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte IV, Wolfram Fischer (Hg.), Stuttgart 1993, 401–461. 2 Niedhard: Großbritannien, 410. 3 Wrigley hält wegen der Vielfalt und der Unterschiedlichkeit der Wandlungsprozesse, die Großbritannien in dieser Zeit erlebte, den Begriff der „Industriellen Revolution“ deshalb auch für problematisch. Vgl. Wrigley, E. A.: People, Cities and Wealth. The Transformation of Traditional Society, Oxford 1987. 4 Vgl. Neidhart: Großbritannien, 413. 5 Englisch: enclosure.

54

schnell wachsenden Städten niederließen.6 In der Mitte des 18. Jahrhunderts verfügte das britische Königreich über die größte Freihandelszone der Erde. Dies begünstigte eine außerordentliche Steigerung der Im- und Exporte in dieser Zeitspanne.7 Die Erfindung der Dampfmaschine im Jahr 1775 sowie die Entwicklung industrieller Spinnmaschinen in den 1760er Jahren leitete die Industrialisierung ein. In den Jahren nach 1830 gewann das Wirtschaftswachstum solche Dimensionen, dass man nun von einer Industriellen Revolution sprechen kann. Der Wachstumssprung verlief parallel zu dem Ausbau des Eisenbahnnetzes. In Großbritannien wurden in diesen Jahren weitaus mehr Eisenbahnschienen verlegt als im ganzen übrigen Europa.8 Der Wandel betraf auch die soziale Schichtung des Vereinigten Königreiches.9 Trotz der immer noch ausgeprägt vertikalen Gliederung der Gesellschaft war nun ein sozialer Aufstieg möglich. Die bisher von adeligen Grundbesitzern bestimmte Oberschicht wurde ergänzt durch bürgerliche Unternehmer. Die Eigentümer kleinerer Betriebe bereicherten die obere Mittelschicht. Die neuen Unternehmer veränderten auch die konfessionelle Landschaft der Städte, rund 50 % von ihnen gehörte einer evangelischen Freikirche an.10 Im Laufe der Industrialisierung verließen die Mittelschichten die Innenstädte und zogen in die Vorstädte.11 Etwa zwei Drittel der Bevölkerung gehörte zu den Unterschichten. Die Hälfte der Unterschichten lebte in Armut am Rand oder unterhalb des Existenzminimums. Die Massenarmut war in Großbritannien nicht erst ein Phänomen dieser Epoche. Allerdings nahm diese nun bisher nicht gekannte Dimensionen an.12 Im Gegensatz zu der Schicht der besser qualifizierten Arbeiter und Handwerker, denen eine soziale Mobilität möglich war, war ein Aufstieg aus der absoluten Armut kaum möglich. Kam es nach schlechten Ernten zu Preiserhöhungen, waren Aufstände13 oft die Folge. Die Kinderarbeit, die schon in der vorindustriellen Landwirtschaft bekannt war, bekam jetzt eine andere Größenordnung.14 Auch das

6 Vgl. ebd., 420; 447. Vgl. Greschat, Martin: Das Zeitalter der Industriellen Revolution. Das Christentum in der Moderne, Christentum und Gesellschaft XI, Stuttgart u. a. 1980, 13. 7 Vgl. Neidhart: Großbritannien, 422ff. 8 Vgl. ebd., 427. Neidhart schließt aus der Parallelität des sprunghaften wirtschaftlichen Wachstums und des Eisenbahnbaus einen Kausalitätszusammenhang: Das industriewirtschaftliche Wachstum erlangte nach 1830 ein breiteres Fundament als vorher. So ist es wohl gerechtfertigt, die Entwicklung der Eisenbahnen als das zentrale Ereignis im Heranreifen der Industriellen Revolution darzustellen. ebd., 435. 9 Vgl. ebd., 445ff. 10 Vgl. ebd., 446. 11 Vgl. ebd., 445. 12 Vgl. ebd., 411. 13 food riots. 14 „Nach Mindestschätzungen stand in der Mitte des 19. Jh. ein Drittel aller Kinder unter 15 Jahren in einem Arbeitsverhältnis.“ Ebd., 447.

55

schottische Schulsystem, dass bis zu diesen Umwälzungen dem englischen voraus war, brach nun in den wachsenden Städten zusammen.15 Die britische Wirtschafts- und Sozialtheorie dieser Phase wurde von liberalen Ansätzen beherrscht, die sowohl die Freiheit des Arbeits-, als auch des Güter- und Geldmarktes vertraten.16 Adam Smith (1723–1790) war hier ein Vordenker. In der Politik fand seine Theorie ihren Niederschlag in der Abschaffung staatlich geregelter Mindestlöhne (1813) und in der Aufhebung der siebenjährigen Lehrzeit für Fachkräfte (1814).17 Ab 1815 gab es keine Preisbindung für Grundnahrungsmittel mehr.18 Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Schritt für Schritt nationale und internationale Handelsbeschränkungen aufgehoben.19 Neben den Vertretern des laissez faire gab es ferner eine Gruppe von Politikern, die sich von utilitaristischen Prinzipien leiten ließen. Jeremy Bentham (1748–1832) war ihr wichtigster Protagonist. Er vereinigte in seiner Politik sozialstaatliche und marktwirtschaftliche Elemente.20 Eine dritte politische Kraft bildeten ab dem Ende des 18. Jahrhunderts die philanthropists. Sie waren die Anwälte der sozialen Verantwortung des Staates. Namhafte Vertreter der Erweckungsbewegung wurden zu Sprechern dieser Fraktion. Hier sind vor allem die Parlamentarier William Wilberforce (1759–1833) und Anthony Ashley Cooper der 7. Earl of Shaftesbury (1801–1885) zu nennen. Durch ihr Engagement wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Sklavenhandel (1807) und dann im gesamten britischen Empire die Sklaverei (1833) verboten. Zu dem Verbot der Sklaverei im Jahr 1833 trug bei, dass es Wilberforce und anderen gelungen war, große Teile der Erweckungsbewegung für dieses politische Anliegen zu mobilisieren. Dies fand seinen Niederschlag in umfangreichen Unterschriftenlisten für die Sklavenbefreiung, die in erweckten Kreisen erstellt wurden.21 Da die Kampagne für die Abschaffung der Sklaverei einen 15 „Es ist offensichtlich, dass das Schottische Schulsystem durch die Verstädterung um 1815 seine allgemeine Präsenz und seine Richtung verlor. [. . .] In prosperierenden Dörfern wo es verantwortungsvolle Grundbesitzer gab und in Städten, wo die Magistrate die presbyterianische Schultradition schätzten, war das Bildungsniveau in Schottland so hoch wie andernorts in Europa auch. Diese Errungenschaft hatte in England keine Parallele: Den Anspruch einer allgemeinen durch den Staat oder die Kirche finanzierten Bildung gab es dort nicht. England hatte nicht einmal ein rudimentäres Schulsystem.“ „It is clear that the Scottish educational system, under the impact of urbanisation was by 1815 losing generality and direction. [. . .] Where there were prosperous villages and caring heritors, or towns with bailies (magistrates) who honoured the Presbyterian tradition of schooling, the level of literacy in Scotland was as high as anywhere in Europe. To this achievement England provided no parallel: there was no question of general literacy as sponsored by state and church; England did not have even a skeletal education system.“ Checkland, Sydney: British public policy 1776–1939. An economic, social and political perspective, Cambridge u. a. 1983, 34. 16 Vgl. Niedhard: Großbritannien, 451. 17 Vgl. Checkland: British, 28; s. a. Niedhard: Großbritannien, 446. 18 Vgl. Checkland: British, 27. 19 Vgl. ebd., 79. 20 Vgl. ebd., 44f. 21 Vgl. Hempton: Methodism, 209; Auch Chalmers sprach sich für die Abschaffung der

56

Missstand zum Gegenstand hatte, der in der Regel weit jenseits der Grenzen Großbritanniens auftrat, findet sich hier vielleicht das erste Beispiel für die Präsenz der globalen Dimension der Diakonie in einer breiten kirchlichen Öffentlichkeit in Europa. Auf Betreiben dieser Politiker wurden auch immer wirksamere Arbeitsschutzgesetze erlassen (1802, 1833, 1842, 1844, 1850). Sie setzen Armenhilfegesetze durch (1815, 1834, 1847), Gesetzeswerke, die sich der Gefängnisreform widmeten (1835) und der Verbesserung der hygienischen Verhältnisse in den Armenbezirken (1848).22 So durften ab 1833 Kinder unter 13 Jahren in den Textilfabriken nicht mehr als 48 Stunden pro Woche arbeiten, Jugendliche unter 18 nicht mehr als 65 Stunden. Ab 1844 durften Kinder in der Textilindustrie nicht länger als sechseinhalb Stunden pro Tag arbeiten. Das Inspektoratsgesetz für die Kohlenminen von 1850 setzte das gänzliche Verbot von Kinder- und Frauenarbeit in den Bergwerken durch. Es brauchte also mehrere Jahrzehnte bis durch Gesetze die schlimmsten Auswüchse der Industrialisierung eingedämmt wurden.23

3.2 Die Erweckungsbewegung als ökumenisches, europäisches und nordamerikanisches Phänomen 3.2.1 Charakterisierung der Erweckungsbewegung24 Thomas Chalmers galt in seiner letzten Schaffensphase eineinhalb Jahrzehnte lang als die führende Persönlichkeit der Evangelicals25 in SchottSklaverei aus, bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Eigentumsrechte der Sklavenhalter. Als 1833 die britische Regierung die Sklaverei im gesamten Empire verbot und den Sklavenhaltern eine Entschädigung zahlte, ging sie nach diesen Prinzipien vor. Vgl. Chalmers, Thomas: A Few Thoughts on Colonial Slavery (1826), Works XII, 395–408. Chalmers hatte aber darüber hinaus auch noch die Gewöhnung der Sklaven an eine Lohntätigkeit im Blick. Vgl. hierzu 6.4 Anmerkung 120. 22 Vgl. Checkland: British, 42–107. 23 „Um 1850 konnten [. . .] die Arbeitsbedingungen in den Textilfabriken und Kohlebergwerken unterstützt durch Inspektionen unter Kontrolle gebracht werden. Es ist schwer zu sagen, wann sich zum ersten Mal ernsthafte Verschlechterungen in diesen zwei schnell wachsenden Sektoren zeigten: Vielleicht können die Jahren nach 1815 als Wendepunkt gesehen werden. Wenn es so war, dann erreichten die ersten Elemente von Kontrollvorschriften, die immer noch inadequat waren, nach ungefähr zwanzig Jahren die Fabriken. In den Bergwerken war dies erst nach etwa siebenundzwanzig Jahren der Fall.“ „By 1850 the conditions of work in textile factories and in coal mines were [. . .] brought under a degree of control, reinforced by inspection. It is difficult to say when serious deterioration had first manifested itself in these two rapidly growing sectors: perhaps the years after 1815 might be taken as a benchmark. If so, the first elements of a code of control, inadequate though they were, had appeared within some twenty years in the factories and some twenty-seven years in the mines.“ Checkland: British, 97. 24 Einen Überblick über das facettenreiche Phänomen der Erweckungsbewegung bieten in deutscher Sprache am besten: Brecht, Martin u. a. (Hg.): Der Pietismus im achtzehnten

57

land. Damit war er Vertreter einer Bewegung, von der große Teile Europas und auch Nordamerikas erfasst waren. Obwohl sie z. T. beträchtliche regionale Unterschiede aufwies, hat sich hierfür in der gegenwärtigen deutschsprachigen Forschung der Begriff Erweckungsbewegung durchgesetzt, mit dem ein Zusammenhang vielfältiger Erneuerungsbemühungen zum Ausdruck gebracht werden soll.26 Diese geistliche Strömung wollte das Christentum erneuern, sie orientierte sich dabei an der Bibel und war in ihrem protestantischen Teil dem Anliegen der Reformation verpflichtet. So schließt der Begriff Erweckungsbewegung nicht nur das ein, was im angelsächsischen Bereich als die frühe Phase des Evangelicalism bezeichnet wird, sondern beispielsweise auch den Réveil des französischen und niederländischen Sprachraums. Damit ist er von dem zu unterscheiden, was die englischen Worte awakening und revival bezeichnen.27 Hiermit sind mehr oder weniger regional begrenzte geistliche Aufbrüche gemeint, die nur einen Teil des Phänomens Evangelicalism ausmachten. Zeitlich und örtlich begrenzter Enthusiasmus hinterließ in der Erweckungsbewegung seine Spuren, die Bewegung schloss aber noch ganz andere Aspekte ein. Martin Greschat weist auf die ökumenische Ausdehnung der Erweckungsbewegung hin: „Die gleichzeitige Entwicklung im Protestantismus lässt jedenfalls eine Vielzahl von Parallelen zu den Ereignissen im Katholizismus erkennen. [. . .] Wie Jahrhundert, Geschichte des Pietismus II, Göttingen 1995; Gäbler, Ulrich u. a. (Hg.): Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, Geschichte des Pietismus III, Göttingen 2000; Lehmann, Hartmut u. a. (Hg.): Glaubenswelt und Lebenswelten, Geschichte des Pietismus IV, Göttingen 2004. Dort findet sich auch weitere Literatur; Zu ihrem angelsächsischen Flügel (Evangelicalism) Vgl. Bebbington/Noll/Rawlyk: Evangelicalism und Bebbington: Evangelicalism in Modern Britain. 25 In dieser Arbeit werden die Vertreter der Erweckungsbewegung entsprechend den Begriffen evangelical und Evangelicalism als Evangelicals bezeichnet. Damit werden historische Selbstbezeichnungen aus dem angelsächsischen Sprachraum verwendet. Allerdings ist das Bedeutungsspektrum der Worte größer. Es konnte und kann ebenso den Protestantismus und alle Protestanten wie nur ihren evangelikalen Flügel bezeichnen. Dennoch ist die hier gebrauchte Verwendung der Begriffe naheliegend und in der englischsprachigen Literatur heute die Regel. So führen Bebbington, Noll und Rawlyk in ihrem grundlegenden Werk zum Thema die Verwendung des Begriffs evangelical folgendermaßen ein: „[. . .] was auch immer sein anderweitiger Gebrauch legitimerweise ist, ‚evangelical‘ ist ebenso das beste verfügbare Wort, mit dem ein ziemlich diskretes Netzwerk von protestantischen christlichen Bewegungen beschrieben werden kann, das sich während des 18. Jahrhunderts in Großbritannien und seinen Kolonien bildete. Neben dieser historischen Bedeutung von ‚evangelical‘, wird der Begriff noch zur Bezeichnung eines Paradigmas von Überzeugungen und Haltungen verwendet.“ „ [. . .] whatever its other legitimate uses, ’evangelical’ is also the best word available to describe a fairly discrete network of Protestant Christian movements arising during the eighteenth century in Great Britain and its colonies. This historical sense of ’evangelical’ is complemented by a parallel use of the term designating a consistent pattern of convictions and attitudes.“ Bebbington/Noll/Rawlyk: Evangelicalism, 6. 26 Zur Verwendung des Begriffs in der Forschung vgl. Ernst: Auferstehungsmorgen, 1–39. 27 Vgl. ebd., 39–48.

58

sehr dieser christliche Erneuerungsprozess zunächst überkonfessionell ausgerichtet war, lässt sich besonders schön an den Vorgängen in Deutschland ablesen. Durch Schüler des katholischen Theologen und späteren Bischofs Johann Michael Sailer war es im Allgäu zu einer Erweckungsbewegung gekommen, die dann stark auch in protestantische Gebiete hineinwirkte.“28

Die Bewegung begann etwa zeitgleich in Europa und Nordamerika in den 20er und 30er Jahren des 18. Jahrhunderts. Auf dem europäischen Festland kann die Erneuerung der mährischen Brüderunität in Herrnhut als der Anfang der Erweckungsbewegung angesehen werden, in deren Mitte Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760) stand. Reiseprediger der Herrnhuter Brüdergemeine trugen wesentlich dazu bei, ein Netzwerk von Erweckten im deutschsprachigen Europa aufzubauen.29 Ab 1782 bildete die Deutsche Christentumsgesellschaft in Basel durch den Vertrieb zahlreicher Publikationen einen Knotenpunkt für Mitteleuropa.30 In Großbritannien nahm die Bewegung ihren Anfang mit der Tätigkeit von John Wesley (1703–1791) und anderen Reisepredigern.31 Der 28 Greschat, Martin: Christliche Erneuerung im Europa des 19. Jahrhunderts. Historische Voraussetzungen der Institutionalisierung der Diakonie, in: Kursbuch Diakonie, Michael Schibilsky (Hg.), Neukirchen-Vluyn 1991, 185–196: 189. 29 Vgl. Weigelt, Horst: Die Diasporaarbeit der Herrnhuter Brüdergemeine und die Wirksamkeit der Deutschen Christentumsgesellschaft im 19. Jahrhundert, in: Gäbler: Pietismus, 113–149. 30 Vgl. Staehelin, Ernst: Die Christentumsgesellschaft in der Zeit der Aufklärung und beginnenden Erweckung, Basel 1970 und ders.: Die Christentumsgesellschaft in der Zeit der Erweckung bis zur Gegenwart, Basel 1974; Vielfach wird der Beginn der Erweckungsbewegung in Mitteleuropa erst mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert angesetzt, wobei dann die Gründung der Christentumsgesellschaft das erste markante Projekt der Bewegung wäre. (So z. B. Beyreuther: Erweckungsbewegung, 1f; Gäbler, Ulrich: Art. Erweckungsbewegung, in: EKL I, Göttingen 31986, Sp. 1081–88: 1085) Das Vorhergehende wäre dann noch „Pietismus“ oder „Spätpietismus“. Obwohl der Begriff „Erweckung“ in der Tat erst dann aufkam (Vgl. Benrath: Art. Erweckung/Erweckungsbewegungen, 205f; Geuze, Matthijs Dirk: Some remarks on revival, its terminology and definition, in: Gäbler, Ulrich/Schramm, Peter (Hg.): Erweckung am Beginn des 19. Jahrhunderts, Amsterdam 1986, 23–32: 27), war er doch nie eine die ganze deutschsprachige „Erweckungsbewegung“ einschließende Selbstbezeichnung. Erst in der Forschung des 20. Jahrhunderts wurde dies eine Sammelbezeichnung für eine Reihe verwandter Phänomene in Europa und Nordamerika. Mir scheint es von daher nicht sinnvoll zu sein, einerseits John Wesley und andere zeitgenössische britische Erweckungsprediger zur Erweckungsbewegung zu zählen, aber den geistlichen Aufbruch in Herrnhut nicht. Bekanntlich bestanden zwischen Wesley und Herrnhut bzw. Zinzendorf Verbindungen, welche die Nähe beider belegen (Vgl. Schmidt, Martin: John Wesley II, Das Lebenswerk John Wesleys, Zürich/Frankfurt a. M. 1966, 13–74). Aber auch abgesehen davon, wo man die Erweckungsbewegung beginnen lässt, ist meines Erachtens eine scharfe Grenzziehung zwischen ihr und dem Pietismus nicht möglich. Der Unterschied zwischen den Pietisten des beginnenden 18. Jahrhundert und den Erweckten am Anfang des 19. Jahrhunderts ist vor allem durch den anderen zeitgeschichtlichen Kontext bedingt. In der Erweckungsbewegung setzte sich der Pietismus unter anderen Bedingungen fort (so auch Andreas Lindt, Ulrich Gäbler und Hartmut Lehmann. Lehmann: Glaubenswelt, 7). 31 Wesley war zwar nicht der erste aber der weitaus erfolgreichste Erweckungsprediger Großbritanniens. Vgl. Bebbington: Evangelicalism in Britain, 20–27.

59

kongregationalistische Theologe Jonathan Edwards (1703–1758) war ein Protagonist der amerikanischen Evangelicals. Seine Veröffentlichungen wurden im großen Umfang im englischen Sprachraum rezipiert und förderten die Bewegung nicht zuletzt in Schottland.32 Auf unterschiedliche Weise haben die Freikirchen im angelsächsischen Bereich und auf dem europäischen Festland zum Entstehen der Erweckungsbewegung beigetragen. Neben der erwähnten Diasporaarbeit der Herrnhuter Brüdergemeine ist hier vor allem das Mitwirken der Freikirchen an der Entstehung des formal pluralistischen Gesellschaftsverständnisses der Moderne zu nennen.33 Ohne diese neue Sicht des Gemeinwesens ist die Erweckungsbewegung nicht denkbar. Insbesondere in der ersten Phase der Bewegung wurde kein Unterschied zwischen innerer und äußerer Mission gemacht. Objekt der Mission der Erweckungsprediger war prinzipiell jeder Mensch unabhängig von der Tatsache, ob er Mitglied in einer Kirche war oder nicht. Ihr Aufruf zur Entscheidung für den Glauben ging davon aus, dass das Christentum eine selbstgewählte Lebensform sein muss. Die Voraussetzung für diese Vorstellung war die Überzeugung, dass die Gesellschaft nicht mehr als corpus christianum verstanden wurde. Sie wurde vielmehr als pluralistisches Gebilde gesehen, das ein Forum für verschiedene miteinander wettstreitende Überzeugungen ist. Das Individuum hatte dabei die Freiheit, sich seine Weltanschauung und den damit verbundenen Lebensentwurf selbst zu wählen. Bereits die Täufer des 16. Jahrhunderts antizipierten das Gesellschaftsverständnis der Moderne, indem sie die Vorstellung des corpus christianums verwarfen und die Freiwilligkeit des Kircheneintritts praktizierten. Vor allem in Nordamerika und auf den britischen Inseln waren die Freikirchen direkt daran beteiligt, dass ein formal pluralistisches Verständnis der Gesellschaft zur Mehrheitsmeinung wurde. Die Veränderung des Gesellschaftsbildes ist eng verknüpft mit dem Einsetzen der Aufklärung.34 Der Zusammenhang zwischen beiden besteht nicht nur darin, dass ihre Denkmodelle Parallelen aufwiesen, sie waren beide auch Teil der gleichen gesellschaftlichen Prozesse mitunter initiierten sie diese neuen Entwicklungen erst. Chalmers Sozialtheologie und die Initiativen, in denen sie Ausdruck fand, ist ein Beispiel hierfür. Der Zeitraum bis zur Industriellen Revolution35 kann als die klassische Phase der Bewegung bezeichnet werden. In ihr wurden die weit gespanntesten theologischen Konzepte entwickelt. Danach war der Horizont

32 Beispielsweise erhielt das Cambuslang Revival in Schottland (1742) wesentliche Impulse durch Edwards Schrift: A Narrative of Surprising Conversions (1737); Zur Rezeption Edwards durch Chalmers vgl. 4.1. 33 Vgl. 5.1.2. 34 Zum Verhältnis von Erweckungsbewegung und Aufklärung vgl. 5.2.2. 35 Sie setzte in Großbritannien in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts ein, in Mitteleuropa etwa 15 Jahre später.

60

vieler Vertreter der Erweckungsbewegung eingeschränkter.36 Die in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu beobachtende Veränderung der Mentalität der Erweckten sollte nicht nur als Reaktion auf die Revolution von 1848 verstanden werden, die ohnehin nur auf Mitteleuropa beschränkt war. Die Revolution war lediglich eine von vielen Ursachen einer tiefgreifenden Verunsicherung, die sich in weiten Teilen der Kirche zeigte. Der genau zu dieser Zeit einsetzende industrielle Boom wurde von einem Zusammenbruch traditioneller Strukturen der Gesellschaft begleitet, welcher sowohl den ländlichen wie den städtischen Raum nachhaltig veränderte. Massenarmut und eine beginnende Organisation der Opfer dieser Entwicklung37 waren die Folge davon. Dies löste zahlreiche Ängste aus. In weiten Kreisen der Kirchen wuchs die Überzeugung, insbesondere die sich in den folgenden Jahrzehnten politisch organisierenden Arbeiter müssten als Feinde des Christentums betrachtet werden. In den USA nahm die Erweckungsbewegung einen ähnlichen Verlauf wie in Europa. Der Mentalitätswechsel kam hier allerdings erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Bewegung zum Tragen. Dies hatte vor allem zwei Gründe. Bis zum Beginn des Bürgerkrieges (1861–1865) schien die amerikanischen Gesellschaft relativ homogen zu sein. Der Sezessionskrieg wurde zum ersten und vielleicht bis heute größten Trauma des Landes. Durch ihn wurde die gemeinsame Identität der Amerikaner brüchig. Zudem setzte erst im letzten Viertel des Jahrhunderts der industrielle Boom mit den entsprechenden Begleiterscheinungen auch in Amerika ein. Die dann beginnenden Entwicklungen beschreibt Gäbler so: „Der klassische Evangelikalismus war in der Lage gewesen, gesellschaftsreformerische Aktivitäten und individuelles Heilsstreben, wie es Bekehrung und Wiedergeburt anzeigen, in einer sensiblen Balance zu halten. Dieses Gleichgewicht zerbrach, die beiden Intentionen verselbstständigten sich.“38

Danach stand auf der eine Seite die Social-Gospel-Bewegung, welche allein die sozial-politische Linie fortsetzte. Auf der anderen Seite waren die Heiligungsbewegung mit ihrer Konzentration auf den geistlichen Fortschritt der Individuen sowie der Dispensationalismus, welcher die individuelle Dimension des Heils der Gegenwart zuordnet, die universale aber anderen „Zeitaltern“.39 Die Erweckungsbewegung erstreckte sich über etliche Kirchen und mehrere Generationen. Sie entfaltete sich zudem in sehr unterschiedlichen regionalen Kontexten. Vor diesem Hintergrund ist eine Charakterisierung, die auf alle ihre Teile zutrifft, nicht einfach. Ulrich Gäblers Ver36 Vgl. 5.2.1 und 7.4. 37 Einige Allianzen während der Revolution waren nur ein besonders militantes Beispiel für solche Zusammenschlüsse. 38 Gäbler: Geschichte, Gegenwart, Zukunft, 41. 39 Daher der Begriff: dispensation = Zeitalter. Auch der in Deutschland recht einflussreiche John Nelson Darby (1800–1882) war bereits Dispensationalist. Zu Darby vgl. 5.2.1.

61

such ist hier am überzeugendsten. Er plädiert auch dafür, die Erweckungsbewegung nicht nur in ihrer systematisch theologischen Dimension wahrzunehmen, sondern ebenfalls in ihren Leistungen „auf missionarischen, evangelisatorischen und karitativen Gebieten.“40 Gäbler nennt fünf Motive, die mit unterschiedlichen z. T. wechselnden Gewichtungen die Erweckungsbewegung kennzeichneten:41 Erstens wäre überall in der Erweckungsbewegung ein „prophetisches Motiv“ zu finden gewesen. Die Zeitereignisse hätte man mit größter Aufmerksamkeit verfolgt, analysiert und mit der Heilsgeschichte in Verbindung gebracht. Insbesondere die Französische Revolution regte zu solchen theologischen Deutungen an. Charakteristisch für viele Evangelicals um die Wende zum 19. Jahrhundert war, dass sie solche fundamentalen gesellschaftlichen Umbrüche nicht allein als Bedrohung wahrnahmen, sondern vielmehr auch als Vorboten zukünftiger besserer Zeiten. Zweitens charakterisiere die Erweckungsbewegung ein „chiliastisches Motiv.“ Die Weltwahrnehmung und die christliche Praxis wurde bestimmt durch die Erwartung des Reiches Gottes. Hierbei gab es eine praemillenaristische und eine postmillenaristische Konzeption. Die Praemillenaristen rechneten mit der Wiederkunft Christi vor dem Anbrechen des Tausendjährigen Reiches, die Postmillenaristen erwarteten die Parusie nach dem Millennium.42 Drittens sei bei den Postmillenaristen ein „universalistisches Motiv“ festzustellen. Nicht nur ihre missionarische Perspektive hatte einen globalen Horizont, auch das von ihnen erwartete Gottesreich transzendierte alle nationalen und konfessionellen Grenzen. Das Reich Gottes war für sie in der Konsequenz ökumenisch.43 Viertens fände sich in der Erweckungsbewegung ein „individualistisches Motiv“. Gotteserfahrungen, die mit Begriffen wie „Wiedergeburt“, „Erweckung“, „gnädiger Führung“ oder „Erleuchtung“ beschrieben wurden, machten für die Evangelicals das Wesen des christlichen Glaubens aus. Die Gewissheit des Glaubens habe somit immer auch eine empirische Grundlage. Jeder Christ müsse zudem „persönlich und selbständig“ zu diesem Glauben kommen. Die Gotteserfahrung führte damit ebenfalls zur Entdeckung des 40 Gäbler: Auferstehungszeit, 167. 41 Ebd., 169–178. 42 Auf die unterschiedlichen theologischen Konzepte, die sich hieraus ergaben wird in dem Abschnitten 5.2.1 und 7.4 eingegangen. In der klassischen Phase der Erweckungsbewegung herrschten die postmillenaristischen Entwürfe vor, die wie die Reformatoren den Anbruch des Reichs Gottes bereits in ihrer Gegenwart sahen. Erst um die Wende zum 20. Jahrhundert begann eine gewisse Vorherrschaft praemillenaristischer Ansätze unter den Evangelicals. 43 In den angelsächsischen Ländern umfasste diese Ökumene vor allen Dingen die protestantischen Kirchen. Hier arbeiteten z. T. sogar schon Institutionen verschiedener Kirchen zusammen. Auf dem europäischen Kontinent schloss sie auch katholische Christen ein. Die 1826 von Theodor Fliedner gegründete Gefängnis Gesellschaft ist ein Beispiel hierfür. (Vgl. Gerhardt, Martin: Theodor Fliedner. Ein Lebensbild I, Düsseldorf 1933, 157–171).

62

Individuums. Schließlich sei, fünftens, ein „soziatives Motiv“ für die Evangelicals kennzeichnend. Organisatorisch wurde die Erweckungsbewegung wesentlich von zahllosen Vereinen und Gesellschaften mit missionarischer und diakonischer Ausrichtung bestimmt. Hierin setzten sich die Gesellschaften der Aufklärung fort, die wissenschaftliche, wohltätige oder religiöse Zielsetzungen hatten. Die Vereine der Erweckungsbewegung waren freiwillige Zusammenschlüsse, in die jeder ungeachtet seines sozialen Standes, seiner Kirchenzugehörigkeit und seines Geschlechtes eintreten konnte. Eine Ausnahme von dieser Regel waren die Vereinigungen, in denen sich ausschließlich Frauen organisierten. Noch ein sechstes ließe sich zu den fünf von Gäbler genannten Motiven hinzufügen. Es steht in enger Verbindung mit dem individualistischen und dem soziativen: Das egalitäre Motiv. Das allgemeine Priestertum wurde in neuer Weise interpretiert. Ungeachtet der Tatsache, dass es in ihr auch Matriarchinnen und Patriarchen gab, konnte in der Erweckungsbewegung prinzipiell jeder alle Aufgaben übernehmen und sich zu theologischen Fragen äußern.44 Strohm führt am Beispiel der Brüdergemeinen Zinzendorfs die Konsequenzen dieses neuen Gleichheitsverständnisses aus: „Diese Gründungen verfolgten keinen eigentlichen politischen Zweck – Zinzendorf war stets auf Loyalität gegenüber der fürstlichen Obrigkeit bedacht –, aber sie waren ein Politikum: Der Verzicht auf jede Herrschaft von Menschen über Menschen, die Geselligkeit ohne Rücksicht auf soziale Unterschiede, die Betonung der Freiheit des Einzelnen, die Übertragung des adeligen Bildungsniveaus auf das ländliche Bürgertum und der methodische Sozialismus im Wirtschaftlichen hatten einen revolutionären Keim. Er übertrug die Prinzipien des bislang überweltlich verstandenen regnum Christi in soziale Organisationsformen und legte die Bedingungen für eine Änderung des sozialen Systems.“45

Zweifellos setzten nicht alle Evangelicals diese Prinzipien so radikal um wie die Brüdergemeinen im 18. Jahrhundert, aber tendenziell gelten sie für alle Initiativen der Erweckungsbewegung. Die Bewegung verstand sich als Basisbewegung, insofern als weder die kirchliche Ordination noch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht die Voraussetzung für die Übernahme einer Leitungsposition war. Dies trug dazu bei, den Weg für demokratische Strukturen in der Gesellschaft zu ebnen.46 So waren auch an der Ausgestaltung der jungen US-amerikanischen Demokratie Evangelicals direkt beteiligt. Neben dem, was die verschiedenen Teile der Erweckungsbewegung miteinander verband, gab es in ihr auch kontroverse Positionen. Karsten 44 Vgl. hierzu 6.3. 45 Strohm, Theodor: Die Ausformung des sozialen Rechtsstaates in der protestantischen Überlieferung. Sozialethische Untersuchungen zur gegenwärtigen Verfassungswirklichkeit, Habil. masch., Münster 1969, 206. 46 Vgl. 7.4 und 7.5.

63

Ernst weist darauf hin, dass die Bewegung fast überall zwei verschiedene theologische Flügel aufwies, den „reformatorischen“ (reformiert oder lutherisch) und den „arminianisch-pelagianischen“. Zweifellos ist das eine richtige Beobachtung, der in der deutschsprachigen Forschung bisher kaum Gewicht beigemessen wurde.47 Allerdings haben Vertreter beider Flügel oft eng zusammengearbeitet. Von daher konnte ihre Praxis nicht immer so deutlich unterschieden werden, wie Ernst das behauptet.48 Ein „besonderes Wesensmerkmal“ der Erweckungsbewegung war nach Gäbler schließlich ihre nationale Grenzen überschreitende Verflechtung. „Man suchte die persönliche Begegnung über kirchliche und staatliche Grenzen hinweg. So entstand ein internationales Netz von Kontakten.“49 Hierbei nahmen verschiedene Zentren der Bewegung eine Vorrangstellung innerhalb Europas ein. Hartmut Lehmann nennt hier für den Anfang des 19. Jahrhunderts London und Basel. Danach gingen wesentliche Impulse auch von Genf, Amsterdam, Kopenhagen und Edinburgh aus.50 Nicht zuletzt die Chalmersrezeption ist ein Beleg für die internationale Dimension der Erweckungsbewegung.51 Obwohl die Evangelicals zweifellos regionalen Kontexten zugeordnet werden können, waren ihre Ansätze so auch offen für Aspekte anderer Traditionen. In der Tat wurden während Chalmers Wirksamkeit in Mitteleuropa diakonische und missionarische Konzepte aus Großbritannien mit besonderer Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen.

3.2.2 Die Eigenart des britischen Teils der Bewegung52 Es lässt sich nur darüber spekulieren, warum die deutschsprachige Erweckungsbewegung im 19. Jahrhundert für ihr britisches Gegenstück so außergewöhnliches Interesse zeigte.53 Ein Grund hierfür mag die Tatsache gewesen sein, dass Großbritannien die Avantgarde der Industriali47 Beyreuther hat gleichwohl schon die diesbezüglichen Differenzen zwischen Zinzendorf und Wesley beschrieben. Beyreuther, Erich: Die große Zinzendorf Trilogie, Marburg 1988, III, 258–256. 48 Ernst: Auferstehungsmorgen, 48–65, 380–382. 49 Gäbler: Auferstehungszeit, 167. 50 Lehmann, Hartmut: I. Die neue Lage, in: Gäbler: Pietismus, 1–26: 3. 51 Vgl. Kapitel 8. 52 Neben den bereits erwähnten Publikationen von Bebbington sei hier noch auf folgende neuere Veröffentlichungen zur britischen Variante der Erweckungsbewegung verwiesen: Robbins, Keith (Hg.): Protestant Evangelicalism: Britain, Ireland, Germany and America c. 1750–c.1950, Oxford/New York 1990; Ward, William Reginald: The Protestant Evangelical Awakening, Cambridge 1992; Ders.: Faith and Faction, London 1993. 53 Vgl. hierzu z. B. Eisenblätter, Winfried Helmut: Carl Friedrich Adolph Steinkopf (1773–1859). Vom englischen Einfluß auf kontinentales Christentum zur Zeit der Erweckungsbewegung, Zürich 1974.

64

sierung bildete. Hier wurden gesellschaftliche Entwicklungen antizipiert, die sich mit einiger Verzögerung z. T. in Mitteleuropa wiederholten. Trotz der Sympathie, die ihr vom Kontinent entgegengebracht wurde, unterschied sich die Bewegung im Vereinigten Königreich beträchtlich von ihrem Pendant auf dem Festland. Sowohl der kirchliche als auch der gesellschaftliche Kontext war ein ganz anderer. Eine Kontroverse besteht darüber, ob die im 18. Jahrhundert in Großbritannien einsetzende Erweckungsbewegung eine Fortsetzung des Puritanismus war oder ob ihr Entstehen anders zu erklären ist.54 Welche Position man auch immer in dieser Frage einnimmt, offensichtlich ist jedenfalls, dass es sowohl Kontinuität als auch Diskontinuität zwischen den Puritanern und den ersten Evangelicals gab. Das geschichtsimmanente Handeln Gottes und die praxis pietatis der Glaubenden wurde von beiden gleichermaßen betont. Die zentrale Stellung, welche im landeskirchlichen Puritanismus die kirchlichen Ämter hatten, findet sich aber in der Erweckungsbewegung nicht mehr. An ihren Platz rückte eine neue Bewertung des allgemeinen Priestertums. Die Positionierung der Bewegung in den Kirchen und ihre Stellung im öffentlichen Leben war in den verschiedenen Teilen Großbritanniens sehr unterschiedlich. Auf den britischen Inseln war die Erweckungsbewegung ausschließlich ein protestantisches Phänomen. Neben den Staatskirchen erstreckte sie sich über zahlreiche Freikirchen, die zum großen Teil auch erst in der Bewegung entstanden. In der anglikanischen Church of England repräsentierte sie immer nur eine Minderheit. Dennoch wuchs die Zahl ihrer Anhänger ab den 1790er Jahren ständig. 1800 gab es bereits 500 Evangelicals allein unter den Pfarrern, 1835 kann ein Viertel aller Geistlichen zur Erweckungsbewegung gezählt werden einschließlich einiger Bischöfe.55 Es gab einige Regionen, wo sich die Erweckungsbewegung fast ausschließlich auf die Freikirchen beschränkte. Dies gilt vor allem für Wales. Hier gelang es den believers churches sogar, die Mehrheit der Bevölkerung zu gewinnen. Bis heute gibt es in dem westlichen Landesteil Großbritanniens weitaus mehr freikirchliche als anglikanische Gemeinden.56 Die Evangelicals sprachen in Wales vorwiegend Walisisch und gehören zu den ärmeren Schichten, während Englisch im 18. und 19. Jahrhundert die Sprache der Eliten und der anglikanischen Church in Wales war. Zwischen den Freikirchen 54 Zu den verschiedenen Herleitungsversuchen vgl. Walsh, J. D.: Origins of the Evangelical Revival, in: Essays in Modern English Church History, ders./G. V. Bennett (Hg.), London 1966, 132–162. 55 Noll, Mark A.: Revolution and the Rise of Evangelical Social Influence in North Atlantic Societies, in: Bebbington/Noll/Rawlyk: Evangelicalism, 113–136: 122f; vgl. Hylson-Smith, Kenneth: Evangelicals in the Church of England 1734–1984, Edinburgh 1988, 68. 56 Zur Vielgestaltigkeit der kirchlichen Landschaft in der walisischen Hauptstadt Cardiff vgl. http://archive.uwcm.ac.uk/uwcm/cp/chudir2.html.

65

und der anglikanischen Kirche verlief in Wales eine soziale, eine Sprach- und kulturelle Grenze.57 Auch die schottische Erweckungsbewegung hatte im 19. Jahrhundert mehrere Jahrzehnte lang die Majorität der Kirchgänger erfasst. Hier stellte sie sogar in der presbyterianischen Staatskirche die Mehrheit. Dies gab der Bewegung in Schottland einen anderen Charakter als in anderen Gebieten der britischen Inseln. Sie war weniger eine Kritik an dem Zustand der Kirche, als eine Selbstkritik des herrschenden kirchlichen Systems. Ein großer Teil der jungen industriellen Führungsschicht zählte zu den Evangelicals. Im Norden Großbritanniens konnte die Erweckungsbewegung wie nirgendwo sonst in Europa die Gesellschaft prägen. Landeskirchliche und freikirchliche Presbyterianer stellten den überwiegenden Teil der Bewegung. Alle nichtpresbyterianischen Freikirchen blieben anders als in England und Wales immer relativ klein.58 Örtliche revivals gab es in Schottland bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ein landesweites Phänomen nennenswerter Größe wurde die Erweckungsbewegung aber erst wesentlich später. Mark Noll geht davon aus, dass sich der Beginn des dynamischen Wachstums der Bewegung in Schottland exakt datieren lässt: „In der Staatskirche [. . .] nahmen die großen Initiativen der Erweckungsbewegung ihren Anfang genau mit dem Jahr 1793. Über das nächste halbe Jahrhundert führten die Früchte dieser Dynamik zu einer Flut neuer Publikationen, einer Unmenge neuer missionarischer und reformorientierter Organisationen für Ehrenamtliche, konzentrierter Bemühungen neue Schulen zu gründen und einem eifrigen Praktizieren neuer Formen der Spiritualität. Schon im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts begann das Netzwerk der Evangelicals in der Church of Scotland seinen Einfluss zu entfalten. In den 1820er Jahren war es die dominierende Partei in der Kirche.“59

Mitte der 1790er Jahre begannen auch Robert (1764–1842) und James Haldane (1768–1851) mit ihren weitgespannten Aktivitäten.60 Die beiden Brüder waren die rührigsten, freikirchlichen Vertreter der schottischen 57 Heute ist dies allerdings nicht mehr so. Die anglikanische Church in Wales, die nun auch Gottesdienste in walisischer Sprache anbietet, versteht sich jetzt als Nachfolgerin der keltischen frühmittelalterlichen Kirche. Die Freikirchen in Wales sind mittlerweile in der Regel ebenfalls zweisprachig, nicht zuletzt weil der Anteil der walisisch sprechenden Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten stark gesunken ist. 58 Bebbington, David W. (Hg.): The Baptists in Scotland. A History, Glasgow 1988, 4. 59 „In the established Kirk [. . .] the great initiatives of Evangelicalism can be dated precisely from 1793. Over the next half century, the fruits of this energy led to an outpouring of new publications, a plethora of new voluntary agencies for missions and reform, a concentrated effort to found new schools, and a diligent application to new forms of spirituality. Already by the first decade of the nineteenth century, the evangelical network in the Church of Scotland was beginning to exert new authority. By the 1820s, it was the dominant party in the Kirk.“ Noll: Revolution, 121. 60 Bebbington: Baptists, 30–32.

66

Erweckungsbewegung. Sie riefen Missionsgesellschaften für das In- und Ausland ins Leben, lancierten die Errichtung von Sonntagsschulen, gründeten eine Reihe von Gemeinden sowie theologische Ausbildungsstätten. Ab 1808 vertraten sie eine baptistische Taufpraxis, was zu einem beachtlichen Aufschwung der Baptistenkirche in Schottland führte. Die breite Präsenz der Erweckungsbewegung in den schottischen Kirchen ermöglichte Thomas Chalmers nicht nur einen unbefangenen Austausch mit Vertretern anderer Konfessionen, sie waren auch der Kontext, in dem er gegen Ende seines Lebens ein gemeindediakonisches Konzept mit ökumenischem Horizont entwickeln konnte.61 Die Ökumene der Evangelicals stand im Zusammenhang mit ihrer Hoffnung auf das Reich Gottes, das für sie bereits eine präsentische alle Kirchen- und Ländergrenzen transzendierende Dimension hatte.62 Im britischen Königreich war mehr als im deutschsprachigen Europa schon eine Kooperation verschiedener kirchlicher Institutionen möglich. Die ursprünglich freikirchliche Überzeugung, dass es an einem Ort eine Reihe legitimer Kirchen geben kann, war hier bereits Allgemeingut geworden. Auch die parlamentarische Demokratie zeigte sich in Großbritannien während der klassischen Phase der Erweckungsbewegung fortgeschrittener als in den meisten Ländern des Kontinents. Nach der puritanischen Republik (1649–1660) und der Glorreichen Revolution von 1688 hatten sich die Rahmenbedingungen der Monarchie grundlegend geändert. Das Parlament, das Unterhaus in London, bestimmte ab nun faktisch die Geschicke des Landes. Weite Kreise der Gesellschaft konnten hierdurch an der Gestaltung des Gemeinwesens partizipieren. Parallel zur Entwicklung der Demokratie wurden bereits im 17. Jahrhundert staatstheoretische Ansätze formuliert, in denen die neuen politischen Möglichkeiten reflektiert wurden. Puritanische Gesellschaftsentwürfe wurden von solchen abgelöst, die unter dem Vorzeichen der Aufklärung standen. Auf den Zusammenhang zwischen beiden wurde bereits hingewiesen.63 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass auch Protagonisten der britischen Erweckungsbewegung sehr konkrete Leitlinien für Gesellschaft und Politik formulieren konnten.64 In der Möglichkeit an der Gestaltung der Gesellschaft teilzuhaben, sahen viele Evangelicals zugleich eine Verpflichtung dies zu tun. Zudem hatten eine Reihe britischer Kirchen seit dem 16. Jahrhundert dafür gekämpft, theologische Überzeugungen artikulieren und demgemäß leben zu dürfen, selbst wenn dies der Staatsräson zuwider ist. Sowohl die Aufklärer als auch die Erweckten fanden dadurch im 18. Jahrhundert einen größeren Freiraum vor, ihre 61 Vgl. 7.3. 62 Vgl. 3.2.1 und 5.2.1. 63 Vgl. 2.4. 64 Neben Thomas Chalmers ist hier vor allem William Wilberforce zu nennen. Vgl. 5.2.3.

67

Gedanken zum Ausdruck zu bringen, als ihre kontinentaleuropäischen Gleichgesinnten. Die politischen Voraussetzungen für einen uneingeschränkten öffentlichen Diskurs über die Gestaltung der Gesellschaft waren auf dem europäischen Festland erst mit Verzögerung gegeben. Dies schlug sich in den Themen nieder, denen sich hier die Theologen und Philosophen widmeten. Die Analyse gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse blieb ein Spezifikum der britischen Aufklärung.65 Es ist wohl auch kein Zufall, dass Johann Hinrich Wichern seinen Ansatz einer den Staat einbeziehenden dreifach gegliederten Diakonie erst Mitte des 19. Jahrhunderts vorlegte. Und obwohl er zweifellos theologisch weitblickender und konsequenter war als Chalmers, ist auch Jähnichens und Friedrichs Urteil über ihn richtig: „Wichern hatte nicht primär Interesse an der Lösung der ‚Arbeiterfrage‘ als einer politisch-gesellschaftlichen Problemstellung.“66 Das war bei seinem schottischen Zeitgenossen anders. Zu bestimmten politischen Themenfeldern leisteten die britischen Evangelicals wesentliche Beiträge. Neben der Sklavenbefreiung war es die Sozialpolitik, auch Chalmers Einsatz für die Gleichstellung der Katholiken ist hier einzureihen. Der Massenarmut, welche die frühe Industrialisierung begleitete, begegnete er zudem nicht nur mit karitativen Projekten, er war auch ein Anwalt der Armen mit seiner – freilich verhalten vorgetragenen – Kritik an der herrschenden liberalistischen Wirtschaftspolitik.67 Demokratische Strukturen in der Kirche wurden von Baptisten und Kongregationalisten thematisiert. Neuere Forschungen haben deutlich gemacht, dass die Erweckungsbewegung auch einen wesentlichen Beitrag zur Formierung der britischen Arbeiterbewegung leistete.68 Nicht wenige Wortführer der Arbeiter waren während ihrer Sozialisation von Methodisten und andern Evangelicals geprägt worden. Die demokratischen Strukturen der Arbeiterorganisationen fanden hier oft ihr Vorbild. In manchen Regionen, wie z. B. Wales, wurde über viele Jahrzehnte die Arbeiterkultur von der Erweckungsbewegung so dominiert, dass Gewerkschaftsbewegung und Erweckungsbewegung sich überschnitten. Bei den Landarbeitern war dies z. T. noch ausgeprägter als bei den Berg- und Fabrikarbeitern. Nigel Scotland weist darauf hin, dass 1872, als sich die Landarbeitergewerkschaften formierten, in Lincolnshire und Norfolk mehr als die Hälfte der lokalen Gewerkschaftsführer Methodisten waren. In Suffolk waren es fast die Hälfte.69

65 Vgl. 5.2.2. 66 Friedrich, Norbert/Jähnichen, Traugott: Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Protestantismus, in: Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus – Katholische Soziallehre – Protestantische Sozialethik, Ein Handbuch, Helga Grebing (Hg.), Essen 2000, 865–1105: 911. 67 Vgl. 7.5 und 7.6. 68 Vgl. z. B. Hempton: Methodism and Politics. 69 Scotland, Nigel: Methodism and The Revolt of the Field, Gloucester 1981, 58.

68

3.2.3 Zur diakonischen Dimension der Erweckung in Großbritannien70 Thomas Chalmers Bemühen um eine soziale Reform war nicht untypisch für Evangelicals. Die diakonische Dimension der britischen Erweckungsbewegung ist von Anfang an unübersehbar. Bereits John Wesleys hatte konstatiert: „Es gibt keine Heiligkeit, wenn sie nicht soziale Heiligkeit ist.“71 Er und andere Erweckungsprediger riefen in ihrer Verkündigung u. a. zur Abschaffung der Sklaverei auf und zur Verbindung des Glaubens mit der Nächstenliebe.72 So wurde die Tradition der religious societies neu belebt. Diese religiösen Vereine hatten schon im ausgehenden 17. Jahrhundert Armenschulen gegründet.73 Die Erweckten gründeten zahlreiche neue Initiativen, welche die Lebensverhältnisse der Menschen in sozialen Notlagen zu verbessern suchten. Oft waren einzelne Persönlichkeiten für solche Werke bestimmend. William Wilberforce und Anthony Ashley Cooper verfolgten ihre Ziele nicht nur im Parlament, sondern ebenso im Vorstand diakonisch orientierter Vereine. So wurde z. B. 1796 im Haus von Wilberforce die Society for Bettering the Condition and Increasing the Comforts of the Poor74 gegründet. Dieser Verein hatte sich die Aufgabe gestellt, die Armut systematisch zu erforschen und Informationen über mögliche Hilfsprogramme und verbesserte Lebensbedingungen zu verbreiten.75 Ashley war in zahlreichen Vereinen.76 Er hatte z. B. den Vorsitz des Besuchsvereins der mittellosen Blinden,77 welcher es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Besuche bei Blinden zu organisieren. Er war 1844 einer der Gründer des Vereins zur Verbesserung der Lebensbedingungen der arbeitenden Klassen.78 Dieser Verein stellte Landarbeitern Gemüsegärten zur Verfügung, er gründete Kreditgesellschaften für Arme und bemühte sich um bessere Wohnungen für Arme; zu diesem Zweck errichtete er auch Häuser, die als Modelle für neue Arbeitersiedlungen in den Städten dienen sollten. Ferner errichtete er modellhafte Armen70 Vgl. Thompson, Kenneth A.: Bureaucracy and Church Reform. The organizational response of the Church of England to Social Change 1800–1965, Oxford 1970; Best, Ernest E.: Religion and Society in Transition. The Church and Social Change in England, 1560–1850, New York/Toronto 1982. 71 Zit.n. Dupré, Louis/Meyendorff, John/Saliers, Don E.: Geschichte der christlichen Spiritualität III, Die Zeit nach der Reformation bis zur Gegenwart, Würzburg 1997, 313. 72 Vgl. Hempton: Methodism, 208. 73 Vgl. Benrath: Art. Erweckung/Erweckungsbewegungen, 206 und Wendt, Wolf Rainer: Geschichte der Sozialen Arbeit, Stuttgart 41995., 21. 74 Verein zur Verbesserung der Lebensbedingungen und des Wohlergehens der Arme. 75 Vgl. Pollock, John: William Wilberforce, London 1986, 141. 76 Vgl. Battiscombe, Georgina: Shaftesbury. A Biography of the Seventh Earl 1801–1885, London 1974, 198. 77 Indigent Blind Visiting Society Finlayson, Geoffrey B.A. M.: The Seventh Earl of Shaftesbury 1801–1885, London 1981, 153. 78 Society for Improving the Conditions of the Labouring Classes ebd., 250f.

69

wohnheime. Noch im selben Jahr wurde die Union der Zerlumpten Schulen79 gegründet, deren Vorsitzender Ashley wurde. Der Name Zerlumpten Schule (Ragged School) war bewusst gewählt. Die Protagonisten dieser Einrichtungen waren darum bemüht, ein besonders niedrigschwelliges Bildungsangebot zu schaffen. Die Zielgruppe waren vor allem obdachlose Kinder und Kinder aus Armenwohnheimen. Sie sollten die Möglichkeit haben, in ihren Lumpen die Schulen besuchen zu können. Eine der bedeutendsten Antworten der Erweckungsbewegung auf die soziale Frage war die durch den Journalisten, Drucker und Verleger Robert Raikes (1736–1811) lancierte Sonntagsschulbewegung. Nach vereinzelten Versuchen ohne nennenswerte Resonanz im 17. Und 18. Jahrhundert gründete Raikes, angeregt durch ihm bekannte Vorbilder,80 im Jahr 1780 in Gloucester eine Sonntagsschule. Hier lernten Kinder, die während der Woche arbeiten mussten, am Sonntag lesen, schreiben und rechnen. Wesentliche Lehrmittel waren die Bibel und der Katechismus. Nachdem Raikes 1783 begann, seine Erfahrung mit der Sonntagsschule zu publizieren, wurden in kurzer Zeit in ganz Großbritannien eine große Menge solcher Einrichtungen gegründet. Er verbreitete nicht nur die Idee der Sonntagsschulen, sondern er gab in seinem eigenen Verlag auch hierfür geeignete Lehrmaterialien heraus.81 So wurde Raikes zu einem wesentlichen Motor dieser Bewegung.82 Der Unterricht geschah zunächst durch bezahlte Lehrkräfte. Später auch in großem Umfang durch ehrenamtliche Mitarbeiter. Schon 1790 wurden 300.000 Kinder im Vereinigten Königreich unterrichtet. Im Jahre 1851 waren es über zwei Millionen, das waren 75 % der Arbeiterkinder zwischen 5 und 15 Jahren.83 Bis zum Jahr 1800 wurden die Schulen vor allem durch ökumenische Trägervereine organisiert84 und der Unterricht durch bezahlte Lehrkräfte bestritten. Ab diesem Zeitpunkt waren die Mehrzahl der Sonntagsschullehrerinnen und –lehrer ehrenamtliche Mitarbeiter. Von da an setzten sich auch mehr und mehr die konfessionellen Schulen durch. 1851 war 79 Ragged School Union ebd., 251f. 80 Vgl. Cliff, Philip B.: The rise and development of the Sunday School Movement in England: 1780–1980, Redhill 1986, 20ff. 81 Vgl. Berg, Carsten: Gottesdienst mit Kindern. Von der Sonntagsschule zum Kindergottesdienst, Gütersloh 1987, 22ff. 82 „Heute würden wenige Raikes als Gründer der Sonntagsschulen beschreiben, aber es ist deutlich, dass er gewiss ihr Publizist war. Es waren seine Professionalität, sein unablassiges Eintreten für die Bewegung, dass ihn an die Spitze derselben rückte.“ „Few today would want to describe Raikes as the founder of Sunday Schools, but it can be seen that he was certainly their publicist. It was his professional skills, his ceaseless advocacy of the Movement, which gave the so-called priority to him.“ Cliff: Sunday School, 39. 83 Vgl. Laqueur: Religion, 44. 84 So wurde etwa die 1785 in London gegründete nationale Sunday School Society von einem Komitee geleitet, das zur Hälfte aus Anglikanern bestand und zur Hälfte aus Freikirchlern. Vgl. Martin, Roger H.: Evangelicals United. Ecumenical Stirrings in Pre-Victorian Britain, 1795–1830, Metuchen und London 1983, 25

70

42 % der englischen Sonntagsschulen in anglikanischer Trägerschaft und 58 % waren freikirchliche Schulen.85 Die Intention der Sonntagsschulen war es, neben der Vermittlung einer elementaren Bildung, die entkirchlichten Arbeiterkinder für die Kirche zurück zu gewinnen.86 Dieses Ziel erreichten die Schulen nur in ganz geringem Maße. Laqueur geht davon aus, dass nur 1,5 bis 4 % der Sonntagsschulkinder zu einer Kirche gehörten.87 Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts trat der Aspekt der religiösen Sozialisation mehr und mehr in den Vordergrund. Immer mehr Schulen stellten das Unterrichten von Lesen und Schreiben ein.88 Der Beitrag zur Emanzipation der Arbeiter ist unübersehbar. Einerseits konnten viele Sonntagsschulen als Selbsthilfeeinrichtung angesehen werden, weil auch ihre Lehrer aus der Arbeiterschicht stammten,89 andererseits waren diese Schulen für einen großen Teil der Arbeiter die einzige Möglichkeit der Bildung. Somit waren sie eine wesentliche Voraussetzung für die Möglichkeit des beruflichen Aufstiegs bzw. für die Artikulation von politischen Interessen.90 Ward nennt die Sonntagsschulen „die einzige religiöse Institution, die von der Masse der Bevölkerung des 19. Jahrhunderts in Anspruch genommen werden wollte.“91 Ab 1816 widmete sich Elizabeth Fry in der Haftanstalt von Newgate der Gefängnisreform. Im Frauentrakt der Anstalt hielt die Quäkerin regelmäßig Andachten; sie ermöglichte den weiblichen Gefangenen und deren mit inhaftierten Kindern eine schulische Ausbildung und organisierte Strick- und Näharbeiten für die Frauen.92 Die bisher zu völliger Untätigkeit verdammten Gefangenen konnten sich so wichtige Fertigkeiten für ihre spätere berufliche Eingliederung in die Gesellschaft aneignen. Dieser Intention sollte auch die Entlohnung der Frauen dienen. Sie bekamen für die angefertigten Textilien eine Vergütung, die z. T. für den Tag ihrer Entlassung aufgespart wurde.93 Sie setzte sich dafür ein, dass sich in Newgate die hygienischen Verhältnisse verbesserten, dass eine ärztliche Betreuung gewährleistet war und dass im Gefängnis eine Bib85 Vgl. Hempton: Methodism, 89f. 86 Fechner geht davon aus, dass, sozialgeschichtlich gesehen, seit dem 18. Jahrhundert die Armen Großbritanniens nie zu einer Kirche gehört haben. Fechner, Bernd: Mission in der Industrie. Die Geschichte kirchlicher Industrie- und Sozialarbeit in Großbritannien, Frankfurt a. M. u. a. 1994, 29. 87 Laqueur: Religion, 80. 88 Vgl. Hempton: Methodism, 91. 89 Vgl. ebd., 87f. 90 Cliff spricht davon, dass zwischen 1831 und 1870 mehr Kinder in England in den Sonntagsschulen lesen und in vielen Fällen auch schreiben lernten, als in irgendeiner anderen Bildungsinstitution. Noch 1833 war die Sonntagsschule bei 30 % der Schulkinder die einzige Schule, die sie besuchten. Cliff: Sunday School, 129, 125. 91 „the only religious institution which the nineteenth century public in the mass had any intention of using“, Ward: Religion, 13. 92 Vgl. Whitney, Janet: Elizabeth Fry, Bad Pyrmont 1939, 241, 248. 93 Vgl. ebd., 250.

71

liothek eingerichtet wurde. Zu ihrem persönlichen Engagement in Newgate kam ihre Lobbyarbeit. Elizabeth Fry konsultierte Wilberforce und andere, um notwendige Gesetzesreformen durchzusetzen. Sie forderte die Einführung von weiblichen Strafvollzugsbeamten für weibliche Gefangene und die Einrichtung von Einzelzellen für die Nacht. Sie gehörte zu den wenigen, die zu dieser Zeit schon davon überzeugt waren, dass die Todesstrafe abgeschafft werden sollte.94 Sehr bald war Elizabeth Fry weit über die Grenzen Großbritanniens hinaus bekannt geworden, wurde von Komitees des britischen Abgeordnetenhauses konsultiert, wenn es um Gefängnisfragen ging95 und konnte in ganz Europa Frauenkomitees initiieren, die sich für die Verbesserung der Gefängnisse einsetzten.96 Elizabeth Fry wurde zu einem wesentlichen Motivationsfaktor für Theodor Fliedner, als er in Kaiserswerth das Diakonissenmutterhaus gründete und eine Gefängnisarbeit begann.97 Umgekehrt trug Elizabeth Frys Besuch in Kaiserswerth im Jahr 1840 dazu bei, dass sie ihren Plan nun verwirklichte, eine Einrichtung zur Ausbildung von Krankenpflegerinnen zu gründen. Diese Krankenschwestern wohnten zusammen in einem Haus und bezogen wie die Kaiserswerther Diakonissen ein Gehalt.98

94 Vgl. ebd., 242, 335. 95 Vgl. ebd. 96 Vgl. ebd., 286; In den von Herbert Krimm herausgegebenen „Quellen zur Geschichte der Diakonie (II, Stuttgart 1963, 525–530)“ findet sich der Auszug aus einer Publikation Elizabeth Frys, in der sie für solche neu zu gründenden Komitees die Grundgedanken ihrer Arbeit in Newgate zusammen gefasst hat. 97 Vgl. Götzelmann, Arnd: Die Speyerer Diakonissenanstalt. Ihre Entstehungsgeschichte im Zusammenhang mit Kaiserswerth und Straßburg. Heidelberg 1994, 50, 54. 98 Vgl. Whitney: Fry, 354.

72

4. KAPITEL

Leben und Werk Thomas Chalmers 4.1 Kindheit, Jugend, die ersten Jahre im Pfarrdienst und die Wende zum Evangelical Thomas Chalmers wurde am 17. März 1780 in Anstruther an der ostschottischen Küste geboren. Er war das sechste von vierzehn Kindern.1 Die meisten Einwohner des Ortes lebten vom Fischfang und von einer sich langsam entwickelnden Bergbauindustrie.2 Sein Vater, John Chalmers (1740–1818), war von den Traditionen der Church of Scotland geprägt. Er war Teilhaber einer Firma, die eine Wollfärberei unterhielt und im Schiffshandel engagiert war. Zeitweise hatte er auch das Bürgermeisteramt inne. Während Chalmers Kindheit erlebte der väterliche Betrieb einen Niedergang. Der Aufstieg großer Unternehmen an der schottischen Westküste, vor allem in Glasgow, hatte begonnen. Kleinere Manufakturen wurden zunehmend vom Markt verdrängt. Chalmers Mutter Elizabeth (1750–1827) versorgte trotz der eigenen begrenzten Mittel einige Arme in der kleinen Hafenstadt. Ungewöhnlich früh, nämlich schon mit elf Jahren, begann er 1791 sein Studium an der nahe gelegenen Universität von St. Andrews.3 Nach dem obligatorischen Grundstudium nahm er 1795 auf Wunsch des Vaters das Theologiestudium auf. Sein eigenes Interesse richtete sich hingegen mehr auf die Modewissenschaften Mathematik und Physik. Dennoch beschäftigten ihn auch geisteswissenschaftliche Fragestellungen. Die wenigen erhaltenen Predigten aus der Studienzeit waren am Anfang vor allem von der Common-Sense-Philosophie Thomas Reids geprägt, die nach Voges zu der Zeit „an allen schottischen Universitäten“ gelehrt wurde.4 In ihnen zeigte sich Chalmers schon als Aufklärungstheologe5 (Mo1 Vgl. Gladstone, David: Neue Einleitung zu: Dodds, James: Thomas Chalmers, A Biographical Study (Nachdruck der 1. Auflage Edinburgh 1870), in der Reihe: Works on Economics and Social Welfare, Pioneers in Social Welfare I, London 1995, S. XV. 2 Vgl. Brown: Commonwealth, 1. 3 Hierzu bemerkt Voges: „Zwar übernahm“ das Grundstudium der Universität St. Andrews „praktisch die Funktion des heutigen Gymnasiums, doch war es auch nach damaligen Maßstäben ein früher Wechsel.“ Voges: Denken, 168. 4 Ebd., 171, vgl. auch Abschnitt 5.2.1. 5 Der von der Aufklärung geprägte Flügel der Schottischen Kirche wurde die Moderates (die Moderaten) genannt. Sie bildeten in der Generalsynode eine Gruppe, die mehr oder weniger geschlossen auftrat. Zur Eigenart der schottischen Aufklärung und ihrem Stellenwert in Chalmers Theologie vgl. Abschnitt 5.2.1.

73

derate), der die Möglichkeit und Notwendig ethisch richtigen Handelns betonte. Jonathan Edwards Abhandlung über den „Freien Willen“6 war das erste theologische Werk, welches bei ihm nachhaltige Spuren hinterließ. In dieser Schrift wurde vor dem Hintergrund von Calvins Prädestinationslehre die Allgegenwart Gottes entfaltet. Mit Edwards rückte zum ersten Mal ein Vertreter der Erweckungsbewegung in Chalmers Blickfeld. Von da an bestimmten mit wechselnder Gewichtung diese beiden Geistesströmungen sein Denken. Edwards blieb allerdings zeitlebens der Theologe, dem er sich am meisten verbunden fühlte. Noch gegen Ende seines Lebens konnte er sagen: „Es gibt keinen europäischen Theologen auf den ich in meinem Unterricht so oft verweise als auf Edwards. Kein von Menschen geschriebenes Buch empfehle ich nachdrücklicher als seine Abhandlung über den Willen, die ich vor siebenundvierzig Jahren gelesen haben mit einer Überzeugtheit, die seit dem niemals ins Wanken gekommen ist, und die mir mehr als irgend ein anderes uninspiriertes Buch geholfen hat, meinen Weg zu finden durch all das was sich sonst als rätselhaft, transzendental und mysteriös erwiesen hätte an den Besonderheiten des Calvinismus.“7

Noch als Student bekam er in der Stadt Arbroath eine Hauslehrerstelle. Mit neunzehn Jahren erhielt er von der schottischen Staatskirche die Genehmigung, das Pfarramt ausüben zu dürfen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er das erforderliche Mindestalter für Geistliche noch nicht erreicht, sodass für ihn eine Ausnahmeregelung getroffen wurde. Sein Vater unterstützte ihn bei der Suche nach einer Pfarrstelle und bemühte seine Beziehungen zu dem Patron der örtlichen Kirchengemeinde Sir John Anstruther, der über neue Berufungen zu entscheiden hatte. Obwohl John Chalmers Anstruther in früheren Jahren bei seiner Kandidatur für das Londoner Parlament unterstützt hatte, wurde seiner Bitte nicht entsprochen. Der Kirchenpatron war offenbar noch anderen verpflichtet. Chal-

6 Edwards, Jonathan: Enquiry into the Freedom of the Will (zuerst erschienen 1754). Jonathan Edwards (1700–1758) kann als der bedeutendste reformierte Theologe der Erweckungsbewegung angesehen werden. Die neueste Studie über ihn in deutscher Sprache ist: Schröder, Caroline: Glaubenswahrnehmung und Selbsterkenntnis. Jonathan Edwards’ theologia experimentalis, Göttingen 1998. Schröder nennt Edwards den „amerikanischen Schleiermacher“ (ebd., 5). Diese Charakterisierung entspricht dem Stellenwert den er der religiösen Erfahrung beimisst und der umfangreichen Wirkungsgeschichte seines Ansatzes im englischen Sprachraum. 7 „There is no European Divine to whom I make such frequent appeals in my class rooms as I do to Edwards. No book of human composition which I more strenuously recommend than his Treatise on the Will, – read by me forty-seven years ago, with a conviction that has never since faltered, and which has helped me more than any other uninspired book, to find my way through all that might otherwise have proved baffling and transcendental and mysterious in the peculiarities of Calvinism.“ Thomas Chalmers an William Sprague, zit. n. Noll, Mark A.: Revival, enlightenment, civic humanism and the development of dogma: Scotland and America, 1735–1843, in: Tyndale Bulletin, 40, London 1989, 49–76: 49f.

74

mers späterer Kampf gegen das Patronatssystem wird angesichts seiner persönlichen Erfahrungen noch verständlicher. Zunächst gehörte er jedoch noch zu seinen Befürwortern. 1799 bis 1801 widmete er sich – an der Universität Edinburgh eingeschrieben – naturwissenschaftlichen und philosophischen Studien.8 Hier besuchte er u. a. die Vorlesungen Dugald Stewards, der der bedeutendste zeitgenössischen Vertreter der Common-Sense-Philosophie war. 1802 gelang es ihm, eine Stelle als Assistent an der Universität St. Andrews zu bekommen. Er unterrichtete Mathematik. Schon 1803 wurde sein Vertrag wieder gekündigt, weil seine Vortragsweise zwar rhetorisch vorbildlich war, aber offenbar nur in mangelhaftem Umfang den vorgeschrieben Stoff vermittelte.9 Chalmers hatte eigene Vorstellungen von dem gehabt, was die Studenten lernen sollten. Noch im gleichen Jahr wurde er zum Pfarrer der Kirche in Kilmany ordiniert, einem Dorf mit etwa 800 Einwohnern, unweit von St. Andrews. In den ersten Jahren seines Pfarrdienstes konnte er zu den Moderates gezählt werden. Die Aufklärungstheologen hatten ihre besten Zeiten zwar schon hinter sich, Chalmers war aber noch ein typischer Vertreter dieses Flügels der Schottischen Kirche. Voges beschreibt den von ihnen repräsentierten Kulturprotestantismus.10 Die Zielgruppe seiner weit gespannten Aktivitäten war die neue intellektuelle Elite, die sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts vor allem in Edinburgh gebildet hatte. Die Stärke der Moderates lag in dem Bestreben, die Kirche aus ihrem Getto zu holen. Sie versuchten in ihrem Auftreten weltgewandt zu sein. Ihr Bildungsideal ging weit über das humanistische hinaus, das bis dahin die Theologie geprägt hatte. Gemeindearbeit mit Studien verschiedenster Art zu verbinden war bei ihnen nicht ungewöhnlich. Die Aktivitäten der Moderates war von einem Fortschrittsoptimismus begleitet, der sich an neue Forschungsfelder und neue Technologien knüpfte. Sie standen auch für den Aufstieg des Bürgertums im Zuge der Aufklärung. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gehörten zur Oberschicht Schottlands nicht mehr allein der Adel, sondern auch Wissenschaftler und Literaten sowie die neuen Unternehmer. Nicht wenige bedeutende Vertreter der Aufklärung waren in Schottland ordinierte Pfarrer der Church of Scotland. Die Moderates befürworteten das Patronatssystem. In den Inhabern der Patronate sahen sie einen Garanten für eine Besetzung der Pfarrstellen mit kultivierten Geistlichen. Die Schwäche der Moderates war ihr Desinteresse an der weniger gebildeten kirchlichen Basis. Die Folge davon war nicht selten ein sinkender Gottesdienstbesuch in ihren Gemeinden. Viele Zeitgenossen wollten oder konnten ihren oft mit Fremdwörtern überfrachteten Predigten nicht mehr 8 Vgl. Brown: Commonwealth, 14. 9 Vgl. Ebd., 20. 10 Voges: Denken, 43–64; vgl. auch Sher, Richard B.: Church and University in the Scottish Enlightenment. The Moderate Literati of Edinburgh, Princeton 1985.

75

folgen. Auch in Kilmany sank der Gottesdienstbesuch nach Chalmers eintreffen. Seine Studien in der nahe gelegenen Universitätsstadt setzte er hingegen fort. Gleichzeitig bot er private Vorlesungen in Mathematik und Chemie an. In der Tat verbrachte er in den ersten Jahren seines Pfarrdienstes mehr Zeit in St. Andrews als in seiner heimatlichen Gemeinde. In einer ersten anonym erschienenen Veröffentlichung bekannte er sich zu dieser Praxis: „Der Verfasser dieser Schrift kann mit der Autorität seiner eigenen Erfahrung behaupten – für ihn ist dies die höchste aller Autoritäten –, dass nach der ordnungsgemäßen Verrichtung seiner Pflichten in der Gemeinde der Pfarrer pro Woche fünf Tage ununterbrochener Freizeit genießen kann, in der er jeder Wissenschaft nachgehen kann, zu der ihn seine Neigung treibt.“11

Sein Renommee als Wissenschaftler wuchs in dieser Zeit immerhin so weit, dass er sowohl den Artikel Christentum als auch den Artikel Trigonometrie in der Edinburgher Enzyklopädie verfassen konnte. Der angestrebte naturwissenschaftliche Lehrstuhl blieb ihm jedoch verwehrt. Die Napoleonischen Kriege hatten in der im November 1806 gegen England verhängten Kontinentalsperre eine Zuspitzung erfahren. Viele britische Unternehmer befürchteten daraufhin einen Niedergang der Wirtschaft. Die Furcht, der französische Kaiser könnte auch Großbritannien unter seine Kontrolle bringen, wuchs. Dies veranlasste Chalmers, seine erste größere Publikation zu veröffentlichen. 1808 erschien An Inquiry into the Extent and Stability of National Resources12 (Eine Untersuchung über das Ausmaß und die Stabilität nationaler Ressourcen). Es war sein erstes nationalökonomisches Werk. In ihm vertrat er den Gedanken, dass durch den nun sehr eingeschränkten Außenhandel Großbritannien nicht geschwächt, sondern gestärkt würde, weil es dadurch nicht mehr von anderen abhängig sei. Nationale Solidarität sei nun das Gebot der Stunde. Der Einzelne hätte sich dem Gemeinwohl unterzuordnen. Auch der Staat müsse die Möglichkeit haben, in die Marktwirtschaft durch regulierende Steuern einzugreifen. Nur so könne die Bedrohung durch Napoleon abgewendet werden. Dies schrieb er zu einem Zeitpunkt als Adam Smiths ungebremster Liberalismus die britische Wirtschaftspolitik zu bestimmen begann.13 Obwohl das Buch in Schottland

11 „The author of this pamphlet can assert, from what is to him the highest of all authority, the authority of his own experience, that after the satisfactory discharge of his parish duties, a minister may enjoy five days in the week of uninterrupted leisure, for the prosecution of any science in which his taste may dispose him to engage.“ Chalmers, Thomas: Observation on a Passage in Mr. Playfairs’s Letter to the Lord Provost of Edinburgh Relative to the Mathematical Pretensions of the Scottish Clergy, Cupar 1805, 11. 12 Chalmers, Thomas: An Inquiry into the Extent and Stability of National Resources, Edinburgh 1808. 13 Zur weiteren Entwicklung der nationalökonomischen Position Chalmers vgl. Abschnitt 7.6.

76

seine Leser fand, hatte es in London nicht den Erfolg, den sich Chalmers erhoffte.14 Wenige Monate nach dem Erscheinen des Buches setzte die entscheidende Wende in seinem Leben ein. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Vertreter der Erweckungsbewegung bereits zu einer eigenen Fraktion in der Schottischen Kirche formiert. Ihre Zahl und ihr Einfluss wuchs nun stetig. 1833 schließlich stellten sie die Mehrheit in der Generalsynode. Der Aufstieg der Evangelicals war auf eine Reihe von Gründen zurückzuführen. Einer davon war die Enttäuschung vieler schottischer Kirchenbesucher über die nachlässige Betreuung der Gemeinden durch viele Moderates. Im Gegensatz zu ihnen waren die Evangelicals meistens um jeden einzelnen Kirchgänger bemüht. Die Verständlichkeit der Verkündigung war für sie in der Regel wichtiger als ihre intellektuelle Brillanz. Das traditionelle Ideal des Hausbesuche machenden Seelsorgers erlebte unter ihnen eine Renaissance. Obwohl in ihrer Theologie die Schwerpunkte anders gesetzt waren als bei den Moderates, der zweite Glaubensartikel trat in seiner Bedeutung vor den ersten, gab es zu Beginn des 19. Jahrhunderts immer noch viele Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Flügeln der Kirche. Die Evangelicals dieser Generation waren in Schottland noch ausnahmslos von Vertretern der Aufklärung ausgebildet worden. Genau wie sie waren diese Pfarrer von einem kontinuierlichen Fortschritt der Geschichte überzeugt. Wenn ein schöpfungstheologischer Zugang zur Welt für sie auch nicht den Stellenwert hatte wie für die Moderates, so negierten sie ihn dennoch nicht. Auch sie sahen im hiervon abgeleiteten Naturrecht eine allen Menschen gemeinsame Basis, die Ausgangspunkt für die Reflektion gesellschaftlicher Problemfelder sein konnte. Die Wende in Chalmers Leben, an deren Ende er zu einem Evangelical geworden war, ereignete sich nicht schlagartig. Es war vielmehr ein Prozess, der sich über mehrere Jahre erstreckte. Im Laufe des Jahres 1809 kam bei Chalmers ein Leberleiden zum Ausbruch, so dass er monatelang das Bett nicht verlassen konnte. Die Krankheit ging mit einer Lebenskrise einher. Sie wurde noch befördert durch den Tod seiner Schwester Lucy im Dezember 1810, die auch im Pfarrhaus von Kilmany gewohnt hatte. Während seiner Bettlägerigkeit änderte sich Chalmers Lektüre. Er las Blaise Pascals Pensées15 und William Wilberforces Practical View16. Später bekannte er sich dazu, von keinem Autor mehr profitiert

14 Vgl. Hanna: Memoirs I, 138f. 15 Pascal, Blaise: Pensées sur la Religion et sur quelques autres Sujets (1669). (Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände). 16 Wilberforce, William: A Practical View of the Prevailing Religious System of Professed Christians, in the Higher and Middle Classes in This Country, Contrasted with Real Christianity (1797). (Eine praktische Betrachtung des vorherrschenden Religionssystems angeblicher Christen in den höheren und mittleren Schichten dieses Landes verglichen mit dem wahren Christentum).

77

zu haben als von Wilberforce.17 Im Sommer 1811 kann Chalmers Wechsel ins Lager der Erweckungsbewegung als abgeschlossen gelten. Er wurde von den Evangelicals der Umgebung und von ihm selbst als Bekehrung wahrgenommen. Gäbler hebt hervor, dass er allerdings niemals seinen eigenen Weg als beispielhaft für andere anführte. Wie Jonathan Edwards war Chalmers der Überzeugung, dass eine Bekehrung allein Gottes Werk sei. Sie könne auch ein Prozess sein, der bis ans Lebensende fortdauert.18 Im Laufe des Jahres 1811 hatte Chalmers jedenfalls begonnen, seine Predigten mit wesentlich größerer Sorgfalt als vorher vorzubereiten. Auch besuchte er nun regelmäßig, die Mitglieder seiner Gemeinde, besonders die Kranken. Seine weitgespannten Studien mussten nun zunächst hinter die neu entdeckten Pflichten des Gemeindepfarrers zurücktreten. Dennoch blieben sie auch für den Evangelical Chalmers Teil seines theologischen Horizontes. Seine Untersuchung von 1808 war nur die erste von einer Reihe nationalökonomischer Schriften, die er noch veröffentlichen sollte. Selbst seine naturwissenschaftlichen Neigungen beschäftigten ihn weiter, noch 1844 erörterte er mit einem Mathematikprofessor ein rechnerisches Problem.19

4.2 Der Pfarrdienst nach der Wende zum Evangelical in Kilmany und in Glasgow 1811 distanzierte sich Chalmers von seinem sechs Jahre zurückliegenden Statement, dass der Pfarrdienst nur zwei Tage der Woche beanspruchen würde. Nun schrieb er an seinen Bruder: „Es ist die Wahrheit, dass ein Pfarrer, wenn er sich mit ganzem Herzen seiner Aufgabe widmet, für jeden Moment seiner Existenz eine Beschäftigung findet, und meine Liebe zu meinen beruflichen Pflichten wächst jeden Tag, und jeden Tag werde ich mehr durchdrungen von einem tieferen Bewusstsein ihrer Wichtigkeit.“20

Seine von ihm bisher vernachlässigten Predigten zogen binnen kurzem eine große Zuhörerschaft an. Nicht wenige nahmen weite Wege auf sich, um ihn zu hören. Bald kamen auch häufige Predigten außerhalb Kilmanys hinzu.21 Chalmers Vortragsweise unterschied sich von der vieler 17 „the human author, who did me most good“ Zitat n. Voges: Denken, 202. 18 Gäbler: Auferstehungszeit, 35f. 19 Vgl. ebd., 34. 20 „The truth is that a minister, if he gives his whole heart to the business, finds employment for every moment of his existence, and I am every day getting more in love with my professional duties-and more penetrated with a deeper sense of their importance.“ Thomas Chalmers an seinen Bruder James, am 15. Juli 1811, Chalmersarchiv, CHA 6.1.4. 21 Aus Chalmers Predigtliste geht hervor, dass er zwischen dem 22. März 1812 und dem 21. März 1813 60 Predigten gehalten hat, 23 davon außerhalb von Kilmany. Thomas

78

zeitgenössischer Kollegen. Er sprach weder aus dem Stehgreif noch lernte er seine Predigten auswendig. In der Regel las er den Text ab. Oft verfasste er ihn in Kurzschrift, so dass sein Blick nie lange auf dem Manuskript verweilen musste.22 Sein regional gefärbter Akzent war allerdings so ausgeprägt, dass selbst Gottesdienstbesucher aus anderen Teilen Schottlands nicht alles verstehen konnten. Obwohl er offensichtlich in der Lage war, einfachere Menschen durch seine Rede zu fesseln, hatte er den Anspruch, dass seine Predigten auch für die mittleren und höheren Schichten ansprechend waren. Nicht nur in dieser Beziehung blieb Chalmers zeitlebens ein Moderate. Zum ersten Mal besuchte Chalmers nun systematisch alle Familien seiner Gemeinde und visitierte auch regelmäßig die ihr zugeordnete Schule. Ergänzend zum Sonntagmorgengottesdienst führte er weitere Versammlungen für Kinder und Erwachsene ein. 1812 gründete er eine örtliche Dependance der Britischen und Ausländischen Bibelgesellschaft,23 kurz darauf auch eine solche für die gesamte Grafschaft Fife. Hier zeigten sich nun auch seine Qualitäten als Organisator und FundRaiser. In der Schrift The Influence of Bible Societies on the Temporal Necessities of the Poor24 (Der Einfluss von Bibelgesellschaften auf die zeitlichen Bedürfnisse der Armen) vertrat er die Ansicht, auch die Armen sollten an der Finanzierung der Bibelgesellschaften beteiligt werden. Sie sollten angehalten werden, jede Woche einen Penny zu spenden. Durch die vielen kleinen Beträge würde ein erheblicher Geldbetrag zusammenkommen, gleichzeitig wären die Armen nicht nur Objekte der Hilfe, sondern auch Subjekte. Dieser Gedanke wurde später zu einem wesentlichen Aspekt von Chalmers Diakoniekonzept. Ab 1813 widmete er auch der Armenfürsorge seine Aufmerksamkeit. Diese oblag in Kilmany wie in vielen anderen schottischen Dörfern der Kirchengemeinde. Sein Ziel war es, die gesetzlich geregelten Zuwendungen gänzlich durch die persönliche Vorsorge der Betroffenen sowie Familien- und Nachbarschaftshilfe zu ersetzen. Diese traditionellen Formen gemeinschaftlicher Hilfe waren in Kilmany noch lebendig, brauchten also von Chalmers nicht erst geschaffen zu werden. Das diakonische Modell, das Chalmers später in Glasgow vorstellte, erhielt wesentliche Impulse aus der Gemeindearbeit in diesem Ort. Allerdings lag in Kilmany hier noch nicht der Schwerpunkt seiner Aktivitäten. Furgol führt das darauf zurück, dass es „schlicht und einfach“ nicht nötig war.

Chalmers: Record of my preaching, March 1812 – September 1816, Chalmersarchiv, CHA 6. 22 Das ist eine Technik, die auch heute im Computerzeitalter noch sinnvoll ist. 23 British and Foreign Bible Society gegründet 1804 in London. Die Gesellschaft hatte sich die weltweite Verbreitung der Bibel in den jeweiligen Landessprachen zur Aufgabe gemacht. 24 1. Auflage 1814.

79

„Die wirtschaftliche Lage seiner Gemeindemitglieder nahmen ihn kaum als Verantwortlichen für die Weitergabe der Armenunterstützung in Anspruch. So konnte er seinen anderen Pflichten als Gemeindepfarrer in vollem Umfang nachkommen.“25

Seine Reputation als begabter Kanzelredner führte dazu, dass Chalmers 1814 an die bedeutende Trongemeinde im Zentrum von Glasgow berufen wurde. Im Sommer 1815 übersiedelte er mit seine Frau Grace, die er 1812 geheiratet hatte, und seiner ältesten Tochter an den neuen Wirkungsort. Fünf weitere Töchter kamen später zur Welt. Die Stadt war zu diesem Zeitpunkt eine der größten im Vereinigten Königreich. Weltweit gehörte sie zu den ersten, in denen das beginnende Industriezeitalter zu einem ebenso sprunghaften Wachstum der Wirtschaft wie der Einwohnerzahl führte. Den später als Industrielle Revolution bezeichneten Boom erlebte Großbritannien flächendeckend erst in den 1830er Jahren. In Deutschland setzte er noch später, um die Mitte des Jahrhunderts, ein. Die Tronparochie hatte weit über 10 000 Einwohner. Trotz des rasanten Bevölkerungswachstums waren von der Church of Scotland in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nur wenige neue Kirchen errichtet worden. So waren viele städtische Gemeinden auf eine solche Größe angewachsen. Das Viertel gehörte zu den ärmeren Bezirken Glasgows. Die Gottesdienstbesucher der Tronkirche zählten allerdings vorwiegend zu den wohlhabenden Bürgern. Der größte Teil von ihnen wohnte nicht in der Parochie. In den schottischen Städten hatten sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts die meisten Kirchen zu Personalgemeinden entwickelt. Die Eloquenz der Predigten war ausschlaggebend für die Attraktivität der Gemeinden. Sie finanzierten sich vorwiegend durch seat rents, Gebühren, durch die sich die Besucher in der Art eines Abonnements einen Sitzplatz für den Sonntagsgottesdienst reservierten.26 Wenige Tage nach der Bekanntgabe von Chalmers Berufung war die Tronkirche bis auf den letzten Platz ausverkauft. Nicht lange nach seiner Ankunft bestätigte Chalmers die in ihn gesetzten Erwartungen als außergewöhnlicher Prediger. Eine Reihe von sechs Predigten, die er zwischen November 1815 und Oktober 1816 jeweils donnerstags hielt, sorgte für landesweite Aufmerksamkeit. 1817 veröffentlichte er die Predigtreihe unter dem Titel, Discourses on the Christian Revelation, Viewed in Connection with Modern Astronomy (Predigten über die Zusammenschau der christlichen Offenbarung mit der

25 „The main reason why the poor relief issue was not in the forefront at this time is simply the fact that there was little need for it to be so [. . .] The economic position of his parishioners, who made few demands on his time as an agent of poor relief distribution, did not threaten the full undertaking of his ministerial responsibilities.“ Furgol, Mary Theresa: Chalmers and Poor Relief – An Incidental Sideline?, in: Cheyne, Alexander (Hg.): The Practical and the Pious. Essays on Thomas Chalmers (1780–1847), Edinburgh 1985, 115–129: 123. 26 Zu den seat rents vgl. 6.5.

80

modernen Astronomie). Innerhalb eines Jahres erlebte die Schrift neun Auflagen und wurde zu einer der am besten verkauften Predigtpublikationen Großbritanniens. In den Vorträgen strich Chalmers die Bedeutung der naturwissenschaftlichen Forschung heraus, machte aber gleichzeitig deutlich, dass sie sich an den Werten der Bibel orientieren müsse. In das Jahr 1817 fiel auch Chalmers erste Englandreise. Der Erfolg seiner kleinen Publikation half hierbei, viele Türen zu öffnen. Viermal predigte er in London vor einer großen Zuhörerschaft. Während der Reise konnte er mit zahlreichen Kirchenvertretern und Politikern, u. a. William Wilberforce, erste Kontakte knüpfen. Mit der gleichen Energie wie schon in Kilmany widmete sich Chalmers in Glasgow seiner Gemeinde. Zahlreiche Verpflichtungen, die dem Tronpfarrer oblagen, erschwerten allerdings die Arbeit in der Parochie. Ein beträchtlicher Teil seiner Zeit wurde von städtischen und kirchlichen Gremien in Anspruch genommen. Daneben erwarteten etliche seiner wohlhabenden Gottesdienstbesucher sein Erscheinen bei von ihnen ausgerichteten gesellschaftlichen Anlässen. Chalmers hingegen strebte danach, auch hier in der Großstadt, die traditionellen Strukturen der Parochialgemeinden mit neuem Leben zu erfüllen. So begann er wieder die Familien zu besuchen. Bei der Größe der Gemeinde war es unmöglich, dass er dieser Aufgabe allein nachkommen konnte. Seine Anziehungskraft als Prediger bescherte ihm jedoch eine große Gruppe ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die er in die Gemeindearbeit einbeziehen konnte. Hier gewann das reformierte Presbyteramt neue Bedeutung, das traditionell für Männer mit einer gewissen Respektabilität vorgesehen war. Die Sonntagsschulen, eine Errungenschaft der Erweckungsbewegung, ermöglichte es ihm, noch andere Personengruppen, vor allem Frauen und jüngere Männer, mitarbeiten zu lassen. Bibelunterricht wurde hier mit dem Erlernen des Lesens und Schreibens verbunden. Anders als in vielen schottischen Dörfern, in denen die kirchlichen Schulen noch eine fast flächendeckende Grundschulbildung anboten, hatten viele Arbeiterkinder in den großen Städten keine Möglichkeit, eine Schule zu besuchen. Die Integration der Sonntagsschulen in eine Parochialgemeinde war neu. Allerdings waren die Sonntagsschulen der Trongemeinde formal noch als örtlicher Sonntagsschulverein organisiert. 1818 wurden seine Schulen bereits von 1200 Kindern besucht.27 Die Anzahl der Presbyter erhöhte Chalmers von acht auf zwanzig und übertrug ihnen auch die Pflicht regelmäßiger Hausbesuche. Dazu ließ er die Praxis wieder aufleben, jedem Kirchenältesten die seelsorgerliche Verantwortung für ein bestimmtes Viertel der Parochie zu übertragen. Den Sonntagsschulmitarbeiterinnen und -mitarbeitern war ebenso jeweils ein bestimmtes Quartier zugeteilt, dessen Kinder sie zu betreuen

27 Vgl. 6.6.

81

hatten. Auch sie waren angehalten, die Familien der Kinder regelmäßig zu besuchen. Schon wenige Monate nach seiner Ankunft in der Stadt, im Februar1816, erhielt Chalmers die Ehrenpromotion der Universität Glasgow. Er selbst war darüber überrascht, nicht zuletzt, weil die Mehrheit im Senat der Hochschule zunächst der Berufung eines Evangelicals in die Trongemeinde distanziert gegenüber stand.28 Die Diakonie war in Glasgow von ungleich größerer Bedeutung als in Kilmany. Die Armenhilfe in Glasgow wurde vor allem vom städtischen Hospital und interkonfessionellen christlichen Vereinen getragen. Für viele, der meist erst kürzlich zugewanderten Armen, boten die sozialen Angebote nur eine mangelhafte Versorgung. 1817 trat Chalmers zum ersten Mal in einem Artikel29 mit dem Konzept eines Netzwerks diakonischer Gemeinden an die Öffentlichkeit, das er später in zahlreichen Publikationen entfaltete. Hierin schlug er vor, dass die Church of Scotland in Glasgow 30 weitere Gemeinden gründen sollte. Dadurch könnte die Zahl der Mitglieder pro Gemeinde deutlich reduziert werden. Jeder Gemeinde sollte, wie dies noch in den meisten Dörfern der Fall war, eine kirchliche Schule zugeordnet werden. Damit könnte die Kirche wieder die Bevölkerung umfassend begleiten. Die sozialen Löcher, die jetzt in den Industriestädten sichtbar würden, könnten durch solidarische Nachbarschaften geschlossen werden. Die Kirchengemeinden könnten so wie auf dem Land zu Motoren eines Prozesses werden, der aus heterogenen Nachbarschaften Hilfsgemeinschaften macht. Die neu gegründete St. Johnsgemeinde, die hauptsächlich aus einem Teil der Tronparochie gebildet wurde, diente Chalmers als Modell, in dem seine Thesen Gestalt gewinnen sollten. Er wollte u. a. deutlich machen, dass eine Kirchengemeinde in der Lage ist, die Armenhilfe in ihrem Stadtteil mit eigenen Mitteln zu bestreiten. Die Konzentration auf eine solche überschaubare geographische Einheit (principle of locality) war dabei eine der zentralen Kategorien. Ein zweiter wichtiger Aspekt war die Hilfe zur Selbsthilfe. 1819 wurde er Pfarrer der neuen Parochie. Sie war auf sein Betreiben hin weitgehend befreit von der Einbindung in die städtische Armenfürsorge. So konnte er hier seine eigenen Vorstellungen einer städtischen Gemeinde- und Sozialarbeit in die Tat umsetzen. Vier Jahre lang widmete sich Chalmers dem St. Johnsprojekt. Sie waren die arbeitsreichsten seines Lebens. Unterstützt von zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern baute er hier einen umfangreichen Besuchsdienst auf. Sonntags- und Werktagsschulen wurden errichtet, ein zweites Kirchengebäude gebaut und eine Bandbreite von Gottesdiensten ausgerichtet. In der Organisation der sozialen Sicherung der Stadtteilbewohner bekam der kirchliche Diakonat wieder eine zentrale Stellung. In dem 28 Vgl. Hanna: Memoirs II, 62f. 29 Chalmers, Thomas: The Connexion between the Extension of the Church and the Extinction of Pauperism, Edinburgh Review XXVIII, März 1817, 1–31.

82

dreibändigen Werk The Christian and Civic Economy of Large Towns30 (Die christliche und staatliche Ökonomie von großen Städten) beschrieb er zum ersten Mal ausführlich das Modellprojekt und seine Intentionen. Vor allem diese Veröffentlichung begründete Chalmers Ruf, der führende britische Sozialtheologe seiner Zeit zu sein. Neuere Studien31 zeigen, dass eine gewisse Diskrepanz zwischen Chalmers Darstellung des St. Johnsprojektes und den realen Verhältnissen in dem Stadtteil bestand. Insbesondere seine Behauptung einer finanziellen Unabhängigkeit der Armenfürsorge der Gemeinde, entsprach offensichtlich nicht der Wirklichkeit. Obwohl die Gemeinde beachtliche Mittel aufbrachte, flossen doch noch ansehnliche Summen von außerhalb in den Stadtteil. Die Bedeutung des Glasgower Modells reicht aber weit über seine finanzielle Dimension hinaus. Dies lässt sich nicht zuletzt an seiner Wirkungsgeschichte ablesen.32

4.3 Die Professuren in St. Andrews und Edinburgh und die church extension campaign 1823 folgte Chalmers einem Ruf der Universität St. Andrews auf den Stuhl des Professors für Moralphilosophie. Damit hatte er ein Themenspektrum abzudecken, das von der philosophischen Ethik bis zur Gesellschaftswissenschaft reichte. Dennoch hatte sich die Universität St. Andrews bewusst für einen Theologen entschieden. In dem Schreiben der Hochschule, in dem ihm die Stelle angeboten wurde, hieß es ausdrücklich: „Ihre Tätigkeit als Professor für Moral Science würde im Großen und Ganzen dem gleichen Gegenstand gewidmet sein wie die Tätigkeit eines Geistlichen.“33

Es war nicht unüblich, diesem Fach auch eine theologische Dimension zu verleihen. Neben seinen Aufgaben als Professor verfolgte Chalmers noch eine Reihe anderer Aktivitäten. 1824, wenige Monate nach seiner Ankunft in der Stadt, wurde er bereits zum Präsidenten der örtlichen Missionsgesellschaft (St. Andrews Missionary Society) gewählt. Seine regelmäßigen Reden in dieser Funktion gaben noch im selben Jahr den Anstoß zur Gründung einer studentischen Missionsgesellschaft (St. Andrews Univer30 Chalmers, Thomas: The Christian and Civic Economy of Large Towns I–III, Glasgow 1821–26 (Chalmers: Works XIV–XVI). 31 Vor allem Cage, R. A./Checkland, E. O. A.: Thomas Chalmers and Urban Poverty. The St. John’s Parish Experiment in Glasgow, 1819–1837, in: The Philosophical Journal 13, 1976, 37–56. 32 Vgl. hierzu Kapitel 8. 33 „Your employment as a teacher of Moral Science would embrace the same general object which a clergyman has in view“, Hanna: Memoirs II, 370.

83

sity Missionary Society), der fast ein Drittel aller Studenten beitraten. Die Gesellschaft organisierte monatliche Zusammenkünfte, Kollekten für die Außenmission und den Aufbau einer kleinen Bibliothek mit Publikationen über die Mission. Wie in Glasgow propagierte Chalmers auch in St. Andrews das Prinzip der Lokalität. Die Kirche sollte durch eine aufsuchende Arbeit in einem geographisch definierten Gebiet präsent sein. Mit einer Sonntagsschulklasse, die sich in seinem Haus versammelte, unterstrich er diesen Ansatz wieder durch sein eigenes Beispiel. Chalmers selbst hatte wenige Wochen nach seiner Ankunft in einem ärmeren Viertel der kleinen Stadt begonnen, jede Familie zu besuchen und die Kinder in die Sonntagsschule einzuladen. Nun regte er die Studierenden an, unter dem Dach einer landeskirchlichen oder freikirchlichen Gemeinde, in ähnlicher Weise vorzugehen. Das Echo hierauf war beachtlich. In jedem Teil der Stadt entstanden Sonntagsschulklassen. 1829 berichtete Alexander Duff, einer der Studenten: „Ich habe persönlich sämtliche unteren Schichten der Stadt besucht und habe keine zwanzig Kinder gefunden, die nicht die eine oder andere [Sonntags]schule besuchten.“34

Nachdem sich die Sonntagsschulen etabliert hatten, wurden von den Studierenden auch Bibelgruppen für Erwachsene angeboten. Fünf von Chalmers Studenten in St. Andrews arbeiteten später in Indien. Den Anfang machte besagter Alexander Duff, der überhaupt der erste Pfarrer der Schottischen Kirche in einem Entwicklungsland war. Einige von denen, die in Schottland blieben, widmeten sich später diakonischen Projekten, unter ihnen der Schul- und Fabrikreformer George Lewis.35 Nicht nur für junge Evangelicals aus der Church of Scotland wurde durch Chalmers St. Andrews zu einem bevorzugten Studienort. Unter seinen Studenten fanden sich auch Mitglieder der verschiedensten Freikirchen aus ganz Großbritannien und Irland, denen wegen ihres Bekenntnisses das Studium in England verwehrt war. In der Moralphilosophie setzte Chalmers einen anderen Schwerpunkt als seine Vorgänger. Im Gegensatz zu ihnen hielt er nicht die Erkenntnistheorie, sondern die Ethik für das Zentrum des Faches. Auch bemühte er sich darum, dass das Studium an der Universität St. Andrews insgesamt anwendungsorientierter wurde. Kurse für moderne Sprachen sollten deshalb eingeführt werden und die praktisch-theologischen Fächer ausgebaut werden. 1827 wurde Chalmers die Professur für Moral Philosophy an der erst kürzlich gegründeten Londoner Universität angeboten. Noch bevor er endgültig zugesagt hatte, wurde er jedoch von der Universität Edinburgh auf den angesehenen Lehrstuhl der Theologie berufen. Am 34 „I have personally visited all the lower classes in the town, and did not find twenty children who were not attending some school or other.“ Zit. n. Brown: Commonwealth, 167. 35 Vgl. Brown: Commonwealth, 169 und Hanna: Memoirs III, 202f.

84

10. November 1828 hielt er hier seine Antrittsvorlesung. In die Zeit seines Wechsels in die schottische Hauptstadt fiel auch die Debatte um ein Gesetz, das die Katholiken den Protestanten rechtlich gleichstellen sollte. Schon frühzeitig hatte Chalmers in dieser Frage Stellung bezogen. 1829 war er der Hauptredner bei der Veranstaltung in Edinburgh für die Katholikenemanzipation.36 Chalmers nationale Reputation als Sozialreformer war jetzt auch so groß, dass er anlässlich der Planung eines neuen Armengesetzes für Irland nach London berufen wurde, um vor dem zuständigen Parlamentsausschuss eine Stellungnahme abzugeben.37 Wie in St. Andrews verwendete er in Edinburgh große Energie darauf, den Studierenden diakonische Perspektiven zu vermitteln. Praktisch wie theoretisch sollten sie darauf vorbereitet werden, soziale Missstände wahrzunehmen und ihnen begegnen zu können. So regte er auch hier seine Studenten dazu an, in den Armenvierteln der Stadt aufsuchende Arbeiten zu beginnen. Fächer wie seelsorgerliche Hausbesuche, Verwaltung von diakonischen Projekten und Nationalökonomie integrierte er in das Theologiestudium.38 1831 starb Andrew Thomson, der Kopf der Erweckungsbewegung in Schottland. Chalmers galt als sein Nachfolger. 1832 wurde er zum Moderator der landesweiten schottischen Generalsynode gewählt. Der jährlich wechselnde Moderator war und ist das höchste Amt der Schottischen Kirche. 1834 wurde er zum korrespondierendem Mitglied der französischen Akademie für Moralphilosophie und Politologie39 ernannt. Vier Jahre später konnte er dann zum ersten mal Frankreich bereisen und einen Vortrag vor der Akademie halten. Chalmers war in Frankreich kein Unbekannter, eine Reihe seiner Werke waren ins Französische übersetzt worden. 1835 erhielt er als erster Nichtanglikaner die (theologische) Ehrenpromotion der Universität Oxford.40 Sein langjähriger Dialog mit der Church of England war einer der Gründe, die hierzu geführt hatten. Die Vertreter der hochkirchlichen Oxford Bewegung, die sich zur gleichen Zeit in der englischen Universitätsstadt organisierte, empfanden diese Promotion allerdings als Provokation. Denn trotz Fairness gegenüber den anglikanischen Theologen hatte Chalmers mit seinen reformierten Überzeugungen nie hinter dem Berg gehalten. Hierzu gehörte die Meinung, dass die von der neuen Bewegung vertretene Notwendigkeit einer apostolischen Weihesukzession entbehrlich sei.41

36 Vgl. Hanna: Memoirs III, 240–242. 37 Chalmers, Thomas: Evidence before the Committee of the House of Commons, on the Subject of a Poor-Law for Ireland, Works XVI, 285–421. 38 Vgl. Brown: Commonwealth, 378. 39 Das war die Académie des sciences morales et politiques des Institut royal de France. 40 Für die Studenten der Universität blieb hier das anglikanische Glaubensbekenntnis bis 1854 verbindlich. 41 Vgl. z. B. Chalmers: Works XVIII, 352.

85

1834 stellten die Evangelicals zum ersten Mal die Mehrheit der Delegierten auf der Generalsynode. Sie wählten Chalmers zum Vorsitzenden des Church Accommodation Committees (Komitee für Kirchenräumlichkeiten). Es war für die Errichtung neuer Gebäude zuständig. 1835 wurde es auf seine Veranlassung in Church Extension Committee (Komitee für die Ausbreitung der Kirche) umbenannt. Die Generalsynode stattete es zudem mit mehr Kompetenzen aus, sodass es von da an auch seine Belange gegenüber der Regierung selbst vertreten konnte. Der Vorsitz dieses Gremiums war eine der einflussreichsten Positionen in der Schottischen Kirche. Von hier aus konnte Chalmers eine Spendenkampagne initiieren, deren erklärtes Ziel es war, jedem Menschen in Schottland Zugang zu einer Gemeinde zu verschaffen. Aufgrund des sprunghaften Wachstums der Industriestädte war die Church of Scotland hier zu der Kirche einer Minderheit geworden. Besonders die Ärmsten wurden faktisch vom Gottesdienst ausgeschlossen.42 Zu den neu zu errichtenden Gebäuden sollten auch Gemeindeschulen gehören, um schließlich jedem Kind im Land den Schulbesuch zu ermöglichen. Chalmers Ideal war es, durch diese Kampagne ganz Schottland mit einem Netz von Gemeinden zu überziehen, die nach dem Vorbild der St. Johnsgemeinde organisiert waren. Die Generalsynode und das Parlament stellte die Neugründungen den alten Parochien rechtlich gleich. Sie durften über ihre Geldmittel selbst verfügen und ihre Pfarrer hatten anders als die bisherigen Kapellengeistlichen43 Sitz und Stimme in allen kirchlichen Gremien. In der church extension campaign zeigte Chalmers, wie man auch im landesweiten Rahmen ehrenamtliche Mitarbeiter in die kirchliche Arbeit integrieren konnte. Die Kampagne wurde durch zahlreiche Komitees und Gesellschaften getragen. An ihrer Spitze stand das von Chalmers geleitete Church Extension Committee, ihm folgten regionale und stadtteilbezogene Gremien sowie solche, deren Aktivitäten sich nur auf ein kleineres Quartier innerhalb eines städtischen Bezirkes bezogen. Die unterste organisatorische Ebene bildete, dem principle of locality entsprechend, das Rückgrat der Kampagne. Chalmers selbst unterstützte die Aktion durch eine rege Vortragstätigkeit. Die Art wie er es vermochte, zahlreiche Menschen an der Finanzierung kirchlicher Projekte zu beteiligen, kann heutigen Bemühungen um Spendengelder immer noch Impulse vermitteln. In den sieben Jahren, in denen er die Leitung des Komitees innehatte, konnten 222 neue Kirchen und mehrere Dutzend Gemeindeschulen errichtet werden. Chalmers bemühte sich auch intensiv darum, staatliche Gelder für die Kampagne zu bekommen. Nicht zuletzt deshalb ist er niemals stärker für das staatskirchliche System eingetreten als zu dieser Zeit. Beihilfen des Staates für die Landeskirchen hatten in Großbritan42 Vgl. 7.2. 43 Neue Kirchen wurden bisher als Kapellen mit weniger Rechten den alten Parochien untergeordnet. Vgl. hierzu 6.5.

86

nien eine Tradition. Mit dem wachsenden politischen Einfluss der Freikirchen in den 1820er Jahren versiegte allerdings diese Geldquelle. Bestehen blieben die kirchlichen Pfründe, die z. T. von staatlichen Institutionen verwaltet wurden. Sie ermöglichten hingegen nur die Finanzierung einer begrenzten Zahl schon existierender Gemeinden. Chalmers vertrat die Ansicht, dass die church extension campaign dem Gemeinwohl diene und deshalb vom Staat unterstützt werden sollte. Seine Hoffnung auf öffentliche Gelder erfüllte sich hingegen nicht. So konnte trotz ihres beachtlichen Erfolges die Kampagne nicht das von Chalmers vorgegebene Ziel erreichen: Die lückenlose Präsens der Kirche auch im ärmsten Teil der Bevölkerung. 1839 gestand schließlich das höchste schottische Zivilgericht44 in zwei Entscheiden örtlichen Landeigentümern das Recht zu, zur Armenfürsorge auch Kollekten zu verwenden, die in neu gegründeten Gemeinden innerhalb ihrer Besitzungen gesammelt wurden. Mit diesen Grundsatzurteilen waren die fünf Jahre zurückliegenden Beschlüsse der Generalsynode und des Parlamentes faktisch für ungesetzlich erklärt worden. Etliche Gemeinden, die im Rahmen der church extension campaign entstanden waren, verloren ihre finanzielle Grundlage. Diese Gerichtsentscheidung war der Todesstoß für die Kirchenbaukampagne, immerhin waren die Spenden mit dem Anspruch gesammelt worden, damit künftig selbstständige Gemeinde zu gründen. 1841 trat Chalmers vom Vorsitz des Church Extension Committees zurück. In die Zeit von Chalmers Professur in Edinburgh fiel der größte Teil seiner Veröffentlichungen. 1832 erschien On Political Economy, in Connexion with the Moral State and Moral Prospect of Society_45 (Über die Nationalökonomie46 im Zusammenhang mit dem moralischen Zustand und den moralischen Aussichten der Gesellschaft). Das Buch setzte sich im Wesentlichen aus Chalmers nationalökonomischen Vorlesungen zusammen. Immer wieder wurde er zu den Vertretern eines Wirtschaftsliberalismus gezählt wie ihn Adam Smith vertreten hatte.47 Nicht zuletzt dieses Werk zeigt jedoch, dass er anders als Smith den Wohlstand für alle nicht von einem Wirtschaftswachstum erwartete. Vielmehr würde eine Gesellschaft hierfür die Grundlage bilden, die durch den christlichen Geist geprägt ist. Nicht grenzenloser Konsum, sondern die Bereitschaft für sich und andere Verantwortung zu übernehmen und mit ihnen zu teilen, sei die Voraussetzung für die ökonomische Weiterentwicklung des

44 Das war der Court of Sessions. 45 Chalmers, Thomas: On Political Economy in Connexion with the Moral State and Moral Prospects of Society, Glasgow 1832 (Works XIX und XX). 46 Die Bedeutung des Begriffs political economy reicht von nationaler Wirtschaftspolitik bis nationaler Wirtschaftslehre. 47 Z. B. Hilton, Boyd: Chalmers as Political Economist, in: Cheyne: Practical and the Pious, 142f; Vgl. a. a. O 155; zur Entwicklung von Chalmers nationalökonomischer Position vgl. 7.6.

87

Gemeinwesens.48 Gemeinden wie St. Johns in Glasgow würden dem schon Gestalt verleihen. 1833 folgte das zweibändige Werk On the Power, Wisdom and Goodness of God as Manifested in the Adaptation of External Nature to the Moral and Intellectual Constitution of Man49 (Über die Macht, Weisheit und Gottheit Gottes wie sie sich manifestiert in der Anpassung der äußeren Natur an die moralische und intellektuelle Konstitution des Menschen). Auch in dieser Publikation werden wesentliche Aspekte der gesellschaftstheoretischen und nationalökonomischen Position Chalmers zu dieser Zeit umrissen. Er betonte hier, dass die „soziale Ökonomie“50 des Staates zwei Ausgangspunkte haben sollte: Das „Vernunftprinzip der Selbsterhaltung“51 und das „moralische Prinzip der allgemeinen Wohltätigkeit“52. Soziale Sicherung sollte also immer sowohl aus der Perspektive des Einzelnen als auch der Gemeinschaft in den Blick genommen werden. Zwischen 1836 und 1842 erschien dann die erste Auflage der 25-bändigen Werkausgabe,53 deren Herausgabe Chalmers selbst betreute. In ihr finden sich neben den drei Bänden der Christian and Civic Economy54 und den zwei Bänden der Political Economy55 zwei Bände mit einer Vorlesung über Natürliche Theologie.56 Vier Bände werden von einer Römerbriefvorlesung gefüllt.57 Band XXI mit dem Titel On the Sufficiency 48 Chalmers Gegenposition zum ethischen Positivismus Adam Smiths folgte über weite Strecken Robert Malthus (1766–1834). Malthus, der Klassiker der Bevölkerungstheorie, ging davon aus, dass das Bevölkerungswachstum naturgesetzlich immer schneller vor sich ginge als das Wirtschaftswachstum und deshalb der Smithsche Optimismus nicht zu teilen sei. Sein Hauptwerk war: An Essay on the Principle of Population, 2. Bd. 1798 u. 1803. Karl Marx veranlasste Chalmers Nähe zu dem Begründer der Bevölkerungstheorie dazu, ihn einen der „fanatischsten Malthusianer“ zu nennen. Marx, Karl: Das Kapital, IV, in der Reihe: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, XXVI/1, Berlin 1965, 271. 49 Chalmers, Thomas: On the Power, Wisdom and Goodness of God as Manifested in the Adaptation of External Nature to the Moral and Intellectual Constitution of Man I–II, London 1833. Diese Schrift wurde im Rahmen der Stiftung des Francis Henry Earl of Bridgewater veröffentlicht. Die Stiftung ermöglichte es acht verschiedenen Wissenschaftlern eine Studie zu einem Aspekt des Themas On the Power, Wisdom, and Goodness of God, as manifested in the Creation (Über die Macht, Weisheit und Gottheit Gottes wie sie sich in der Schöpfung manifestiert) zu schreiben. Einer von ihnen war Thomas Chalmers. Das Werk war eins der wenigen Bücher Chalmers, die ins Deutsche übertragen wurden. Die Übersetzung (durch Gustav Plieninger) erschien in Stuttgart 1838 unter dem Titel „Die innere Welt“. 50 „social economy“. 51 „rational principle of self preservation“. 52 „moral principle of general benevolence“ Chalmers: On the Power I, 224f. 53 Chalmers, Thomas: The Works I–XXV, Glasgow 1836–1842. 54 Works XIV–XVI. 55 Works XIX und XX. 56 On Natural Theology (Über die natürliche Theologie), Works I–II; (zuerst erschienen Glasgow 1835) 57 Lectures on the epistle of Paul the apostle to the Romans (Römerbriefvorlesungen), Works XXII–XXV.

88

of the Parochial System without a Poor Rate for the right Management of the Poor58 (Über die Hinlänglichkeit des parochialen Systems ohne eine Armensteuer für die rechte Betreuung der Armen) war im Wesentlichen eine kürzere Version der Christian and Civic Economy. In den anderen 13 Bänden sind vor allem Aufsätze und Predigten aus verschiedenen Lebensabschnitten. Kurz nach seinem Tod gab Chalmers Schwiegersohn William Hanna neun weitere Bände heraus.59 In dieser Ausgabe finden sich noch die Dogmatikvorlesungen aus seinen letzten Jahren unter dem Titel: Institutes of Theology60 (Grundlagen der Theologie). Dieses Werk zeichnet sich weniger durch die Originalität seiner Gedanken als durch seinen Aufbau aus. Chalmers begann hier nicht bei der Gotteslehre, sondern setzte mit der natürlichen Theologie ein und endete bei der Trinität. Voges sieht darin eine Liberalisierung der schottischen Schultheologie, für die bis dahin das Schema der reformierten Orthodoxie verbindlich war.61 4.4 Patronatskonflikt und Free Church Um 1833 begann die Diskussion um das Kirchenpatronat in der Church of Scotland sich zu einem ernsthaften Konflikt auszuweiten. Etwa zehn Jahre lang prägte diese Kontroverse das kirchliche Leben in Schottland.62 Chalmers sollte in ihr eine prominente Rolle spielen. Die Wurzel des Konfliktes ging auf das 1712 verabschiedete Patronatsgesetz zurück. In ihm wurde dem Patron einer Kirchengemeinde das Recht zugesprochen, ihren Pfarrer zu bestimmen. 1780 gehörten die Patronate von etwa einem Drittel der 877 Parochien der Church of Scotland der Krone. Die restlichen lagen in den Händen von Landbesitzern, städtischen oder universitären Einrichtungen.63 Ursprünglich hatte das Patronat dem gehört, der den höchsten Beitrag zur Errichtung und Erhaltung der Kirche geleistet hatte. Patronate konnten gekauft und verkauft werden. Ihr Wert wurde von dem damit verbundenen politischen Einfluss bestimmt sowie von der Möglichkeit, Bekannte und Verwandte mit einer gutdotierten Pfarrstelle zu versorgen. Das Patronatsgesetz von 1712 war noch von der kirchenrechtlichen Regelung flankiert gewesen, dass der Kandidat eines Patrons durch die Mehrheit der männlichen Familienoberhäupter in der Gemeinde bestätigt werden müsste. Erst nach einer Probepredigt und dieser 58 Chalmers, Thomas: On the Sufficiency of the Parochial System without a Poor Rate, Works XXI; (Zuerst erschienen Glasgow 1841). 59 Chalmers, Thomas: Posthumous works I–IX, William Hanna (Hg.), Edinburgh 1847–1849. 60 Posthumous works VII und VIII. 61 Voges: Denken, 147. 62 Deshalb wird der Patronatskonflikt auch Ten-Years-Conflict genannt. 63 Vgl. Brown: Commonwealth, 16.

89

Berufung durch die Gemeinde sollte seine Ordination erfolgen. Nach 1760 entschieden allerdings die Patrone allein über die Besetzung der Pfarrstellen. Damit hatte die durch den Reformator John Knox eingeführte freie Pfarrerwahl durch die Gemeinden zunächst eine Ende gefunden. Der Unmut gegen dieses Patronatssystem war in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ständig gewachsen. Besonders Evangelicals forderten vehement das Recht der Gemeinden ein, ihren Pfarrer selbst bestimmen zu können. Ein großer Teil der kirchlichen Basis war auf ihrer Seite. Die Pfarrdienstkandidaten der Patrone waren hingegen häufig Moderates, die für die Anliegen der Erweckungsbewegung wenig Interesse zeigten. Am Anfang der 30er Jahre wurden die Forderungen nach einer Abschaffung der Patronate immer lauter. Vor allem die Profiteure des Patronatssystems bestanden auf seiner Beibehaltung. Chalmers versuchte zunächst zwischen beiden Konfliktparteien zu vermitteln. Auf der Generalsynode des Jahres 1833 wies er darauf hin, dass die obligatorische Bestätigung der Pfarramtskandidaten durch die Familienoberhäupter nie aus dem Kirchenrechtsbuch der Church of Scotland entfernt worden war. Die Synode sollte nun ein Vetogesetz beschließen, das die Gemeinden bevollmächtigt, zu dieser Praxis zurückzukehren. Damit würden sich Gegner und Befürworter des Patronates auf halbem Wege treffen, sowohl die Patrone als auch die Gemeinden wären dann wieder an der Berufung neuer Pfarrer beteiligt. 1834, beim zweiten Anlauf, fand das Gesetz schließlich eine Mehrheit. Mit diesem Veto Act und dem im letzten Abschnitt erwähnten Synodenbeschluss, der neue Gemeinden keinem Patronat mehr unterstellte, schien die Macht der Patrone in der Schottischen Kirche entschieden gesunken zu sein. In den folgenden Jahren riefen allerdings eine Reihe von Kirchenpatrone und Pfarrdienstkandidaten, die dem Veto einer Gemeinde ausgesetzt waren, staatliche Gerichte an. Sie sahen sich durch das von dem Synodenbeschluss gestützte Veto in ihren bürgerlichen Rechten beeinträchtigt. Durch die kirchliche Entscheidung wurde in ihren Augen der materielle Wert eines Patronates beeinträchtigt, diesen hatte aber der Staat zu schützen. Zum Präzedenzfall wurde Robert Young. Er war einer der Kandidaten eines Patrons, die von der Gemeinde nicht bestätigt worden waren. Nach seiner Ablehnung rief er das Kirchengericht an, welches aber unter Berufung auf das Vetogesetz die Entscheidung der Gemeinde bestätigte. Danach wandte sich Young schließlich an den Court of Session, das höchste schottische Zivilgericht. 1838 entschied dieses Gericht, Young müsse die angestrebte Pfarrstelle bekommen, sofern er die erforderlichen Voraussetzungen bezüglich seiner Ausbildung, Bekenntnistreue und seines Lebenswandels erfülle. Damit hatte die staatliche Gerichtsbarkeit Entscheidungen der Kirche, nämlich das Vetogesetz der Synode und das Urteil des Kirchengerichtes, für illegal erklärt. Zudem hatte es die Bedingungen für die Ordination eines Geistlichen vor90

gegeben. Das Zivilgericht hatte also den Anspruch erhoben, die letzte Instanz auch in kirchenrechtlichen Fragen zu sein. Die Meinungsverschiedenheit um die Stellung der Patrone war nun nicht mehr allein eine Kontroverse, die die Kirche entzweite, sie hatte sich zu einem Konflikt der Kirche mit dem Staat ausgeweitet. Auf das Urteil des Court of Session folgte umgehend eine Entscheidung der Generalsynode. Sie verabschiedete eine Resolution, in der die geistliche Unabhängigkeit der Kirche zum Ausdruck gebracht wurde. Dies wurde mit Zitaten aus Bekenntnisschriften64 der Church of Scotland unterstrichen. Zudem appellierte die Synode an das britische Oberhaus, die Unabhängigkeit der Schottischen Kirche von staatlichen Organen zu bestätigen. Anders als erwartet stellte sich das House of Lords aber hinter die Entscheidung des Zivilgerichtes. Auf der Generalsynode des Jahres 1839 bemühte sich Chalmers wieder um einen Kompromiss. Er forderte hier zum einen, dass Young gemäß der Entscheidung des Zivilgerichtes in das Pfarrhaus der Gemeinde einziehen dürfe und das Gehalt des Pfarrers beziehen dürfe, allerdings solle er nicht ordiniert werden, um die geistliche Unabhängigkeit der Kirche zum Ausdruck zu bringen. Die Synode stellte sich mehrheitlich hinter ihn und ernannte ihn zum Sprecher eines Non-intrusion Committee (Nichteinmischungskomitee). Der Name des Gremium beschrieb seine Aufgabe, es sollte in Verhandlungen mit der Regierung geltend machen, dass der Staat sich nicht in kirchliche Angelegenheiten einmischen dürfe. Nachdem der Court of Session Youngs Fall unterstützt hatte, wandten sich weitere abgelehnte Patronatskandidaten an das Zivilgericht. In jedem Fall entschied das Gericht gegen den Beschluss der Kirche zugunsten des Kandidaten. Im Juli 1839 reiste Chalmers mit einer Abordnung des Non-intrusion Committees nach London, um die Angelegenheit in Gesprächen mit Regierungsvertretern zu klären. Im Dezember schaltete sich der Earl of Aberdeen im Namen der Kirchenpatrone in den Fall ein und begann mit Chalmers zu verhandeln. Weder die Londoner Regierung noch die vertretene Mehrheit der Synode waren hingegen bereit, ihre Position zu verändern. So wurde der Bruch eines wesentlichen Teils der Church of Scotland mit der staatskirchlichen Verfassung immer wahrscheinlicher. Auf der Generalsynode des Jahres 1842 wurde schließlich ein Antrag angenommen, der die gänzliche Abschaffung des Patronates forderte. Auch Chalmers war zu der Überzeugung gekommen, dass die Unabhängigkeit der Kirche anders nicht mehr zu gewährleisten war. Im selben Sommer beschloss das britische Oberhaus, dass das Presbyterium,65 welches aufgrund des Vetos der Gemeinde Young die Ordination verweigert hatte, dem Kandidaten £16 000 Schadenersatz zu erstatten hatte. Andernfalls drohte ihnen eine Gefängnisstrafe. Zu dieser Zeit wa-

64 Das waren die Westminster Confession und das Second Book of Discipline. 65 Das presbytery leitet in der Schottischen Kirche einen Kirchenkreis.

91

ren 39 Gerichtsverfahren anhängig, in denen es um ähnliche Ansprüche ging.66 Spätestens an diesem Punkt war ein Kompromiss unmöglich geworden. Im November des Jahres fand in einer Edinburgher Kirche unter Chalmers Vorsitz eine sechstägige Konferenz statt, die die Gründung einer Freikirche vorbereitete. Wenig später erhielt er den Vorsitz des Finanzkomitees der Free Church. Die Akquirierung von Spendengeldern für die neue Kirche organisierte er in der gleichen Weise wie bei der church extension campaign. Im ganzen Land entstanden Komitees. Auch die staatliche Seite demonstrierte ihre Entschlossenheit, an dem eingeschlagenen Kurs festzuhalten. Im Januar 1843 erklärte das oberste Schottische Zivilgericht die kirchenrechtliche Gleichstellung der in der church extension campaign gegründeten Gemeinden für illegal. Dadurch waren Sitz und Stimme ihrer Pfarrer in der Generalsynode ungesetzlich geworden. Am 18. Mai begann die Generalsynode der Church of Scotland des Jahres 1843 mit dem Auszug fast der Hälfte der Delegierten aus der Versammlung. Der Zug ging zu einer bereits angemieteten Halle, in der gleich die erste Generalsynode der „Free Church of Scotland“ eröffnet wurde. Chalmers war ihr Moderator. Die Free Church hatte bei ihrer Gründung weder Pfarrhäuser noch Kirchen, auch war es noch nicht gewiss, ob sie in der Lage sein würde, ihren Pfarrern angemessene Gehälter zu zahlen. Dennoch traten im Mai 1843 454 Geistliche aus der Staatskirche aus und schlossen sich der Freikirche an. Das waren 38 % aller Pfarrer der Church of Scotland. Fast 50 % ihrer Mitglieder wechselten in die neue Kirche.67 Die Free Church sollte nach Chalmers keine Freiwilligkeitskirche im Sinne der traditionellen Freikirchen sein, sondern eine vom Staat unabhängige Volkskirche. Durch diese Definition ebnete er den Weg für die später erfolgte Wiedervereinigung des größten Teils der Free Church mit der Landeskirche unter geänderten politischen Voraussetzungen,68 denn es gab Mitte des 19. Jahrhunderts, in der neuen Kirche noch eine große Fraktion, die sie als Freiwilligkeitskirche mit 66 Vgl. Hanna: Memoirs, 302f. 67 Brown: Commonwealth 335f, Vgl. ders.: Thomas Chalmers, in: Gestalten der Kirchengeschichte. Die neueste Zeit I, Martin Greschat (Hg.), Stuttgart u. a. 1985, 183. 68 Auf der ersten Generalsynode der Free Church stellte Chalmers fest: „Wir sind der Ansicht, dass jeder Teil und jede Funktion eines Gemeinwesens durchsetzt sein sollte mit dem Christentum. [. . .] Damit soll gesagt sein, obwohl wir die Staatskirche verlassen, bekennen wir uns immer noch zum staatskirchlichen Prinzip. Wir trennen uns von einer verunreinigten Staatskirche, doch würden wir uns freuen, in eine reine zurückzukehren [. . .] wir sind nicht für eine Freiwilligkeitskirche.“ „We hold that every part and every function of a commonwealth should be leavened with Christianity [. . .] That is to say, though we quit the Establishment, we go out on the Establishment principle; we quit a vitiated Establishment, but would rejoice in returning to a pure one [. . .] we are not Voluntaries.“ Zit. n. Brown: Commonwealth, 337. Auf Chalmers Beitrag zur Wiedervereinigung der beiden Kirchen weist auch de Bruijn hin: Ders.: Thomas Chalmers en zijn kerkelijk Streven, Nijkerk 1954, 265.

92

presbyterianischer Verfassung verstanden haben wollte.69 Chalmers trug durch den von ihm verfolgten Kurs zu der Partnerschaft von Staat und Kirche bei, die heute zu einem Leitbegriff geworden ist. Die Schottische Kirche war nicht die einzige, die für ihre Unabhängigkeit vom Staat kämpfen musste. Die Besonderheit ihrer Geschichte ist aber, dass sie die Eigenständigkeit der Kirche immer mit dem Anspruch verband, ein Dialogpartner des Staates zu bleiben. Die Church of Scotland hat damit einen wesentlicheren Beitrag dazu geleistet, dem prophetischen Dienst der Kirche an der Gesellschaft ein Gesicht zu verleihen. Er ist untrennbar mit den Namen John Knox und eben auch Thomas Chalmers verbunden.70 Noch 1843 eröffnete die Free Church ihre eigene kirchliche Hochschule, deren erster Rektor Chalmers wurde. Daneben blieb er in den ersten Jahren der Verantwortliche für die Finanzen der Kirche. Die materielle Unterstützung, welche die Free Church erfuhr, stellte die Erfolge der Kirchenbaukampagne weit in den Schatten. Bereits nach vier Jahren nannte sie 730 Kirchen ihr eigen. In den Schulen der Free Church wurden zur gleichen Zeit mehr als 44 000 Kinder unterrichtet. Zudem besaß sie zwei Lehrerakademien.71 Chalmers initiierte zudem die Gründung eines zentralen Fonds, zu dem jede Gemeinde etwas beizusteuern hatte. Hieraus erhielt jeder Pfarrer der Free Church ein Grundgehalt, das wohlhabendere Gemeinden nach Belieben aufstocken konnten. Chalmers erhoffte sich davon, dass die Kirche auf diese Weise auch in den ärmsten Nachbarschaften nach dem Vorbild der St. Johnsgemeinde in Glasgow diakonische Gemeinden finanzieren könnte. Die Summen, die durch den Fond flossen, erreichten allerdings nicht ansatzweise die Ausmaße, die er sich vorgestellt hatte. So blieb die Free Church mit Ausnahme des nördlichen Hochlandes72 in erster Linie eine Kirche der Mittel- und Oberschicht. 1844, wenige Monate nach der Gründung der Free Church trat Chalmers noch einmal mit einer bemerkenswerten Modifikation seines sozialreformerischen Konzeptes an die Öffentlichkeit. In einer Vortragsreihe führte er aus, dass die Gesellschaft nicht allein durch erneuerte volkskirchliche Gemeinden reformiert werden könne, sondern nur durch eine Kooperation der protestantischen Konfessionen.73 Sein sozial-theologi69 Vertreter dieser exklusiven Richtung forderten beispielsweise auf der Generalsynode des Jahres 1844, die Diakonie der Free Church solle sich nur Mitgliedern der Kirche widmen. Vgl. Gäbler: Auferstehungszeit, 52. 70 Pointiert wurde dieser Gedanke ebenfalls 1934 mit der Barmer Theologischen Erklärung zum Ausdruck gebracht. Es ist gewiss kein Zufall, dass Karl Barth, der maßgeblich an ihrer Verfassung beteiligt war, der Tradition der Church of Scotland nahe stand. 71 Vgl. Brown, Steward J.: The Ten Years’ Conflict and the Disruption of 1843, 1–27: 22f, in: Ders. (Hg.): Scotland in the Age of the Disruption, Edinburgh 1993. 72 Hier war sie in der Tat die Kirche der Armen. Vgl. Hillis, Peter L. M.: The Sociology of the Disruption, in: Brown: Age of the Disruption, 44–62: 58. 73 Dieser letzten Version seines Konzeptes widmet sich der Abschnitt 7.3.

93

sches Reformprogramm hatte in der Tat von Anfang an eine Dimension gehabt, die es in den ökumenischen Horizont drängte. Nun war er zu der Überzeugung gekommen, dass eine flächendeckende Präsens der Kirche, die Verantwortung für alle Bewohner einer geographischen Einheit übernimmt, weder von der Schottischen Staatskirche noch von der Free Church allein umzusetzen war. Nur ein Netzwerk von Gemeinden verschiedener Kirchen wäre in der Lage, das zu sein, was die Kirche in der Gesellschaft sein sollte. Im Rahmen einer neuen Church-Extension-Kampagne sollten allein in Edinburgh 40 zusätzliche Gemeinden entstehen. Es sollten Gemeinden sein, die das principle of locality praktizierten, jeweils auf einen Bezirk mit etwa 2000 Einwohnern innerhalb eines Arbeiterviertels der Stadt bezogen. Jede der neuen Gemeinden sollte mit einer bestimmten Konfession verbunden sein. Um den Anstoß zu solch einem Netzwerk in Edinburgh zu geben und um seine Thesen zu unterstreichen, initiierte Chalmers wieder ein Modellprojekt im West Port, einem berüchtigten Slum Edinburghs. Bereits im Februar 1847 konnte hier ein neues Gemeindehaus eingeweiht werden, das u. a. eine Kirche, Schulräume, einen Versammlungsraum, eine Bücherei und eine Wäscherei umfasste. Die Gemeinde gehörte zur Free Church ebenso wie zwei andere Neugründungen in der Stadt, die dem Beispiel des West Port Projektes gefolgt waren. Der Aufruf, ein ökumenisches Netzwerk zu etablieren hatte wenig Gehör gefunden, wohl auch weil in den Jahren 1846 und 47 die Hungersnot in Irland und im Hochland große Summen an Spendengeldern und Aufmerksamkeit auf sich zog. Am 30. Mai 1847 starb Thomas Chalmers unerwartet an Herzversagen. Bei seiner Beisetzung in Edinburgh säumten 100 000 Menschen die Straßen. Schon zu seinen Lebzeiten hatten viele seiner Ideen heftige Kontroversen ausgelöst. Aber an einem Punkt waren sich seine Anhänger und seine Gegner einig: Chalmers hatte zu denen gehört, die den Diskurs um den Platz und den Auftrag der Kirche in der Gesellschaft auf eine neue Eben hoben.

94

5. KAPITEL

Der sozial-theologische Ansatz von Thomas Chalmers 5.1 Anknüpfungen an die theologischen Traditionen des 16. und 17. Jahrhunderts Die covenanting traditions fanden in Chalmers Sozialtheologie in pointierter Weise ihren Niederschlag. Der Begriff covenant selbst war bei ihm allerdings von untergeordneter Bedeutung. Seit den blutigen Konflikten um die Covenanters des 17. Jahrhunderts, mit ihren z. T. rigorosen Vorstellungen einer presbyterianischen Theokratie, war die Rede von der gesellschaftlichen Dimension eines „kirchlichen Bundes“ in der schottischen Theologie mit dem Makel des Extremismus behaftet. Dennoch lebten die Implikationen der covenanting traditions fort. Sowohl ihre presbyterianische Linie, als auch ihre freikirchliche Ausprägung prägten Chalmers Ansatz.

5.1.1 Der Bezug zur schottischen Reformation Die presbyterianische Tradition begegnete bei ihm als Anknüpfung an die schottische Reformation. Sie bot ihm eine Basis, von der aus er sein bis zur Gesellschaftsreform reichendes Konzept entfalten konnte. Trotz vieler Parallelen mit Calvins Reformation in Genf, war hier bereits im 16. Jahrhundert die anthropologische und soziologische Dimension der Theologie in weitaus größerem Maß, als auf dem europäischen Festland thematisiert worden. In diese Linie gehört Chalmers eigener Zugang zu theologischen Fragestellungen. Rice merkt dazu an: „Chalmers Interesse an Systematischer Theologie war durch Überlegungen eminent praktischer Natur motiviert.“ Er beharrte darauf, dass die „konkreten bedrückenden Aspekte“ des menschlichen Lebens der Ausgangspunkt der theologischen Reflexion sein müssen.1 Friedhelm Voges beschreibt die Besonderheit dieser Tradition so: 1 „Chalmers’ interest in systematic theology was motivated by considerations eminently practical in nature [. . .] his overriding insistence that the concrete, distressing qualities of human life ought to provide the starting point for theological reflection.“ Rice, Daniel F.: An Attempt at Systematic Reconstruction in the Theology of Thomas Chalmers, in: Church History 48, 1979, 183.

95

„Die Kirche von Schottland erntete im 19. Jahrhundert die Erträge der Siege, die durch die Väter ihrer Reformation errungen worden waren. Den Protestantismus gegen eine feindlich gesinnte Krone zu etablieren, mit geringer Hilfe von außen, war eine Errungenschaft ohne Parallele und als Konsequenz war die Kirche keinen anderen Autoritäten verpflichtet. Sie konnte – damals wie heute – in einer Weise ihre Stimme erheben an die keine Kirche des Kontinentes bis jetzt heranreichen konnte.“2

Chalmers verstand sich zu allererst als reformatorischer Theologe. In einer Predigt aus Anlass der Eröffnung einer neuen presbyterianischen Kirche in London strich er die Bedeutung der „schottischen“ und der „anderen Reformatoren“ hervor.3 Ihre Leistung sei es gewesen, gegenüber menschlichen Beurteilungen der Autorität der Heiligen Schrift Geltung verschafft zu haben. Für den Menschen hätten sie das Recht durchgesetzt, selbst über die Aussagen der Bibel urteilen zu dürfen. Das sola scriptura war für Chalmers die Grundlage eines religiösen Selbstbestimmungsrechtes des Einzelnen. Zum anderen hob er auf das sola gratia ab, welches „die Welt im Bereich aller Nationen auf lange Sicht versöhnen und erneuern wird“.4 Dieser Gedanke diene „in hervorragendster Weise sowohl dem Frieden und der Heiligkeit von Individuen, als auch der allgemeinen Tugendhaftigkeit der Welt“.5 Zum Wesen der protestantischen Kirchen gehörte von Anfang an nicht „blinde Unterordnung“, sondern vielmehr das „freie Praktizieren“ der eigenen Erkenntnis. Die Zugehörigkeit zu einer protestantischen Kirche sollte sich allein auf die persönliche Überzeugung gründen, diese Kirche sei schriftgemäß.6 Von Anfang an war somit der Protestantismus mit einer Befreiung des Individuum von Heteronomie verbunden. Daneben zielte die Reformation für Chalmers aber auch auf den Sozialraum, der beständiger Ausgangspunkt seiner Reflektionen war. Die Reformation war für Chalmers der „stärkste und der am weitesten wahrnehmbare Impuls auf den Mechanismus der menschlichen Gesellschaft“.7 So sah er auch seinen eigenen Ansatz. Er wollte damit den „Genius“ der Reformationszeit zurückrufen, um das gegenwärtige Zeitalter zu „verbessern“.8 Insbesondere das Bildungskonzept 2 Voges, Friedhelm: The Disruption and Church Life on the Mainland of Europe, in: Brown: Age of the Disruption, 165–177: 176. 3 „the Scottish and other reformer, in their respective countries“, Chalmers, Thomas: On the Respect Due to Antiquity, Works XI, 135. 4 „among all nations shall at length both reconcile and regenerate the world“, ebd., 141. 5 „most eminently subservient both to the peace and the holiness of individuals, and to the general virtue of the world“, ebd., 140. 6 „ [. . .] the Church of Scotland, which in principle is essentially Protestant [. . .] wants no such discipleship as that which is grounded on blind submission to her authority – but only the discipleship of those, who in the free exercise of their judgement and their conscience, honestly believe her doctrine to be grounded on the authority of the word of God.“, ebd., 154f. 7 „the strongest and the most widely felt impulse on the mechanism of human society“, Ebd., 139. 8 „We should so much ameliorate our present age by calling back the genius of the olden time.“ Der Zusammenhang spricht hier von der Reformationszeit. Ebd., 154.

96

von John Knox, dem schottischen Reformator, war für ihn vorbildlich. Dazu gehörte die Forderung nach einer Schule in jeder Parochie.9 Chalmers setzt die Erweckungsbewegung parallel zur Reformation. Genau so wie die reformatorischen Gedanken, zuerst in Deutschland entfaltet und dann von den entferntesten Winkeln Europas aufgenommen wurden, sollte die Erweckung, die „überall auf der Welt verbreitet ist“, in Großbritannien willkommen geheißen werden. Umfassendes „Licht“ und umfassende „Freiheit“ sind von ihr zu erwarten.10 Auch Chalmers Rolle in der Kirchenspaltung von 1843 zeigte seine Verwurzelung im Kirchen- und Gesellschaftsverständnis der schottischen Reformation. Die presbyterianische Kirche sah sich in ihr auch im politischen Sinn verantwortlich für das ganze Land, gleichzeitig musste sie in ihren Anfängen wegen der katholischen Monarchin auf ihre Unabhängigkeit vom Staat dringen. Chalmers drang darauf, dass die Free Church auch noch die Bezeichnung of Scotland in ihrem Namen trug. Die Kirche sollte als Landeskirche verstanden werden, welche sich von der Church of Scotland allein dadurch unterschied, dass sie frei von staatlicher Bevormundung war. Und das hieß insbesondere, dass Mitglieder der Kirchengemeinden gemäß der alten presbyterianischen Kirchenverfassung ihre Pfarrer selbst wählen durften.

5.1.2 Chalmers Anknüpfung an die freikirchlichen Puritaner Chalmers sah sich mit seinem Ansatz einer theologisch verantworteten Gesellschaftsreform in der Linie der Puritaner des 17. Jahrhunderts.11 Bemerkenswert ist dabei, dass er in seinem Konzept in nicht geringem Maß die freikirchliche Tradition fortsetzte. Dies zeigt sich in der Position, die er in der Diskussion um die rechtliche Gleichstellung der Katholiken einnahm und in seinem Missionsverständnis.12 Ihnen liegt der gleiche Begriff von Mündigkeit zu Grunde, von dem die Baptisten und Kongregationalisten des 17. Jahrhunderts ausgingen. In Chalmers Ansatz wirkt zudem die Wahrnehmung des Menschen als Individuum und in seinen sozialen Bezügen nach, welche die frühe britische Föderaltheologie insgesamt kennzeichnete.13 In Abschnitt 2.4 wurde darauf hingewiesen, dass in den Gesellschaftstheorien der Aufklärung puritanische Ansätze säkularisiert wurden. Chalmers kehrte nun wieder zu den theolo9 Ebd., 147. 10 „ [. . .] there is now a glorious awakening abroad upon the world, and, in despite of all their policy, the days of its perfect light and its perfect liberty are coming.“, ebd. 137. 11 Vgl. Hanna: Memoirs III, 263 und Chalmers: Works XXI, 256–259. 12 Auf beides wird unter anderem Aspekt in Abschnitt 7.4 noch einmal eingegangen werden. 13 Vgl. 2.2.1 und 2.31.

97

gischen Wurzeln der staatlich zu garantierenden Wahlfreiheit zurück. Sie wurde zum ersten Mal mit theologischen Begründungen von den freikirchlichen Puritanern gefordert. Chalmers benutzte ihre Argumente als er sich in die Debatte um die gesetzliche Gleichstellung der Katholiken einschaltete. Viele freikirchliche Theologen hatten zu Chalmers Zeit die gesellschaftspolitische Dimension ausgeblendet. Es gab allerdings auch Freikirchler, die in der von Chalmers vertretenen Position ihre eigene Theologie wieder erkannten und hier den gleichen Kurs verfolgten wie er.14 Über einen langen Zeitraum hinweg hatte es nur sehr wenige Katholiken in Großbritannien gegeben. Erst durch die Einwanderung vieler Iren im 19. Jahrhundert veränderten sich die Relationen. In Schottland existierten vor dem Jahr 1800 nur in Teilen des Hochlandes und der Hebrideninseln katholische Majoritäten. In allen anderen Gebieten Schottlands waren die Katholiken eine kleine Minorität. 1886 lebten dagegen nach Schätzungen 120.000 Katholiken allein in Glasgow. Sie waren fast ausschließlich irischer Herkunft.15 Das ausgehende 18. und mehr noch das beginnende 19. Jahrhundert war in Großbritannien von einem wachsenden Antikatholizismus geprägt.16 Am 13. April 1829 wurde das Gesetz, das den Katholiken die Emanzipation gewährte, in Kraft gesetzt. Mitglieder der römisch-katholischen Kirche genossen nun grundsätzlich das Recht, ins Parlament gewählt werden zu können und andere staatliche Ämter auszuüben. Auch Chalmers machte deutlich, dass sich seine Theologie von der katholischen unterschied.17 Dennoch konnte er im Gegensatz zu vielen anderen britischen Protestanten seiner Zeit auch Gemeinsamkeiten mit der römisch-katholischen Kirche entdecken.18 Zeitlebens trat er dafür ein, die Religions- und Gewissensfreiheit auch den

14 Vgl. Bebbington: Evangelicalism in Britain, 101. 15 Vgl. Amherst, W. J.: The History of Catholic Emancipation and the Progress of the Catholic Church in the British Isles from 1771 to 1820 I, 277f. 16 Obwohl die rechtliche Gleichstellung der Juden erst Jahrzehnte nach der Emanzipation der Katholiken erfolgte, blieben Juden in Großbritannien weitgehend unbehelligt von Verfolgungen. Die einzige Minderheit, die im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert Opfer von Pogromen wurde, waren Angehörige der römisch-katholischen Kirche. Vgl. Rubinstein, W. D.: A History of the Jews in the English-Speaking World: Great Britain, Basingstoke/London 1996, 49. 17 Für ihn ist sie „a wrong denomination of Christianity“, Chalmers, Thomas: The Effect of Man’s Wrath in the Agitation of Religious Controversies, Works XI, 161–191: 178, 183. Vgl. Ders.: Lectures on the Establishment and Extension of National Churches (1838), Works XVII, 304–306 und Works XI, 161–192. 18 Den Protestanten, die die römisch-katholische Kirche nicht mehr zu den christlichen Kirchen zählten, hielt Chalmers vor, dass auch in dieser Kirche die „great evangelical doctrines of faith and repentance“ (die „großen evangelischen Lehren von Glauben und Umkehr“) zu Hause sein können und dass ausdrücklich niemals eine Aussage der Bibel von einem Papst oder einem katholischen Konzil in Frage gestellt wurde. Chalmers: Works XI, 90.

98

Katholiken zuzugestehen und ihnen mit Toleranz zu begegnen. Schon 1817 forderte Chalmers in einem Vortrag zugunsten der Hibernian Society die Respektierung der katholischen Überzeugungen und verwies auf die Bibel als gemeinsame Grundlage des Bekenntnisses der Protestanten und Katholiken.19 Er stellte die Schulen der Hibernian Society als vorbildlich hin, in denen sowohl protestantische als auch katholische Lehrer unterrichteten.20 Bereits in diesem Vortrag wies er darauf hin, dass die britischen Gesetze, die Mitgliedern der katholischen Kirchen die Beamten- und die politische Laufbahn verboten, nicht durch die Theologie gerechtfertigt seien. Die schlichte Tatsache, in welcher Kirche ein Beamter oder ein Parlamentarier Mitglied sei, sei irrelevant für das Reich Gottes.21 Während einer Predigt im Jahr 1827 zur Eröffnung der neuen presbyterianischen Kapelle in Belfast sprach Chalmers auch von der Schuld, die die protestantischen Briten den katholischen Iren angetan haben: „Wir haben ein ganzes Volk zu einer Nation von Ausgestoßenen gemacht.“22 „Häresien“ würden hingegen allein dadurch überwunden, dass ihnen mit der dienenden Haltung Christi begegnet würde, die uns in Philipper 2 geschildert wird und nicht durch das Beharren auf Orthodoxie.23 Chalmers betrachtete die Katholiken nach wie vor als Objekte der protestantischen Mission. Da aber der „richtige“ Glaube immer von einer freien Entscheidung des Einzelnen abhängt, müssen andere Überzeugungen, bis diese Entscheidung gefällt wird, unbedingt respektiert werden. Deshalb trat Chalmers für eine rechtliche Gleichstellung der Katholiken ein und für ihre vollständige Integration in die bisher protestantisch bestimmte Gesellschaft, ein Zustand, der in Nordirland bis heute noch nicht erreicht ist. 19 „ [. . .] ihr Katholiken habt uns gerechterweise getadelt wegen unserer vielfältigen und nie endenden Kontroversen. Aber hier ist ein Buch, dessen Wirkung alle diese Meinungsverschiedenheiten in den Hintergrund treten lässt. Es rückt die großen und gewichtigen Punkte der Gemeinsamkeit in den Vordergrund. Das führt uns dazu, dass wir den Menschen mit dem anderen Bekenntnis im Kern als Christen anerkennen können. Und wir wollen dann den Kreis unserer Gemeinschaft ausweiten, sodass es uns erlaubt sein möge den einen Glauben und die eine Nächstenliebe gemeinsam mit euch zu praktizieren.“ „[. . .] you Catholics, have justly reproached us with our manifold and never-ending varieties; but here is a book, the influence of which is throwing all these differences into the back-ground, and bringing forward those great and substantial points of agreement, which lead us to recognise the man of another creed to be essentially a Christian, – and we want to widen this circle of fellowship, that we may be permitted to live in the exercise of one faith and of one charity along with you.“ Chalmers, Thomas: The Doctrine of Christian Charity Applied to the Case of Religious Differences: A Sermon Preached Before the Auxiliary Society, Glasgow, to the Hibernian Society, for Establishing Schools, and Circulating the Holy Scripture in Ireland, Works XI, 111. 20 Ebd., 87–111. 21 the kingdom of God Ebd., 108. 22 „We have turned a whole people into a nation of outcasts.“ Chalmers: Man’s Wrath, Works XI, 184. 23 Ebd., 161–191: 182–185.

99

„Wenn wir umfangreichen Umgang pflegen mit den Männern einer anderen Denomination in allen Bereichen des bürgerlichen und politischen Lebens [. . .] dann wird es sich finden, dass [. . .] wir in die Lage versetzt sind, die Gerechtigkeit Gottes zu tun.“24

Chalmers war der Theologie der schottischen Reformation verpflichtet, distanzierte sich aber von ihrer theokratischen Linie.25 Knox, ebenso wie alle anderen Reformatoren irrten darin, dass sie noch nichts von der „Weisheit und Wirksamkeit der Toleranz“ wussten.26 Dies hatten sie nach Chalmers gemeinsam mit den Theologen aller Denominationen ihrer Zeit.27 Der Irrglaube bestand in der Vorstellung, „dass das Christentum nicht blühen könne, nein, dass es nicht existieren könne ohne den Rahmen einer [einzigen] gewissen und definierten Kirchenverfassung.“28 In einem Punkt wollte Chalmers den Reformatoren in keinem Fall folgen: „Und wie sehr sie auch im Recht gewesen sein mögen mit ihrer Meinung von einer anderen Denomination, so ist es doch zumindest immer noch fraglich, ob sie recht hatten in ihrem eisernen und strengen Umgang mit dem Papsttum. War es richtig, nachdem sie dem Papsttum seine Rüstung der Intoleranz entrissen haben, genau diese Rüstung gegen den gestürzten Feind zu verwenden? Nachdem sie ihn niedergestreckt hatten, allein durch die Verwendung einer geistlichen Waffe, war es richtig oder nötig eine fleischliche zu verwenden, um ihn am Boden zu halten?“29 „Somit [. . .] verunglimpften sie die edle

24 „It is by extensively mingling with the men of another denomination, in all the walks of civil and political business [. . .] then will it be found, that [. . .] we are enabled to work the righteousness of God.“ Ebd., 184f. 25 Chalmers: Antiquity, Works, XI, 144. Chalmers Vorstellung, dass bestimmte Positionen der Reformatoren wieder revidiert werden müssen, steht allerdings nicht im Widerspruch zur calvinistischen Reformation. Das „ecclesia reformata semper reformanda“ ist vielmehr einer ihrer Grundgedanken. In der Einleitung zur „Confessio Scoticana“, die 1560 u. a. von John Knox verfasst worden war, wurde dies so zum Ausdruck gebracht: „Wenn jemand irgendeinen Artikel oder auch nur einen Satz bemerkt, der dem heiligen Wort Gottes widerstreitet, so möge er uns nach seiner Menschenpflicht und in der Liebe, mit der er Christus und seiner Herde anhängt, schriftlich ermahnen. Wenn er das tut, so versprechen wir feierlich, dass wir ihm Bescheid geben werden nach dem was Gott, d. h. was das Wort der Heiligen Schrift redet, oder dass wir abstellen werden, was er uns als von diesem Wort abweichend nachgewiesen hat.“ Reformierte Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen in deutscher Übersetzung, Paul Jacobs u. a. (Hg.), Neukirchen-Vluyn 1950, 129f. 26 „the wisdom and efficacy of toleration“, ebd., 150. 27 Chalmers Einschätzung trifft gewiss zu für die volkskirchlichen Theologen des 16. Jahrhunderts. Bei den Freikirchlern fanden sich allerdings schon Ansätze einer formal pluralistischen Gesellschaftstheorie. Vgl. Geldbach: Erbe., 50ff. 28 „that Christianity could not flourish, nay that it could not exist, save in the one framework of one certain and defined ecclesiastical constitution“, Chalmers: Ebd. Auch der Baptist Roger Williams argumentierte so: Wahres Christentum „gedeiht“ besser in einer pluralistischen Gesellschaft. „true civility and Christianity may both flourish in a state or kingdome, notwithunderstanding the permission of divers and contrary consciences.“ McBeth: Sourcebook, 84. Vgl. 2.3.3 Anmerkung 69. 29 „And however right they may have been in their sentiment of another denomination, yet still it is, at the very least, a questionable thing, whether they were right in their stern and

100

Sache durch einen so unschönen Spießgesellen wie die Macht des Staates, welche die jetzt entwaffnete und unterjochte Minderheit bedrückte. [. . .] und wenn das Argument und die Schrift allein den Sieg über die Unwahrheit errungen hatte, warum vertraute man nicht allein dem Argument und der Schrift die Beibehaltung der Wahrheit an? Es ist in der Tat aufschlussreich zu beachten, wie von dem Zeitpunkt an, als die Gewalt des Gesetzbuches auf der Seite des Protestantismus in Anspruch genommen wurde, sich das Papsttum, bewaffnete mit einer edelmütigen Entrüstung gegenüber seinen Unterdrückern, bekleidet mit der moralischen Kraft, die die Verfolgung immer jeder Sache verleit [. . .] Und jetzt, nachdem Jahrhunderte vergangen sind, wurden alle Einflüsse, sowohl der Überzeugungskraft als auch der Macht, sinnlos vergeudet, angesichts der harten, der widerspenstigen Haltung einer ungerecht behandelten Bevölkerung.“30

1829 war Chalmers der Hauptredner bei einer Veranstaltung in Edinburgh für die Katholikenemanzipation.31 William Hanna veröffentlichte den hier gehaltenen Vortrag.32 Ausgangspunkt seiner Ausführungen war Römer 13. Chalmers führte aus, die Christen sollten nach dieser Bibelstelle sich den staatliche Institutionen unterordnen, weil sie von Gott eingesetzt seien. Damit sei das Verhältnis der Glaubenden zum Staat definiert. Bemerkenswert an dieser neutestamentlichen Stelle sei nun, dass sie nicht von einem christlichen Staat reden, sondern von einem, dessen Ämter von offenkundigen „Götzendienern“ ausgefüllt wurden, die niemals ein Amt in der Kirche hätten ausfüllen dürfen. Aus der Perspektive des Neuen Testamentes sei der Staat säkular und Christen hätten seine Amtsinhaber unabhängig von ihrem Bekenntnis anzuerkennen. Chalmers hob ferner hervor, dass diese Überzeugung auch von der Westminster Confession der Kirche von Schottland wiederholt wird. Hier zitierte er dann aus dem Abschnitt 23,4 der Bekenntnisschrift: „Unglaube oder Religionsfreiheit machen die rechte und gesetzmäßige Autorität der Obrigkeit nicht zunichte, noch befreien sie das Volk von seinem

severe treatment of Popery. After having wrested from Popery its armour of intolerance, was it right to wield that very armour against the enemy that had fallen? After having laid it prostrate by the use alone of a spiritual weapon, was it right or necessary, in order to keep it prostrate, to make use of a carnal one?“, Chalmers: Ebd., 152. 30 „thus [. . .] vilifying the noble cause by an associate so unseemly, as that which the power of the state can make to bear on the now disarmed and subjugated minority. [. . .] and if argument and Scripture alone have achieved the victory over falsehood, why not confide to argument and Scripture alone the maintenance of the truth? It is truly instructive to mark, how, on the moment that the forces of the statute-book were enlisted on the side of Protestantism, from that moment Popery, armed with a generous indignancy against its oppressors, put on that moral strength, which persecution always gives to every cause. [. . .] And now that centuries have rolled on, all the influences, whether of persuasion or of power, have been idly thrown away on the firm, the impracticable countenance of an aggrieved population.“ Ebd. 31 Vgl. Hanna: Memoirs III, 240–242. 32 Hanna: Memoirs III, 512–519.

101

schuldigen Gehorsam gegen sie, von dem auch kirchliche Personen nicht ausgenommen sind.“33

Bezeichnend ist, dass sich Chalmers gerade auf diesen Abschnitt des Bekenntnisses bezieht, in dem eine strikte Unterscheidung von Kirche und Staat zum Ausdruck gebracht wird. Damit setzte er die Linie der freikirchlichen Puritaner fort. Immerhin gibt es im Westminster Bekenntnis (Abschnitt 23,3) auch die Vorstellung, dass die Organe des Staates die Pflicht haben, gegen Häresien vorzugehen und dafür sorgen sollen, dass die Verehrung Gottes im Land in der richtigen Weise geschehe.34 Womit die religiöse Überzeugung der Staatsbeamten von Bedeutung wurde. Hierauf konnten seine Gegner in der Debatte um die Katholikenemanzipation verweisen. Chalmers vertrat dagegen die Ansicht, dass die Frage, wer ein staatliches Amt innehaben dürfe, „eine bürgerliche Frage“ sei, und nicht etwas „worüber wir als Kirche zu entscheiden haben.“35 Die Ungleichbehandlung der Katholiken ließ Chalmers für eine formal pluralistische Gesellschaft eintreten. Gewissensfreiheit, Toleranz gegenüber anderen Überzeugungen, Gleichheit aller vor dem Gesetz und strikte Trennung von Kirche und Staat waren für ihn Konsequenzen der reformatorischen Theologie. Die Reformation verwies seiner Meinung nach darauf, dass der christliche Glaube eine selbst gewählte Überzeugung sein musste. Damit war allein die Predigt das adäquate Mittel, mit der sich die Kirche im Wettstreit der Meinungen zu behaupten hatte. Die Reformatoren selbst hatten noch nicht gesehen, dass Meinungs – und Gewissensfreiheit die notwendige Folge der evangelischen Theologie war. Erst die Freikirchlicher, vor allem des 17. Jahrhunderts, brachten diesen Zusammenhang zur Sprache und hinterließen damit ihre Spuren in der britischen Theologie und in der Gesellschaftstheorie der Aufklärung. Chalmers nannte die baptistischen und kongregationalistischen Theologen, die hierfür verantwortlich waren, nicht beim Namen, er sprach aber davon, dass sich seit der Reformation historische Entwicklungen ergeben hätten, die zu dem „jetzt emanzipierten“36 Großbritannien geführt hätte, sodass heute die Kirchenpolitik der Reformatoren revidiert werden müsse. Die Forderung nach der Gewissensfreiheit und der Gleich33 „Infidelity or difference in religion do not make void the magistrate’s just and legal authority, nor free the people from their due obedience to him, from which ecclesiastical persons are not exempted.“ Ebd., 514. 34 „The civil Magistrate [. . .] it is his Duty to take order [. . .] that all [. . .] Heresies be suppressed, all Corruptions and Abuses in Worship and Discipline prevented or reformed; and all the Ordinances of God duly settled, administred, and observed.“ (Bekenntnisschriften, 593f.) Die freikirchlichen Kongregationalisten ersetzten den Abschnitt 23,3 der Westminster Confession noch in den 50er Jahren des 17. Jahrhunderts durch einen Text, der dem Staat jede Einmischung in kirchliche Angelegenheiten verbot. (Ebd. S. XLVII). 35 „It is a civil question, and not for us as a Church to decide upon.“ Hanna: Memoirs, 514. 36 „our now emancipated land“, Chalmers: Antiquity, Works XI, 145.

102

stellung aller Überzeugungen im Staat sowie ein dem entsprechender toleranter Umgang mit Andersdenkenden, ist heute nicht nur ein Konsens des Protestantismus, sondern mindestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil auch Bestandteil der ökumenischen Theologie. In den protestantischen Kirchen Großbritanniens war dies in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch eine Minderheitsposition. Greschat geht davon aus, dass diese Emanzipation der Katholiken „von fast allen Protestanten leidenschaftlich“ abgelehnt wurde.37 Auch in der Erweckungsbewegung, die Freikirchler nicht ausgeschlossen, gab es Gegner der Gleichstellung.38 Wolffe schreibt den englischen Antikatholizismus des 19. Jahrhunderts den „Bemühungen einer geplagten Staatskirche“ zu, „sich gegen freikirchliche Angriffe verteidigen zu müssen und er war der Suche der Evangelicals, sowohl der anglikanischen als auch der freikirchlichen, nach einer definierten Identität zuzurechnen.“ Die Erweckungsbewegung befand sich nach Wolffe nun „in einer Periode, in der der Enthusiasmus und die schnelle Expansion, die das frühe 19. Jahrhundert charakterisiert hatten, an Schwung zu verlieren begannen.“39 In Schottland war die Situation vergleichbar.40 Auch in Chalmers Missionsverständnis setzte sich das Konzept der Freikirchler des 17. Jahrhunderts fort.41 Nach Johannes van den Berg ist das Verständnis von Mission und ihre Gestalt wesentlich davon geprägt, ob die Gesellschaft als corpus christianum verstanden wird.42 Die Freikirchler des 17. Jahrhunderts verstanden sie wie schon ihre Vorläufer, die Täufer der Reformation, nicht als christliche Körperschaft, sondern als ein Gemeinwesen, in dem jede Bürgerin und jeder Bürger zunächst einmal nicht einer christlichen Institution zugerechnet werden darf. Erst nach dem freiwilligen Eintritt in die Kirche können sie als Christin oder Christ angesehen werden. Van den Berg macht deutlich, dass vom Mittelalter bis mindestens zum 17. Jahrhundert, mit Ausnahme der freikirchlichen, alle Theologen die Gesellschaft als corpus christianum betrachteten. Diese Vorstellung hatte Auswirkungen auf den Missionsbegriff. Im Mit37 Greschat: Zeitalter, 27. Vgl. auch Wolffe, John: Anti-Catholicism and Evangelical Identity in Britain and the United States, 1830–1860, in: Bebbington/Noll/Rawlyk: Evangelicalism, 179–197. 38 Vgl. Bebbington: Evangelicalism in Britain,134. und Bebbington/Noll/Rawlyk: Evangelicalism, 179–197 s. a. Abschnitt 7.4 39 „It was due to the efforts of a beleaguered Established Church to defend itself from Nonconformist attack, and to the search of Evangelicalism, both Anglican and Dissenting, for a defined identity, at a period when the enthusiasm and rapid expansion which had characterized the early nineteenth century was beginning to lose momentum.“ Wolffe, John: The Protestant Crusade in Great Britain 1829–1860, Oxford 1991, 7. 40 Vgl. Bulloch, James/Drummond, A. L.: The Scottish Church 1688–1843. The Age of the Moderates, Edinburgh/St. Andrews 1973, 214. 41 Vgl. hierzu 7.4. 42 Vgl. Berg, Johannes van den: Constrained by Jesus’ Love. An Inquiry Into the Motives of the Missionary Awakening in Great Britain in the Period Between 1698 and 1815, Kampen 1956, besonders: 84–86, 168–170.

103

telalter waren die Mission der Kirche und der staatliche Imperialismus nicht voneinander zu trennen. Beides war nur jeweils eine Seite derselben Münze. Die Kreuzzüge und die Expansion des Deutschen Ritterordens im östlichen Europa sind Beispiele hierfür.43 K. D. Schmidt spricht in diesem Zusammenhang vom „Ideal der Kongruenz des politischen und religiösen Prinzips“.44 Die Reformation brachte nicht einen plötzlichen Zusammenbruch des mittelalterlichen Corpus-Christianum-Gedankens mit sich. Dies gilt obwohl Staat und Kirche nun anders zugeordnet wurden. Die Kirche wurde durch die stärkere eschatologische Dimension der reformatorischen Theologie zumindest theoretisch ein Gegenüber zum Staat.45 Nach den vorausgegangenen Bürgerkriegen hatte sich am Beginn des 18. Jahrhunderts dann in Großbritannien das Bild grundlegend gewandelt.46 Ab 1689 genossen neben der Staatskirche andere Kirchen zumindest Tolerierung und die Gesellschaftstheologie bekam in den folgenden Jahrzehnten einen utilitaristischen Zug. Das freikirchliche Konzept des pluralistisch strukturierten Staates wurde zur Mehrheitsmeinung. Es wurde nun als gegeben hingenommen, dass die Gesellschaft aus einer Reihe von Gruppen und Religionsgemeinschaften gebildet wird, die voneinander abweichende Überzeugungen haben. Jeder Gruppe in der Gesellschaft, die eine nennenswerte Größe hatte, wurde unterstellt, dass sie das Bild des Staates auch mit prägte. Parallel dazu kam in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Erweckungsbewegung auf, die nicht zuletzt auch eine Missionsbewegung war. Van den Berg hält fest, dass die Erweckungsprediger keinen Unterschied zwischen innerer und äußerer Mission machten und weist auf den Zusammenhang dieses Missionsverständnisses mit dem Zerbrechen der Corpus-Christianum-Vorstellung hin.47 Nach Auffassung der ersten Evangelicals wurde man nicht in das Christentum hinein geboren, man musste sich vielmehr dafür entscheiden. Dem Missionsbegriff entsprach die Wahrnehmung der Gesellschaft als heterogenes Gebilde, in der Wahlfreiheit gegeben ist. Auch Chalmers hatte dieses universale Verständnis von Mission. Er wandte sich gegen

43 Vgl. ebd., 14, 167. 44 Schmidt, K. D.: Neue Züge im Bild des Bonifatius, E. M. Z. XI, (1954), 99, zit. n. Berg, ebd., 168. 45 Ebd. 46 Vgl. Berg: Constrained, 33. 47 Van den Berg macht dies am Beispiel des frühen Methodismus deutlich, der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts einer der Triebfedern der Erweckungsbewegung in Großbritannien war. (Ebd., 84) Wichtig ist es, sich in diesem Zusammenhang zu verdeutlichen, dass die britischen Methodisten erst gegen Ende des Jahrhunderts (1795) zur Freikirche wurden. Ihr universaler Missionsbegriff war mit ihnen in die Staatskirchen eingezogen und war auch in späteren Phasen der Erweckungsbewegung eine Gemeinsamkeit zwischen Landeskirchlern und Freikirchlern. Vgl. Chalmers, Thomas: The Utility of Missions Ascertained by Experience, Works XI, 221–245: 228f.

104

das Missverständnis der doppelten Prädestination, das eine alle Menschen einschließende Mission für unmöglich hielt. Hiermit war er ein typischer Vertreter des calvinistischen Flügels der Erweckungsbewegung, der sich ausdrücklich vom orthodoxen Hypercalvinismus distanzierte. „Keiner braucht sich so zu betrachten, als sei er ausgeschlossen aus der guten Absicht des Vaters im Himmel. [. . .] Wenn wir unseren Text ansehen, finden wir, dass er keine Ausgestoßenen kennt. Mit einem universalen Schwung bezieht er die gesamte Menschheit ein.“48

Und an anderer Stelle sagt er: „Trotz all dem, das so unintelligent gesagt worden ist über unseren finsteren und unbarmherzigen Calvinismus, wird der weite und unerwartete Straferlass jedem Geschöpf unter dem Himmel angeboten, sodass die Botschaft der Versöhnung rund um den Globus verbreitet werden kann und die Angebote der Einladung und des guten Willens von dem Gnadenstuhl droben jedem Individuum aus allen Familien auf der Erde hienieden herzlich angetragen werden müssen.“49

Van den Berg geht davon aus, dass die Corpus-Christianum-Vorstellung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine gewisse Renaissance erlebte. Ein Teil der Erweckungsbewegung war nun wieder von dem Ineinandergreifen von „christlicher“ Kultur und Mission überzeugt. Von ihm wurde die Ausdehnung der britischen Kolonialgebiete als Gewinn für die christliche Mission betrachtet.50 Bei Chalmers findet sich hingegen ein differenzierterer Umgang mit dem Gegenstand.51 Für ihn war die Gesellschaft als christliches Gemeinwesen keine Setzung, sondern ein Ziel, auf das es jetzt erst hinzuwirken gilt. Mission war ein Mittel, das Ziel zu erreichen. Dennoch lässt es sich nicht übersehen, dass es spätestens seit den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts der Corpus-ChristianumGedanke in der Erweckungsbewegung wieder an Bedeutung gewann.52 48 „No one individual needs to look upon himself, as shut out from the good-will of his Father in heaven [. . .] We look at our text, and find that it recognises no outcast. By one comprehensive sweep, it takes in the whole race of man“ Chalmers, Thomas: On the Universality of the Gospel Offer, Works X, 380–389: 390. Vgl. auch: Berg: Constrained, 87. 49 „In despite of all that has been so unintelligently said about our gloomy and relentless Calvinism, the wide and unexpected amnesty that is held forth to every creature under heaven, so as that the message of reconciliation may be made to circulate round the globe, and the overtures of welcome and good will from the mercy seat above, be affectionately urged on all the individuals of all the families of earth below“, Chalmers: Antiquity, Works XI, 155f. 50 Vgl. ebd., 33, 170f. 51 Vgl. 7.4. 52 Ein Beispiel hierfür ist die Argumentation mancher Evangelicals gegen die Katholikenemanzipation. (Vgl. 7.4) Sie traten einer juristischen und gesellschaftlichen Gleichstellung von Katholiken entgegen, weil ihrer Meinung nach der Katholizismus dem Evangelium widerspreche. Der Staat hatte in ihren Augen die Pflicht per Gesetz zu verhindern, dass solche unchristliche Überzeugungen in der Gesellschaft an Einfluss gewinnen. Diese Wiederbelebung der mittelalterlichen Vorstellung des christlichen Abendlanden durch einen

105

Von 1811 bis zu seinem Lebensende 1847 wurde Chalmers nicht müde zu betonen, dass es nichts wichtigeres gäbe als die Bekehrung einzelner Menschen zum christlichen Glauben. Berühmt geworden ist seine Aussage: „Für mich sollte das Heil einer einzigen Seele wertvoller sein, als die Befreiung eines ganzen Empires von der Armut.“53 An keiner Stelle lässt Chalmers jedoch erkennen, dass er die Diakonie für die Mission mediatisieren würde. Die Diakonie hatte bei ihm immer einen eigenen Wert. Dennoch hob er stets darauf ab, dass Kirche immer als missionarische und diakonische Gemeinschaft in Erscheinung zu treten hatte. Ja, wenn man zwischen beiden zu wählen hätte, müsse man dem Ersteren den Vorrang geben.54 Diese Möglichkeit war bei Chalmers allerdings nur eine theoretische. In der Tat kümmerte er sich wesentlich mehr um die Diakonie als um die Mission. Im Zusammenhang des obigen Zitates sprach Chalmers selbst davon, dass die Öffentlichkeit [im Jahr 1819] ihn nur als Sozialreformer wahrnahm.55 In der Bewertung dieser beiden Wesensäußerungen der Kirche steht er Wichern nah. Strohm weist darauf hin, dass es in der Erweckungsbewegung auch andere Zuordnungen von Diakonie und Mission gab. Hans Ernst von Kottwitz, der nicht ohne Bedeutung für die Innere Mission in Deutschland war, ordnete die Diakonie der Mission vor. Zuerst müsse der Arme in den Zustand von „Wohlstand und Glückseligkeit“ versetzt werden, erst dann könne er sein Ohr der göttlichen Botschaft öffnen.56 Flügel der Erweckungsbewegung wirkt bis heute nach. Die von manchen Evangelikalen veranstalteten Unterschriftensammlungen gegen die Errichtung von Moscheen sind ein Beleg dafür. Wenn Staatswesen selbst Teil des Christentums sind, dann wird die militärische Verteidigung dieser Staaten zur Verteidigung des Christentums selbst. Genau so wurde von manchen Evangelikalen der Irakkrieg von 2003 interpretiert. 53 Thomas Chalmers an James Brown, 30 Januar 1819, zit. n. Hanna: Memoirs II, 342; vgl. Anmerkung 55. 54 Chalmers, Thomas: The Influence of Bible Societies, on the Temporal Necessities of the Poor, Edinburgh 31817, 6 und Ders.: A Sermon, Preached Before the Society for Relief of the Destitute Sick, in St. Andrew’s Church, Edinburgh, on the Lord’s Day, April 18. 1813, Edinburgh 1813, 11. 55 „Ich bin sehr in Anspruch genommen durch meine Vorkehrungen für eine neue Parochie [. . .] ein Nebeneffekt [. . .] wird die Vernichtung ihrer Armut sein. Die Öffentlichkeit sieht dies als mein einziges Ziel [. . .] aber obwohl die Wiederherstellung des parochialen Systems in unseren großen Städten diese Veränderung bewirken wird, neben vielen anderen [. . .] sollte für mich doch das Heil einer einzigen Seele wertvoller sein, als die Befreiung eines ganzen Empires von der Armut.“ „I am greatly engrossed by my arrangements in a new parish [. . .] one collateral effect [. . .] will be the overthrow of its pauperism. The public are looking upon this as my only aim [. . .] but though the restoration of the parochial system to our great cities would effect this reformation, as well as many others, yet [. . .] I should count the salvation of a single soul of more value than the deliverance of a whole empire from pauperism.“ Thomas Chalmers an James Brown, 30 Januar 1819, zit. n. Hanna: Memoirs II, 341f. 56 Strohm, Theodor: Entwicklungslinien einer Theologie der Diakonie im 19. Jahrhundert, in: Ders.: Diakonie in der Perspektive der verantwortlichen Gesellschaft. Beiträge zur sozialen Verantwortung der Kirche II, Volker Herrmann (Hg.), Heidelberg 2003, 12–47: 18.

106

5.1.3 Die protestantische Synthese Chalmers Vorstellung, dass die Kirchen auch für das Wohlergehen jedes Menschen innerhalb ihrer Parochien verantwortlich waren stammt aus der landeskirchlichen Tradition. Insbesondere in der calvinistischen Reformation sahen sich die protestantischen Landeskirchen verantwortlich für nahezu alle Lebensbereiche der Bewohner des Staatswesens. Allerdings respektierten die Reformatoren Calvin und Knox keine abweichenden Überzeugungen. Andersdenkende wurden rigide verfolgt. Ihre Kirchen boten einen Lebensentwurf, den sich alle Staatsbürger zu eigen machen mussten. Diese Praxis korrigierte Chalmers mit den Argumenten der Freikirchler als den Grundsätzen der Reformation widersprechend. Chalmers Konzept ist aber zugleich eine Korrektur des freikirchlichen Ansatzes. Die freikirchliche Staatstheorie des 17. Jahrhunderts, die von der Partizipation aller Staatsbürger an der Gestaltung der Gesellschaft ausging, vernachlässigte die Voraussetzungen, die dies erst ermöglichen. Sie ignorierte die Armen, die auf Grund ihrer Lebenslage nicht in der Lage sind hieran teilzuhaben. In der Tradition der Reformatoren, sah Chalmers, dass die Kirchen hier die Anwälte der Armen sein müssen. Die Freikirchler des 17. Jahrhunderts hatten das weltanschauliche Selbstbestimmungsrecht eingefordert. Die von dem Staat gewährleistete Wahlmöglichkeit war die Konsequenz dieser Forderung. Wenn die Kirchen sich aber verantwortlich wissen für jeden Menschen in ihrem Einzugsbereich, dann tragen sie auch Sorge für Rahmenbedingungen, die es jedem Menschen ermöglichen, eigenverantwortlich zu leben bis hin zur Mitgestaltung der Gesellschaft, deren Teil er ist und die auch ihn mitbestimmt. In seinen Publikationen postulierte Chalmers faktisch auch eine angemessene Entlohnung der Arbeiter und ein flächendeckendes Bildungsangebot als notwendige Voraussetzung für eine Teilhabe an den gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen. Die Kirchen trügen mit die Verantwortung, dass dies gewährleistet sei.57

5.2 Der theologische Ansatz 5.2.1 Die Perspektive des Reiches Gottes Chalmers Erwartung des Reiches Gottes umgriff sein gesamtes Konzept zur Reform der Gemeinden, Kirchenstrukturen und der Gesellschaft. Sie ist von daher der theologische Ausgangspunkt seines diakonischen Ansatzes.58 Dieser eschatologische Zugang zur Gestaltung der Welt ist eines 57 Vgl. 7.5. 58 Im Gegensatz zu der hier vorgenommenen Zuordnung geht Gäbler davon aus, dass bei Chalmers die „Reich-Gottes-Erwartung“ und die „kirchlichen Aktivitäten völlig von-

107

der Charakteristika der Evangelicals. Die Reich-Gottes-Hoffnung der Erweckungsbewegung prägte die protestantische Eschatologie des 20. Jahrhunderts mit. Vor dem Hintergrund ihrer Entstehung wird deutlich, welchen Beitrag die Evangelicals und ihre Vorläufer hierdurch für die Theologie der Gegenwart geleistet haben; denn die Reformatoren kannten eine vergleichbare Gewichtung von Gottes Handeln an dieser Welt noch nicht. Sie legten allerdings schon die Grundlage für das, was dann erst im Puritanismus, Pietismus und der ihnen folgenden Erweckungsbewegung entfaltet wurde.59 Luther hatte ein pessimistisches Bild von dem noch ausstehenden Teil der Geschichte. Das eschatologische Wirken Gottes zeigte sich seiner Meinung nach aber bereits am Glaubenden. Hier werde die Bedeutung des Kreuzes schon konkret. Die Menschen werden alle gleich und frei zum Dienst am Nächsten.60 In der Art und Weise wie Luther dies beschrieb findet sich bereits der Ansatz für die spätere Umsetzung der hier implizierten Anthropologie in einem neuen Gesellschaftsverständnis. Zwingli wollte noch mehr als Luther die Christenheit seiner Gegenwart einander getrennt“ blieben. (Gäbler: Auferstehungszeit, 48.) Das ist aber nur insofern richtig, als er im Zusammenhang mit seinen Initiativen nie vom Reich Gottes sprach. Es ist hier kein deduktiver Prozess zu beobachten. Seine diakonischen Projekte waren keine Operationalisierungen von abstrakteren Erkenntnissen. Er beschritt vielmehr den induktiven Weg. Angesichts von konkreten Problemen entfaltete er einen Maßnahmenkatalog, wie ihnen begegnet werden sollte. Dieses pragmatische Vorgehen kann als typisch für die angelsächsische Erweckungsbewegung seiner Zeit gelten. (Vgl. hierzu 5.2.2) Chalmers eschatologische Anschauungen und seine Diakonie gehörten dennoch zusammen, ungeachtet der Tatsache, dass er selbst sich nicht zu diesem Zusammenhang geäußert hat. Systematische Theologie und Diakonie hatte bei ihm einen unterschiedlichen Sitz im Leben und selbst seine systematisch Theologischen Erörterungen waren bei ihm mehr Abhandlungen einzelner Fragestellungen als ein geschlossenes System. (Vgl. hierzu: Voges, Friedhelm: Chalmers’ Thinking Habits: Some Lessons from his Theology, in: Cheyne: Practical and the Pious, 157–165) Der Pragmatismus der Evangelicals war zweifellos auch eine Hypothek, die sie den nachfolgenden Generationen dieser Tradition hinterlassen haben. Weniger theologisch gebildete Erweckungsprediger hatten schon zu Chalmers Zeit Mühe, immer den Zusammenhang zwischen dem ihrer Meinung nach ethisch gebotenen und Gottes erlösendem Werk deutlich zu machen. Die Folge davon war eine gesetzliche Verkündigung. 59 Zur puritanischen Eschatologie vgl. Tuveson, Ernest Lee: Millennium and Utopia. A Study in the Background of the Idea of Progress, New York 1964, 71–112. Zur reformatorischen und pietistischen vgl. Kunz, Erhard: Protestantische Eschatologie. Von der Reformation bis zur Aufklärung, Freiburg/Basel/Wien 1980 und Egelkraut, Helmuth: Die Zukunftserwartung der pietistischen Väter, Giessen/Basel 1987. Aus den jüngsten Publikationen zur Eschatologie der Erweckungsbewegung und ihrer Vorgänger ragt Ulrich Gäblers Beitrag zum vierten Band der „Geschichte des Pietismus“ hervor. Dort findet sich auch weiter Literatur: Gäbler, Ulrich: Geschichte, Gegenwart, Zukunft, in: Lehmann: Glaubenswelt, 19–48. 60 Vgl. Strohm, Theodor: „Theologie der Diakonie“ in der Perspektive der Reformation. Zur Wirkungsgeschichte des Diakonieverständnisses Martin Luthers, in: Theologie der Diakonie. Lernprozesse im Spannungsfeld von lutherischer Überlieferung und gesellschaftlich-politischen Umbrüchen, Ein europäischer Forschungsaustausch, Paul Philippi/Theodor Strohm (Hg.), Heidelberg 1989, 175–208: 179.

108

durch das Wort Gottes erneuern. Dort, wo er diese Veränderung bereits wahrnahm, sah er, dass das Reich Gottes die Welt auch äußerlich schon veränderte.61 Für Calvin brach ebenfalls das Reich Gottes mit dem durch den Heiligen Geist gewirkten Handeln der Christen an. Mehr als Luther betonte er die dynamische Dimension des Glaubens. Glauben war für ihn ein Prozess, der sein Ziel in der Vollendung der Schöpfung hatte. So ging er auch davon aus, dass die Kirche aktiv daran beteiligt sei, die Welt zu ihrem Ziel zu führen, wenngleich dies noch in einer verhüllten Form geschehe.62 Obwohl jeder der Reformatoren die Prägung des Gemeinwesens auf die eine oder andere Weise schon in Angriff genommen hatte, machten es erst die gesellschaftlichen Umbrüche des 17. Jahrhunderts, die z. T. von Kriegen begleitet waren, möglich, dass die Mitgestaltung der Gesellschaft für alle ein Schwerpunkt christlich motivierten Handelns werden konnte. Die überkommene Struktur vieler europäischer Staaten geriet ins Wanken. Das Bürgertum konnte nun mehr und mehr nicht allein die Politik ihrer Stadt bestimmen, sondern auch Einfluss auf ganze Staaten nehmen. Das erstarkende Selbstbewusstsein der Bürger gegenüber den alten aristokratischen Eliten wurde vielerorts durch wirtschaftliche Erfolge im Überseehandel und neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse genährt. Die lange vorherrschende denkerische Heteronomie wurde sukzessive verdrängt durch die Möglichkeit, eigene theologische und weltanschauliche Überzeugungen zu entfalten und zu vertreten. Das Jahrhundert des Dreißigjährigen Krieges war für den Protestantismus eine Phase folgenschwerer Weichenstellungen. Mit ihm setzte eine neue Epoche ein, das Zeitalter der Aufklärung. Es ist auch dadurch charakterisiert, dass in ihm weit über die Grenzen der eigentlichen Aufklärung hinaus, emanzipatorische Ansätze in Kirche und Gesellschaft entwickelt und umgesetzt werden konnten.63 Mit Einschränkungen kann man konstatieren, dass die Reformation nun erst vollendet wurde, indem das Potenzial des reformatorischen Ansatzes für weitere Bereiche fruchtbar gemacht wurde.64 Die protestantische Theologie wurde insofern hier nicht verändert aber neu gewichtet. Die Erkenntnis, dass ungerechte Verhältnisse, die Jahrhunderte lang das soziale Leben bestimmt hatten, sich ändern können, eröffnete ihr neue Perspektiven. Das Neue, das uns in der Eschatologie der Barockzeit begegnet, war nach Tuveson gegenüber dem Reformationsjahrhundert der Wechsel von der Möglichkeit einer Verbes-

61 Vgl. Kunz: Eschatologie, 28. 62 Vgl. Ebd., 36f. 63 Auf die Tatsache, dass es auch gegenläufige Tendenzen in dieser Epoche gab, wird im nächsten Abschnitt, 5.2.2, eingegangen. 64 Vgl. Strohm: Ausformung, 189. Gäbler hebt hervor, dass der Pietismus mit seiner eschatologischen „‚Hoffnung auf bessere Zeiten‘ [. . .] nachdrücklich auf eine vernachlässigte Komponente der reformatorischen Theologie“ hinwies. Ders.: Geschichte, 19.

109

serung der Welt zur Gewissheit ihrer weiteren Entwicklung.65 Die Gesellschaft wurde von da an nicht mehr statisch sondern dynamisch verstanden. So sahen Puritaner und Pietisten des 17. und 18. Jahrhunderts in den neuen Rahmenbedingungen, die es ihnen ermöglichten ganze Gemeinwesen mit christlichen Werten prägen zu können, ein Werk Gottes. Es war für viele von ihnen ein Anbruch oder Vorbote einer globalen Heilszeit als letzte Phase der Geschichte. Die Eschatologie bekam damit eine pointiert geschichtsimmanente Dimension. Das erwartete Reich Gottes wurde häufig mit dem in Apk 20,1–6 erwähnten Millennium gleichgesetzt. Mit diesem wurde entweder vor der Wiederkunft Christi gerechnet (Postmillenarismus) oder danach (Praemillenarismus).66 Die Zeitspanne der tausend Jahre konnte wörtlich oder allegorisch verstanden werden. Ihre eigenen Aktivitäten sah ein wesentlicher Teil der Puritaner, Pietisten und in ihrer Folge der Evangelicals schon als Antizipation des Reiches Gottes. Praxis pietatis und practical Christianity waren zentrale Begriffe ihres Verständnisses des Christentums. In England war Thomas Brightman (1562–1607) der Erste, bei dem sich die neu akzentuierte Eschatologie zeigte. 1607 veröffentlichte er einen Kommentar zur Johannesoffenbarung,67 in dem er den Beginn des Tausendjährigen Reiches mit dem Jahr 1300 ansetzte. Mit dieser Veröffentlichung rückte er die schon in zurückliegenden Jahrhunderten immer wieder artikulierten chiliastischen Erwartungen in das Zentrum der Kirche. Brightman rechnete mit einer deutlichen Verbesserung der Zustände in England, Frankreich und Deutschland in allernächster Zukunft. Darunter verstand er u. a. das Ende der Macht des Papstes und der Bedrohung durch die Türken sowie die Bekehrung der Juden zum Christentum. Damit eröffnete er weiten Kreisen in Großbritannien eine theologische Perspektive auf gesellschaftliche Entwicklungen. Noch einflussreicher als Brightmans Schrift wurde Joseph Medes68 (1586–1638) Kommentar der Johannesapokalypse.69 Mede war Theologieprofessor in Cambridge. In seinem 1627 erschienenen Buch entfaltete er die Vorstellung des Millenniums als Höhepunkt der irdischen Geschichte. Mede ging davon aus, dass die apokalyptischen Abschnitte der Schrift nicht Ereignisse beschrieben, die hintereinander angeordnet werden müssten. Man müsse vielmehr von einer Zeitgleichheit mehrerer Phänomene ausgehen. Somit ermöglichte er, viele Entwicklungen seiner Zeit im Licht der Bibel zu deuten. 65 Tuveson: Millennium, 69f. Anders Gäbler, der eine pessimistische und nicht eine optimistische Grundstimmung als Voraussetzung der sich nun entwickelnden eschatologischen Entwürfe sieht. Ders.: Geschichte, 21. 66 Das post- bzw. prae-bezieht sich auf die Wiederkunft nach oder vor dem tausendjährigen Reich. 67 Apocalypsis apocalypseos. 68 Andere Schreibweise: Mead. 69 Mede, Joseph: Clavis apocalyptica ex innatis et insitis visionum characteribus eruta et demonstrata, Cantabrigia 1627.

110

Charakteristisch für seinen Ansatz war, dass er von einer Hoffnung auf eine positive Entwicklung der ganzen Menschheit geprägt war. Das Tausendjährige Reich würde eine Zeit großen Glücks sein. Die Reformation stellte Mede in den Zusammenhang des zu erwartenden Gottesreiches, das er in der Johannesoffenbarung beschrieben fand. Sie wurde von ihm folgendermaßen charakterisiert: „Als die Stimme des vorangehenden Engels ertönte, geschah es, dass jetzt nicht mehr nur einzelne Menschen, sondern ganze Provinzen und Stämme auf einmal das Joch des Tieres abschüttelten zur Rettung und Reformation der Religion.“70 Gottes Handeln an der Welt erneuert hier offensichtlich nicht nur Individuen, sondern auch größere Gemeinwesen. Das Vertrauen auf die Providenz Gottes bezog Mede nun nicht allein auf die Vervollkommnung des Glaubenden, sondern ebenfalls auf die der ganzen Schöpfung. Der Bibel entnahm er, dass auch ihre Übel in absehbarer Zeit beseitigt sein werden. Gott war bei Mede das Subjekt des teleologischen Fortschritts der Welt; dennoch waren die Menschen nicht nur passive Nutznießer dieser Entwicklung. Indem Gott die Menschheit der Vollendung entgegen führt, bekommen sie eine Rolle in seinem Werk an der Welt. 1643 veranlasste das von Puritanern dominierte britische Parlament die Übersetzung von Medes Werk ins Englische.71 Kein Geringerer als William Twisse (1578?–1646) der spätere Vorsitzende der Synode von Westminster, schrieb ein Vorwort dazu. 1647 verabschiedete diese Synode die Westminster Confession, die bis heute bedeutendste puritanische und presbyterianischen Bekenntnisschrift. In Medes Buch fanden diese britischen Calvinisten augenscheinlich die Kategorien, mit denen sie die politischen Umbrüche ihrer Zeit beschreiben konnten. Zwischen 1653 und 1658 stand der Kongregationalist Oliver Cromwell (1599–1658) als Lord Protector an der Spitze einer Republik in Großbritannien.72 In ihr sollte der Staat als gottgefälliges Gemeinwesen73 Wirklichkeit werden. Cromwells Seelsorger John Owen (1616–1683) machte deutlich, wie sehr die Politik des Lord Protectors von Medes Eschatologie bestimmt wurde. Aus seinen Ausführungen über die Bewohner des Millenniums kann man unschwer das Ziel der Cromwellschen Politik heraushören: „Ein herrlicher Rahmen der Regierung und Politik ist unter ihnen aufgerichtet und die Masse seiner Menschen neigt zu einem ordentlichen Gemeinwesen als feste Grundlage und Basis für ihre Regierung.“74 70 „Men not now singely, as came to passe at the voyce of the foregoing Angel, but by whole Provinces and Tribes at once, every where shaking off the yoake of the Beast for the vindication and reformation of Religion.“ Mede: Key, 95. 71 Der englische Titel war: The Key of the Revelation (London 1643). 72 Die Monarchie war zeitweise abschafft worden. 73 godly commonwealth. 74 „A glorious frame of Government and Politie is erected amongst them and the multitudes of their people are disposed into an orderly Commonwealth, to be a firm foundation and bottome, for the Government amongst them.“ Owen, John: Ogranon Ogrania. The Shaking and Translating of Heaven and Earth, London 1649, 10.

111

Aber nicht nur politische Aktivitäten fanden in der anders gewichteten Eschatologie eine theologische Grundlage. In der Barockzeit begegnet uns auch ein neuer Zugang zur Schöpfung. Hier ist nun nicht mehr der Mensch der Mittelpunkt. Diese Abkehr von einer anthropozentrischen Kosmologie findet sich auch in der Theologie der Puritaner wieder. Ihr Theozentrismus integrierte die neue Weltwahrnehmung und ließ Raum für naturwissenschaftliche Zugänge zur Welt. Tuveson geht davon aus, dass eine Anzahl von barocken Chiliasten ihre Gegenwart als ein Zeitalter „der allgemeinen Aufklärung“ verstand „sowohl in Bezug auf theologische als auch auf säkulare Themen“. Dies sei die „Vorbereitung für eine aufziehende Zeit des Millenniums. Das Millennium selbst wurde dann als ein wahres Utopia verstanden, als eine ‚himmlische Stadt der Virtuosen‘. Hier würden selbst solche menschlichen Aktivitäten wie die Wissenschaft wachsen und effizienter werden.“75

So konnte dann auch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Robert Boyle (1627–1691) die Forschungsergebnisse der Naturwissenschaftler auf Gott zurückführen: Er „leitet sie zu jenen erfreulichen und folgenschweren Hinweisen, die eine gewöhnliche Fähigkeit und ein gewöhnlicher Fleiß so verbessern kann, dass er solche Dinge tun kann und solche Entdeckungen machen kann aufgrund von ihnen, wie beide und auch die Person selbst, deren Wissen auf diese Weise zugenommen hat, kaum sich als möglich hätte vorstellen können. [. . .] als ob Gott es darauf angelegt hätte, Philosophen demütig zu halten und (obwohl er immer noch beständigem Fleiß angemessene Ermutigung zukommen lässt) sich selbst den Offenbarer der herausragenden Geheimnisse der Natur bleiben lässt.“76

Ernest Tuveson sieht in diesen eschatologischen Überzeugungen des 17. Jahrhunderts einen der Ursprünge der aufklärerischen Vorstellung des unaufhaltsamen kulturellen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts.77 Auch wenn man keinen Zusammenhang von Ursache und Wir75 „There are, a number of millennialists pointed out, evidences that God has brought about an age of general enlightenment in both theological and secular matters as the preparation for an approaching millennial era. The millennium itself came to be considered as a true utopia – a ‚heavenly city of the virtuosi.‘ Which the activities of men even in such fields as science would be enlarged and made more efficient.“ Tuveson, IXf. 76 „directing them to those happy and pregnant hints, which an ordinary skill and industry may so improve, as to do such things, and make such discoveries by virtue of them, as both others, and the person himself, whose knowledge is thus increased, should scarce have imagined to be possible [. . .] as if God designed to keep philosophers humble, and (though he allow regular industry sufficient encouragement, yet) to remain himself dispenser of the chief mysteries of nature.“ Boyle, Robert: Works of the Honourable Robert Boyle II, London 1772, 61f. 77 Tuveson: Millennium, S. XII; Einen entsprechenden Zusammenhang sieht Benz zwischen der Eschatologie der Württembergischen Pietisten und dem Gedanken der Entwicklung der Geschichte bei Schelling und Hegel. Benz, Ernst: Schellings theologische Geistesahnen, Mainz/Wiesbaden 1955, 50f.

112

kung zwischen dem barocken Chiliasmus und dem Fortschrittsoptimismus der Aufklärung sehen will, kann man zumindest das gleichzeitige Auftreten der beiden Phänomene nicht leugnen. An der Entstehung des modernen Weltbildes, in dem jedem Menschen grundsätzlich unterstellt wird, zur Formung seiner Umgebung beitragen zu können, sind die protestantischen Kirchen ohne Zweifel beteiligt gewesen.78 Ein Nachfolger Joseph Medes in Cambridge war Henry More (1614–1687). Auch More war Chiliast. Doch anders als Mede deutete er vieles im letzten Buch der Bibel allegorisch.79 Damit bereitete er die Variante des Postmillenarismus vor, welche dann im 18. und 19. Jahrhundert die Eschatologie der Erweckungsbewegung bestimmen sollte. Mit ihrer Interpretation des ansatzweise schon in der Gegenwart anbrechenden Reiches Gottes standen sie in der Tradition der Reformatoren, die davon ausgingen, dass das Eschaton mit dem Kommen Christi einsetzte. Aber weit mehr als Luther, Zwingli und Calvin sahen sie sich durch diese Erkenntnis zu weitgespannten Aktivitäten bestimmt, die auf eine Mitgestaltung der Welt abzielten. Die neue Gewichtung der Eschatologie bahnte sich zur gleichen Zeit wie in England auch auf dem europäischen Festland an. Einer ihrer Protagonisten war Johann Valentin Andreae (1586–1654). Er entfaltete in seiner Schrift Christianopolis80 (Christenstadt) zum ersten mal in der lutherischen Tradition das Konzept einer neuen Gesellschaft im Horizont der eschatologischen Hoffnung. Die „Christenstadt“ sollte gänzlich von christlichen Maßstäben geprägt sein. Gleichzeitig versuchte er selbst eine Gemeinschaft zu gründen, die nach diesem Modell strukturiert sein sollte. Ziel seiner Bemühungen war aber nicht die Propagierung des Rückzugs der Christen aus dem säkularen Bereich, sondern vielmehr genau das Gegenteil die „Generalreformation der ganzen Welt“. Die Pietisten Philipp Jakob Spener (1635–1705) und August Hermann Francke (1663–1727) knüpften bewusst an Andreae an. Sie verstanden ihre weitgespannten Aktivitäten als Umsetzung dessen, was schon Andreae beabsichtigt hatte.81 Frankes Werk in Halle kann als das Modell einer Christianopolis angesehen werden. In etwas anderer Weise setzte auch der in Halle ausgebildete Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760) 78 Vgl. 2.4. 79 Vgl. More, Henry: Conjectura cabbalistica or, a conjectural essay of interpreting the minde of Moses, according to a threefold cabbala, (Nachdruck der Ausgabe von 1653) Bristol 1997. 80 Andreae, Johann Valentin: Christianopolis (1619). Originaltext und Übertragung nach D.S. Georgi (1741), eingeleitet v. Richard van Dülmen (Hg.), Stuttgart 21982. 81 Spener am 8. Oktober 1692: „Ich wüsste nicht, wen unter den Theologen im ersten Teil dieses Jahrhunderts ich ihm vorziehen sollte [. . .] Oft wollte ich seine Christianopolis oder etwas ähnliches herausgeben.“ Zit. n. Beyreuther, Erich: Geschichte des Pietismus, Stuttgart 1978, 49. Francke macht Andreaes Konzept der „Generalreformation“ ausdrücklich zur Grundlage seiner eigenen Unternehmungen. Vgl. Francke, August Hermann: Der große Aufsatz (1704), O. Podczeck (Hg.), Berlin 1962. Zu Speners Beschreibung seiner Hoffnung mit chiliastischen Kategorien vgl. Gäbler: Geschichte, 23–25.

113

diese Linie fort. Die durch ihn an vielen Orten entstandenen Brüdergemeinen sollten als Netzwerk von „Gottesrepublicken“ zur Umgestaltung der Welt beitragen.82 So vollzogen sich auch die weitreichenden diakonischen und missionarischen Aktivitäten der Evangelicals des beginnenden 19. Jahrhunderts in dem Bewusstsein von Gottes eschatologischem Handeln an der Welt. Das Reich Gottes, die Erwartung einer erneuerten Welt, in der universaler Friede herrscht, gab Chalmers Ansatz die Richtung vor.83 Den Weg dorthin beschrieb er als einen kontinuierlichen Prozess, während dem es eine Zunahme der „christlichen“ Art zu Empfinden auf der Erde geben wird,84 welche letztlich „die öffentliche Meinung“85 bestimmen wird. Das gleiche Ethos, was den einzelnen Christen bestimmt, wird dabei zum Maßstab des Handelns von ganzen Nationen. Die Bibel wird damit auch zur Grundlage einer Sozialethik.86 Gott ist Subjekt dieses Prozesses, aber die Regeneration der Welt vollzieht sich nicht ohne Beteiligung der Menschen. Sie sind in vitaler Weise einbezogen in die Vollendung des Werkes Gottes.87 Von Bedeutung ist hierbei besonders die „Philanthropie von denkenden und intelligenten Christen“.88 In den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft hat jeder von ihnen seinen Beitrag zu leisten, dass die neue Weltordnung Gestalt gewinnt. Da wo sie sich etwa für den Weltfrieden einsetzen würden, ließe sich sagen: „Das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit wäre eine der feinsten Sammlungen von christlicher Eloquenz, aufgeklärter Moral und solider politischer Philosophie, die jemals der Welt präsentiert wurde.“89

82 Vgl. Strohm: Theologie, 192. 83 In einer Predigt über „Es wird keine Nation mehr gegen die andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“ (Jes 2,4b) entfaltete er diesen Gedanken. Chalmers, Thomas: Thoughts on Universal Peace: A Sermon Delivered on Thursday, January 18. 1816, Edinburgh 21816. Die vollständige deutsche Übersetzung dieses Textes findet sich im Anhang. 84 „the progress of Christian sentiment upon earth“ ebd., 28. 85 „the public opinion“ ebd., 37. 86 „Was des weiteren die Ausrottung des Krieges verhindert ist eine Einstellung, die anscheinend weltweit übernommen wurde, dass die Gesetze und Verheißungen des Evangeliums zwar dem einzelnen Individuum gelten, nicht aber Nationen von Individuen. [. . .] Wenn Geduld eine Tugend des Individuums ist, dann ist Geduld auch eine Tugend für die Nation.“ „But again, another obstacle to the extinction of war, is a sentiment which seems to be universally gone into, that the rules and promises of the gospel which apply to a single individual, do not apply to a nation of individuals. [. . .] If forbearance is be the virtue of an individual, forbearance is also the virtue of a nation.“ Ebd., 29. 87 Hierin folgte Chalmers Jonathan Edwards, der von der umfassenden Wirksamkeit Gottes gesprochen hatte. Die Pneumatologie war bereits bei ihm der Schlüssel zu einer Reform der Gesellschaft. 88 „the philanthropy of thinking and intelligent Christians“ ebd., 7. 89 „The fruit of the united labours of all would be one of the finest collections of Christian eloquence, and of enlightened morals, and of sound political philosophy, that ever was presented to the world.“ Ebd., 37f.

114

Chalmers ist damit den „Postmillenaristen“ seiner Zeit zuzuordnen, welche die Parusie nach einem Zustand des irdischen Friedens erwarteten.90 Das Denken wesentlicher Vertreter der Erweckungsbewegung war von dieser Vorstellung bestimmt. Hierzu zählten Jonathan Edwards, Philip Doddridge und William Carey ebenso wie John Willison und John Erskine,91 genauso wie schon Spener, Francke und Zinzendorf. Gäbler geht davon aus, dass bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Mehrheit der Evangelicals in Großbritannien und auf dem europäischen Kontinent eine solche Eschatologie hatten.92 Bezeichnend für den Postmillenarismus ist ein Optimismus im Blick auf die Verbesserung der Zustände in der Welt und auf die Ausbreitung des christlichen Glaubens. Die diakonischen und missionarischen Aktivitäten der klassischen Erweckungsbewegung waren von der Überzeugung getragen, dass Gott durch die Glaubenden ein großes Werk tut, welches die Welt nachhaltig verändert. Bebbington beschreibt nun eine „Richtungsänderung“ einer Gruppe der Evangelicals, die um das Jahr 1830 einsetzte. „Nicht alle Bereiche der Erweckungsbewegung waren in gleicher Weise davon betroffen, aber die Evangelicals, die auf den neuen Weg einschwenkten, traten in eine Phase, in der viele ihrer früheren Vorstellungen durch andere ersetzt wurden.“93

Die Bewegung bekam einen anderen Charakter, weil ihre Rahmenbedingungen sich veränderten. Im Zuge der Umstrukturierung des ländlichen Raumes und der schnell wachsenden Städte zerbrach das überkommene Gefüge der Gesellschaft. Das zweite Viertel des 19. Jahrhunderts wurde zudem in vielen europäischen Ländern durch die Industrielle Revolution geprägt, einem sprunghaften Wachstum von Wirtschaft und neuen Technologien. Die Veränderungen wurden von vielen als bedrohlich empfunden. Romantik, wachsender nationaler und nicht zuletzt auch konfessioneller Partikularismus können als Reaktionen darauf verstanden werden.94 Mit dem industriellen Boom ging das Zeitalter der Aufklärung endgültig zu Ende.95 Gleichzeitig stellten sich während der Industrialisierung in der protestantischen Theologie die Weichen neu.

90 Vgl. hierzu Bauckham, Richard: Art. Chiliasmus IV Reformation und Neuzeit, in: TRE VII, Berlin/New York 1981, 737–745. 91 Willison und Erskine waren Protagonisten der schottischen Evangelicals. 92 Gäbler, Ulrich: Evangelikalismus und Réveil, in ders.: Pietismus, 27–84: 39. 93 „In the years around 1830 there was a change of direction in Evangelicalism. Not all sections of the evangelical community were equally affected, but those that took the new path entered a phase in which many of their previous assumptions were superseded.“ Bebbington: Evangelicalism in Britain, 75. 94 Vgl. Bebbington: Evangelicalism in Britain, 75–104. 95 Die Ablösung aufklärerischer Denkmodelle begann zwar schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts, dennoch hatte die Aufklärung Vertreter, die noch Jahrzehnte später wirkten. Ein grundlegende Wende setzte erst in der hier skizzierten Phase ein.

115

Auch die Erweckungsbewegung bekam nun z. T. eine andere Gestalt. Die Reich-Gottes-Vorstellung vieler Evangelicals wandelte sich. Gäbler geht davon aus, dass man in Deutschland jetzt eine „Bedeutungsschrumpfung“ des Reich-Gottes-Begriffs wahrnehmen konnte.96 Die Praemillenaristen gewannen nun mehr und mehr an Einfluss.97 Sie spalteten meist die geschichtsimmanente Dimension der Eschatologie auf in einen bereits präsentischen Teil, der sich nur auf Individuen bezog und einen futurischen mit universalen Ausmaßen. Die Postmillenaristen hatten ebenfalls den individuellen Aspekt des Reiches Gottes betont. Der Aufruf zur persönlichen Entscheidung für Christus und die Bekehrung waren zentrale Momente ihres Selbstverständnisses, dennoch stand bei ihnen das glaubende Individuum im Horizont eines schon jetzt universalen Handelns Gottes. Das Ende der Geschichte war für die Postmillenaristen nicht mehr fern, dennoch war das Reich Gottes noch ein Teil von ihr. Die Eschatologie der Praemillenaristen war in der Regel von der pessimistischen Vorstellung begleitet, dass die Welt bis zur Wiederkunft Christi nur einen Niedergang erleben würde.98 Mit der Parusie rechneten auch sie in naher Zukunft. Die Zeit bis dahin verstanden die Praemillenaristen als Kampfzeit. Mit den verschiedenen eschatologischen Erwartungen verbanden sich unterschiedliche politische Konzepte. Der Pessimismus der Praemillenaristen ließ sie auch zu einer direktiveren Politik tendieren.99 Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Edward Irving (1792–1834), der von 1819–1821 Chalmers Assistenzpfarrer in Glasgow war, später zu einem Protagonisten der neuen Richtung wurde. Die beiden Männer blieben bis zu Irvings Tod Freunde. Dennoch löste die weitere Entwicklung Irvings bei Chalmers auch Befremden aus.100 Ein weiterer Vertreter dieses Praemillenarismus war John Nelson Darby (1800–1882),101 der auch wesentlich zur Verbreitung des Ansatzes in Mitteleuropa beitrug. Die im Blick auf den weiteren Gang der Geschichte pessimistische Eschatologie Irvings und Darbys prägt bis heute einen Teil der Evangelikalen.

96 Gäbler: Geschichte, 38. 97 Vgl. Hempton, David N.: Evangelicalism and Eschatology, in: Journal of Ecclesiastical History 31, 1980, 179–194. 98 Die Erwartung der Wiederkunft Christi vor dem Anbrechen des Reiches Gottes musste und muss nicht zwingend eine pessimistische Beurteilung der geschichtlichen Entwicklung mit sich bringen. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass im 19. Jahrhundert die Mehrzahl der Praemillenaristen die Entwicklung der Welt so einschätzten. 99 Vgl. 7.4. 100 Vgl. Hanna: Memoirs III, 160. Von 1822–1831 war Irving Pfarrer der Gemeinde der Schottischen Kirche in London. Danach wurde er Mitbegründer der Katholisch Apostolischen Kirche. Neuere biographische Studien sind: Dallimore, Arnold: Forerunner of the charismatic movement: The Life of Edward Irving, Chicago 1983 und Merricks, William: Edward Irving: The Forgotten Giant, East Peoria 1983. 101 Darby war Mitbegründer der Christlichen Versammlung auch Brüderbewegung genannt (Brethren Movement).

116

Konzepte durch die die Perspektive auf gesellschaftliche Veränderungen eingeschränkt wurden, gab es auch auf dem europäischen Festland. Der vom französischen Quietismus beeinflusste Gerhard Tersteegen (1697–1769) sprach ebenfalls nur von einem Handeln Gottes am Individuum und Johann Albrecht Bengels (1687–1752) Chiliasmus schien zunächst den Rückzug der Christen aus der Öffentlichkeit zu befördern.102 Er und seine württembergischen Anhänger brachten jedenfalls nicht solche diakonischen Projekte auf den Weg wie Spener und der Hallische Pietismus. Tersteegens und Bengels Ansätze sind allerdings einem anderen historischen Kontext zuzuordnen als der von Irving und Darby propagierte. Der Vergleich des Rheinländers mit Darby zeigt zudem wodurch sich die individualistische Soteriologie des letzteren von ihren kontinentalen Vorgängern unterschied. Tersteegens Frömmigkeit war keine Opposition gegen eine Theologie mit politischer Dimension, dieser Aspekt war bei ihm schlicht ausgeblendet. Darby dagegen hatte eine pointierte Sicht der Geschichte, welche die Vorstellung eines Handelns Gottes in der Gegenwart jenseits der Kirche als Irrlehre qualifizierte. Auch Bengels eschatologischer Ansatz besaß ein anderes Potenzial als sein späteres britisches Gegenstück. Er konnte im 19. Jahrhundert von Johann Christoph Blumhardt (1805–1880) zu einer Hoffnungstheologie für die letzte Phase der Geschichte modifiziert werden.103 Blumhardt verbindet in der Tat die weitgespannten Aktivitäten der barocken Pietisten im Zeichen des Reiches Gottes mit eschatologischen Ansätzen des 20. Jahrhunderts, die wesentlich auch die Mitgestaltung der Welt und die Parteinahme für die Benachteiligten im Blick haben. Der Graben, der noch zu Chalmers Lebzeiten in der Erweckungsbewegung aufbrach, war nicht auf die Evangelicals beschränkt. Er zog sich in der Folge durch den gesamten Protestantismus. Auf der einen Seite standen diejenigen, welche auf die Veränderungen der Epoche und insbesondere auf die sich politisch organisierenden Opfer der Industrialisierung mit Abgrenzung reagierten. Auf der anderen Seite waren die, die hier einen Auftrag für die Kirche und einen Ort des Wirkens Gottes sahen. Chalmers gehörte zur zweiten Gruppe. Er war überzeugt, an der 102 Zu Bengels Eschatologie vgl. Gäbler: Geschichte, 33–36. 103 Blumhardt rechnete mit einem weltweiten Handeln Gottes in der letzten Phase der Geschichte im Zeichen seiner Gnade, deshalb sollte für ihn das Handeln der Christen auch eine globale Perspektive haben: „Wichtig ist das, dass wir Christen uns den weiten Blick über die ganze Welt angewöhnen. Wir sind in der Tat keine rechten Christen, wenn der allgemeine Reichsblick uns nicht beseelt.“ „Völkerweise will Er sie haben, völkerweise sollen sie Ihm dienen, [. . .] natürlich so, dass die einzelnen Völker auch wieder mit allen anderen Völkern in einer Einheit zusammengeschlossen sind. [. . .] Stubenchristen, die nach der Welt nicht fragen, sind darum nicht die rechten. [. . .] Auch wenn Einzelne wollen so clubmäßig vereinigt sein – Armseligkeit! Weg damit!“ Blumhardt, Johann Christoph: Hausandachten I, Karlsruhe 1886, 307, ders.: Predigtblätter I, Stuttgart 1879, 155f.

117

Verbesserung der Welt beteiligt zu sein. Er rechnete mit einer grundlegenden Umgestaltung der Verhältnisse. Dennoch ging er nicht davon aus, dass sich die politischen Systeme verändern müssten. „Die irdischen Königreiche können zu Königreichen Gottes und seines Christus werden mit der äußerlichen Struktur der gegenwärtigen Regierungsformen [. . .] Deshalb muss es einen Weg geben, auf dem das Christentum in diese Struktur Einzug halten kann – einen Modus, durch den es alle ihre Teile und Glieder beseelen kann [. . .] einen Charme, durch den es [. . .] die Gesamtheit einer christianisierten Nation vom Thron der Monarchin bis zur Hütte des kleinen Bauern zusammenbinden kann unter dem Einfluss einer allen gemeinsamen Nächstenliebe.“104

Das Eschaton reichte bei ihm bis in die Gegenwart hinein. Chalmers bewahrte aber seine Orientierung an der reformatorischen theologia crucis davor, die Vollendung der Welt erzwingen zu wollen. So sah er die gegenwärtige Gesellschaft nicht als Theokratie.105 Nach Chalmers sollte die Konstitution des Staates von der Gefallenheit aller Menschen her verstanden werden. So sind die „Ordnungen einer menschlichen Regierung unverzichtbar für das Wohlergehen einer Gesellschaft“.106 Ohne sie würde die blanke Gewalt herrschen. Wenngleich Chalmers von einem Humanisierungsprozess der Gesellschaft ausgeht, so ist er doch auch davon überzeugt, dass dieser nur gradueller Natur ist. Prinzipiell unterscheidet sich die rechtsstaatlich orientierte Industriegesellschaft nicht von der steinzeitlichen. Egoismus, Bereicherung auf Kosten anderer und besonders in Kriegen, unmenschliche Brutalität lassen sich in beiden finden.107 Auch vom Großbritannien des 19. Jahrhunderts müsse man deshalb sagen: „Ein aufgeklärterer Sinn für das Nützliche mag die Öffnung von manch einem verheerenden Vulkan verschlossen haben, der sonst die äußere Gestalt der Gesellschaft verdorben und verwüstet hätte, doch immer noch existieren die glühenden Massen im Herzen der Gesellschaft. Es ist allein die Religion, die die wesentlichen Grundlagen der menschlichen Bosheit ausmerzen wird, und

104 „The kingdoms of earth may become the kingdoms of God and of His Christ with the external framework of these present governments [. . .] There must therefore be a way in which Christianity can accommodate itself to this framework – a mode by which it can animate all the parts and all the members of it [. . .] a charm by which it can [. . .] from the monarch’s throne to the peasant’s hovel, bind together the whole of a Christianized nation under the influence of one common charity.“ Aus einer Predigt zum Anlass des Todes von Königin Charlotte, zit. n.: Hanna: Memoirs II, 203. 105 Das Staatsverständnis praemillenaristischer Politiker konnte hingegen theokratische Züge aufweisen. Vgl. 7.4. 106 „how indispensable the ordinance of human government is to the well-being of society“ Chalmers, Thomas: The Importance of Civil Government to Society, and the Duty of Christians in regard to it. A Sermon Preached in St. John’s Church, Glasgow, on Sabbath, the 30th April, 1820, Glasgow 1820, 18. 107 Vgl. ebd., 12–14.

118

jedes Mittel, das der Religion ermangelt, wird nicht mehr tun, als ihr Aufwallen einzuschränken.“108

Trotzdem war Chalmers und mit ihm ein großer Teil der Erweckungsbewegung davon überzeugt, dass Gott bereits im Begriff ist, die Welt in umfassender Weise zu ihrer Vollendung zu führen. Die Hoffnung auf ein alle Menschen einschließendes Reich Gottes schlug sich in der Überzeugung nieder, dass die Kirche für das Wohlergehen jedes Menschen im Land auch die Verantwortung übernehmen kann. Sie sollte deshalb für alle da sein. In diesem Zusammenhang schenkte er den Strukturen und Erscheinungsformen der Kirche besondere Aufmerksamkeit, durch die die Ärmsten faktisch von ihr ausgeschlossen wurden. Die eschatologische Perspektive eröffnete ihm zudem Ansätze zur Reform der Gesellschaft, die auf den Abbau sozialer Ungerechtigkeit zielten. Er sah den Staat, in dem er lebte, bereits auf dem Weg ein godly commonwealth zu werden. Die Erwartung des Reiches Gottes verband sich mit der Hoffnung, dass durch Gottes Handeln die ganze Schöpfung und mit ihr jeder Mensch innerhalb der irdischen Geschichte zu ihrer Bestimmung kommen wird. Diakonie konnte in diesem Horizont den Menschen in seinen vielfältigen Bezügen wahrnehmen als Einheit von Leib und Seele sowie sozialer und spiritueller Dimension. Ein solches Verständnis des Reiches Gottes kann wie damals auch heute noch eine Brücke zwischen verschiedenen Kirchen und Traditionen sein. Diakonisches Handeln in Kirche und Gesellschaft hat bei Chalmers zuerst Gott als Subjekt und geschieht in dem Bewusstsein, dass sein Werk nicht nur eine individuelle sondern auch eine universale Dimension hat.

5.2.2 Enlightened Evangelicalism – Aufgeklärte Erweckungstheologie Während ca. 100 Jahren überschnitten sich Aufklärung und Erweckungsbewegung. Danach war das Zeitalter der Aufklärung zu Ende, die Erweckungsbewegung setzte sich, freilich in veränderter Form, fort. Im Schottland des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wo Thomas Chalmers aufwuchs, wurde das akademische Bildungssystem von Vertretern der Aufklärung dominiert. Jeder Student wurde hier mit aufklärerischen Fragestellungen und Methoden konfrontiert. Während dieses Studiums wurde Chalmers mit dem Instrumentarium ausgestattet, das ihn später zum eloquentesten Vertreter der Erweckungsbewegung in Schottland werden ließ. Seine Wende zum Evangelical war kaum eine Abkehr von den 108 „ [. . .] a more enlightened sense of interest, may have stopped the mouth of many a desolating volcano, which would else have marred and wasted the face of society, yet do the fiery materials still exist in the bosom of society. It is religion alone which will kill the elementary principles of human wickedness, and every expedient short of religion will do no more than restrain the ebullition of them.“ Ebd., 10.

119

aufklärerischen Idealen seiner Jugendzeit. Ihm ging es weiterhin um den Fortschritt des Einzelnen und der Gesellschaft. In diesem Prozess hatte für ihn nun aber der Zuspruch und Anspruch des Evangeliums einen zentralen Platz bekommen. In der Forschung vertrat man wie erwähnt lange Zeit die These, die Erweckungsbewegung müsse primär als Reaktion auf die Aufklärung und den von ihr geprägten Teil der Kirche verstanden werden.109 Das wurde durch die Tatsache genährt, dass antiaufklärerische Polemik an vielen Punkten der Bewegung zu finden war. Beyreuther vertrat schon 1963 diese Zuordnung, ging aber ebenfalls bereits davon aus, dass der Erweckungsbewegung von der Aufklärung „unverkennbar auch positive Impulse“ zuströmten.110 Dennoch wurde in der deutschsprachigen Forschung bis in die späten 80er Jahre des letzten Jahrhunderts die Erweckungsbewegung einhellig vor allem als Gegenpol zur Aufklärung wahrgenommen. Es gib wenige Evangelicals, die so wenig in dieses Bild der Erweckten passen wie Thomas Chalmers. Bei ihm trat allerdings nur etwas offen zu Tage, dass auch für andere Vertreter der Bewegung galt.111 Aufklärung und Erweckung waren keine Antipoden. Mit den Publikationen Ulrich Gäblers setzte auch in Mitteleuropa eine andere Wahrnehmung des Verhältnisses der beiden Phänomene ein.112 In 109 In den 90er Jahre wird diese These in modifizierter Form noch einmal von Karsten Ernst wiederholt: „Sicherlich verhielt sich die Erweckungsbewegung überall dort, wo sie mit der Aufklärung in Berührung kam, feindlich zu ihr. [. . .] Jedoch erklärt dies nur teilweise das Phänomen der Erweckungsbewegung in den angelsächsischen Ländern. [. . .] in den nordamerikanischen Besitzungen [. . .] trat Jonathan Edwards nicht so sehr der Aufklärung (Deismus), sondern dem Gewohnheitschristentum, dem so genannten ‚HalfWay Covenant‘, entgegen.“ Ernst: Auferstehungsmorgen, 17f. 110 Beyreuther: Erweckungsbewegung, 2. 111 Martin Greschat nennt den Freiherrn Hans Ernst von Kottwitz (1757–1843) als das augenfälligste Beispiel dafür, dass auch in Deutschland „aufgeklärte Zielsetzungen und erweckliche Überzeugungen [. . .] offenkundig“ ineinander übergingen. Von Kottwitz war ebenso wie Chalmers, bevor er zu einem Protagonisten der Erweckungsbewegung wurde, ein Anhänger der Aufklärung gewesen. Wesentliche Elemente seines späteren diakonischen Programms wurden schon in diesen frühen Jahren geprägt. Philanthropie war ebenfalls ein aufklärerisches Motiv, wenngleich die karitativen Projekte der Aufklärung in Deutschland nie die Dimension ihrer Nachfolger in der späteren Erweckungsbewegung erreichten. Greschat, Martin: Die Vorgeschichte der Inneren Mission, in: Jüllig, Carola/Röper, Ursula (Hg.): Die Macht der Nächstenliebe. Einhundertfünfzig Jahre Innere Mission und Diakonie 1848–1998, Berlin 1998, 46–57: 54; Vgl. auch zu Hans Ernst von Kottwitz: Maser, Peter: Hans Ernst von Kottwitz. Studien zur Erweckungsbewegung des frühen 19. Jahrhunderts in Schlesien und Berlin, Göttingen 1990. Wie bei John Wesley Aufklärung und Pietismus zu einer Synthese fanden, beschreibt Albert Outler. Ders.: Pietismus und Aufklärung: Alternativen zur Tradition, in: Dupré, Louis/Meyendorff, John/Saliers, Don E.: Geschichte der christlichen Spiritualität III, Die Zeit nach der Reformation bis zur Gegenwart, Würzburg 1997, 265–281: 277–280. Zum Einfluss der Aufklärung auf die amerikanische Erweckungsbewegung vgl. Noll, Mark A.: The Scandal of the Evangelical Mind, Grand Rapids/Leicester 1994, 83–99. 112 In der angelsächsischen Forschung ist die Wende in der Zuordnung von Aufklärung und Erweckungsbewegung bereits früher festzustellen. Zu Gäblers Charakterisierung der Erweckungsbewegung vgl. auch 2.2.1.

120

der Tat waren die Vertreter der Erweckungsbewegung wie der Aufklärung Kinder der gleichen Zeit. Sie lebten in den gleichen gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen, sie hatten auf die gleichen Fragen und Probleme zu reagieren, die ihre Zeitgenossen beschäftigten, und sie taten dies nicht selten mit den gleichen Kategorien und denkerischen Methoden. Gäbler weist darauf hin, dass „das Wesen der Aufklärung verkannt werde, [. . .] wenn man die Erweckungsbewegung wesentlich als Gegenbewegung versteht.“113 Aus der Polemik vieler Vertreter der Erweckungsbewegung gegen bestimmte aufklärerische Positionen dürfe nicht geschlossen werden, die Erweckungsbewegung sei prinzipiell eine Antithese zur Aufklärung. Hier läge offensichtlich auch eine verkürzte Wahrnehmung der Aufklärung vor. Sie dürfe nicht auf Atheismus und der kirchlichen Tradition kritisch gegenüberstehende Vertreter reduziert werden.114 Beide Bewegungen ließen sich „nur im Kontext aufklärerischer Ziele“ verstehen.115 Ähnlich ordnet Bebbington die beiden Strömungen in seiner Arbeit über die britischen Evangelicals einander zu und kommt dabei zu dem Schluss „die evangelikale Variante des Protestantismus wurde durch die Aufklärung geschaffen.“116 Was war die Aufklärung? Unter dem Begriff „Aufklärung“ werden äußerst heterogene Entwicklungen zusammengefasst.117 Sie vollzogen sich im 17. und 18. Jahrhundert in der Philosophie, Literatur, Rechtswissenschaft, Pädagogik und in der Theologie. Auch die Entstehung der Gesellschaftswissenschaften ist hier zu verorten. Die letzten Aufklärer finden sich noch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Die Aufklärung war aber nicht nur ein vielschichtiges, sie war auch ein ambivalentes Phänomen. Sie brachte sowohl atheistische als auch christliche Ansätze hervor. Sie lieferte die ideologische Legitimation des absolutistischen Staates und führte ebenfalls zu dessen Sturz in der Französischen Revolution. Die Aufklärung erweiterte den Horizont der Kirche, aufklärerische Impulse konnten aber auch zu einer Minimierung des Gesichtskreises in der Kirche führen, wo Predigten zu banalen Tugendkatalogen oder Vorträgen über neue landwirtschaftliche Methoden wur113 Gäbler: Auferstehungszeit, 162. 114 Um dies zu belegen verweist Gäbler auf folgende Arbeiten zur christlichen Aufklärung: Scholder, Klaus: Grundzüge der theologischen Aufklärung in Deutschland, in: Geist und Geschichte der Reformation. Berlin 1966, 460–486: Pütz, Peter: Die deutsche Aufklärung, Darmstadt 21978, 57–73; Bianco, Bruno: „Vernünftiges Christentum“. Aspects et problèmes d’interpretation de la néologie allemande du XVIIIe siècle, in: Archives de Philosophie 46, 179–218; Sparn, Walter: Vernünftiges Christentum. Über die geschichtliche Aufgabe der theologischen Aufklärung im 18. Jahrhundert in Deutschland, in: Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung, Rudolf Vierhaus (Hg.), Göttingen 1985, 18–57. 115 Gäbler: Auferstehungszeit, 165. 116 „The evangelical version of Protestantism was created by the enlightenment.“ Bebbington: Evangelicalism in Britain, 74. 117 Vgl. Schalk, Fritz: Art. Aufklärung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie I, Darmstadt 1971, 620–635.

121

den, ohne dass dabei von Gott auch nur die Rede war. Für die nachfolgenden Entwicklungen bis in die Gegenwart ist jedoch bedeutsam, dass mit den politischen Veränderungen dieser Epoche der für die Aufklärung charakteristische Emanzipationsgedanke einherging. Im Prozess der Emanzipation bekam der menschliche Verstand eine prominente Stellung. So konnte Immanuel Kant die Aufklärung folgendermaßen beschreiben: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“118

Nicht Unmündigkeit, sondern Mündigkeit kennzeichnet nach Kant die Aufklärung, die Emanzipation von Heteronomie, der Beginn des selbstbestimmten und selbstverantworteten Lebens. Dies impliziert die Überzeugung, dass das Individuum selbst entscheiden kann ohne dass die Welt dadurch ins Chaos stürzt. Die Aufklärung kennzeichnet ein Optimismus im Blick auf die Möglichkeiten, die jeder Mensch hat. Weil der Einzelne selbst entscheiden kann, wurde ihm aber auch in neuer Weise die Verantwortung für sein Tun zugesprochen. Es wurde davon ausgegangen, dass jeder Mensch sein Verhalten wesentlich verbessern kann. Die Ethik wurde zu einer Paradedisziplin aufklärerischen Denkens. Die Aufklärer waren zudem von der Machbarkeit gesellschaftlicher Veränderungen überzeugt bis hin zur Perfektion des Gemeinwesens. Mit dem Perfektibilitätsgedanken der Aufklärung korrespondiert in der Regel auch eine ungeschichtliche Wahrnehmung des Einzelnen und der Gesellschaft. Ein absolutes Ideal war der Maßstab für alle Zeiten und für jeden: „Die Menschheit ist sosehr gleich zu allen Zeiten und an allen Orten, dass die Geschichte uns nichts Neues oder Fremdes über sie mitteilt.“119 Francis Bacon (1561–1626)120 schuf die Grundlagen für den Empirismus des Zeitalters der Aufklärung, der einen zentralen Platz in verschiedenen akademischen Disziplinen bekam. Wissenschaftliche Erkenntnisse sollten seiner Meinung nach induktiv durch Beobachtungen und Experimente begründet sein.

118 Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung, in: Ders.: Werke in 10 Bänden IX, Wilhelm Weischedel (Hg.), Darmstadt 1968, 53. 119 „Mankind are so much the same, in all times and places, that history informs us of nothing new or strange in this particular.“ Hume, David: An Enquiry concerning Human Understanding, 83, zit. n. Broadie, Alexander: Introduction – What was the Scottish Enlightenment?, in: Ders. (Hg.): The Scottish Enlightenment. An Anthology, Edinburgh 1997, 3–31: 24. 120 Hauptwerke: Novum Organum (1620) und De digintate et augmentis scientiarum (1623).

122

In den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts trat in Europa und Nordamerika die Erweckungsbewegung auf. Auch in dieser kirchlichen Erneuerungsbewegung artikulierten sich emanzipatorische Bestrebungen. Bereits die Täufer des 16. Jahrhunderts hatten den christlichen Glauben als den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit verstanden. Der Zuspruch Gottes im Evangelium wurde bei ihnen auch als Ermächtigung des Menschen zur Mündigkeit verstanden, der dadurch eine Entscheidung für den christlichen Glauben treffen kann und soll. In den Freikirchen brach sich auf diese Weise der für das Zeitalter der Aufklärung zentrale Gedanke der Eigenverantwortlichkeit schon hundert Jahre früher Bahn. Der überragende Stellenwert des mündigen Individuums ist eine Gemeinsamkeit der Erweckungsbewegung und der Aufklärung. So verstand sich Zinzendorfs Postulat des Herzensglaubens, und das ihm zugeordnete gemeinschaftliche Leben der Glaubenden, als Emanzipation von Fremdbestimmung durch Autorität beanspruchende Denksysteme und hierarchische Kirchenstrukturen. Angeregt zu seiner Kritik an solcher Heteronomie wurde er nicht zuletzt auch durch die Lektüre der Schriften Pierre Bayles (1647–1706),121 die insbesondere der Französischen Aufklärung wichtige Impulse gaben. Die Erweckungsbewegung wies noch weitere Parallelen mit der Aufklärung auf. Die Methode der Empirie findet sich gleichermaßen in beiden Strömungen. Nicht selten beriefen sich britische Erweckungsprediger auf den Aufklärer John Locke, um ihre empiristische Apologetik des christlichen Glaubens zu begründen.122 Für die angelsächsischen Evangelicals war das Christentum eine experimental religion.123 Dies war auch ein zentraler Begriff für Jonathan Edwards, dem wohl bedeutendsten reformierten Theologen der Erweckungsbewegung. Caroline Schröder charakterisiert die Beziehung Edwards zu aufklärerischen Ansätzen seiner Zeit als eine „Abhängigkeit von einem beschreibbaren intellektuellen Milieu,“ das sich „durch regen Briefwechsel, Zirkulation von Zeitschriften und privater Buchausleihe“ auszeichnete.124 Bei einem Teil der Evangelicals spielte schließlich auch der nach Kant für die Aufklärung typische

121 In verschiedenen Lebensabschnitten griff er immer wieder zu Bayles Dictionnaire historique et critique (1696–1697). Vgl. Beyreuther: Zinzendorf I, 174f. 122 Bebbington nennt in diesem Zusammenhang beispielsweise Isaak Watts und Philip Doddridge. Bebbington: Evangelicalism in Britain, 54. 123 Vgl. ebd., 57. Ward weist darauf hin, dass dies auch auf Zinzendorf zutraf. „Tatsächlich zeigt der ‚Herzensglaube‘ wie nahe der Kosmopolit Zinzendorf einer Aufklärung anderer Art stand, der von Locke und den Engländern. Locke war der Ansicht gewesen, dass ‚alle Ideen aus den Wahrnehmungen der Betrachtung kommen [. . .] aus der ERFAHRUNG‘.“ „In fact the ‚heart religion‘ shows how close Zinzendorf, the international man, was to Enlightenment of another kind, that of Locke and the English. Locke had held that ‚all ideas come from sensation of reflection . . . from EXPERIENCE‘.“ Ward, William Reginald: Enlightenment in early Moravianism, in: Ders.: Faith, 95–111: 100. Hervorhebung im Original. 124 Schröder: Glaubenswahrnehmung, 56.

123

Gebrauch des Verstandes eine führende Rolle bei der Erkenntnisgewinnung. D. h. sie vertraten die eine oder andere Variante einer natürlichen Theologie.125 Darüber hinaus ließ die postmillenaristische Eschatologie viele Erweckte ebenso optimistisch von der Perfektibilität der Gesellschaft überzeugt sein wie die Aufklärer.126 Trotz dieser offensichtlichen Gemeinsamkeiten verstanden sich nicht wenige Protagonisten der Erweckungsbewegung, vor allem auf dem europäischen Festland, als Kontrahenten der Aufklärer.127 So beschreibt Kurt Nowak die Lage in Deutschland folgendermaßen: „Die Erweckungsbewegung im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts wird gemeinhin als Antipode der Aufklärung verstanden. Diese Auffassung ist zutreffend insoweit, als die ‚Erweckung‘ sich selbst als Kampfbewegung gegen die Welt der Aufklärung begriff, sie ist falsch, wenn man diese Selbststilisierung zur historischen Wahrheit macht.“128

Die antiaufklärerische Polemik der Erweckten richtete sich vor allem gegen atheistische Ansätze sowie rationalistische Verengungen der Theologie.129 Gerade in Schottland wurde die Aufklärung aber auch maßgeblich durch christliche Vertreter geprägt, die sich der Tradition der Church of Scotland verpflichtet sahen.130 So ist es nicht überraschend, dass Chalmers wie kaum ein anderer Evangelical Erweckungsbewegung und Aufklärung

125 Am deutlichsten sind heute noch die Spuren des Rationalismus der Aufklärung im fundamentalistischen Flügel der Evangelikalen wahrzunehmen. (Vgl. Marsden, George M.: Fundamentalism and American culture. The shaping of twentieth-century Evangelicalism 1870 – 1925, New York 1980, 214f.) Hier wird davon ausgegangen, dass das Reden Gottes durch die Bibel allein mit dem Verstand wahrgenommen werden kann. Die Schrift ist deshalb nach fundamentalistischer Auffassung nicht nur „irrtumslos“, sie widerspricht sich auch nicht. An der Stelle, die hier der Verstand einnimmt, steht in der reformatorischen Theologie das testimonium spiritus sancti internum. Vgl. z. B. Calvin: Institutio (1559) I 7,4. 126 Vgl. 5.2.1. 127 Vgl. Lehmann, Hartmut: Die neue Lage, 19. 128 Nowak, Kurt: Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 1995, 94. 129 Diese polemische Betrachtungsweise wurde der Auklärungstheologie nicht immer gerecht. Gäbler bemerkt hierzu, dass es sich „selbstverständlich“ bezweifeln lässt, „ob es diesen aufgeklärten Theologen wirklich gelungen ist, reformatorisches Erbe zu bewahren, aber man kann sie nicht pauschal als Deisten und Rationalisten bezeichnen, die einer Vernunftreligion das Wort redeten.“ Gäbler: Auferstehungszeit, 161. 130 Vgl. hierzu die neueren Veröffentlichungen zur schottischen Aufklärung: Berry, Christopher J.: Social Theory of the Scottish Enlightenment, Edinburgh 1997; Broadie, Alexander (Hg.): The Scottish Enlightenment. An Anthology, mit einer Einleitung v. Alexander Broadie, Edinburgh 1997; Daiches, David/Jones, Jean/Jones, Peter (Hg.): The Scottish Enlightenment 1730–1790. A Hotbed of Genius, Edinburgh 21996; Herman, Arthur: The Scottish Enlightenment. The Scots’ Invention of the Modern World, London 2002; Sher, Richard B.: Church and University in the Scottish Enlightenment. The Moderate Literati of Edinburgh, Princeton 1985.

124

in einem Ansatz vereinigen konnte. Sein sozialreformerisches Konzept gehört in die Reihe der wissenschaftlichen Innovationen, die in dieser Epoche so nur in Schottland zu finden waren. Arthur Herman beschreibt die schottische Variante der Aufklärung folgendermaßen: „Ohne Schottland [. . .] wäre die moderne Welt eine schwache Vorstellung. [. . .] die schottische Aufklärung schuf die grundlegende Idee der Moderne [. . .] Wenn wir auf die heutige Welt blicken, die geprägt ist durch Technologien, Kapitalismus und die moderne Demokratie und uns fragen wie wir als Individuen in ihr vorkommen, dann sehen wir die Welt praktisch wie es die Schotten taten.“131

Der auf technische Innovationen sich gründende Fortschritt und das mit ihm zusammengehende Wirtschaftssystem, in dem der Marktwirtschaft eine besondere Rolle zukommt, ist keineswegs allein in Schottland entstanden. Dennoch ist es nicht zu übersehen, dass viele Begriffe, die heute noch unseren Blick auf die Gesellschaft und die Wirtschaft bestimmen, zuerst in Schottland geprägt wurden. Der Zusammenhang zwischen dem Individuum und den Strukturen und Prozessen der Gesellschaft war hier in neuer Weise ein Fokus der Wissenschaften. Man sah in der schottischen Aufklärung einen Zusammenhang zwischen technischem und ökonomischem Fortschritt sowie den ethischen Rahmenbedingungen, die bei einer solchen Entwicklung berücksichtigt werden müssen. Keiner der drei Aspekte sollte nur für sich entfaltet werden. Die verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen erlebten hier im 18. Jahrhundert eine Blütezeit. Zu den wichtigsten geisteswissenschaftlichen Vertretern der schottischen Aufklärung zählten David Hume, Adam Ferguson, Adam Smith, Thomas Reid und Dugald Steward. Obwohl sie z. T. sehr unterschiedliche Positionen bezogen, war in der Regel das Denken und die Wahrnehmung des einzelnen Menschen ein Angelpunkt ihrer Überlegungen. David Hume (1711–1776),132 die zentrale Figur der Aufklärung in Schottland, postulierte: „Es gibt keine wichtige Frage, deren Antwort nicht in der Wissenschaft vom Menschen eingeschlossen ist; und es gibt nichts, das mit irgendeiner Sicherheit entschieden werden kann bevor wir nicht mit jener Wissenschaft vertraut geworden sind.“133 131 „Without Scotland [. . .] the modern world would be a poor show. [. . .] the Scottish Enlightenment created the basic idea of modernity [. . .] When we gaze out on a contemporary world shaped by technology, capitalism and modern democracy, and struggle to find our place as individuals in it, we are in effect viewing the world as the Scots did.“ Herman: Scottish Enlightenment, S. VII. 132 Hauptwerke: A Treatise of Human Nature (1739–40), An Enquiry concerning Human Understanding (1748), An Enquiry concerning the Principles of Morals (1751), History of England (1754–1762). 133 „There is no question of importance, whose decision is not compriz’d in the science of man; and there is none, which can be decided with any certainty, before we become acquainted with that science.“ Hume, David: A Treatise of Human Nature, XVI, zit. n. Broadie: Scottish Enlightenment, 20.

125

Hume bezweifelte, dass ein für alle Zeiten und Menschen gleicher Wertkodex erhoben werden könnte. Allein das soziale Umfeld sei die Quelle der Innovationen, mit denen dann wieder die Individuen die Gesellschaft prägen und weiterbringen würden. Der Historiker und Philosoph Adam Ferguson (1723–1816),134 ein ordinierter Pfarrer der Church of Scotland, gilt als Begründer der gegenwärtigen Soziologie. Auch er beschrieb die Perfektibilität des Einzelnen und der Gesellschaft. Den Fortschritt verstand er als Humanisierungsprozess. „Wenn wir davon ausgehen, dass es dem Menschen möglich ist, besser zu werden und dass er in sich selbst ein Prinzip des Fortschritts hat und ein Verlangen nach Vervollkommnung, dann scheint es falsch zu sein wenn man sagt, dass er den Naturzustand verlassen hat, wenn er angefangen hat sich weiterzuentwickeln oder dass er dann in eine Position käme, für die er nicht bestimmt wäre [. . .] Er wird finden, [. . .] dass der eigentliche Naturzustand in diesem Sinn nicht eine Bedingung ist, von der die Menschheit für immer vertrieben wurde, sondern einer zu dem sie jetzt gelangen kann.“135 „Der Sinn der Kultivierung ist nicht die feinen Empfindungen und die Großzügigkeit anzuregen noch die wichtigsten Bestandteile eines ehrbaren Charakters zu verleihen, sondern den unbekümmerten Missbräuchen der Leidenschaft zu begegnen und einen Menschen davon abzuhalten, in seiner größten Gewaltanwendung seine besten Anlagen zu sehen.“136

Fergusons gesellschaftswissenschaftliche Perspektive war ein Spezifikum Schottlands. Oz-Salzberger zeigt dies am Beispiel seiner Rezeption durch deutsche Zeitgenossen: „Der Diskurs der deutschen Aufklärung drehte sich um Formen von Wissen und Arten des Lehrens, wogegen die Analyse der Gesellschaft nach politischer Partizipation fragt. Fergusons komplexe Sicht der Geschichte, die Paradigmen von Fortschritt und Rückschritt berücksichtigte und sie an bewusste menschlich Handlungen knüpfte, faszinierte und verwirrte solche Zeitgenossen wie Iselin, Heyne und Meiners.“137 134 Hauptwerk: An Essay on the History of Civil Society (1767). 135 „If we admit that man is susceptible of improvement, and has in himself a principle of progression, and a desire of perfection, it appears improper to say, that he has quitted the state of his nature, when he has begun to proceed; or that he finds a station for which he was not intended. [. . .] He will find, [. . .] that proper state of his nature, taken in this sense, is not a condition from which mankind are for ever removed, but one to which they may now attain.“ Ferguson, Adam: Essay on the History of Civil Society, Edinburgh 1767, 14. 136 „The effect of cultivation is not to inspire the sentiments of tenderness and generosity, nor to bestow the principal constituents of a respectable character, but to obviate the casual abuses of passion; and to prevent a mind, which feels the best dispositions in their greatest force.“ Ebd., 143. 137 „The German Enlightenment debate hinged on forms of knowledge and ways of teaching, whereas the civic analysis of society was about political membership. Ferguson’s complex view of history, allowing patterns of progress and regress and tying them to deliberate human actions, fascinated and baffled such counterparts as Iselin, Heyne, and Meiners.“ Oz-Salzberger, Fania: Translating the Enlightenment. Scottish Civic Discourses in Eighteen-Century Germany,

126

Adam Smith (1723–1790)138 untersuchte ebenfalls die Mechanismen des Gemeinwesens. Er gilt als einer der Begründer der gegenwärtigen Nationalökonomie. Wesentliche Aspekte der heute verbreiteten Beurteilung des Gemeinwohls mit wirtschaftlichen Kategorien gehen auf diesen Moralphilosophen zurück. Umfassendes Konsumverhalten aller und beständiges, endloses Wirtschaftswachstum sind hierbei zentrale Gedanken. Smith zeichnete das Bild der arbeitsteiligen Marktwirtschaft, die, wenn sie nicht durch staatliche Restriktionen gebremst wird, angetrieben durch das Selbstinteresse jedes Einzelnen zu allgemeinem Wohlstand führt. Bei Smith kündigte sich allerdings auch schon eine Überwindung der ungeschichtlichen Wahrnehmung der Gesellschaft an. Er ging bereits davon aus, dass sowohl die Struktur eines Gemeinwesens als auch das Verhalten seiner Bewohner das Produkt seiner spezifischen Entwicklung sei. Nicholas Phillipson hat die These aufgestellt, dass die komplexe Wahrnehmung des Menschen in seinen sozialen Bezügen, wie er typisch war für die schottische Aufklärung, auf den politischen Machtverlust der Schotten nach der Union mit England 1707 zurückzuführen sei.139 Erst vor diesem Hintergrund hätte etwa Adam Smith auch die ökonomischen Voraussetzungen für die politische Freiheit in den Blick nehmen können. Nicht nur die Mechanismen der Nationalökonomie wurden hier beschrieben, sondern ebenfalls die Bedeutung der ökonomischen Möglichkeiten für das Individuum. Am nachhaltigsten beeinflusste die schottische Aufklärung das Denken der angelsächsischen Evangelicals durch die so genannte Common-Sense-Schule.140 Gäbler sieht in ihr sogar eine „Klammer für die Parallelen des calvinistischen Zweiges der Erweckungsbewegung, wie er sich in Schottland, in Nordamerika, in Genf und von hier ausgehend in Frankreich entwickelt hat.“141 Begründet wurde die philosophy of common-sense durch Thomas

Oxford 1995, 316. Als Beispiel für das hohe Niveau der schottischen Gesellschaftswissenschaft dieser Epoche kann auch Sir John Sinclair (1754–1835) angeführt werden. Er veröffentlichte eine einundzwanzig Bände umfassende Publikation mit dem Titel The Statistical Account of Scotland (1791–1799), die er später selbst auswertete. Zur Erfassung der hierin veröffentlichten Daten fragte er jeden Pfarrer der Schottischen Kirche an. Das Werk enthielt detaillierte Informationen über die Geographie, Naturgeschichte, die Bevölkerung und ihren Beschäftigungsstand in allen Regionen des Landes. Eine ähnlich genaue statistische Erfassung eines Staates war bis dahin noch nie unternommen worden. 138 Hauptwerke: The Theory of Moral Sentiments (1759), An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776). 139 Phillipson, Nicholas: The Scottish Enlightenment, in: The Enlightenment in National Context, Roy Porter/Mikulás Teich (Hg.), Cambridge 1981, 19–40. 140 Zur Rezeption der Common-Sense-Philosophie durch die schottische und nordamerikanische Erweckungsbewegung vgl. Gauvreau, Michael: The Empire of Evangelicalism. Varieties of Common Sense in Scotland, Canada, and the United States, in: Bebbington/Noll/Rawlyk: Evangelicalism: 219–252. Zu ihrer Rezeption in England vgl. Bebbington: Evangelicalism in Britain, 59f. 141 Gäbler, Ulrich: Der Weg zum Réveil in Genf, Zwingliana XVI (1983), 142–167: 163.

127

Reid (1710–1796).142 Wie Ferguson war er von der Schottischen Kirche ordiniert worden, bevor er die Laufbahn als Professor einschlug. Thomas Reid respektierte zwar die Bedeutung Humes für die Epistemologie, dennoch verstand er seinen Ansatz nicht zuletzt auch als theologisch verantworteten Gegenentwurf zu dessen Skeptizismus. Sein Ausgangspunkt war, genau wie bei Hume, die Frage nach der Quelle der Erkenntnis. Reid setzte der positivistischen Ethik Humes eine praepositive Instanz entgegen, den common sense.143 Er sei das Organ mit dem jeder die Grundzüge des Naturrechtes wahrnehmen könne. Er ermögliche prinzipiell allen, unabhängig von dem gesellschaftlichen Zusammenhang, der sie freilich auch prägte, ethische Entscheidungen zu treffen. Zudem sei von der Orientierung an den Maßstäben dieses common sense die rechte Gestaltung jedes Gemeinwesens abhängig. Den Bildungsinstitutionen kommt in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle zu, indem sie diese für die Gemeinschaft so wichtigen Anlagen in jedem Menschen fördern. Die Gesellschaft und das Individuum sind in der Common-Sense-Philosophie aufeinander bezogen.144 Von der Disposition des Einzelnen wurde so auf die sinnvolle Strukturierung der Gesellschaft geschlossen. Die Common-Sense-Philosophen gingen davon aus, dass sich in den jedem Menschen gegebenen Anlagen seine soziale Bestimmtheit zeige. Die Entscheidungen Einzelner würden die Gemeinschaft prägen. Hierzu gehöre nicht zuletzt auch die Übernahme der Verantwortung für das Wohlergehen anderer. Die Gesellschaft wiederum habe die Pflicht, das eigenverantwortliche und selbstbestimmte Handeln der Individuen zu ermöglichen und zu fördern, da dies kein Automatismus sei. In der Generation nach Reid war Dugald Steward (1753–1828)145 der wichtigste Vertreter der Common-Sense-Philosophie. Chalmers besuchte gegen Ende seines Studiums Stewards Vorlesungen in Edinburgh. Die christliche Aufklärung in Schottland brachte eine Erweiterung der Theologie durch human- und gesellschaftswissenschaftliche Perspektiven mit sich. Theologische und philosophische Aufklärung hatte hier bis zu einem gewissen Grad eine gemeinsame Methode – die Empirie. Sie gingen beide von der Annahme der Perfektibilität des Individuums und der Gesellschaft aus. So war ihnen auch die Frage nach den Faktoren, die zu diesem Fortschritt führen, gemeinsam. Nach Chalmers Hinwendung zum Evangelical fanden bei ihm aufklärerische Konzepte und die Anlie142 Hauptwerke: An Inquiry into the Human Mind on the Principles of Common Sense (1764), Essays on the Intellectual Powers of Man (1785), Essays on the Active Powers of the Human Mind (1788). 143 gesunder Menschenverstand. 144 Die Common-Sense-Philosophie unterschied strikt zwischen mind (Geist) und matter (Materie), die zwar aufeinander bezogen sind aber gesondert in den Blick genommen werden müssten. Hier wirkt offensichtlich die Art und Weise nach wie schon Calvin den Heiligen Geist und die Materie einander zuordnete. Vgl. Calvin: Institutio (1559), IV, 17. 145 Hauptwerk: Elements of the Philosophy of the Human Mind, 3 Bde. (1792–1814).

128

gen der Erweckungsbewegung zu einer Synthese.146 Die Kategorien der Aufklärung waren für ihn nicht allein Mittel, die seiner erwecklichen Verkündigung Nachdruck verleihen sollten. Chalmers war vielmehr davon überzeugt, dass der Glaube selbst in den Horizont der Wissenschaften dränge: „Ein solider Glaube und eine solide Philosophie sind eins.“147 „Die, welche die Theologie von der Wissenschaft trennen oder die Wissenschaft von der Theologie, sind im Ergebnis, wenn nicht schon in ihrer Intention, die Feinde von beiden.“148

Diese Aussage illustrierte er mit Beispielen aus der Naturwissenschaft und der Nationalökonomie. Nicht nur die Kirche, auch die Theologie musste nach Chalmers immer wieder reformiert werden. Sie war dazu verpflichtet sich permanent neuen Fragestellungen zu stellen und sich entsprechend zu verändern. „Obwohl der Gegenstand der Theologie unveränderbar ist [. . .] gibt es nicht doch eine beständige Notwendigkeit für die Rechtfertigung [. . .] und die Verdeutlichung dieses Gegenstandes gegenüber dem ständig wechselnden Geist und der Philosophie der Zeit? [. . .] Es gibt in der Theologie genauso wie in den anderen Wissenschaften einen unbegrenzten Raum für neue Gedanken und Ausdrucksformen.“149

Damit positionierte Chalmers seine Theologie auch gegenüber der Aufklärung. Zum einen hatte sie auf gleicher Ebene eine Gesprächspartnerin zu sein für die weltanschaulichen Ansätze ihrer Umwelt, gleichzeitig war 146 So auch Brown: Commonwealth, 59f und Roxborogh, John: Chalmers’ Theology of Mission, in: Cheyne: Practical and the Pious, 174–185: 175; Oben wurde darauf abgehoben, dass die Erweckungsbewegung insgesamt nicht als Antithese zur Aufklärung verstanden werden dürfe, dennoch setzten die Theologen in den beiden Strömungen unterschiedliche Schwerpunkte. Auf der einen Seite wurde beispielsweise die Schöpfungstheologie betont auf der anderen Seite die Soteriologie und Eschatologie. Vor diesem Hintergrund kann hier von einer Synthese bei Chalmers gesprochen werden. Zur Integration aufklärerischer Konzepte in Chalmers Ansatz vgl. Leathers, Charles G./Raines, J. Patrick: Adam Smith and Thomas Chalmers on Financing Religious Instruction, in: History of Political Economy, 31:2, Durham 1999; Rice, Daniel Frederick: Natural Theology and the Scottish Philosophy in the Thought of Thomas Chalmers, in: Scottish Journal of Theology 24, Cambridge 1971, 23–46; Smith, Crosbie: From design to dissolution: Thomas Chalmers debt to John Robinson, in: British Journal for the History of Science, 12, Cambridge 1979, 59–70; Voges: Denken, 213–257. 147 „A sound faith and a sound philosophy are one.“ Thomas Chalmers an James Thomson, 12 Februar 1847, zit. n. Roxborogh: Mission of the Church, 374f. 148 „They who would divorce Theology from Science, or Science from Theology, are, in effect if not intention, the enemies of both“ Chalmers, Thomas: The Political Economy of the Bible, North British Review, Bd. II, Edinburgh 1845, 1–52: 3. 149 „Although the subject matter of theology is unalterably fixed [. . .] is there not a constant necessity for accommodating both the vindication [. . .] and the illustration of this subject matter to the ever-varying spirit and philosophy of the time? [. . .] In theology, as well as in the other sciences, there is indefinite room for novelties both of thought and expression.“ Chalmers: Posthumous works IX, XV.

129

die diesem Gedanken zugrunde liegende Erkenntnis, dass die Theologie immer auch zu einem jeweiligen sozialen Umfeld gehört, selbst eine Errungenschaft der schottischen Aufklärung. Die Kirche hatte sich aber nicht nur den Fragen ihrer akademischen Umwelt zu stellen, sie sollte in allen Bereichen der Gesellschaft präsent sein. In einer Rezension der Predigten Samuel Charters (1742–1825)150 brachte Chalmers etwas zum Ausdruck, das offensichtlich auch seine eigene Theologie charakterisierte: „Er bringt den Glauben aus dem Gebetshaus in den Laden, auf den Markt und in die Familie.“151 Diese Weltoffenheit der aufklärerischen Theologen kennzeichnet Chalmers Ansatz. Sein lebenslanges Interesse für die Naturwissenschaften gehört auch in diesen Zusammenhang. Das naturwissenschaftliche Experiment war für viele Aufklärer exemplarisch für die Überlegenheit der Empirie bei der Erkenntnisgewinnung. In allen Wissenschaften sollten von daher die Thesen empirisch untermauert werden. So war das diakonische Projekt in der Glasgower St. Johnsgemeinde für Chalmers ein Experiment, das seinen sozial-theologischen Ansatz belegen sollte.152 Zeitlebens sah er sich an die induktive Methode gebunden. Hierbei berief er sich auf Francis Bacon, den Begründer des philosophischen Empirismus. Chalmers nannte ihn den Mann, der an dem Beginn der „größten Revolution in der Philosophie stand.“153 Es sei das Verdienst von Bacons Philosophie, ihre Anhänger gelehrt zu haben, „mit festem Schritt überall dorthin zu folgen, wohin der gewisse, wenn auch bescheidene Pfad des Experiments sie führen mag.“154 Die empirische Methode ließ Chalmers häufig utilitaristisch argumentieren. Der richtige Glaube zeigt sich dann an seiner Nützlichkeit für die Lösung alltäglicher Probleme.155 Die Vorstellung von der Perfektibilität der Gesellschaft, wie sie Ferguson beschrieben hatte, war auch Chalmers zu eigen. Auch er entfaltete sie als einen Reifungsprozess: „Das Licht der Erfahrung, welches schwach 150 Zur Bedeutung dieses schottischen Theologen für Chalmers vgl. Roxborogh: Mission of the Church, 58f. 151 „He carries out religion from the house of prayer and into the shop, the market and the family.“ Chalmers: Works XII, 303. 152 Vgl. hierzu 6.1. 153 „Him who stands at the head of the greatest revolution in Philosophy“ Chalmers: Antiquity, Works XI, 126. 154 „It is the glory of Lord Bacon’s philosophy [. . .] to have [. . .] taught them to follow, with an unfaltering step, wherever the sure though humble path of experiment may lead them.“ Chalmers, Thomas: The Evidence and Authority of the Christian Revelation, Edinburgh 1814, 193. 155 Boyd Hilton beschreibt worin sich dieses „Nützlichkeitsdenken“, das charakteristisch war für die Erweckungsbewegung, von dem philosophischen Utilitarismus Jeremy Benthams (1748–1832) unterschied. Im Gegensatz zu Bentham waren die Evangelicals sehr viel festgelegter in der Wahl ihrer Mittel und Ziele, indem sie die Bibel als ihre Norm angaben. Bei ihnen fand sich somit weniger ein Utilitarismus als das, was im allgemeinen Sprachgebrauch als Pragmatismus bezeichnet wird. Hilton: Atonement, 215f.

130

glimmt am Anfang der Geschichte, erhellt sich zunehmend in ihrem Fortgang.“156 Genau wie Ferguson verstand er den Fortschritt des Gemeinwesens als Humanisierungsprozess. Im Gegensatz zu diesem Sozialwissenschaftler betonte er aber auch noch die Erlösungsbedürftigkeit der Menschen in einer fortgeschritten Gesellschaft. Die Wahrnehmung der positiven Aspekte der Zivilisation sollte nicht zu einer unkritischen Haltung gegenüber den auch in ihr sichtbaren Missständen führen.157 Auch jenseits der Aspekte, die Ferguson untersucht hatte, beschäftigten Chalmers gesellschaftswissenschaftliche Fragestellungen. Zudem gehörten sie für ihn selbstverständlich zu den Themen mit denen sich zukünftige Theologen zu beschäftigen hatten. Besonders interessierte ihn hier die ökonomische Dimension, die zuerst von Adam Smith thematisiert worden war. Er führte diese Perspektive insbesondere darin fort, dass er immer wieder die Bedeutung und Konsequenzen der Armut aufzeigte.158 Über weite Strecken folgte Chalmers dem Ansatz der Common-Sense-Philosophie. Er entfaltete ihn im Zusammenhang des Imago-Dei-Gedankens. „Wir wurden nach seinem Bild geschaffen, sowohl intellektuell als auch moralisch.“159 Die Ebenbildlichkeit mit Gott begründet so auch die Gleichheit aller Menschen. Dies verdeutlichte er am Beispiel seines großen Lebensthemas, den Armen: „Diese armen Leute besitzen alle Fähigkeiten des menschlichen Geistes [. . .] sie sind uns in vollem Sinn gleich in allem was zum Wesen des Menschen gehört und [. . .] wir haben nichts anderes zu tun, als hinzugehen und ihnen Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen und die beschämende Gleichgültigkeit aufzugeben, die wir gegenüber den unteren Schichten ein halbes Jahrhundert lang bewiesen haben, ich würde sogar sagen fast ein ganzes Jahrhundert lang.“160

Die Vorstellung der Common-Sense-Schule, dass sich alle Prinzipien der idealen Gesellschaft zunächst in den Anlagen jedes einzelnen Menschen finden, teilte Chalmers zeitlebens. Das zweibändige Werk On the Power, Wisdom and Goodness of God,161 in dem er die Struktur eines Gemeinwesens beschrieb, das der Schöpfungsordnung entsprach, war nach diesem Schema aufgebaut. Zunächst beschrieb er hier die Disposition der Individuen, daraus erschloss er die Ordnung der „so156 „The light of experience which feebly glimmers at the outset of History, brightens onward in its progress.“ Chalmers: Works XI, 153. 157 Vgl. 5.2.1. 158 Vgl. hierzu insbesondere Abschnitt 7.5. 159 „We were formed in his image intellectually as well as morally.“ Chalmers: Posthumous works VI, 2. 160 „These poor people have all the capacities of human spirits [. . .] they are on a full level of equality with ourselves in all that is essential to man, and [. . .] we have nothing to do but to go and do them justice, and to give up the shameful neglect which we have indulged towards the lower classes for halve a century, I would say for almost a whole century.“ Chalmers, Thomas: Churches and Schools for the Working Classes, Edinburgh/London 1846, 11f. 161 veröffentlicht 1833.

131

zialen Ökonomie“.162 Da das Bedürfnis zur Selbsthilfe wie das Bedürfnis zur Wohltätigkeit allen Menschen schöpfungsgemäß gegeben sei, sollte die soziale Sicherung immer sowohl von der Perspektive des Einzelnen, als auch von der Perspektive der Gemeinschaft her in den Blick genommen werden.163 Da nach der Common-Sense-Philosophie die positiven Anlagen der Menschen gefördert werden müssen, damit sie voll zu Tragen kommen können, bedurfte es Strukturen, die dies gewährleisten. Hier sollten nach Chalmers die Kirchengemeinden eine ihrer zentralen Aufgabe sehen. Die gottgegebene Umsicht gegenüber sich und anderen sollten sie unterstützen durch die Förderung von Selbsthilfeinitiativen der Bewohner ihrer Parochie. Auch die kirchlichen Bildungsinstitutionen hatten hier einen wichtigen Platz.164 Die mit den Kategorien der Common-Sense-Schule entfaltete schöpfungstheologische Dimension bekam bei Chalmers ein kritisches Korrektiv durch die theologia-crucis. Diese Perspektive war ihm durch die Erweckungsbewegung vermittelt worden. Chalmers versuchte beiden Aspekten gleichermaßen gerecht zu werden: „Lasst die Natur des Menschen eine Ruine sein, was sie sicherlich ist, so ist es doch schon für die schlichteste Wahrnehmung offensichtlich, dass sie nicht ein gänzlich unterschiedsloser deformierter Haufen ist.“165

Die Gefallenheit der Schöpfung ändert nichts daran, dass die Bereitschaft anderen zu helfen grundsätzlich bei jedem vorausgesetzt werden kann. Solidarisches Verhalten ist von daher auch nicht auf Christen beschränkt. Aber gerade da wo es durch Ignoranz verdrängt wurde, bekommen die Kirchen durch ihre Verkündigung und ihr Vorbild eine Aufgabe.166 Chalmers versuchte immer den Menschen von beiden Seiten in den Blick zu nehmen: Von der Schöpfungstheologie her und aus der Perspektive der Soteriologie und der Eschatologie, die für die Erweckungsbewegung charakteristisch war.167 Der Imago-Dei-Gedanke ermöglichte es ihm sozialethische Aussagen zu machen, die nicht nur für die Kirchgänger in Schottland plausibel waren. Indem er aber immer wieder auch die Gefallenheit der Schöpfung betonte,168 verwies er auf die Bedeutung der neuen Schöpfung. Der eschatologische Zugang eröffnete einen Horizont, der über den Status Quo hinausreichte. Soziale Arbeit war für Chalmers nie nur eine Versorgung der Armen. Es ging ihm um eine Veränderung der Verhältnissen, um eine 162 „social economy“. 163 Chalmers: On the Power I, 224f. 164 Vgl. 6.4 und 6.6. 165 „Let the nature of man be a ruin, as it certainly is; it is obvious to the most common discernment that is does not offer one unvaried and unalleviated mass of deformity.“ Chalmers: Works VI, 16. 166 Vgl. 7.4. 167 Vgl. Smith: Robinson, 61f. 168 Z. B. Chalmers: Works II, 389.

132

landesweite soziale Reform. So distanzierte er sich auch von dem aufklärerischen Deismus. Gott war für Chalmers nicht der Schöpfer, der den Menschen eine Natur hinterlassen hat, die einer ehernen Gesetzmäßigkeit des Fortschritts folgt. Die Vorstellung, dass sich die Kirche und die Welt auf dem Weg ihrer Vervollkommnung befänden, war den Aufklärungstheologen wie den meisten Vertretern der Erweckungsbewegung gemeinsam.169 Für die Evangelicals und so auch für Chalmers war aber der Fortschritt kein Automatismus. Ihre Mission und ihre Diakonie waren für sie ein notwendiger Teil der Vollendung der Welt. Gerade diese Überzeugung führte zu dem Aktivismus der Evangelicals, welcher in der Aufklärungstheologie kein Gegenstück hat. Er wurzelte in der Hoffnung auf das Reich Gottes, die so nur in der Tradition der Erweckungsbewegung zu finden war. Erhard Kunz weist darauf hin, dass bei den Aufklärungstheologen eine „besondere Schau der zukünftigen Geschichte [. . .] nicht entwickelt worden“ ist. „Deshalb bestimmt bei ihnen die Eschatologie im Unterschied zum Pietismus auch kaum den Inhalt des konkreten Handelns in der Geschichte.“170 Die Grundlinien von Chalmers Reichs-Gottes-Hoffnung sind im vorigen Abschnitt beschrieben worden. Der emanzipatorische Gedanke der Mündigkeit war Aufklärung und Erweckungsbewegung gemeinsam. In beiden Strömungen setzte man sich dafür ein, dass der Einzelne über seine Geschicke selbst bestimmen sollte. In der Aufklärung artikulierte sich dieser Impuls in dem ethisch gefärbte Appell an das Individuum, in der Erweckungsbewegung in der missionarischen Verkündigung. Glauben war hier zuerst die Antwort eines Individuums auf die Predigt. Ihr Christentum verstanden die Evangelicals als selbst gewählte Lebensform. Aufklärerische und erweckliche Vereine und Gesellschaften, die prinzipiell jedem offen standen und deren Zielsetzungen und Projekte von den Mitgliedern selbst bestimmt werden durften, waren ein Ausdruck dieser Emanzipation. Mittelbar – in einigen Ländern wie den USA sogar unmittelbar171 – führte dieser Impuls zum Aufbau von partizipativer Strukturen im politischen System. Chalmers Verständnis der Möglichkeiten des Individuum entsprach dem der anderen Evangelicals. Der soziative Aspekt der Mündigkeit wurde bei ihm allerdings nicht durch Vereine abgedeckt, sondern durch die Gemeinde sowie durch nachbarschaftliche Selbsthilfegemeinschaften. In ihrem Kontext entfaltete er die für die Erweckungsbewegung charakteristische neue Dimension des weiblichen und männlichen Ehrenamtes.172 Das theoretische Instrumentarium der Common-Sense-Philosophie ermöglichte es 169 Zum Perfektibilitätsgedanken in der Theologie der Aufklärung vgl. Schütte, HansWalter: Die Vorstellung von der Perfektibilität des Christentums im Denken der Aufklärung, in: Birkner, Hans-Joachim/Rössler, Dietrich (Hg.): Beiträge zur Theorie des neuzeitlichen Christentums, Berlin 1968, 113–126. Vgl. 5.2.1. 170 Kunz: Eschatologie, 105. 171 Vgl. 7.5. 172 Vgl. 6.3.

133

Chalmers, die Anthropologie zu beschreiben, die der erwecklichen Praxis zu Grunde lag. So wurde der eigenverantwortlich agierende Mensch eine zentrale Kategorie seines diakonischen Ansatzes.173 An einem Punkt ging der emanzipatorische Impuls in der Erweckungsbewegung weiter als in der Aufklärung. Die Zielgruppe des Diskurses der schottischen Aufklärer war vor allem das aufstrebende Bürgertum, z. T. auch die Aristokratie. D. h. er richtete sich an Menschen mit einem gewissen Bildungsstand. So wurden die Armen in den Kirchengemeinden der Aufklärungstheologen faktisch ausgegrenzt. Die Erweckungsbewegung hatte hingegen den Anspruch, auch die Unterschichten zu erreichen. Neuere Studien zeigen, dass ihr dies nur zum Teil gelungen ist.174 Dennoch ist das Bemühen um die Integration der Ärmsten nicht zu übersehen. Zum Ersten, was Chalmers nach seinem Wechsel ins Lager der Evangelicals änderte, gehörte sein Predigtstil. Er wollte nun von allen verstanden werden. Dem folgte ein Jahrzehnte langes Bemühen darum, auch die Ärmsten in die Kirche zu integrieren. Seine Zielvorstellung für die Gesellschaft war nichts weniger als die Abschaffung der massenhaften Armut.175 So lässt sich die Synthese von Aufklärung und Erweckungsbewegung in Chalmers Ansatz folgendermaßen beschreiben: Der spezifisch aufklärerische Beitrag hierzu war die Verortung von Kirche und Theologie in dem sozialen Umfeld einer konkreten Gesellschaft. Dies bedeutete für ihn eine notwendige Wechselbeziehung zwischen beiden. Wie bei anderen Aufklärungstheologen wurde sie bei Chalmers umgesetzt in der Öffnung der Theologie für die Fragestellungen und Methoden auch der anderen Wissenschaften. Im Vordergrund stand dabei die Reflektion des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. Vor allem schlugen sich Kategorien der Common-Sense-Philosophie und der Nationalökonomie in Chalmers Konzept nieder. Letzteres ermöglichte es ihm, die Bedeutung und Konsequenz der Armut zu entfalten. Daneben zeichnete Chalmers Konzept eine emanzipatorische Komponente aus, die Aufklärung und Erweckungsbewegung gemeinsam war. Beide betonten die Mündigkeit des Individuums, dessen Kompetenzen und Entscheidungsmöglichkeiten erweitert werden sollten. Der spezifische Beitrag der Erweckungsbewegung war die Perspektive des Reiches Gottes, die einen universalen Horizont eröffnete und seinen Projekten eine Dynamik verlieh, die über eine Festigung der bestehenden Verhältnisse hinausreichte. Zudem brachte ihr betonter Bezug auf die reformatorische theologia-crucis ein Korrektiv zum Optimismus der Aufklärungstheologie mit sich. Dies ermöglichte den kritischeren Zugang zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Da173 Vgl. z. B. 6.4. 174 Die erfolgreichsten Projekte hierbei waren noch die Sonntagsschulen, aber auch sie erreichten nicht alle armen Kinder. Vgl. Laqueur: Religion and Respectability, New Haven und London 1976. 175 Vgl. 7.5.

134

rüber hinaus erweiterte die Erweckungsbewegung die von der Kirche wahrgenommene Umwelt um die unteren Schichten. Das außerkirchliche Gegenüber der Aufklärungstheologen beschränkte sich auf das Bürgertum und die Aristokratie. Hierin zeigte sich, dass bei den Aufklärern der Emanzipationsgedanke in der Praxis mit unter zu kurz griff. Chalmers strebte hingegen gerade die Integration der Ärmsten in die Kirche und in die Gesellschaft an.

5.2.3 Zum Einfluss William Wilberforces auf den theologischen Ansatz Chalmers Mit der Person William Wilberforces (1759–1833)176 wurde vielfach das verbunden, was die britische Erweckungsbewegung war und wollte. Auch er war wie Chalmers davon überzeugt, dass das Christentum auf die Humanisierung des Gemeinwesens zielt in dem es angesiedelt ist. So liegt die Frage nach seinem Einfluss auf den jüngeren Zeitgenossen nahe, zumal Wilberforce schon elf Jahre vor Chalmers sein erstes Buch veröffentlichte. Wilberforce stammte aus einer englischen Kaufmannsfamilie. Seine Besitzverhältnisse ermöglichten es ihm, sich zeitlebens der Politik zu widmen. So wurde er nach Studien an der Universität Cambridge bereits 1780 Parlamentarier im Londoner Unterhaus. Mit 25 Jahren erlebte er eine Bekehrung und war danach vier Jahrzehnte lang der Kopf einer Fraktion von Evangelicals im Parlament. Sie gehörten zu verschiedenen Parteien. Ian Bradley rechnet zwischen 1784 und 1832 112 Abgeordnete zu den Evangelicals.177 30 von ihnen bildeten den engsten Kreis um Wilberforce, der sich an seinem Wohnort Clapham versammelte.178 Das Lebenswerk dieses Politikers wird vor allem mit seinem Kampf gegen die Sklaverei in den Kolonien zusammen gebracht.179 1807 gelang es ihm und seinen Freunden, das Verbot des Sklavenhandels durchzusetzen. 1833, einen Monat nach Wilberforces Tod, wurde schließlich die Sklaverei im britischen Empire verboten.180 Die theo176 Neuere Veröffentlichungen zu Wilberforce sind: Furneaux, Robin: William Wilberforce, London 1974; Lean, Garth: God’s Politician. William Wilberforce’s Struggle, Colorado Springs 1987; Pollock, John: Wilberforce, London 1986; Die umfangreichste Biographie ist immer noch die seiner beiden Söhne Robert Isaac und Samuel: The Life of William Wilberforce I–V, London 1838. 177 Bradley, Ian: The politics of Godliness. Evangelicals in Parliament 1784–1832, Dissertation Universität Oxford 1974, 15–17. 178 Das war die später so genannte Clapham Sect. 179 Seine wichtigsten Veröffentlichungen hierzu waren: A Letter on the Abolition of the Slave Trade. Addressed to the Freeholders and other Inhabitants of Yorkshire, London 1807 (396 Seiten!) und An Appeal to the Religion, Justice, and Humanity of the Inhabitants of the British Empire in behalf of the Negro Slaves in the West Indies, London 1823. 180 Dieses politische Ziel konnte auch deshalb erreicht werden, weil es den Gegnern der Sklaverei gelang, fast die gesamte britische Erweckungsbewegung hierfür zu mobilisieren. Bebbington weist darauf hin, dass beispielsweise 95 % der wesleyanischen Methodisten

135

logische Grundlage von Wilberforces Engagement für die Sklavenbefreiung war die Überzeugung, dass durch Christus die Gleichheit aller Nationen und Menschen begründet sei.181 Wilberforce vertrat die gesetzlich gewährleistete religiöse Toleranz. So setzte er sich auch für die Gleichstellung der Katholiken ein. Daneben unterstützte er die Verabschiedung verschiedener Sozialgesetze.182 1797 veröffentlichte er sein Hauptwerk. Es trug den barocken Titel A Practical View of the Prevailing Religious System of Professed Christians, in the Higher and Middle Classes in This Country, Contrasted with Real Christianity.183 Die Publikation erlebte zahlreiche Auflagen und wurde ins Französische, Italienische, Niederländische und Deutsche184 übersetzt. Chalmers las das Buch an der Wende zum Jahr 1811, als er sich in einer Krise befand. Nach dieser Phase hatten sich die Akzente in seiner Theologie und in der Art wie er seinen Pfarrdienst gestaltete verschoben. Er war zum Evangelical geworden. Immer wieder wies Chalmers darauf hin, dass er wesentlich durch Practical View von Wilberforce geprägt wurde. An John Sinclair schrieb er 1829: „Neben der Bibel“ war dieses Buch am meisten dafür verantwortlich „eine große Veränderung meiner Sicht der biblischen und göttlichen Wahrheit zu bewirken“.185 Worum geht es in Practical View? Der Titel verrät es bereits. Das Buch verstand sich als Kritik an der christlichen Dogmatik und Praxis der führenden Schichten in Großbritannien. Wilberforces Analyse kam zu dem Ergebnis, ihr Christentum sei gesetzlich. Ihm stellte er das wahre Christentum gegenüber, das ein „Herzensglaube“ sei.186 Wilberforce zog eine Linie zu der Ethik, die diesem Christentum entsprach, wobei er betonte, dass das

Petitionen gegen die Sklaverei unterzeichnet hatten. (Bebbington: Evangelicalism in Britain, 71f.) Die Evangelicals waren zwar nicht allein dafür verantwortlich, dass sich im Parlament Mehrheiten gegen das Geschäft mit den Sklaven bilden konnten, sie leisteten hierzu aber einen wesentlichen Beitrag. 181 „Deshalb insofern als uns wiederholt und ausdrücklich gesagt wurde, dass Christus alle Unterschiede zwischen den Nationen hinweggetan hat und die ganze Menschheit zu einer großen Familie gemacht hat, sind alle unsere Mitgeschöpfe nun unsere Brüder.“ „Inasmuch therefore, as we are repeatedly and expressly told that Christ has done away all distinctions of nations, and made all mankind one great family, all our fellow creatures are now our brethren.“ Wilberforce: Abolition, 319. 182 Vgl. 3.1 zu Wilberforces Engagement verschiedenen in erwecklichen Vereinen vgl. 3.2.3. 183 „Eine praktische Betrachtung des vorherrschenden Religionssystems angeblicher Christen in den höheren und mittleren Schichten dieses Landes verglichen mit dem wahren Christentum.“ 184 Der Titel der deutschen Ausgabe war: Praktische Ansicht des herrschenden Religionssystems vorgeblicher Christen in den höheren und mittleren Ständen verglichen mit dem wahren Christenthum, aus dem Englischen nach der achten Auflage übersetzt von A. L. P. Schröder, Frankfurt a. M. 1807. 185 „next to the bible it was the most instrumental in effecting a great change on my views of scriptural and divine truth“ Thomas Chalmers an J. Sinclair, 9.2.1829, zit. n. Roxborogh: Mission of the Church, 50. 186 Wilberforce: Practical View, 223.

136

rechte Tun im Glaubenden durch Gnade verwirklicht wird.187 In Analogie zum Lutherschen Dualismus von Gesetz und Evangelium entfaltete er das Bild vom wahren Christen, der nicht außenbestimmt ist durch gesellschaftliche Normen, sondern als emanzipiertes Individuum seine Entscheidungen aus sich selbst heraus trifft. Hier findet sich auch die Interpretation des allgemeinen Priestertums, welche charakteristisch für die Erweckungsbewegung war. Die wahren Christen wissen sich in ihren jeweiligen Verantwortungsbereich berufen. Der Zugang zu den Marginalisierten verläuft bei Wilberforce über die Selbstwahrnehmung angesichts der biblischen theologia crucis. So kann er nicht nur die Gleichheit aller Menschen begründen, sondern auch jedem auf der gleichen Ebene begegnen. Die Gesellschaft würde vor allem besser durch die Erhöhung der Sittlichkeit von Individuen.188 Wie bei Chalmers war die Schöpfungsordnung ein Ausgangspunkt seines Denkens. Wilberforce war allerdings davon überzeugt, dass sie nur durch das Vorbild der wahren Christen vermittelt werden könne. Diese ist dann aber den übrigen Menschen plausibel.189 Die wahren Christen sind von daher die wichtigsten Mitglieder des Gemeinwesens. Deshalb sind sie in die Pflicht genommen, ihre Aufgabe in der Gesellschaft wahrzunehmen.190 Intellektuelle Systeme seien nicht in der Lage, alle Schichten der Gesellschaft gleichermaßen zu bestimmen. Allein der Glaube vermag dieses wegen seiner affektiven Dimension, die auch den Unterschichten zugänglich sei.191 Das gesellschaftlich relevante Handeln der Christen vollzieht sich in verschiedenen Horizonten, beginnend mit dem persönlichen Umfeld bis zur nationalen und internationalen Politik. „Die Gesellschaft besteht aus einer Anzahl verschiedener Kreise von unterschiedlicher Ausdehnung und Bestimmung.“192 Jedem Menschen kommen so auf verschiedenen Ebenen Verantwortungen zu. Das Liebesgebot Christi ziele darauf, dass jeder danach streben soll, in seinem eigenen Kreis „allgemeine Zufriedenheit“ („general happiness“) zu erzeugen.193 Die christliche Wohltätigkeit beginnt beim kleinsten Kreis und endet im globalen Horizont. „Aber die wahre christliche Wohltätigkeit ist immer damit beschäftigt, Zufriedenheit herzustellen [. . .] in ihrem Einflussbereich sei er größer oder kleiner. [. . .] Sie gleicht majestätischen Flüssen, [. . .] die damit beginnen, Schönheit und Behaglichkeit jeder Hütte zu bringen, die sie passieren. In ihrem

187 188 189 190 191 192 204. 193

Ebd., 99f. Ebd., 215. Ebd., 211. Ebd., 250. Ebd., 210f. „Society consists of a number of different circles of various magnitudes and uses.“ Ebd., Ebd.

137

weiteren Fluss befruchten sie Provinzen und bereichern Königreiche. Schließlich ergießen sie sich in den Ozean [. . .] suchen entfernte Nationen und andere Hemisphären auf und verteilen über die ganze Welt die Flut ihrer Güte.“194

Das Christentum führt nicht nur zu einer richtigen Erkenntnis unserer selbst und unserer Umgebung, es führt auch zu einer angemessenen Vorstellung von den verschiedenen Ansprüchen und Verpflichtungen, die sich aus den verschiedenen Beziehungen ergeben, in denen wir stehen.195 In Ansätzen formulierte Wilberforce in seinem Buch auch schon Leitlinien für die Politik des Staates. Die christlich geprägte Gesellschaft ist ein Gemeinwesen solidarischer Menschen. Zum Ethos dieses Landes gehört der „Gemeingeist“ („public spirit“), den er „den wahren Lebensatem des Staates“ („the very life’s breath of state“) nennt.196 Vertrauen ist die Grundlage seiner Beziehung zu anderen Staaten.197 Seine Militärpolitik muss „streng defensiv“ („strictly defensive“) sein.198 Vor dem Hintergrund, dass zu diesem Zeitpunkt der Höhepunkt der kolonialen Expansion Großbritanniens noch bevor stand, ist Wilberforces Position hierzu bemerkenswert. Jede Vergrößerung eines Landes mit militärischen Mitteln war für ihn verwerflich.199 Ein Staat der solches tut, „lebt, wächst und gedeiht durch das Elend anderer und wird erklärtermaßen der grundsätzliche Feind seiner Nachbarn und die Geißel der Menschheit.“200 Globale Politik dürfe nicht nur von partikularen Interessen geleitet sein, in ihr müsse auch globale Verantwortung zum Tragen kommen. So habe der Patriotismus christlicher Prägung auch eine globale Perspektive: „Ohne unsere Philanthropie in die engen Grenzen eines einzigen Königreiches einzuschließen, verbindet dieser Patriotismus uns in besonderer Weise mit dem Land, zu dem wir gehören.“201 Wilberforce war wie die Aufklärer von der Perfektibilität der Gesellschaft überzeugt. Ihre Humanisierung geschieht aber nur dadurch, dass Individuen an Schlüsselpositionen des Gemeinwesens die richtigen Entscheidungen treffen. Einen Maßstab für nötige Strukturreformen vermittelt Practical View kaum. So war auch die Kirche in Wilberforces Ansatz nicht von Bedeutung. An ihre Stelle traten ein194 „But true Christian benevolence is always occupied in producing happiness [. . .] according to the extent of its sphere, be it larger or more limited. [. . .] It resembles majestic rivers [. . .] they begin with dispensing beauty and comfort to every cottage by which they pass. In their further progress they fertilize provinces and enrich kingdoms. At length they pour themselves into the ocean [. . .] they visit distant nations and other hemispheres, and spread throughout the world the expansive tide of their beneficence.“ Ebd., 205. 195 Ebd., 208. 196 Ebd., 206. 197 Ebd., 203. 198 Ebd., 204. 199 Ebd. 200 „Such a state lives, and grows, and thrives by the misery of others, and becomes professedly the general enemy of its neighbours, and the scourge of human race.“ Ebd., 207. 201 „Without shutting up our philanthropy in the narrow bounds of a single kingdom, yet [it] attaches us in particular to the country to which belong.“ A.a.O, 204.

138

zelne Christen, die dafür verantwortlich seien, dass sowohl der Staat als auch die Kirche ihrer Bestimmung nachkommen.202 Ferguson geht nun davon aus, dass dieses Buch die „Vorlage“ für Chalmers „sozialen Ansatz“ war.203 In der Tat gibt es auffällige Parallelen zwischen Wilberforces Konzept und dem seines jüngeren Zeitgenossen. Auch Chalmers wollte einzelnen Menschen eine neue Perspektive vermitteln durch die Verkündigung der christlichen Botschaft. Er war ebenfalls davon überzeugt, dass die Gesellschaft durch Christen geprägt werden kann und soll. Auch er war von der Plausibilität ihres Ethos überzeugt. Mission war somit für beide ein Instrument, das zur Humanisierung des Gemeinwesens beträgt.204 Allerdings blieb Chalmers sozialer Reformansatz hier nicht stehen. Er betonte anders als Wilberforce in Practical View, dass jeder Mensch die Grundlagen der Schöpfungsordnung wahrnehmen könne. Verantwortungsvolles Verhalten sich selbst und anderen gegenüber hat von daher nicht den christlichen Glauben als Voraussetzung. Die Anlagen zu solidarischem Handeln bedürfen aber der Förderung, insbesondere die Kirchengemeinden sind nach Chalmers an dieser Stelle gefordert.205 Zudem war Chalmers Ansatz dichotomisch. Er zielte gleichzeitig auf eine Erweiterung der Möglichkeiten einzelner Menschen, als auch auf eine Reform der Strukturen, welche diese Individuen unterstützen sollen.206 Hier schlägt sich die Dichotomie nieder, die der calvinistischen Theologie zu eigen ist. Bereits Calvin unterschied deutlich zwischen Geist und Materie,207 Glaube und Kirche.208 Dennoch waren bei ihm die beiden Aspekte komplementär.209 So konnte auch Chalmers den individuellen und den sozialen Aspekt der Diakonie z. T. ganz für sich in den Blick nehmen. Indem er aber beides tat, wird die

202 Ebd., 250. 203 „the blue print of his social concern“ W. Ferguson: Social problems of the nineteenth century, in: Scottish Historical Review, 1961, 58, zit. n. Roxborogh: Mission of the Church, 57. 204 Vgl. 7.4. 205 Vgl. 5.3.2. 206 Chalmers Forderung nach einer Reform der sozialen Strukturen ist offensichtlich von Boyd Hilton nicht wahrgenommen worden. Als zwei Protagonisten der Erweckungsbewegung räumt er Wilberforce und Chalmers in seinem Werk über die Sozial- und Wirtschaftspolitik der Evangelicals breiten Raum ein. Zu Recht grenzt er ihr Konzept von dem der nachfolgenden Generation ab. Nach Hiltons Darstellung scheinen ihre Positionen allerdings identisch zu sein. Vgl. Hilton: Atonement. 207 Vgl. Calvins Abendmahlsverständnis, Ders.: Institutio (1559), VI 17f. 208 Auf die strenge Trennung von Glauben und Kirche bei Calvin weist Miroslav Volf hin (Ders.: Trinität und Gemeinschaft. Eine ökumenische Ekklesiologie, Mainz/Neukirchen-Vluyn 1996, 163f). Volf geht davon aus, dass die Kirche bei Calvin dem Glauben nachgeordnet war. Es ist allerdings zu bezweifeln, ob aus der Tatsache, dass für Calvin der Glaube nicht notwendiger Weise durch die Kirche vermittelt werden musste, schon geschlossen werden kann, ein Glaube ohne Kirche sei für ihn denkbar gewesen (Vgl. Institutio, IV 1,1). 209 Die Komplementarität der Aspekte ist häufig nicht gesehen worden, weshalb Calvins Theologie sowohl gnostizistisch als auch gesetzlich interpretiert werden konnte.

139

Zweidimensionalität seiner Anthropologie deutlich. Der Mensch war für ihn sowohl Individuum, als auch Teil sozialer Gruppen. Seine Variante von einer christlichen Gesellschaftsreform setzte an beiden Punkten gleichzeitig an. Die Verkündigung im Sinne der Erweckungsbewegung richtete sich an den Einzelnen. Zu ihr gehörte nach Chalmers auch die Bewusstmachung seiner Würde und seiner Möglichkeiten, Verantwortung für sich und andere übernehmen zu können. Chalmers Reformansatz setzt aber gleichzeitig bei der sozialen Dimension des Menschseins an. Hier gewinnt zuerst die Kirche, genauer gesagt die Kirchengemeinde, ihre Bedeutung. Die Wahrnehmung des Menschen als soziales Wesen verweist auf ein vielschichtiges Netz von Bezügen durch das das Leben der Individuen auch bestimmt wird. An dieser Stelle zeigen sich die Grenzen eines Reformprogramms für die Gesellschaft, welches wie bei Wilberforce nur vom Individuum her gedacht ist. Wird die soziale Bezogenheit des Menschen in den Blick genommen, dann wird deutlich, wo der Einzelne abhängig ist von seiner Umgebung. So verstand Chalmers die Gemeindediakonie nicht nur als die Summe der karitativen Aktivitäten von christlich motivierten Individuen, er sah vielmehr die Gemeinde auch als Solidargemeinschaft. Chalmers jahrzehntelang wiederholte Botschaft von der Vorbildlichkeit der Glasgower St. Johnsgemeinde210 richtete sich von daher nicht nur an Individuen, sondern auch an Menschengruppen, an Nachbarschaften, an Verwandtschaften und letztlich an die ganze Gesellschaft. Das Individuum sollte seine ihm durch Schöpfung und Erlösung gegebenen Möglichkeiten wahrnehmen. Die Botschaft an die Menschengruppen war, dass der Respekt vor der Würde des Anderen und die Verantwortung füreinander die Kriterien für die Gestaltung des sozialen Raumes sein sollten. Im Falle von Krankheit, Alter und anderer Hilfsbedürftigkeit sah Chalmers hier zuerst die Nachbarschaft und Verwandtschaft als Solidargemeinschaften in die Pflicht genommen. Die Gesellschaft als Ganze hatte bei ihm vor allem bei der flächendeckenden Überwindung der Massenarmut ihre Aufgabe. Einer der Hebel, den sie anzusetzen hatte, war Chancengleichheit in der Bildung zu schaffen. Hier bekamen vor allem kirchliche Schulen in Armenvierteln eine Aufgabe.211 Die offensichtlichen Unterschiede zwischen den sozialen Reformansätzen der beiden Evangelicals zeigen, dass Practical View nicht die Vorlage von Chalmers späterem Konzept war. In der Tat war es nicht einmal der Anlass für ihn die Gesellschaftsreform zu seinem Anliegen zu machen.

210 Vgl. Kapitel 6. 211 Die eindimensionale Anthropologie, die sich in Wilberforces Practical View findet, war auch weiten Teilen der mitteleuropäischen Erweckungsbewegung zu eigen. Die Mitglieder der Basler Christentumsgesellschaft sind ein Beispiel hierfür. Gäbler charakterisiert sie so: „Im Unterschied zu englischen Evangelikalen widmeten sie sich nicht etwa strukturell der Verbesserung des Schulwesens oder der Pfarrerausbildung, sondern richteten sich am Individuum aus. Bekehrte Individuen sollten als Sauerteig in einer unchristlich gewordenen Gesellschaft wirken.“ Gäbler: Geschichte, 38.

140

Schon drei Jahre vor der Begegnung mit Wilberforces Buch hatte er in der Publikation An Inquiry into the Extent and Stability of National Resources212 ein die ganze Gesellschaft umfassendes politisches Programm vorgestellt. Seine begeisterte Reaktion auf die Lektüre von Practical View wird auch darauf zurückzuführen sein, dass Wilberforce vieles von dem zum Ausdruck brachte, was bereits zu Chalmers Überzeugungen gehörte. Diese Ansichten teilten die beiden mit vielen Zeitgenossen, die einen ähnlichen Bildungsgang wie sie absolviert hatten.213 Wilberforce hat Chalmers nicht zum Sozialreformer gemacht, möglicherweise war es aber letzterem später möglich, Wilberforces Ansichten zu beeinflussen. Im Zusammenhang seiner Reise nach London im Jahr 1817 hielt Chalmers auch einen Vortrag in Clapham, dem Wohnort Wilberforces. Bei diesem Englandaufenthalt sammelte er Bundesgenossen, die ihm helfen sollten, seine politischen Ziele verfolgen zu können. Neben Wilberforce selbst waren hier auch noch andere Politiker und Personen aus dem ClaphamKreis anwesend. Chalmers Ideen hinterließen bei den meisten einen bleibenden Eindruck. Auf der Rückreise nach Schottland merkte er an, dass Wilberforce „bei Weitem“ seine „wertvollste Erwerbung“ sei.214 Offenbar fand Wilberforce bei Chalmers ein Konzept, mit dem er sich identifizieren konnte. Die „große Veränderung“ seiner Ansichten, welche Chalmers auch auf Practical View zurückführte, bezog sich also nicht auf den Zuschnitt seines sozialen Reformprogramms. Vielmehr war das Buch seine Begegnung mit dem soteriologischen Proprium der Erweckungsbewegung. Seine Adressaten waren Menschen „mit aufgeklärtem Verstand“. Gewiss konnte sich Chalmers mit dieser Charakterisierung identifizieren. Practical View trug maßgeblich dazu bei, dass er zum Evangelical wurde. Wilberforce selbst fasste die Essenz seines Buches so zusammen: „Die Heilige Schrift und mit ihr die Kirche von England appelliert an jene, die in dem oben dargelegten Zustand sind, DIE GANZE GRUNDLAGE IHRER RELIGION NEU ZU LEGEN. In Übereinstimmung mit der Schrift fordert die Kirche sie auf, zuerst dankbar die unverdiente Güte anzubeten, die sie erweckt hat aus dem Todesschlaf; sich niederzuwerfen vor dem Kreuz Christi mit demütiger Reue und tiefer Abscheu vor sich selbst; feierlich sich zu entscheiden, alle ihre Sünden aufzugeben, und darauf zu vertrauen, dass allein die Gnade Gottes die Kraft gibt, diesem Entschluss treu zu bleiben. So 212 „Eine Untersuchung über das Ausmaß und die Stabilität nationaler Ressourcen“. 213 So auch Roxborogh: „Chalmers las nicht Wilberforce, weil er auf der Suche nach einer Sozialphilosophie war, aber Aussagen in Practical View könnten Chalmers eigene Einstellung widergespiegelt und bestärkt haben, so wie sie auch eine typische Wiedergabe der Vorstellungen vieler anderer waren.“ „Chalmers did not read Wilberforce in search of a social philosophy, but statements in the Practical view would have echoed and reinforced Chalmers’ own attitudes as much as they were a fair reflection of the thinking of many others.“ Roxborogh: Mission of the Church, 57. 214 Hanna: Memoirs II, 106.

141

und nur so, versichert sie ihnen, dass all ihre Vergehen ausgelöscht werden und dass sie von oben herab eine neue heilige Lebensgrundlage erhalten werden. Sie bringt aus dem Wort Gottes den Grund und die Bestätigung ihres Rates bei: ‚Glaube an den Herrn Jesus Christus, so wirst du gerettet werden‘. [. . .] Es ist der Hauptpunkt auf dem das ganze Christentum beruht [. . .] Manche haben sich vorgestellt, dass der Zorn Gottes abgewendet oder seine Gunst erworben werden könne durch Askese, Bußübungen oder sogar durch Formeln, Zeremonien und äußerliche Regeln. Aber jeder Mensch mit aufgeklärtem Verstand, der die sittliche Regierung Gottes anerkennt, muss auch anerkennen, dass Laster ihn kränken und Tugend ihn erfreuen muss. Mit einem Wort, er muss, mehr oder weniger der Aussage der Schrift zustimmen, ‚ohne Heiligung wird niemand den Herrn sehen‘. Aber der große Unterschied zwischen den wahren Christen und all den anderen Religiösen [. . .] betrifft die Natur dieser Heiligung und den Weg, auf welchem sie erlangt werden kann. [. . .] Dass es, kurz gesagt, nur der GLAUBE AN CHRISTUS ist, wodurch er vor Gott gerechtfertigt wird [. . .] und ein Erbe Gottes und Miterbe Christi wird, der einen Anspruch auf all die Vorrechte hat, die zu dieser hohen Beziehung gehören: Hier auf den Geist der Gnade und die partielle Erneuerung nach dem Bild seines Schöpfers, künftig, auf die vollkommene Ebenbildlichkeit mit Gott und ein Erbteil ewiger Herrlichkeit.“215

Neun Jahre nach der Lektüre von Practical View beschrieb Chalmers seinem Bruder, wie hierdurch die Akzente seiner Theologie verschoben wurden. In dem Brief klang deutlich die oben zitierte Stelle an: „Ich erinnere mich, dass mir irgendwann um das Jahr 1811 Wilberforces View in die Hände fiel, und während ich es las, fühlte ich, dass ich mich an dem

215 „The holy Scriptures, and with them the Church of England, call upon those who are in the circumstances above stated, TO LAY AFRESH THE WHOLE FOUNDATION OF THEIR RELIGION. In concurrence with the Scripture, that the Church calls upon them, in the first place, gratefully to adore that undeserved goodness which has awakened them from the sleep of death; to prostrate themselves before the Cross of Christ with humble penitence and deep self-abhorrence; solemnly resolving to forsake all their sins, but relying on the Grace of God alone for power to keep their resolution. Thus, and thus only, she assures them that all their crimes will be blotted out, and that they will receive from above a new living principle of holiness. She produces from the Word of God the ground and warrant for her counsel; ‚Believe in the Lord Jesus Christ, and thou shalt be saved‘ [Apg. 16,31]. [. . .] It is the cardinal point on which the whole of Christianity turns [. . .] There have been some who have imagined that the wrath of God was to be deprecated, or his favour conciliated by austerities and penances, or even by forms and ceremonies, and external observances. But all men of enlightened understandings who acknowledge the moral government of God, must also acknowledge, that vice must offend and virtue delight him. In short they must, more or less, assent to the Scripture declaration, ‚without holiness no man shall see the Lord‘ [Hebr. 12,14]. But the grant distinction which subsists between the true Christian and all other Religionists [. . .] is concerning the nature of this holiness, and the way in which it is to be obtained. [. . .] That, in short, it is by FAITH IN CHRIST only that he is to be justified in the sight of God [. . .] to become and heir of God and a joint heir with Christ, entitled to all the privileges which belong to this high relation; here, to the Spirit of Grace, and partial renewal after the image of his Creator; hereafter; to the more perfect possession of the Divine likeness, and an inheritance of eternal glory.“ Wilberforce: Practical View, 165f. Hervorhebungen im Original.

142

Vorabend einer großen Revolution aller meiner Überzeugungen bezüglich des Christentums befand. Ich bin jetzt zutiefst der Überzeugung – und es ist eine Überzeugung, die sich auf Erfahrung gründet – dass auf der Basis von ‚tue dies und lebe‘ kein Friede und nicht einmal wahrer und angemessener Gehorsam erreicht werden kann. Es ist ‚glaube an den Herrn Jesus Christus, so wirst du gerettet werden‘, als dieser Glaube in mein Herz kam, kam mit ihm auch Freude und Gewissheit. Die Gerechtigkeit, die wir uns zu erarbeiten versuchen, missachtet unser Unvermögen sie erlangen zu können [. . .] Die Gerechtigkeit, die wir durch den Glauben anziehen, sichert unsere Annahme durch Gott und sichert unsere Teilhabe an seinen Verheißungen und lässt uns teilhaben an jenen heiligenden Einflüssen, durch die wir befähigt werden mit der Hilfe von oben das zu tun, was wir niemals ohne sie vollbringen könnten. Wir nehmen Gott in einem neuen Licht wahr. – Wir sehen ihn als einen Vater, mit dem wir versöhnt sind; die Liebe zu ihm, welche die Furcht verscheucht, kommt wieder ins Herz und mit einer neuen Grundlage und mit einer neuen Kraft werden wir neue Kreaturen in Jesus Christus unserem Herrn.“216

Friedhelm Voges bringt die Bedeutung Wilberforces für Chalmers auf den Punkt. Practical View leitete bei ihm den „Übergang zu einem Christentum der Gnade“ ein.217

5.3 Zusammenfassung In Chalmers sozial-theologischem Konzept wirkt die Wahrnehmung des Menschen in seinen sozialen Bezügen nach, welche die frühe britische Föderaltheologie insgesamt kennzeichnete. Dabei vereinigte er Aspekte der presbyterianischen Tradition mit der freikirchlichen zu einer Synthese. Das dynamische Verständnis der Kirche (ecclesia semper reformanda), welches charakteristisch ist für die calvinistische Reformation, ermöglichte Chalmers ihre theokratische Dimension in Frage zu stellen. Dies tat er, indem er Aspekte der freikirchlichen Tradition aufgriff. So war das sola scriptura für Chalmers zuerst die Grundlage für ein religiöses 216 „I remember that somewhere about the year 1811 I had Wilberforce’s View put into my hands, and as I got on in reading it, felt myself on the eve of a great revolution in all my opinions about Christianity. I am now most thoroughly of the opinion, and it is an opinion founded on experience, that on the system of – Do this and live, no peace and even no true and worthy obedience can ever be attained. It is Believe in the Lord Jesus Christ and thou shalt be saved. When this belief enters the heart, joy and confidence enter along with it. The righteousness which we try to work out for ourselves eludes our impotent grasp [. . .] The righteousness which, by faith, we put on, secures our acceptance with God, and secures our interest in His promises, and gives us a part in those sanctifying influences by which we are enabled to do with aid from on high what we never can do without it. We look to God in a new light – we see Him as a reconciled Father; that love to Him which terror scares away re-enters the heart, and, with a new principle and a new power, we become new creatures in Jesus Christ our Lord.“ Thomas Chalmers an Alexander Chalmers, 14.2.1820, zit. n. Hanna: Memoirs I, 186. 217 Voges: Denken, 133.

143

Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen. Die Toleranz sowie die staatlich zu garantierende Wahlfreiheit waren damit Gebote der reformatorischen Theologie. Letztere zeigte sich auch in Chalmers universalem Missionsverständnis, das typisch war für die Erweckungsbewegung. Objekt der Mission war prinzipiell jeder Mensch. Grundlage dieses Missionsverständnisses war die von den Freikirchlern zuerst artikulierte Überzeugung, dass die Gesellschaft nicht als corpus christianum verstanden werden dürfe. In Chalmers Synthese wurde aber auch der freikirchliche Ansatz von der landeskirchlichen Tradition aus korrigiert. Die freikirchliche Staatstheorie des 17. Jahrhunderts, die von der Partizipation aller Staatsbürger an der Gestaltung der Gesellschaft ausging, vernachlässigte die Voraussetzungen, die dies erst ermöglichen. Sie ignorierte die Armen, die auf Grund ihrer Lebenslage nicht in der Lage sind, hieran teilzuhaben. In der Tradition der Reformatoren sah Chalmers, dass die Kirchen hier die Anwälte der Armen sein müssen. Wenn die Kirchen sich verantwortlich wissen für jeden Menschen in ihrem Einzugsbereich, dann tragen sie auch Sorge für Rahmenbedingungen, die es jedem Menschen ermöglichen, eigenverantwortlich zu leben bis hin zur Mitgestaltung der Gesellschaft, deren Teil er ist und die auch ihn mitbestimmt. Chalmers theologischer Ansatz zeichnete sich zuerst durch die Perspektive des Reiches Gottes aus. Dieser eschatologische Zugang zur Gestaltung der Welt ist eines der Charakteristika der Evangelicals und ihrer puritanischen und pietistischen Vorläufer. Er prägte die protestantische Eschatologie des 20. Jahrhunderts mit. Die Reformatoren kannten eine vergleichbare Gewichtung von Gottes Handeln an dieser Welt noch nicht. Von daher war das 17. Jahrhundert für den Protestantismus eine Phase folgenschwerer Weichenstellungen. Mit ihm setzte das Zeitalter der Aufklärung ein. In ihm wurden weit über die Grenzen der eigentlichen Aufklärung hinaus emanzipatorische Ansätze in Kirche und Gesellschaft entwickelt und umgesetzt. Erst die gesellschaftlichen Umbrüche des nachreformatorischen Jahrhunderts machten es möglich, dass die Mitgestaltung der Gesellschaft für alle ein Schwerpunkt christlich motivierten Handelns werden konnte. Mit dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts ging das Zeitalter der Aufklärung zu Ende, gleichzeitig stellten sich die theologischen Weichen wieder neu. In vielen europäischen Ländern setzte nun die Industrielle Revolution ein. Die gesellschaftlichen Verwerfungen, die sie begleiteten, wurden von vielen als bedrohlich empfunden. Ein Graben brach nun im Protestantismus auf. Auf der einen Seite standen diejenigen, welche auf die Veränderungen der Epoche und insbesondere auf die sich politisch organisierenden Opfer der Industrialisierung mit Abgrenzung reagierten. Auf der anderen Seite waren die, die hier einen Auftrag für die Kirche und einen Ort des Wirkens Gottes sahen. Chalmers gehörte zur zweiten Gruppe. Die eschatologische Perspektive eröffnete ihm zudem Ansätze zur Reform der Kirche und der Gesellschaft, die auf den Abbau sozialer Ungerechtigkeit zielten. 144

Aufklärung und Erweckung waren keine Antipoden. Bei Thomas Chalmers war dies besonders offensichtlich. Sein sozialreformerisches Konzept gehört in die Reihe der Innovationen, die charakteristisch war für die schottische Variante der Aufklärung. Man sah in der schottischen Aufklärung einen Zusammenhang zwischen technischem und ökonomischem Fortschritt sowie den ethischen Rahmenbedingungen, die bei einer solchen Entwicklung berücksichtigt werden müssen. In Chalmers Ansatz fanden aufklärerische Konzepte und die Anliegen der Erweckungsbewegung zu einer Synthese. Der spezifisch aufklärerische Beitrag hierzu war die Verortung von Kirche und Theologie in dem sozialen Umfeld einer konkreten Gesellschaft. Dies bedeutete für ihn auch eine Öffnung der Theologie für die Fragestellungen und Methoden anderer Wissenschaften. Über weite Strecken folgte Chalmers dem Ansatz der von Thomas Reid begründeten Common-Sense-Philosophie. Die sich in der schottischen Aufklärung ebenfalls entwickelnde klassische Nationalökonomie ermöglichte es ihm, die Bedeutung und Konsequenz der Armut zu entfalten. Der spezifische Beitrag der Erweckungsbewegung zu seinem Ansatz war die Perspektive des Reiches Gottes, die einen universalen Horizont eröffnete und seinen Projekten eine Dynamik verlieh, die über eine Festigung der bestehenden Verhältnisse hinausreichte. Zudem brachte ihr betonter Bezug auf die reformatorische theologia-crucis ein Korrektiv zum Optimismus der Aufklärungstheologie mit sich. Dies ermöglichte den kritischeren Zugang zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Dazu gehörte die Wahrnehmung der Marginalisierung der unteren Schichten. Eine Publikation des englischen Politikers William Wilberforce kann vor allem für Chalmers Wende zum Evangelical verantwortlich gemacht werden. Vergleicht man den sozialreformerischen Ansatz Chalmers mit dem seines älteren Zeitgenossen, dann treten allerdings trotz mancher Gemeinsamkeiten die Unterschiede offen zu Tage. Während Wilberforce sich eine Gesellschaftsreform allein davon erwartete, dass christlich geprägte Individuen Schlüsselpositionen des Gemeinwesen einnehmen, forderte Chalmers auch noch Strukturreformen. In seinem Ansatz schlug sich die Dichotomie nieder, die der Tradition seiner Kirche zu eigen ist. Bereits Calvin unterschied deutlich zwischen Geist und Materie, Glaube und Kirche, ohne jeweils eines von beiden abwerten zu wollen. So konnte auch Chalmers den individuellen und den sozialen Aspekt der Diakonie z. T. ganz für sich in den Blick nehmen. Indem er aber beides tat, wird die Zweidimensionalität seiner Anthropologie deutlich.

145

6. KAPITEL

Das Konzept der diakonischen Gemeinde 6.1 Die St. Johnsgemeinde in Glasgow als Modellprojekt Als 1819 Thomas Chalmers noch Pfarrer der Trongemeinde in der Innenstadt Glasgows war, war Glasgow nach London die zweitgrößte Stadt Großbritanniens. Seit der Jahrhundertwende hatte sich ihre Einwohnerzahl fast verdoppelt.1 Zu diesem Zeitpunkt fanden sich hier alle Kennzeichen eines frühindustriellen urbanen Zentrums. Die tiefgreifenden Wandlungsprozesse der Epoche2 zeigten sich in dieser Stadt so deutlich wie sonst nur an wenigen anderen Orten des Vereinigten Königreiches. Ihre Bevölkerung war äußerst heterogen. Die beginnende Industrialisierung und die veränderten Lebensbedingungen in den ländlichen Gebieten Großbritannien hatten Menschen aus den verschiedensten Regionen des Landes in die Stadt ziehen lassen. Hinzu kam ein Strom von Migranten aus Irland. Viele neue Bürger waren Analphabeten und hatten nur geringe berufliche Qualifikationen. Dies galt insbesondere für die Einwanderer aus Irland. Glasgow war nicht nur in besonderem Maß von den Umwälzungen der Zeit geprägt, sondern es war auch in diesen Jahren von der wirtschaftlichen Depression nach den napoleonischen Kriegen betroffen. Im Herbst und Winter 1819/20 erreichte die Wirtschaftskrise ihren tiefsten Punkt. Tausende waren arbeitslos. Besonders betroffen war die Baumwollindustrie. Mehrere Ernten in Folge waren schlecht ausgefallen, so wurde das Verhungern zu einer realen Gefahr. Viele Gemeinden eröffneten in diesem Winter Suppenküchen und gaben kostenloses Heizmaterial aus. Es kam auch zu gewalttätigen Krawallen.3 Um deutlich zu machen, wie die Kirchen zur Gestaltung der Gesellschaft beitragen könnten, konzipierte Chalmers das St. John’s Experiment. Von seiner bisherigen Gemeinde sollte ein kleinerer Teil abgetrennt werden, der eine neue Parochie, die St. Johnsgemeinde bilden sollte. Chalmers ging davon aus, dass der Stadtteil der ärmste der Stadt war.4 In ihm woll1 Vgl. Niedhard: Großbritannien, 418. 2 Vgl. 3.1. 3 Vgl. Brown, Commonwealth, 129; Cage/Checkland: Urban Poverty, 45; Hanna: Memoirs II, 249–251. 4 Chalmers, Thomas: On the Sufficiency of the Parochial System without a Poor Rate, Glasgow 1841, 100. Cage und Checkland bezweifeln, dass der Bezirk der ärmste war, ebenso wie einige Zeitgenossen Chalmers und kommen nach der Auswertung der Quellen

146

te er experimentell seine sozialreformerischen Thesen verifizieren. Die Gemeinde sollte eine überschaubare Größe haben und aus der städtischen Armenfürsorge ausgegliedert sein. Die soziale Hilfe sollte allein durch die Kirchengemeinde organisiert werden. Am 26. September 1819 konnte Chalmers die Pfarrstelle der neu gegründeten St. Johnsgemeinde antreten.5 Noch im selben Jahr wurde Edward Irving (1792–1834) als Assistenzpfarrer eingestellt, der in der Stellung bis Dezember 1821 blieb.6 Chalmers gelang es nicht gegenüber dem Städtischen Presbyterium,7 sein Ideal einer Parochie mit nur 2000 Bewohnern durchzusetzen.8 Die Presbyter, Diakone und Sonntagsschulmitarbeiter verfassten im Jahr 1819, nach dem Abschluss der ersten Visitation des Viertels, eine Schrift, in der sie die statistischen Daten des Stadtteils zusammen getragen hatten. Aus ihr geht hervor, dass in diesem Jahr dort 10 513 Menschen lebten in 2 237 Haushalten. Das waren durchschnittlich 4,7 Personen pro Haushalt.9 Die Arbeitsstellen der Bewohner des Bezirks befanden sich zu 54,4 % in der Textilindustrie, wo sich der industrielle Wandel zuerst bemerkbar gemacht hatte.10 Der Stellenwert, den er in seinen späteren Publikationen diesem Modellprojekt zugeschrieben hat, zeigt Chalmers Nähe zur kongregationalistischen Ekklesiologie. Kirche war für ihn zwar nicht nur, aber vor allem Gemeinde. Obwohl er die Reform der Kirche und der Gesellschaft auf vielen Ebenen betrieb, scheint Chalmers der Kirchengemeinde eine Schlüsselposition zugeschrieben zu haben. Die Parochialgemeinde, die sich für einen Stadtteil oder ein Dorf verantwortlich weiß, ist der Mikrokosmos des Staates. Die Gesellschaft musste nach Chalmers in erster Linie als die Summe solcher überschaubarer Gemeinwesen verstanden werden, wenn in ihr ein soziales Netz ohne Löcher geschaffen werden sollte. Seine Vorschläge zur Bekämpfung der frühindustriellen Massenarmut stellte Chalmers zuerst 1817 in einem Artikel vor. Hier schrieb er, dass es das Ziel der Armenfürsorge zu sein hätte, „die beträchtlichen Kosten des Pauperismus zu reduzieren und gleichzeitig die Nöte der Armen zu lindern.“11 Diese Formulierung ist bezeichnend für Chalmers utilitazu dem Schluss, dass der Stadtteil zum großen Teil von der upper working class bewohnt wurde. Dennoch lebten hier ohne Zweifel zahlreiche Menschen in materiellen Notlagen. Cage/Checkland: Urban Poverty, 46. 5 Vgl. Brown: Commonwealth, 128. 6 Irving arbeitete nicht nur engagiert in der Gemeinde mit, er bereiste auch im Jahr 1820 Schottland und Irland, um Chalmers Ansatz bekannt zu machen. 7 „General Session“. 8 Dies erwähnt er in einem Jahrzehnte später gehaltenen Vortrag. Vgl. The Witness 19. Juni 1844. 9 Durchschnittlich lebten 4,5 Personen in jedem Haushalt Glasgows. 10 Cage/Checkland: Urban Poverty, 42f; McCaffrey, John: Thomas Chalmers and Social Change, Scottish Historical Review 60, 1981, 43. 11 „to reduce the heavy expenses of pauperism, and, at the same time, to relieve the miseries of the poor“.

147

ristisches Denken.12 Dass materielle Überlegungen bei ihm im Vordergrund gestanden hätten, wäre ein Missverständnis. Vielmehr wollte er immer alle Seiten für sein Konzept gewinnen, die Armen wie die Reichen. Die Praktikabilität einer Maßnahme war für ihn vorrangig. Zwischen finanziellen Zwängen und den ethischen Leitlinien der sozialen Hilfe nahm er keinen Normenkonflikt wahr. Chalmers war davon überzeugt, dass das ethisch Gebotene zugleich auch praktikabel war und mit den bekannten finanziellen Ressourcen realisiert werden könne. Dieser Zugang bewahrte ihn zwar nicht vor Fehleinschätzungen, er erlaubte ihm aber relativ weitgehend Möglichkeiten auszuloten, die ideologischeren Zeitgenossen verwehrt waren. Im Folgenden wird noch deutlich werden, dass Chalmers dabei keineswegs die bestehenden Verhältnisse fixieren wollte, er strebte in der Tat den sozialen Aufstieg der Ärmsten an.13 In der St. Johnsgemeinde sollte der Öffentlichkeit die Umsetzung von Chalmers Ansatz vor Augen geführt werden. Die Intentionen dieses Modellprojektes beschrieb er in dem dreibändigen Werk The Christian and Civic Economy of Large Towns.14 Hier entfaltete er sein Konzept unabhängiger dezentraler Stadtgemeinden, die mit Hilfe eines intensiven, systematischen Besuchsdienstes der Sonntagsschulmitarbeiter, Lehrer, Presbyter und Pfarrer die Armenfürsorge selbst organisieren. Auch ihre Finanzierung sollte von den betroffenen Parochien bestritten werden.15 So konzipierte diakonische Kirchengemeinden blieben von da an das Herzstück der von Chalmers angestrebten Gesellschaftsreform. Dem Staat maß er dabei aber später eine größere Rolle zu, als noch in den 20er Jahren.16 Mit dem Armenfürsorgemodell der St. Johnsgemeinde wollte Chalmers deutlich machen, dass eine Kirchengemeinde mit ihren ehrenamtlichen Mitarbeitern der städtischen Massenarmut effizienter entgegentreten konnte, als die staatliche durch Steuern finanzierte Armenfürsorge. In den nach Chalmers Konzept strukturierten Gemeinden sollten die Bedingungen kleiner Landgemeinden reproduziert werden. Die Bewohner sollten einander kennen, so dass die Armen nicht ihre wahre Lage verschleiern könnten. Die Armenfürsorger sollten so auch durch die genaue Kenntnis der Lage der Betroffenen deren Bedürfnissen besser begegnen können. Um dieses Ziel zu erreichen, musste die Zahl der städtischen Gemeinden erheblich erhöht werden.17

12 Vgl. 5.2.2. 13 Vgl. besonders Anmerkung 33 und Abschnitt 7.5. 14 Chalmers, Thomas: The Christian and Civic Economy of Large Towns I–III, Glasgow 1821–26 (Chalmers: Works XIV–XVI). 15 Chalmers: Works XIV, 25–71, 92f, 119, 133, 139–141, 208f, 250. 16 Vgl. 7.6. 17 So hieß das 1841 erschienene Buch, in dem Chalmers noch einmal die Grundsätze und Intentionen des Armenfürsorgemodells der St. Johnsgemeinde zusammenfasste, auch: „Über das Zureichende des Parochialsystems ohne eine Armensteuer für die rechte Armenpflege“ (On the Sufficiency of the Parochial System without a Poor Rate, for the Right Management of the Poor).

148

Das Armenfürsorgesystem in den schottischen Städten unterschied sich deutlich von dem auf dem Land. Die Rolle der Staatskirche bei der Sammlung und Weitergabe der Armenhilfe war hier im Gegensatz zu vielen Landgemeinden ganz in den Hintergrund getreten. So wurden von den Geldern, die im Jahr 1815 in Glasgow an Arme verteilt wurden, nur 6 % von der Kirche aufgebracht, 61 % fanden den Weg durch häufig von Freikirchen dominierte Wohltätigkeitsvereine und zu 33 % trug das städtische, 1733 gegründete, Hospital zur Unterstützung der Armen bei. Das Hospital setzte seine Mittel sowohl innerhalb, als auch außerhalb des Hauses ein. Die Entscheidung über die Verteilung der kirchlichen Gelder lag allein in der Hand der General Session, die sich aus den Presbytern und Pfarrern aller Gemeinden Glasgows zusammensetzte.18 Chalmers erhielt für die St. Johnsgemeinde die Erlaubnis von Glasgows Stadtrat, keine Kollekten an den von der General Session verwalteten Armenfond schicken zu müssen. Er verfügte auch, dass kein Armer aus der neuen Gemeinde an das Städtische Hospital überwiesen werden sollte.19 In der ersten Vorstellung seines Konzeptes befürwortete Chalmers, dass die Presbyter der Gemeinde aus verschiedenen Teilen der Stadt kamen.20 Das Konzept implizierte, dass die Effizienz der Armenfürsorge mit der Transparenz und der systematischen Begleitung und der Christlichkeit der Betroffenen steigt. Chalmers erhob den Anspruch, dass selbst in den ärmsten Stadtteilen genügend Selbsthilfepotenziale zu finden seien, dass Hilfe von außen überflüssig sein würde. Die Gemeinden sollen nicht selbst den Armen aus ihrer Lage helfen. Sie sollen vielmehr nur die Mittel für diesen Prozess zur Verfügung stellen. Hierzu gehört auch die vorbildliche Existenz der Christen in den jeweiligen Nachbarschaften. Diese soll sozusagen zum Katalysator werden, der die natürlichen Selbsthilfepotenziale der Betroffenen aktiviert.21 Die Verbannung gesetzlich garantierter Unterstützungen sollte zudem die Solidarität der Nachbarn, Verwandten, Freunde fördern.22 Der von Chalmers vorgestellten Gemeinde, mit ihren vielen ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, kam, seiner Meinung nach, 18 Vgl. Brown: Commonwealth, 99; 390 Anmerkung 23; Cage/Checkland: Urban Poverty, 39. 19 Vgl. Brown, Commonwealth, 124, 130. 20 Vgl. Chalmers: Works XX, 287. 21 Chalmers ging davon aus, dass das christliche Ethos auch für die der Kirche Fernstehenden plausibel ist: „Die gesunde christliche Weltordnung, die die Wenigen für den Himmel erneuert, reformiert die Vielen zu Genügsamkeit und Arbeitseifer und der gegenseitigen Pflichterfüllung und all den anderen ethischen Grundsätzen, die mit Selbstachtung und der Anständigkeit des Charakters auf der Erde verbündet sind.“ „The sound Christian economy that regenerates the few for heaven, reforms the many into the frugality, and the industry, and the relative duty, and all the other moralities which stand allied with self-respect and decency of character upon earth.“ Works XIV, 414. 22 Vgl. Macleod, Donald: Thomas Chalmers and Pauperism, in: Brown: Age of the Disruption, 63–76: 67.

149

eine Schlüsselstellung für die Gesellschaft zu. Nicht zuletzt durch die von ihr geprägten Menschen verbreiteten sich die dem Christentum entsprechenden Strukturen und Werte. „Wir sollten weitaus mehr Gutes von einem Mann erwarten, der in einer Gemeinde engagiert ist, bezüglich der, von Gottes Fügung bestimmten Organisation seines Lebens und bezüglich seiner ungebrochenen Unabhängigkeit und seiner freigebigen Sympathie für Nachbarn und Kinder, als wir erwarten sollten von dem Mann, der jenseits des Bereichs aller kirchlichen Erkenntnis lebte und seinen ungeheiligten Sonntag in schändlicher und gemeiner Gottlosigkeit verbrachte.“23

In der St. Johnsparochie sollten die positiven Auswirkungen einer konsequent diakonischen Gemeinde insbesondere auf den ärmsten Teil der Bevölkerung gezeigt werden durch Begleitung, Beratung und finanzielle Unterstützung der Betroffenen. Daneben sollte der Förderung solidarischer Strukturen ebenso eine Rolle zukommen wie verschiedenen Gottesdiensten und einem flächendeckenden Bildungsangebot durch die Gemeinde. Gemeindediakonie war hier nicht auf den karitativen Bereich beschränkt.

6.2 Der Bezug zum Stadtteil – die Gemeinde als Geh-Struktur Die St. Johnsgemeinde zeichnete sich durch ihren Bezug auf das Gemeinwesen aus. Chalmers sprach hier vom principle of locality.24 Sein Ziel war es, den Stadtteil, in dem sich die Gemeinde befand, zu verändern. Die Isolation der Armen und die Gräben zwischen den Schichten sollten überwunden werden. Die Gemeinde sollte diesen Folgen der Migrationsbewegungen und der Mobilität etwas entgegensetzen. Die Heterogenität der Bewohnerinnen und Bewohner vieler Wohngebiete hatte zur Isolierung besonders der Armen geführt. Die Kirchengemeinde sollte nach Chalmers die Desintegration eines großen Teils der großstädtischen Bevölkerung überwinden und hier solidarische Gemeinschaften aufbauen. Als Vorbild diente Chalmers die ländliche Parochie.25 Der Tatsache, dass 23 „We should augur greatly more for a man of congregational habits, in regard to his providential management, and his unbroken independence, and his generous sympathy for neighbours and kinsfolk, than we should for the man who lived beyond the pale of all ecclesiastical cognizance, and spent his unhallowed Sabbath in shameful and sordid profanation.“ Chalmers: Works XIV, 414. 24 Prinzip der Lokalität. Dieses Prinzip entfaltet Chalmers in den Kapiteln zwei bis vier des ersten Bandes der Christian and Civic Economy (Chalmers: Christian and Civic Economy I, 53–169). An anderer Stellte nannte er diesen Ansatz auch das local system oder das territorial system. Damit wollte er die Verantwortung einer Gemeinde für ein bestimmtes geographisch zu bezeichnendes Gebiet deutlich machen, im Gegensatz zur Beschränkung auf die Mitglieder oder Gottesdienstbesucher einer Kirche. Vgl. The Witness 19. Juni 1844. 25 So ist das erste Kapitel des ersten Bandes der Christian and Civic Economy über-

150

in den großen Städten Schottlands die Gemeinden der Staatskirche faktisch keine Parochialgemeinden mehr waren, sondern Personalgemeinden, deren Gottesdienstbesucher oft nicht in der Parochie wohnten, stand Chalmers von daher kritisch gegenüber.26 Chalmers eigene Gemeinden können hierzu als Beispiel dienen. Die Gottesdienste am Sonntagvormittag wurden sowohl in der Trongemeinde, als auch in der St. Johnsgemeinde zum großen Teil von Menschen aus anderen Stadtteilen besucht. Dies war nicht zuletzt der Grund, weshalb man Chalmers, der als packender Prediger bekannt war, in die Trongemeinde berufen hatte. Ein voller Gottesdienst erhöhte beträchtlich die Einnahmen einer Gemeinde.27 Mit der St. Johnsgemeinde belebte Chalmers auch die schottische Tradition der Gemeindeschulen neu.28 Jede Kirchengemeinde sollte seiner Meinung nach auch eigene Schulen betreiben. Im Gegensatz zu allen anderen Schulen Glasgows, sollten die Schulen der St. Johnsgemeinde ausschließlich den Kindern des Stadtteils offen stehen. Viele Gottesdienstbesucher der St. Johnsgemeinde, die außerhalb des Stadtteils wohnten, konnten die Absicht, die sich mit dieser Regelung verband, nicht nachvollziehen. Durch dieses Lokalitätsprinzip wollte Chalmers Schüler verschiedener Schichten in derselben Schule zusammenbringen. Die Sonntagsschulen sollten sogar nur von den Kindern der unmittelbaren Umgebung besucht werden. Durch einen Besuchsdienst der Pfarrer, Presbyter, Diakone Sonntagsschullehrerinnen und -lehrer sollte ein Geflecht von Beziehungen in dem Bezirk aufgebaut werden. Hiervon waren die Familien, die zu anderen Kirchen gehörten, nicht ausgenommen.29 Die Tatsache, das die Presbyter, wie auch die Diakone, meist einer gehobeneren Schicht angehörten30 als die Familien, die sie besuchten, und deshalb auch in anderen Wohnvierteln lebten, bewertet Chalmers zu Beginn der zwanziger Jahre noch positiv. Hierdurch meinte er der Gemeinschaft, in der Arme und Reiche gleichermaßen ihren Platz haben, näher kommen zu können:

schrieben mit The Advantage and Possibility of Assimilating a Town to a Country Parish (Der Vorteil und die Möglichkeit eine Stadt- einer Landparochie anzugleichen.). 26 Vgl. Chalmers, Works XII, 214. 27 Vgl. 6.5. 28 Abschnitt 6.6 beschreibt Chalmers Schulkonzept genauer. 29 Vgl. Checkland: Then and Now, 16. 30 1821 wurden die Berufe von 21 der 24 Presbyter in einer Liste aufgeführt: 6 Kaufleute, 4 Inhaber von Manufakturen, 2 Drucker, 2 Angestellte, 1 Kattundrucker, 1 Textilhandwerker, 1 Buchhalter, 1 Chirurg, 1 Holzhändler, 1 Sattler,1 Schriftsteller. Kein einziger Arbeiter war dabei. (St. John’s Kirk Session minute book, 3. Juni 1819, Chalmersarchiv CH2/176.1) Auch die Berufe von 18 der 24 Diakone von 1823 wurden überliefert: 8 Kaufleute, 5 Inhaber von Manufakturen, 2 Chirurgen, 1 Arzt, 1 Lehrer, 1 Möbeltischler. Die soziale Schicht, zu der sie gehören entspricht der der Presbyter. (St. John’s Kirk Session minute book, 3. November 1823, Chalmersarchiv CH2/176.1).

151

„Wir wissen von nichts effektiverem, durch das unsere Familien menschlicher werden, als wenn so eine reine Beziehung gepflegt wird, als eine Beziehung der Frömmigkeit zwischen Männern respektabler Stellung auf der einen Seite, und Männern der Arbeit und der Armut auf der anderen. Wir wissen von nichts, was kraftvoller dazu dient, die verschiedenen Klassen unserer Gesellschaft zu einem feinen System der sozialen Ordnung zu verbinden und zu harmonisieren.“31

Ein wesentliches Element der Armenfürsorge war die Initiierung solidarischer Gemeinschaften. Am Beispiel von vier Fällen beschreibt Chalmers, was er hiermit meinte. Die unmittelbaren Nachbarn eines alten Webers, dessen Haushalt an Typhus erkrankt war, wurden auf die Bedürfnisse der Familie aufmerksam gemacht. Die Kinder eines betagten Mannes, die nicht in Armut lebten, wurden ausfindig gemacht und übernahmen danach seinen Unterhalt. Eine Mutter und Tochter, die beide an Krebs litten, wurden, nachdem die Nachbarn informiert worden waren, von diesen gepflegt und mit Lebensmitteln versorgt. Das minderjährige Kind einer Strafgefangenen konnte, nachdem die Gemeinde die Angehörigen gefunden hatte, bei seiner Großmutter wohnen und von seinem Vater finanziell unterstützt werden. Solcher Beistand durch Verwandte oder Nachbarn unterschied sich nach Chalmers fundamental von der Hilfe durch das städtische Hospital oder die herkömmlichen Armenfonds der Kirche. Es ist die menschlichere Variante der Unterstützung. Die Betroffenen können hierbei auch „moral sunshine“ zusammen mit der praktischen Hilfe empfangen.32 Diese Solidaritätsstrukturen sind nach Chalmers wesentlich für die Behebung der sozialen Verwerfungen seiner Zeit. Für dieses Ziel nimmt er allerdings auch die Wohlhabenderen, die nicht in der Nachbarschaft der Armen leben, in die Pflicht: „Wir wollen die Reichen nicht befreien von dem ihnen zukommenden Anteil an der Last der Philanthropie dieser Welt. Aber es ist erfreulich daran zu denken, dass während mit ihren mächtigeren Gaben ein Schulsystem errichtet werden kann mit gutem christlichem Unterricht für das Volk und einem guten 31 „We know of nothing which will tell more effectually, in the way of humanizing our families, than if so pure an intercourse was going on, as an intercourse of piety, between our men of respectable station, on the one hand, and our men of labour and of poverty, on the other. We know of nothing which would serve more powerful to link and to harmonize into one fine system of social order, the various classes of our community.“ Chalmers: Christian and Civic Economy I, 295f. Aber schon 1830 erwähnt Chalmers, dass er es vorziehen würde, wenn die Diakone der St. Johnsgemeinde selbst in der Parochie gewohnt hätten. (Chalmers: Works XVI, 321) 1841 bemerkte er in dem Buch Sufficiency of the Parochial System without a Poor Rate (61), dass Pfarrer, die selbst einem ähnlichen Milieu wie ihre Gemeindeglieder entstammen, in Arbeiterbezirken zu bevorzugen seien. In dem im Edinburgher West Port praktizierten Modell der vierziger Jahre versuchte Chalmers schließlich das Konzept der Gemeinde als Selbsthilfeinitiative am weitgehendsten umzusetzen. Hier sollten nach dem Abschluss der Gründungsphase alle Mitarbeiter aus dem Stadtteil der Gemeinde sein. Vgl. 7.3. 32 Vgl. Chalmers: Works XVI, 189–191.

152

[weiterführenden] Bildungsangebot für seine Familien und so eine Barriere aufgerichtet werden kann gegen die Liederlichkeit der Städte – gleichzeitig eine Gesinnung und eine Fähigkeit unter den Armen ist, durch die es leicht ist, das kaum unbedeutendere Übel eines verderblichen und entwürdigenden Pauperismus abzuwenden.“33

Charakteristisch für fast alle Arbeitszweige der St. Johnsgemeinde war der erwähnte Besuchsdienst. Chalmers sprach hier vom principle of aggression.34 Gemeindearbeit war für ihn über weite Strecken eine aufsuchende Arbeit. Chalmers selbst und der zweite Pfarrer, Edward Irving, besuchten systematisch alle Haushalte des Stadtteils. Der Bezirk wurde in 25 Quartiere, proportions genannt, eingeteilt. Die Einwohnerzahl der einzelnen Quartiere variierte zwischen 207 und 680 Personen.35 Für jedes dieser Quartiere sollte je ein Presbyter und ein Diakon zuständig sein, welche die Aufgabe hatten, regelmäßig alle Haushalte ihres Quartiers zu besuchen. Hiermit revitalisierte Chalmers nicht nur das Diakonenamt, sondern auch das Presbyteramt. Die Aufgabe der Presbyter war in erster Linie seelsorgerlich, aber auch für materielle Bedürfnisse waren die Kirchenältesten zuständig. In einer Ansprache, die Chalmers anlässlich einer Ordination von Presbytern hielt, beschreibt er ihre Aufgabe folgendermaßen: „Neben der Aufgabe, unserem Volk den christlichen Glauben nahe zu bringen, kenne ich keine andere, welcher wir nützlicher und löblicher unsere Ambitionen widmen können, als die, Gentlemen, das Elend, dass unter ihnen ist, zu verringern, als die, ihre aktuelle Armut zu vermindern und ihrer zu erwartenden zuvor zu kommen, als die, die große Aufgabe einer effektiven materiellen Unterstützung mit der anderen großen Aufgabe zu verbinden, den Geist und den Arbeitseifer unserer Leute zu stärken.“36

33 „We want not to exonerate the rich from their full share in the burden of this world’s philanthropy. But it is delightful to think that while, with their mightier gifts, an educational apparatus could be reared for good Christian tuition to the people, and good scholarship to their families, and so a barrier be set up against the profligacy of cities – there is meanwhile a spirit and a capacity among the poor wherewith it is easy to ward off the scarcely inferior mischief of a corrupt and degrading pauperism.“ Ebd., 190. An den gleich bedeutenden Begriff des Englischen angelehnt, wurde auch im Deutschland des 19. Jahrhunderts von Pauperismus gesprochen wenn von der Massenarmut die Rede war. Mit Armut wurde dagegen nicht so massenhaft auftretende Mittellosigkeit bezeichnet. Die Übersetzung folgt dem zeitgenössischen Sprachgebrauch, um die damals intendierte Unterscheidung deutlich zu machen. 34 Prinzip der Offensive. Dieses Prinzip setzte er vom principle of attraction ab, das Gemeinden beschreibt, die durch ein ansprechendes Programm Besucher anzogen. Zu Chalmers Zeit meinte dies vor allem eloquente Predigten. Vgl. The Witness 19 Juni 1844. 35 Dies geht aus der erwähnten Erhebung der Presbyter, Diakone und Sonntagsschulmitarbeiter hervor. Vgl. 6.1. 36 „Next to the object of Christianizing our people, I know not another to which we can more usefully and more laudably direct our ambitions, Gentlemen, than that of diminishing the amount of wretchedness that is among them, than that of alleviating their actual and of anticipating their eventual poverty, than that of combining the great object of an effectual relief with the other great object of sustaining the spirit and the industry of our people.“ Chalmers, Thomas: Address to Elders at their Ordination, zit. n. Hanna: Memoirs II, 509f.

153

Die Diakone waren ausschließlich für die materiellen Bedürfnisse der Bewohner des Stadtteils zuständig. Chalmers standen neben den ordinierten Presbytern und Diakonen, die ausschließlich Männer waren, auch eine ganze Reihe Frauen für den Besuchsdienst zur Verfügung. Schon 1799 war die Glasgow Female Society gegründet worden, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, bedürftige Frauen zu besuchen und zu unterstützen. Ein ähnlicher Verein, die Benevolent Society for Clothing the Poor, war 1812 gegründet worden. An diese Tradition knüpfte Chalmers an, bei seiner Rekrutierung von Frauen für den Besuchsdienst. Für das Jahr 1819 werden fünf Frauen aufgeführt, die die Presbyter und Diakone in ihrem Besuchsdienst ergänzen sollten. Jede von ihnen war einem bestimmten Quartier zugeteilt. In den Sonntags- und Werktagsschulen unterrichteten wenigsten 12 Lehrerinnen, die ebenfalls zu einem begleitenden Besuchsdienst angehalten waren.37 Das principle of aggression hatte Chalmers schon vor der Gründung der St. Johnsgemeinde umgesetzt. So gründete er bereits 1816 den ersten Sonntagsschulverein, dessen Sonntagsschulen ausschließlich von den Kindern eines Stadtteils besucht werden sollte. Ferner sollten die Sonntagsschulen mit einer aufsuchenden Arbeit verbunden werden, so dass auch Eltern, die den Kirchen fern standen, auf den Sonntagsschulbesuch ihrer Kinder angesprochen werden konnten.38 In den Jahren davor hatte es bereits Sonntagsschullehrer gegeben, die auch Hausbesuche durchführten.39 In diesem Sonntagsschulverein wurden die Besuche aber erstmals auf alle Haushalte eines Bezirkes ausgedehnt.40 Die Sonntagsschulen der St. Johnsgemeinde arbeiteten nach den gleichen Grundsätzen wie die des Sonntagsschulvereins, nur dass nun nicht mehr ein Verein die Arbeit trug, sondern die Gemeinde.41 Einzelne Besuchsgesellschaften existierten bereits bevor Chalmers mit seinem Besuchsprogramm begann. 1799 wurde von John Venn, u. a. die Society for Bettering the Conditions of the Poor in Clapham gegründet. Sie unterteilte die Gemeinde in acht Quartiere, denen jeweils Laien zugeteilt waren, die die Aufgabe hatten, systematisch alle Haushalte zu besuchen, um hiermit eine gerechte Verteilung der Mittel des Armenfonds zu gewährleisten.42

37 Vgl. Furgol: Poor Relief Theories, 178f. Furgol verweist auf Manuskripte des Chalmersarchivs in Edinburgh (CHA 5.1.14, CHA 5.2.17). 38 Vgl. Brown: Commonwealth, 103. 39 Vgl. Rack, Henry D.: Domestic Visitation: a Chapter in Early Nineteenth Century Evangelism, in: The Journal of Ecclesiastical History 24, 1973, 362. 40 Es ist wahrscheinlich, dass Johann Wilhelm Rautenberg in Hamburg nicht zuletzt diesem Vorbild in Glasgow gefolgt ist, als er seine Sonntagsschule mit einer aufsuchenden Arbeit verband. 1832 und 33 wirkte Wichern hier als Oberlehrer und führte solche Hausbesuche durch. Vgl. 8.2.1. 41 Vgl. Cage/Checkland: Urban Poverty, 50. 42 Vgl. Poynter, John R: Society and Pauperism. English Ideas on Poor Relief 1795/1834, London/Toronto 1969, 98; Rack: Visitation, 362; Diese Gesellschaft war eine

154

Einen ähnlichen Besuchsverein gründete auch der Londoner Pfarrer Daniel Wilson im Jahr 1812 für seine Gemeinde.43 Alle diese Konzepte antizipierten Chalmers Modell auf die eine oder andere Weise. Eine Beeinflussung seines Ansatzes von diesen Vorgängern ist bisher jedoch noch nicht nachgewiesen worden.44 Furgol merkt allerdings hierzu an: „Diese Wechselbeziehung von [. . .] Ideen und ihr Einfluss auf die Anschauungen von vielen Menschen während und unmittelbar nach der napoleonischen Ära ist offensichtlich wichtig und bestärkt den Eindruck eines allgemeinen Paradigmas von Armenfürsorgetheorien, die in den sich gerade entfaltenden Industrienationen der Epoche verbreitet waren.“45

Dennoch gesteht sie Chalmers zu, dass trotz der Impulse, die er von anderen Zeitgenossen oder auch von der Rolle der Diakone in der reformierten Tradition empfangen haben mag, seine spezifische Zuordnung der Kirchengemeinde zur Lösung der frühindustriellen Armutsproblematik einen genuinen Zuschnitt hat. Ebenso hat seine umfangreiche publizistische Verbreitung dieser Idee kein Gegenstück.46 Roxborogh geht davon aus, dass die „Prinzipien, die Chalmers anwandte, allgemein bekannt“ waren, „wenn nicht sogar überall praktiziert in Schottland“. Die Besonderheit von Chalmers St. Johnsprojekt lag „nicht in den ihm zugrunde liegenden Ideen, sondern vielmehr in der Konsequenz, mit der sie praktiziert wurden“.47 Sowohl das Lokalitätsprinzip als auch das Prinzip der Offensive weisen den Kirchen die Verantwortung für jeden Menschen innerhalb bestimmter geographischer Grenzen zu. Dabei respektierte Chalmers die Gewissensfreiheit des Einzelnen und trat für die Toleranz gegenüber anderen Überzeugungen ein. Obwohl hierbei die Gemeinde durch ihre Verkündigung präsent sein sollte, legte er Wert darauf, dass niemand für die der lokalen Dependancen der Society for Bettering the Condition and Increasing the Comforts of the Poor, die 1796 im Haus von Wilberforce gegründet worden war. Vgl. 3.2.3 Anmerkung 74. 43 Vgl. Rack: Visitation, 363. 44 Rack hält es auch für möglich, dass Chalmers Besuchsprogramm auf das Konzept von Caspar von Voght zurückgeht. Von Voght veröffentlichte sein Konzept, in dem Hausbesuche einen gewissen Raum einnahmen im Jahr 1796 in Großbritannien unter dem Titel Account of the Management of the Poor in Hamburg. Rack kann diese These aber nicht mit einer Chalmersschen Quelle belegen. Rack: Visitation, 359; Fugol spricht davon, dass Chalmers „offensichtlich“ wenigstens von Voghts Hamburger Experiment kannte. Furgol: Poor Relief Theories, 382; Vgl. Poynter: Pauperism, 87. 45 „This inter-connection of [. . .] ideas and their influence in moulding the outlook of many men in the Napoleonic era and its aftermath is obviously important, and supports the impression of a general pattern of theories on poor relief common to the developing industrial nations of the period.“ Furgol: Poor Relief Theories, 358. 46 Ebd., 382. 47 „The principles Chalmers employed were commonly known if not always practised in Scotland [. . .] What was distinctive about Chalmers at St John’s lay less in his ideas than the determination with which he enacted them.“ Roxborogh: Mission of the Church, 197.

155

Church of Scotland vereinnahmt wurde. Mitglieder anderer Kirchen wurden nicht zur Konversion gedrängt. Empfänger materieller Hilfen mussten sich diese nicht durch Erscheinen im Gottesdienst verdienen. Die Sorge um alle Menschen, die in der Nachbarschaft einer Gemeinde leben, gehörte für Chalmers zum Wesen ihres Kirche seins. Im principle of attraction würde die Gemeinde ihre Bestimmung verfehlen, im principle of aggression dazu finden. Wie weit die Kirche das ist, was sie sein soll, lässt sich danach nicht an der Anzahl der Menschen ablesen, die ihre Gottesdienste besuchen, sondern vielmehr daran, wie weit sie auch Kirche für die sie umgebende Welt ist. In Ansätzen wurde hier bereits eine subsidiäre Gliederung sozialer Verantwortung umgesetzt. Die Personen, die den Betroffenen am nächsten stehen, sollten zuerst in die Pflicht genommen werden. Zudem sollte die soziale Arbeit am Gemeinwesen orientiert sein, die Verbesserung der sozialen Bedingungen eines klar definierten Bezirkes im Blick haben. In diesem Konzept hat Chalmers die Isolierung und Marginalisierung einzelner Betroffener durchbrochen. Bestehende Beziehungen wurden unterstützt – z. B. in den Familien –, neue Beziehungsgefüge geschaffen und das soziale Leben in den Nachbarschaften gefördert. Dies ist immer noch richtungsweisend für die soziale Arbeit besonders in den urbanen Zentren. Poynters Urteil über Chalmers ist demnach: „Er war mehr als fast jeder andere, der sich zu seiner Zeit über den Pauperismus geäußert hatte, ein Mann der Moderne in seinem Interesse für die urbanen Probleme, wenn nicht sogar in den Ansätzen ihrer Lösung.“48

Furgol bezweifelt dagegen eine Relevanz von Chalmers Konzept für die Gegenwart, sie wendet ein: „Es könnte angeführt werden, dass dieses Ideal wertvoll für heutige innerstädtische Bezirke sei. Aber jene Zentren sind jetzt noch weiter entfernt von Chalmers Ziel der durch Beziehungsgeflechte verbundenen Gemeinwesen, nachdem die alten Arbeiterwohnhäuser abgerissen wurden, um Platz für anonyme Betonblocks zu schaffen.“49

Hierzu ist Folgendes anzumerken: Zum einen war das innerstädtische Wohngebiet, in dem Chalmers sein Modellprojekt platzierte, keineswegs mit den vorindustriellen Dörfern vergleichbar. Aufgrund verschiedener Migrationsbewegungen war die Bevölkerung Glasgows äußerst heterogen. Chalmers Ideal solidarischer Gemeinschaften in den verschiedenen 48 „He, more than almost any other writer on pauperism of this time, was a man of the modern age in his concern with urban problems, if not in his remedies for them.“ Poynter: Pauperism, 237. 49 „It might be argued that this ideal would be a worthy one for today’s inner city areas. Yet those centres are now even further removed from Chalmers’ aim of close-knit communities, as former working class housing areas have been cleared away to make room for anonymous concrete blocks of flats.“ Furgol: Poor Relief Theories, 410.

156

Nachbarschaften war ja gerade von ihm als Gegenkonzept zur herrschenden Realität gedacht. Zum anderen sind nicht alle sozialen Brennpunkte unserer Tage Plattenbauten. Die Anonymität großer Wohnblocks ist ein Klischee, das hier die weitere Reflektion des Ansatzes abblocken soll. Im Übrigen zeigen gegenwärtige soziale Projekte, dass auch in solchen architektonischen Entgleisungen Solidaritätspotenziale zu finden sind, die zur Humanisierung des Viertels beitragen können.50 Strohm weist der Gemeinde Christi für die Zukunft, nach dem „Zeitalter der radikalen Weltlichkeit“, die Aufgabe zu, „zur mündig gewordenen Welt ein diakonisches Verhältnis“ zu finden.51 Obwohl die Säkularisierung zu Chalmers Zeit noch lange nicht an ihrem Endpunkt angekommen war, verstand auch er die Gesellschaft nicht mehr als homogenes corpus christianum. Vielmehr antizipierte er auf seine Weise zumindest partiell, die Position der Kirche als Dienerin des Gemeinwesens. Die Diakonie der St. Johnsgemeinde beinhaltete nicht die Vereinnahmung der Andersdenkenden. Paul-Herrmann Zellfelder-Held zeigt an Hand einer Fülle von Beispielen wie dies heute durch eine Ortsgemeinde umgesetzt werden kann.52 So schlägt er etwa vor, die Anonymität großstädtischer Wohngebiete durch einen von der Gemeinde gestellten Nachbarschaftsbeauftragten zu überwinden. Das sind „Frauen und Männer, die aktiv die Rolle von gemeindlichen AnprechpartnerInnen übernehmen und auf Menschen in ihrem Bezugsfeld zugehen. Sie würden Leiden und Nöte im Blick haben, sich um soziales, gemeindliches Leben und Aktivitäten kümmern.“53

6.3 Der ehrenamtliche Schwerpunkt Zu allen Zeiten haben ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Bedeutendes in den Kirchen geleistet. Dennoch wurde das kirchliche Leben bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts weitgehend von ordinierten Geistlichen bestimmt. Luthers Betonung des allgemeinen Priestertums hatte nicht die Mitarbeit der Laien in der Kirche im Blick. Er wollte dadurch vielmehr gegenüber dem römisch-katholischen Verständnis das geistliche Amt neu definieren. Der Pfarrer sollte nicht mehr als notwendiger Mittler zwischen Gott und Mensch verstanden werden. Der Ord50 Die durch das Gemeinwesen orientierte Gemeindeaufbauprojekt, Heerstraße Nord, in Berlin-Spandau ins Leben gerufenen Initiativen, können als Beispiel hierfür dienen. Vgl. Krauß-Siemann, Jutta: Kirchliche Stadtteilarbeit, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1983, 91–109. 51 Strohm: Verantwortliche Gesellschaft, 99. 52 Vgl. Zellfelder-Held: Solidarische Gemeinde. Ein Praxisbuch für diakonische Gemeindeentwicklung, Neuendettelsau 2002. 53 Ebd., 67.

157

nung halber sollte aber die Verkündigung den dazu ordinierten Geistlichen überlassen bleiben. Dadurch wurde zunächst seine herausragende Position gefestigt. In den Freikirchen finden sich allerdings schon im 16. Jahrhundert andere Zuordnungen, durch die den „Laien“ ein wesentliches Gewicht zukam. Auch das drei- bzw. vierfach gegliederte Amt der reformierten Kirchen erweiterte die Handlungsfelder der Nichttheologen in der Gemeinde erheblich. Gerade in der Church of Scotland hatten die Laienpresbyter seit der Reformation eine wichtige Leitungsposition inne. Sie konnten auf den Synoden die Geschicke der Kirche mitbestimmen. Dennoch behielten auch in den synodal verfassten Kirchen die theologisch gebildeten Geistlichen eine besondere Stellung. Kirche ohne Pfarrer war auch hier nicht vorstellbar. Mit der Erweckungsbewegung verändertet sich das Bild völlig. In allen von ihr erfassten Kirchen bekam der Begriff des allgemeinen Priestertums eine neue Dimension. Von der Erweckungsbewegung erfasst zu sein, bedeutete für eine große Zahl von Frauen und Männern zugleich zur Mitarbeit am Reich Gottes berufen zu sein. Dies schlug sich zuerst in der Gründung zahlreicher Vereine und Gesellschaften mit diakonischer oder missionarischer Zielsetzung nieder. Ein großer Teil von ihnen wurde durch ehrenamtlich tätige Laien geleitet. Ebenso wurden die meisten Aktivitäten dieser Zusammenschlüsse durch solche bestritten. Gäbler zählt die massenhafte Gründungen dieser Vereine zu den Charakteristika der Erweckungsbewegung.54 Der neue Stellenwert des Ehrenamtes in der Erweckungsbewegung schlug sich aber nicht nur in der Konzeption von Parallelstrukturen zu den Kirchen nieder. Auch die Gemeinden profitierten davon. Chalmers setzte bei dieser schon bestehenden Dynamik an, war aber auch selbst einer ihrer bedeutenden Motoren. 1814, noch vor seinem Umzug nach Glasgow, schrieb Chalmers über seine Pläne für den neuen Wirkungsort: „Es wird mein beständiges Bestreben sein, die ganze Arbeit auf die Laien zu übertragen.“55 Die möglichst weitgehende Einbeziehung der Laien in die Gemeindearbeit war in der Tat ein Kennzeichen von Chalmers Tätigkeit in Glasgow. Er motivierte wie kaum ein anderer zur Mitarbeit. Indem er auf die oben beschriebene Weise die ehrenamtliche Arbeit strukturierte, bezog er eine erstaunlich große Anzahl von Menschen in die Arbeit der Kirchengemeinde ein. Seine Bücher wurden vor allem in der angelsächsischen Welt zur wesentlichen Fachliteratur für alle, die sich der ehrenamtlichen diakonischen wie missionarischen Arbeit widmeten. Seine Bedeutung insbesondere für die Ausbreitung der englischsprachigen Stadtmissionen ist von daher kaum zu überschätzen.56 Der neue Stellenwert, den die Evangelicals dem Ehrenamt verschafft hatten, schlug sich auch im theologischen Diskurs nieder. Unmittelbar bevor 54 Vgl. Gäbler: Auferstehungszeit, 176–178. 55 „It shall be my unceasing endeavour to get all the work shifted upon the laymen.“ 56 Vgl. Abschnitt 8.3.

158

Chalmers das Konzept der St. Johnsgemeinde der Öffentlichkeit vorstellte, wurde in Schottland die Wiederbelebung des traditionellen reformierten Diakonenamtes für die Armenversorgung diskutiert.57 Chalmers war nicht der erste, der angesichts der Massenarmut des 19. Jahrhunderts die Idee aufbrachte. Im Gegensatz zu den Presbytern, die in der Church of Scotland immer eine wichtige Position hatten, war die Aufgabe der Diakone immer unbedeutender geworden.58 Oft oblag ihnen nur noch die Verwaltung der Gemeindekasse. Wenn Chalmers auch nicht als Erster vorschlug, den traditionellen reformierten Diakonat wiederzubeleben, so war er doch der Erste, der dies in die Tat umsetzte. Sein ursprünglicher Plan war es gewesen, die St. Johnsparochie auf 2000 Einwohner zu begrenzen. Der in Chalmers Konzept vorgesehene ehrenamtliche Mitarbeiterkreis hätte dann wesentlich weniger Menschen zu betreuen gehabt. Später wies er noch einmal auf diesen Zusammenhang hin: „Vielleicht könnten einige geneigt sein zu fragen, was könnte ein Mann unter 2000 tun? Aber es muss daran erinnert werden, dass er von einem kirchlichen Mitarbeiterstab umgeben wäre von jeweils vielleicht zwanzig Ältesten, Lehrern und anderen Mitarbeitern.“59

Der Stadtteil, für den die St. Johnsgemeinde verantwortlich war, umfasste schließlich ca. 10.000 Einwohner. Zu ihrem engeren Mitarbeiterkreis gehörten neben den Pfarrern, Chalmers und Irving und zuletzt vier hauptamtlichen Lehrern für die Werktagsschulen und, wenn alle Posten besetzt waren 25 Presbyter, 25 Diakone und 50 Sonntagsschullehrerinnen und -lehrer60. Den Presbytern, Diakonen und Sonntagsschullehrern war

57 Diesen Vorschlag machte z. B. Burns. Vgl. Burns, R.: Historical Dissertation on the Law and Practice of Great Britain, an particularly of Scotland, with regard to the Poor, Edinburgh 1819. 58 Vgl. McKee, Elsie Anne: Diakonie in der klassischen reformierten Tradition und heute, in: Erneuerung des Diakonats als ökumenischen Aufgabe, Theodor Strohm (Hg.), Heidelberg 1996, 108–114. 59 „Perhaps some may be disposed to ask, what could one man do among 2000? But it is to be remembered that he would be surrounded with an ecclesiastical staff of perhaps twenty elders, teachers, and other agents.“ The Witness 19. Juni 1844. 60 Hanna: Memoirs II, 287. Die Anzahl der Sonntagsschullehrerinnen und Lehrer variierte zwischen 35 und 50. Auch fanden sich erst 1821 genügend Männer mit denen jede der 25 proportions mit einem Presbyter versorgt werden konnte. Zu Beginn des Jahres 1819 hatte die Gemeinde nur 17 Presbyter, von denen schon 12 diese Aufgabe in der Trongemeinde inne hatten. Bei den Diakonen gestaltete sich die Besetzung der Posten noch schwieriger. 1820 mussten 14 Männer die 25 Quartiere betreuen, 1823 waren es 24. (St. John’s Kirk Session minute book, 6. August 1821, 9. Oktober 1819, 3. Januar 1820 und 3. November 1823.) Die Presbyter und Diakone hatten in der St. Johnsgemeinde ein beachtliches Pensum zu erfüllen, insbesondere das Besuchsprogramm war anspruchsvoll. So nimmt es nicht Wunder, dass es nicht einfach war, immer genügend geeignete Männer für diese Aufgaben zu finden. Die Größe der Quartiere überforderte offensichtlich die Ehrenamtlichen der Gemeinde. In der Rezeption dieses Armenfürsorgemodells in Elberfeld und

159

– wie erwähnt – jeweils ein bestimmter Abschnitt des Stadtteils zugewiesen. Alle diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter trafen sich unter Chalmers Vorsitz einmal im Monat in einem spezifischen Gremium, um sich über ihren Arbeitszweig auszutauschen. Die vier Gruppen zusammen bildeten die St. John’s Agency. Sie trat viermal im Jahr unter Chalmers Vorsitz zusammen. In diesem Gremium diskutierten sie Gemeindeangelegenheiten und -programme.61 Chalmers lud regelmäßig jedes Mitglied der Agency zu sich zum Frühstück oder Tee ein, so dass jeder etwa alle sechs Wochen bei ihm zu Gast war.62 Schon im Genf Calvins waren die Presbyter jeweils für die Bewohner verschiedener Stadtteile zuständig.63 Auch die Zusammensetzung der St John’s Agency aus den zwei Pfarrern,64 den Presbytern, Diakonen, Lehrerinnen und Lehrern erinnert an die Vierämterlehre Calvins.65 Bereits in der Genfer Reformation war mit dem kirchlichen Amt des Lehrers nicht nur der theologische Lehrer gemeint, sondern auch der Schullehrer.66 Dennoch ging Chalmers nicht von vier kirchlichen Ämtern aus, sondern nur von drei. Chalmers berief sich hierbei auf die Kirchenverfassung der Schottischen Kirche, die von der Synode von Westminster im Jahr 1645 verabschiedet worden war.67 In seinen Ausführungen über die kirchlichen Ämter knüpft Chalmers also ausdrücklich an die schottische Tradition an, nicht an Calvin, wenn er die Notwendigkeit der Erneuerung der Laienämter und insbesondere des Diakonates entfaltet.68 So streicht McCaffrey auch heraus, dass das Ideal Chalmers das ehrenamtliche Engagement buchstäblich jedes Mitglieds der Gesellschaft für das Gemeinwohl in der reformierten Tradition Schottlands wurzelt.69 Deshalb konnte sich hier der auf die Mitarbeit durch Wichern wurde diesem Defizit begegnet, indem in Elberfeld die einzelnen Mitarbeiter wesentlich weniger Klienten zu betreuen hatten, als die Mitarbeiter in Glasgow, und in Wicherns Konzept findet sich überdies die Forderung einer Supervision der Ehrenamtlichen durch hauptamtliche Diakone. Vgl. 8.1.3 und 8.2.2 61 Vgl. Cage/Checkland: Urban Poverty, 50; Brown: Commonwealth, 135; Hanna: Memoirs II, 235; Cheyne: Thomas Chalmers: Then and Now, in: Ders.: Practical and the Pious, 17. 62 Hanna: Memoirs II, 282. 63 Vgl. Pfister, Rudolf: Kirchengeschichte der Schweiz II, Von der Reformation bis zum zweiten Villmerger Krieg, Zürich 1974, 209. 64 Chalmers und Irving. 65 Calvin, Jean: Institutio Christianae Religionis IV 3,4; IV 3,8; IV 4,1; IV 4,5; IV 11,6; Vgl. McKee: Diakonie, 69–74 und Hahn, Otmar: Das Diakonenamt bei Calvin, Beiträge zur Diakoniewissenschaft – Neue Folge Bd. 9, Diplomarbeit, Heidelberg 1993, 38–41. 66 Vgl. Hedke, Reinhold: Erziehung durch die Kirche bei Calvin. Der Unterweisungsund Erziehungsauftrag der Kirche und seine anthropologischen und theologischen Grundlagen, Heidelberg 1969, 78. 67 Chalmers: Christian and Civic Economy I, 253f. In Westminster war auch der Diakonat als Amt zur Versorgung der Armen definiert worden. Die deutsche Übersetzung der Kirchenordnung von Westminster findet sich bei Sack: Kirche II, 192–216. 68 Chalmers: Ebd., 269ff. 69 McCaffrey: Social Change, 59.

160

aller zielende Impuls der Erweckungsbewegung innerhalb der Kirchen niederschlagen. Die vielen Beispiele der Rezeption von Chalmers Gemeindediakonie zeigen, dass sein Modell aber auch das Potenzial hatte in unterschiedlichste Kontexte übertragen und weiter entwickelt zu werden.70 In den letzten Jahren ist die Bedeutung der ehrenamtlichen Diakonie wieder entdeckt worden. Aus theologischer Perspektive weist Moltmann darauf hin, dass der Horizont des Reiches Gottes die „allgemeine Diakonie aller Gläubigen“71 zur Folge hat. Darüber hinaus hat die Diskussion der Praxis die Defizite eines allein auf die Professionalisierung ausgerichteten Ansatzes an den Tag gebracht. Ohne die weitgehende Verberuflichung der sozialen Arbeit könnte die notwendige Hilfe in unsere wesentlich differenzierter gewordenen Gesellschaft zwar nicht geleistet werden dennoch bedarf die hauptamtliche soziale Arbeit der Ergänzung durch freiwillige Helferinnen und Helfer, die angeleitet durch Professionelle einen eigenen Beitrag zur sozialen Sicherung leisten können. Die Ehrenamtlichkeit kann der Hilfe eine eigene Qualität geben, indem sie nicht dem Zeit- und Verhaltenskorsett des bezahlten Helfers unterworfen ist. Zudem bedarf die soziale Sicherung angesichts sinkender Sozialetats der quantitativen Unterstützung. Wie haupt- und ehrenamtliche Sozialarbeit heute ineinander greifen kann, haben Kardorf, Kraimer und Müller-Kohlenberg deutlich gemacht. In einer Studie über die ehrenamtliche Sozialarbeit am Beispiel Berlins sind sie zu dem Ergebnis gekommen, dass eine supplementäre Arbeitsteilung zwischen professionellen und ehrenamtlichen Helfern angestrebt werden sollte,72 wobei die unbezahlten Kräfte Tätigkeiten übernehmen, für die die hauptberuflichen Kräfte „in den wenigsten Fällen Zeit haben“. Das sind „Gespräche, Training von Alltagskompetenzen, psychische Stabilisierung, Beratung, Freizeitgestaltung, Spielen mit Kindern, Entwicklungsförderung, Zuhören, Gewährung und Vermittlung von sozialem Kontakt, ‚Hoffnung machen‘, Spazieren gehen und die Organisation von Lebensnotwendigkeiten.“

Bei einer solchen Arbeitsteilung müsste der Aufgabenbereich der Sozialarbeiterinnen und -arbeiter neu definiert werden, damit die Ehrenamtlichen nicht als Konkurrenz und Bedrohung für diese empfunden werden. In der hauptamtlichen Sozialarbeit würden bei der Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen die social-management Funktionen stärker akzentuiert. Das ist die „Bedarfsanalyse, Begleitung und Anleitung der Helfer, Evaluation und Projektentwicklung“. Das supplementäre Modell ermöglicht auch 70 Vgl. Kapitel 8. 71 Moltmann, Jürgen: Diakonie im Horizont des Reiches Gottes. Schritte zum Diakonentum aller Gläubigen, Neukirchen-Vluyn 21989, 38. 72 Kardorf, Ernst von/Kraimer, Klaus/Müller-Kohlenberg, Hildegard: Laien als Experten. Eine Studie zum sozialen Engagement im Ost- und Westteil Berlins, Frankfurt a. M. 1994, 147–149.

161

eine Kompetenzteilung zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen, so dass in allen Bereichen weitgehend eigenverantwortlich gearbeitet werden kann. 6.4 Die Armenfürsorge Die Betreuung und Begleitung der Armen durch die Gemeinde bildete den Kern des St. Johnsexperimentes. Das Konzept, welches ihr zu Grunde lag, sollte eine Perspektive zur Abschaffung der Massenarmut eröffnen. Chalmers ging davon aus, dass man dem Problem der Armut am besten dadurch begegnet, dass man in die Armen „ein Prinzip der Unabhängigkeit pflanzt“ und „sie lehrt, vor dem Pauperismus als einer Entwürdigung zurückzuschrecken“.73 Er unterschied strikt zwischen Armut74 und Pauperismus75. Ein Armer war für ihn jemand, der nicht in der Lage war, seine Familie und sich angemessen zu versorgen. Ein Pauper dagegen bezog eine gesetzlich garantierte Unterstützung aus einem Armenhilfsfond.76 Chalmers bezweifelte, dass es jemals möglich werden könnten, die Armut zu beseitigen. Sein Ziel war es allerdings, den Pauperismus abzuschaffen, der in seinen Augen die Betroffenen stigmatisierte, in ihrer Rolle fixierte und allein zu Objekten der Hilfe degradierte.77 Der Pauperismus war für Chalmers etwas, was seiner Natur widerspricht.78 Gelingt es einem Armen, sich seiner Möglichkeiten und seines Wertes bewusst zu machen, so wird er nach Chalmers auch zu einem Subjekt der Diakonie: „Es ist tatsächlich so, dass mit ein wenig Anleitung die Armen zu dem effektivsten Instrument der Verbesserung ihrer Lebensbedingungen gemacht werden können.“79 Langfristig wollte er die Bedürftigen aus der Rollenfixierung des armen Hilfeempfängers herauslösen und sie zu einem selbstbestimmten Leben

73 „Plant in their bosoms a principle of independence [. . .] teach them to recoil from pauperism as a degradation“ Chalmers, Thomas, zit. n. Hanna: Memoirs I, 384. An anderer Stelle sagt er, dass das Christentum „das Prinzip der Unabhängigkeit lehrt“, ders.: Works XI, 428. 74 poverty. 75 pauperism Vgl. hierzu auch 6.2 Anmerkung 33. 76 „A poor man is a man in want of adequate means for his own subsistence. A pauper is a man who has this want supplemented in whole or in part, out of legal and compulsory provision.“ Chalmers, Thomas: The Christian and Civic Economy of Large Towns II, 51. Zu der auch in Deutschland gemachten Unterscheidung zwischen Armut und Pauperismus, kam in Großbritannien noch die Unterscheidung zwischen dem Armen und dem Pauper (poor, pauper). 77 Vgl. Macleod: Pauperism, 64f. 78 „Pauperism was to Chalmers, as slavery was to Rousseau, a human invention created against nature.“ Poynter: Pauperism, 234. 79 „With a little guidance, in fact, may the poor be made the most effective instrument of their own amelioration.“ Chalmers: Christian and Civic Economy I, 159.

162

bringen. Der Hilfe zur Selbsthilfe sollte auch die Gründung einer Sparkasse in der St. Johnsgemeinde dienen.80 Schon sehr früh betonte er, dass die Armen auch Subjekte der Hilfe sein sollten. In seiner 1814 veröffentlichten Schrift The influence of bible societies on the temporal necessities of the poor hatte er zum ersten mal ein Penny-a-Week-System propagiert, mit dem auch Arme die Bibelgesellschaft unterstützen sollten.81 Die Hilfsbedürftigen selbst zu Gebern werden zu lassen blieb ein wesentliches Element Chalmers Konzeptes. Deshalb sollten auch sie, wie ihre wohlhabenderen Zeitgenossen mit entsprechend kleineren Beträgen den Kirchenbesuch wie den Schulbesuch ihrer Kinder zu bezahlen haben. Da den Armen nach Chalmers ihre Möglichkeiten und ihr Wert oft nicht bewusst war, mussten ihnen dieser vermittelt werden, dies geschieht in Chalmers Konzept sowohl durch persönliche Betreuung, als auch durch Bildungsprogramme. Deshalb sind auch die Schulen ein wichtiger Teil der Armenhilfe.82 Chalmers war von der Lernfähigkeit aller Menschen überzeugt.83 Die Schulen waren nach Chalmers in besonderer Weise dazu geeignet, die Rollenfixierung der Armen zu durchbrechen und ihnen einen sozialen Aufstieg zu ermöglichen: „Wir glauben, dass das hinreichende Auskommen des Volkes auf lange Sicht durch die Einsicht und den Wert der Leute erreicht werden wird; dass es eine untrennbare Allianz gibt zwischen den zwei Elementen ihres Wesens und ihres Wohlergehens; und dass eine sorgfältige Erziehung in den Grundwahrheiten im ganzen Land, vielleicht nicht den einzigen Weg, aber gewiss die sichere Hauptstraße zum materiellen Wohlergehen der gesamten Gesellschaft darstellt.“84

In diesem Zitat wird auch deutlich, dass für Chalmers ein enger Zusammenhang bestand zwischen der Emanzipation des Einzelnen und dem Gemeinwohl. Die persönliche Betreuung und die Bildungsprogramme, die Chalmers lancierte, sollten den Armen von daher nicht nur ihre eigenen Möglichkeiten und ihren Wert deutlich machen, sondern auch

80 Vgl. Chalmers: Works XV, 304–333. Roxborogh weist darauf hin, dass die Idee solcher Sparkassen in Großbritannien vor allem von Henry Duncan (1774–1846) propagiert wurde. Roxborogh: Mission of the Church, 211. 81 Vgl. 4.2. 82 Vgl. 6.6. 83 Vgl. Chalmers: Works XXI, 339–367. Chalmers Bildungsansatz war u. a. von Thomas Robert Malthus beeinflusst, der den Ausbau des Bildungssystems zur Bekämpfung der Massenarmut empfahl. Malthus schrieb 1822 an Chalmers: „I consider you as my ablest and best ally.“ („Ich betrachte Sie als meinen begabtesten und besten Verbündeten.“) zit. n. Brown: Commonwealth, 116. 84 „[. . .] believing, as we do, that the sufficiency of the people’s means will at length be reached through the medium of the people’s intelligence and the people’s worth; that there is an inseparable alliance between the two elements of their character and their comfort; and that a thorough education of principle throughout the land, though the only, yet is the sure high road to the economic well-being of the community at large.“ Chalmers: Works XIX, X.

163

die Möglichkeiten und den Wert der Gruppen, zu der sie gehörten. Das war zunächst ihre Familie aber auch die Nachbarschaft, in der sie lebten und darüber hinaus ihr Stadtteil oder ihr Dorf, bzw. ihre Kirchengemeinde. Die Hilfe zur Selbsthilfe in Chalmers Ansatz förderte niemals nur die Kompetenz des Einzelnen, sondern regte immer auch die Solidarität der Gruppe an. Eingebettet in eine Gruppe wuchsen den Betroffenen Energien zu, auf die sie allein gelassen hätten verzichten müssen. Chalmers sprach später in diesem Zusammenhang vom Herdentrieb85, den man nützen müsste. „Was die Leute allein nicht tun, das tun sie mit Vergnügen und Bereitschaft in einer Herde.“86 In der Einzelfallhilfe ist Chalmers Verständnis der Würde, des Wertes jedes Menschen von zentraler Bedeutung. Die Kirche hat den Auftrag, dieses gerade den Armen zu vermitteln. Das sollte sie auch durch ihr eigenes Erscheinungsbild tun. Deshalb sollten auch die Kirchengebäude in den Armenvierteln einem gewissen Standard entsprechen. Auch die Gehälter der Pfarrer in diesen Stadtteilen sollten nicht zu gering sein, damit die Geistlichen der Armen respektable Persönlichkeiten sein könnten.87 In Chalmers Konzept fiel den Diakonen der Kirchengemeinden eine zentrale Aufgabe zu. Er suchte diese Männer selbst aus und leitete sie dazu an, die Armen von der Armenfürsorge unabhängig zu machen und Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. Zuerst sollten sie an die Verantwortung der Betroffenen appellieren, sie zu mehr Arbeitseifer ermutigen. Nur wenn sie wirklich keine Möglichkeiten hatten sich selbst zu helfen, sollte der Diakon die Solidarität der Nachbarschaft, der Familie und anderer möglicher Bezugsgruppen der Betroffenen anregen. Erst, falls keine dieser Möglichkeiten greifen sollte, sollten die Armen durch die Gemeinde unterstützt werde. Jeder Diakon sollte einem der 25 Proportions zugeteilt sein. Die Absicht war, dass er mit den Bewohnern ihres Quartiers vertraut werden, ihre Lebensbedingungen kennen und im Falle der Bitte um Unterstützung, den Kontext des Betroffenen kennen sollte. In einer von Chalmers formulierten Aufgabenbeschreibung schrieb er, dass bei einer Bitte um Unterstützung die Diakone zuerst herausfinden sollten, ob der Betroffen überhaupt in der Lage war, selbst einer Arbeit nachzugehen. Sei ihm dies möglich, so könne die Unterstützung überflüssig sein oder möglicherweise deutlich geringer ausfallen. Zweitens sollte der Diakon herausfinden, ob die Verwandten oder Freunde des Betroffenen ihn unterstützen könnten. In einem nächsten Schritt sollte herausgefunden wer-

85 gregarious principle. The Witness 19 Juni 1844. 86 „What people will not do singly they do with delight and readiness in a flock.“ Ebd. 87 Schon 1809 trug Chalmers diesen Gedanken auf der Schottischen Generalsynode vor. Vgl. Chalmers, Thomas: The Substance of a Speech, Delivered in the General Assembly, on Thursday, May 25, 1809, Respecting the Merits of the Late Bill for the Augmentations of Stipends to the Clergy of Scotland, Edinburgh 1809, 31ff. Vgl. hierzu auch 7.3 Anmerkung 70.

164

den, ob die oder der Betroffene zu einer Freikirche gehörte, und wenn das der Fall sei, ob sie die angefragte Hilfe leisten könnte. Wenn nach all diesem die Hilfe durch die St. Johnsgemeinde immer noch nötig war, sollte der Diakon sicherstellen, dass die oder der Betroffene seit mindestens drei Jahren in Glasgow wohnte und keine Unterstützung vom städtischen Hospital oder einer anderen Kirchengemeinde bezöge. Um die Betroffenen nicht gleich von der Unterstützung der St. Johnsgemeinde abhängig zu machen, gab man ihnen in der Regel zunächst nur einen kleinen Betrag, der ihnen über den aktuellen Engpass hinweg helfen sollte. Danach sollte ein zweiter Diakon involviert werden, der noch einmal die Punkte der schriftlichen Vorgabe durchzugehen hatte. Danach sollte der Fall in dem Treffen aller Diakone besprochen und entschieden werden. Erst dieses monatlich tagende Gremium aller Diakone setzte die Höhe der Zuwendung fest, deren Höhe sich an den Sätzen der anderen Gemeinden orientieren sollte. Der Betroffene sollte bei diesem Treffen selbst anwesend sein. Wenn sein Antrag hier positiv entschieden wurde, wurde er in dieser Versammlung formell in die Gruppe der Unterstützungsempfänger aufgenommen.88 Offensichtlich gab es nicht selten Versuche, die Diakone zu täuschen, weshalb für Chalmers die sorgfältige Prüfung der einzelnen Fälle vor der Bewilligung einer Unterstützung durch die Gemeinde gerechtfertig war.89 Bevor ein Armer von der Gemeinde unterstützt wurde, konnte der Diakon ihm auch noch aus seinen eigenen Mitteln eine kleine Unterstützung als Soforthilfe zukommen lassen.90 Daneben sollte er seinen Einfluss geltend machen bei der Arbeitsuche arbeitsfähiger Klienten. Cheyne nennt Chalmers „einen hervorragenden Organisatoren, gewiss ist er der Vater des modernen Gremiensystems in der [Schottischen] Kir-

88 „When one applies for admittance through his deacon upon our funds, the first thing to be inquired into is, if there be any kind of work that he can yet do so as either to keep him altogether off, or as to make a partial allowance serve for his necessities; the second, what his relatives and friends are willing to do for him; the third, whether he is a hearer in any dissenting place of worship, and whether its session will contribute to his relief. And if after these previous inquiries it be found that further relief is necessary, then there must be a strict ascertainment of his term of residence of Glasgow, and whether he be yet on the fund of the Town Hospital, or is obtaining relief from any other parish. If upon all these points being ascertained the deacon of the proportion where he resides still conceives him an object for our assistance, he will inquire whether a small temporary aid will meet the occasion, and state this to the first ordinary meeting. But if instead of this he conceives him a fit subject for a regular allowance, he will receive the assistance of another deacon to complete and confirm his inquiries by the next ordinary meeting thereafter, at which time the applicant if they still think him a fit object, is brought before us, and receive upon the fund at such a rate of allowance as upon all the circumstances of the case the meeting of deacons shall judge proper. Of course pending these examinations the deacon is empowered to grant the same sort of discretionary aid that is customary in other parishes.“ Chalmers: Christian and Civic Economy II, 151f. 89 Vgl. Hanna: Memoirs II, 302. 90 Vgl. Hanna: Memoirs II, 299.

165

che“91 Die Möglichkeit, regelmäßig mit den anderen Mitarbeitern der Gemeinde die Problematik der ihnen Anbefohlenen diskutieren zu können, versetzte die Diakone in die Lage, sich ein vielschichtiges Bild der Lebensbedingungen und Bedürfnisse der Betroffenen zu machen. Die Fürsorge der Gemeinde sollte durch eine genaue Kenntnis der Lebensbedingungen der Armen gekennzeichnet sein. Deshalb sollten die Diakone die Haushalte ihres Quartiers auch regelmäßig besuchen, um eine genaue Vorstellung von den verschiedenen Nachbarschaften zu bekommen. Ihre Aufgabe war es auch, die verschämten Armen zu finden, die selbst zu stolz oder zu schwach waren um Hilfe zu bitten, die bei dem bisher praktizierten Fürsorgesystem vernachlässigt wurden. Roxborogh geht davon aus, dass diese investigative Methode, die Chalmers Armenhilfe ab dem Jahr 1819 charakterisierte, von ihm schon sechs Jahre früher in einer Predigt vor dem Verein für Armenkrankenhilfe92 vorgestellt wurde. Chalmers bezeichnete diesen Text später selbst als einen grundlegenden Text seines Armenhilfesystems.93 Hier beschreibt er die Aufgabe des Helfenden folgendermaßen: „Sie müssen ihre Zeit und Aufmerksamkeit investieren. Sie müssen hinabsteigen zu den Mühen der Untersuchung. Sie müssen sich erheben von der Ruhe der Kontemplation und müssen sich vertraut machen mit dem Objekt ihrer wohltätigen Bemühungen. Wird er sorgfältig mit ihrer Gabe haushalten, oder wird er sie verschwenden in Müßiggang und Prassen? Wird er seine Befriedigung suchen im viehischen Luxus des Momentes und seine substantielleren Bedürfnisse vernachlässigen oder seine Kinder unter vorenthaltener Bildung und Lasterhaftigkeit leiden lassen? Wird die Gabe bei ihm Faulheit befördern? Was ist sein wesentliches Bedürfnis? Fehlt ihm Gesundheit oder eine Arbeitsstelle? Ist es der Druck einer großen Familie? Braucht er Kenntnisse, um seinen kranken Kindern helfen zu können? Braucht er Heizmaterial oder Kleidung, um sie vor der Härte des Winters schützen zu können? Braucht er Geld, um den jährlichen Forderungen seines Vermieters begegnen zu können oder um Bücher zu kaufen und für die Ausbildung seiner Kinder aufkommen zu können? Geld zu geben bedeutet nicht das ganze Werk und die Arbeit der Wohltätigkeit getan zu haben. Sie müssen an das Bett des armen Mannes gehen. Sie müssen ihr Tun dem Unterstützungswerk widmen. Sie müssen sich seine Rechnungen und Quittungen ansehen. Sie müssen versuchen, die Schulden einzutreiben, die seiner Familie geschuldet werden. Sie müssen versuchen, die Löhne einzutreiben, die vorenthalten wurden wegen der Krankheit des armen Mannes oder der Raffgier des Meisters. Sie müssen zwischen ihm und seinen Vorgesetzten vermitteln. Sie müssen ihnen die Notlage seiner Situation

91 „a superb organiser – the father, surely of the modern committee system in the Kirk.“ Cheyne: Then and Now, 12. 92 Chalmers, Thomas: A Sermon, Preached Before the Society for Relief of the Destitute Sick, in St. Andrew’s Church, Edinburgh, on the Lord’s Day, April 18. 1813, Edinburgh 1813. 93 Vgl. Roxborogh: Mission of the Church, 107f.

166

vor Augen führen. Sie müssen sich um ihre Unterstützung bemühen und ihre Gefühle wecken indem sie ihnen von seinem Elend berichten.“94

Die Diakone der St Johnsgemeinde sollten auch auf die Schließung von Schankwirtschaften hinwirken und nach Möglichkeit die Gesundheit gefährdenden Wohnverhältnisse beseitigen. Sie sollten die Familien stärken und die Eltern dazu ermutigen, dass sie ihre Kinder zu einer Schule schicken. Sie sollten also als Freunde und Ratgeber den Menschen in ihrem Quartier zur Verfügung stehen mit genauer Kenntnis der dort herrschenden Verhältnisse. Die Trinker und Unmoralischen, die traditionell nicht zu den Empfängern kirchlicher Zuwendungen gehörten, sollten zwar finanziell nicht unterstützt werden, aber sie sollten sich auch um sie und ihre Familien kümmern.95 Dem Problem der Arbeitslosigkeit sollten die Presbyter und Diakone dadurch begegnen, dass sie den Betroffenen dabei halfen, einen Arbeitsplatz zu finden.96 Die Armen des Stadtteils wurden in zwei Kategorien aufgeteilt: Die alten Armen waren solche, welche bei der Gründung der St. Johnsgemeinde bereits zu den regelmäßigen Hilfeempfängern gehörten. Die neuen Armen bildeten die neu hinzukommenden Bedürftigen. Alte Arme sollten ihre Unterstützung weiter bekommen bis sie entweder gestorben wären oder freiwillig sich für ihre Unabhängigkeit entschieden. Die Abschaffung des Pauperismus sollte dadurch erreicht werden, dass die Anzahl der neuen Armen sukzessiv reduziert werden sollte, darüber hinaus sollte die Bevölkerung des Stadtteils unterwiesen werden in den Tugenden des Arbeitseifers, der Selbstbeschränkung97 und gemeinschaftlicher Wohl94 „You must give your time and your attention. You must descend to the trouble of examination. You must rise from the repose of contemplation, and make yourself acquainted with the object of your benevolent exercise. Will he husband your charity with care, or will he squander it away in idleness and dissipation? Will he satisfy himself with the brutal luxury of the moment, and neglect the supply of his more substantial necessities, or suffer his children to be trained in ignorance and depravity? Will charity corrupt him by laziness? What is his peculiar necessity? Is it the want of health or of employment? Is it the pressure of a numerous family? Does he need wisdom to administer to the diseases of his children? Does he need fuel or raiment to protect them from the inclemency of winter? Does he need money to satisfy the yearly demands of his landlord, or to purchase books and to pay for the education of his offspring? To give money, is not to do all the work and labour of benevolence. You must go to the poor man’s bed. You must lend your hand to the work of assistance. You must examine his accounts. You must try to recover those debts which are due to his family. You must try to recover those wages which are detained by the injuries or the rapacity of master. You must employ mediation with his superiors. You must represent to them the necessities of his situation. You must solicit their assistance, and awaken their feelings to the tale of his calamity.“ Chalmers: Destitute Sick, 30–32. 95 Vgl. Hanna: Memoirs II, 298–301. 96 Vgl. Cage/Checkland: Urban Poverty, 49. 97 moral restraint Chalmers benutzt hiermit einen Begriff des Thomas Robert Malthus, der bei ihm u. a. den Verzicht auf die – oder das Aufschieben der – Heirat aus wirtschaftlichen Gründen einschließt. Macleod bemerkt hierzu, dass damit die Langfristigkeit der Perspektive Chalmers deutlich wird. Macleod: Pauperism, 70.

167

tätigkeit. Die Trennung von alten und neuen Armen sollte durch zwei separate Armenunterstützungsfonds und zwei separate Verwaltungsstrukturen erreicht werden: Der Fond, aus dem die alten Armen unterstützt wurden, wurde durch die Kirchentürkollekte des Sonntagvormittaggottesdienstes der St. Johnsgemeinde finanziert. Der Fond für die neuen Armen hingegen wurde aus der Kollekte des Sonntagabendgottesdienstes gespeist.98 Diese Unterscheidung war mit Absicht gewählt. Die Besucher des Vormittaggottesdienstes waren deutlich wohlhabender als die der Abendversammlung,99 so war der Fond für die neuen Armen naturgemäß kleiner. Hier waren nach Chalmers Konzept geringere Mittel erforderlich, weil der Schwerpunkt der Hilfe für diese Gruppe auf der Förderung der Selbsthilfe und der familiären und nachbarschaftlichen Solidarität lag.100 Der Morgengottesdienst hatte Besucher aus ganz Glasgow. Am Abend waren die Gottesdienstbesucher zumeist ärmer und aus dem Stadtteil der St. Johnsgemeinde. Indem gerade diese Kollekte für den Armenfond verwendet werden sollte, sollten sich zwei Thesen Chalmers bestätigen: Zum einen waren die Armen in der Lage sich durch Solidarität untereinander zu helfen. Zweitens konnte der geographische Rahmen einer solchen Selbsthilfe ein einziges Wohngebiet sein.101 Das bedeutete eben auch Chalmers Prinzip der Lokalität. Für jedes der 25 Quartiere des Stadtteils war, wie schon erwähnt, je ein Presbyter und ein Diakon zuständig. Neben ihren seelsorgerlichen Pflichten hatten die Kirchenältesten die alten Armen ihrer proportion zu betreuen, während die Diakone ausschließlich für die neuen Armen zuständig waren. Die Diakone waren angewiesen, die Versorgung der neuen Armen zu gewährleisten, ohne auf die Mittel des städtischen Hospitals zurückzugreifen oder jemanden dorthin zu senden.102 Die Presbyter und Diakone waren z. T. wohlhabende Männer. Zu Chalmers Konzept gehörte es, dass sie Bedürftige auch aus ihren persönlichen Mitteln unterstützten. Dieses geschah offenbar auch in nicht geringem Maße.103 Das Ziel dieses Systems war es, dass die Armen des Stadtteils, nachdem alle alten Armen gestorben wären oder unabhängig von der Hilfe geworden 98 Vgl. Chalmers: Works XVI, 228; Christian and Civic Economy II, 142–146. 99 Vgl. 6.5. 100 Tatsächlich brachte die Abendkollekte mehr ein, als die Diakone für die Armen benötigten. In der Zeit von 1819–1823 gab es 20 offizielle Fürsorgeempfänger in der St. Johnsgemeinde. Für den Fond wurden pro Jahr durchschnittlich £ 66 6s benötigt, deutlich weniger also als die £ 80, die den Diakonen hierfür zur Verfügung standen. Vgl. Chalmers: Works XVI, 223–225. 101 Vgl. Chalmers: Works XV, 60f. 102 Vgl. Chalmers: Works XVI, 229; Cage/Checkland: Urban Poverty, 43. 103 Vgl. Cage/Checkland, 49; In einer Ansprache anlässlich der Ordination von Presbytern forderte Chalmers die Kirchenältesten ausdrücklich dazu auf, die Gelder des ihnen anvertrauten Armenfürsorgefonds durch „so many wise and well-directed exertions of private charity“ („viele weise und angemessene Einsätze von privater Wohltätigkeit“) zu ergänzen. Zit. n. Hanna: Memoirs II, 510.

168

wären, nur noch von der Kollekte der dort ansässigen Bevölkerung unterstützt würden. Für diesen Übergang vom bisherigen System zu dem von Chalmers angestrebten veranschlagte er nur einen kurzen Zeitraum, da die alten Armen oft buchstäblich betagt waren. „Aufs Ganze gesehen, geht der Pauperismus in Schottland mit einem beträchtlichen Alter einher – so dass eine Generation des Pauperismus schnell wegstirbt.“104 Als letzter Schritt sollte selbst diese Art der Unterstützung durch spontane gemeinschaftliche Wohltätigkeit ersetzt werden. Von den beiden Kollekten könnte man dann weitere Kirchen- und Schulgebäude in dem Stadtteil errichten.105 Neben den genannten Maßnahmen stellte die St. Johnsgemeinde auch noch andere soziale Hilfen zur Verfügung. So eröffnete sie z. B. im Hungerwinter 1818/19 ebenso wie viele andere Gemeinden der Stadt eine Suppenküche, um erste Hilfe in der Depression zu bieten. Chalmers fand sich allerdings in seinem Verständnis von der Würde der Betroffenen bestätigt durch die Tatsache, dass das Angebot der Suppenküche wenig genutzt wurde.106 Die Hilfe, die durch die Diakone der Gemeinde angeboten wurde, war ohne Zweifel diskreter.107 Das Armenfürsorgemodell der St. Johnsgemeinde bestand in dieser Form von 1819 bis 1837. Eine steigende Schuldenlast und ab 1826 sinkende Kirchentürkollekten zwangen die Gemeinde schließlich, die Armen ihres Stadtteils durch die städtische Armenfürsorge betreuen zu lassen.108 Die ehrenamtlich arbeitenden Presbyter und Diakone hatten in der St. Johnsgemeinde ein beachtliches Pensum zu erfüllen insbesondere das Besuchsprogramm war anspruchsvoll. So nimmt es nicht Wunder, dass es nicht einfach war, immer genügend geeignete Männer für diese Aufgaben zu finden. Teilweise blieben solche Positionen monatelang vakant. Während seiner Zeit als Pfarrer der St. Johnsgemeinde war Chalmers noch der Meinung, dass allein Hungersnöte und internationale Handelskrisen das von ihm prolongierte Selbsthilfesystem aus dem Gleichgewicht bringen könnten. Aber auch in diesen Fällen müsste dieses durch die wohlhabendere Bevölkerung eines Stadtteils aufgefangen werden kön-

104 „generally speaking, in Scotland pauperism implies considerable age – so that a generation of pauperism passes rapidly away.“ Chalmers: Christian and Civic Economy II, 144. 105 Vgl. Chalmers: Works XVI, 272–275. 106 „Es schmerzte mich jemanden vom meinen Landsleuten auf diese Weise der demütigenden Bloßstellung eines solchen Instrumentes zu unterwerfen: Sodass ich statt gekränkt zu sein sehr getröstet und ermutigt wurde durch die fast durchgängige Mißachtung, der die besagte Armenküche ausgesetzt war.“ „I felt it grievous thus to subject any of my people to the humiliating exposure of such an application: so, that instead of being mortified, I was greatly comforted and restored, by the almost universal contempt in which this said kitchen was held by them.“ Chalmers, Thomas: Statement in Regard to the Pauperism of Glasgow, from the Experience of the Last Eight Years (1823), Works XVI, 224. 107 Vgl. Hanna: Memoirs II, 254. 108 Vgl. Brown: Commonwealth, 143.

169

nen.109 Später erkannte er auch dem Staat eine wichtige Rolle in der Übernahme der Verantwortung für die großen sozialen Risiken zu.110 Zeitlebens setzte er allerdings die Armenfürsorge von der Versorgung der körperlich und psychisch Kranken ab. Kranke, die auf Grund ihres Leidens nicht der Selbsthilfe fähig sind, bedurften seiner Meinung nach der Hilfe von außen. Dies war für ihn die Aufgabe der ganzen Gesellschaft. Krankenhäuser und andere Institutionen für Kranke sollten von daher durch die öffentliche Hand finanziert werden. Die Selbsthilfe- und Solidaritätspotenziale der Nachbarschaften sollten nach Möglichkeit hierfür nicht beansprucht werden, weil sie sonst ihre Funktion der Reintegration der arbeitsfähigen Armen nicht hinreichend erfüllen könnten.111 Das St. Johnsexperiment löste eine heftige Diskussion um Chalmers Ansatz der Armenfürsorge aus, die bis in die Gegenwart reicht. Ein großer Teil der Vorwürfe gegen Chalmers entzündete sich an dem Zweifel, ob die Armenfürsorge der St. Johnsgemeinde finanziell so unabhängig war wie Chalmers es vorgegeben hatte. Neuere Studien zeigen, dass dies tatsächlich nicht der Fall war.112 Diese offensichtliche Schwäche des Modells hebt aber nicht seine positiven Aspekte auf. Macleod macht noch auf zwei weitere Defizite des St. Johnsexperiments aufmerksam: Erstens bot die Armenhilfe der Gemeinde nur Hilfe für solche an, die einen Wohnsitz in ihrem Stadtteil hatten, wie schlicht auch immer der gewesen sein mochte. Obdachlose Menschen mussten durch das soziale Netz der Chalmersschen Gemeinden fallen.113 Zweitens gehörten zum Rückgrat von Chalmers Konzept Zuwendungen an die Bedürftigen, die auf freiwilliger Solidarität beruhten. Eine ganze Reihe von Instrumenten sollten zu dieser motivieren und Strukturen schaffen, die sie begünstigten. Gesetze, die zu solidarischen Abgaben verpflichten würden, lehnte Chal-

109 Chalmers: Works XX, 265f. 110 Vgl. 7.6. 111 Vgl. Chalmers: Works XV, 45–47, 103, 105, 108, 117, 122, 128–133, und Chalmers, Thomas: On the Sufficiency of the Parochial System without a Poor Rate, Glasgow 1841, 178 (Works XXI). 112 Detailreich beleuchten vor allem Cage und Checkland die finanzielle Dimension des St. Johnsexperimentes. Sie kommen zu dem Schluss. „As a system, it was not financially viable within its own structure.“ („Innerhalb seiner eigenen Strukturen war es finanziell nicht lebensfähig.“) Daneben stellen sie fest, dass das Projekt unter der Tatsache der mangelnden Vernetzung mit den anderen Hilfsangeboten der Stadt litt. „It created forces which increased the expense of pauper relief within Glasgow, besides forming a more complex method of distributing aid, one lacking uniformity.“ („Es generierte Effekte, welche die Aufwendungen der Armenfürsorge innerhalb Glasgows steigen ließen. Daneben schuf es eine komplexere Methode der Verteilung der Hilfe. Eine gleichmäßiges Vorgehen fehlte.“) Aber auch sie bescheinigen Chalmers: „Yet there were constructive elements in Chalmers’ thinking and practice.“ („Doch gab es auch konstruktive Elemente im Denken und in der Praxis Chalmers.“) Cage/Checkland: Urban Poverty, 53. 113 Macleod: Pauperism, 65.

170

mers ab. Macleod merkt hierzu an, dass aus der Perspektive der neutestamentlichen Botschaft Chalmers Menschenbild hier zu optimistisch war.114 Vor dem Vorwurf, der Chalmers nicht selten gemacht wurde, sein Diakoniekonzept, sei ein typisches Beispiel des rüden frühindustriellen Liberalismus,115 nimmt Macleod Chalmers aber in Schutz: „Was auch immer das St. Johnsexperiment war, es war kein Experiment in laissez faire.“ Die vielfältigen Maßnahmen, mit denen Bedürftige hier unterstützt wurden sprechen eine andere Sprache.116 Macleod weist darauf hin, dass die Diakonie der St. Johnsgemeinde offenbar mehr Arme dazu bewog, in den Stadtteil der Parochie zu ziehen als ihn zu verlassen.117 Die restriktivere Vergabe von materieller Unterstützung, die zum Konzept der St. Johnsgemeinde gehörte, wurde flankiert von Hilfen bei der Arbeitssuche und Bildungsangeboten. Chalmers wurde dabei geleitet von der Perspektive eines länger dauernden Emanzipationsprozesses. Ziel war ein selbstbestimmtes Leben der vormals Armen, unabhängig von Hilfeleistungen. Soziale Arbeit kann nicht ohne langfristige Konzepte auskommen. Dennoch darf man nicht aus den Augen verlieren, dass Soforthilfe als Gebot der Barmherzigkeit u. U. gegenläufig zu solchen länger dauernden Prozessen sein kann. Die Soforthilfe hatte auch ihren Platz bei Chalmers, aber zweifellos einen untergeordneten. Erst während der großen Hungersnot 1846 bekam sie bei ihm einen vorrangigen Platz. Nicht selten wurde Chalmers langfristiges Konzept vom Standpunkt der Soforthilfe kritisiert. Ebenso wurde seine Forderung nach umfangreicher Soforthilfe durch den Staat während der Hungersnot von der langfristigen Perspektive her zurückgewiesen.118 Beide Aspekte werden in der sozialen Arbeit immer in einer Spannung zueinander stehen. Das eine kann vom anderen her schlecht beurteilt werden. Vielmehr muss in Abwägung beider Sorge getragen werden, dass beides seinen legitimen Platz bekommt. Gerade in der Armenfürsorge der St. Johnsgemeinde zeigt sich wie Chalmers das Menschenbild der föderaltheologischen Traditionen des 17. Jahrhunderts119 teilte und in seinem diakonischen Gemeindemodell operationalisierte. Aus dem eigenständig entscheidenden Individuum folgerte er konsequent die Würde des eigenständigen Einzelnen. Die soziale Dimension der Bundestheologie wurde in der Wahrnehmung des Menschen als soziales Wesen deutlich, das der Solidarität bedarf und zur

114 „Eine gefallene Welt braucht die Wohltätigkeit des Gesetzes so gewiss, wie das Gesetz der Wohltätigkeit.“ „A fallen world needs the charity of law as surely as it needs the law of charity.“ Ebd., 68. 115 So z. B. Hilton: Political Economist, 142f; Vgl. ebd. 155 Anmerkung 12. 116 Macleod: Pauperism, 71. 117 Vgl. Hanna: Memoirs II, 309. 118 Zu Chalmers Reaktion auf die Hungersnot vgl. 7.6. 119 Vgl. Kapitel 2.

171

Solidarität verpflichtet ist. In seinem Modellprojekt bestimmte beides die Struktur und das Ziel der diakonischen Arbeit. Die Diakone konnten jedenfalls in einem gewissen Rahmen eigenverantwortliche Entscheidungen treffen, die Diakonenversammlung, bzw. die St. John’s Agency, bot ihnen aber auch die Unterstützung einer Gruppe. Der Einzelne wurden gefördert, aber nicht, um nach Überwindung seiner Notlage, allein für sich selbst verantwortlich zu sein, sondern um ein verantwortliches Mitglied in einer solidarischen Gemeinschaft zu werden. Wo solche Beziehungen nicht oder nicht mehr existierten, sollte versucht werden, die Betroffenen in ihre Familie oder Nachbarschaft zu integrieren. Chalmers stellte an die Stelle des umfassenden materiellen Versorgungsprinzips die Aktivierung verschiedener Solidarisierungspotenziale sowie die systematische Hilfe zur Selbsthilfe. Niemand sollte nur sich selbst überlassen bleiben.120 Er forderte eine Diakonie, in der nicht nur Hilfsangebote für die zur Verfügung stehen, die sie in Anspruch nehmen, sondern in der für jeden Bedürftigen, auch die verschämten Armen, Verantwortung übernommen wird. Bei Chalmers sollte hierbei die Parochialgemeinde eine Schlüsselposition einnehmen.121 Paul Hermann Zellfelder-Held weist

120 Ein anderes Beispiel der systematischen Hilfe zur Selbsthilfe bei Chalmers ist sein Vorschlag zur Sklavenbefreiung in den britischen Kolonien im Jahr 1826. (Chalmers, Thomas: A Few Thoughts on the Abolition of Colonial Slavery, Glasgow 1826) Er empfahl dabei eine Übergangszeit für die Sklaven und Sklavenhalter, durch die das wirtschaftliche Überleben der sklavenhaltenden Betriebe gesichert werden sollte und die Sklaven an den neuen Zustand der Lohntätigkeit schrittweise herangeführt werden sollten. Alexander von Humboldt hatte diese Praxis an einigen Orten Lateinamerikas vorgefunden. 1833 wurde das Problem auf andere Weise gelöst: Die Sklaven wurden von einem Tag auf den anderen in die Freiheit entlassen, und ihre ehemaligen Besitzer wurden von der Regierung entschädigt. Hätte man 1826 Chalmers Rat befolgt, dann wären die Sklaven im Jahr ihrer späteren Befreiung jedenfalls in einer besseren Position gewesen. Freiheit ist mehr als ein im Gesetzbuch verankertes Recht, sie schließt auch die tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen ein. 121 Auf den Weltkirchenkonferenzen von Amsterdam (1948) und Evanston (1954) wurde der Begriff der „verantwortlichen Gesellschaft“ in den Mittelpunkt gestellt. Er sollte den sozialethischen Maßstab für die Gesellschaft bezeichnen, der dem Ethos der verantwortlichen christlichen Gemeinde entspricht. Die Glasgower St. Johnsgemeinde war bereits eine solche Gemeinde, die sich für die Menschen ihn ihrer Umgebung verantwortlich weiß. Zum Vergleich dazu die Beschreibung der Gemeinde in den Evanston Dokumenten: „Die christliche Gemeinde sollte ein sichtbares Zentrum des bürgerlichen Gemeinwesens und eine Grundlage für soziale Verantwortung im örtlichen Bereich sein. Ihr Gottesdienst sollte deutlich auf das Gesamtleben der Gesellschaft bezogen sein, in deren Bereich er stattfindet. Sie muß die Schranken in ihrem eigenen Leben niederreißen, die die Gesellschaft verneinen, damit sie beginnen kann, in ihrem eigenen Vorgehen eine Lösung der wirklichen Probleme aufzuzeigen, die das Gemeinwesen beunruhigen. Sie muss auch ein Auge für die Möglichkeiten der Erneuerung persönlichen Lebens durch das Gemeinschaftsleben kleiner Gruppen haben. Und sie muß sich genau so wie die Familien vor dem Egoismus hüten, der sie daran hindert, an dem umfassenden Leben der Kirche oder des ganzen Volkes teilzunehmen.“ Evanston-Dokumente: Berichte und Reden auf der Weltkirchenkonferenz in Evanston 1954, Focko Lüpsen (Hg.), Witten 1954, 79.

172

darauf hin, dass auch heute angesichts unserer sozialen Sicherungssysteme und der staatlich gewährleisteten Sozialhilfe die Begleitung der Menschen mit erschwerten Lebensbedingungen in ihrem Stadtteil unverzichtbar ist: „Niemals wird es gelingen, alles im Vorfeld zu verhindern oder die ideale Gesellschaft zu schaffen. Deshalb kann dies nie das Einzige sein. Es bedarf auch des helfenden Handelns am Einzelnen, das Beistehen und Aushalten in leidverursachenden Situationen.“122 Auch Zellfelder-Held hebt in diesem Zusammenhang die herausragende Bedeutung der Kirchengemeinde hervor. In der St. Johnsgemeinde wurden Grundlinien heutiger sozialer Arbeit antizipiert. Soziale Arbeit als Hilfe zu einem selbstbestimmten Leben wie sie Chalmers entfaltet hatte, findet sich in der Gegenwart u. a. in dem Konzept des Empowerment.123 Der Begriff hat seine Wurzeln in der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, die in der Mitte des vorigen Jahrhunderts einsetzte. Weiter entfaltet wurde er dann im Rahmen der feministischen Bewegung und von neueren gemeinwesenbezogenen Projekten vor allem in den USA. Der brasilianische Pädagoge Paulo Freire ergänzte die Diskussion des Begriffs durch das Konzept der politischen Bewusstseinsbildung.124 Wesentliche Aspekte steuerte auch die Selbsthilfebewegung zu dem Ansatz bei. Die Praxis des Empowerment meint heute eine Erweiterung des Handlungsspielraumes der Betroffenen, indem sowohl das Selbstbewusstsein und die Qualifikation des Individuums erhöht wird, als auch durch die Einbindung in eine (Selbsthilfe-)Gruppe die Möglichkeiten zur Selbstbestimmung verstärkt werden. Ein anderer Ansatz der gegenwärtigen sozialen Arbeit, das Case Management,125 wurde ebenfalls schon in der St. Johnsgemeinde antizipiert. Ihre Armenfürsorge kennzeichnete, dass zunächst einmal möglichst viele Informationen über die Betroffenen gesammelt wurden. Nachdem dann deutlich geworden war, dass Hilfe geleistet werden müsste, wurde der Fall auf der Diakonenversammlung reflektiert, um zu entscheiden, welche Unterstützung am sinnvollsten sei. Heute versucht das Konzept des Case Management in gleicher Weise möglichst viele Aspekte der Problematik und der Möglichkeit eines Klienten in den Blick zu nehmen. Hierdurch kann besser beurteilt werden, welche Hilfsangebote dem Betroffenen gemacht werden sollten. Ebenso ermöglicht das Case Management die Koordination von Maßnahmen, sodass Überschneidung und Lücken ver122 Zellfelder-Held, Paul Hermann: die gesellschaftliche Bedeutung der Kirchengemeinde: Anwalt für den Ort, in: Götzelmann, Arnd (Hg.): Diakonische Kirche. Anstöße zur Gemeindeentwicklung und Kirchenreform, Heidelberg 2003, 165–172: 166f. 123 Vgl. hierzu Herriger, Norbert: Empowerment in der Sozialen Arbeit, Stuttgart/Berlin/Köln 1997. 124 Vgl. Freire, Paulo: The Politics of Education. Culture Power and Liberation, South Hadley (Mass.) 1985. 125 Vgl. hierzu Löcherbach, Peter u. a. (Hg.): Case Management, Neuwied 2002, und Wendt, Wolf Rainer: Case Management im Sozial- und Gesundheitswesen, Freiburg 2001.

173

mieden werden können. Die Zusammenschau der Perspektiven der verschieden Fachleute kann auch den Zugang zum Klienten für jeden von ihnen präzisieren. Die Armen sollten durch die Armenfürsorge der St Johnsgemeinde emanzipiert werden. Chalmers grundsätzliche Ablehnung der gesetzlich garantierten Sozialhilfe ist ohne Zweifel auf eine Überschätzung der Selbsthilfepotenziale der Betroffenen zurückzuführen. Dennoch ist das Anliegen, das er damit verband, nach wie vor aktuell. Macleod stellt in diesem Zusammenhang fest, dass es Chalmers darum ging, die Stigmatisierung der Armen zu überwinden und ihnen die entwürdigende Inanspruchnahme der öffentlichen Armenversorgung zu ersparen.126 Auch heute muss soziale Arbeit Ausgrenzungen durchbrechen, in Erfahrung bringen, welche Möglichkeiten es gibt, Armut zu beseitigen und die Betroffenen bei dem Ausbrechen aus ihrer Rolle unterstützen. Hieraus folgt, dass die Modelle der Armenhilfe darauf zu befragen sind, ob sie dieses ermöglichen oder ob sie die Armen in ihrer Rolle fixieren.127 Macleod hat recht, wenn er Chalmers Armenhilfe zuschreibt, der Würde der Armen entsprechen zu wollen. Keine noch so effiziente Maßnahme rechtfertigt die Bloßstellung der Betroffenen. Was heute Respekt vor dem Anderen in der sozialen Arbeit bedeuten kann, entfaltet Richard Sennett in seiner kürzlich erschienenen Arbeit Respekt im Zeitalter der Ungleichheit.128 Die Armenhilfe der St. Johnsgemeinde zeichnete sich durch die Verknüpfung verschiedener Elemente aus. Ziel war das eigenverantwortliche Agieren der Betroffenen. Auf dem Weg dorthin erfuhren sie vielfältige Unterstützung durch die Mitarbeiter der Gemeinde. Wo es möglich war, wurden solidarische Strukturen gefördert. Der hier praktizierte Ansatz kann von daher keiner der sozialpolitischen Konzepte seiner Zeit gänzlich zugerechnet werden. Engführungen, die sich woanders fanden, vermied er. Chalmers vertrat weder eine auf die materielle Versorgung reduzierte Sozialhilfe, noch eine, die Perspektive der Betroffenen ignorierende, paternalistische Philanthropie, noch einen Liberalismus, der die Einzelnen sich selbst überließ.129 Auch wenn eingeräumt werden muss, 126 „Einige wären eher gestorben als ‚zur [Kirchen-]gemeinde‘ gegangen oder, was schlimmer war, ins Armenhaus. [. . .] Chalmers kannte die schottischen Armen besser als seine Kritiker. Es musste Armenhäuser geben. Aber viel besser war es, wo immer dies möglich war, dass Verwandte und Freunde dazu motiviert werden konnten für die notwendige Unterstützung zu sorgen [. . .]“. „Some would rather have died than ‚go on the parish‘ or, what was worse, enter the poorhouse. [. . .] Chalmers knew the Scottish poor better than his critics. There had to be poorhouses. But far better was, wherever possible, that relations and friends be persuaded to provide the necessary support [. . .]“ Macleod: Pauperism, 73f. 127 Vgl. hierzu Eugster, Stefan/Pinero, Esteban/Wallimann, Isidor: Entmündigung und Emanzipation durch die soziale Arbeit. Individuelle und strukturelle Aspekte, Bern/Stuttgart/Wien 1997. 128 Sennett, Richard: Respekt im Zeitalter der Ungleichheit, Berlin 2002. 129 Die Vernachlässigung der Begleitung der Betroffenen und die Reduzierung der Hilfe auf das Materielle war ein Kennzeichen der staatlichen Armenfürsorge. Die St. Johnsge-

174

dass Chalmers die materielle Dimension der Hilfe unterbewertet hat, so bleibt doch seine Kombination von Maßnahmen und Zielvorgaben zukunftsweisend.

6.5 Die Gottesdienste Die Gemeinde hatte nach Chalmers eine missionarische und eine diakonische Sendung. Beides gehörte für ihn zusammen. Mission war für ihn ein Mittel der notwendigen Gesellschaftsreform, durch die auch die Lebensbedingungen der Unterschichten verändert werden sollte. Die Gottesdienste der Gemeinde waren hierfür von Bedeutung, weil sie auch eine missionarische Dimension haben.130 Die rein humanitäre Diakonie hatte für Chalmers aber nichtsdestoweniger einen eigenen Wert, und die kirchliche Verkündigung war für ihn auch unabhängig von ihrer missionarischen Komponente auf zweierlei Weise ein Bestandteil der Diakonie. Zum einen ging er davon aus, dass jeder Mensch die Möglichkeit haben sollte, einen Gottesdienst zu besuchen.131 Insbesondere für die arme schottische Stadtbevölkerung war dies nicht gegeben. Diakonie bedeutete insofern die Integration Marginalisierter in die Kirche. Zum anderen war er überzeugt davon, dass für die wenig gebildeten Unterschichten die Kirchengemeinde die einzige Institution sei, die den Armen ein für sie nachvollziehbares Wertesystem vermitteln konnte: „Für den armen Mann ist der Sonntag die Quelle der alltäglichen Tugenden. Der Reiche hat vielleicht noch andere Quellen.“132 Vermittlung von Werten durch die Verkündigung bedeutete für Chalmers zuallererst auch die Vermittlung der Würde und des Wertes, den jeder Mensch besitzt.133 Der sprunghafte Anstieg der städtischen Bevölkerung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte den Bedarf an neuen kirchlichen Angeboten zu einem Problem werden lassen, dem vor allem die Vertreter der Erweckungsbewegung entgegen treten wollten. Anders als noch im 18. Jahrhundert hatten große Teile der Bevölkerung in Großbritannien nun gar nicht mehr die Möglichkeit, einen Gottesdienst besuchen zu können. Brown weist darauf hin, dass 1815 in Glasgow mehr als 120.000 Einwohner lebten. Diesen standen 54.255 Sitzplätze in den Kirchen der verschiedenen Konfessionen gegenüber. 29.345 waren in den Freikirchen meinde sollte gerade ein Gegenmodel hierzu sein. Das liberalistische und paternalistische Konzept beschreibt Boyd Hilton in: Atonement, 73–114, 203–252. 130 Der Stellenwert der Mission für die Gesellschaftsreform wird in Abschnitt 7.4 beschrieben. 131 Die Vehemenz, mit der Chalmers dieses forderte, lässt den Schluss zu, dass er von einem Recht auf die Möglichkeit des Gottesdienstbesuchs ausging. 132 „It is the poor man’s Sabbath which is the source of his week-day virtues. The rich may have other sources.“ Chalmers: Importance of Civil Government, 33. 133 Vgl. 6.4 Anmerkung 87.

175

und 24.910 in der Staatskirche.134 Ganze Gruppen der Bevölkerung entfremdeten sich mehr und mehr von der Kirche, dies galt insbesondere für die unteren Schichten.135 Einer der Gründe dafür war in Schottland auch die Art und Weise wie die Kirchen finanziert wurden. Die Gehälter der Pfarrer der schottischen Staatskirche wurden vorwiegend durch alte Stiftungen getragen. Allein in den größeren Städten finanzierten sie sich durch seat rents der Gottesdienste am Sonntagvormittag. Die seat rents waren Gebühren, die die Gottesdienstbesucher monatlich zu entrichten hatten. Durch sie war ihnen ein Sitzplatz in der Kirche reserviert. Da zu Chalmers Zeit zur Finanzierung von Pfarrergehältern keine neuen Stiftungen geschaffen wurden oder alte aufgestockt wurden, mussten alle neuen Pfarrstellen durch solche Platzmieten unterhalten werden.136 Im 18. Jahrhundert war es in den schottischen Städten noch üblich gewesen, eine gewisse Anzahl von Sitzplätzen in den Kirchen unentgeltlich den Mittellosen zu überlassen. Diese Praxis wurde im 19. Jahrhundert nach und nach aufgegeben, weil der Andrang von zahlungskräftigen Gottesdienstbesuchern immer größer wurde. Das sprunghafte Wachstum der Städte im 19. Jahrhundert veränderte somit wesentlich das Finanzierungssystem der Kirche mit dem Ergebnis, dass für den ärmsten Teil der städtischen Bevölkerung ein Gottesdienstbesuch kaum noch erschwinglich war. Auch die Pfarrergehälter in den meisten Freikirchen wurden durch Platzmieten bestritten. Eine Ausnahme bildeten Baptistengemeinden und die Chartistengemeinden.137 Dieses System führte dazu, dass der ärmste Teil der Bevölkerung nicht mehr in der Lage war, einen Gottesdienst zu besuchen. Ein weiterer Effekt der Platzmieten war, dass in den größeren schottischen Städten die Besuche der Sonntagsgottesdienste oft nur noch zu einem geringen Teil aus der Parochie kam, in der die Kirche lag. Auch die Besucher des Sonntagvormittagsgottesdienstes der St. Johnsgemeinde strömten aus ganz Glasgow zusammen, um die eloquenten Predigten Chalmers zu hören.138 Daneben hatten die seat rents noch den Effekt, dass viele Gottesdienstbesucher das Bezahlen der Platzmiete als Erkaufen eines Rechtes interpretierten, vom Pfarrer besucht und persönlich betreut zu werden.139

134 Brown: Commonwealth, 97 und Anmerkung 26, S. 390 nach der Zählung von Cleland (Cleland, J: Annals of Glasgow, Glasgow 1816). 135 Vgl. dazu: Fechner: Mission, 25–29, und den Aufsatz von William Enright: Urbanization and the Evangelical Pulpit in Nineteenth-Century Scotland, in: Church History 47, 1978, 400–407. 136 Vgl. Cheyne: Then and Now, 25. 137 Vgl. Brown, Callum G.: Art. Pew Rents, in: Dictionary of Scottish Church History and Theology, Nigel M. de S. Cameron u. a. (Hg.), Edinburgh 1993, 655. Die Chartistengemeinden waren an der Chartistenbewegung orientierte Freikirchen, die die soziale und politische Reform betonten. Vgl. Jenkins, Gordon: Art. Chartist Churches, ebd., 168. 138 Vgl. Chalmers: Works XII, 214. 139 Schon in der Trongemeinde hatte Chalmers die Erfahrung gemacht, dass die Einla-

176

Aus der erwähnten Erhebung der Mitarbeiter der St. Johnsgemeinde geht hervor, dass im Jahr 1819 40,1 % der Familien des Stadtteils in keiner Kirche einen Platz gemietet hatten. Hierfür war nicht nur Desinteresse verantwortlich, sondern auch die hohen Platzmieten insbesondere in den staatskirchlichen Gemeinden.140 Um dem ärmeren Bewohnern seiner Parochie auch den Besuch eines Gottesdienstes zu ermöglichen, führte Chalmers noch weitere Gottesdienste ein, für die keine Platzmieten erhoben wurden. Neben dem Hauptgottesdienst am Vormittag in der St. Johnskirche gab es parallel dazu einen Gottesdienst in einer der Gemeindeschulen, einen Gottesdienst am Sonntagnachmittag und einen am Sonntagabend. Jeden Sonntag predigte jeder der zwei Pfarrer in zwei dieser vier Gottesdiensten.141 Weil der Abendgottesdienst den (ärmeren) Bewohnern des Stadtteils vorbehalten war, fiel hier naturgemäß die Kollekte geringer aus als am Vormittag, so dass, wie schon erwähnt, der Armenfürsorgefond, der hieraus gespeist wurde, kleiner war als der, welcher mit der Vormittagskollekte bestritten wurde. Während der Woche gab es noch zusätzliche Gottesdienstangebote, insbesondere für die ärmsten Bewohner des Stadtteils, die mangels sonntäglicher Kleidung sich schämten, die Kirche zu besuchen. Diese kleinen Werktagsversammlungen fanden immer am Abend im Anschluss an die Hausbesuche der Pfarrer in einem bestimmten Quartier statt. Der Ort des Gottesdienstes war dann eine örtliche Baumwollspinnerei, eine Schlosserei oder eine große Wohnung. Die Bewohner des Quartiers wurden dazu eingeladen, in ihrer Arbeitskleidung die Versammlungen zu besuchen.142 Diese Versammlungen waren ein erster Schritt der Integration einer Personengruppe in die Gemeinde, die andernorts ausgegrenzt wurde. Trotz all dieser Angebote stellte Chalmers fest, dass 1822 immer noch ein großer Teil der Bewohner des Stadtteils keinen Gottesdienst besuchte. So plante er die Errichtung einer Kapelle143 in der Parochie. Hierdurch dungen und erwarteten Besuche in anderen Teilen Glasgows einen erheblichen Teil der Zeit in Anspruch nahmen, die er für Hausbesucher in seiner Parochie nutzen wollte. Vgl. Brown: Commonwealth, 94. 140 Vgl. Cage/Checkland: Urban Poverty, 42. 141 Vgl. Hanna: Memoirs II, 284f. 142 Vgl. Ebd., 285. 143 In der schottischen Staatskirche wurde zwischen churches und chapels of ease unterschieden. Die einen waren Kirchen, denen eine Parochie mit einem Pfarrer und einem Gremium von Presbytern zugeordnet waren, die anderen waren der Entlastung dienende Kapellen. Die ersten Kapellen waren im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts entstanden. Die sich in einer chapel versammelnden Menschen bildeten eine Personalgemeinde, die offiziell Teil der Parochie des entsprechenden Stadtteils war. Die Pfarrer der Kapellen hatten zwar die gleiche Ausbildung wie ihre Kollegen in den church, ihnen standen aber keine Kirchenältesten zur Seite und sie hatten auch keinen Sitz in einem kirchlichen Gremium. Der Bau von Kapellen wurde in der Regel durch Spenden finanziert. 1834 verabschiedete die schottische Generalsynode, in der nun die Evangelicals die Mehrheit

177

wollte Chalmers auch seinem Ziel näher kommen, inmitten der Großstadt kleinere von einem christlichen Gemeinschaftsideal geprägte Gemeinden entstehen zu lassen. In dem zuerst 1817 in der Edinburgh Review erschienenen Artikel144 hatte er bereits die Ansicht vertreten, dass durch die Gründung neuer Gemeinden, die durchschnittliche Gemeindegröße in Glasgow von 10.000 auf 3.000 reduziert werden müsse. Auch in der neuen Kapelle sollten für den Vormittagsgottesdienst Platzmieten erhoben werden, durch die das Projekt finanziert werden sollte. Die Platzmieten sollten allerdings deutlich geringer sein als die in der St. Johnskirche, so dass auch weniger Bemittelte den Hauptgottesdienst besuchen konnten. Chalmers war der Meinung, die neue Kapelle sollte vor allem von den Wohlhabenden finanziert werden, die so ihre Verantwortung für die Armen wahrnehmen sollten. Das Finanzierungskonzept ließ sich in der geplanten Form nicht in die Tat umsetzen, so dass, nach der Eröffnung der neuen Kapelle im Jahr 1823, die Platzmieten die Möglichkeiten der meisten Bewohner des Stadtteils überstiegen.145 Die Anliegen, die Chalmers mit den Gottesdienstangeboten der St. Johnsgemeinde verfolgte, sind bis heute eine unabgeschlossene Aufgabe. Mit wenigen Ausnahmen sind die Kirchengemeinden immer noch weitgehend auf die Mittelschicht zugeschnitten. Was ein für Gruppen der Unterschicht angemessener Gottesdienst ist und welche Verkündigung ihm entsprechen würden, ist kaum Thema der Praktischen Theologie. Auch heute haben die Kirchen den Auftrag, die Marginalisierten nicht nur physisch und psychisch zu unterstützen und ihre Stimme zu sein, sondern sie ebenso durch ihre Verkündigung zu unterstützen. In der Verkündigung sollte nach wie vor die Vermittlung der Würde und des Wertes der Ausgegrenzten von Bedeutung sein, ebenso wie die Vermittlung ihrer Möglichkeiten.

6.6 Die Schulen Brown weist darauf hin, dass es in der Reformationszeit in Schottland ein annähernd flächendeckendes Angebot an kirchlichen Schulen gab. Als Chalmers seine Arbeit in Glasgow begann, unterhielt immer noch hatten, den Chapel Act. Er verlieh den Pfarrern der chapels den gleichen Status wie den Pfarrern der churches. Ferner erhielten die Kapellen eine eigene Parochie, die aus der bisher übergeordneten ausgegliedert wurde und sie bekamen das Recht eigene Presbyter zu bestimmen. Nach einer Unterbrechung während des Patronatskonfliktes (vgl. 4.4) wurde diese Möglichkeit, neue Parochialgemeinden zu bilden, wieder von der Church of Scotland anerkannt und praktiziert. Vgl. Jenkins, Gordon: Art. Chapels of Ease, in: Dictionary of Scottish Church History, 162 und Ross, Kenneth: Art. Chapel Act, ebd., 161f. 144 Chalmers, Thomas: Tracts on Pauperism – zuerst veröffentlicht i.d. Edinburgh Review 1817 u. 1818, Glasgow 1833. 145 Vgl. Hanna: Memoirs II, 280f; 380–387.

178

nahezu jede Landgemeinde der Schottischen Kirche eine Schule.146 In den Städten war es jedoch anders. So gab es in Glasgow keine einzige Schule, die von einer Gemeinde der schottischen Staatskirche unterhalten wurde.147 Die Mehrheit der Kinder Glasgows besuchten teure Privatschulen. Für den weniger bemittelten Teil der Bevölkerung standen nur die kirchlichen Armenschulen und die von christlichen Vereinen getragenen Sonntagsschulen zur Verfügung. 1815 besuchten 450 Kinder die Armenschulen der schottischen Staatskirche, hinzu kamen 743 Kinder, die freikirchliche Armenschulen besuchten. Darüber hinaus wurden von 600 Kindern staatskirchliche und von 1770 Kindern freikirchliche Sonntagsschulen besucht.148 Für die mehreren zehntausend Arbeiterkinder der Stadt gab es also nicht einmal 4000 Schulplätze. Nach Schätzungen besuchten selbst in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts nur ein Drittel der Kinder im Schulalter eine Werktagsschule.149 Diesem Missstand entgegenzutreten, war für Chalmers eine Aufgabe der Kirchengemeinden. So unterhielt die St. Johnsgemeinde sowohl Sonntags- als auch Werktagsschulen. Chalmers war davon überzeugt, dass die Aufwendungen für die gesetzlich garantierte Armenfürsorge besser in Schulen investiert werden sollten, weil auch sie der Prävention der Armut dienen.150

6.6.1 Die Sonntagsschulen151 Sonntagsschulen begannen sich um 1790 in Schottland zu etablieren.152 Zunächst unterrichteten hier bezahlte Lehrerinnen und Lehrer. Am Anfang des 19. Jahrhunderts wurden sie fast völlig durch Ehrenamtliche ersetzt. Die finanzielle und organisatorische Verantwortung für die Schulen trugen weitgehend die städtischen Magistrate und die Church of Scotland. Die Sonntagsschulen sollten das örtliche Bildungsangebot ergänzen. Sie sollten den Kindern grundlegende Kenntnisse vermitteln, die wochentags arbeiten mussten oder deren Eltern zu arm waren, um für das Schulgeld einer Werktagsschule aufzukommen. Zudem versprach 146 Vgl. Brown: Commonwealth, 74. 147 Vgl. ebd., 135. 148 Vgl. ebd., 98. Brown verweist hier auf Cleland: Annals of Glasgow II, 419. 149 Vgl. Gladstone, XXXI. In Deutschland war die Lage nicht grundsätzlich anders. So besuchten in Preußen, obwohl es dort eine Schulpflicht gab, um 1820 erst 54 % aller Kinder eine Elementarschule. In Süddeutschland lag der Prozentsatz allerdings höher. Vgl. Nowak: Geschichte, 88. 150 Vgl. Chalmers: Works XII, 134. und Works XVI, 367. 151 Vgl. 3.2.3. 152 Zur schottischen Sonntagsschulbewegung vgl. Brown, Callum G.: The Sunday-school movement in Scotland, 1780–1914, in: Records of the Scottish Church History Society, 21/1, Edinburgh 1981, 3–26.

179

man sich von ihnen eine Eindämmung der Kriminalität153 und einen Beitrag zur religiösen Sozialisation der Kinder und Jugendlichen. Gegen Ende der 90er Jahre des 18. Jahrhunderts änderte sich die Haltung der staatlichen- und staatskirchlichen Institutionen. Angesichts des jakobinischen Terrors war ihnen die Vorstellung einer flächendeckenden Bildung, welche auch die Ärmsten einschloss, suspekt geworden. Man erwartete hiervon eine Zunahmen des Extremismus in den Unterschichten. Von da an wurde die Sonntagsschulbewegung von den Freikirchen und den landeskirchlichen Evangelicals dominiert. Erst in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts, als die Evangelicals die Mehrheit der Generalsynode stellten, wurden die Sonntagsschulen wieder zum Anliegen der Church of Scotland als Institution. Chalmers gehörte zu dem Teil der Schottischen Kirche, der davon überzeugt war, dass die Sonntagsschulen ein wichtiges Bildungsangebot für die Kinder der Ärmsten waren. Auch könnten seiner Meinung nach die Gemeinden hierdurch bei den kirchenfernen Unterschichten präsent sein: „Der Mann der jeden Staatsdiener, den er getroffen hätte, ermordet hätte, würde es unmöglich finden, dem Sonntagsschullehrer schroff und abweisend zu begegnen, der sich über seine Schwelle wagte und schlicht um den Sonntagsschulbesuch seiner Kinder bitten würde. Er wäre nicht in der Lage dazu, auch wenn er beabsichtigt hätte, ihm mit einer solchen Haltung gegenüber zu treten. Hier ist eine Empfindung, die selbst der Unglaube der Zeit nicht ausgelöscht hat. Und sie hat immer noch eine Tür offen gelassen, durch die wir schließlich auf den Weg zu einer reineren und besseren Generation gelangen können.“154

So hatte Chalmers schon 1816, vor der Gründung der St. Johnsgemeinde einen Bezirkssonntagsschulverein gegründet, den ausschließlich Kinder des Stadtteils besuchen sollten. Roxborogh geht davon aus, dass Chalmers das Konzept lokaler Sonntagsschulen, die nur von den Kindern der Nachbarschaft besucht werden sollten, von David Stow (1793–1864) übernommen habe. Stow gehörte zu den Mitarbeitern des Vereins. Er gilt heute als einer der bedeutendsten britischen Pädagogen seiner Zeit. Als Chalmers ihn kennen lernte, unterhielt er bereits eine lokale Sonntagsschule.155 Hier war zum ersten Mal das von Chalmers später propagierte Prinzip der Lokalität umgesetzt worden. Bis dahin hatten sich in 153 Offenbar wurden Heranwachsende besonders an Sonntagen delinquent. Vgl. ebd., 6f. 154 „He who, had met a minister of state would have murdered him, had he met the Sabbath school teacher who ventured across his threshold, and simply requested the attendance of his children, might have tried to bear a harsh and repulsive front against him, but would have found it to be impossible. Here is a feeling which even the irreligion of the time has not obliterated, and it has left, as it were, an open door of access, through which we might at length find our way to the landing place of a purer and better generation.“ Chalmers: Importance of Civil Government, 40. 155 Fraser, W.: Memoirs of the life of David Stow, London 1868, 27. Vgl. Roxborogh: Mission of the Church, 132.

180

den Sonntagsschulen Glasgows vorwiegend die Kinder kirchlich orientierter Eltern zusammengefunden. Da die Kirchen in den ärmsten Bezirken kaum präsent waren, waren in den Sonntagsschulen die Kinder aus diesen Stadtteilen kaum vertreten gewesen.156 Den Sonntagsschullehrerinnen und -lehrern war auch jeweils ein Quartier zugeteilt, in dem sie alle Haushalte besuchen sollten und für den Sonntagsschulbesuch der Kinder werben sollten. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Vereins kamen monatlich zusammen. Alle Sonntagsschullehrerinnen und -lehrer wurden hierzu mit gedruckten Einladungen eingeladen.157 Die St. Johnsgemeinde praktizierte das gleiche System wie der Bezirkssonntagsschulverein. In den Sonntagsschulen der Gemeinde wurde das principle of locality noch weitgehender umgesetzt, als in ihren anderen Arbeitszweigen. Die Sonntagsschulen sollten in möglichst naher Umgebung von den Wohnungen der Kinder sein. So gab es über den Stadtteil verteilt etliche Sonntagsschulgruppen, zu denen Kinder aus den umliegenden Häuserblocks kamen. Jede proportion hatte wenigstes eine Sonntagsschulgruppe, manche hatten zwei oder drei.158 Die 35 Sonntagsschulehrerinnen und -lehrer von 1819 unterrichteten 11.039 Mädchen und Jungen.159 Um in allen Nachbarschaften Sonntagsschulklassen anbieten zu können, wären noch deutlich mehr nötig gewesen. Die Zahl der Mitarbeiter vergrößerter sich allerdings mit den Jahren.160 6.6.2 Die Werktagsschulen Neben den sonntäglichen Gottesdiensten waren die Werktagsschulen für Chalmers der wichtigste Arbeitszweig der St. Johnsgemeinde. Bereits 1819 veröffentlichte er eine Schrift in der er für ein flächendeckendes Angebot kirchlicher Schulen in Schottland eintrat.161 In der Christian an Civic Economy schrieb er dann: „Die Institutionen, die am meisten benötigt werden in unseren großen Städten und bevölkerten Dörfern, sind solche, welche sich die christliche Unterweisung unserer arbeitenden Klassen zur Aufgabe gemacht haben. Dieses Unterfangen umfasst Schulen für den gewöhnlichen Unterricht während der Woche

156 Vgl. Brown: Commonwealth, 102. 157 Im Chalmersarchiv findet sich eine solche Einladung (CHA 5.3.156). 158 Vgl. Cheyne: Then and Now, 17; Vgl. Chalmers: Christian and Civic Economy I, 348f. 159 Furgol: Poor Relief Theories, 159. Furgol verweist hier auf Cleland, J.: Statistical and Population Tables, 123. 160 Vgl. St. John’s Kirk Session minute book, 9. Oktober 1819, 3. Januar 1820 und 3. November 1823. 161 Chalmers, Thomas: Considerations on the System of Parochial Schools in Scotland, and on the Advantage of Establishing them in Large Towns, Glasgow 1819.

181

und Kirchen, um die Lehre und die Ermutigung des Evangeliums am Sonntag mitzuteilen.“162

Die „unteren Schichten“ sollten durch diese Schulen den höchstmöglichen Bildungsgrad erlangen. „Wenn gefragt wird, wie weit soll die Aufklärung der unteren Schichten in der Gesellschaft gehen dürfen? Dann haben wir keine Skrupel zu antworten, dass sie bis zum Äußersten reichen soll von dem, was ihr Interesse, ihre Zeit und ihr Wohlbefinden erlaubt.“163

Angesichts der Aufstände von 1820 wurde wieder argumentiert, Schulen für Arme würden zu ihrer politischen Radikalisierung beitragen. Chalmers widersprach dem heftig: „Sie können sicher sein, dass die Menschen nicht weil sie zu viel wissen, bereitwillige Diener von einem parteisüchtigen und skrupellosen Demagogen werden, sondern weil sie zu wenig wissen.“164

Schulen für alle waren seiner Meinung nach das beste Mittel gegen die Demagogen: „Der rechte Weg, ihnen ihren Einfluss zu nehmen ist, das Volk zu bilden bis es ihr Bildungsniveau erreicht hat.“165

Am Tag nach dem ersten Gottesdienst in der St. Johnskirche wurde ein Komitee gegründet, das die Aufgabe hatte, Geld für „zwei Schulhäuser und zwei Lehrerhäuser“ zu sammeln. Schon im Sommer 1820 waren £ 1200 zusammengekommen, mit dem eine Werktagsschule mit zwei Klassen eröffnet werden konnte. Im Juli 1820 wurden hierfür zwei Lehrer eingestellt.166 1821 wurde die zweite Gemeindeschule eröffnet. In den Schulen wurden im September 1821 419 Jungen unterrichtet. Das waren 42 % der männlichen Kinder des Stadtteils zwischen sechs und fünfzehn Jahren.167 Als Chalmers 1823 seine Tätigkeit in Glasgow beendete, war 162 „The institutions which are most wanted in our great towns and populous villages are those, the object of which is, the Christian education of our labouring classes. This object embraces schools for ordinary scholarship through the week, and churches for delivery of the gospel doctrine and exhortation upon the Sabbath.“ Chalmers: Christian and Civic Economy I, 141. 163 „When it is asked, how far should the illumination of the lower orders in society be permitted to go? – we do not scruple to reply, that it should be to the very uttermost of what their taste and their time and their convenience will permit.“ Chalmers, Thomas: On the Honour Due to all Men, Works VI, 284–300: 289. 164 „Be assured, that it is not because the people know too much, that they ever become the willing subjects of any factious or unprincipled demagogue – it is just because they know too little.“ Chalmers: Importance of Civil Government, 44. 165 „The true way of disarming them of their influence is to educate the people up to them.“ Thomas Chalmers an William Wilberforce am 24. 4. 1820, zit. n. Hanna: Memoirs II, 265. 166 Hanna: Memoirs II, 233f. 167 Vgl. Brown: Commonwealth, 137. Brown verweist bei den statistischen Daten auf Cage: The Scottish Poor Law, 1745–1845, 204.

182

die Schülerzahl auf fast 800 angewachsen.168 Die Schulen hatten zwei Schulzweige: Eine Englische Schule,169 in der Lesen und Grammatik unterrichtet wurde und eine Handelsschule,170 in der Schreiben, Rechnen und Buchführung gelehrt wurde. Die christliche Unterweisung war ein zentraler Unterrichtsgegenstand in den Schulen.171 Das Schulgeld betrug nur ein Viertel des Betrages, der von den Privatschulen erhoben wurden und war auch für Arbeiter erschwinglich. Die Mittel, die darüber hinaus zur Unterhaltung der Schulen erforderlich waren, wurden durch private Spenden und die Kirchentürkollekte des Sonntagvormittaggottesdienstes gedeckt.172 Die Schulen der St. Johnsgemeinde waren die ersten von einer Gemeinde der schottischen Staatskirche in Glasgow unterhaltenen Schulen.173 Nach Chalmers sollten drei Prinzipien für die Schulen gelten: 1. Nur Kinder des Stadtteils durften die Schulen besuchen. 2. Das Niveau der Ausbildung sollte mindestens dem der besten privaten Grundschulen Glasgows entsprechen. 3. Die Schulen sollten nach dem gleichen gemischten Schema finanziert werden wie die ländlichen Gemeindeschulen: Zu einem Teil durch ein bescheidenes Schulgeld, das die Schüler zu entrichten haben, der Rest sollte durch private Spenden aufgebracht werden. Das Schulgeld sollte deutlich niedriger als das der Privatschulen sein, auf ein solches verzichten wollte Chalmers nicht, weil er davon ausging, dass den Arbeiterfamilien hierdurch der Wert der Bildung vermittelt werden könnte. Chalmers rechnete mit der Möglichkeit, dass die privaten Spenden einmal durch städtische Zuschüsse ersetzt werden könnten.174 Durch den gemeinsamen Schulbesuch der Kinder aus unterschiedlichen Schichten wollte er zur Veränderung der Gesellschaft beitragen. Hierdurch sollten sich die Konflikte zwischen den verschiedenen Einkommensgruppen entschärfen und sein Gemeinschaftsideal sollte so Gestalt gewinnen: „Ein weitaus rücksichtsvollerer und besserer Zustand der Gesellschaft wird letztlich das Ergebnis eines solchen Arrangements sein. Die Bande der Freundlichkeit werden sich vervielfältigen zwischen den wohlhabenden- und Arbeiterschichten unserer Stadt. Die breite und deprimierende Kluft des Misstrauens wird schließlich gefüllt werden mit der Aufmerksamkeit einer rücksichtsvollen und ansprechenden Gemeinschaft.“175 168 Vgl. Hanna: Memoirs II, 236. 169 English school. 170 commercial school. 171 Vgl. Cage/Checkland: Urban Poverty, 50. 172 Der erwähnte Armenunterstützungsfond beanspruchte also nicht die gesamte Kollekte. 173 Vgl. Brown, Commonwealth, 135. 174 Vgl. Chalmers: Works XII, 191–219; Hanna: Memoirs II, 231–233. 175 „A far blander and better state of society will at length come out of such an arrangement. The ties of kindliness will be multiplied between the wealthy and the labouring classes of our city, the wide and melancholy gulf of suspicion between them will come at length to be filled up by the attentions of a soft and pleasing fellowship [. . .]“ Zitat aus einer Predigt Chalmers aus dem Jahr 1820, zit. n. Hanna: Memoirs II, 241.

183

Chalmers war es wichtig, dass in den Schulen in nuce eine Gesellschaftsform verwirklicht wurde, in der die Angehörigen der verschiedensten Schichten gleichwertig waren und die gleichen Chancen hatten. Bei der Eröffnung einer der St. Johnsschulen führte er aus: „Man wird niemals von einer anderen Ungleichheit zwischen den Mauern unserer Institution wissen als von der, welche aus der Unterschiedlichkeit der Talente und des Fleißes und des persönlichen Charakters erwächst. In jeder anderen Hinsicht wird sie eine kleine Republik sein.“176

Das Niveau der Ausbildung sollte so hoch sein, dass auch die wohlhabenden Bewohner des Stadtteils ihre Kinder auf die Schule schicken würden. Chalmers Ideal waren „Schulen, in denen Bildung so preiswert ist, dass sie auch von den Armen ohne Not bezahlt werden könnte und deren Bildungsangebot so gut ist, dass die Reichen meinen, ihren Kindern würde es nicht schaden dorthin geschickt zu werden.“177

Chalmers sah die positiven Auswirkungen dieser Praxis nicht nur im Umgang der Schüler miteinander, sondern auch im Wachsen der Beziehungen unter deren Eltern. Den Mangel an solchen Beziehungen nahm er als spezifisch großstädtisches Defizit wahr. Durch die stadtteilbezogenen Schulen sollte ein gemeinschaftliches Leben gerade in den Nachbarschaften gefördert werden. „Genau der Einfluss, der den Lehrer an die Familien bindet, bindet, wenn auch durch ein lockereres und schwächeres Band, die Familien aneinander. Ein bedeutendes Defizit großer Städte ist, dass sich benachbarte Familien gar nicht mehr kennen. Und um dieses zu fördern, sollte jedes vertretbare Arrangement unterstützt werden, das die Bewohner einer Nachbarschaft zu einem Ort bringt, an dem sie sich begegnen können. Jedes Arrangement sollte unterstützt werden, das sie zu einer Dienstleistung bringt, die sie gemeinsam in Anspruch nehmen können.“178

Weil Chalmers den Schulen eine solche Bedeutung beimaß, visitierte er sie fast jeden Tag.179 Das pädagogische Konzept der Schulen zeichnete 176 „There will no other inequality be ever known within the walls of our institution, but such as arise from the diversity of talent and diligence and personal character. In every other respect it will be a little republic.“ Chalmers, Thomas: Explanatory Address delivered at the Opening of the Macfarlane Street Schools. Zit. n. Hanna: Memoirs II, 239. 177 „[. . .]schools, where education is so cheap, that the poor will count it no hardship to pay, and where education is so good, that the rich will find it of no hurt to their children to send[. . .]“ sollten die Schulen der St. Johnsgemeinde sein. Chalmers: Works XII, 219. 178 „That very influence which binds the teacher to the families, does though by a looser and feebler tie, bind the families to each other. One great desideratum in large towns, is acquaintanceship among the contiguous families. And to promote this, every arrangement in itself right, should be promoted, which brings out the indwellers of one vicinity to one common place of repair, and brings upon them one common ministration.“ Chalmers: Christian and Civic Economy I, 59. 179 Vgl. Hanna: Memoirs II, 236.

184

sich dadurch aus, dass Belohnungen für erbrachte Leistungen (z. B. das Ausleihen eines Buches aus der Schulbücherei) eher eingesetzt wurden, als körperliche Strafen für Versagen.180 Die Wochen- und Sonntagsschulen wurden zur Modelleinrichtung für ähnliche Projekte in ganz Schottland. Sie waren ein Vorzeigestück des gesamten St. Johnsexperiments. Chalmers hatte gezeigt, dass es möglich war, preiswerte Bezirksschulen in Arbeiterstadtteilen zu errichten. Ebenso machte er das große Bedürfnis nach Schulbildung in dieser Schicht deutlich, welches von manchen Zeitgenossen bestritten wurde. Er wies zudem auf die Pflicht der Gesellschaft hin, jedem Individuum eine gute Schulbildung zu ermöglichen. Unter seiner Leitung wurden während der Kirchenbaukampagne der schottischen Staatskirche und die der Gründungsphase der Free Church of Scotland noch zahlreiche Gemeindeschulen errichtet.181 Brown kommt zu dem Schluss, dass Chalmers zu allererst ein Pädagoge war.182 In der Tat nahm in seiner Biographie die Tätigkeit als Hochschullehrer einen breiteren Raum ein, als sein Pfarrdienst. Und von allen Projekten, die er Zeit seines Lebens in Angriff genommen hatte, waren die Schulen, zumindest quantitativ, die weitaus erfolgreichsten. Die Reform der Gesellschaft, von der im nächsten Kapitel die Rede sein wird, erwartete sich Chalmers zum großen Teil von einem christlichen Bildungsangebot für alle Menschen im Land. In diesem Punkt gibt es eine Parallele zwischen Heinz-Dietrich Wendland und Thomas Chalmers. Auch er strebte eine Gesellschaft mit einer christlich verantwortbaren Prägung an, die in einem sozialen Bildungsprozess vermittelt werden sollte: „In der Richtung auf die ‚verantwortliche Gesellschaft‘ hinarbeiten, heißt Konventionen entwickeln, durch welche die Glieder der Gesellschaft zur Realisierung mitmenschlicher Verantwortung erzogen werden, mit deren Hilfe sie lernen, sich selbst und die anderen als aktive Teilnehmer und mitbestimmende Träger der Institutionen zu verstehen.“183

6.7 Zusammenfassung In der 1819 gegründeten St. Johnsgemeinde in Glasgow stellte Chalmers der Öffentlichkeit das Modell einer diakonischen Parochie vor. Glasgow war zu dem Zeitpunkt weltweit eine der ersten Städte, in denen sich die Umbrüche der Industriellen Revolution zu zeigen begannen. Die Zusam180 Vgl. Hanna: Memoirs II, 233–236. 181 Vgl. Abschnitt 7.2 182 „Chalmers was primarily an educator.“ Brown: Commonwealth, 377. 183 Wendtland, Heinz–Dietrich: Der Begriff der „verantwortlichen Gesellschaft“ in seiner Bedeutung für die Sozialethik der Ökumene, in: Ders.: Die Kirche in der revolutionären Gesellschaft. Sozialethische Aufsätze und Reden, Gütersloh 1967, 99–116: 103.

185

mensetzung vieler Stadtteile war bedingt durch zahlreiche Migranten sehr heterogen. Die Kirchengemeinde sollte nach Chalmers die Desintegration der großstädtischen Bevölkerung überwinden und hier solidarische Gemeinschaften aufbauen. Die St. Johnsgemeinde zeichnete sich durch ihren Bezug auf das Gemeinwesen aus. Gemeindearbeit war für Chalmers über weite Strecken eine aufsuchende Arbeit. Durch einen systematischen Besuchsdienst der Pfarrer, Presbyter, Diakone, Sonntagsschullehrerinnen und -lehrer sollte ein Geflecht von Beziehungen in dem Bezirk aufgebaut werden. Hiervon waren die Familien, die zu anderen Kirchen gehörten, nicht ausgenommen. Die Fürsorge der Gemeinde sollte durch eine genaue Kenntnis der Lebensbedingungen der Armen gekennzeichnet sein. Die Diakone boten Hilfe zur Selbsthilfe an und förderten die Solidarisierungspotenziale in Familien und Nachbarschaften. Als ultima ratio gewährten sie zudem finanzielle Unterstützung durch den Armenfond der Gemeinde. Chalmers ging davon aus, dass jeder Mensch die Möglichkeit haben sollten, einen Gottesdienst zu besuchen. Die Ärmsten wurden in Schottland durch zu entrichtende Platzmieten davon abgehalten, in die Kirche zu gehen. So führte er noch weitere Gottesdienste ein, die entweder gebührenfrei waren oder gegen geringeres Entgelt besucht werden konnten. Da den Armen nach Chalmers ihre Möglichkeiten und ihr Wert oft nicht bewusst war, musste ihnen dieser vermittelt werden. Dies geschieht in seinem Konzept sowohl durch persönliche Betreuung, als auch durch Bildungsprogramme. So bot die Gemeinde Sonntagsschulklassen in den verschiedenen Quartieren des Stadtteils an. Daneben gehörten mehrere Werktagsschulen zu der Parochie. Chalmers trat für ein flächendeckendes Angebot kirchlicher Schulen ein. Durch den gemeinsamen Schulbesuch der Kinder aus unterschiedlichen Schichten wollte er zur Veränderung der Gesellschaft beitragen. Obwohl er die Reform der Kirche und der Gesellschaft auf vielen Ebenen betrieb, scheint Chalmers der Kirchengemeinde eine Schlüsselposition zugeschrieben zu haben. Die Gesellschaft musste in erster Linie als die Summe solcher überschaubarer Gemeinwesen verstanden werden, wenn in ihr ein soziales Netz ohne Löcher geschaffen werden sollte. Die Kirche war hier zumindest partiell die Dienerin der Gesellschaft. Das Ideal des ehrenamtlichen Engagements, buchstäblich jeden Mitglieds der Gesellschaft, für das Gemeinwohl wurzelte in der reformierten Tradition Schottlands. Deshalb konnte sich hier der auf die Mitarbeit aller zielende Impuls der Erweckungsbewegung innerhalb der Kirchen niederschlagen. Langfristig wollte Chalmers die Bedürftigen aus der Rollenfixierung des armen Hilfeempfängers herauslösen und sie zu einem selbstbestimmten Leben bringen. Die Soforthilfe hatte zunächst einen untergeordneten Platz bei ihm. Erst während der großen Hungersnot 1846 änderte sich dies. In der St. Johnsgemeinde wurden Grundlinien heutiger sozialer Arbeit antizipiert. Soziale Arbeit als Hilfe zu einem selbstbestimmten Leben wie sie Chalmers entfaltet hatte, findet sich in der Gegenwart u. a. 186

in dem Konzept des Empowerment. Ein anderer Ansatz der gegenwärtigen sozialen Arbeit, das Case Management, wurde hier ebenfalls schon praktiziert. Die Armenhilfe der St. Johnsgemeinde zeichnete sich durch die Verknüpfung verschiedener Elemente aus. Der hier praktizierte Ansatz kann von daher keiner der sozialpolitischen Konzepte seiner Zeit gänzlich zugerechnet werden. Chalmers vertrat weder eine auf die materielle Versorgung reduzierte Sozialhilfe, noch eine, die Perspektive der Betroffenen ignorierende, paternalistische Philanthropie, noch einen Liberalismus, der die Einzelnen sich selbst überließ.

187

7. KAPITEL

Thomas Chalmers Perspektiven einer Kirchen- und Gesellschaftsreform 7.1 Die Gesellschaft auf dem Weg zum godly commonwealth Die Perspektive des Reiches Gottes eröffnete Chalmers einen Zugang zur Analyse der Probleme der Gesellschaft. Es ging ihm darum, den sozialen Verwerfungen, die die Transformationsprozesse des beginnenden 19. Jahrhunderts mit sich brachten, mit einem breit angelegten Konzept zu begegnen. Diakonischen Gemeinden, wie der im letzten Kapitel vorgestellten Glasgower St. Johnsparochie, kam hierbei zwar eine Schlüsselposition zu, aber sie sollten nicht der einzige Reformansatz sein. Im Horizont des Reiches Gottes strebte Chalmers eine veränderte Kirche und Gesellschaft an. Die Kirche sollte keinen allein wegen seiner Armut mehr ausgrenzen. Die Gesellschaft sollte ein christliches Gemeinwesen werden.1 Im Lichte dieses Ziels sollte die Kirche jetzt schon ihre Umwelt wahrnehmen und sich von daher zur Solidarität mit allen Menschen verbunden wissen, insbesondere zur Solidarität mit den Ärmsten, die keinen anderen Anwalt haben. Das Nebeneinander von verschiedenen Überzeugungen, der formale Pluralismus, ist bis zur Vollendung der Welt noch notwendig. Der Respekt vor anderen Überzeugungen ist Teil der Solidarität. Gleichzeitig hebt die Kirche, die sich für das Wohlergehen aller Menschen in ihrem Einzugsbereich verantwortlich weiß, schon jetzt die Fragmentierung der Gesellschaft auf. Chalmers war ein Sozialtheologe im eigentlichen Sinn. Er ging davon aus, dass die Theologie, wenn sie „ihren richtigen Platz einnimmt, fast jeden Punkt der menschlichen Natur berührt und sich mit maßgeblicher Wirkung auf den ganzen Rahmen und die Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft bezieht.“2 Er wollte, dass das Christentum nicht nur im Glau1 Hier knüpft Chalmers an das theokratische Staatsverständnis als godly commonwealth der calvinistischen Reformation an, das auch von einem Teil der Puritaner und den schottischen Covenanters im 17. Jahrhundert vertreten wurde. Allerdings unterscheidet er sich an einem wesentlichen Punkt von seinen Vorgängern: Durch die von der Hoffnung auf das Reich Gottes geprägte Theologie der Erweckungsbewegung wird für Chalmers der christliche Staat eine in die Zukunft verlagerte Zielvorstellung. Damit verlangte er von seinen britischen Zeitgenossen nicht, einer „christlichen“ Staatsräson entsprechen zu müssen.

188

ben von Individuen seinen Niederschlag findet, sondern auch in den Strukturen der Gesellschaft. „Es wäre gut, wenn die Religion die soziale Gruppe genauso durchdringen würde wie die Individuen, dass der Tag kommen möge, wenn soziale Gruppen in all ihren Handlungen genau so unter dem Einfluss der Religion stünden wie fromme Individuen.“3 „Jeder Teil und jede Funktion eines Gemeinwesens soll mit Christlichkeit durchdrungen sein.“4

So war auch die Massenarmut ein Thema, das die Kirche und die Theologie anging. In einem Brief an Thomas Babington schrieb er, ihm ginge es darum, den „Charakter der Weltlichkeit“ von dem Gegenstand des Pauperismus zu entfernen, um zu zeigen, dass er eine „mächtige und engste Verbindung mit den geistlichen Interessen unserer Bevölkerung besitzt“.5 Chalmers Zeitgenossen nahmen wahr, dass hier der Versuch unternommen wurde, eine theologisch verantwortete Nationalökonomie vorzustellen.6 Die von Chalmers angestrebte Reform der Gesellschaft steuerte auf Chancengleichheit zu. Insbesondere die Bildungsangebote sollten allen, auch den städtischen Unterschichten zur Verfügung stehen. Der Gedanke der Gleichwertigkeit aller leitete ihn dabei. Dadurch gehörte er zu denen, die den gegenwärtigen Begriff der allgemeinen Menschenwürde vorbereiteten. Von seinen Gegnern wurde Chalmers Gesellschaftsideal deshalb als Utopie abgetan. Diesen Anwurf gab er an seine Kontrahenten zurück: „Utopismus! Wer sind denn die Utopisten? [. . .] Es sind doch die, die sich verbreiten über den Unterschied zwischen der städtischen und der ländlichen Bevölkerung. [. . .] Die [. . .] sich einbilden, dass Menschen, die im Rauch der Fabriken aufgewachsen sind, zwischen dem dröhnenden Lärm unserer Maschinen, primitiv und roh wären, wie die Arbeit die sie tun. Sie vergessen,

2 „Did it occupy its right place, it would be found to touch at almost every point on the nature of man, and to bear with decisive effect on the whole frame and economy of civil society.“, Chalmers, T.: „Speech on Theological Education“ gehalten am 23. Mai 1821, zit. n. Hanna: Memoirs II, 535. 3 „It would be well if religion was to pervade the corporate as well as the individual body, that the day might arrive when corporate bodies were as much under the influence of religion in all their operations as pious individuals are.“ Aus einer Mitschrift einer Theologievorlesung Chalmers von 1831, zit. n. Roxborogh: Mission of the Church, 388. 4 „Every part and every function of a commonwealth should be leavened with Christianity“ Chalmers, Thomas: The addresses delivered at the commencement and conclusion of the first General Assembly of the Free Church of Scotland, 1843, 7, zit. n. Roxborogh: Ebd., 389. 5 „the character of earthliness“ from the subject of pauperism, to demonstrate its „powerful and most intimate alliance with the spiritual interests of our population“ Thomas Chalmers an Thomas Babington, 1. November 1822, zit. n. Hilton: Atonement, 58. 6 Ein Beispiel hierfür ist John Lalor, bei dem Chalmers der Mann ist, der damit begann „die politische Ökonomie mit dem Christentum zu taufen“, ders.: Money and Morals. A Book for the Times, 1852, VII, zit. n. Hilton: Atonement, 56.

189

dass diese Arbeit genau so viel der Fantasie bedarf, wie die Arbeit auf der Weide in einem idyllischen Tal.“7

Das Reich Gottes sollte den Maßstab für die Kirche und die Gesellschaft vorgeben: Zuerst sollte sich die Kirche verantwortlich für alle Menschen im Land wissen und solidarischem Verhalten Vorschub leisten. Dienst sollte hierbei an die Stelle von Herrschaft und Bestandssicherung treten, die Hilfe für Schwache und Schutzbedürftige eine vorrangige Aufgabe sein. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie Chalmers immer wieder Strukturreformen in der Kirche forderte, die einer Option für die Armen Rechnung trugen. Seine Reformansätze brachte er in einen Dialog mit Politikern und Kirchen ein. Diesen Dialog führte er in konstruktiver Weise auch über konfessionelle Schranken hinweg.8 Gegen Ende seines Lebens stellte er das Konzept eines ökumenischen Gemeindenetzwerks vor. Offenbar war dies die Konsequenz seines Ansatzes: Das, was Kirche in der Gesellschaft sein sollte, konnte nur in ökumenischer Breite in die Tat umgesetzt werden. Der dritte Abschnitt des Kapitels nimmt dies in den Blick. Die Entwicklung der Gesellschaft zum godly commonwealth verstand Chalmers als demokratischen Prozess. Dies soll im vierten Abschnitt noch einmal an seinem Missionsbegriff deutlich gemacht werden. Das christliche Ethos in Chalmers godly commonwealth wird nicht von oben diktiert, sondern charakterisiert den Staat und seine Strukturen, weil es für die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger plausibel geworden ist. Sowohl die Kirche als auch der Staat sollte im Umgang mit den Menschen von ihrer Berufung zur Freiheit und zur Mündigkeit und ihrer Emanzipation vom heteronomen Umgang mit dem Gesetz geleitet sein. Im fünften Abschnitt dieses Kapitels soll dies an Hand von Chalmers Perspektive für die Unterschichten verdeutlicht werden. Zurecht kann 7 „Utopianism! who are the Utopians? [. . .] they who descant upon the difference between the urban and the rural population? [. . .] who [. . .] imagine that the men who are brought up in the smoke of factories, and amid the ringing din of our mills, are coarse and rude as the work in which they are occupied; forgetting that this is just as much work of the imagination as if they were in some pastoral vale, nurse in the lap of beauty?“ The Witness 19. Juni 1844. 8 Chalmers erhielt 1835 als erster Nichtanglikaner die Ehrendoktorwürde der Universität Oxford. Dies ist umso bemerkenswerter, als das anglikanische Glaubensbekenntnis für die Studenten bis 1854 verpflichtend blieb. Der Grund für die Ehrenpromotion war nicht zuletzt Chalmers Dialog mit Anglikanern, den er mit Respekt führte ohne sein presbyterianisches Profil zu verleugnen. Sein Konzept der sozialen Sicherung durch die Kirchengemeinden konnte er beispielsweise auch in einer, dem anglikanischen Kontext angepassten, Version zur Diskussion stellen. Bereits im 2. Band seiner Christian and Civic Economy (1823) zeigt er, was diese für die Church of England bedeuten könnte (S. 134–226). Analog zur St. Johnsgemeinde legt er dar, wie dort die anglikanischen Gemeinden umstrukturiert werden müssten, um eine entsprechende Funktion in ihrem Stadtteil ausfüllen zu können. Vgl. auch Chalmers Evidence before the Committee of the House of Commons, on the Subject of a Poor Law for Ireland (1830). Die Kirche, auf die sich diese Ausführung bezog, war die anglikanische Church of Ireland.

190

man Chalmers vorwerfen, dass er die Rolle des Staates in der sozialen Sicherung unterbewertet hat. Dennoch hat er sie nie negiert. Im Laufe seines Lebens hat der Stellenwert, den Chalmers ihr zumaß, zugenommen. Der letzte Abschnitt dieses Kapitels soll zeigen, inwiefern für ihn die notwendige Reform der Gesellschaft auch mit der Veränderung staatlicher Strukturen verbunden war. 7.2 Kirchenstrukturen mit einer Option für die Armen Die Strukturen der Kirche sollen ihrer Sendung entsprechen. Chalmers argumentierte hier wieder utilitaristisch. Er nahm das semper reformanda ernst und war davon überzeugt, dass die Organe einer Kirche nicht sakrosankt sein durften. Sie sollten immer wieder befragt werden dürfen, ob die Kirche durch sie ihrem Auftrag auch nachkommen könne: „Es hing nur vom menschlichem Ermessen ab, über Fragen der kirchlichen Vorschriften und des kirchlichen Systems zu entscheiden.“9 Die Church of Scotland sollte ihrem Namen entsprechend für alle Menschen in Schottland da sein. Mit der Verantwortung der Kirche für das ganze Land brachte Chalmers das zur Sprache, was im Deutschen mit dem Begriff „Volkskirche“ verbunden wird. Chalmers entfaltete dies bis zur Gründung der Free Church in seiner Verteidigung des establishments, der Staatskirche.10 Danach legte er Wert darauf, dass die Free Church sich als nationale Kirche verstehen sollte. Kirche sollte so strukturiert sein, dass sie für jeden Menschen im Land ein niedrigschwelliges Angebot ist. D. h. sie muss in seinem Lebensraum präsent sein, es muss für sie oder ihn einfach sein, ihre Angebote in Anspruch zu nehmen. Aber selbst Kirche als niedrigschwellige Komm-Struktur war für Chalmers noch zu wenig. Um wirklich ihre Verantwortung wahrnehmen zu können, musste sie über weite Strecken auch eine Geh-Struktur sein.11 Die Perspektive, aus der Chalmers immer wieder beurteilte, ob die Kirche wirklich für alle da war, waren die Armen. Sie waren der Maßstab an dem deutlich wurde, ob die Kirche ihrem Auftrag gerecht wurde. 1834 wurde Chalmers von der Generalsynode der Schottischen Kirche zum Vorsitzenden des Church Accommodation Committee gewählt. Das Komitee bestand bereits seit einiger Zeit, arbeitete aber bis dahin mit bescheidenem Erfolg. 1835 änderte Chalmers den Namen des Gremiums in Church Extension Committee, um zu unterstreichen, dass es ihm um mehr

9 „It was competent on mere human discretion to decide on questions of ecclesiastical regulations and polity.“ Thomas Chalmers an A. J. Scott, 22. März 1845, zit. n. Roxborogh: Mission of the Church, 387. 10 Z. B. in Chalmers: Works IX, 105–108. 11 Das ist am Beispiel der Glasgower Modellgemeinde schon deutlich geworden. Vgl. 6.2.

191

als um die Errichtung neuer Gebäude ging. Vielmehr sollten Strukturen geschaffen werden, die in umfassender Weise die Präsens der Kirche in den verschiedensten Bereichen der Gesellschaft gewährleisten sollten. Die Mehrheit der Bevölkerung sollte wieder zu Kirchenbesuchern werden. Bei der ersten Sitzung des Komitees teilte er ihm mit, das Ziel des Gremiums sollte es sein, dass nicht eine arme Familie in Schottland sein sollte, „die nicht, sofern sie es wünscht, Zugang und Platz hat in einem Ort des Gottesdienstes und der religiösen Unterweisung, verbunden mit solcher persönlichen Anteilnahme des Geistlichen, dass sie ihn ihren Vertrauten und Freund nennen kann.“12

Chalmers Ziel in der Kampagne war es, flächendeckend auf dem gesamten Gebiet der Schottischen Kirche so kleine Gemeinden zu schaffen, dass sein System der sozialen Begleitung hier greifen konnte. Gleichzeitig sollten die Platzmieten in allen Kirchen so niedrig sein, dass auch die Armen sie bezahlen könnten.13 Dem principle of locality entsprechend bekam die Kirchenbaukampagne eine dezentrale Struktur. Zahlreiche lokale Komitees wurden gegründet, die für den Erfolg des Projektes maßgeblich verantwortlich waren.14 Chalmers reiste unermüdlich durch Schottland und hielt zu den verschiedensten Anlässen Vorträge, um für das Projekt zu werben. 1838 waren bereits £ 200.000 gesammelt worden und 187 Kirchen waren in Planung, im Bau oder bereits fertig gestellt worden.15 Hinzu kamen zahlreiche Gemeindeschulen. Aus den Erfahrungen mit der Kapelle in der St. Johnsgemeinde zog Chalmers den Schluss, dass ohne staatliche Unterstützung die Platzmieten in einer Kirche zu hoch sein mussten, dass sie auch für Minderbemittelte erschwinglich waren. So wollte er das System der Platzmieten nicht gänzlich aufheben, sondern durch Subventionen auch für die Ärmsten öffnen. Dadurch, dass auch sie für das kirchliche Angebot bezahlt hatten, sollte ihr Interesse an seiner Nutzung gefördert werden. Ziel der Kampagne war aber für ihn, jedem Menschen im Land die Möglichkeit zu geben eine Kirche zu besuchen. Mit der Einforderung staatlicher Unterstützung für die Church of Scotland wollte Chalmers etwas korrigieren, was er für eine bereits im 16. Jahrhundert einsetzende Fehlentwicklung der Schottischen Kirche hielt. Im Zuge der Reformation waren die Kirchengüter an den Adel gegangen. Die reformierte Geistlichkeit hatte dieser Transaktion zugestimmt. Dadurch war die Schottische Kirche der finanziellen Grundlage beraubt worden, derer sie angesichts des späteren Bevölkerungswachstums bedurft hätte. So war das 12 „who might not, if they will, have entry and accommodation in a place of worship and religious instruction, with such a share in the personal attentions of the clergyman as to claim him for an acquaintance and a friend“ zit. n. Hanna: Memoirs III, 452. 13 Vgl. Hanna: Memoirs III, 466. 14 Vgl. Ebd., 457. 15 Vgl. Hanna: Memoirs IV, 87.

192

Bildungssystem zum großen Teil in säkulare Trägerschaft übergegangen, insbesondere die Universitäten.16 Nachdem die Kirche nun die Finanzierung aller nötigen Kirchengemeinden und des Bildungssystems nicht mehr gewährleisten konnte, war es die Pflicht des Staates hier einzuspringen. Chalmers war der Meinung, dass nicht nur jeder Lehrer, sondern auch jeder Pfarrer im öffentlichen Interesse handelte. Deshalb sollte die öffentliche Hand auch ihre Bezahlung garantieren. Dabei sollten ihre Gehälter, um die Respektabilität ihrer Tätigkeit zu verdeutlichen, nicht zu gering sein.17 Staatskirche bedeutete aber für Chalmers nie, dass die Kirche dem Staat untergeordnet war, sondern nur, dass der Staat auch für die Finanzierung der Kirche Sorge zu tragen hatte: „Der Staat bezahlt die Kirche; dennoch wahrt die Kirche im vollen Besitz aller jener Privilegien und Befugnisse, die ausschließlich kirchlich sind, die Integrität ihres Glaubens und Gottesdienstes.“ „Damit das Evangelium reichlich verbreitet wird, werden wir in zeitlichen Dingen vom Staat unterstützt. Damit das Evangelium in reiner Weise verbreitet wird, sind wir in geistlichen Dingen uns selbst überlassen.“ „Der Staat kann nichts anderes unserer unabhängigen und unzerstörbaren Kirche antun, als sie ihrer weltlichen Besitztümer zu entledigen.“18

1834 sandte das Church Extension Committee eine erste Delegation nach London, um staatliche Unterstützung für die Kampagne zu erwirken. Aus gesundheitlichen Gründen konnte Chalmers selbst an dieser Reise nicht teilnehmen. Er gab der Delegation aber eine Schrift mit, in der er seine Sicht der Dinge darlegte19 und trug ihr auf, zu betonen, die Kampagne hätte zum Ziel, „eine billige christliche Ausbildung für das einfache Volk“20 zu gewährleisten. Hanna berichtet davon, dass das Anliegen in der Regierung ein positives Echo fand.21 Ein Regierungswechsel im Winter desselben Jahres machte allerdings die von den Schotten gehegten Erwartungen schließlich zunichte. Zunächst hoffte Chalmers, die neue konservative Regierung unter Robert Peel würde der Sache noch förderlicher gegenüberstehen als ihre Vorgängerin, die von den Whigs gebildet

16 Vgl. Chalmers: Antiquity, Works XI, 135, 149. 17 Ebd., 150. Vgl. Chalmers: Political Economy in Connexion, 239. 18 „The state pays the church; yet the church, in the entire possession of all those privileges and powers which are strictly ecclesiastical, maintains the integrity of her faith and worship notwithstanding.“ „For the sake of an abundant gospel dispensation, we are upheld in things temporal by the state. For the sake of a pure gospel dispensation, we are left in things spiritual to ourselves.“ „There is not one thing which the state can do to our independent and indestructible Church, but strip her of her temporalities“ Chalmers: Works XI, 438, 441, 450. Die Überzeugung, dass Kirche in ihren Entscheidungen von staatlichen Institutionen unabhängig sein müsse, führte schließlich im Patronatskonflikt zur Gründung der Free Church of Scotland. 19 Der Text ist in Hanna: Memoirs III, 458–461 veröffentlicht. 20 „The chief object [. . .] is a cheap Christian education for the common people.“ Ebd., 459. 21 Hanna: Memoirs III, 461f.

193

wurde.22 Aber auch ein umfangreicher Schriftwechsel mit verschiedenen Parlamentariern, in dem Chalmers das Gesetz beschrieb, was verabschiedet werden sollte, konnte keine Entscheidung zugunsten der Schottischen Kirche bewirken. Die Befürchtungen mancher Freikirchen aufgrund einer massiven Unterstützung der Staatskirche durch den Staat ihrer finanziellen Grundlage beraubt zu werden, trugen zu der Entscheidung der Regierung bei. Sie rechneten offensichtlich mit einer Abwanderung von Mitgliedern zur Church of Scotland, falls die Platzmieten dort wesentlich günstiger wären.23 Kaum ein anderer Vertreter einer protestantischen Staatskirche führte einen so intensiven Dialog mit den Freiwilligkeitskirchen wie Thomas Chalmers. Gerade deshalb ist sein Ansatz immer noch geeignet dazu, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Kirchenformen zu reflektieren. Während der church extension campaign wurde Chalmers Dialog allerdings zu einer harschen Kritik. Seiner Meinung nach war die große Zahl der Kirchenfernen ein Beweis dafür, dass das freikirchliche Modell nicht in der Lage war, die Präsens der Kirchen in der Bevölkerung nachhaltig zu erhöhen. Würde die Church of Scotland hingegen ihre Möglichkeiten nutzen, könnte sie zeigen, dass allein landeskirchliche Strukturen eine überall gegenwärtige Kirche garantieren können.24 Chalmers leugnete dennoch nicht die Gemeinsamkeiten der Church of Scotland und der Freikirchen. „Wir sind froh, [. . .] dass wir in allen Punkten die gleichen Empfindungen haben.“25 Er forderte auch das Ende aller Restriktionen gegen die Freiwilligkeitskirchen und unterstrich, dass allein ihre Existenz schon eine Bereicherung für die Staatskirche bedeuten würde, indem sie die Church of Scotland zu selbstkritischem Verhalten anspornten: „Die Wahrheit ist, dass wir kein besseres Mittel kennen gegen die zeitweiligen und nebenher auftretenden Übel einer Staatskirche, als eine freie, vollständige und keine Ausnahmen zulassende Tolerierung [sc.: der anderen Kirchen].“26 22 Vgl. Roxborogh: Mission of the Church, 248f. Roxborogh bezieht sich auf Chalmers Korrespondenz mit mehreren Abgeordneten. Die Konservativen (Tories) unterstützten in Großbritannien traditioneller Weise mehr die Staatskirchen als die Whigs, bei denen die Freikirchen eine starke Position hatten. 23 Vgl. Hanna: Memoirs III, 463. 24 Vgl. z. B. Chalmers, Thomas: The Impotency of the Voluntary System in the Large Towns of Scotland, Tracts on Religious Establishments, Glasgow 1834; Ders.: The Cause of Church Extension, and the Question Shortly Stated, Between Churchmen and Dissenters in Regard to it, Edinburgh/Glasgow/London 41835, und ders.: On Preaching to the Common People: A Sermon, Delivered at the Opening of the Dean Church, near Edinburgh, on the 15th of May 1836, Edinburgh/Glasgow/London 1836. 25 „We are glad [. . .] that in any thing there is a community of sentiment betwixt us.“ Chalmers: Works XVII, 274. 26 „The truth is, that we know not a better remedy against the temporary and incidental evils of an establishment, than a free, entire, and unexcepted toleration.“ Chalmers: Works IX, 107.

194

Aber er war doch überzeugt davon, dass die Freikirchen nicht das Ziel erreichen können, alle Kirchenfernen und insbesondere die Armen für die Kirche zu gewinnen. Würde in einem Land allein das religiöse Freiwilligkeitsprinzip vorherrschen, dann müsste dies unweigerlich „weiße Flecken“ auf der kirchlichen Landkarte zur Folge haben.27 Eine flächendeckende Präsens ist allein einer Staatskirche möglich, die nach Chalmers Konzept vorgeht. „Nun ist es sehr wahr, dass [. . .] ihr System der freien Marktwirtschaft [sc.: im religiösen Bereich], nach einem Jahrhundert vollkommener Freiheit, sie intensiv zu praktizieren, eine halbe Millionen, die Kirchgänger sein sollten, ohne den Segen einer Evangeliumsverkündigung gelassen hat.“28

Er erkannte in den Freikirchen, in denen jede Gemeinde nur von deren Mitgliedern unterhalten wurde, eine kirchliche Struktur, die Gemeinden in Arbeitervierteln unmöglich machte. Deshalb konnte für ihn allein eine Kirche, die vom Staat finanziell unterstützt wird, eine Kirche auch der Armen sein. In den dreißiger Jahren vertrat Chalmers die Meinung: Allein die Landeskirche tritt für „die Schutzlosen und die Armen“29 ein, nur die Pfarrer der Church of Scotland sind die „Tribune des Volkes, die Repräsentanten der Klasse, der das Gesetz keine eigenen Repräsentanten gegeben hat, wir sind die Vertreter der Massen, die nicht wählen dürfen, und die keine Stimme im Parlament haben.“30

1832 schrieb Chalmers eine Staatskirche gewährleiste „am sichersten das fortlaufende Wohlergehen einer Nation“.31 Durch ihre Verkündigung und nicht zuletzt auch durch ihre Schulen, die ein Bildungsangebot für alle sein sollten, wirke sie präventiv gegen die Verwahrlosung. So könne zwar nicht jegliche Armut aus Schottland verbannt werden, aber der Pauperismus schon.32 Es kann davon ausgegangen werden, dass in den 1830er Jahren ein Drittel aller Gottesdienstbesucher in Schottland einen freikirchlichen Gottesdienst besuchten.33 Der Anteil der freikirchlichen Gottesdienstbe27 Chalmers: Works IX, 106. 28 „Now it is very true, that [. . .] their free trade system, which, after a century of perfect freedom for the enterprise and the utmost strenuousness in the prosecution of it, left without the blessings of a gospel ministration half-a-million who ought to have been church goers.“ Ebd. 29 „the unprotected and the poor“. 30 „We are the tribunes of the people, the representatives of that class to whom the law has given no other representatives of their own, -of the unfranchised multitudes, who are without a vote, and without a voice in the House of Commons.“ Chalmers: Works XVII, 277ff. 31 „the best securities for a nation’s safety and perpetual well-being“ Chalmers: Political Economy in Connexion, 229. 32 Vgl. ebd., 27, 238, 316ff. 33 Da umfassendere Erhebungen erst später gemacht wurden, kann dies nur eine Schätzung sein. Vgl. Brown: Commonwealth, 221.

195

sucher, der zu den unteren Schichten gehörte, war weitaus größer als in den landeskirchlichen Gemeinden. Eine Studie, die die Zusammensetzung von sieben freikirchlichen Gemeinden in Glasgow zwischen 1845 und 1865 untersuchte, kommt zu dem Ergebnis, dass 61 % der Mitglieder der Arbeiterschicht zuzurechnen war.34 Dies zeigt, dass die Freikirchen durch ihre Übertragung des Marktprinzips auf den religiösen Bereich bis zu einem gewissen Grad die Präsens der Kirchen in der Bevölkerung erhöhte. Dennoch hatte Chalmers auch Recht, dass das Schema von Angebot und Nachfrage immer noch den ärmsten Teil der Bevölkerung aus den Kirchen ausschloss. Als er während der church extension campaign vehement für eine staatskirchliche Verfassung eintrat, bei der die Kirche massiv mit staatlichen Geldern gefördert werden sollte, waren es pragmatische Gründe, die ihn für diese Form von Kirche eintreten ließ. Er rechnete auch damit, dass die Freikirchen in Schottland schließlich in der Church of Scotland aufgehen würden. Dies umso mehr, als die Theologie einiger Freikirchen von der der schottischen Staatskirche nicht zu unterscheiden war.35 Die church extension campaign war erfolgreich gewesen. 1841, als sich Chalmers vom Vorsitz des Komitees zurückzog, waren £ 300.000 zusammen gekommen und 222 Kirchen errichtet worden.36 Dennoch war es Chalmers nicht gelungen, das Finanzierungssystem der Church of Scotland so zu reformieren, dass sie auch die Kirche der ärmsten Stadtbewohner sein konnte. Auf Grund des Patronatskonfliktes war es 1843 zur Gründung der Free Church of Scotland gekommen. Chalmers war der erste Moderator der Generalsynode der neuen Kirche. Auch hier bemühte er sich wieder, die Strukturen der Kirche so zu gestalten, dass die Ärmsten nicht ausgeschlossen wurden. Ca. 50 % der Mitglieder war aus der Church of Scotland ausgetreten, um die neue Kirche zu gründen. Chalmers war überzeugt davon, dass der „Hauptteil“ der „einfachen Menschen“ die Gottesdienste der Free Church besuchen würde, weil diese Kirche ihnen mehr entsprechen würde, als die Church of Scotland.37 Peter Hillis hat in einer Studie, die die soziale Zusammensetzung der Schottischen Freikirche in der Zeit der Kirchenspaltung untersucht, deutlich gemacht, dass Chalmers Aussage allein für das nördliche Hochland zutreffend war. In den übrigen Teilen Schottlands war es der Free Church ebenso wenig wie der Staatskirche gelungen, größere Teile der Unterschichten zu erreichen.38

34 Vgl. Brown, Callum G.: The Social History of Religion in Scotland since 1730, London 1987, 154. 35 Vgl. Hanna: Memoirs III, 534. 36 Vgl. Hanna: Memoirs IV, 87. 37 The „great bulk and body oft the common people [. . .] are upon our side.“ zit. n. Hillis: Sociology 44. 38 Vgl., ebd., 58.

196

Auch in der Free Church konnte Chalmers seine Fähigkeit als Fund-Raising-Experte beweisen. Die junge Kirche, die bei ihrer Gründung nicht ein einziges Gebäude besaß, hatte in ihren ersten Jahren einen enormen Finanzbedarf. Chalmers wurde der Vorsitzende des Finanzkomitees der Free Church, in dem er nach dem Vorbild der Kirchenbaukampagne die Finanzierung der Kirche organisierte. Schon die Kirchenbaukampagne hatte gezeigt, dass das Lokalitätsprinzip helfen konnte, große Summen an Spendengeldern zu akquirieren. Lokale Komitees konnten Spender viel besser motivieren, Geld für ein örtliches Projekt zu geben, als ein zentrales Gremium, das für ganz Schottland zuständig wäre. Chalmers war sich aber bewusst, dass es parallel zu den örtlichen Komitees noch eine andere Finanzierungsschiene geben müsse, damit in der Free Church die Option für die Armen verwirklicht würde. Wenn aber alle Gemeinden nur durch ihre Besucher finanziert würden, dann wären die Ärmsten von der Versorgung mit kirchlichen Angeboten ausgeschlossen. Deshalb sollte schon in der Kirchenbaukampagne der dreißiger Jahre das Lokalitätsprinzip durch staatliche Zuschüsse für Kirchen in armen Stadtteilen ergänzt werden. In der Free Church sollten die lokalen Komitees durch einen zentralen Unterstützungs-Fond39 ergänzt werden, der die ärmeren Gemeinden bezuschussen sollte. In seiner Schrift Earnest Appeal to the Free Church of Scotland on the Subject of its Economics40 entfaltete Chalmers dieses Konzept. Gleichzeitig beklagte er hier auch den mangelnden Widerhall, den seine Ekklesiologie in der neuen Kirche fand. Viele Mitglieder der Free Church wollten sie als voluntary church, als Freiwilligkeitskirche, verstanden wissen. Chalmers dagegen verstand sie als staatsunabhängige Volkskirche. Kirche sollte immer eine „nationale Institution“41 sein, damit meinte er, sie solle alle Schichten der Bevölkerung einschließen. In keinem Fall dürfe sie so strukturiert sein, dass sie die Ärmsten ausschlösse. Deshalb setzte Chalmers durch, dass die neue Kirche den Namen Free Church „of Scotland“ trug. Das voluntary system, die Freiwilligkeitskirche, lehnte er zeitlebens ab. Es stand seiner Meinung nach für ein exklusives Kirchenmodell Privilegierter. Der Kirchenbesuch und die freie Wahl der Konfession war auch für Chalmers etwas Freiwilliges. Gesellschaftlichen Druck oder juristische Sanktionen auf Andersdenkende, wie er noch von den Reformatoren vertreten wurde, lehnte er ab. Aber Kirche war für ihn eine Institution, die sich verantwortlich wusste für die Bedürftigen in der Gesellschaft, sie aufsuchte und begleitete. Hier, in dem finanziellen Engagement für Bedürftige und ihrer Betreuung durch Ehrenamtliche sah Chalmers den rechten Platz für den voluntaryism, das Freiwilligkeitsprinzip. Der von Chalmers initiierte landesweite Sustentation Fund in der Free Church sollte die Pfarrergehälter in ärmeren Gemeinden bezuschussen. 39 sustentation fund 40 Die Schrift wurde 1846 in Edinburgh veröffentlicht. 41 Chalmers: Earnest Appeal, 16.

197

So sollten die wohlhabenderen Gemeinden die finanzielle Grundlage für ein flächendeckendes kirchliches Angebot in Schottland gewährleisten. Die Summen, die durch den Fond flossen, erreichten allerdings nicht ansatzweise die Ausmaße, die Chalmers sich vorgestellt hatte. Seine Ideen wurden von den übrigen Vertretern der Kirchenleitung der Free Church nicht geteilt. Sie strebten keine flächendeckende Präsens der Kirche unter den Armen an. Der außerordentliche Finanzbedarf der neuen Denomination hatte eine Konzentration ihres Interesses auf die Mittel- und Oberschicht zur Folge. Nicht zuletzt das von Chalmers in der Kirchenbaukampagne erprobte System dezentraler Komitees war dafür verantwortlich, dass ein großer Teil der Wohlhabenderen in die Kirche und ihre Finanzierung einbezogen werden konnte. In den ersten vier Jahren ihres Bestehens errichtete die Free Church 730 Kirchengebäude, unterhielt zahlreiche Grundschulen, in denen 513 Lehrer mehr als 40.000 Kinder unterrichteten. Eine theologische Ausbildungsstätte hatte ihren Betrieb aufgenommen und mit den Bauarbeiten für das Gebäude einer kirchlichen Hochschule in Edinburgh war begonnen worden.42 Aus den Erfahrungen mit der Church of Scotland und der Free Church zog Chalmers schließlich die Konsequenz, dass die Kirchen ihrer Sendung nur im ökumenischen Rahmen nachkommen könne. Der folgende Abschnitt stellt das ökumenische Konzept vor, dass Chalmers in seinen letzten Lebensjahren propagierte.

7.3 Ein ökumenisches Gemeindenetzwerk Chalmers war Mitte der 40er Jahre zu der Überzeugung gekommen, dass seine Vorstellung einer flächendeckenden Präsens der Kirche, die Verantwortung für alle Bewohner einer geographischen Einheit übernimmt, weder von der Schottischen Staatskirche noch von der Free Church umzusetzen war. Von da an ging er davon aus, dass allein ein ökumenisches Netzwerk in der Lage wäre, das zu sein, was die Kirche in der Gesellschaft sein sollte. Damit trug er auch der konfessionellen Vielfalt seines Landes Rechnung.43 Es war nicht zuletzt sein schon erwähnter utilitaristischer Zugang zur Kirchenverfassung, der ihm die ökumenische Perspektive eröffnete. „Wen interessiert die Free Church im Vergleich zu den Wohltaten des Christentums für die Menschen von Schottland? Wen interessiert irgend eine Kirche neben der Tatsache, dass sie ein Instrument der Wohltaten des Christentums 42 Vgl. Brown: Ten Years’ Conflict, 22f. 43 Eine Erhebung im Jahr 1851 ergab, dass in ganz Schottland nur 64 % der Kirchgänger die Staatskirche oder die Free Church besuchten, in Edinburgh waren es nur 49 %, in Glasgow nur 42 %. Alle anderen Kirchgänger besuchten einen Gottesdienst einer anderen Denomination. Brown: Social History, 61.

198

ist? Seien Sie versichert, dass die Moral und das religiöse Wohlergehen der Bevölkerung von unendlich größerer Bedeutung ist, als das Vorankommen von irgendeiner kirchlichen Gruppierung.“44 „Meine Erwartung dessen, was es schon einmal während einer langen Periode gegeben hat – ein allgemeiner christlicher Bildungsapparat – hat sich verlagert von der Free Church of Scotland auf solch eine Union der wirklich guten und klugen evangelischen45 Denominationen, über die jetzt viele nachdenken.“46

Chalmers ökumenische Vision blieb allerdings auf die protestantischen Kirchen beschränkt. Die Orthodoxen waren außerhalb seines Horizontes, sie waren in Großbritannien nicht präsent. Zwischen den protestantischen und der römisch-katholischen Kirche konnte er immerhin noch wesentliche Gemeinsamkeiten entdecken, dies war angesichts des Antikatholizismus seiner Umgebung beachtlich.47 Sein sozial-theologisches Reformprogramm hatte in der Tat von Anfang an eine Dimension gehabt, die es in den ökumenischen Horizont drängte. Dies zeigte sich in Ansätzen bereits in Chalmers Glasgower Zeit. Schon hier sprach er über die Nähe zwischen den protestantischen Kirchen. Er nannte sie „eine Familie [. . .], die aus dem Bekennen vieler verschiedener Credos gebildet wird“48 Auch der Dialog und die Kooperation mit ihnen setzte hier bereits ein. So waren die Diakone der St. Johnsgemeinde dazu angehalten, wenn ein Bedürftiger zu einer Freikirche gehörte, mit ihr Verbindung aufzunehmen, um durch sie eine Unterstützung des Betroffenen zu gewährleisten.49 In der dreibändigen Christian and Civic Economy of Large Towns (1821–1826) entfaltete Chalmers sein Konzept sowohl am Beispiel der anglikanischen Church of England, als auch der presbyterianischen Church of Scotland. Im ersten Band lud er auch die Freikirchen dazu ein, in säkularisierten Stadtteilen weitere Kirchen zu bauen. Nach dem Vorbild der St. Johnsgemeinde sollten sie ebenfalls in der Umgebung dieser Gotteshäuser aufsuchende Arbeiten beginnen.50 44 „Who cares about the Free Church, compared with the Christian good of the people of Scotland? Who cares about any Church, but as an instrument of Christian good? For be assured, that the moral and religious well being of the population is of infinitely higher importance than the advancement of any sect.“ Aus einer Rede Chalmers vom 27. Dezember 1845 gehalten in Edinburg. Zit. n. Hanna: Memoirs IV, 394. 45 Die Bedeutung des Wortes evangelical oszilliert zwischen evangelikal und evangelisch. Hier scheint die zweite Übersetzung angemessener zu sein. 46 „My expectation of what has long been the object of existence – a universal Christian education – is transferred from the Free Church of Scotland to such a union of the really good and wise of all evangelical denominations as is now contemplated by many.“ Thomas Chalmers an W. K. Tweedie am 29. November 1845, zit. n. Hanna: Memoirs IV, 372f. 47 Vgl. 5.1.2 Anmerkungen 18f. 48 „a family composed [. . .] of the professing of many different creeds“ Thomas Chalmers an Mrs. Coutts am 4. Januar 1819, Chalmersarchiv CHA 3.9.1. 49 Vgl. 6.4. 50 Chalmers: Works XIV, 115f.

199

Chalmers Austausch mit anderen protestantischen Kirchen war kein Monolog. Auf ausgedehnten Englandreisen warb er für sein Modell, suchte aber auch soziale Projekte der Kirche und des Staates auf, um ihre Erfahrungen in seine Arbeit zu integrieren.51 Hauptsächlich ging es ihm allerdings darum, seine eigenen Thesen zu untermauern. Neben Politikern gehörten hier auch anglikanische Pfarrer und Freikirchler zu seinen Gesprächspartnern. Der Dialog mit den beiden schottischen Baptisten James und Robert Haldane erstreckte sich über mehrere Jahrzehnte, wenngleich er auch zeitweise durchaus kontrovers war. James Haldane kritisierte Chalmers bereits 1818, als der für Glasgow 20 weitere Gemeinden der Church of Scotland forderte. Sein Argument dagegen war, dass Christus „niemals nationale Kirchen wollte“.52 Chalmers antwortete hierauf im ersten Band der Christian and Economic Polity of a Nation.53 Mit Robert Haldane korrespondierte er in den 30er Jahren und tauschte mit ihm Literatur über den Römerbrief aus. In einem begleitenden Brief bringt Haldane dabei seine Sympathie für ihn zum Ausdruck als jemanden, dem „utmost respect“ gezollt werden sollte.54 Bebbington weist darauf hin, dass Chalmers Robert Haldanes Buch über die Inspiration der Bibel wiederum in seinen Vorlesungen verwendete.55 1838 deutete sich bei Chalmers zum ersten Mal der Gedanke eines Zusammenschlusses aller protestantischer Kirchen an. In seinen Lectures on the Establishment and Extension of National Churches drückte er sein Unverständnis darüber aus, warum die Freikirchen, die den britischen Staatskirchen dogmatisch doch so nahe stehen, nicht Teil dieser werden.56 1843, kurz nach der Gründung der Free Church, formulierte er auf dem zweihundertjährigen Jubiläum der Synode von Westminster seine Hoffnung auf eine Vereinigung aller protestantischer Kirchen: Was jetzt nur eine „Kooperation“ ist, sollte so bald wie möglich ein „Zusammen-

51 Furgol verweist auf das Tagebuch der Englandreise Chalmers von 1822, in dem sich eine Liste von 31 Fragen findet, die er den Verantwortlichen der von ihm besuchten Armenfürsorgeprojekten stellte. Furgol: Poor Relief Theories, 359. Die Englandreisen der Jahre 1817 und 1822 beschreibt Hanna ausführlich. Vgl. Hanna: Memoirs II, 92–107, 327–367. 52 Haldane, James: Two letters to the Rev Dr Chalmers on his proposal for increasing the number of churches in Glasgow, 1818, zit. n. Roxborogh: Mission of the Church, 234. 53 Chalmers: Works XIV, 105–108. 54 Robert Haldane an Thomas Chalmers am 29. Dezember 1837, Chalmersarchiv CHA 4.26.4.46. 55 Haldane, Robert: On the Inspiration of Scripture, Edinburgh 1828. Vgl. Bebbington: Evangelicalism in Britain, 90. 56 „Aber macht nicht dieses [gemeint ist die dogmatische Nähe] es umso widersinniger einen Grund dafür zu finden, der sie ausschließt, wir sagen nicht von der Ehre, sondern von dem beträchtlichen Vorteil, den ein staatskirchlicher Status bietet.“ „But does not this make it all the more puzzling, to assign any ground on which they should be excluded, we do not say from the honours, but from the substantial benefits of an establishment.“ Chalmers: Establishment and Extension, Works XVII, 310.

200

schluss“ werden.57 Zwei Jahre später führte er schließlich aus, dass ein Netzwerk diakonischer Gemeinden verschiedener protestantischer Denominationen der Weg zur Vereinigung aller protestantischer Kirchen sein könnte: „Insbesondere in großen Städten mag ein sofortiger Anfang gemacht werden – wo jede Gemeinde ihren eigenen Distrikt bekommen könnte. [. . .] Damit diese Arbeit ihren Anfang nimmt, ist eine Zusammenarbeit zwischen Christen verschiedener Konfessionen in einer guten Sachen so wünschenswert; und dies nicht allein, damit sie das Richtige tun mögen, sondern damit sie es zusammen tun mögen. [. . .] Die Vereinigung zu welcher sie schließlich führen mag, sollte nicht übereilt herbeigeführt werden, wie sehr auch die Zusammenarbeit, die wir uns jetzt wagten zu empfehlen, den Weg zu ihr ebnen muss [. . .] Und wir bekennen uns dazu, optimistisch zu sein bezüglich einer Union, die sogar umfassender ist als die, auf welche wir nun gerade zusteuern, und durch die [Union, die wir meinen,] werden nicht allein die kleineren, sondern schließlich [auch] die größeren Differenzen der christlichen Welt harmonisiert werden.“58

Mit der Union, „auf welche wir nun gerade zusteuern“, meinte Chalmers die Evangelische Allianz. Schon in ihrem englischen Namen Evangelical Alliance wurde deutlich, dass sie sich in erster Linie als ein Zusammenschluss von Vertretern der Erweckungsbewegung der verschiedenen protestantischen Kirchen verstand. Obwohl Chalmers selbst zu den Evangelicals gehörte, strebte er einen weitergehenden Zusammenschluss an, nämlich die Vereinigung aller protestantischer Kirchen. Deshalb hätte er auch für die neue Allianz den Namen Protestant Alliance bevorzugt.59 In der 1846 publizierten Schrift On the Evangelical Alliance60 entfaltete er, wie eine protestantische Kirchengemeinschaft in ständigem gemeinsamen Austausch viel effektiver die Präsens des Evangeliums in der Gesellschaft gewährleisten könne. Partikulare Fixierungen würden hierdurch

57 „co-operation now, and [. . .] as soon as may be [. . .] incorporation afterwards“ Chalmers, Thomas: Christian Union. Address of the Rev. Dr. Chalmers at the Bicentenary Commemoration of the Westminster Assembly, July 13, 1843, London 1843, 2. 58 „More especially in populous cities might an instant commencement be made-where each congregation could assume its own local district [. . .] It is for a commencement to this work, that a co-operation among Christians of different denominations in something good is so desirable; and this not merely that they may act aright, but that they may act together [. . .] The incorporation to which it might eventually lead should not be precipitated, however much the co-operation that we have now ventured to recommend must smooth the way to it [. . .] And we confess ourselves sanguine of a union even still more comprehensive than that which we are immediately aiming at, and by which not only the smaller but the larger differences of the Christian world will at length be harmonised.“ Chalmers, Thomas: Introductory Essay, in: ders. u. a., Essays on Christian Union, London 1845, 14–17. 59 Hauzenberger, Hans: Einheit auf evangelischer Grundlage. Vom Werden und Wesen der Evangelischen Allianz, Gießen und Zürich 1986, 53. Zu den Begriffen evangelical und protestant vgl. Anmerkung 45 und 3.2.1 Anmerkung 25. 60 Chalmers, Thomas: On the Evangelical Alliance. Its Design, its Difficulties, its Proceedings, and its Prospects: with Practical Suggestions, Edinburgh/London 1846.

201

überwunden werden. Eine Reihe leitender Mitglieder der Free Church nahm 1845 an der Konferenz in Liverpool teil, die die Gründung der Evangelical Alliance vorbereitete. Auch die Gründungsversammlung der Allianz ein Jahr später in London war von ihnen mit geprägt. Dennoch stimmte die Synode der Free Church 1846 fast einstimmig gegen die Mitgliedschaft als Kirche. Allein durch Einzelpersonen wollte sie in der Allianz vertreten sein.61 Noch im Jahr ihrer Gründung distanzierte sich Chalmers von der Evangelical Alliance. Sein Vorschlag, dass sie ein Zusammenschluss von Kirchen sein sollte, hatte keine Zustimmung gefunden. Nur damit wäre sie nach seiner Meinung „ein Schritt auf dem Weg“ gewesen, „die Einheit der Christen zu vollenden“.62 Damit sei aus einem „wenig bewirkenden Zusammenschluss“ ein „nichts bewirkender“ geworden.63 Neben seiner Teilnahme an der Debatte um die Gründung der Evangelical Alliance nahm Chalmers ein weiteres Modellprojekt in Angriff, mit dem er seinen Bemühungen um die Einheit der Kirchen Nachdruck verleihen wollte. 1844 stellte er in einer Vortragsreihe ein ökumenisch vernetztes Konzept der Öffentlichkeit vor, das im Rahmen einer neuen Church-Extension-Kampagne verwirklicht werden sollte. Vierzig zusätzliche Gemeinden sollten in Edinburgh entstehen. Es sollten Gemeinden sein, die das principle of locality praktizierten, jeweils auf einen Bezirk mit etwa 2000 Einwohnern innerhalb eines Arbeiterviertels der Stadt bezogen. Chalmers forderte Baptisten, Anglikaner, Methodisten, Kongregationalisten, freie Presbyterianer und Mitglieder der Free Church gleichermaßen auf, sich an dem Projekt zu beteiligen. Jede der neuen Gemeinden sollte mit einer bestimmten Konfession verbunden sein. Chalmers selbst wollte eine dieser neuen Gemeindegründungen betreuen. „Ich werde alle evangelischen64 Denominationen brauchen, wenn sie mich mit ihrer Teilnahme beehren werden, um zu beweisen, dass wir zusammen arbeiten sollten, dass Raum für alle da ist. [. . .] Ich habe selbst vor, einen Stadtteil von etwa 400 Familien auszuwählen und das Viertel in 20 Einheiten zu unterteilen. Diese sollten regelmäßig von den Mitarbeitern besucht werden.“65 „Ich verstehe dieses Unternehmen als eines von vollkommener Katholizität [. . .] während ich sage, dass es ein großes Missgeschick für die Menschen ist, dieser Art von Liberalismus zu verfallen, der sie dazu veranlasst, die wichtigen Differenzen unterzubewerten [. . .] ist es doch gleichermaßen ein

61 Vgl. The Witness 29. Mai 1846. 62 „the means to the end – that of perfecting the union of Christians“ Lowes Magazine, NS 1 (2), Dezember 1846, 81ff, zit. n. Roxborogh: Mission of the Church, 272. 63 „stepped back from a do-little to a do-nothing association“, ebd. 64 Vgl. Anmerkung 59. 65 „I shall take up all the evangelical denominations, if they will honour me with their attendance- to prove that we may work together, that there is room for all.“ „I propose to take about 400 families in a locality, to have that locality divided into 20 parts, and that these should be visited regularly by the agents.“ The Witness 19. Juni 1844.

202

Missgeschick, wenn Differenzen von geringer Bedeutung zu stark betont werden. Die Interessen des Christentums sind auf diese Weise unermesslich verletzt worden. So wird direkt gegen das Gebet unseres Erlösers gearbeitet, wenn er betet, ‚dass sie alle eins sein sollen, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast,‘ oder, in anderen Worten, er macht die Erneuerung der Welt, die Ausbreitung des Christentums in der Welt, nicht nur von einer realen, sondern von einer sichtbaren Einheit und Union der Christen abhängig. [. . .] Ich bin mir bewusst, dass die Differenzen bezüglich der Art der Kirchenleitung66 ein Hindernis für die Vereinigung sein können, aber sie sind kein Hindernis für die Zusammenarbeit. [. . .] Nichts wird uns schneller einigen als dies, es wird besser sein, als hundert Zusammenkünfte, auf denen Glaubensartikel diskutiert werden und wir werden so schneller der Vereinigung der verschiedenen evangelischen Denominationen zuarbeiten, als durch irgendein anderes Mittel.“67

Chalmers kritisierte in diesen Ausführungen, dass sich die Kirchen nur in einem Wettstreit miteinander befänden um die Unterstützung der Christen der Mittel- und Oberschicht, während die Armen und Nichtreligiösen ignoriert würden. Diese Kritik galt nicht zuletzt auch der Free Church, die in ihren ersten Jahren einen erheblichen Finanzbedarf hatte.68 Er empfahl zunächst Vereine zu gründen, die in armen Stadtteilen Besuchsdienste organisieren, Gottesdienste veranstalten und eine Schulen ins Leben rufen. „Ich hoffe, dass unsere Mitarbeiter aus allen Schichten der Gesellschaft kommen werden. Ich wünsche mir eine Mischung aus allen Klassen von begabten christlichen Männern, sogar Arbeiter sollten darunter sein.“69

Chalmers prognostizierte, dass durch solche Programme in wenigen Jahren lebensfähige christliche Arbeitergemeinschaften in jenen Stadtteilen entstehen würden, die aus eigener Kraft Schul- und Kirchengebäude 66 Gemeint ist die Frage, ob die Kirche episkopal, presbyterial oder kongregationalistisch verfasst sein soll. 67 „I understand this enterprise to be one of perfect catholicity [. . .] while I say that it is a grievous misfortune for people to fall into that kind of liberalism which dispose them to under-rate important differences [. . .] yet is an equal misfortune if too much stress be laid upon differences of trifling importance; incalculable injury is done to the interests of Christianity in this way,– it operates directly contrary to our Saviour’s prayer, when he prays, ‚that they all may be one, that the world may believe that thou hast sent me‘; or, in other words, he makes the world’s regeneration, the enlargement of Christianity in the world, to hinge upon not merely a real, but an ostensible unity and union among Christians, – [. . .] I am aware that the differences regarding Church government may be an obstacle to incorporation; but it is no obstacle to co-operation. [. . .] Nothing will bring us more speedily at one than this; it will be better than a hundred meetings for the discussing of articles, and we shall thus come more speed in the incorporation of the various denominations of evangelical Christians, than by any other expedient that can be devised.“ The Witness 26. Juni 1844. 68 Vgl. 7.2. 69 „I trust that our agents will be from all the various grades of society. I should like a mixture of all classes of well conditioned Christian men, – even operatives.“ The Witness 26. Juni 1844.

203

errichten würden. Dann könnten die Vereine, die den Anstoß zu dieser Entwicklung gegeben hatten, wieder aufgelöst werden, weil sie ihren Zweck erfüllt hätten und nun neue allein von Arbeitern unterhaltene Kirchengemeinden entstanden wären. Chalmers bedauerte es, dass es ihm in der Vergangenheit nicht gelungen war, Vertreter des Staates davon zu überzeugen, Gemeinden in Armenvierteln zu bezuschussen, damit die Platzmieten gesenkt werden konnten. So hoffte er jetzt auf die Großzügigkeit von Spendern. Angefangen von den Kirchengebäuden bis hin zur Ausstattung der Gemeindehäuser und angegliederten Schulen, sollte bei den neuen Gemeinden an nichts gespart werden. „Wir haben kein Recht, die Armen abzuspeisen mit einer weniger perfekten und umfassenden Anordnung, als wir den mittleren und höheren Schichten der Gesellschaft anbieten. Ich sage, dass sie ein mächtigeres Instrumentarium brauchen.“70

Diesen Gedanken unterstrich er mit dem Hinweis auf Jakobus 2, 1–4. Die Armen hätten in Edinburgh nicht nur die schlechteren Plätze in den Gemeinden. Hier sei es viel schlimmer. Die Reichen sind in der Kirche und die Armen sind draußen. Der Stadtteil, den er für sein eigenes Projekt auswählte, war West Port einer der ärmsten Bezirke Edinburghs mit einer hohen Kriminalitätsrate.71 Im Gegensatz zu dem Stadtteil von St. Johns in Glasgow war der West Port wirklich von der lower working class bewohnt. Er hatte etwa 2000 Einwohner. Chalmers konnte James Ewan, einen Mitarbeiter der Stadtmission, der bereits Sonntagsgottesdienste für den West Port und einen angrenzenden Stadtteil abhielt,72 für sein Projekt gewinnen. Der Stadtteil wurde in zwanzig Quartiere von je etwa 100 Einwohnern eingeteilt. Im Juli 1844 wurde Chalmers West Port Verein gegründet. Im Januar 1845 hatten sich genügend Mitarbeiter gefunden, die den ver70 „We have no right to put off the poor with a less complete and ample organization than the middling and higher classes of society are satisfied with. I say that a more powerful application is needed for them.“ The Witness 26. Juni 1844. 71 In der Schrift Churches and Schools for the Working Classes (Edinburgh/London 1846) berichtete Chalmers von den Erfahrungen der Gemeindegründung im West Port. Vgl. auch Hanna: Memoirs IV, 391–415, 571–574, und Brown, Steward J.: The Disruption and Urban Poverty: Thomas Chalmers and the West Port Operation in Edinburgh, 1844–47, in: Records of the Scottish Church History Society XX, 1978, 65–89. 72 Der erste Stadtmissionsverein in Großbritannien wurde 1826 in Glasgow von David Nasmith (1799–1839) gegründet. In den Jahrzehnten danach entstanden in zahlreichen britischen Städten ähnliche Vereine. Deutschmann weist darauf hin, dass das Konzept der Stadtmission deutlich von Chalmers beeinflusst war. So hatten die Stadtmissionare z. B. die Aufgabe in festgelegten Bezirken jeden Haushalt zu besuchen „Bibeln und Traktate zu verbreiten, die Alten zur Kirche, die Jungen zur Schule, besonders auch zur Sonntagsschule, zu bringen.“ So war Chalmers Kooperation mit der Edinburgher Stadtmission naheliegend. Vgl. Deutschmann, Stefan: Mission und Diakonie im Herzen der Stadt. Von den Anfängen der Stadtmissionsarbeit und ihre Entwicklung im britischen Methodismus, Beiträge zur Diakoniewissenschaft – Neue Folge Bd. 40, Diplomarbeit, Heidelberg 1995, 34, 32–36.

204

schiedenen Quartieren zugeteilt, allein oder zu zweit,73 die Haushalte besuchten. Die Mitarbeiter kamen wöchentlich zusammen, um Fortschritte und Probleme im Besuchsprogramm diskutieren zu können. Im Gegensatz zu den Presbytern und Diakonen der St. Johnsgemeinde sollten die Mitarbeiter des Vereins in keiner Weise finanzielle Hilfen weitergeben, weder aus den Vereinsmitteln noch aus ihren privaten Ressourcen. Im West Port Projekt wurde der Selbsthilfeaspekt noch mehr betont, indem geplant war, auch die Leitung der Arbeit in die Hände der Bewohner des Stadtteils zu legen. Die Bedeutung von mitarbeitenden Betroffenen artikulierte Chalmers bereits am Anfang der Gemeindegründung: „Ich glaube nicht, dass man dauerhaft etwas Gutes für die Bevölkerung erreichen kann, wenn sie nicht in der Sache mitarbeitet oder sie wenigstens materiell unterstützt. Ich glaube, dass ein großer und grundlegender Fehler in der Fürsorge für unsere Bevölkerung seinen Ursprung in der Idee hat, dass sie völlig hilflos sei und unfähig, irgendetwas für sich selbst zu tun.“74

Anstelle von finanziellen Hilfen sollten die Mitarbeiter auf andere Weise versuchen, die Lebensbedingungen der Bewohner zu verbessern. Sie sollten Arbeitsstellen und Ausbildungsplätze für Arbeitslose suchen, darauf hinwirken, dass gesundheitsgefährdende Wohnverhältnisse sich ändern und Schankwirtschaften geschlossen werden. Fälle extremer Mittellosigkeit und Krankheit sollten sie den Verantwortlichen der städtischen Armenfürsorge bekannt machen. Die persönliche Vorsorge wurde dadurch gefördert, dass im Mai 1845 ein Sparkassenbüro im West Port eröffnet wurde. Die Mitarbeiter des Besuchsdienstes waren dazu angehalten, für Penny-a-Week-Spareinlagen zu werben.75 Im November 1844 eröffnete der West Port Verein in einer leer stehenden Gerberei eine Wochenschule. Hier unterrichteten im Jahr 1846 bereits vier vollzeitlich und acht teilzeitlich angestellte Lehrkräfte. Es gab drei Schulzweige. Einen Ganztagszweig für Jungen, einen Zweig für Mädchen, in dem sie vormittags gemeinsam mit den Jungen unterrichtet wurden und am Nachmittag von einer Mitarbeiterin hauswirtschaftliche Fähigkeiten vermittelt bekamen. Der dritte Schulzweig war ein Angebot für Jugendliche und junge Erwachsene beiderlei Geschlechts. Sie wurden an jedem Werktagsabend 73 Da es nicht ganz ungefährlich war, allein durch den Stadtteil zu gehen, wurde schon bald nach dem Beginn des Besuchsprogramms versucht, möglichst zwei Männer die Besuche gemeinsam durchführen zu lassen. 74 „I don’t think that you will achieve any permanent good for the population unless you enlist them as fellow-workers in, or at least as fellow-contributors to the cause. I think that a great an radical error in the management of our population has just proceeded from the idea that they are utterly helpless and unable to do anything for themselves.“ Zit. n. Hanna: Memoirs IV, 398f. 75 Vgl. Brown: Urban Poverty, 74f. Chalmers entfaltete den Gedanken der persönlichen Vorsorge zur gleichen Zeit auch in einem Artikel der North Britisch Review: Chalmers, Thomas: Saving Banks, North British Review III, Edinburgh 1845, 318–344.

205

jeweils zwei Stunden unterrichtet. Die grundlegenden Fächer der Schule waren: Lesen, Schreiben, Naturwissenschaft, Geographie und Bibelstudium. Begabtere Schüler wurden auch noch in englischer Grammatik, Mathematik und Latein unterrichtet.76 Die Schülerzahlen stiegen kontinuierlich. Im Jahr 1845 wurde die Schule von 250 Tagesschülerinnen und -schülern besucht und von 70 Abendschülerinnen und -schülern. Eine Wäscherei und ein öffentliches Bad wurde eröffnet, ein Kindergarten, eine Leihbücherei und ein Leseraum, in dem mehrere Zeitungen und Zeitschriften auslagen. Sonntagsschulen wurden ab Oktober 1845 von einem eigens hierzu gegründeten Verein unterhalten. In diesem Jahr unterrichteten hier 25 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, vor allem Frauen.77 Anfang 1845 stellte der Verein William Tasker ein, den Chalmers zum Pfarrer der neuen Arbeitergemeinde ausersehen hatte. Er hielt jeden Sonntag drei Gottesdienste in der alten Gerberei ab und besuchte systematisch von Chalmers unterstützt die Haushalte des Stadtteils. Vermutlich weil Chalmers hier noch selbst die Früchte seiner Bemühungen sehen wollte, verwarf er den ursprünglichen Plan, dass die Bewohner des Stadtteils selbst das Geld für ein eigenes Kirchen- und Schulgebäude aufbringen sollten. So wirkte er darauf hin, dass der West Port Verein ein Grundstück erwarb und sich außerhalb des West Ports um Spenden bemühte. Im Februar 1847 wurde das neue Gebäude eingeweiht und Tasker dort zum Pfarrer der Free Church ordiniert. Das Gebäude umfasste u. a. eine Kirche, Schulräume, einen Versammlungsraum, eine Bücherei und eine Wäscherei. Im September 1846 wurde der Besuchsdienst der Laien gänzlich eingestellt. Das, was den Besuchern begegnete, war jenseits ihres Erfahrungshorizontes. Sie sahen sich außerstande adäquat mit den Bewohnern des West Port zu kommunizieren und auf ihre Bedürfnisse zu reagieren. Brown bemerkt hierzu: „In Wahrheit hätten sie besser geschult werden müssen und einer engeren Begleitung bedurft, um die Barriere zu der anderen sozialen Schicht zu durchbrechen und die wirklichen Bedürfnisse des Distrikts wahrnehmen zu können.“78

Die Lebensbedingungen im West Port verbesserten sich nicht wesentlich durch die Gemeinde, wie Chalmers es gehofft hatte. Dies ist nicht zuletzt dem hohen Mobilitätsgrad der Bevölkerung zuzuschreiben. Obwohl die Gemeinde 1851 mehr als 400 Gottesdienstbesucher verzeichnete und in dem Jahr 470 Kinder und junge Erwachsene in den Schulen unterrichtet 76 So sollte es den besonders begabten Schülern möglich sein, ihre Ausbildung an der Universität fortsetzen zu können. Vgl. Brown: Urban Poverty, 78. 77 Vgl. Hanna: Memoirs IV, 401–404. 78 „In truth, they would have required more training an stricter direction in order to penetrate the barrier of social class and recognise the real needs of the district.“ Brown: Commonwealth, 361.

206

wurden, rekrutierten sich die Gottesdienst- und Schulbesucher mit den Jahren zum größten Teil aus Familien, die zwar einmal im West Port gewohnt hatten, dann aber mit ihrem sozialen Aufstieg in bessere Stadtteile umgezogen waren. Sie gehörten zur neuen Elite der Arbeiterschicht.79 Das Unterfangen, im unteren Teil der Arbeiterschicht eine solidarische Gemeinschaft aufzubauen, war weitgehend fehlgeschlagen. Schließlich trugen auch Chalmers Bemühungen, die West Port Gemeinde in ein ökumenisches Netzwerk ähnlicher Arbeiten zu integrieren wenig Früchte. Nur zwei Gemeinden in Edinburgh folgten dem Beispiel des West Port Projektes. Beide gehörten wie die West Port Kirche zur Free Church. Brown führt an, dass ein Grund für die geringe Resonanz, auf die die Idee eines solchen Netzwerks stieß, die irische und schottische Hungersnot gewesen sein könnte, die in den Jahren 1846 und 47 große Summen an Spendengeldern und Aufmerksamkeit auf sich zog.80 Soziale Sicherung, die wesentlich durch ein ökumenisches Netzwerk getragen wird, war die letzte Form des Chalmersschen Konzeptes. Er hat es auf den Punkt gebracht, was es für die kirchliche Landschaft bedeuten kann, wenn die Kirchen ihre diakonische Verantwortung wahrnehmen. Vor dem Hintergrund der sozialen Notlagen, mit denen wir heute konfrontiert werden, ist es aber deutlich, dass die Vernetzung der Hilfsangebote noch weiter gehen muss. Insbesondere an den Rändern unserer Gesellschaft können humanere Lebensbedingungen nur hergestellt werden, wenn sich die christlich motivierten Helfer koordinieren mit allen Menschen guten Willens sowie mit den sozialstaatlichen Strukturen. 7.4 Mission als demokratische Veranstaltung Schon Zeitgenossen sahen einen Zusammenhang zwischen dem Missionseifer der Evangelicals und den Bestrebungen, die überkommene Ordnung der Gesellschaft zu verändern. So argwöhnte der Glasgower Pfarrer William Porteous, der Plan Robert Haldanes, in Indien zu missionieren habe in Wahrheit einen politischen Hintergrund: „Dieses ganze Missionsgeschäft wächst aus einer demokratischen Wurzel.“81 Angesichts der tiefgreifenden Umwälzungen, die sich im ausgehenden 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhundert in Großbritannien vollzogen, werden solche Befürchtungen nachvollziehbar. Sie wurden auch genährt durch den jakobinischen Terror nach der Französischen Revolution, der gerade um die Jahrhun-

79 Vgl. ebd., 363. 80 Brown: Urban Poverty, 86. 81 „The whole of this missionary business grows from a democratical root.“ William Porteous an Robert Dundas am 24. Januar 1797, zit. n. Deryck W. Lovegrove: Unity and Separation: Contrasting Elements in the Thought and Practice of Robert and James Alexander Haldane, in: Protestant Evangelicalism, Keith Robbins (Hg.), Oxford 1990, 153–177: 158.

207

dertwende häufig mit dem Begriff Demokratie verbunden wurde. In der Tat gehörte aber zu den sich parallel mit der Industrialisierung vollziehenden Veränderungen der Gesellschaft auch ein Demokratisierungsprozess. Hierarchische Strukturen verloren an Bedeutung. Neben den Aristokraten gab es nun nicht nur eine wachsende bürgerliche Elite, sondern auch Ansätze zu einer neuen selbstbewussten Mittelschicht. Ab dem Ende der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts wurden in Großbritannien neue Gesetze erlassen, die einer größeren Gruppe von Menschen die Teilhabe an den Entscheidungsprozessen der Gesellschaft ermöglichte. Porteous zählte die Evangelicals zu den Motoren der Veränderung. Thomas Chalmers ist ein Beispiel dafür, dass diese Annahme nicht aus der Luft gegriffen war. Die Meinung, dass umfangreiche Missionsanstrengungen für die nötige Reform der Gesellschaft erforderlich wären, war für Chalmers in der Tat ebenso zentral, wie das Verständnis des Staates als notwendig von Mehrheiten bestimmtes, heterogenes Gemeinwesen. Das Erste war für ihn die Konsequenz des Zweiten. Aus heutiger Sicht kann Chalmers Gesellschaftsbegriff als in den Grundzügen demokratisch und pluralistisch beschrieben werden. Die Gesellschaft war ein Forum, auf dem verschiedene Überzeugungen gleichberechtigt um die Gunst der Bürgerinnen und Bürger zu werben hatten. Sollten christliche Werte das Gemeinwesen bestimmen, musste zuerst eine Mehrheit dafür gewonnen werden. Kontur bekommt dieser Demokratiebegriff vor dem Hintergrund ganz anderer, gegenläufiger Konzepte. Im Folgenden soll dies verdeutlicht werden am Beispiel des Ansatzes, der in der Generation nach Chalmers zunehmend die Mentalität der Erweckungsbewegung und ihr Gesellschaftsverständnis beeinflusste.82 Das Bildungs- und Armenfürsorgekonzept, mit dem der schottische Theologe den Betroffenen den sozialen Aufstieg ermöglichen wollte, setzte nicht ihre Bekehrung voraus. Dennoch war er davon überzeugt, dass eine Ausbreitung christlicher Überzeugungen umfassende Auswirkungen auf die Gesellschaft hat: „Jesus Christus starb, der Gerechte für die Ungerechten, um uns zu Gott zu bringen. Dies ist eine Wahrheit, die, wenn die ganze Welt sie annimmt, die ganze Welt erneuern wird.“83

Chalmers machte beim Einfluss des Christentums auf die Gesellschaft einen Unterschied zwischen denen, die „im vollen Sinne“ als Christen bezeichnet werden könnten und der weit über sie hinausreichenden Plausibilität des christlichen Ethos.

82 Auf die Zusammenhänge, die in diesem Abschnitt in den Blick genommen werden, wurde unter anderen Aspekten bereits in 5.1 und 5.2.2 eingegangen. 83 „Jesus Christ died, the just for the unjust, to bring us unto God. This is a truth, which, when all the world shall receive it, all the world will be renovated.“ Chalmers: Works VI, 261.

208

„Das Christentum hebt den allgemeinen Standard der Moral in einem Volk, selbst wenn nur ein sehr kleiner Teil von ihm in dem vollen Sinn und der Bedeutung des Begriffs Christen wird.“84 „Die Kraft des Christentums hat eine [. . .] umfassende Auswirkung auf die bürgerlichen und säkularen Tugenden einer bestimmten Nachbarschaft. Von daher mag das Christentum nur das Heil von wenigen bewirken, während es aber den Standard der Sittlichkeit von vielen hebt.“85

Die Ethik, die auch dem Kirchenfernen plausibel ist, ist bei Chalmers nicht von der Kirchengemeinde zu trennen. Vielmehr hat sie als solidarische Gemeinschaft paradigmatischen Charakter auch für den Einzelnen.86 Die Prinzipien des solidarischen und verantwortlichen Lebens kommen aber nicht erst durch das Christentum in die Gesellschaft, es verstärkt diese Verhaltensweisen nur und unterstützt ihre konkrete Umsetzung. In dieser Überzeugung setzt sich bei Chalmers die Common-Sense-Philosophie fort.87 „Es ist nicht das Christentum, was diese Prinzipien in die Gesellschaft hinein bringt, sondern das Christentum steuert außerordentlich zur Kraft und Intensität ihrer Arbeitsweise bei – so dass [. . .] es [. . .] einen gewaltigen Zuwachs dieser heilenden Wasser hervorruft, die dazu dienen sowohl das Wohlergehen unserer Spezies zu gewährleisten, als auch ihre Leiden zu lindern.“88

Die durch Mission vorangetriebene christliche Prägung der Gesellschaft würde sich niederschlagen in solidarischem Verhalten sowohl zwischen den sozialen Schichten als auch zwischen den Mittellosen. Daneben würde sie eine umfassendere Inanspruchnahme der Bildungs- und Arbeitsangebote durch die Armen zur Folge haben. Die Reform des Instrumentariums mit dem der Massenarmut begegnet werden sollte und die missionarischen Bemühungen der Kirchen sollten von daher Hand in Hand gehen: „Die beiden Dinge sind in der Tat verwandt – mehr als den meisten Menschen bewusst ist: Sie haben eine gemeinsame Basis.“89

84 „Christianity may elevate the general standard of morals among a people, even though a very small proportion of them shall, in the whole sense and significancy of the term, become Christians.“ Chalmers: Works XX, 285. 85 „The power of Christianity [. . .] may work a general effect on the civil an secular virtues of a given neighbourhood. It is thus that Christianity may only work the salvation of a few, while it raises the standard of morality among the many.“ Chalmers: Importance of Civil Government, 38. 86 Vgl. 6.1 Anmerkungen 21 und 23. 87 Vgl. 5.2.1. 88 „Christianity does not originate these principles in society, but Christianity adds prodigiously to the power and intenseness of their operation – so that [. . .] it, [. . .] calls forth a mighty addition to those healing waters, that serve both to sustain the comfort and to assuage the sufferings of our species.“ Chalmers: Works XIV, 413f. 89 „The two subjects are, indeed cognate, – more so than most people are aware of: there is a common ground between them.“ Chalmers, Thomas in The Witness, 26.06.1844.

209

Die Kirche sollte nach Chalmers missionarisch sein, weil die Gesellschaft heterogen war. Dass sie von Menschen mit den unterschiedlichsten Überzeugungen gestaltet wurde, war für ihn keine Tatsache, die man akzeptieren musste, weil sie nicht zu ändern war, vielmehr war der formale Pluralismus bis zur Vollendung der neuen Schöpfung die einzige Gesellschaftsform, die der reformatorischen Botschaft entsprach. Die Reformation hatte nach Chalmers herausgestellt, dass der Glaube nur als freiwillige Antwort auf die Predigt des Wortes Gottes verstanden werden konnte, das war aber nur möglich, wenn andere Überzeugungen ebenso legitim waren. Die durch den Staat gewährleistete Religions- und Gewissensfreiheit war eine notwendige Folge hiervon. In der Reformation war ein Bresche „für die geistlichen Freiheiten der Menschheit“90 geschlagen worden. So gehört zu der Gesellschaft, die der reformatorischen Botschaft entsprach, die Toleranz gegenüber anderen Überzeugungen, welche in dem Recht auf Religions- und Gewissensfreiheit zum Ausdruck kommt. Am deutlichsten zeigte sich der Respekt vor Andersdenken als einer der Grundzüge von Chalmers Gesellschaftsverständnis in seiner Haltung zur Katholikenemanzipation: Obwohl er eine gemeinsame Basis der römischen und den protestantischen Kirchen nicht in Abrede stellte, sah er die Katholiken insgesamt so weit von der Wahrheit entfernt, dass sie für ihn Objekte der Mission waren. Dennoch setze er sich in der Debatte um das 1829 verabschiedete Emanzipationsgesetz vehement für die vollständige politische und gesellschaftliche Gleichstellung der Katholiken ein.91 Eine durch den Staat gewährleistete Religionsund Gewissensfreiheit, welche sich in der Toleranz gegenüber anderen Überzeugungen niederschlägt, sah er hier durch die protestantische Theologie geboten. Im Emanzipationsgesetz wurde die römisch-katholische Konfession nun nicht mehr nur vom Staat toleriert, sondern es wurde den Katholiken in gleicher Weise wie den Anglikanern und Presbyterianern das Recht zugestanden, ohne daraus resultierende Nachteile, gemäß ihrer Überzeugung zu leben.92 Gesellschaftliche Reformprozesse sollten nach Chalmers von der Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen werden. Damit eine Meinung zur Mehrheitsmeinung wird, muss für sie geworben werden. Die öffentliche Meinung galt es zu gewinnen, wenn etwa Gesetze geändert werden sollten. So war sein Rat an die, die sich für die Abschaffung der Sklaverei in den amerikanischen Südstaaten einsetzten: „Durch das Medium der öffentlichen Meinung sowohl in ihrem eigenen, als auch in anderen Ländern sollten sie direkt Einfluss ausüben auf den amerikanischen Gesetzgeber.“93 90 „for the spiritual liberties of the human race“ Chalmers: Works XI, 136. 91 Vgl. 5.1.2. 92 Vgl. 2.3.3 Anmerkung 70. 93 „Through the medium of the public mind, both in their own and in other countries, they should bring a direct influence to bear on the American legislator.“ Chalmers, Thomas: Letter

210

Chalmers kann als einer der Vorreiter der Entwicklung angesehen werden, die nach Carwadine in Amerika und Großbritannien im Zusammenhang des Demokratisierungsprozesses im dritten und vierten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts einsetzte: Politik wurde nun immer weniger durch Einflussnahme und immer mehr durch Meinungen bestimmt.94 Chalmers betonte, dass das Staatsverständnis der Reformatoren ihrer Theologie widersprach. Statt einer Gesellschaft von mündigen Bürgern Vorschub zu leisten, insistierten sie darauf, dass der Staat nur eine Meinung duldete und Andersdenkende mit der Macht seiner Gesetze verfolgte. In den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts begann sich die Erweckungsbewegung zu verändern. Eine Gruppe gewann in ihr an Bedeutung, die ein anderes Gesellschaftsverständnis als Chalmers und seine Vorgänger hatte. Ihre Eschatologie war praemillenaristisch, d. h. sie rechneten mit der Parusie, bevor das Millennium anbrechen würde. Sie spalteten so die geschichtsimmanente Dimension der Eschatologie auf in einen bereits präsentischen Teil, der sich nur auf Individuen bezog und einen futurischen mit universalen Ausmaßen. Chalmers und die Evangelicals des 18. Jahrhunderts waren dagegen in der Regel Postmillenaristen.95 Sie gingen davon aus, dass Gott bereits in umfassender Weise in dieser Welt am Werk sei. So war für sie das Reich Gottes die Vollendung eines kontinuierlichen Prozesses an dessen Ende die Wiederkunft Christi stand. Christlich motivierte Sozialreformer waren aus dieser Perspektive Mitarbeiter am Reich Gottes in der Zuversicht, dass sich die Gesellschaft bereits auf dem Weg zu ihrer Vervollkommnung befindet. Auch der neue Flügel der Erweckungsbewegung erwartete das Reich Gottes auf der Erde. Bis zu seinem Anbruch musste aber mit einer kontinuierlichen Verschlechterung der Verhältnisse gerechnet werden. Mitte des 19. Jahrhunderts hatte ein großer Teil der Erweckungsbewegung viele seiner Überzeugungen übernommen. Der wachsende Einfluss des Praemillenarismus und seiner pessimistischen Weltsicht weist auf die sich wandelnde Mentalität der Evangelicals nach 1830 hin. Diese Veränderung der Erweckungsbewegung ist freilich auf eine ganze Reihe von Faktoren zurückzuführen, auf die bereits eingegangen wurde.96 Die Praemillenaristen waren politisch ebenso aktiv wie die Evangelicals der älteren Generation. Im Zentrum dieser parlamentarischen Fraktion standen Anthony Ashley Cooper, der spätere 7. Earl of Shaftesbury

of the Rev. Dr. Chalmers, on American Slave-Holding; with Remarks, by the Belfast Anti-Slavery Committeé, Belfast 1846, 15f. 94 Vgl. Carwadine, Richard: Evangelicals, Politics, and the Coming of the American Civil War. A Transatlantic Perspective, in: Bebbington/Noll/Rawlyk: Evangelicalism, 198–218: 198. 95 Vgl. 5.2.2. 96 Vgl. 5.2.2.

211

(1801–1885) und der Bankier Henry Drummond (1786–1860). Boyd Hilton beschreibt detailreich wodurch sich die Politik der beiden Gruppen unterschied.97 Wilberforce und Chalmers ordnet er dem „Laissez-Faire-Liberalismus“ zu, die Praemillenaristen dem „Paternalismus“.98 Ob die Kategorien die politischen Konzepte der beiden Gruppen hinreichend charakterisieren, muss hinterfragt werden. Offensichtlich ist jedenfalls, dass sie sich deutlich voneinander unterscheiden lassen. Die Festlegung Chalmers auf den Liberalismus stellt seine Ablehnung eines wirtschaftspolitischen Protektionismus in den Vordergrund. Von daher versucht Hilton andere Zuordnungen seines Ansatzes zu widerlegen.99 Auch die unterentwickelte Rolle des Sozialstaates bei Chalmers liegt auf dieser Linie, aber anders als Adam Smith, der Begründer des wirtschaftlichen Liberalismus, erwartete Chalmers den Wohlstand für alle nicht von einem unbegrenzten Wirtschaftswachstum, sondern vielmehr von einer Gesellschaft, die vom christlichen Geist geprägt ist. Die Bereitschaft zum Teilen und für andere Verantwortung zu übernehmen waren dabei für ihn zentrale Kategorien, auch die Art der Begleitung der Armen durch die Diakone und die Förderung von Solidaritätspotenzialen im Umfeld der Betroffenen gibt Steward Brown und anderen recht, die Chalmers im Zusammenhang eines kollektivistischen Ideals sehen.100 Der neue Flügel von Evangelicals war davon überzeugt, dass die Welt als Ganze und die einzelnen Staaten bis zur Parusie einen unaufhaltsamen Niedergang erleben werden. Erst Christus selbst würde bei seiner Wiederkunft dieser Entwicklung ein Ende bereiten. Trotz dieser Weltsicht waren die frühen Praemillenaristen zum großen Teil engagierte Akteure der Diakonie und Sozialpolitik. Ashley und seine Freunde waren neben ihrer politischen Arbeit auch maßgeblich an zahlreichen diakonischen Projekten beteiligt.101 Dieses Engagement war aber nicht wie bei Chalmers von der Hoffnung getragen, gegenwärtig schon Mitarbeiter am Reich Gottes zu sein, es schon jetzt mit aufzubauen. Die neue Gruppe sah sich eher als Stimme eines zukünftigen Reiches, die bis zu seinem Beginn wenigstens punktuell dem allgemeinen Niedergang etwas entgegen setzen wollte. Ihr pessimistisches Menschen- und Weltbild ließ sie nicht für eine Vergrößerung der Wahlfreiheit eintreten, sondern für ihre systematische Einschränkung. Sie waren der Meinung, dass der Einzelne nur durch intensive Bevormundung vor dem Schlimmsten bewahrt werden könnte. Die Gesellschaft, als von christlichen Werten geprägtes Gemeinwesen, war für sie keine Zukunftsvision, sondern schon Gegenwart. Den Staat, in dem sie lebten, verstanden sie als corpus christianum. Politik im 97 98 99 100 101

212

Hilton: Atonement, besonders: 15–17, 91–100, 211–218. Ebd. 86, 93, 91f, 95. Hilton: Atonement, 87f. Vgl. z. B. Brown: Commonwealth, 189, 225. Vgl. 3.2.3.

Namen dieser christlichen Körperschaft bedeutete für die Praemillenaristen das Recht und die Pflicht alles, was ihrer Vorstellung von Christentum nicht entsprach, mit staatlichen Gesetzen zu verbieten.102 Im Kontext dieser pessimistischen Eschatologie wurde Mission zur Rettung aus einer untergehenden Welt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts illustrierte der Evangelist Dwight Lyman Moody (1837–1899) diese Anschauung häufig durch den Vergleich der Evangelisation mit einem Rettungsboot: „Ich betrachte diese Welt als ein leckes Schiff. Gott gab mir ein Rettungsboot und sagte: ‚Moody, rette alle die du retten kannst.‘“103

Chalmers Missionseifer stand dagegen in einem gänzlich anderen Zusammenhang. Die Gesellschaft sah er als Forum, auf dem verschiedene Überzeugungen im Wettstreit miteinander stehen. Wahlfreiheit war für ihn keine Gefahr vor der das Individuum durch den Staat geschützt werden muss. Vielmehr war sie eine durch die reformatorische Theologie gebotene Notwendigkeit, die der Staat durch entsprechende Rahmenbedingungen zu gewährleisten hatte. In seinem Gesellschaftsbegriff waren dennoch nicht alle Überzeugungen gleichwertig. Allein das Christentum protestantischer Prägung beinhaltete seiner Meinung nach die Ethik, die die Gesellschaft zu ihrer Vollendung führen konnte. Trotzdem waren aber alle Überzeugungen gleichermaßen legitim. In diesem Zusammenhang ist die Mission eine demokratische Veranstaltung, ein Werben für das, was das Gemeinwesen voranbringt, während andere Weltanschauungen ebenso für ihr Konzept werben. Letztlich wird die Gesellschaft dann durch das geprägt, was für die Mehrheit plausibel ist. Die Politik der praemilleniaristischen Evangelicals zeichnete sich durch die Überzeugung aus, dass nur ein Staat, der jetzt schon möglichst weitgehend christliche bzw. protestantische Normen für alle verbindlich macht, verantwortungsvoll handelt. Politik ist hier verpflichtet, die Wahlmöglichkeit zwischen christlichen und nichtchristlichen Optionen so weit wie möglich einzuschränken. Ihre Mission wirbt zwar auch darum, dass sich die Umworbenen „frei“ für das richtige Christentum entscheiden sollen, wer sich anders entschieden hat, muss aber u. U. auf einen Teil seiner Bürgerrechte verzichten. So lehnten die praemillenaristischen Parlamentarier die rechtliche Gleichstellung der Katholiken ab.104 Bebbington bemerkt dazu: 102 Fairerweise muss gesagt werden, dass aus heutiger Sicht, diese dirigistischere Politik nicht in allen Punkten hinter der von Chalmers vertretenen Linie zurücksteht. So setzte sich Ashley z. B. vehement für die Ten Hours’ Bill ein, die die maximale Arbeitszeit gesetzlich festlegen sollte. Chalmers konnte die Notwendigkeit eines solchen Gesetzes nicht nachvollziehen. Vgl. Hilton: Atonement, 212f. 103 Zit. n. Noll, Mark A.: Evangelikalismus und Fundamentalismus in Nordamerika, in: Gäbler: Geschichte, 466–531: 485. 104 Vgl. Hilton: Atonement, 211. Zu den Gegnern des Emanzipationsgesetzes von 1829 zählten allerdings nicht nur die Praemillenaristen. Zu ihnen gehörten ebenso kirchlich orientierte Protestanten, die keine Evangelicals waren. Vgl. Wolffe: Anti-Catholicism, 186f.

213

„Alternative Weltanschauungen, ob religiös oder säkular, wurden verdammt als Affront gegen Gott, der seine Wahrheit in der Bibel geoffenbart hat. Am bedrohlichsten, weil am mächtigsten, war die römisch-katholische Kirche.“105

Rom war für die Praemillenaristen der Ort des Antichristen. In seinem vierbändigen Kommentar der Johannesapokalypse ermahnte Edward Bishop Elliot die Leser sich nicht auf nationaler Ebene „mit der papistischen antichristlichen Religion zu identifizieren“ oder „unseren ureigensten protestantischen Charakter aufzugeben“.106 Auch Chalmers war überzeugter Protestant. Er trug durch verschiedene Veröffentlichungen107 dazu bei, dass die Evangelische Allianz gegründet wurde. Seiner Meinung nach sollte sie aber eine Union protestantischer Kirchen werden und statt Evangelical Alliance den Namen Protestant Alliance tragen. Dies dokumentiert nicht zuletzt die distanzierte Haltung zum Katholizismus, die Chalmers zeitlebens zu eigen war.108 Vor diesem Hintergrund wird sein Eintreten für die politische und gesellschaftliche Gleichstellung der Katholiken zum Plädoyer für den formalen Pluralismus. Wolffe weist auf den Zusammenhang zwischen dem Antikatholizismus des 19. Jahrhunderts und dem wachsenden Nationalismus dieser Epoche hin.109 In Nordirland ist er heute noch unübersehbar. Ohne Zweifel verstand sich auch Chalmers als schottischer Theologe. Kirche sollte seiner Meinung nach immer auch die Interessen des Landes vertreten. Aber seine optimistische Reich-Gottes-Hoffnung ließen ihn den universalen, alle Menschen umfassenden Horizont nicht aus den Augen verlieren. Hierdurch wurde der nationale Partikularismus wieder relativiert. Die praemillenaristischen Politiker und ihre geistigen Erben waren nicht in der Lage die Gefahren des Nationalismus zu erkennen. Ihre pessimistische Eschatologie führte dazu, dass in den nachfolgenden Generationen große Teile der Evangelikalen, das Zurückdrängen der widergöttlichen Kräfte in der Welt von autoritären staatlichen Interventionen erwarteten. Ein Teil der Evangelikalen begrüßten dann auch die Machtergreifung 105 „Alternative systems of belief, religious or secular, were condemned as affronts to the God who had revealed his truth in the Bible. Most threatening because most powerful was the Roman Catholic Church.“ Bebbington: Evangelicalism in Britain, 133f. 106 We should not „seek nationally to identify ourselves with the Papal antichristian religion“ or to „abandon our distinctive Protestant character“. Elliot, Edward Bishop: Horae Apocalypticae: or, A commentary to the Apocalypse, critical and historical IV, London 1844, 279. Auch in der deutschen Erweckungsbewegung konnte man ähnliche Stimmen hören: Der Praemillenarist Adelbert von der Recke sprach von der „schmerzlichen Blindheit und Feindschaft“ „Roms u. der Römlinge“ „gegen das wahre Christentum“. Recke an Friedrich Wilhelm IV., am 23. Januar 1844, In: ZstA Merseburg, 3.2.1. Nr. 22685,17, zit. n. Viertel, Gerlinde: Anfänge der Rettungshausbewegung unter Adelbert Graf von der Recke-Volmerstein (1791–1878), Köln 1993, 121. 107 Z. B. Chalmers, Thomas u. a.: Essays on Christian Union, London 1845 und ders.: On the Evangelical Alliance, Edinburgh/London 1846. 108 Vgl. 5.1.2. 109 Wolffe: Anti-Catholicism,191f.

214

der Nationalsozialisten in Deutschland.110 Dennoch verschwand die Vorstellung, dass Gottes Reich in Ansätzen schon ein Teil der Gegenwart dieser Welt ist, niemals aus der Erweckungsbewegung. Gäbler geht davon aus, dass der Praemillenarismus noch während des 19. Jahrhunderts „keineswegs die Mehrheit der britischen und kontinentaleuropäischen Evangelikalen“ erfasste. Der Postmillenarismus blieb „kennzeichnend [. . .] für den überwiegenden Teil des Evangelikalismus.“111 Nach 1945 setzte bei einem Teil der Evangelicals eine Renaissance der emanzipatorischen Tradition der Erweckungsbewegung ein. Diese Entwicklung ging von den USA aus.112 So setzt sich die gesellschaftspolitische Tradition der Erweckungsbewegung gegenwärtig in verschiedenen Linien fort. Ihr Spektrum reicht von der Befürwortung militärischer Schläge gegen muslimische Länder um eine vermeintliche Bedrohung des Christentums durch den Islam abzuwenden, bis zu Positionen, die sich für nationale und internationale Abrüstung, sozialen Ausgleich und die Unteilbarkeit der Menschenrechte einsetzen. Chalmers Eintreten für eine formal pluralistische Gesellschaft war aber nicht nur für die Erweckungsbewegung von Bedeutung. Er antizipierte bereits das, was erst in den letzten Jahrzehnten von den protestantischen Kirchen mehrheitlich vertreten wurde: Die Relevanz des reformatorischen Ansatzes für die Begründung der Demokratie. Auf der Synode der EKD im Jahr 1993 hielt der Soziologe Peter L. Berger einen Vortag über das Thema Pluralistische Angebote: Kirche auf dem Markt?. Hier wies er so wie bereits Chalmers auf den Zusammenhang zwischen dem reformatorischen sola fide und einer notwendig pluralistisch strukturierten Gesellschaft hin, die dem Einzelnen eine Wahlmöglichkeit lässt:

110 Die Positionierung der Evangelikalen in Deutschland im Vorfeld und während des Dritten Reiches beschreibt Rudolf von Thadden am Beispiel der Gemeinschaftsbewegung. Auffällig ist, dass auch dort, wo die Unvereinbarkeit von Nationalsozialismus und Christentum erkannt worden war, vielfach behauptet wurde, die Christen könnten sich dem Bereich der Politik entziehen. Dies wurde mit der – freilich falsch verstandenen – lutherischen Zwei-Reiche-Lehre begründet. Von Thadden, Rudolf: Pietismus zwischen Weltferne und Staatstreue, in: Lehmann: Glaubenswelt, 646–666, besonders: 651–658. 111 Gäbler: Evangelikalismus, 39. Bebbington weist hingegen auf eine Einschätzung aus dem Jahr 1855 hin, die davon ausgeht, dass die Mehrheit der evangelikalen Pfarrer in Großbritannien Praemillenaristen waren. Bebbington: Evangelicalism in Britain, 85. 112 Vgl. Noll: Evangelikalismus, 516–522. Der bekanntester Protagonist des neuen Flügels ist der Evangelist Billy Graham, der neben seiner Predigttätigkeit auch für den Weltfrieden und den Respekt vor anderen religiösen Überzeugungen eingetreten ist. Theologisch bedeutsamer als Graham waren aber für die sogenannten neuen Evangelikalen seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die Publikationen der Mennoniten John Howard Yoder und Ronald Sider sowie von Missionswissenschaftlern wie Chris Sugden. Z. B.: Yoder, John Howard: Die Politik Jesu – der Weg des Kreuzes, Maxdorf 1981; Sider, Ronald J.: Der Weg durchs Nadelöhr. Reiche Christen und Welthunger, Neukirchen-Vluyn 1978 und Sugden, Chris: Seeking the Asian Face of Jesus. The Practice and Theology of Christian Social Witness in Indonesia and India 1974–1996, Oxford u. a. 1997.

215

„Glaube impliziert einen Entschluss, ja eine Wahl des einzelnen. Das setzt mindestens einen Grad von Entschlussfreiheit voraus [. . .] Glauben setzt voraus die Alternative des Nicht-Glaubens; der Pluralismus, so kann man es sagen, institutionalisiert die Alternativen.“113

Berger machte deutlich, dass die Sehnsucht nach der von Gott schon vollendeten Welt, in der es einen Pluralismus nicht mehr gibt, verständlich sei, dennoch „beruhe“ gerade der christliche Glaube auf einer „neuen Freiheit“ gegenüber solchen „falschen Geborgenheiten dieser Welt“, welche die Zukunft schon vorwegnehmen wollen.114 Im 17. Jahrhundert wurde der Zusammenhang zwischen dem Glauben und einer pluralistisch strukturierten Gesellschaft zum ersten Mal in die staatstheoretische Diskussion eingebracht.115 Als Chalmers theologisch begründet die gesetzliche Gleichstellung Andersdenkender forderte, war dies noch eine Minderheitsposition im Protestantismus. Von der reformatorischen Erkenntnis, dass die Gnade den Menschen zu einem mündigen Gegenüber Gottes macht bis zur Forderung nach staatlichen Strukturen, die Wahlfreiheit ermöglichen sollen, war es ein weiter Weg.

7.5 Partizipation – Chalmers Perspektive für die Unterschichten Das mündige, seine religiösen Überzeugungen selbst wählende Individuum war ein zentrales Moment der Erweckungsbewegung. Im letzten Abschnitt wurde darauf hingewiesen, wie Chalmers von daher entsprechende politische Strukturen einforderte. Michael Gauvreau weist darauf hin, dass in Nordamerika zur gleichen Zeit Evangelicals noch weit mehr als in Großbritannien an der Ausbildung demokratischer Elemente des Staates beteiligt waren.116 In Kanada und in den USA bildeten sie die kirchliche Mehrheit bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Insbesondere an dem Ausbau der noch jungen US-amerikanischen Demokratie waren sie maßgeblich beteiligt. Schon in der Unabhängigkeitsbewegung hatten sie einen prominenten Platz eingenommen.117 Die covenanting churches boten hier ein Vorbild für ein Gemeinwesen, das jeden an seiner Gestaltung partizipieren lässt. Die Partizipation aller an den Entscheidungsprozessen der Gesellschaft stand in der ersten Hälfte des 113 Berger, Peter L.: Pluralistische Angebote: Kirche auf dem Markt?, in: Osnabrück 1993. Bericht über die Tagung der achten Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 7. bis 12. November 1993, Hannover 1994, 153–165, 162. 114 A. a. O, 163. 115 Vgl. 2.4. 116 Vgl. Gauvreau: Empire, in: Bebbington/Noll/Rawlyk: Evangelicalism, 220. 117 Viele britische Evangelicals sympathisierten mit der Amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung. Offensichtlich war auch ihnen zu dieser Zeit der Zusammenhang zwischen der religiösen und der politischen Selbstbestimmung klar. Vgl. Bebbington: Evangelicalism in Britain, 73.

216

19. Jahrhunderts in Großbritannien nicht so im Vordergrund wie in den USA. Ein anderer Gegenstand nahm auf den britischen Inseln in den Publikationen der Zeit einen weit größeren Raum ein. Das waren die Verwerfungen, die die Industrialisierung mit sich brachte und wie sie bewältigt werden könnten.118 Partizipation bedeutet in diesem Zusammenhang an erster Stelle die Teilhabe an den Gütern, die die boomende Wirtschaft erwirtschaftet hatte. Das größte Problem der frühen Industriegesellschaft war die Massenarmut. Ihre Beseitigung hatten sich viele Evangelicals zur Aufgabe gemacht. Die Bekämpfung der massenhaft auftretenden Armut und die Teilhabe an Entscheidungsprozessen sind zwei verschiedene Dinge, dennoch besteht eine Verbindung zwischen beiden. Chalmers zeigte am Beispiel der Unterschichten bereits den Zusammenhang zwischen Armut und Fremdbestimmung auf, dass wenigstens eine minimale finanzielle Absicherung zu den Voraussetzung gehört, die es einem Menschen erst ermöglichen, seine Rechte und Wünsche selbst geltend zumachen. Die vertikale Struktur der Gesellschaft wollte er allerdings erhalten. In seiner Rede bei der Grundsteinlegung des theologischen Seminars der Free Church heißt es: „Ich vertraue darauf, dass niemals etwas in einem unserer Hörsäle gelehrt wird, das auch nur die geringste Tendenz haben wird, die bestehende Ordnung der Dinge zu verändern oder die jetzt in der Gesellschaft geltende Unterscheidung der Schichten und Klassen durcheinander zu bringen.“119

Chalmers Kritik an anderen zeitgenössischen Bemühungen der Reform richtete sich vor allem gegen die angewandten Mittel. An erster Stelle sollte seiner Meinung nach ein flächendeckendes Bildungsangebot den Ärmsten dazu verhelfen, an den Errungenschaften der Gesellschaft zu partizipieren. „Aber ganz sicher nicht möchte ich sie alle gebildet haben, damit sie nach einer gehobenen Position streben sollen, sondern um die Position, die sie bereits innehaben, zu segnen, sie mit Würde zu versehen und ihr einen Glanz von Moral und Gelehrsamkeit zu verleihen.“120 „Es geht nicht darum, einen Arbeiter zu einem Unternehmer zu machen, vielmehr soll aus einem unwissenden Arbeiter ein gelehrter Arbeiter werden. Er soll mit dem Wert und der Respektabilität versehen werden, für die er, wie ich behaupte, vollkommen

118 Das war wiederum ein Thema, das die USA erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigte, weil hier die Industrielle Revolution wesentlich später einsetzte. 119 „Nothing will ever be taught, I trust, in any of our halls, which shall have the remotest tendency to disturb the existing order of things, or to confound the ranks and distinctions which now obtain in society.“ Watt, H.: New College Edinburgh. A centenary history, 1946, zit. n. Roxborogh: Mission of the Church, 163. 120 „But most assuredly it is not that they may aspire after an elevated condition that I would have them all to be learned, but to bless and to dignify and to pour a moral and literary lustre over the condition they already occupy.“ Chalmers.: Predigt vom Juli 1820, zit. n. Hanna: Memoirs II, 244.

217

empfänglich ist. Dies wird so sein obwohl er sich nicht einen Zoll über den Lebensbereich erheben wird, in dem er sich jetzt bewegt. Er soll in ein gebildetes Individuum mit Reflektionsvermögen umgewandelt werden.“121

Dieses Eintreten für die überkommene Gliederung des Staates muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass weit mehr als in den meisten anderen europäischen Staaten in Großbritannien ein sozialer Aufstieg möglich war.122 Der Adel hatte hier bereits eine weitaus schwächere Position. Aus Handwerkern konnten Großindustrielle werden, die den gleichen Lebensstil wie die Aristokraten pflegten und auch in deren Kreise aufgenommen wurden. Je mehr Besitz jemand hatte, umso mehr konnte er auch den Staat mitgestalten. Das britische Unterhaus als gewähltes Parlament war eines der Instrumente durch das dies geschah. Die Vollendung des Reiches Gottes würde nach Chalmers die Gesellschaft in ihrer Struktur nicht verändern, sondern vielmehr humanisieren. „Ich prophezeie, dass sich, wenn die Welt noch bestehen wird, das Leben umfassend verbessern wird durch eine allgemeine Humanität [. . .] An jenem zukünftigen Tag, der wie ich bete nicht weit entfernt sein soll, in jenem Millennium von Licht und Liebe, von dem es prophezeit ist, dass viele hin und her laufen werden und das Wissen zugenommen haben wird, könnte es so viele Mechaniker, Arbeiter und Handwerker wie in diesem Moment geben.“123

Damit die Gesellschaft humaner wird, musste in ihr jedoch etwas anders werden. Chalmers hatte sich während seiner Studienzeit mit den Idealen der Französischen Revolution beschäftigt, wenn nicht sogar identifiziert.124 Später blieb davon die Überzeugung, dass die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse nicht nur verändert werden können, sondern, um soziale Gerechtigkeit zu schaffen, sogar verändert werden müssen. Anders werden müsste die unterste Ebene des Staates. Jeder sollte selbstbestimmt leben

121 „It is not to turn an operative into a capitalist: it is to turn an ignorant operative into a learned operative, to stamp upon him the worth and the respectability of which I contend he is fully susceptible, though he rise not by a single inch above the sphere of life in which he now moves, to transform him into a reflective and accomplished individual.“ Ebd. 122 Chalmers Bemerkung, dass allgemeine Bildung bei den unteren Schichten nicht notwendigerweise zum sozialen Aufstieg führen muss, ist gerade ein Hinweis darauf, dass soziale Mobilität in Großbritannien auf diesem Weg möglich war. Er selbst trug Sorge dafür, dass begabte Kinder von Arbeitern ein Universitätsstudium absolvieren konnten. Vgl. 7.3 Anmerkung 76. 123 „There will, I prophesy, if the world is to stand, there will be a great amelioration in the life of general humanity. [. . .] On that future day, which I pray may not be far distant – in that millennium of light and love, of which it is prophesied that many shall run to and fro, and knowledge shall be increased, there may just be as many mechanics, and as many labourers, and as many men of handicraft, as there are at this moment.“ Ebd., 245f. 124 Vgl. Kirkland, William Matthews: The impact of the French revolution on Scottish religious life and thought with special reference to Thomas Chalmers, Robert Haldane and Neil Douglas, PhD, University of Edinburgh, 1951, 36–52 und Hanna: Memoirs I, 11, 20.

218

können. Deshalb sollte es eine Schicht, deren Kennzeichen die Armut ist, nicht mehr geben. Auch am unteren Rand der Gesellschaft sollten die Menschen selbst genügend Mittel zur Verfügung haben, um bis zu einem gewissen Grad finanziell unabhängig zu sein. Erst damit verband sich für Chalmers die Möglichkeit selbstbestimmten Handelns und nur so konnte ein grundlegender Konsens im Staat gewährleistet werden. Die sozialen Verwerfungen der frühindustriellen Gesellschaft ließen ihn die Frage der Partizipation aller an den Früchten des wirtschaftlichen Aufschwungs stellen. Ein Lebensstandard, der der Würde jedes Menschen Rechnung trug, war dabei der Maßstab. Hierzu gehörten für ihn Arbeitsund Wohnbedingungen, die die Gesundheit nicht gefährdeten, Arbeit für alle Arbeitsfähigen. Zu dem Instrumentarium, welches dieses möglichst allen Angehörigen der unteren Schichten ermöglichen sollte, gehörten nach Chalmers eine freiwillige Beschränkung der Geburtenzahlen. Ein geringeres Angebot an Arbeitskräften sollte so angemessene Löhne garantieren.125 Ein früh ansetzendes Bildungsangebot für alle, welches auch ethische Maßstäbe und christliche Inhalte vermittelte, war ebenfalls Teil des Instrumentariums.126 Chalmers war davon überzeugt, dass sich die Lebensbedingungen der Armen nur dann verbessern könnten, wenn sie sich ihrer Würde, und das hieß für ihn vor allem auch ihres Wertes, bewusst würden. Dies sei die Grundlage für ihre soziale Sicherung: „Die Arbeiterklassen sind dazu bestimmt einen Platz im Staat einzunehmen, der viel abgesicherter ist als der, den sie bisher innehaben. Dieser Platz wird sich durch Wohlergehen und Unabhängigkeit auszeichnen. Und dies wird [. . .] die Folge der wachsenden Tugend, Intelligenz und des Wertes der Arbeiter selbst sein.“127

Die Menschenwürde war gleichfalls der Maßstab, mit dem unzumutbare Arbeitsbedingungen identifiziert werden konnten. „Kein Lohn für die Wiederherstellung der verbrauchten menschlichen Kraft, wie großzügig er auch sein mag, kann uns versöhnen mit dem Entzug aller menschlichen Erquickungen und aller menschlichen Würde, den diese elenden Opfer der modernen Industrie in Kauf nehmen müssen.“128 125 Die Hebung des Lebensstandards durch Beschränkung der Geburtenzahlen sollte durch Aufschieben des Heiratstermins erreicht werden. Hier rezipierte Chalmers die Bevölkerungstheorie des Thomas Robert Malthus, bei der die so genannte „moral restrain“ (moralische Selbstbeschränkung) von zentraler Bedeutung war. Vgl. 6.4 Anmerkung 97. 126 „a timely moral and Christian education of the people“ Chalmers: Political Economy in Connexion, 484. 127 „The labouring classes are destined to attain a far more secure place of comfort and independence in the commonwealth than they have ever yet occupied, and this will come about [. . .] as the result of growing virtue and intelligence and worth among the labourers themselves.“ Chalmers: Predigt vom Juli 1820, zit. n. Hanna: Memoirs II, 245. 128 „No wage, however liberal, for repairing the expenditure of human strength, can reconcile us to the forfeiture of all human comfort and dignity that must be incurred by those wretched victims of modern industry.“ Chalmers: Works XX, 184f.

219

Das Recht auf Selbstbestimmung entfaltete Chalmers am Beispiel der Arbeiter, die ihre Interessen selbst vertreten. Hier sah er offensichtlich bereits den Zusammenhang zwischen der Würde und den Rechten, der in der gegenwärtigen Menschenrechtsdebatte betont wird. Bedingt durch Bildung, Zielstrebigkeit und nicht zuletzt auch eigene finanzielle Ressourcen könnten die Arbeiter in die Lage versetzt werden, auch gegenüber den Arbeitgebern selbstbewusst aufzutreten und ihre Arbeitskraft ihrem Wert entsprechend zu verkaufen. „Wir sollten sie [gemeint sind die Arbeiter] lieber ausgestattet sehen mit einer gewissen Macht ihren eigenen Lohn zu bestimmen. Wir sollten lieber sehen, dass sie in den vollen Genuss dessen kommen, was sie rechtmäßig (fairly) verdient haben, durch Verhandlungen mit ihren Arbeitgebern.“129

In dem später verfassten Werk On the Power, Wisdom and Goodness of God sprach Chalmers noch prägnanter von dem Recht (right) auf angemessene Entlohnung. „Jeder Mensch hat ein Recht, die Frucht seines eigenen Fleißes zu besitzen.“130 Das konkretisierte er folgendermaßen: „Jeder Mensch ist der Eigentümer der Frucht seiner eigenen Arbeit; und in welchem Umfang er den Wert irgendeiner bestimmten Sache vermehrt hat durch die Arbeit seiner eigenen Hände, wenigstens in dem Umfang sollte er als ihr Besitzer angesehen werden.“131

Dieses Verständnis von Eigentum führt folgerichtig zur Befürwortung von Lohnverhandlungen. Hier treffen dann zwei gleichwertige Partner aufeinander. Der Arbeitsplatz des Arbeiters und die Rohstoffe, die er dort verarbeitet, sind dann nur Produktionsmittel, die der Unternehmer dem Arbeiter zur Verfügung stellt. In den Verhandlungen werden die Produktionsmittel inklusive eines angemessenen Ertrages und die Wertsteigerung der Rohstoffe, durch die Verarbeitung gegeneinander abgewogen. „Es ist nicht Kriminelles darin zu erkennen, wenn ein Mann sich weigert, bis zum Ablauf seines Vertrages zu arbeiten, weil er nicht mit seinem gegenwärtigen Lohn zufrieden ist und einen höheren wünscht; oder auch wenn Männer sich zusammenschließen und dasselbe gemeinsam tun. Im Gegenteil, es ist nur legitim, dass jeder so viel wie er kann aus seiner eigenen Arbeit machen sollte; und dass genau wie Händler auf diese Weise sich treffen und miteinander verhandeln, um den von ihnen erwünschten Preis zu erreichen, so sollte es genauso für Arbeiter angemessen sein, sich zu beraten und an einem Punkt 129 „We should like to see them invested with a certain power of dictation as to their own wages. We should like to see them taking full advantage of all that they have fairly earned, in the negotiation with their employers.“ Chalmers: Works XV (Christian and Economic Polity of a Nation II), 308. 130 „Each man has a right to possess the fruit of his own industry.“ Chalmers: On the Power I, 254. 131 „Every man is proprietor of the fruit of his own labour; and that to whatever extent he may have impressed additional value on any given thing by the work of his own hands, to that extent, at least, he should be held the owner of it.“ Ebd., 243.

220

übereinzukommen, sofern es keine kriminelle Übereinkunft ist, um, wenn es ihnen möglich ist, den Preis ihrer Arbeit heraufzusetzen.“132

Chalmers ging davon aus, dass die Arbeitsleistung der Arbeiter, soviel Wert ist, dass der dafür bezahlte Lohn ihnen es ermöglichte sich Rücklagen zu schaffen. Jeder Mensch sollte die Möglichkeit haben sich durch seine Arbeit wenigstens einen bescheidenen Besitz anzueignen. Löhne, mit denen nur der tägliche Bedarf bestritten werden kann, sollte es von daher nicht geben. Eine Konzentration des Eigentums auf Wenige, von denen dann alle anderen abhängig wären, war nach Chalmers unrecht. Von dem im Gesetzbuch verankerten Recht auf Eigentum sagte er: „Der Zweck des Gesetzes [. . .] ist nicht die Menschen zu lehren, die ohne seine Lektionen sich nichts aneignen würden, sondern es ist dazu da die Menschen in die Schranken zu verweisen, die ohne seine Kontrollen und Verbote alles monopolisieren würden.“133

Jeder sollte die Möglichkeit haben, sich eigenen Besitz zu erwirtschaften. Dies war für Chalmers nicht nur ethisch geboten, sondern auch eine Voraussetzung für den sozialen Frieden. „Wenn jeder Mensch freier auf seinem eigenen Stück Land gesessen hätte, hätte jeder seinem Nachbarn freier das Recht an dem anderen Stück zugestanden.“134 Unabhängig von der Größe des Eigentums führe es zu Solidarität in der Gesellschaft. Weil diese Solidarität mit anderen Besitzern auch da sei wenn einer mehr als der andere besitzt, sei sie etwas, dass zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen würde: „Dies ist der wahre Ursprung und Bewahrer jenes erhaltenden Einflusses, der die Reichen und die Armen in der Gesellschaft verbindet; und deshalb wird Besitz durch alle ihre Schichten hindurch respektiert.“135

132 „There seems nothing criminal in the act of a man ceasing to work at the expiry of his engagement, because not satisfied with his present wage, and desirous of a higher; or in the act of men confederated and doing jointly, or together, the same thing. On the contrary, it seems altogether fair, that each should make as much as he can of his own labour; and that just as dealers of the same description meet and hold consultations for the purpose of enhancing the price of their commodity, so it should be equally competent for workmen to deliberate, and fix on any common, if it be not a criminal agreement, and that to enhance, if they can, the price of their own services.“ Chalmers, Thomas: Christian and Civic Economy III, Glasgow 1826, 148. 133 „The use of law [. . .] is not to instruct the men, who but for her lessons would appropriate none; but it is to restrain the men who, but for her checks and prohibitions, would monopolize all.“ Chalmers: On the Power I, 275f. 134 „If each man sat more loosely to his own portion, each would have viewed more loosely the right of his neighbour to the other portion.“ Chalmers: On the Power I, 264. 135 „This is the real origin and upholder of that conservative influence which binds together the rich and the poor in society; and thus it is that property is respected throughout all its gradations.“ Ebd., 270.

221

So sollten die Arbeiter, die für ihre Rechte und Wünsche selbst eintreten, finanziell wenigstens auf einem bescheidenen Niveau abgesichert sein. Daneben gehörte nach Chalmers auch ein gewisser Bildungsstand dazu, seine Rechte geltend zu machen. Wem beides fehlte, der konnte kaum in dieser Weise auftreten. Hier wird der Zusammenhang zwischen Armut und Fremdbestimmung deutlich, denn gänzliche Mittellosigkeit und das Fehlen jeglicher sozialer Hilfe verhinderte damals wie heute den Zugang zu bestimmten Bildungsangeboten. Ein Beispiel dafür sind die Familien, die auf die Arbeit ihrer Kinder angewiesen sind. Chalmers stellte sich das godly commonwealth als eine Gesellschaft vor, in der die verschiedenen Interessengruppen den Konsens miteinander suchen. Das schloss für ihn auch bei Lohnverhandlungen bestimmte Formen der Artikulation von Interessen aus. Er sah einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen dem „Geist des Christentums“ und dem „von Parteigeist beseeltem, aufrührerischen, unstillbaren und sich immer einmischenden Geist der politischen Verdrossenheit“.136 Er betonte, dass die unteren Schichten ihre Interessen „nicht mit Gewalt ihrerseits oder durch irgendeine Geltendmachung einer politischen Gleichheit mit den andern Schichten des Staates“ vertreten sollten, „wie erfolgreich auch immer“ ein solches Vorgehen sein könnte.137 Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sollten nicht als Kampf verschiedener Klassen gegeneinander verstanden werden, sondern als Interessenausgleich gleichwertiger Gruppen. Bemerkenswert ist, dass Chalmers lange vor dem Entstehen der Gewerkschaften von einem Recht der Arbeitern auf ein organisiertes Auftreten ausgeht.138 „Wir sollten viel lieber eine aufrechte, solide, gut bezahlte und rechtdenkende Unterschicht sehen, selbst wenn sie gelegentlich in der Lage wäre zu streiken und ihre Vorgesetzten in Verlegenheit zu bringen. Wir haben gleichzeitig keinen Zweifel daran, [. . .] dass die beiden Klassen bald zu einer ordentlichen Übereinkunft kommen werden.“139

Chalmers war zuversichtlich, dass es einen industriellen Fortschritt geben konnte, dem nicht ganze gesellschaftliche Gruppen zum Opfer fallen mussten. Von diesem Ziel her definierte er die Aufgabe der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik als „die Verbreitung hinreichenden Auskommens und 136 „the factious, turbulent, unquenchable, and ever-meddling spirit of political disaffection“ Chalmers: Universal Peace,19. In der Übersetzung im Anhang ist diese Passage etwas freier wiedergegeben. 137 „not with violence on their part or by assertion, however successful, of a political equality with the other orders of the state“ Chalmers: Political Economy, 457. 138 Schon Karl Holl stellte fest, dass Chalmers „den Arbeitervereinigungen nicht dasselbe engherzige Misstrauen entgegenbrachte wie die meisten seiner Zeitgenossen.“ Holl: Chalmers, 415. 139 „We should vastly prefer an erect, and sturdy, and withal well-paid and well-principled peasantry, even though they should be occasionally able to strike their tools, and to incommode their superiors by bringing industry to a stand. We have no doubt, at the same time, [. . .] that the two classes would soon come to a right adjustment.“ Chalmers: Works XV, 309.

222

Wohlstands in der Masse der Bevölkerung durch eine Vervielfältigung oder Vergrößerung der äußeren Mittel und des Materials des menschlichen Genusses.“140 Seiner Beobachtung nach gehörten in der Tat nicht nur die Unternehmer zu den Profiteuren der Industrialisierung, sondern auch bereits ein Teil der Arbeiterschicht. Bei ihnen sei der angestrebte Anstieg des allgemeinen Lebensstandards schon zu beobachten. „Die Arbeiter haben mehr gearbeitet, aber haben auch besser gelebt als ihre Vorfahren.“141 Auf das materielle Niveau dieser Elite der Arbeiter sollten alle Unterschichten kommen. „Wir sollten lieber ein großes, stabiles, eigenes Eigentum in den Händen der Arbeiterklassen sehen und ihr Interesse auf die Ebene einer der hochrangigen Staatsinteressen erhoben. Wir denken es wäre richtig, wenn sie sich als Folge von Bildung und Tugendhaftigkeit langfristig gesehen eine großzügigere Bezahlung sichern könnten für die Arbeit“142

Chalmers Perspektive für die gänzlich verarmten Arbeiter der frühindustriellen Metropolen war, dass sie in jeder Hinsicht den Anschluss an den Rest der Gesellschaft finden sollten: „Ihre wirtschaftliche Situation wird gewiss Schritt für Schritt der Laufbahn ihres moralischen Aufstiegs folgen. Wir halten es nicht für unmöglich, oder auch nur unwahrscheinlich, dass sich in jeder Generation die Distanz verringert, die sie von den oberen Schichten der Gesellschaft trennt. Sie werden sich dem Punkt, an dem sie am kultivierten Leben teilhaben können und seine Freuden genießen können, ständig weiter annähern sowohl in Bezug auf eine angemessene wirtschaftliche Versorgung als auch bezüglich einer würdevollen Muße.“143

Die Kirchen hatten bei Chalmers die Verantwortung, die soziale Reform landesweit zu lancieren und maßgeblich ein Teil von ihr zu sein. Hierbei war er als Vertreter der Kirche eindeutig parteilich und machte sich zum Anwalt der Arbeiterinteressen: „Wir bekennen uns dazu, in diesem Wettbewerb zwischen Unternehmern und Arbeitern, auf der Seite der letzteren zu stehen.“144 140 „the diffusion of sufficiency and comfort throughout the mass of the population, by a multiplication or enlargement of the outward means and materials of human enjoyment“ Chalmers: Political Economy, 111. 141 „Workmen both laboured more and lived better than their ancestors.“ Ebd., 15. 142 „We should like to see a great stable independent property in the hands of the labouring classes, and their interest elevated to one of the high co-ordinate interests of the state. It were well, we think, if, by dint of education and virtue, they at length secure a more generous remuneration for labour“ Chalmers: Works XV, 308. 143 „Their economic is sure to follow by successive advances in the career of their moral elevation; nor do we hold it impossible, or even unlikely – that gaining, every generation, on the distance which now separates them from the upper classes of society, they shall, in respect both of decent sufficiency and dignified leisure, make perpetual approximations to the fellowships and the enjoyments of cultivated life.“ Chalmers: On the Power II, 51. 144 „In this competition between capitalists and workmen, we profess ourselves to be on the side of the LATTER“ Chalmers: Works XV, 308f.

223

7.6 Die Rolle des Staates in der sozialen Sicherung Nicht selten ist von Chalmers Ansatz allein die kirchliche Diakonie wahrgenommen worden.145 Dabei ist übersehen worden, dass der Staat bei ihm immer auch eine spezifische Rolle in der sozialen Sicherung zu übernehmen hatte. Dies zeigte sich u. a. darin, dass er über Jahrzehnte hinweg versuchte, auf die Politik Großbritanniens Einfluss zu nehmen. So hatte er auch kirchliche Diakonie nie ohne die ihr entsprechenden staatlichen Rahmenbedingungen wahrgenommen. Die Verantwortung der Kirchen für die Menschen in ihrem Einzugsbereich musste deshalb dazu führen, den Staat mit prägen zu wollen. Dies konnte bedeuten, dass er in seiner gegenwärtigen Form in Frage gestellt werden musste. Eine solche Kritik stand dann in der Linie der biblischen Propheten. „Ein Mann mag sich mit der Unerschrockenheit eines der alten Propheten wappnen und selbst dem Ohr eines gekrönten Hauptes die Lasterhaftigkeiten verkünden, die es mit Schande bedecken oder entstellen [. . .] er mag seine protestierende Stimme angesichts einer unchristlichen Regierung erheben und ihr ihre Irrtümer vor Augen führen.“146

Hiermit schloss Chalmers an den prophetischen Auftrag der Kirche an, den bereits der schottische Reformator John Knox geltend gemacht hatte. In der von ihm mitverfassten Confessio Scoticana147 gehört zu den von Gott gegebenen „hochheiligen Geboten“ die Aufforderung, „der Tyrannei zu widerstehen“ (Artikel 14). Dies war nach Auffassung der Reformatoren bereits gegeben, wenn die Regenten ihrem von Gott gegebenen Amt nicht nachkamen, im Land für den richtigen Gottesdienst Sorge zu tragen (Artikel 24).148 145 So z. B. Wichern, vgl. Abschnitt 8.2.2. 146 „A man may put on the intrepidity of one of the old prophets, and denounce even in the ear of royalty the profligacies which may disgrace or deform it [. . .] he may lift up his protesting voice in the face of an unchristian magistracy and tell the of their errors“ Chalmers: Works XI, 23. 147 Zuerst veröffentlicht 1560. 148 Vgl. 2.2.2 Anmerkung 35. Karl Barth bemerkte dazu: „Die Schottische Konfession hat hier [in Artikel 24] sehr deutlich unterschieden zwischen rechtmäßiger und unrechtmäßiger Obrigkeit. Wir werden dem Staat solche positive Mitarbeit nur dann leisten können, wenn uns der gottesdienstliche Sinn der politischen Ordnung durch ihn selbst, durch seine Haltung und Taten, durch sein Eintreten für Recht, Frieden und Freiheit, durch sein Verfahren der Kirche gegenüber deutlich und glaubwürdig gemacht ist. Das ist die Bedingung, die die Confessio Scoticana mit Recht immer wieder geltend gemacht hat.“ „Es heißt dort [in Artikel 14] ausdrücklich, es gehöre zur Erfüllung des Gebotes [. . .] ‚der Tyrannei zu widerstehen‘ [. . .] und nicht zu dulden dass unschuldig Blut vergossen wird, wenn wir es verhindern können. Was heißt das? Das heißt: Es gibt nach dem Schottischen Bekenntnis unter Umständen eine nicht nur erlaubte, sondern göttlich geforderte Resistenz gegen die politische Macht. John Knox und seine Freunde haben mit dem, was sie lebten und taten, den unzweideutigen Kommentar dazu gegeben: gemeint ist nicht nur eine passive, sondern eine aktive Resistenz, eine Resistenz, bei der es dann unter Umständen auch darum gehen

224

Chalmers korrespondierte seit seiner Glasgower Zeit mit einer Reihe von Parlamentariern u. a. William Wilberforce.149 Auf seinen Englandreisen 1817 und 1822 suchte er Politiker auf, um sie für sein Konzept der Sozialpolitik zu gewinnen.150 1826 schaltete er sich in die im Parlament geführte Debatte um die Abschaffung der Sklaverei in den britischen Kolonien ein. Er veröffentlichte eine Schrift mit dem Titel: A Few Thoughts on the Abolition of Colonial Slavery151 (Wenige Gedanken über die Abschaffung der kolonialen Sklaverei). Hier entfaltete er wie seiner Meinung nach der Übergang von der Sklaverei in die Lohntätigkeit am besten zu bewerkstelligen sei.152 Chalmers Vorstellungen einer Sozialgesetzgebung fanden in der Regierung kein Gehör. Dennoch beeinflusste er die Politik. Als 1830 für Irland ein neues Armengesetz konzipiert wurde, bat das zuständige Parlamentskomitee ihn um eine Stellungnahme.153 1834 wurde ein ähnliches Gesetz für England verabschiedet. Beide Male gingen die dafür verantwortlichen Parlamentarier davon aus, wesentliche Prinzipien Chalmers umgesetzt zu haben. Der in dem Gesetz formulierte Zwang für alle arbeitsfähigen Armen, in ein Armenhaus übersiedeln zu müssen, entsprach nach ihrer Meinung dem sozialen Druck auf die Betroffenen, den sie in seinem Konzept wahrnahmen. Chalmers selbst sah das anders. Er strebte zwar auch die Erhöhung der moralischen Kompetenz der Armen an, sah aber in solchermaßen instrumentalisierten Armenhäusern eine Entmündigung der Betroffenen, deren Handlungskompetenz er erhöhen wollte. Zudem förderten sie nicht wie von ihm angestrebt die Solidarität des unmittelbaren Umfeldes der Betroffenen.154 Die 1830er Jahre waren die Zeit, in der Chalmers am intensivsten versuchte, das Londoner Parlament von seinen Vorstellungen zu überzeugen. Seine Bemühungen während der Church-Extension-Kampagne, staatliche Unterstützung für Gemeinden in armen Stadtteilen zu bekommen, sind in Abschnitt 7.2 beschrieben. Auf seinen letzten Versuch, die Politik kann, Gewalt gegen Gewalt zu setzen. Anders kann ja der Widerstand gegen die Tyrannei, die Verhinderung des Vergießens unschuldigen Blutes vielleicht nicht durchgeführt werden!“ Barth, Karl: Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformatorischer Lehre, Zollikon 1938, 211, 213. 149 Vgl. Hanna: Memoirs II, 249–260. 150 Vgl. Hanna: Memoirs II, 92–107, 327–367. Offensichtlich konnte Chalmers auf seiner ersten Reise Wilberforce von seinem Ansatz überzeugen. 1817 schrieb er: „In London wurde ich mit vielen Menschen bekannt gemacht. Wilberforce ist bei weitem die wertvollste Erwerbung, die ich dort gemacht habe.“ „At London I had many introductions. Mr. Wilberforce is by far the most valuable acquisition I have made there.“ zit. n. Hanna: Memoirs II, 106. Vgl. 5.2.3 151 Chalmers, Thomas: A Few Thoughts on the Abolition of Colonial Slavery, Glasgow 1826. 152 Vgl. 6.4 Anmerkung 120. 153 Chalmers, Thomas: Evidence before the Committee of the House of Commons, on the Subject of a Poor-Law for Ireland, Works XVI, 285–421. 154 Vgl. Chalmers: Works XXI, 139, 152f, und Hilton: Atonement, 242f.

225

mitzugestalten während der irisch/schottischen Hungersnot, wird unten näher eingegangen.155 So hatte die Diakonie bei Chalmers immer auch eine politische Dimension. Die Aufgabe, die Chalmers dem Staat in der Absicherung der sozialen Risiken zuschrieb, durchlief allerdings eine Entwicklung. Gleich blieb die Überzeugung, dass die Versorgung der körperlich und psychisch Kranken eine Aufgabe der ganzen Gesellschaft sei. Krankenhäuser, Asyle für geistig- und körperbehinderte Menschen und Maßnahmen zur Verbesserung der allgemeinen Gesundheit (public health) sollten durch die öffentliche Hand finanziert werden.156 In seiner ersten größeren Veröffentlichung, der An Inquiry into National Resources entwarf Chalmers im Jahr 1808 zunächst das Bild einer durch ein gemeinsames Ideal geeinten Nation. In diesem unter dem Eindruck der Napoleonischen Kriege geschriebenen Werk entfaltete er, dass sich die Interessen des Einzelnen denen des Staates unterordnen sollten, der jedem Bürger ein gesichertes Leben ermöglicht. Voges weist darauf hin, dass sich sechs Jahre später Chalmers Position radikal geändert hatte. „Der Traktat ‚The Influence of Bible Societies on the Temporal Necessities of the Poor‘157 enthält im Ansatz bereits die Gedankengänge, mit denen Chalmers dann in Glasgow auftrat: Bei der Bekämpfung der Armut sollen vor allem auch die Armen selbst mitwirken. [. . .] In seiner ‚Christian and Civic Economy‘ plädiert er gleich zu Anfang und dann immer wieder für einen Rückzug des Staates aus der Armenfürsorge.“158

Im ersten Band dieses Werkes (1821) entfaltete er sein Konzept unabhängiger dezentraler Stadtgemeinden, die durch einen intensiven, systematischen Besuchsdienst der Sonntagsschulmitarbeiter, Lehrer, Presbyter und Pfarrer die Armenfürsorge selbst organisieren und finanzieren.159 Zur Zeit der Abfassung dieses Werkes war er noch der Meinung, die Gemeinden könnten auch alle Aufwendungen für die Schulen und Kirchengebäude selbst bestreiten. In dem 1833 erschienenen Werk On the Power, Wisdom and Goodness of God160 betonte er immer noch, dass die solidarische Hilfe grundsätzlich freiwillig und nicht gesetzlich geregelt sein sollte.161 Hier nennt er grundlegende Prinzipien der sozialen Sicherung. Sie müsste immer sowohl von der Perspektive des Einzelnen als auch von der Perspektive der Gemeinschaft her in den Blick genommen werden. Die „Selbsterhaltung“162 und 155 156 157 158 159 160 161 162

226

Das Ende der Hungersnot erlebte Chalmers nicht mehr. Vgl. 6.4 Anmerkung 111. 1817 erschien in Edinburgh bereits die 3. Auflage des Traktates. Voges: Denken, 286. Vgl. Chalmers: Works XIV, 25–71, 92f, 119, 133, 139–141, 208f, 250. 1833 veröffentlicht in London. Chalmers: On the Power II, 10f. „the rational principle of self preservation“.

die „allgemeine Wohltätigkeit“163 sollten dabei ihre Ausgangspunkte bilden. Allein dadurch sei die Versorgung des einzelnen wie flächendeckend des Gemeinwesens gewährleistet.164 Mit der „allgemeinen Wohltätigkeit“ meinte Chalmers vor allem die Philanthropie der Wohlhabenderen. Sie sollte aber wesentlich durch die Hilfe innerhalb der eigenen Familie und die Solidarität in der Nachbarschaft unterstützt werden. Während der Church-Extension-Kampagne, die 1834 begann, vertrat er dann eine andere Position. Nun forderte er staatliche Zuschüsse, damit vor allem auch ärmere Stadtteile mit Kirchen und Schulen versorgt werden könnten.165 Maciver beschreibt, was die Kirchen- und Schulbaukampagne nach Chalmers Meinung werden sollte: „Ein nationales Wachstumsprojekt, das lokale Anstrengungen mit der Unterstützung durch einen zentralen Fond zu kombinieren suchte, der durch regelmäßige Beiträge getragen würde, um ärmeren und schwächeren Gemeinden zu helfen. Der letzte Anreiz würde durch staatliche Zuschüsse in der Form eines jährlichen Beitrages zu Pfarrergehältern in den neuen missionarischen und parochialen Gemeinden gewährleistet werden.“166

Auch aus einer Anmerkung in seiner Werkausgabe wird ersichtlich, dass Chalmers in diesen Jahren dem Staat eine andere Aufgabe zuschrieb als noch in der Glasgower Zeit. 1821 hatte er den Vorrang entfaltet, den kirchlich getragene Schulen vor staatlichen Bildungsinitiativen haben. Diesen Gedanken ergänzte Chalmers in der später erschienenen Ausgabe durch folgende Fußnote: „Unsere Überzeugung ist jedoch gewachsen oder hat sich vielmehr vollkommen gefestigt, dass ohne die helfende Hand der Regierung weder die christliche noch die allgemeine Bildung zur Gänze finanziert werden kann.“167

Bei dem 1844 begonnenen Gemeindegründungsprojekt im Edinburgher West Port sollten die Mitarbeiter des Besuchsdienstes schließlich Fälle extremer Mittellosigkeit und Krankheit den Verantwortlichen der städtischen Armenfürsorge bekannt machen.168

163 „the moral principle of general benevolence“. 164 Ebd. I, 224f. 165 Vgl. 7.2. 166 „ [. . .] a national extension project that sought to combine local effort with the aid of a central fund raised by subscription to help poorer or weaker parishes. The ultimate stimulus would be provided by state grants in the form of an annual endowment of the ministers’ stipends in the new missionary and territorial churches.“ Maciver, Iain F.: Chalmers as a ‚Manager‘ of the Church, 1831–1840, in: Cheyne: Practical and the Pious, 88. 167 „Our conviction however has increased, or is rather fully established, that without the helping hand of government, neither Christian nor common education will be fully provided for.“ Chalmers, Thomas: Christian and Civic Economy I, Works XIV, London und Edinburgh 1852, 165 (Nachdruck der ersten Auflage von 1836–1842) vgl. Chalmers, Thomas: Christian and Civic Economy I, Glasgow 1821, 153. 168 Vgl. 7.3.

227

Die Hungersnot in Irland und im schottischen Hochland nach den Missernten der Jahre 1845 und 46 führte dann bei Chalmers noch einmal zu einer wesentlichen Änderung seiner Meinung bezüglich der Aufgaben der öffentlichen Hand. Anders als noch in den 1830er Jahren forderte Chalmers nun nicht mehr eine staatliche Unterstützung kirchlicher Maßnahmen, sondern einen Staat, der neben den Kirchen selbst soziale Verantwortung übernimmt. Nun führte er aus, dass private Philanthropie, die Solidarität der Betroffenen und die kirchliche Diakonie allein nicht in der Lage seien, dieser Katastrophe wirksam entgegenzutreten. Hier müsse der Staat in die Pflicht genommen werden. Am 6. März 1847 drückte es dies zum ersten Mal in der Zeitung The Witness aus: Der Staat „spart in einer Weise, dass er dabei menschliches Leben aufs Spiel setzt. [. . .] Ist es richtig, wenn die Regierung von ihren Unterstützungen für die Betroffene absieht, in der Hoffnung, dass wir, die Allgemeinheit, alles tun werden? [. . .] Wir haben den starken Eindruck, dass ohne ihre Zuschüsse die höchste Gefahr besteht, dass viele in einem Zustand hilfloser Schwäche oder hoffnungsloser Verzweifelung und Witwenschaft dem Tod preisgegeben werden.“169

In dem im Mai 1847 erschienenen umfangreichen Artikel The Political Economy of a Famine170 (Die Nationalökonomie einer Hungersnot) führte er dies genauer aus. Chalmers war hier wieder der Anwalt der Ärmsten. „Wir bitten nicht für die Armen, sondern für die Allerärmsten.“171 Ausdrücklich anknüpfend an sein Werk aus dem Jahr 1808 forderte er nun ein massives Eingreifen des Staates, der seine Wirtschaftspolitik revidieren müsse. Am Beispiel der Hungersnot machte er deutlich, wo das praktizierte System der freien Marktwirtschaft, seine Grenzen hatte. In seinen nationalökonomischen Veröffentlichungen war der Schotte selbst bis zu einem gewissen Grad Adam Smith gefolgt, der in den Kräften des freien Marktes die „unsichtbare Hand Gottes“ wahrnahm. Der Staat hatte sich hier zurückzuhalten. Grundsätzlich befürwortete Chalmers immer noch den „freien Handel“172. „Wir gehen davon aus, dass das Prinzip im Allgemeinen ein vernünftiges ist.“173 Dennoch war er anders 169 „economise as to put human life in jeopardy. [. . .] Is it right in the government, to abstain from their grants in the hope that we, the public, will do all? [. . .] we have a very strong impression that without their gratuities, there is the utmost danger that many in a state of helpless infirmity or of hopeless forlorn and widowhood, will be left to perish.“ The Witness, 6. März 1847. 170 Chalmers, Thomas: The Political Economy of a Famine, North British Review XIII, Edinburgh 1847, 247–290. Die Bedeutung des Begriffs political economy reicht von nationaler Wirtschaftspolitik bis nationaler Wirtschaftslehre. Chalmers Ausführungen in dem Artikel umgreifen beide Bedeutungen. 171 „we are pleading not for the poor but for the very poorest“ Ebd., 268. 172 „free trade“. 173 „We do admit that the general principle is a sound one.“ Ebd., 255f.

228

als Smith nie der Meinung, dass unbegrenztes Wirtschaftswachstum der Garant des Wohlstands für alle sei. Die Hungersnot der 1840er Jahre zeigte für ihn nun deutlich, wo die Versorgung der Bürgerinnen und Bürger auf der Basis des freien Marktes versagen musste und wo deshalb der Staat zu intervenieren hatte. Bei den Ärmsten greifen seine Mechanismen nicht mehr. Chalmers machte dies deutlich an einer von Adam Smith gebrauchten Metapher: Ein Land, in dem die freie Marktwirtschaft praktiziert wird, sei mit einem Schiff zu vergleichen. Wird dieses Land von einer Hungersnot heimgesucht, so sei es so, als ob auf dem Schiff der Proviant knapp wird. Die Folge davon wird sein, dass die Essensration für jedes Mitglied der Besatzung reduziert wird. So sei es gewährleistet, dass alle bis zum Erreichen des nächsten Hafens überleben können. Der freie Markt würde durch einen allgemeinen Anstieg der Lebensmittelpreise bei einer Hungersnot den gleichen Effekt bewirken. Adam Smith ging davon aus, dass bei Verknappung der Lebensmittel bei einem uneingeschränkten Handel, jeder im Land in gleicher Weise gezwungen wird, seinen Konsum zu reduzieren. Die erhöhten Preise würden gewissermaßen jeden zwingen solidarisch zu sein.174 Chalmers machte am Beispiel der irischen Hungersnot deutlich, wo dieses System seine Grenzen hat. Die gänzlich Mittellosen sind von der Smithschen Verteilungsgerechtigkeit des Marktes ausgeschlossen. Ihnen fehlt das Geld, um sich mit dem Notwendigsten versorgen zu können. Hier wird der Vergleich des Staates mit einem Schiff falsch. Chalmers nimmt an dieser Stelle den Staat in die Pflicht. Die Regierung hat zu gewährleisten, dass im Fall von Katastrophen alle im Land solidarisch sind. „Es erfordert eine sowohl starke, als auch humane Regierung, die Ausbrüche lokaler Selbstsucht zu unterdrücken. Nichtsdestoweniger ist es richtig, dass sie es tun sollte, weil es richtiger ist, dass alle gemeinsam im Land Einbußen hinnehmen sollten, als dass irgend einer im Land verhungert.“175

Der Staat habe nun die Aufgabe, für eine Grundversorgung der Bürgerinnen und Bürger wenigstens auf niedrigster Ebene verantwortlich zu sein. „Es gibt einen mächtigen Ruf, der nach dem Staat als grundsätzlichen Versorger verlangt in solch einem äußersten Notfall.“176 Neben der nötigen Soforthilfe mit Lebensmitteln und mittel- bis langfristig angelegten Bildungs- und Arbeitsbeschaffungsprogrammen, sollten den Betroffenen durch Sondersteuern erhobene finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden, damit sie sich selbst mit dem Nötigen versorgen könnten. Dies

174 Ebd., 251. 175 „It requires a strong as well as a humane Government to repress the outbreakings of local selfishness. Nevertheless it is right they should, because right that one and all in the nation should suffer rather than that any in the nation should starve.“ Ebd., 267. 176 „There is an imperious call [. . .] for the State to be the principle almoner in such a dire emergency.“ Ebd., 261f.

229

würde zudem die gesamte Wirtschaft des Landes beleben. Bei der Sondersteuer sollte es einen jährlichen Freibetrag von £ 50 geben. Somit wären die Ärmsten von der Steuer befreit. Diejenige, deren Einkünfte nur wenig über dem Freibetrag lägen, hätten einen deutlich geringeren Prozentsatz ihres Bruttoeinkommens abzuführen.177 Das nun notwendige staatliche Sozialprogramm sollte zum Ziel haben, die Betroffenen aus ihrem „Status der Bettelei und Abhängigkeit zu erheben. Sie sollten schließlich so gut ausgestattet sein, dass sie für sich selber sorgen können.“178 Chalmers war der Meinung, dass eine solche Intervention des Staates nur in Ausnahmefällen wie der irisch/schottischen Hungersnot nötig wäre. In „gewöhnlichen Zeiten“179 könne die soziale Sicherung gewährleistet werden durch persönliche Vorsorge und solidarische Hilfe, insbesondere des unmittelbaren Umfeldes der Betroffenen. Dennoch macht er hier deutlich, dass nur der Staat in der Lage ist, die Verantwortung für die größten sozialen Risiken zu tragen. Wenn die nötigen Maßnahmen eine bestimmte Dimension überschreiten kann nur er das Medium der Solidarität aller Bürger sein. Um seine soziale Verantwortung wahrzunehmen, muss er gegebenenfalls regulativ in die Kräfte des Marktes eingreifen. Wenn auch erst rudimentär, so findet sich in diesem Artikel aber doch schon der Gedanke einer sozialen Marktwirtschaft. Chalmers Vorschläge wurden nicht umgesetzt. Die Hungersnot dauerte bis zum Jahr 1849. In ihr verhungerten allein in Irland – vorsichtig geschätzt – mehrere hunderttausend Menschen.180 Viele konnten ihr Leben nur durch die Emigration retten.181 Die international organisierte umfangreiche private und kirchliche Hilfe182 sowie die staatlichen Suppenküchen konnten die Not offensichtlich nur ungenügend lindern.183 Auch am Ende seines Lebens war die Aufgabe, die Chalmers dem Staat bei der sozialen Sicherung zuwies, zu gering. Nicht erst nationale Katastrophen nehmen ihn als „grundsätzlichen Versorger“ in die Pflicht. Dennoch ist es nicht zu übersehen, dass sich bei Chalmers wenigstens die Ansätze zu einem gegliederten Modell finden. Eigene Vorsorge, solidarische Unterstützung aus dem Umfeld der Betroffenen, kirchliche Diakonie und staatliche Hilfe sollten sich schließlich ergänzen. Die politische Dimension der Diakonie wurde in Chalmers unermüdlichen Versuchen 177 Ebd., 275. 178 „raised from the state of beggary and dependence, they might in all time coming be a well-conditioned and self-sustaining people.“ Ebd., 286. 179 „in ordinary times“ Ebd., 260. 180 Battiscombe nennt die Zahl von 1,5 Millionen. Battiscombe: Shaftesbury, 201. 181 Irland hatte 1841 8.175.000 Einwohner, 1851 waren es nur noch 6.552.000. Eine gesunkene Geburtenrate, Tod und Emigration waren die Gründe für diese Reduktion. Checkland: British, 78. 182 Chalmers selbst war an der umfangreichen Hilfsaktion der Free Church maßgeblich beteiligt. Vgl. Macleod: Pauperism, 72. 183 Checkland: British, 78.

230

deutlich, die Politik seines Landes mitzubestimmen. Kirchliche Diakonie ohne die entsprechenden staatlichen Strukturen, waren für ihn nicht denkbar. 7.7 Zusammenfassung Durch die Perspektive des Reiches Gottes war Chalmers in der Lage, die sozialen Verwerfungen, die die Transformationsprozesse des beginnenden 19. Jahrhunderts mit sich brachten, wahrzunehmen. Gleichzeitig ermöglichte sie ihm, Ansätze zu ihrer Überwindung in Kirche und Gesellschaft zu formulieren. Die eschatologische Perspektive prägte die Sendung der Kirche, für alle Menschen da zu sein. So sollten ihre Strukturen immer wieder befragt werden dürfen, ob sie dem Auftrag noch entsprechen. Maßstab sollten die Armen sein, die aber durch das Finanzierungssystem der Church of Scotland in den Städten faktisch aus der Kirche ausgeschlossen wurden. Die Freiwilligkeitskirchen, mit denen Chalmers einen intensiven Dialog führte, hatten hier ebenfalls versagt. Kirche dürfte nicht allein von dem Prinzip des Angebotes und der Nachfrage bestimmt sein. In der von Chalmers initiierten und organisierten Church-Extension-Kampagne der 1830er Jahre versuchte er durch die Errichtung zahlreicher neuer Kirchen mit häufig auch angegliederten Schulen die Präsens der Kirche zu erhöhen. Die Professionalität mit der er während dieser Kampagne Spendengelder akquirierte und ihr Umfang war in seiner Zeit herausragend. Nach der Gründung der Free Church versucht Chalmers auch ihr Finanzierungssystem so zu gestalten, dass sie in Armenvierteln präsent sein konnte. Dies gelang ihm jedoch nur in geringem Umfang. Aus diesen Erfahrungen zog er schließlich die Konsequenz, dass die Kirche ihrer Sendung nur im ökumenischen Rahmen nachkommen könne. Sein Reformprogramm hatte in der Tat von Anfang an eine Dimension, die es in den ökumenischen Horizont drängte. 1845 führte er schließlich aus, dass die Zusammenarbeit verschiedener protestantischer Denominationen in einem Netzwerk diakonischer Gemeinden der Weg zur Vereinigung aller protestantischer Kirchen sein könnte. Mit einem eigenen Modellprojekt verlieh er seinen Bemühungen um die Einheit der Kirchen Nachdruck. Die neue Gemeinde sollte in ein Netzwerk anderer Neugründungen in Arbeitervierteln verschiedener Konfessionen eingebunden werden. Nur zwei Gemeinden in der Stadt folgten hingegen dem Beispiel. Der formale Pluralismus war nach Chalmers Meinung bis zur Vollendung der neuen Schöpfung die einzige Gesellschaftsform, die der reformatorischen Botschaft entsprach. Die Reformation hatte herausgestellt, dass der Glaube nur als freiwillige Antwort auf die Predigt des Wortes Gottes verstanden werden konnte, das war aber nur möglich, wenn andere Überzeugungen ebenso legitim waren. Die durch den Staat ge231

währleistete Religions- und Gewissensfreiheit, welche sich in der Toleranz gegenüber anderen Überzeugungen niederschlägt, war also durch die protestantische Theologie geboten. In diesem Zusammenhang ist die Mission eine demokratische Veranstaltung, ein Werben für das, was die Gesellschaft voranbringt, während andere Weltanschauungen ebenso für ihr Konzept werben. Letztlich wird die Gesellschaft dann durch das geprägt, was für die Mehrheit plausibel ist. Am deutlichsten zeigte sich der Respekt vor Andersdenken als einer der Grundzüge von Chalmers Gesellschaftsverständnis in seinem nachdrücklichen Einsatz für die rechtliche Gleichstellung der Katholiken. Kontur bekommt sein Demokratiebegriff vor dem Hintergrund anderer, gegenläufiger Konzepte. Nach 1830 veränderte sich die Mentalität vieler Evangelicals. Anders als noch Chalmers rechneten sie nicht mehr mit einem universalen geschichtsimmanenten Handeln Gottes. Im Kontext dieser Eschatologie wurde Mission zur Rettung aus einer untergehenden Welt. Politische Konzepte mit diesem Hintergrund tendierten zu hierarchischen, das Individuum entmündigenden, Lösungen. Die Kirchen hatten bei Chalmers die Verantwortung, eine soziale Reform landesweit zu lancieren und maßgeblich ein Teil von ihr zu sein. So ließen ihn die sozialen Verwerfungen der frühindustriellen Gesellschaft die Frage der Partizipation aller an den Früchten des wirtschaftlichen Aufschwungs stellen. Ein Lebensstandard, der der Würde jedes Menschen Rechnung trug, war dabei der Maßstab. Chalmers Ansatz weist hier schon auf den Zusammenhang zwischen Mittellosigkeit und Fremdbestimmung hin. Jeder Mensch habe das Recht, für seine Arbeit angemessen entlohnt zu werden. Arbeit, die es nicht ermöglichte, wenigstens bescheidene Rücklagen zu schaffen, sollte es nicht geben. Eine Monopolisierung des Besitzes war nach Chalmers Unrecht. Das Recht auf Selbstbestimmung entfaltete Chalmers am Beispiel der Arbeiter, die ihre Interessen durch eigene Organisationen selbst vertreten. Hier sah er offensichtlich bereits den Zusammenhang zwischen der Würde und den Rechten des Menschen. Die Aufgabe, die Chalmers dem Staat in der Absicherung der sozialen Risiken zuschrieb, durchlief eine Entwicklung. 1808 entwarf Thomas Chalmers zunächst das Bild einer durch ein gemeinsames Ideal geeinten Nation, in der sich die Interessen des Einzelnen denen des Staates unterordnen sollten, der jedem Bürger ein gesichertes Leben ermöglicht. Wenige Jahre später trat er für einen Rückzug des Staates aus der Armenfürsorge ein. Diakonische Gemeinden sollten nun vor allem für die soziale Sicherung der Menschen in ihren Parochien verantwortlich sein. Die staatliche Sozialhilfe gewann bei ihm danach allerdings wieder an Bedeutung. Die Hungersnot in Irland und im schottischen Hochland nach den Missernten der Jahre 1845 und 46 führte dann noch einmal zu einer wesentlichen Änderung seiner Meinung bezüglich der Aufgaben der öffentlichen Hand. Chalmers machte nun deutlich, wo das seinerzeit praktizierte System der freien Marktwirtschaft 232

seine Grenzen hatte. Nur der Staat sei in der Lage, die Verantwortung für die größten sozialen Risiken zu tragen und eine Grundversorgung der Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Nur er könne alle Bürger zur Solidarität verpflichten. Auch am Ende seines Lebens war die Aufgabe, die der schottische Theologe dem Staat bei der sozialen Sicherung zuwies, zu gering. Dennoch ist es nicht zu übersehen, dass sich bei Chalmers wenigstens die Ansätze zu einem gegliederten Modell finden. Eigene Vorsorge, solidarische Unterstützung aus dem Umfeld der Betroffenen, kirchliche Diakonie und staatliche Hilfe sollten sich schließlich ergänzen.

233

8. KAPITEL

Zur Wirkungsgeschichte Chalmers Thomas Chalmers lieferte durch sein Werk einen Beitrag zur Theologie der Diakonie und ebenfalls zu ihrer Methodik. In der Umsetzung seiner Ideen offenbarten sich sowohl seine Stärken als auch seine Schwächen. Chalmers Schulen waren beispielsweise blühende Einrichtungen, die zahlreichen Kindern den sozialen Aufstieg ermöglichten. Die Armenhilfe in der St. Johnsgemeinde und im West Port konnte tatsächlich nur bescheidene Erfolge aufweisen. Chalmers mangelte die Fähigkeit, eine solche Arbeit sinnvoll zu organisieren. Dass er durchaus an anderer Stelle Organisationstalent besaß, bewies er in der Kirchenbaukampagne und in der Akquirierung von Geldern zur Finanzierung der neu gegründeten Free Church. Was ihm auf nationaler Ebene beim Fundraising gelang, misslang ihm auf Gemeindeebene. Andere Zeitgenossen hatten hier wesentlich mehr Erfolg. Modifiziert ließen sich viele Aspekte seines Konzeptes auch im lokalen Bereich in erstaunlichen Dimensionen realisieren.

8.1 Einflüsse Chalmers auf das Elberfelder System Schon Uhlhorn wies auf den Einfluss hin, den das 1847 von Otto von Gerlach (1801–1849) veröffentlichte Buch Die kirchliche Armenpflege1 auf Armenpflegesysteme in Deutschland hatte und hierbei insbesondere auf das „Elberfelder System“.2 Die kirchliche Armenpflege war eine Übersetzung verschiedener Texte Thomas Chalmers.3 Das 1853 in Elberfeld neu eingeführte Armenpflegesystem erwies sich als eines der effektivsten Fürsorgesysteme des 19. Jahrhunderts.4 Es wurde zum Modell für zahlreiche 1 Chalmers, Thomas: Die kirchliche Armenpflege. Nach dem Englischen des Dr. Thomas Chalmers bearbeitet durch Otto von Gerlach, Berlin 1847. 2 Uhlhorn, Gerhard: Die christliche Liebestätigkeit, Stuttgart 21895, 782f. 3 Der größte Teil des Buches ist eine Übersetzung von On the Sufficiency of the Parochial System without a Poor Rate (zuerst erschienen in Glasgow 1841), einzelne Abschnitte stammen aus dem dreibändigen Werk The Christian and Civic Economy of Large Towns (zuerst erschienen in Glasgow 1821–26). Vgl., Chalmers: Armenpflege, S. XXf. 4 Schon wenige Monate nach seiner Einführung sank die Zahl der Unterstützungsempfänger von vorher 5–7 % auf weniger als 4 %. Dieses war mit einer Erhöhung der dem Einzelnen ausgezahlten Unterstützung verbunden. Vgl. Berger, Giovanna: Die ehrenamtliche Tätigkeit in der Sozialarbeit – Motive, Tendenzen, Probleme – dargestellt am Beispiel des Elberfelder Systems, Frankfurt a. M. 1979, 56f.

234

städtische Armenverwaltungen in ganz Europa5 und findet in modifizierter Form heute noch seine Anwendung.6 Karl Holl vermutete, dass Chalmers Prinzipien über die Stadt Lennep7 nach Elberfeld gelangten, weil in Lennep bereits 1850 Chalmers Gedankengut in der dort praktizierten Armenpflege zu finden war.8 Erst Wolfgang Heinrichs entdeckte in seiner Dissertation Freikirchen – eine religiöse Organisationsform der Moderne9 in Ludwig Feldner (1805–1890) den Mann, durch den Chalmers Ansatz mit großer Wahrscheinlichkeit seinen Weg in die Elberfelder Region fand.

8.1.1 Zur Chalmersrezeption der kirchlichen Diakonie in der Elberfelder Region Ludwig Feldner wurde 1847 Pfarrer der lutherischen Gemeinde in Elberfeld.10 Im selben Jahr erschien die Übersetzung von Gerlachs. Unter dem Eindruck dieses Buches veröffentlichte Feldner eine Schrift, in der er Hauptgedanken Chalmers zusammenfasste.11 Feldner beschrieb hier die Organisation und Intention der Armenfürsorge der St. Johnsgemeinde in Glasgow und zitiert Chalmers Aufgabenbeschreibung für die Diakone.12 Er führte aus, dass die Lebensbedingungen der Betroffenen genau untersucht werden sollten, um Selbsthilfepotenziale zu erkennen sowie die Möglichkeiten nachbarschaftlicher oder verwandtschaftlicher Hilfe. Die Unterstützung bei der Arbeitssuche wurde hervorgehoben und der Vorrang der Beratung vor der Gewährung materieller Hilfen. Feldner betonte auch die Wichtigkeit der Erforschung der Ursachen der Armut.13 Vier Prinzipien sollten jeder Armenpflege zugrunde liegen: Das Ziel sollte 5 Vgl. Lube, Barbara: Mythos und Wirklichkeit des Elberfelder Systems, in: Karl-Hermann Beeck (Hg.), Gründerzeit. Versuch einer Grenzbestimmung im Wuppertal, Köln 1984, 180. 6 Im September 1996 gab es in Wuppertal noch 100 „Ehrenbeamte/innen“ in 42 Bezirken, die im Auftrag der Stadtverwaltung tätig waren. Zu ihren Aufgaben gehörten „Behördengänge, Sozialhilfefragen, Besuchsdienste und andere persönliche Hilfen“. Bericht zur Weiterentwicklung der ehrenamtlichen sozialen Arbeit in Wuppertal. Reform des Ehrenamtlichen Sozialdienstes der Stadt Wuppertal, Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal, Geschäftsbereich Soziales u. Kultur, Ressort 201 – Sozialplanung (Hg.), Wuppertal 1997, 12. 7 Lennep – heute ein Stadtteil von Remscheid – ist ca. 15 km von Elberfeld entfernt. 8 Holl: Chalmers, 435f. 9 Mir lag die veröffentlichte Form dieser Arbeit vor: Heinrichs, Wolfgang E.: Freikirchen – eine moderne Kirchenform. Entstehung und Entwicklung von fünf Freikirchen im Wuppertal, Gießen 1989. 10 Heinrichs: Kirchenform, 186. 11 Feldner, Ludwig: Grundzüge der christlichen Armenpflege nach Anleitung der „kirchlichen Armenpflege von Chalmers, übersetzt von O. von Gerlach“, Elberfeld 1847. 12 Ebd., 7; Vgl. Chalmers: Armenpflege, 100f; Vgl. 6.4 Anmerkung 88. 13 Feldner: Armenpflege, 8–16.

235

sein, die Armen nicht in ihrer Rolle zu fixieren, sondern sie „innerlich“ zu emanzipieren.14 Den Betroffenen soll zu materieller Unabhängigkeit verholfen werden, wobei die genaue Kenntnis ihrer Lebensbedingungen und Ressourcen erforderlich ist. Allein „Alte und Kranke, die keine Angehörigen haben, die sich ihrer annehmen können“,15 bilden hier eine Ausnahme. Die den Betroffenen gewährte Hilfe soll an die Auflage geknüpft sein, etwaige von den Armenpflegern erkannte Ursachen der Armut zu beheben. Hierzu kann der Antritt angebotener Arbeitsstellen zählen ebenso wie die Auflage, künftig den Alkoholkonsum einzuschränken, die Kinder zur Schule zu schicken und selbst die Kirche zu besuchen etc. Armen, die sich nicht an die Auflagen halten, soll nach „wiederholter Ermahnung“ die Unterstützung entzogen werden.16 Die Armenpfleger sollten den Betroffenen regelmäßig besuchen, um „Einfluß auf sein innerliches Leben“ zu nehmen und sein „Zutrauen“ zu gewinnen. Er soll ihm als „wohlmeinender Freund“ zur Seite stehen.17 Noch 1847 rief Feldner in der lutherischen Gemeinde eine Armenkommission ins Leben, die Armen im Sinne dieser Grundsätze helfen sollte.18 Jeder Diakon betreute zunächst nur eine Familie. Geholfen werden sollte nicht allein Mitgliedern der lutherischen Gemeinden, sondern auch Bettler, die an die Tür von Gemeindemitgliedern klopften, sollten an die Armenkommission verwiesen werden. Allerdings gehörte die Visitation aller Haushalte eines Stadtteils – wie sie in der St. Johnsgemeinde in Glasgow praktiziert wurde – nicht zu den Aufgaben der lutherischen Armenkommission. Die Diakonie der Gemeinde erstreckte sich auch auf die Unterstützung Alter und Erwerbsunfähiger. Zudem wurden mehrere Suppenküchen eingerichtet. Feldners Absicht war es, jedem Arbeitswilligen Arbeit zu geben. So gründete die Gemeinde Ausbildungsstätten für Männer und Frauen. Darüber hinaus wurden Werkstätten eingerichtet, in denen verschiedene Produkte hergestellt wurden. Gemeinsam mit dem reformierten Armenverein wurde eine Kommission gebildet, die Männern bei der Arbeitssuche half. Allerdings war die Gemeinde auf die Dauer finanziell nicht in der Lage, dieses umfassende Programm durchzuführen. Einer der Gründe hierfür war, dass die Werkstätten niemals kostendeckend arbeiten konnten. So musste die Gemeinde bereits 1854 die Armenfürsorge an die Stadt zurückgeben. Auch die Niederländisch-reformierte Gemeinde in Elberfeld setzte die in Feldners Veröffentlichung aufgelisteten Prinzipien in ihrer Diakonie um. Diese freikirchliche Gemeinde wurde 1847 aus Reaktion gegen die

14 „Das Wichtigste ist, einen solchen Einfluß auf die Armen zu gewinnen, daß sie durch unsere ihnen gewährte Beihilfe nicht noch tiefer sinken, sondern vielmehr innerlich gehoben werden.“ Ebd., 22. 15 Ebd. 16 Ebd., 23f. 17 Ebd. 18 Vgl. Heinrichs: Kirchenform, 241–243.

236

preußische Kirchenunion gegründet.19 Einer ihrer Mitbegründer war der Bankier und Kaufmann Daniel von der Heydt (1802–1874),20 der später an der Konzeption des Elberfelder Systems beteiligt war. Anders als die Armenkommission der lutherischen Gemeinde betreuten die Diakone der Niederländisch-reformierten Gemeinde fast ausschließlich bedürftige Gemeindemitglieder.21 Diesen war es sogar verboten, städtische Unterstützung anzunehmen. Auch in der Niederländisch-reformierten Gemeinde stand die Hilfe zur Selbsthilfe sowie gegebenenfalls die Vermittlung eines Arbeitsplatzes im Vordergrund. Die Armenfürsorge in der Stadt Lennep scheint, wie erwähnt, auch von Chalmers beeinflusst gewesen zu sein. Anfang 1850 sprach dort der Superintendent Johann Heinrich Wiesmann (1799–1862)22 in einem Vortrag vor dem Synodalverein von drei Grundsätzen, die der Armenpflege zugrunde liegen sollten: 1. Die kirchliche Armenpflege müsse wieder an die Stelle der bürgerlichen gesetzt werden. 2. Es müssen die richtigen Armenpfleger gesucht werden. 3. Jeder Armenpfleger solle eine möglichst geringe Anzahl von Familien betreuen „Je geringer die Zahl der Pfleglinge, desto besser.“ In diesem Vortrag verwies er auch darauf, dass in Lennep die kirchliche Armenpflege bereits wieder an die Stelle der bürgerlichen getreten sei.23 Der Vortrag wurde in den Fliegenden Blättern veröffentlicht.24

8.1.2 Die Entwicklung einer neuen Konzeption für das Armenpflegesystem Elberfelds 1850–1852 Dies ist der Hintergrund, vor dem in den Jahren 1850 bis 1852 eine neue Konzeption für das Armenpflegesystem der Stadt Elberfeld entwickelt wurde. Das bis dahin praktizierte Armenpflegesystem war im Jahr 1800 in Elberfeld eingeführt worden und danach mehrfach modifiziert worden.25 Die letzte Revision erfolgte im Jahr 1841.26 Danach war die 19 Vgl. Ebd., 129. 20 Daniel von der Heydts Bruder war der preußische Finanzministers August von der Heydt (1801–1874) ebd., 697; Vgl. Lube: Mythos, 172. 21 Vgl. ebd., 147–157. 22 Vgl. ebd., 710. 23 Vgl. Holl: Chalmers, 435f. 24 Fliegende Blätter aus dem Rauhen Hause zu Horn bei Hamburg 1850, 253ff; 275ff; 295ff. 25 Vorbild für die neue Armenfürsorge Elberfelds war im Jahr 1800 die Hamburgische Armenanstalt von 1788, einer ihrer Gründer, Caspar von Voght, hatte eine Schrift mit dem Titel Über die Errichtung der Hamburgischen Armenanstalt im Jahre 1788 veröffentlicht. Vgl. Lube: Mythos, 158–161. 26 In der Armenordnung von 1841 wurde der Begriff der Bedürftigkeit definiert. Sie ging vom Prinzip der Gewährung des notdürftigen Unterhaltes aus, verpflichtete die Armen, an der Behebung seiner Notlage mitzuwirken und hob die Nachrangigkeit öffentlicher Unterstützung vor anderen Hilfsquellen hervor. Vgl. Berger: Tätigkeit, 42.

237

Stadt in zehn Armenpflegebezirke aufgeteilt. Jeder Bezirk hatte einen Vorsteher und war wiederum in fünf Quartiere unterteilt, für die jeweils ein Armenpfleger verantwortlich war. Über die Gewährung und die Höhe der Armenunterstützung entschied immer die Zentralstelle. Die Pfleger hatten hier keine eigene Entscheidungsbefugnis.27 Angesichts des großen Umfangs der einzelnen Quartiere konnten die Pfleger dem an sie gestellten Anspruch, jeden Hilfe suchenden eingehend zu betreuen und somit die „Gewohnheitsarmut“ einzudämmen, nie gerecht werden.28 In einer Denkschrift formulierte die Rechnungskommission der Armenverwaltung im März 1850, wie die bisherige Praxis der Armenfürsorge verbessert werden könnte. Dieser Kommission gehörten der Oberbürgermeister von Carnap, Wilhelm Meckel, Peter Fudickar und Daniel von der Heydt an.29 Die Denkschrift ist deutlich von Chalmers Gedankengut geprägt. In ihr wird dargelegt, dass „eine sich als nötig herausstellende Veränderung im Armenwesen [. . .] nur im Einklang und Mitwirkung der kirchlichen Gemeinden zu erreichen“ ist.30 Als die „Hauptaufgabe der Armenpflege“ wird hier bezeichnet, die Betroffenen so lange zu begleiten „bis die Zeit des Mangels am Notwendigsten vorüber und der Dürftige den Selbstunterhalt zu schaffen imstande ist“.31 Der Arme soll „der Sitte, dem Gefühl von Ehre, der Selbständigkeit zugeführt“ werden.32 Die Denkschrift hebt hervor, dass „Entziehung der Armenpflege auf die kirchlichen Gemeinen und auf die Gesamtheit ihrer Glieder nachteilig einwirken muß; – daß man den Gemeinen den berechtigten Kreis ihrer Wirksamkeit, welcher die gemeinsamen Gottesdienste und die Unterstützung der Armen umfaßt, ungebührlich verkürzt, wenn man ihnen, als solchen, das Vorrecht der Pflege ihrer Armen streitig macht; daß indem die Liebe des Nächsten sich nicht mehr auf dem ordentlichen Wege der Diaconate aller Gemeinenangehörigen annimmt und also weniger geübt wird, der Eifer auch für anderes erkaltet, namentlich aber die Armen sich weniger hingezogen fühlen zu den Vorstehern der Gemeine und zu den Gottesdiensten und daß diese Ursache eine betrübende Entsittlichung eines großen Teils der unterstützten Armen zur Folge gehabt habe.“33

Offenkundig wird die Praxis der Glasgower St. Johnsgemeinde aufgegriffen:

27 Vgl. ebd., 42f. 28 Vgl. Afflerbach, Ulrich: Die Entstehung des Elberfelder Armenpflegesystems, Dipl. Arbeit am Diakoniewissenschaftlichen Institut, Heidelberg 1976, 40f. 29 Vgl. ebd. 43; Die ersten drei waren Presbyter der reformierten Gemeinde, Daniel von der Heydt war Presbyter der Niederländisch-reformierten Gemeinde. Vgl. Heinrichs: Kirchenform, 692, 695, 697, 702. 30 Zit. n. Afflerbach: Entstehung, 44. 31 Ebd., 45. 32 Ebd., 46. 33 Ebd.

238

„Es würde sich empfehlen, entweder die Zahl der Diacone ansehnlich in dem Presbyterio zu vermehren oder aber ihnen Gehülfen, Armenpfleger oder dergleichen zur Seite zu stellen. Unmittelbarer und heilsamer wird sich eine ansehnliche Vermehrung der Zahl der Diacone in den großen Gemeinen erweisen; jede Gemeine wird sich in acht oder zehn Armenbezirke eintheilen und jedem Bezirk zwei Diacone vorsetzen. Es ist aus vielen Ursachen gut, daß die Untersuchung der Verhältnisse des Armen und die Bemessung der Gabe nicht von einem einzelnen Provisor oder Diaconus ausgehen. Die Diacone werden den Armen periodisch besuchen; sie werden ihm Hilfe gewähren wann und solange sie Noth thut, übrigens aber mit tröstlichem Zuspruch und gutem Rath den Armen behilflich sein, daß er sein eigenes Brot verdiene und mit seinen Händen das Gute schaffe, damit er selbst zu geben habe denen, die in Noth sind. Und an diese Hausbesuche knüpfet sich der gewöhnliche Bericht an das Diaconat, sodann an das Presbyterium, welcher Bericht den Predigern und Aeltesten zum Wegweiser wird, welche Armen zunächst ihrer Ermahnung und Aufsicht bedürfen.“34

Eine Kommission der Armenverwaltung nahm sofort Verhandlungen35 mit allen vier Kirchengemeinden Elberfelds36 auf, um diese in der beschriebenen Weise an der Armenfürsorge der Stadt zu beteiligen, den Kirchen also die Fürsorge der Hausarmen zu übertragen, die nicht im städtischen Armen-, Waisen- oder Krankenhaus betreut wurden. Im Zuge dieser Verhandlungen wurde den Gemeinden auch das Angebot gemacht, die materielle Unterstützung der Armen nicht selbst finanzieren zu müssen, sondern allein ihre Betreuung und die Verteilung der Mittel zu übernehmen. Wegen unterschiedlicher Vorstellungen der Gemeinden kam kein einheitliches Konzept für Elberfeld zustande, so dass man nach zweijährigen Verhandlungen das Projekt als gescheitert betrachten musste.

8.1.3 Die ab 1853 geltende „Neue Armenordnung der Gemeinde Elberfeld“ Daraufhin entwickelte eine Kommission ein neues Konzept für die städtische Armenfürsorge. Der Presbyter der Niederländisch-reformierten Gemeinde Daniel von der Heydt37 und der Mennonit David Peters waren 34 Ebd., 46f. 35 Vgl. Ebd., 50–59. 36 Die vier Kirchengemeinden waren die reformierte Gemeinde, die lutherische Gemeinde, die römisch-katholische Gemeinde und die Niederländisch-reformierte Gemeinde. Eine Auflistung der Konfessionszugehörigkeit in Elberfeld aus dem Jahr 1854 vermittelt ein Vorstellung von der Größe der Gemeinden zu Beginn der fünfziger Jahre: 1854 gab es 21.196 Reformierte, 17.115 Lutheraner, 11.239 Katholiken, 906 Niederländisch-reformierte, 151 Juden und 5 Mennoniten in Elberfeld. Heinrichs: Kirchenform, 497. 37 Zu diesem Zeitpunkt gehörte auch der Oberbürgermeister Elberfelds, Emil Lischke, zur Niederländisch-reformierten Gemeinde. Vgl. Heinrichs: Kirchenform,149, 701.

239

federführend in dieser Kommission.38 Das Konzept wurde im Juli 1852 dem Gemeinderat vorgelegt. Die Verfasser betonten noch einmal die Bedeutung der kirchlichen Armenfürsorge. Deshalb sollten die Kirchengemeinden vertrauenswürdige Mitglieder für die Stellen der Armenpfleger vorschlagen, aus deren Reihen der städtische Gemeinderat die Mitarbeiter der Armenfürsorge auswählen sollte.39 Das Konzept der Kommission trat am 1. Januar 1853 als Neue Armenordnung für die Gemeinde Elberfeld in Kraft40. Das neue Armenpflegesystem unterschied sich in den folgenden Punkten von dem bis dahin praktizierten41: Die Armenpflege wurde individualisiert. Die Pfleger waren dazu verpflichtet, jeden Einzelfall genau zu prüfen und die Betroffenen mindestens alle 14 Tage zu besuchen. Dieses wurde ermöglicht durch eine deutliche Verringerung der Anzahl der von jedem Armenpfleger zu betreuenden Familien. Jeder der zehn Bezirke wurde nun in fünfzehn, statt bisher in fünf Quartiere aufgeteilt. Somit erhöhte sich die Anzahl der Armenpfleger auf 150. Die Verwaltung der Armenpflege wurde dezentralisiert. Über die Vergabe der Mittel für die einzelnen Unterstützungsempfänger entschied nun nicht mehr ein zentrales Gremium, sondern die vierzehntägig tagenden Bezirksversammlungen, die sich aus den Armenpflegern und den Bezirksvorstehern zusammensetzten. In dringenden Fällen konnten die Pfleger ohne Rücksprache kurzfristige Hilfen gewähren. Die Nachrangigkeit öffentlicher Hilfe galt bereits 1841. Nun wurde dieses Prinzip erstmals bei allen Betroffenen umgesetzt, indem die Pfleger der Aktivierung nachbarschaftlicher und familiärer Unterstützung viel Aufmerksamkeit widmen konnten. Dieses war erklärtes Ziel der neuen Armenordnung.42 Mit der Verpflichtung der Hilfe zur Selbsthilfe wurde die Selbstbestimmung der Armen betont. So hatten die Pfleger ausdrücklich die Aufgabe, die Betroffenen bei der Arbeitsuche zu unterstützen. Sie hatten hier auch präventiv zu wirken, indem sie „die zur Vorbeugung und zur Abhilfe dienlichen Einrichtungen“43 treffen sollten. Die Neue Armenordnung für die Gemeinde Elberfeld ist eine modifizierte Form des bis dahin in Elberfeld zur Anwendung gekommenen Armenpflegesystems. Die durch Ludwig Feldner verbreiteten Anschauungen Chalmers und ihr Umsetzung an verschiedenen Orten der Region, insbesondere in der lutherischen und der Niederländisch-reformierten Gemeinde Elberfelds, legt es nahe, dass in wesentlichen Elementen des 38 Vgl. Lube: Mythos, 175; Heinrichs: Kirchenform, 704. 39 Vgl. Berger: Tätigkeit, 52. 40 Vgl. Lube: Mythos, 176. 41 Vgl. Afflerbach: Entstehung, 64–70; Berger: Tätigkeit, 44–54. 42 Vor der Gewährung der Mittel hatte der Armenpfleger zu prüfen ob einer Unterstützungsverpflichtung seitens der Familie, des Arbeitgebers oder einer Unterstützungskasse nicht nachgekommen worden war. Auch die Privatwohltätigkeit hatte ausdrücklich Vorrang. Vgl. Berger: Tätigkeit, 47. 43 Armenordnung der Gemeinde Elberfeld § 16 zit. n. Berger: Tätigkeit, 47.

240

Elberfelder Systems der Ansatz Thomas Chalmers rezipiert worden ist. Weil die ursprüngliche Absicht die Hausarmenpflege entsprechend dem Glasgower Modell ausschließlich durch die Kirchengemeinden zu gewährleisten, sich nicht verwirklichen ließ, blieb die Stadt Elberfeld der Träger der Arbeit. Dabei stellten die Kirchen allerdings die ehrenamtlichen Mitarbeiter zur Verfügung. Wichern wusste offensichtlich um diese Zusammenhänge, als er 1854 schrieb: „Und wenn wir [. . .] über die Reform des bürgerlichen Armenwesens in Elberfeld eine Notiz mitteilen [. . .] so wollen wir hervorheben, daß die Elberfelder Stadtkommune den Antrieb dazu aus der erneuerten kirchlichen Armenpflege Elberfelds erhalten, daß diese aber von Freunden der inneren Mission ausgegangen ist, welche diese Form für ihre Bestrebung aus Chalmers Vorbilde ohne sklavische Nachahmung entnommen.“44

8.2 Einflüsse Chalmers auf Johann Hinrich Wichern 8.2.1 Wicherns erste Begegnung mit Chalmers Ansatz Das Denken Thomas Chalmers und Johann Hinrich Wicherns (1808– 1881) weist nicht wenige Parallelen auf, so stellt sich die Frage, was bei letzterem auf eine Rezeption des Schotten zurück geht. Chalmers Versuch in der Diakonie die theologische mit der gesellschaftswissenschaftlichen Perspektive zu verbinden war auf seinen deutschen Zeitgenossen nicht ohne Wirkung geblieben. In der Tat sah Wichern seine Bedeutung vor allem darin, dass er „das unmittelbare Eingehen auf die christliche Praxis unter den Armen“ mit seinen „wissenschaftlichen Leistungen“ zu vereinigen wusste. Denn „gerade aus der Durchdringung der Errungenschaften wahrer, gesunder Wissenschaft und Praxis“ würden „die Mächte erzeugt werden, von denen Heil und Errettung aus dem Zustande des gegenwärtigen Unheils in Staat und Kirche zu erwarten“ stünden.45 Wann und wie kam Wichern mit Chalmers Ansatz in Berührung? In den Fliegenden Blättern erwähnte er ihn zum ersten Mal 1847.46 Es ist Wicherns Nachruf auf Chalmers. Hier wird schon die Veröffentlichung von Gerlachs (Die kirchliche Armenpflege) genannt, die das einzige Werk Chalmers war, welche sich in Wicherns Besitz befand.47 Meißner geht davon aus, dass er zuerst durch dieses Buch „von Chalmers genaue Kenntnis erhalten“ hat.48 Zwei44 Wichern, Johann Hinrich: Das internationale Wirken der inneren Mission (1854), in: ders.: Sämtliche Werke II, Peter Meinhold (Hg.), Hamburg 1965, 298. 45 Wichern: Sämtliche Werke V, 73. 46 Ebd., 73–75. 47 Vgl. Deppe, Leonhard (Hg.): Wichern Bibliothek. Bücher aus dem Besitz von Johann Hinrich und Johannes Wichern in der Bibliothek des Diakonischen Werkes der EKD – Bestand Berlin. Katalog, Neustadt a.d.Aisch 1995, 20. 48 Meißner, Erwin: Der Kirchenbegriff Johann Hinrich Wicherns, Gütersloh 1938, 41.

241

mal hatte er das Werk gelesen und mit zahlreichen Randglossen versehen.49 Dagegen rechnet Luckey damit, dass Wichern schon 1832 als Oberlehrer der Sonntagsschule von St. Georg „von Chalmers Ideen Kenntnis genommen und dabei Entscheidendes vorweg geplant“ hat.50 Diese Auffassung begründet er damit, dass in dem der Sonntagsschule zugeordneten Männlichen Besuchsverein Chalmerssche Prinzipien umgesetzt worden wären,51 die dann von Wichern selbst vertreten wurden. Luckey nennt hier „Chalmers strenge Anweisung, die zu Unterstützenden regelmäßig aufzusuchen und festzustellen, wie am besten geholfen werden müsste oder wieweit die Betreffenden zur Selbsthilfe fähig wären.“ Ferner hätte der Punkt „Besuche“ für Wichern „im Sinne Chalmers programmatischen Charakter gehabt“ und drittens hält Luckey es für möglich, dass Wichern im Männlichen Besuchsverein „den Anregungen Chalmers folgend“ seine Vorstellung eines kirchlichen Diakonats zu entwickeln begann.52 Luckey nennt keine Quelle, in der der Name Chalmers genannt wird. In Rautenbergs Sonntagsschulbericht, aus dem Luckey zitiert, wird auch nicht von zu Unterstützenden gesprochen, deren Selbsthilfepotenziale in Erfahrung zu bringen wären wie es bei der Armenfürsorge der St. Johnsgemeinde der Fall war. Hier wird allein die Bedeutung eines Besuchsvereins für den kontinuierlichen Sonntagsschulbesuch der Kinder hervorgehoben.53 Allerdings nennt Rautenberg u. a. die „Brüder“ aus Glasgow, deren Beispiel zu folgen wäre.54 Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass Rautenberg Impulse von Chalmers bei der Konzeption des Besuchsvereins aufgenommen hat. Immerhin hatte Chalmers mit der Distriktssonntagsschule, die mit einer aufsuchenden Arbeit verbunden war, einen neuen Sonntagsschultyp geschaffen, der auch über die

49 Vgl. Gerhardt, Martin: Wichern und England, in: Ders.: Johann Hinrich Wichern und die Innere Mission, Volker Herrmann (Hg.), Heidelberg 2002, 62–83: 67. 50 Luckey, Hans: Ökumenische Einflüsse. Wichern und die angelsächsische Erweckungsbewegung, in: Reform von Kirche und Gesellschaft 1848–1973. Johann Hinrich Wicherns Forderungen im Revolutionsjahr 1848 als Fragen an die Gegenwart. Studien zum 125. Gründungstag des Centralausschusses für die Innere Mission der Deutschen Ev. Kirche, H. C. v. Hase/P. Meinhold (Hg.), Stuttgart 1973, 162. 51 Auch Wayne Allen Detzler vermutet im Männlichen Besuchsverein eine Rezeption Chalmersscher Ideen. Detzler bezieht sich hierbei allerdings auf keine Quellen, sondern wiederum nur auf eine Vermutung, die Heinrich Merz im Jahr 1849 formuliert hatte. Detzler, Wayne Allen: British and American Contributors to the ’Erweckung’ in Germany 1815–1848, Dissertation Manchester 1974, 500. 52 Luckey: Einflüsse, 162. 53 „Unter den sichtbaren Früchten dieser Besuche nenne ich nur die Beharrlichkeit der Kinder in der Teilnahme am Unterricht.“ Rautenberg, Johann Wilhelm: Fünfter Bericht über die hamburgische Sonntagsschule, vom Jahre 1829, Hamburg 1830, 19. 54 „Was hindert uns, gleich unsern Brüdern in London, Glasgow, New-York und mehreren großen Städten Englands und Nord-Amerikas, Missionare zu werden für das mehr als heidnische Elend in unsern Mauern?“ Ebd., 18.

242

Grenzen Glasgows hinaus Verbreitung gefunden hatte.55 So ist es meines Erachtens nahe liegend, dass Chalmers Sonntagsschulkonzept sich bei Rautenberg niederschlug und durch Rautenbergs Vermittlung wiederum zu Wichern gelangte. Es ist eher unwahrscheinlich, dass sich Wichern selbst schon zu diesem Zeitpunkt mit Chalmers Ansatz auseinandersetzte, da sonst eine frühere Erwähnung des Namens Chalmers bei Wichern zu erwarten wäre. Die erste gesicherte Begegnung hatte Wichern mit Chalmers Konzept durch eine Veröffentlichung Otto von Gerlachs aus dem Jahr 1845.56 Wichern verweist auf diese Veröffentlichung und zitiert aus ihr in einem Artikel, der 1846 in den Fliegenden Blättern erschien.57 Von Gerlachs Publikation ist ein Aufsatz, den er nach einer Großbritannienreise verfasst hat, in dem er u. a. den Ansatz Chalmers skizziert.58

8.2.2 Wicherns Chalmersrezeption Erst nach dem Erscheinen der kirchlichen Armenpflege im Jahr 1847 finden sich Belege dafür, dass Wichern sein eigenes Konzept mit dem Chalmers in Beziehung gesetzt hat. Dieses ist vor allem geschehen in Wicherns Denkschrift59 aus dem Jahr 1849 und in seinen 1855 und 56 verfassten Texten über die Armenpflege60. In dem Abschnitt über die Armenpflege in der Denkschrift spricht Wichern von der „von Otto v. Gerlach ausgegangene Veröffentlichung der so einfachen als wahren Chalmersschen Ideen über diesen Gegenstand [der Armenpflege]“.61 Folgende Ideen Chalmers finden sich nun in dem größeren Zusammenhang dieses Zitates wieder: Eine gesetzlich verordnete Armenpflege „ohne persönliche 55 Vgl. 6.6.1. 56 Gerlach, Otto von: Bericht über die Entstehung und Einrichtung vieler neuer Kirchund Pfarrsysteme in England, mit Rücksicht auf unsere kirchlichen Zustände, in: Amtliche Berichte über die in neuerer Zeit in England erwachte Thätigkeit für die Vermehrung und Erweiterung der kirchlichen Anstalten erstattet von O. v. Gerlach, H. F. Uhden, A. Sydow und A. Stüler, Potsdam 1845, 1–93. 57 Wichern: Sämtliche Werke V, 36–39. 58 Gerlach: Bericht, 79–82. 59 Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche. Eine Denkschrift an die deutsche Nation, Hamburg 1849, Wichern: Sämtliche Werke I, 175–366. 60 Über Armenpflege, in gekürzter Form in den Fliegenden Blättern der Jahre 1855 und 56 erschienen. Wichern: Sämtliche Werke III/1, 21–70. 61 Wichern: Sämtliche Werke I, 269; Am Beginn des Abschnitts (Ebd., 267) findet sich in Wicherns Exemplar der 1. Auflage der handschriftliche Hinweis auf den Aufsatz von Friedrich Ehrenfeuchter: „Über die christliche Armenpflege. Mit besonderer Beziehung der Schrift: ‚Die kirchliche Armenpflege. Nach dem Englischen des Dr. Thomas Chalmers von Otto von Gerlach, Berlin 1847‘“, in: Vierteljahrsschrift für Theologie und Kirche, 1848, 1–30. Vermutlich hat Chalmers bei seiner späteren Entfaltung des Themas auch auf diesen Aufsatz zurückgegriffen.

243

Beziehung der Liebe zwischen Geber und Empfänger“ ist abzulehnen, weil sie „jedes Gefühl der Dankbarkeit und Ehrfurcht“ erstickt.62 „Der stärkste Ausdruck des gegenteiligen Verfahrens liegt in derjenigen Armenpflege, die von der kirchlichen Gemeinde als solcher geübt wird.“63 Eine presbyterial verfasste Kirche mit einem Diakonat bietet die Voraussetzungen für eine solche Armenpflege.64 Die „materielle“ Unterstützung der Armen soll mit der „sittlichen“, die „geistige“ mit der „geistlichen“ verknüpft werden.65 Armenpflege soll die Solidarität des unmittelbaren Umfeldes der Armen mit den Betroffenen fördern.66 Die Armen sollen dazu veranlasst werden, selbst auch Subjekte der Diakonie zu sein.67 In den Texten über die Armenpflege aus den Jahren 1855 und 56 finden sich ergänzend zu diesen noch weitere Prinzipien Chalmers: Die Kirche hat die Verpflichtung, die Strukturen zu beseitigen, die die Armen von der Kirche – insbesondere von ihren Gottesdiensten – fernhalten. Hierzu bedarf es geeigneter Räumlichkeiten in den Armenquartieren, die auch von schlechter Gekleideten ohne Schwellenangst betreten werden können. Ferner sind Prediger erforderlich, denen die „Weltanschauung und Sprache“ der Armen zu eigen ist.68 Die Armenpflege darf den Armen nicht stigmatisieren und aus der übrigen Gesellschaft ausgrenzen, vielmehr hat sie die Aufgabe, ihn zu integrieren.69 Die nächste Umgebung des Betroffenen hat Vorrang vor der größeren helfenden Institution. „Erst da, wo die Kraft des [helfenden] Individuums nicht mehr ausreicht, tritt 62 Ebd., 267. 63 Ebd., 268. 64 Ebd. Wichern nennt an dieser Stelle ausdrücklich die „Rheinisch-Westfälische Presbyterial-Verfassung der evangelischen Kirche“. Hiermit reflektiert er vermutlich nicht nur die Rheinisch-Westfälische Kirchenordnung von 1835, in der der Diakonat als kirchliches Amt verankert war, sondern auch die Praxis der lutherischen Gemeinde Elberfelds, über deren Rezeption der Chalmersschen Ideen die Fliegenden Blätter im Jahr 1848 schon berichtet hatten. (Fliegende Blätter 1848, 87ff) Vgl. Ebd., 407 Anmerkung 43. 65 Ebd. Gerade diesen Aspekt der Armenpflege sieht Wichern in diesem Abschnitt aber schon anders als Chalmers nicht nur vor allem in einer entsprechend organisierten Gemeindediakonie verwirklicht, sondern auch in hervorragender Weise in der Vereinsdiakonie der Inneren Mission. 66 Ebd., 282. 67 Ebd. Wichern bemängelt an dieser Stelle allerdings, daß Chalmers „nur die äußere Mission dabei im Auge hatte“. Offensichtlich fehlte ihm die Information über die Kirchentürkollekte des Abendgottesdienstes in der St. Johnsgemeinde, die vorwiegend von den ärmeren Gottesdienstbesuchern für materielle Notlagen zusammengelegt wurde. Auch die Aktivierung nachbarschaftlicher Hilfe durch die Diakone der St. Johnsgemeinde schloss materielle Hilfen mit ein. 68 Wichern: Sämtliche Werke III/1, 37f. Wichern nennt hier auch noch „die Sonntagsbeschäftigung von Seiten der Brotherren“, die es in Großbritannien so gut wie nicht gab. 69 Ebd., 40. Wichern spricht hier auch davon, daß die Armenpflege „das Bewußtsein zu wecken“ hat, daß der Arme „einem lebendigen, heiligen Leibe angehört, an dem das geringste Glied am wertesten gehalten wird.“ An dieser Stelle betont Chalmers zusätzlich zu dem Gedanken der Integration noch mehr als Wichern die Emanzipation des Betroffenen aus seiner Rolle als Armer.

244

kollektive Hilfe ein.“70 Chalmers hat in den genannten Punkten Wichern mindestens bestärkt in seinen Anschauungen, wenn ihr Ursprung nicht sogar bei ihm zu suchen ist.71 Wichern stellt in den Texten über die Armenpflege aus den Jahren 1855 und 56 ein dreifach gegliedertes Modell der Armenfürsorge vor: Die „gesetzliche oder bürgerliche“, die „amtlich-kirchliche“ und die „freiwillige oder private“ Armenfürsorge. Die schon in der Denkschrift erwähnte von „christlicher Liebe“ getragene persönliche Beziehung der Helfenden zu den Betroffenen sollte alle drei Bereiche der Diakonie auszeichnen.72 Unter der bürgerlichen Armenpflege versteht Wichern die staatlich getragene Armenfürsorge, die Armenpolizei und die Justizvollzugsanstalten für Straftäter, die in den Bereich der Armenpolizei fallen. Die freiwillige Armenpflege ist sowohl die unorganisierte, als auch die organisierte private Wohltätigkeit, welche sich in Vereinen, Stiftungen oder Gesellschaften konstituiert hat. Die kirchliche Armenpflege ist bei Wichern vor allem die Gemeindediakonie. Die Grundzüge dieser Gemeindediakonie lassen deutliche Parallelen zu der Armenfürsorge der Glasgower St. Johnsgemeinde erkennen. Die kirchliche Armenpflege soll die materiellen Mittel selbst aufbringen, die sie den Betroffenen zukommen lässt. Sie soll sich vor allem den Hausarmen widmen. Sie soll den erwähnten persönlichen Kontakt zu dem Armen suchen, sorgfältig und diskret sein und auf die „individuellsten Bedürfnisse des inneren und äußeren Lebens“ eingehen. Sie soll nicht nur die Betreuung des Einzelnen, sondern auch die seiner Familie zum Gegenstand haben.73 Die Betreuung der Hausarmen soll nach Wichern durch ehrenamtliche „Subdiakone“ geschehen, die sich jeweils nur einer „geringen Zahl von Familien“ widmen sollten, „was zur Ausführung der persönlichsten, individuellsten Pflege unerläßlich ist.“ Die Subdiakone sollten dabei die Supervision durch professionelle Diakone erfahren.74 Allein die Supervision der ehrenamtlichen Mitarbeiter durch hauptamtliche Diakone ist hier ein neuer Gedanke, der bei Chalmers noch nicht zu finden ist. Mit dieser Ergänzung hat Wichern ein entscheidendes Defizit in Chalmers Ansatz erkannt und eine angemessene Lösung hierfür bieten können. Chalmers Aufgabenbeschreibung für die Diakone, ihre Teamarbeit und der regelmäßige Austausch in der St. John’s Agency boten wichtige 70 Ebd., 62. Hier findet sich bereits in Ansätzen wie bei Chalmers selbst das Subsidiaritätsprinzip, das heute, freilich wesentlich differenzierter, eine Grundlage der Struktur sozialer Sicherung in Deutschland ist. 71 Martin Gerhardt geht davon aus, dass insbesondere Wicherns „Forderung, die Armen zur Selbsthilfe erziehen,“ auf Chalmers zurück geht. Gerhardt: England, 67. 72 Ebd., 34. 73 Ebd., 39f. 74 Ebd., 44. Die „Erneuerung des kirchlichen Diakonenamtes speziell für die Gemeindearmenpflege“ bei Wichern führt auch Gerhardt auf den Einfluss Chalmers zurück. Gerhardt: England, 67.

245

Grundlage für die Arbeit der Diakone. Aber nicht zuletzt die große Fluktuation der Mitarbeiter belegt, dass all das noch nicht ausreichte, um hier eine kontinuierliche Arbeit durch Ehrenamtliche gewährleisten zu können. Die dreifache Gliederung der Diakonie bei Wichern weist auch als solche Parallelen zu Chalmers Ansatz auf. In Wicherns Augen war Chalmers allein ein Vertreter der kirchlichen Diakonie, der alle soziale Verantwortung der Gemeindearmenpflege zuordnen wollte.75 So ist er in der Zuordnung der freiwilligen und der bürgerlichen zu der kirchlichen Diakonie gewiss nicht seinem Vorbild gefolgt. Wicherns Konzept ist deutlich differenzierter als Chalmers, dennoch schrieb auch der Schotte gegen Ende seines Lebens dem Staat eine ganze Reihe von Aufgaben zu.76 Daneben hat er sogar mehr als Wichern die Bedeutung der Armut in den nationalökonomischen Prozessen reflektiert und hieraus resultierende systemkritische Forderungen formuliert.77 Die Selbsthilfe, die Hilfe durch die Familien und die Nachbarn hatte bei ihm eine zentrale Bedeutung und einen Vorrang vor der Gemeindediakonie. Diese zu fördern war nicht zuletzt die Aufgabe der Diakone. Auch hat Chalmers die Bedeutung der wohltätigen Vereine nicht geleugnet, sondern hat vielmehr mit ihnen kooperiert.78 Es liegt nahe, dass Wichern in dem Abschnitt über die Armenpflege der Denkschrift von 1849 und in den genannten Texten der Jahre 1855 und 56 Chalmers Ansatz rezipiert hat. Insbesondere gilt dies für Wicherns Konzept von der kirchlichen Diakonie. Es ist offensichtlich, dass Wichern sich bei der Abfassung der Texte ausgiebig mit dem Konzept des Schotten beschäftigt hatte. Auch unabhängig von der Frage des Einflusses, den Chalmers auf Wichern ausgeübt hatte, gibt es neben den hier genannten Punkten noch weitere Parallelen im Denken der beiden Sozialreformer. Als Beispiel hierfür seien genannt: Die Kirche als Volkskirche in einem christlichen Staat, der hohe Stellenwert des Selbstbewusstseins79 sowie der Schulbildung und Berufsausbildung.

8.3 Weitere Beispiele der Wirkungsgeschichte Neben Chalmers Wirkung auf das Elberfelder System und Wichern wurde er in Deutschland Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem während der Diskussion um die kirchliche Armenpflege rezipiert.80 Martin Friedrich 75 Ebd., 31, 36. So wirft Wichern Chalmers auch Inkonsequenz vor, weil er sich für Krankenhäuser und stationäre Behinderteneinrichtungen in staatlicher Trägerschaft ausgesprochen hatte. (Ebd., 52; Vgl. Chalmers: Armenpflege, 173). 76 Vgl. 7.6. 77 Chalmers Systemkritik war allerdings zurückhaltend. Vgl. 7.5. 78 Ein Beispiel hierfür ist auch die Zusammenarbeit mit der Edinburgher Stadtmission im West Port. Vgl. 7.3. 79 Bei Wichern war dies vor allem in der Pädagogik des Rauhen Hauses und in der Gefängnispädagogik von Bedeutung. 80 Vgl. Friedrich/Jähnichen: Geschichte, 892.

246

geht davon aus, dass die erwähnte Übersetzung von Gerlachs (Die kirchliche Armenpflege) aus dem Jahr 1847 das erste Buch des Schotten gewesen sei, welches im deutschen Sprachraum eine größere Resonanz fand,81 obwohl bis dahin bereits eine Reihe anderer Schriften in deutsch erschienen waren.82 Seit dem wurde Chalmers in erster Linie mit Forderungen zusammengebracht, die Armenpflege ganz in die Hand der Kirche zu legen. Hierüber debattierte man auf den Rheinischen Provinzialsynoden 1847 und 1853,83 auch mehrfach auf Kongressen der Inneren Mission und den Kirchentagen.84 Von Gerlachs Übersetzung erschien nach Friedrich zu einem Zeitpunkt, als eine starke Fraktion in der Kirche die Forderung nach einer kirchlichen Armenpflege mit dem Anliegen verband, „der Kirche wieder eine beherrschende Stellung zu verschaffen“, sowohl gegenüber dem Staat, als auch im Blick auf die freien Vereine.85 Des öfteren wurde auch für eine Zusammenarbeit der Kirche mit dem Staat in der Armenpflege plädiert, wo die kirchliche Diakonie bereits ganz zum Erliegen gekommen war.86 Karl Holl geht davon aus, dass auch Bunsen, der preußische Gesandte in London, Chalmers rezipierte, indem er sich in seiner 1845 veröffentlichten Schrift Über die Verfassung der Kirche der Zukunft für eine Neubelebung des Diakonates aussprach.87 Bereits in den dreißiger Jahren hatte man in Deutschland damit begonnen, dem Amt des Diakons in der Kirche wieder Bedeutung zu geben oder es neu einzuführen.88 Den Anfang machte die rheinisch-westfälische Kirchenordnung, die den Diakon 1835 sowohl als Gemeindeamt wie als kirchlich autorisierten Dienst Ehrenamtlicher bestimmte.89 In diesem westlichen Teil Preußens war die Tradition des reformierten Diakonates noch lebendig, sodass hieran angeknüpft werden konnte. Aber auch in anderen Regionen des Landes 81 Friedrich, Martin: Kirchliche Armenpflege! Innere Mission, Kirche und Gesellschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Ders. u. a. (Hg.): Sozialer Protestantismus im Vormärz, ders./u. a. (Hg.), Bochumer Forum zur Geschichte des sozialen Protestantismus II, Münster 2001, 21–42: 26. 82 Chalmers, Thomas: Historische Glaubwürdigkeit der christlichen Offenbarung, Frankfurt; ders.: Die innere Welt, Stuttgart 1838; ders.: Reden über die christliche Offenbarung in Beziehung auf die neuere Astronomie, Rinteln und Leipzig 1841; ders.: Der Kaufmann als Christ oder Anwendung der Grundsätze des Christentums auf Handel und Wandel, Stuttgart 1841. 83 Friedrich verweist hier auf die Verhandlungen der fünften Rheinischen ProvinzialSynode, gehalten zu Neuwied vom 28. August bis 14. September 1847, Neuwied 1848, 255–259 und Verhandlungen der achten Rheinischen Provinzial-Synode, gehalten zu Elberfeld vom 8. bis 26. Oktober 1853, Elberfeld 1853, 138–144. Friedrich: Armenpflege, 24. 84 Ebd. 85 Ebd., 27–29; Wichern vertrat bekanntlich eine Kooperation von allen dreien. Vgl. Wichern: Sämtliche Werke III/1, 34. 86 Vgl. Friedrich: Armenpflege, 28. 87 Holl: Chalmers, 431; So auch Gerhardt: England, 68. 88 Vgl. Friedrich: Armenpflege, 31–34. 89 §§5, 7, 14, vgl. Holl: Chalmers, 431.

247

wurde mit sehr verschiedenen Intentionen versucht, dem Diakonenamt in der Kirche Geltung zu verschaffen. Der prominenteste Vertreter dieses Gedankens war der preußische König Friedrich Wilhelm IV, für den die Etablierung des Diakonates Teil einer von ihm präferierten hochkirchlich-episkopalen Erneuerung der Kirche war.90 Auf der 1856 vom König einberufenen Monbijou-Konferenz wurde die Unterschiedlichkeit der Standpunkte zum kirchlichen Diakonat deutlich.91 U.a. formulierte Wichern zu diesem Anlass seine Position in einem Gutachten über die Diakonie und den Diakonat.92 Auch Otto von Gerlach hatte sich durch Chalmers angeregt für eine Neubewertung des Diakonates ausgesprochen. In der Vorrede zur Kirchlichen Armenpflege bedauert er, „daß man die schöne Bewegung, welche zur Bildung eines Diaconats vor vier Jahren, zunächst ohne Zuthun der Geistlichen, unter den Berliner Bürgern selbst entstand, um großartiger und umfassender Organisation willen spurlos vorüber gehen ließ.“93

Der Zusammenhang des Zitat macht allerdings deutlich, dass von Gerlach unter dem Diakonat nicht wie Chalmers ein Amt mit Sitz im Kirchenvorstand verstand, sondern ein Organ der ehrenamtlichen Diakonie. Die Diakone sollten den Pfarrern zwar unterstellt sein und ihnen zuarbeiten, sie sollten aber nicht Teil der Kirchenstruktur sein. Wie in Großbritannien wirkten Chalmers Publikationen ebenfalls auf die Arbeitsweise der Stadtmissionen in Deutschland.94 Ein Beispiel hierfür sind Artikel Julius Köstlins in den Fliegenden Blättern Wicherns, in denen er unter Bezugnahme auf Chalmers Konzept Leitlinien für die aufsuchende Diakonie entfaltete.95 Von den Frauen und Männern, die Anregungen Chalmers in ihre Arbeit einfließen ließen, ist zuerst Otto von Gerlach zu nennen. Die amtlichen Berichte „über die in neuerer Zeit in England erwachte Thätigkeit für die Vermehrung und Erweiterung der kirchlichen Anstalten“96 hatte u. a. von Gerlach nach einer Großbritannienreise verfasst. Chalmers Arbeit hinterließ bei dem Theologen aus Deutschland einen nachhaltigen Eindruck. Dieses führte nicht nur zu der genannten Übersetzung, sondern auch dazu, dass in der Berliner Elisabethgemeinde, deren Pfarrer von Gerlach war, Chalmerssche Ideen in die Tat 90 Vgl. Friedrich: Armenpflege, 32f; Holl: Chalmers, 430. 91 Zur nach ihrem Tagungsort Schloss Monbijou benannten Konferenz vgl. Meyer, Dietrich: Monbijou-Konferenz (1856) und Evangelische Allianz (1857), in: Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union II, Joachim Rogge/Gerhard Ruhbach (Hg.), Leipzig 1994, 97–109. 92 Wichern: Sämtliche Werke III/1, 130–184. 93 Chalmers: Armenpflege, S. XIX. 94 Zu Chalmers Einfluss auf die Konzeption der britischen Stadtmissionen. Vgl. 7.3 Anmerkung 72. 95 Köstlin, Julius: Erfahrungen über Stadtmission, Fliegende Blätter aus dem Rauhen Hause, 1850, 269–275, 288–295, 307–311; vgl. hierzu auch Gerhardt: England, 72f. 96 Vgl. 8.2.1.

248

umgesetzt wurden. Hier förderte er die Errichtung von Selbsthilfeinitiativen z. B. durch die Gründung einer Sparlade97 und einer Beschäftigungsinitiative für arbeitslose Weber.98 Die konsequenteste Umsetzung der Ideen Chalmers außerhalb der Gemeindediakonie sieht Wichern in Erlangen.99 Dort vernetzte 1848 der Stadtvikar Julius Schunk neun Vereine und Anstalten unterschiedlicher Zielsetzung100 miteinander. Und Wichern fügt hinzu: „Dieselbe Erfahrung haben auch andere Städte seit dem letzten Jahre [1848] auf Veranlassung des größeren, neuerwachten Interesses für die innere Mission machen dürfen.“101 Auch Theodor Fliedner (1800–1868) besuchte Chalmers während seiner Reise nach Großbritannien im Jahr 1832. Einen Einfluss auf die Konzeption seines diakonischen Ansatzes hatte dies aber offenbar nicht.102 Es gab Übersetzungen eines Teils der Werke Chalmers nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf Niederländisch und Französisch.103 Von den niederländischen Erweckten stand der Historiker und Politiker Guillaume Groen van Prinsterer (1801–1876) Chalmers am nächsten.104 Beide hielten Briefkontakt und schätzten einander. Van Prinsterer strebte wie Chalmers eine christlich geprägte Gesellschaft an, in der die Kirche auch Verantwortung für das Wohlergehen aller Bewohner des Landes übernahm. Das Gesellschaftsideal des Niederländers ließ aber kaum Raum für die Mitgestaltung durch Andersdenkende. Hier war Chalmers durch den Einfluss der demokratischen Puritaner pluralistischer. Van Prinsterer 97 Vgl. Wichern: Sämtliche Werke I, 281. 98 Vgl. Holl: Chalmers, 431. 99 Wichern: Sämtliche Werke I., 269 und II, 72f. 100 Es handelte sich um die Armen-Töchter-Anstalt, die Kinderbewahranstalt, den Verein für entlassene Sträflinge, das Knaben-Rettungshaus, den Armenverein, ein mit letzterem verbundenes Arbeits-Komitee, eine Leseanstalt, eine Sparkasse und ein Frauen-Nähverein. Wichern, Sämtliche Werke II, 72*); Julius Schunck hat seine Erfahrungen auch in folgende Publikation einfließen lassen: Die Armenpflege vom christlichen Standpunkt und ihr Verhältnis zu Kirche und Staat, erschienen in Erlangen 1850. Vgl. Wichern: Sämtliche Werke I, 430 Anmerkung 211. 101 Wichern: Sämtliche Werke II, 72. 102 Anders Detzler, er behauptet einen grundlegenden Einfluss Chalmers auf Fliedners Konzept (Detzler: Contributors, 488f), belegt ihn aber durch keine Quelle, sondern verweist hier nur auf Martin Gerhardt (Gerhardt: Fliedner I, 255f). An der angegebenen Stelle erwähnt Gerhardt allerdings nur die Tatsache des Besuches Fliedners bei Chalmers und dass „die wenigen Notizen, die sich bei Fliedner darüber finden [. . .] doch deutlich“ zeigen, „daß dem scharfen Beobachter der schottischen Kirche dies großgedachte Liebeswerk damals noch nachhaltigen Eindruck gemacht hat.“ Detzler stellt noch die These auf, Chalmers Arbeit in Glasgow habe Adelbert von der Recke als Vorbild seines Rettungshauses gedient. (Detzler: Contributors, 523) Auch diese Behauptung stützt er nur auf Sekundärliteratur. 103 Vgl. Furgol: Poor Relief Theories, 382. 104 Zur Chalmersrezeption in den Niederlanden, vgl. Berg, Johannes van den: The Evangelical Revival in Scotland and the nineteenth-century „Réveil“ in the Netherlands, in: Records of the Scottish Church History Society 26 (1994), 309–337; Zu Groen van Prinsterer ebd., 319–321, vgl. auch: Gäbler: Evangelikalismus, 71f.

249

war viel mehr als sein schottischer Zeitgenosse dem theokratischen Ideal der calvinistischen Reformation verpflichtet. Er konnte auch nicht so wie der Schotte, seine Vorstellungen in einer Kirche modellhaft in die Tat umsetzen. Von der Erweckungsbewegung bestimmte Landeskirchen gab es in den Niederlanden nicht.105 Die Aktivitäten der Erweckten waren hier auf Projekte beschränkt, die Parallelstrukturen zu den kirchlichen Institutionen bildeten. Ein Beispiel der Chalmersrezeption findet sich auch in Frankreich. Im Jahr 1833 wurde hier ein Gesetz verabschiedet nach dem 40.000 neue Schulen errichtet werden sollten. Im Zuge dieser Maßnahme sandte die Regierung einen gewissen Wallace nach Schottland, um insbesondere auch das kirchliche Schulsystem in Augenschein zu nehmen. Wallace besuchte die St. Johns-Schulen und erhielt dort zudem einige von Chalmers Publikationen.106 Auch Vertreter des Genfer Réveil hielten ebenfalls Kontakt zu Chalmers. 1845 reiste der Kirchenhistoriker Jean Henri Merle d’Aubigné (1794–1872) eigens nach Schottland, um ihn zu treffen.107 Die Wirkungsgeschichte Chalmers im englischen Sprachbereich ist kaum zu überblicken. Es kann davon ausgegangen werden, dass ein halbes Jahrhundert lang seine dreibändige Publikation The Christian and Civic Economy of Large Towns (1821–26) insbesondere in Großbritannien als Standardwerk galt für aufsuchende missionarische wie diakonische Arbeit. Boyd Hilton konstatiert: „Es wäre nicht schwierig, eine lange Liste von Sozialreformern aufzustellen, die durch Chalmers inspiriert wurden und die versuchten, seinem Beispiel zu folgen.“108 Einige signifikante Beispiele für die Bereiche, in denen er rezipiert wurde, seien hier genannt. Bereits 1821 wurden in Edinburgh sowohl ein Sonntagsschulverein als auch ein Jugendmissionsverein gegründet, die beide nach Chalmers Prinzipien vorgingen.109 Auf seiner Englandreise im Jahr 1822110 besuchte Chalmers u. a. Liverpool, Manchester, Stockport, Birmingham und Bristol und knüpfte dort Kontakte zu Menschen, die in der staatlichen Armenfürsorge tätig waren. Hieraus resultierten z. T. langjährige Beziehungen. Einige der auf dieser Reise besuchten Personen wurden zu wichtigen Multiplikatoren seines Ansatzes in England. 1830 erreichte Chalmers ein Brief eines John Blackburn, den Sekretär der London Christian Instruction Society. Er berichtete, dass sie es sich zur Aufgabe gemacht hatten, das 105 „In den Niederlanden kam das schottische Model einer Allianz zwischen Kirche und Erweckung nie zustande.“ „In the Netherlands, the Scottish model of an alliance between church and revival never materialized.“ Berg: Evangelical, 337. 106 Vgl. William Collins and Thomas Chalmers am 2. Oktober 1834, Chalmersarchiv CHA 4.202.34. 107 Drummond, Andrew L.: The Kirk and the Continent, Edinburgh 1956, 222. 108 „It would not be difficult to compile a long list of social reformers who were inspired by Chalmers and tried to follow his example.“ Hilton: Atonement, 85. 109 Vgl. Scottish Missionary Register, 2, Januar 1821, 7–10; April 1821, 123, 131–136. 110 Vgl. 7.3 und 7.6.

250

Konzept, welches Chalmers in The Christian and Civic Economy beschrieben hatte, als „System wohltätiger Offensive“111 auf die Vereinsdiakonie zu übertragen. Blackburn gab an, dass in seinem Verein über 1000 Ehrenamtliche mehr als 26 000 Familien zweimal monatlich besuchen würden. Im strengen Winter 1829/30 wären über 1500 Familien materiell unterstützt worden und das Londoner Vorbild sei überall in England von „aktiven Christen“ kopiert worden.112 Weitere Briefe an Chalmers belegen, dass in der Tat dieses Vorbild in London selbst und in Liverpool aufgenommen wurde.113 Der Verein in Liverpool trug den gleichen Namen wie die schon Ende des 18. Jahrhunderts gegründeten Vereine: Society for Bettering the Conditions of the Poor. Auch hier wurde die Stadt in Distrikte aufgeteilt, die von Ehrenamtlichen systematisch besucht wurden, um die Lebensbedingungen der Armen genau in Erfahrung zu bringen und Abhilfe zu schaffen. Armenfürsorger von Kirchengemeinden griffen ebenfalls das in Christian and Civic Economy publizierte Modell auf. Zachary Macaulay und sein Freund W. Dealty schrieben an Chalmers von der Rezeption seiner Ideen in der Gemeinde Clapham sowie Plänen zur ihrer Umsetzung in einer Deptforder und Brightoner Gemeinden.114 Neben Presbyterianern und Anglikanern beeinflusste Chalmers auch die Freikirchen in Großbritannien. So schlug Jabez Bunting (1779–1858), der spätere Präsident des ersten methodistischen Seminars in England auf einer Konferenz seiner Kirche vor, Chalmers Prinzip der Lokalität im ganzen Land umzusetzen. Der Vorschlag fand allgemeine Zustimmung und beeinflusste hinfort vor allen Dingen die Missionsmethoden der Methodisten in Großbritannien.115 Checkland hebt hervor, dass die Professionalisierung der Sozialarbeit eine notwendige Folge von Chalmers Forderung war, die Informationen über die Betroffenen zu sammeln und sie auf eine unterstützenden Weise zu begleiten.116 Armenhilfe, bei der die Bedürftigen in ihren vielfältigen sozialen Bezügen wahrgenommen werden, bekam später die 111 „system of benevolent aggression“. 112 Brief vom 20.4.1830 J. Blackburn an Thomas Chalmers, (Chalmersarchiv CHA 4.132.38) zit. n. Furgol: Poor Relief Theories, 369. 113 Ebd. 114 Vgl. Furgol: Poor Relief Theories, 371. Furgol verweist auf folgende Briefe im Chalmersarchiv CHA 4.21.44, 4.21.46, 4.21.50, 24. Januar, 22. April, 21 September 1822 Z. Macaulay an Thomas Chalmers; 4.33.15, 1 November 1824, 4.72.13, 30. Juni 1827 W. Dealty an Thomas Chalmers. 115 Vgl. Furgol: Poor Relief Theories, 375f; Am 27. Februar 1822 schrieb Bunting an Chalmers: „Ihr Konzept der Lokalität hat einen mächtigen Eindruck auf viele Leute hier gemacht und es gibt eine starke Neigung dazu, es in einigen der verwahrlosesten Bezirken unserer Metropole anzuwenden.“ „Your plan of locality has made a powerful impression on many people here; and there is a strong disposition to apply it to some of the most wretched districts of our metropolis.“ Zit. n. Roxborogh: Mission of the Church, 229. 116 Checkland: British, 137; Vgl. Mechie, Steward: The Church and Scottish Social Development, 1780/1870, Oxford u. a. 1960, 61–63.

251

Bezeichnung Case Work. Die Anfänge dieses heute differenzierten Ansatzes lassen sich in Großbritannien bis auf Thomas Chalmers zurückverfolgen.117 Der Einfluss auf die soziale Arbeit in den USA setzte vergleichsweise spät ein. Mark Noll gibt zwar an, dass in Chalmers Todesjahr bereits mehr als siebzig Ausgaben seiner Publikationen in Amerika erschienen waren. Dennoch war das Echo, das seine Ideen zu seinen Lebzeiten in den Vereinigten Staaten fanden, eher bescheiden und nicht zu vergleichen mit der Rezeption seines Ansatzes auf den britischen Inseln.118 Erst an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde Chalmers Bedeutung für die Methodik von Hausbesuchen und eine differenzierte Erfassung des Umfelds der Betroffenen auch in den USA wahrgenommen. So wies Washington Gladden mehrfach auf seine Bedeutung als Vorläufer der aufsuchenden Diakonie seiner Zeit hin.119 Charles Henderson veröffentlichte im Jahr 1900 erneut eine gekürzte Ausgabe von Chalmers Christian and Civic Economy of Large Towns. Mary Richmond, die einen wesentlichen Beitrag zur Theoriebildung der sozialen Arbeit leistete, nannte Chalmers 1917 den „Vorläufer“ der modernen Sozialarbeit, der die systematische empirische Untersuchung der Fälle in die soziale Arbeit eingeführt hat.120 Insgesamt war die Chalmersrezeption über weite Strecken von einer selektiven Wahrnehmung bestimmt. Allein sein Konzept aufsuchender Diakonie fand ein internationales Echo. Chalmers selbst war nicht ganz unschuldig an dieser Tatsache. Wenigstens zum Teil war seine Rhetorik dafür verantwortlich, dass die ganze Breite seines Ansatzes nicht gesehen wurde. Die zahlreichen Schriften über die St. Johnsgemeinde und ihre Armenpflege suggerierten, dass vor allem durch solche Gemeinden und ihre Methoden die soziale Sicherungen gewährleistet werden könnte. Die Überlegungen zu einer darüber hinausgehenden notwendigen Reform der Kirche und Gesellschaft121 hat er hier kaum betont. So konnte etwa seine Behauptung eines Rechts auf angemessene Entlohnung aller Arbeiter kaum Gehör finden. Dessen Umsetzung in der von Chalmers entfalteten Weise hätte in der Tat das Ende der Massenarmut bedeutet. Eine ganze Schicht von den heute so genannten working poor sollte es seiner Meinung nach nicht mehr geben.122 Die Chalmersforschung der letzten Jahrzehnte 117 Vgl. Furgol: Poor Relief Theories, 378, 407; McCaffrey: Social Change, 49. 118 Ebd., 768. 119 Z. B. Gladden, Washington: Social Salvation, Boston 1902, 237; ders.: The Christian Pastor and the Working Church, New York 1906, 450. 120 Richmond, Mary E.: Social Diagnosis, New York 1917, 28. 121 Vgl. Kapitel 7. 122 Vgl. 7.5 Martin Friedrichs Aufsatz über die Forderung einer kirchlichen Armenpflege in Deutschland um 1850 ist ein Beispiel dafür, wie das emanzipatorische Moment in Chalmers Konzept bis heute ausgeblendet werden kann. Friedrich behauptet, dass Chalmers, so wie viele seiner Zeitgenossen in Deutschland, die Armen in ihrer Rolle fixieren

252

zeigt etwas von seiner Rezeption in der Gegenwart. Immerhin sind neun Dissertationen über ihn seit dem 2. Weltkrieg geschrieben worden.123 Offenbar vermag sein Ansatz insbesondere dem reformierten englischsprachigen Protestantismus noch Impulse zu geben.

8.4 Zusammenfassung Insgesamt war die Chalmersrezeption über weite Strecken von einer selektiven Wahrnehmung bestimmt. Allein sein Konzept aufsuchender Diakonie fand ein internationales Echo. Dieses konnte – allerdings in modifizierter Form – vielerorts in wesentlich größeren Dimensionen realisiert werden, als bei Chalmers eigenen Projekten. Das augenfälligste Beispiel in Deutschland ist hierfür das 1853 in Elberfeld neu eingeführte Armenpflegesystem. Chalmers Gedankengut kam durch Ludwig Felder, den Pfarrer der lutherischen Gemeinde in Elberfeld, in die Stadt. 1847 hatte er eine Schrift veröffentlicht, in der Hauptgedanken der Chalmersschen Gemeindediakonie zusammengefasst waren. Das Elberfelder Armenpflegesystem war über weite Strecken vom Ansatz des Schotten geprägt: Die Sozialarbeit wurde individualisiert, jeder Einzelfall sollte genau geprüft werden. Nachbarschaftliche und familiäre Unterstützung hatte Vorrang vor städtischer Hilfe. Die Armenpfleger waren angehalten, zuerst Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten und die Betroffenen bei der Arbeitssuche zu unterstützen. Neben Felder integrierte auch Johann Hinrich Wichern wesentliche Gedanken Chalmers in seinen Ansatz. Vor allem in seiner Denkschrift aus dem Jahr 1849 und in seinen 1855 und 56 verfassten Texten über die Armenpflege, finden sich viele Motive des Schotten wieder. Hier hat Chalmers seinen deutschen Zeitgenossen mindestens bestärkt in seinen Überzeugungen, wenn ihr Ursprung nicht sogar bei ihm zu suchen ist. Wichern vertrat ein dreifach gegliedertes Modell der Armenfürsorge. Die gesetzliche oder bürgerliche, die amtlich-kirchliche und die freiwillige oder private Hilfe sollten sich ergänzen. Bei dem Zuschnitt der kirchlichen Armenpflege ist mehr als irgendwo sonst das Vorbild der Glasgower St. Johnsgemeinde zu erkennen. Die dreifache Gliederung der Diakonie weist auch als solche Parallelen zu Chalmers Ansatz auf. Zwar weniger wollte, „damit die Kirche ihnen ihren Dienst tun konnte“. Den Begriff der „Gerechtigkeit“ hätten er und seine deutschen Anhänger aus dem Zentrum der Argumentation um das Armutsproblem verbannen wollen und durch die „Liebe“ ersetzen wollen. (Friedrich: Armenpflege, 40, 42) Chalmers lehnte tatsächlich ein Recht auf Sozialhilfe ab – hier war er zu kurzsichtig – aber Löhne, die es nicht mehr ermöglichten Rücklagen zu bilden, hielt er für Unrecht. Auch zielte die intensive Begleitung der Bedürftigen in der St. Johnsgemeinde darauf ab, den Betroffenen soweit das möglich war, schnell wieder zu einem selbstständigen Leben jenseits der Armut zu verhelfen (Vgl. 6.4). 123 Vgl. 1.3.

253

differenziert als Wichern vertrat er ebenfalls einen Vorrang der privaten vor der kirchlichen Hilfe und eine Ergänzung dieser durch die staatliche Fürsorge. Darüber hinaus wurde Chalmers in Deutschland auch Mitte des 19. Jahrhunderts während der Diskussionen um die kirchliche Armenpflege und den Diakonat der Kirche rezipiert. Der Ruf nach einer Neubelebung des Diakonenamtes war von sehr unterschiedlichen Intentionen geleitet. Das Spektrum reichte von einer Reform der klerikalen Strukturen im hochkirchlichen Sinn bis zur Aufwertung des Ehrenamten außerhalb der Kirche. Hier beriefen sich Vertreter der verschiedenen Richtungen auf den Schotten. Auch die Methodik der Stadtmissionen und die Diakonie verschiedener Kirchengemeinden in Deutschland war von Chalmers beeinflusst. Außerhalb Deutschlands wurde er auf dem europäischen Festland noch von dem Niederländer Groen van Prinsterer rezipiert, der eine christlich geprägte Gesellschaft mit einer zentralen Position der Kirche anstrebte. Seine Rezeption im englischen Sprachbereich ist kaum zu überblicken. Es kann davon ausgegangen werden, dass ein halbes Jahrhundert lang seine dreibändige Publikation The Christian and Civic Economy of Large Towns (1821–26) insbesondere in Großbritannien als Standardwerk galt für aufsuchende missionarische wie diakonische Arbeit. Die Anfänge der heute so genannten Social Case Work lassen sich hier bis auf Thomas Chalmers zurückverfolgen. Der Einfluss auf die soziale Arbeit in den USA setzte vergleichsweise spät ein. Erst an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde Chalmers Bedeutung für die Methodik von Hausbesuchen und eine differenzierte Erfassung des Umfelds der Betroffenen auch in den USA wahrgenommen.

254

9. KAPITEL

Die Bedeutung von Chalmers sozial-theologischem Ansatz für die Diakonie der Freikirchen und die ökumenische Konsequenz 9.1 Die freikirchliche Anthropologie – der soziale und mündige Mensch

9.1.1 Gemeinschaftliche Kirche und Freiwilligkeit – Propria der freikirchlichen Theologie Seit sich mit den Täufern der Reformation ein freikirchlicher Flügel des Protestantismus bildete, kennzeichnen ihn zwei Propria. Das Verständnis der Kirche als Gemeinschaft von Glaubenden und die Freiwilligkeit der Kirchenmitgliedschaft. Letzteres wird auf das Verständnis des Glaubens als frei gewählte Überzeugung zurückgeführt. Auch wenn diese beiden Aspekte in den verschiedenen Denominationen vielfältig interpretiert wurden, so bleiben sie doch bis heute die Gemeinsamkeit der Freikirchen. Eine Gemeinschaft, die auch eine verbindliche Beziehung der Mitglieder zueinander intendiert, gehört in der freikirchlichen Theologie zum Wesen Kirche.1 Weil diese Koinonia einen Ort braucht, wird in den Freikirchen die Ekklesiologie von der Gemeinde her gedacht. Nicht zufällig sind die meisten Freikirchen kongregationalistisch verfasst.2 1 Vgl. Klaus Peter Voß, Die Vereinigung Evangelischer Freikirchen auf dem Weg zur Kirchengemeinschaft? Perspektivische Anmerkungen zur neuen Präambel der VEF, in: Freikirchen Forschung 9, 1999, 188–205: 194. Der Grad der Verbindlichkeit ist von Gemeinde zu Gemeinde verschieden. Die Bedeutung, welche die Freikirchen dem Verständnis der Kirche als Gemeinschaft zumessen, kann auch daraus ersehen werden, dass es nahezu überall regelmäßiger Gegenstand von Predigten ist. 2 Selbst die Ekklesiologie der episkopal verfassten Evangelisch-methodistischen Kirche weist kongregationalistische Elemente auf. Diese gehen auf John Wesley, den Gründer des Methodismus, zurück. Er wollte zunächst keine neue Kirche gründen, sondern nur verbindliche Gemeinschaften Glaubender innerhalb der anglikanischen Kirche organisieren. Die kongregationalistische Ekklesiologie war ihm ein Vorbild für die entstehenden Methodistischen Gemeinschaften. Bewusst übernahm er den Bundesbegriff der frühen Kongregationalisten, um die Gemeinschaften als Bundesgemeinschaften entsprechend der kongregationalistischen church-covenants zu konstituieren. Vgl. Walter Klaiber/Manfred Marquardt, Gelebte Gnade. Grundriß einer Theologie der Evangelisch-methodistischen Kirche, Stuttgart 1993, 156ff.

255

Die beiden Aspekte – die Gemeinschaft und die Freiwilligkeit – wurden in den Freikirchen des puritanischen Zeitalters mit dem Verständnis der Gemeinde als covenanted community (Bundesgemeinschaft) zum Ausdruck gebracht. Die Kirche wurde als Bund verstanden, den Glaubende freiwillig miteinander schließen. In früher oder später entstandenen Freikirchen findet sich der Begriff des Bundes meist nicht an dieser Stelle. Der Sache nach vertreten sie aber die gleiche Ekklesiologie. Gemeinsam ist auch allen Freikirchen die Überzeugung, dass trotz der deutlichen Rolle, die sie den Menschen bei der Konstituierung der Kirche zumessen,3 die Gemeinde dennoch immer zuerst ein Werk Gottes ist. Niemand kommt ohne ein Wirken des Geistes Gottes zum Glauben und die Gemeinde der Glaubenden besteht aus Menschen, die Gott dazu berufen hat. Der Beitritt zu einer Gemeinde wird als menschliche Antwort auf das Reden Gottes in seinem Wort verstanden. Die Art und Weise wie nach freikirchlichem Verständnis die Menschen auf Gottes Wort Antworten sollen, impliziert eine bestimmte Anthropologie. Der Glaube wie die Gemeinde als selbstgewählte Überzeugung bzw. Gemeinschaft setzt mündige Individuen voraus, die solche Entscheidungen selbst fällen können. Die gemeinschaftliche Kirche als gottgewollte Lebensform setzt die Wahrnehmung des Menschen in seiner sozialen Dimension voraus. Von Anfang an hatte die freikirchliche Anthropologie zwei Koordinaten: Die Berufung des Menschen zur Mündigkeit und zur Sozialität. Es liegt auf der Hand, dass eine Ekklesiologie, die von solchen Kategorien mitbestimmt wird, dazu geeignet ist, die Grundlage für Leitlinien weitgespannten Handelns im sozialen und gesellschaftlichen Bereich zu sein. Zudem eröffnet sich von ihr ein theologischer Zugang zu einer partizipativen Gesellschaftstheorie. In den Abschnitten 2.3 und 2.4 wurde gezeigt, wie im 17. Jahrhundert Freikirchler diesen Zusammenhang herstellten und so einen Beitrag zum Aufbau demokratischer Strukturen in ihrem Staat leisteten. Die Geschichte der Freikirchen zeigt allerdings, dass die Potenziale der freikirchlichen Theologie auf diesem Gebiet oft nicht ausgeschöpft wurden. Erst in der jüngsten Vergangenheit finden sich eine Reihe von Ansätzen, die diese Lücke schließen wollen.4

3 Hinreichende Voraussetzung hierzu ist der Entschluss an Christus glaubender Menschen, eine Gemeinde bilden zu wollen. 4 Vgl. hierzu Beutel, Harald: Gemeinde unterwegs – Sozialtheologie und Diakonie in freikirchlicher Perspektive, in: Diakonische Kirche – Anstöße zur Gemeindeentwicklung und Kirchenreform, Arnd Götzelmann (Hg.), Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg Bd. 17, Heidelberg 2003, 273–292. Den wohl bemerkenswertesten Ansatz zeigt Miroslav Volf in seiner 1996 veröffentlichten Tübinger Habilitationsschrift. (Volf, Miroslav: Trinität und Gemeinschaft. Eine ökumenische Ekklesiologie, Mainz/Neukirchen-Vluyn 1996) Hier entfaltet er eine Ekklesiologie, die eine Brücke sein will zwischen unterschiedlichsten Traditionen. Ausgangspunkt von Volfs Überlegungen ist die freikirchliche Position, deren Kongruenzen er mit dem Kirchenverständnis anderer Kirchen auslotet und auf deren Möglichkeiten er im Horizont der Öku-

256

9.1.2 Der Stellenwert des freikirchlichen Menschenbildes für Chalmers Auch in der Sozialtheologie Thomas Chalmers findet sich bereits ein Konzept, das von den Koordinaten der freikirchlichen Anthropologie bestimmt ist. Dies hatte vor allem zwei Gründe. Zum einen weist die presbyterianische Tradition Parallelen zur freikirchlichen auf. Bereits in der Reformation Schottlands hatte die Entscheidung für die Kirche und das Verständnis der Kirche als Gemeinschaft einen größeren Stellenwert, als zur gleichen Zeit in den protestantischen Landeskirchen des europäischen Festlandes. Zwar nicht alle Kirchenmitglieder, aber immerhin doch eine ganze Reihe führender Persönlichkeiten des Landes hatten durch Bünde, die sie miteinander schlossen, den reformierten Glauben in der Church of Scotland etabliert. „Covenants“ waren auch in den darauf folgenden Jahrzehnten von vitaler Bedeutung für die Schottische Kirche. Den Höhepunkt bildete der Bund von 1638, der erstmalig auch die kirchliche Basis einbezog. Abschnitt 2.2 zeigt wie auf diese Weise das Individuum, was sich frei für seinen Glauben entscheidet und die Kirche als solidarische Gemeinschaft, welche sich gegenüber einer ihr feindlichen Obrigkeit formiert, zu einem Teil der Identität der Church of Scotland wurde. Die protestantische Kirche in Schottland wurde von Anfang an nicht nur als Institution wahrgenommen, die sich durch ein bestimmtes Bekenntnis und eine dem entsprechende Praxis auszeichnete, sondern mene hinweist. Die Art und Weise, wie Volf über die Kirche nachdenkt, ist für viele Freikirchler ungewohnt. Sein und Sendung der Gemeinde bestimmt er nicht von der Christologie her, sondern von der Trinitätslehre. (Ebd., 187) Gerade so aber gelingt es ihm, die Potenziale des freikirchlichen Ansatzes deutlich zu machen. Jede Gemeinde ist bei ihm die „geschichtliche Antizipation der eschatologischen Sammlung des ganzen Volkes Gottes.“ Im Eschaton „werden die Menschen in der vollkommenen Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott leben und in ihren gegenseitigen Beziehungen die Gemeinschaft des dreieinigen Gottes widerspiegeln. Jede Lokalkirche ist eine konkrete Antizipation dieser zweidimensionalen eschatologischen Gemeinschaft. Deswegen ist es entscheidend, die Beziehungen innerhalb einer Lokalkirche in Entsprechung zur Trinität zu denken und zu leben“ (Ebd., 193f). Entsprechend der Beziehungen der trinitarischen Personen untereinander und gegenüber der Welt zeigt sich die Bedeutung des Individuums und der Gemeinschaft in der Gemeinde. Zugleich kann hierdurch in differenzierter Weise die individuelle und soziale Dimension des Menschseins einander zugeordnet werden. – „Sozialität und Personalität“ sind nach Volf „zwei gegenseitig sich bedingende wesentliche Dimensionen des Menschseins“ (Ebd., 173). – Weil sich in der Kirche „auf eine gebrochene Weise die eschatologische Gemeinschaft des ganzen Volkes Gottes“ widerspiegelt „müssen auch ihre Institutionen der Trinität entsprechen“ (Ebd., 225). An einem Punkt gibt es nach Volf freilich noch keine Analogie zwischen den heute in eine Gemeinde integrierten Christen und der Trinität. Sie unterscheiden sich noch darin, „dass die Menschen, obwohl sie durch einander bedingt sind, nicht einfach wie die Trinität Gemeinschaft sind, sondern immer durch einen impliziten oder expliziten Bund zusammengehalten werden müssen. Es liegt in der Kreatürlichkeit der Menschen begründet, dass die ekklesiale Gemeinschaft immer eine Willensgemeinschaft ist“ (Ebd. 197). Zu den diakonietheologischen Implikationen seines Ansatzes vgl. vor allem Volf, Miroslav: The Trinity is Our Social Program. The Doctrine of the Trinity and the Shape of Social Engagement, in: Modern Theology 14.3, Oxford 1998, 403–423.

257

auch als eine Gruppe von Menschen gleicher Überzeugung. Von daher ist es auch kein Zufall, dass als sich im Zusammenhang der Aufklärung in Schottland die Gesellschaftswissenschaften zu entwickeln begannen, hier wieder das Verhältnis des Einzelnen zu dem ihn umgebenden sozialen Raum untersucht wurde. Chalmers zweidimensionale Sozialtheologie steht also in einer Tradition, deren Linie sich in seinem Land über mehrere Jahrhunderte zurückverfolgen lässt. Zweitens wurden Positionen der believers churches auch in den britischen Staatskirchen rezipiert. Die Abschnitte 2.3 und 2.4 skizzieren die Ekklesiologie der puritanischen Freikirchen, in der covenant explizit eine zentrale Kategorie war und beschreiben ihre Wirkung auf die säkularen Staatstheorien. Das 17. Jahrhundert war der erste Höhepunkt der freikirchlichen Präsenz im öffentlichen Leben Großbritanniens.5 An seinem Ende hatte durch ihr Mitwirken eine pluralistischere Gesellschaftsordnung Eingang in das Gesetzbuch gefunden. Aber auch in der anglikanischen und presbyterianischen Theologie hatten die Freikirchler ihre Spuren hinterlassen: Am Beginn des Jahrhunderts der Aufklärung gab es auf den britischen Inseln einen Konsens darüber, dass die Gesellschaft kein corpus christianum ist, sondern sich aus Menschen mit unterschiedlichen – auch atheistischen – Weltanschauungen zusammensetzt, die nicht ohne ihre Zustimmung von den Kirchen vereinnahmt werden dürfen. In Chalmers Missionsverständnis und in seiner Argumentation während der Debatte um die politische Gleichstellung der Katholiken war dieser freikirchliche Einfluss deutlich wahrnehmbar. Seinem Eintreten für die Katholikenemanzipation lag der gleiche Gedanke zu Grunde wie der Argumentation der Freikirchler des puritanischen Zeitalters für die pluralistische Strukturierung der Gesellschaft: Der Glaube ist kein Glaube, wenn nicht die Möglichkeit besteht, sich auch gegen ihn zu entscheiden, deshalb muss der Staat eine uneingeschränkte Wahlfreiheit ermöglichen. Gesetzliche Sanktionen gegenüber Vertretern bestimmter Überzeugungen sind damit nicht vereinbar. Auf bemerkenswerte Weise fanden die Mündigkeit und die Sozialität ihren Niederschlag in Chalmers Ansatz. Jedem Menschen sollte seiner Meinung nach grundsätzlich zugetraut werden, dass er die wichtigsten Entscheidungen seines Lebens selbst treffen kann. Hieraus leitete Chalmers ein Selbstbestimmungsrecht ab, von dem sein Diakoniekonzept nachhaltig bestimmt wird. So soll alle Diakonie nach Möglichkeit Hilfe zur Selbsthilfe sein. Der Würde des Menschen Rechnung zu tragen bedeutet, ihm ein Leben zu ermöglichen, das nicht fremdbestimmt ist. Hier setzte hauptsächlich Chalmers Kritik an anderen zeitgenössischen Armenhilfekonzepten an. Er lehnte das staatliche System der materiellen Sozialhilfe und die Armen5 Der zweite war um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Vgl. Bebbington, David W.: The Nonconformists Conscience. Chapel and politics 1870–1914, London/Boston/Sydney 1982, IX.

258

häuser ab, weil sie die Betroffenen in ihrer Rolle fixierten und entwürdigten. Die Armen, welche diese Angebote aus Scham nicht in Anspruch nahmen, waren ihm immer wieder ein Beleg für die Richtigkeit seines Ansatzes. Jeder, der das Potenzial dazu hatte, sollte darin unterstützt werden, sein Geschick selbst zu bestimmen. Die Verkündigung hatte u. a. die Aufgabe, den Menschen, die ihr Selbstwertgefühl verloren hatten, wieder ihre Würde bewusst zu machen. Auch die kirchlichen Schulen waren hier von zentraler Bedeutung, indem sie die Voraussetzungen für qualifizierte Tätigkeiten schufen, die nicht durch Abhängigkeit gekennzeichnet waren. Von dem grundsätzlichen Selbstbestimmungsrecht leitete Chalmers noch zwei andere Rechte ab: Das Recht auf eine angemessene Entlohnung, die es noch ermöglichte wenigstens bescheidene Rücklagen zu bilden und das Recht der Arbeiter, ihre Interessen selbst vertreten zu dürfen. Aber nicht nur im Blick auf die Armen fand der Gedanke der Mündigkeit in Chalmers Konzept seinen Niederschlag, sondern auch in der Organisation der Gemeindediakonie. Sie war getragen vom allgemeinen Priestertum. Die Arbeit sollte hauptsächlich durch ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geschehen. Nicht nur die Diakone und Presbyter, als die klassischen reformierten Ämter für Ehrenamtliche, bekamen dadurch wieder Gewicht, sondern auch andere Aufgaben wie Sonntagsschulehrerinnen und -lehrer, Besuchsdienstmitarbeiterinnen usw. Mit den Rechten, die Chalmers jedem Individuum unabhängig von seinem sozialen Status zugestand, verband er freilich auch die Pflicht, nach Möglichkeit nicht nur für sich sondern auch für die anderen Menschen in seinem Einflussbereich zu sorgen. Selbst die Ärmsten sollten nicht nur Objekte, sondern auch Subjekte der Diakonie sein. Hier wird die soziale Dimension von Chalmers Anthropologie deutlich. Der Mensch sollte immer auch als Teil einer Gruppe verstanden werden. Dem sollte die Diakonie Rechnung tragen. Als die Theoriebildung in der Sozialarbeit einsetzte, wurde Chalmers mit Recht zu den Vorläufern der Social Case Work gezählt, in der die Betroffenen in ihren vielfältigen sozialen Bezügen verortet werden und Lösungen in diesen Zusammenhängen gesucht werden. Chalmers legte zudem Wert darauf, dass die Gemeindediakonie Familien- und Verwandtschaftsstrukturen unterstützte, aber auch Beziehungsnetze in z. T. durchaus heterogenen Nachbarschaften. Wo der Gedanke der Solidarität in diesen Zusammenhängen verschüttet war, sollte er neu geweckt werden. Wo gegenseitige Hilfe bereits praktiziert wurde, sollte die Kirche dies fördern und begleiten. Die Gemeinde war für Chalmers immer auch eine Gemeinschaft, ein Netzwerk von Beziehungen. Hier zeigt sich seine Nähe zum Kongregationalismus. Kirche war für ihn vorrangig auch eine soziale Institution. Die soziale Kompetenz der Gemeinde war aber nicht nur für die Kirchgänger von Bedeutung, sondern sie war zugleich ein Teil ihrer Sendung in die Welt. Die Gemeindemitglieder sollten nicht allein füreinander Verantwortung tragen, sondern auch für die anderen Menschen 259

im Stadtteil ihrer Kirche. Solchermaßen diakonische Gemeinden hatten für Chalmers eine Schlüsselposition in der Gesellschaftsreform. Beginnend mit den einzelnen Betroffenen über sein engstes Umfeld bis zur Umgestaltung ganzer Stadtteile, sollten sie ihre Einflussmöglichkeiten geltend machen.

9.1.3 Individualität und Sozialität in der freikirchlichen Diakonie Chalmers Operationalisierung einer gleichfalls von der individuellen und der sozialen Dimension des Menschen bestimmten Sozialtheologie verweist darauf, welche methodischen Konzepte, Ziele und Themenfelder den Freikirchen in besonderer Weise entsprechen. Sie kann dieser Kirchengruppe helfen, Leitlinien für die mittlerweile vielfältigen Handlungsfelder ihrer Diakonie von ihren Propria her zu denken. Einige Beispiele können dies verdeutlichen: Diakonie als Hilfe zu einem möglichst selbstbestimmten Leben verweist auf das Verständnis der sozialen Arbeit als Empowerment. Von daher gilt es, den Handlungsspielraum der Betroffenen zu erweitern. Das Selbstbewusstsein und gegebenenfalls auch ihre schulische und berufliche Qualifikation sollte hier gezielt gefördert werden. Die Anregung und Begleitung von Selbsthilfegruppen gehört auch in diesen Zusammenhang. In ihnen wird zugleich auch der Sozialität der Betroffenen Rechnung getragen. Kleine Gruppen mit unterschiedlicher Zielsetzung finden sich von Anfang an in den Freikirchen. Empowerment als explizite Aufgabe von solchen Gemeinschaften benennt und beschreibt die ihnen innewohnende positive Dynamik. Der sozialen Dimension des Menschen trägt ferner ein Case Management in besonderer Weise Rechnung, bei dem auch der soziale Kontext der Betroffenen einbezogen ist.6 Die Koordinierung der verschiedenen Maßnahmen kann so Lösungen im Bereich ihrer Bezugsgruppen berücksichtigen. Dieser Zugang zur sozialen Arbeit stellt allerdings die Tendenz der freikirchlichen Gemeindediakonie in Frage, soziale Angebote für die Betroffenen zuerst im Umfeld der Gemeinden zu suchen. U. U. kann es jedoch sinnvoller sein, Hilfe zur Integration in Gruppen von gemeindefernen Bezugspersonen zu leisten. Die Nähe von Chalmers Gemeindediakonie zur freikirchlichen Praxis ist offensichtlich. Weder die Bedeutung der Ehrenamtlichen in seinem Ansatz ist den Freikirchen fremd, noch das Bewusstsein von der Sendung der Gemeinde in die Welt. Eine neue Perspektive eröffnet jedoch die Weise wie Chalmers der sozialen Dimension des Menschen Rechnung trägt durch die Verortung der Gemeinde in einem Stadtteil. Ihre Diakonie sollte nach Möglichkeit nicht nur Beziehungen in den Familien unterstützen, sondern auch in den Nachbarschaften. Sie sollte versuchen, nachhaltig die Lebens6 Zu Empowerment und Case Management vgl. 6.4.

260

verhältnisse in einem bestimmten Wohngebiet zu verbessern. Chalmers betonte, dass dies nicht allein ein sinnvoller Ansatz für landeskirchliche Parochialgemeinden ist. Auch Freikirchen sollten seiner Meinung nach die Verantwortung für die Menschen in einem bestimmten Viertel übernehmen. Dieser Vorschlag hilft die immer noch weitgehende Fixierung der freikirchlichen Arbeit auf bestimmte Personengruppen zu überwinden. Ärmere und weniger mobile Teile der Bevölkerung rücken so auch gezielt in den Fokus der freikirchlichen Diakonie. Das Anliegen des Schotten, jedem Menschen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, führte ihn zu dem Zusammenhang von Armut und Fremdbestimmung. So machte er das Recht auf angemessene Entlohnung geltend. Insbesondere in dem Eintreten für Gerechtigkeit im globalen Horizont kann seine Position die Argumentation der Freikirchen unterstützen. Die absolut Armen dieser Welt müssen in der Tat allein wegen ihrer Mittellosigkeit auf das Recht der Selbstbestimmung verzichten. Die Ursachen ihrer Armut finden sich nicht selten in den reichen Ländern. Hierzu gehören die Subventionen für heimische Produkte, Handelsschranken gegenüber Erzeugnissen aus Entwicklungsländern, aber auch Betriebe westlicher Unternehmen in Billiglohnländern, wo es für Arbeitnehmerinnen keine Sozialversicherungen gibt. Auch die Analyse der sklavenähnlichen Arbeitsverhältnisse unserer Gegenwart unterstreicht diese Zusammenhänge.7 Die Wahrnehmung der Betroffenen als mündige Menschen verpflichtete nach Chalmers die Armenhilfe dazu, Rollenfixierungen zu überwinden. Diese Zielvorgabe kann an jede Maßnahme der Diakonie angelegt werden. Wege aus der Armut, Arbeitslosigkeit, Sucht etc. haben Vorrang vor der zweifellos auch notwendigen Versorgung der Betroffenen.8 Chalmers Argumentation für die gesellschaftliche Gleichstellung der Katholiken verweist die Freikirchler an die theologischen Wurzeln ihres eigenen Eintretens für demokratische, pluralistisch strukturierte Gesellschaften: Das Verständnis des Glaubens als frei gewählte Überzeugung und das damit verbundene Anliegen der umfassenden Umsetzung von Religions- und Gewissensfreiheit. In der Tat hat die Geltendmachung dieses Rechtes mehr zur Folge, als nur die ungestörte Religionsausübung der verschiedenen Glaubensgemeinschaften. Sie ist im öffentlichen Raum umgesetzt ein Beitrag zur weiteren Demokratisierung der Gesellschaft. Die sie begleitende Pluralität trägt „in ihrer Öffentlichkeitsfunktion zur Heranbildung demokratischer Verhaltensnormen“ bei.9 Von Respekt und 7 Vgl. hierzu das Buch des u. a. für die gegenwärtige Sklaverei zuständigen stellvertretenden Generalsekretärs der Vereinten Nationen: Arlacchi, Pino: Ware Mensch. Der Skandal des modernen Sklavenhandels, aus dem Italienischen übersetzt v. Enrico Heinemann, München 2000. 8 Vgl. hierzu Eugster, Stefan/Pinero, Esteban/Wallimann, Isidor: Entmündigung und Emanzipation durch die soziale Arbeit. Individuelle und strukturelle Aspekte, Bern/Stuttgart/Wien 1997. 9 Geldbach: Stellung, 23.

261

Toleranz geprägter Umgang miteinander ist jedoch auch in heterogenen Gesellschaften kein Automatismus. Deshalb bedarf unsere pluralistische Gesellschaftsstruktur der „Pflege“. „Diese Pflege kann nur darin bestehen, die äußeren Rahmenbedingen mehr als bisher mit Leben zu erfüllen, damit die unterschiedlichen Gemeinschaften unter Beibehaltung ihrer je spezifischen Eigenart, aber in friedlichem Miteinander dem Gemeinwohl dienen.“10

Chalmers hat schließlich auch deutlich gemacht, dass das Eintreten für die Religions- und Gewissensfreiheit immer auch das Verständnis der Gesellschaft als corpus christianum ausschließt. Sie kann von daher als Ganze keine christliche Größe sein. Im Zusammenhang mit der Ausprägung der Europäischen Union wird heute die Frage nach dem Stellenwert der Kirchen für die Identität Europas gestellt. Der wesentliche Beitrag des Christentums für den europäischen Wertekanon ist ebenso unbestreitbar wie die Aufgabe, die den Kirchen weiterhin bei der Gestaltung der Zukunft Europas zukommt. Chalmers erinnert die Freikirchen jedoch daran, dass ihr eigener Beitrag zu dem europäischen Gesellschaftsverständnis seine pluralistische Strukturierung ist. Damit verbindet sich die Überzeugung, dass der christliche Glaube nicht dadurch gefördert wird, dass er mit Privilegien versehen wird, sondern vielmehr durch eine Gleichberechtigung aller Meinungen. Der den Freikirchen entsprechende Staat ist weder religiös noch säkularistisch, vielmehr gesteht er allen Überzeugungen zu, die Gesellschaft mitgestalten zu dürfen unter der Voraussetzung, dass dabei die Bekenntnisfreiheit für alle gewahrt bleibt. Auf diese Weise können auch die muslimischen Europäer Teil der Identität des Kontinents sein.11

9.2 Die Transzendierung der Grenzen – das Reich Gottes als Horizont der kirchlichen Diakonie 9.2.1 Die Perspektive des Reiches Gottes als Beitrag der Erweckungsbewegung zur freikirchlichen Theologie Wenn die Freikirchen heute von ihrer sozialen und gesellschaftlichen Verantwortung sprechen, dann ist dabei die eschatologische Perspektive ihr Ausgangspunkt. Am 23.04.2002 trat die Vereinigung Evangelischer Freikirchen in Schmitten-Dorfweil mit der Erklärung Herausgefordert zum sozialen Handeln an die Öffentlichkeit.12 In ihr heißt es: 10 Ders.: Mission und Ökumene, in: Freikirchen Forschung 7, 1997, 102–114: 105. 11 Der Begriff des christlichen Abendlandes braucht so nicht bei der Charakterisierung Europas bemüht werden. So können sich auch die muslimischen Bosnier, Kosovaren und Westeuropäer mit dem Begriff Europa identifizieren. 12 http://www.vef.info/erklaerungen.phtml.

262

„Mit dem Kommen Jesu ist die Gottesherrschaft für die ganze Welt unwiderruflich angebrochen. Darum hat es Verheißung, dass wir uns mit aller Kraft für die Erhaltung des Friedens, den Schutz vor Ungerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung einsetzen.“ „Wir verkündigen das Evangelium, wir helfen Menschen in Not und setzen uns für die Veränderung ungerechter Strukturen ein. Damit beginnen wir, heute schon das zu gestalten, was der neuen Welt Gottes verheißen ist.“13

So bestimmt die Erklärung den Auftrag der Kirchen im nationalen und globalen Kontext von dem Wirken Gottes her, das die Schöpfung vollendet. Felder werden aufgezählt, die Schwerpunkte des Handeln sein sollen sowie Fehlentwicklungen, welche die Kirchen verpflichten das Wort zu ergreifen, dabei soll „konstruktive Kritik aus dem Geist des Evangeliums“ geübt werden. In Abschnitt 5.2.1 wurde gezeigt, wie sich solch ein theologischer Zugang zur Mitgestaltung der Welt erst im Jahrhundert nach der Reformation eröffnete. Parallel zu den wachsenden Möglichkeiten der Bürger an der Ausprägung ihres Staates zu partizipieren, entwickelte sich eine Eschatologie, die weitgespannte Aktivitäten anstieß. Dieses Reichs-Gottes-Verständnis war wesentlich für die Dynamik der Erweckungsbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts verantwortlich. Es vermittelte ihrer Mission und ihrer Diakonie vom kleinsten Kreis bis zu Ansätzen der Gesellschaftsreform Rahmen und Ziel. Die Eschatologie der Erweckungsbewegung gehört damit zu den Vorläuferinnen der gegenwärtigen sozial-theologischen Reflexion. In den Abschnitten 3.2.1 und 3.2.2 wurde darauf hingewiesen, dass die unterschiedlichsten Kirchen in größerem oder kleinerem Umfang von der Erweckungsbewegung erfasst waren. In den freikirchlichen Gemeinden war die Identifikation mit ihr im 19. Jahrhundert nahezu flächendeckend.14 Viele waren selbst erst im Rahmen der Bewegung entstanden. Ältere Freikirchen nahmen in der Regel ihre Motive und Organisationsformen als etwas wahr, das der eigenen Tradition entsprach.15 Besonders das Missionsverständnis 13 Vgl. Mt 5,1–12. 14 Mit Ausnahme der jüngeren Gemeinden gehen fast alle in Deutschland vertretenen Freikirchen auf die Erweckungsbewegung zurück oder haben, wie die Baptisten, in ihrem Zusammenhang hier erst Fuß fassen können. Als Beispiel für eine ältere Freikirche, die weitgehend von ihr geprägt war, können die süddeutschen Mennoniten angeführt werden. Eine Arbeit, die einen Überblick über den Zusammenhang von Erweckungsbewegung und Freikirchen in Mitteleuropa vermittelt, fehlt bisher. Hier muss auf Einzeldarstellungen der Kirchen zurückgegriffen werden. Z. B. Balders, Günter: Theurer Bruder Oncken. Das Leben Johann Gerhard Onckens in Bildern und Dokumenten, Wuppertal u. Kassel 21984 und Lehnhard, Hartmut: Die Einheit der Kinder Gottes. Der Weg Hermann Heinrich Grafes (1818–1869) zwischen Brüderbewegung und Baptisten, Wuppertal 1977; Zum Verhältnis von Erweckungsbewegung und Freikirchen in Großbritannien vgl. Bebbington, David W.: Victorian Nonconformity, Bangor 1992. 15 Wolfgang Heinrichs geht sogar im Blick auf die älteren Freikirchen von einer gänzlichen Diskontinuität aus. Die gesellschaftlichen Umbrüche des 18. und 19. Jahrhunderts waren seiner Meinung nach so tiefgreifend, dass sie alle Gruppen der Gesellschaft ein-

263

der Erweckten hob darauf ab, dass der Glaube eine selbstgewählte Überzeugung ist. Hierin konnten die alten Freikirchen eine Parallele zu der Erkenntnis sehen, die zur Gründung ihrer Kirche geführt hatte. In Großbritannien wirkte das formal pluralistische Gesellschaftsbild der believers churches des 17. Jahrhunderts auch noch bei den Evangelicals nach. Sie sahen in dem Gemeinwesen ein Forum für verschiedene miteinander wettstreitende Überzeugungen. Freikirchliche Theologen positionieren sich heute unterschiedlich zu der Tradition der Erweckungsbewegung. Ein Teil von ihnen bekennt sich immer noch uneingeschränkt zu ihren Anliegen. Für nahezu alle ist sie aber ein Teil der Vergangenheit ihrer Kirche. So kann die Perspektive des Reiches Gottes als Beitrag der Erweckungsbewegung zur freikirchlichen Theologie angesehen werden. Die Erwartung der neuen Schöpfung motivierte auch die Freikirchen zu vielfältigen Aktivitäten. Gottes Handeln in der Gegenwart wurde dabei bereits von dem Ziel seiner Schöpfung her verstanden. Nicht allein in den Kirchen, sondern im globalen Horizont konnte mit seinem Wirken gerechnet werden. Nach ihrer gesellschaftspolitischen Präsens im 17. Jahrhundert hatte sich auch die Aufmerksamkeit der britischen Freikirchen auf den kleinen Kreis der Gemeinde und ihr Umfeld zurückgezogen. Durch die Eschatologie der klassischen Erweckungsbewegung eröffnete sich ihnen nun eine universale Perspektive. Die Gründung von Missionsgesellschaften war eine erste Folge davon. Das Reich Gottes als theologischer Leitbegriff ermöglichte ihnen zudem eine neue Wahrnehmung der anderen Kirchen. Die älteren Freikirchen hatten bereits ein pluralistisches Kirchenverständnis gehabt. Die Ekklesia war für sie nicht mehr eine singuläre Institution, welche alle Menschen eines geografischen Gebietes unter dem gleichen Bekenntnis vereinte. Die Freikirchler dachten Kirche im Plural. Sie setzte sich aus vielen selbstständigen Gemeinden zusammen, die sich in ihrem Bekenntnis unterscheiden konnten. Unterschiedliche christliche Kirchen am selben Ort waren für sie legitim. Die Reich-Gottes-Theologie der Erweckungsbewegung fügte zu dem Gedanken der Vielfalt noch die Perspektive der Einheit aller Christen hinzu und bereitete so die ökumenische Bewegung vor. Erstmalig wurde die konkrete Einheit der Ökumene nicht mehr im Rahmen einer einzigen Konfession gedacht. Mit dem ReichGottes-Begriff korrespondierte in der Erweckungsbewegung die Christenheit, welche sich aus Christen unterschiedlicher Bekenntnisse zusammensetzte. Nicht zufällig konnte in diesem Kontext Zinzendorf mit seiner Tropenlehre den ersten Entwurf einer ökumenischen Theologie formuschlossen. Die uns heute begegnende Gestalt der Freikirchen wäre von daher allein auf die Erweckungsbewegung zurückzuführen. (Wolfgang E. Heinrichs: Freikirchen als Antwort auf die Herausforderungen einer modernen Zeit. Eine historische Betrachtung, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde 6. 2001, 236–254: 241, 248 und ders: Kirchenform, 9ff.).

264

lieren. Institutionen der Erweckungsbewegung wie die Evangelische Allianz und der CVJM waren die Vorläufer der gegenwärtigen ökumenischen Organisationen.16 Die eschatologischen Konzepte der klassischen Erweckungsbewegung waren keine in sich geschlossenen systematisch-theologischern Entwürfe. Ihre Wahrnehmung der Geschichte als Heilsgeschichte war mitunter zu eindimensional. Jürgen Moltmann weist darauf hin, dass hier noch zu wenig die Infragestellung der gesellschaftlichen Realitäten durch das Kreuz und die Auferstehung gesehen wurde. Dennoch bescheinigt er ihnen einen „Wahrheitsgehalt“, eine „verborgene Polemik gegen einen abstrakten Materialismus und einen ungeschichtlichen Historismus.“17 Durch die vorliegende Arbeit kann die kritische Linie der erwecklichen Eschatologie noch deutlicher gesehen werden. Chalmers sprach sich nicht verborgen, sondern ganz offen gegen den Materialismus der von Adam Smiths begründeten Wirtschaftstheorie aus, welche die Politik seines Landes mehr und mehr bestimmte. Nicht grenzenloses Wachstum, sondern eine von christlicher Solidarität bestimmte Gesellschaft war für ihn der Weg zum Reich Gottes. Zudem hatte Chalmers im Gegensatz zu anderen Vertretern der Erweckungsbewegung keinen Reich-Gottes-Begriff, der die Bedeutung der Kirche relativierte.18 So konkurrierte für ihn, wie im übrigen auch für die Freikirchen, die Erweckungsbewegung nicht mit der Kirche. Das von ihr erwartete Reich gab vielmehr den gegenwärtigen Gemeinde die Bestimmung.

9.2.2 Der Horizont der Diakonie und das Marktprinzip in den Kirchen In der Erklärung von Schmitten-Dorfweil wird die Verantwortung der Einzelnen wie der Gemeinden beschrieben, ihre unmittelbare Umgebung und die Gesellschaft ihres Landes mit zu gestalten. Die Verantwortung setzt sich auf der internationalen Ebene fort. Hier soll sie „in Zusammenarbeit mit Initiativen der Kirchen, der staatlichen Entwicklungsarbeit und nichtstaatlichen Organisationen“ wahrgenommen werden. Die Erkenntnis, dass die Freikirchen bis in die Politik hinein einen prophetischen Dienst wahrzunehmen haben, war lange Zeit verschüttet. Weitge16 Zur Bedeutung der Evangelischen Allianz für die Entwicklung des ökumenischen Gedankens im 19. Jahrhundert vgl. Voigt, Karl Heinz: Die Evangelische Allianz als ökumenische Bewegung, Stuttgart 1990. 17 Moltmann, Jürgen: Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, München 71968, 63. 18 Dies gilt mit Einschränkungen für Wichern. Die von ihm vertretene Vorstellung vom Reich Gottes ist zweifellos einer der Gründe, die in Deutschland zu diakonischen Parallelstrukturen mit geringer Verbindung zu den Gemeinden geführt hat. Vgl. hierzu Schäfer, Gerhard K.: Gottes Bund entsprechen. Studien zur diakonischen Dimension christlicher Gemeindepraxis, Heidelberg 1994, 120f.

265

hend herrschte die Meinung vor, dass der geistliche Bereich von dem weltlichen getrennt werden müsste. Von daher hätten sich die Kirchen zu politischen Themen nicht zu äußern, selbst wenn sie hier gravierende Fehlentwicklungen wahrnehmen würden. In Deutschland hat vor allem die rückblickende Beschäftigung mit den diktatorischen Systemen des Dritten Reiches und der DDR zu einem Umdenken geführt.19 Die Analyse dieser Regime zeigte die Unmöglichkeit der politischen Enthaltsamkeit. Zum einen reichten ihre totalitären Strukturen partiell bis in die Kirchen hinein, wodurch die bisherige Unterscheidung von Kirche und Welt nicht mehr möglich war. Zum anderen verpflichtete das Ausmaß der Unmenschlichkeit des NS- und SED-Staates dazu, jede Möglichkeit zu ergreifen, ihr gegenzusteuern. Die für unpolitisch gehaltenen Loyalitätsbekundungen der Freikirchen während dieser Phasen gegenüber dem Staat, wurden damit als Bejahung des Status Quo und so auch der ihm zu Grunde liegenden ethischen und politischen Maxime entlarvt.20 Zweifellos hat es insbesondere in der DDR respektable Beispiele für ein kritisches Verhältnis zur staatlichen Ideologie gegeben. Aber gerade sie belegen in ihrer politischen Dimension die Unmöglichkeit der politischen Abstinenz. Was für autoritäre Regime gilt, ist in demokratischen Systemen, die selbst ihre Bürgerinnen und Bürger zur Mitverantwortung verpflichten, nicht weniger wichtig. Heute distanzieren sich die Freikirchen von der Vorstellung, dass eine Trennung von Kirche und Politik möglich und geboten sei. In der Dorfweiler Erklärung heißt es: „In der Geschichte der evangelischen Freikirchen hatte die Sorge um den Einzelnen und sein persönliches Heil immer ein großes Gewicht. Dies führte nicht selten dazu, dass der Blick für die Erfordernisse des Gemeinwesens getrübt wurde. Durch ein einseitiges Verständnis der Heiligen Schrift wurde ein Denken begünstigt, das die Glaubenden von ihrer politischen Mitverantwortung weitgehend dispensierte und sie oft unfähig machte, unheilvolle Entwicklungen zu erkennen. Auch wenn Einzelne dagegen Widerstand geleistet haben, müssen wir bekennen, dass wir als evangelische Freikirchen vor Gott und Menschen schuldig geworden sind. Diese Erkenntnis soll uns helfen, die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden.“

19 Vgl. zur gegenwärtigen Diskussion in den Freikirchen: Ritter, Heinz-Adolf: Die Mitverantwortung des Christen in Politik und Gesellschaft, in: Christsein Heute Forum 71/72, Witten 1993; Marquardt, Manfred: Freikirchliche Aspekte einer politischen Ethik, in: Freikirchen Forschung 8, 1998, 52–71; Strübind, Andrea: Die freikirchliche Forderung nach „Trennung von Staat und Kirche“ angesichts diktatorischer Systeme, in: Freikirchen Forschung 8, 1998, 86–106; Dziewas, Ralf: Eine freie Kirche in einem freien Staat. Sozialethische Perspektiven zur politischen Verantwortung einer Freikirche in der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde 4, 1999, 312–338; Geldbach, Erich: Einige Thesen zum politischen Verhalten der Freikirchen in Deutschland, in: Freikirchen Forschung 13, 2003, 98–110. 20 Vgl. hierzu auch: von Thadden: Weltferne und Staatstreue, 660.

266

Thomas Chalmers war bereits überzeugt davon, dass den Kirchen eine Schlüsselposition bei der Ausbreitung von Humanität, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt zukam. So waren sie besonders gefordert wo diese Güter in elementarer Weise fehlten. Das Thema der gesellschaftlichen Verantwortung brachte er auch in einen Dialog mit Vertretern anderer Konfessionen ein. Dabei verband ihn die Erweckungsbewegung besonders mit den Freikirchen. Den durch sie hervorgerufenen Wettbewerb auf dem kirchlichen Sektor begrüßte er ausdrücklich auch die Landeskirche würde hierdurch positive Impulse erhalten. Wie die Freikirchler betonte Chalmers ebenfalls, dass die Kirchen keinen Menschen gegen seinen Willen vereinnahmen dürfen. Er ging aber davon aus, dass der Schluss, den sie in der Regel aus dieser Erkenntnis zogen, falsch war. Das von den Freikirchlern praktizierte Marktprinzip von Angebot und Nachfrage dürfe nicht allein die Präsens der Kirchen in der Gesellschaft bestimmen.21 Hiermit hatte Chalmers eine wesentliche Ursache des begrenzten Horizontes der Freikirchen seiner Zeit benannt. Trotz ihrer rührigen Aktivitäten, konnten sie die „weißen Flecken“ auf der kirchlichen Landkarte nicht ausfüllen.22 Faktisch schlössen die Freikirchen einen großen Teil der Ärmsten von der Begleitung durch die Kirchen aus. Aufgrund ihrer Sozialisation würde die städtische Unterschicht meist nicht nach kirchlichen Angeboten fragen. Wer sie unterstützen will, müsse zunächst die Bedingungen in ihrem Umfeld verändern und u. U. die Bedürfnisse für eine diakonische Begleitung erst wecken. Heute ist der Gedanke des Wettbewerbs in allen Kirche der westlichen Welt auf dem Vormarsch. In den immer mobileren Gesellschaften werden auch die Volkskirchen zu Anbietern auf einem religiösen Markt. Traditionelle Parochialgemeinden werden in besonderen Gottesdiensten und anderen Veranstaltungen zu Personalgemeinden. Chalmers Diagnose macht deutlich, dass das Marktprinzip nicht das einzige Strukturprinzip der Kirchen sein kann, wenn sie ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden wollen. Je mehr sich eine Gemeinde beschränkt auf die Rolle als Anbieterin von Angeboten, die abgefragt werden, um so unpolitischer wird sie sein. Ihre Verantwortung reduziert sich dann nicht nur vorwiegend auf die Menschen, die selbst den Weg zu ihr finden, sie blendet zugleich auch deren Verflechtung in die größeren gesellschaftlichen Zusammenhänge aus. Für die Diakoniewerke gilt dies in gleicher Weise. Die gegenwärtige Diskussion um die Armutsorientiertheit der diakonischen Einrichtungen23 bildet auch hier einen Kontrapunkt zum Marktprinzip. Ihre Arbeitsweise sowie die Frauen und Männer, denen sie dienen, werden zudem immer von den Rahmenbindungen der Gesell21 Chalmers: Works XI, 46–53. 22 Chalmers: Works XIV, 106. 23 Vgl. hierzu Fleßa, Steffen: Arme habt ihr allezeit! Ein Plädoyer für eine armutsorientierte Diakonie, Göttingen 2003.

267

schaft mitbestimmt. Deshalb ist die Politik Teil der Diakonie. Den gesellschaftlichen Verwerfungen können die Kirchen nur entgegenwirken, wenn sie sich in die Position der Opfer dieser Entwicklung versetzen. Die vorliegende Arbeit zeigt, wie Chalmers auf den verschiedensten Ebenen die Frage nach der Integration des unteren Randes der Gesellschaft stellte. Die Erwartung von Gottes Reich schlug sich bei ihm in der Zuversicht nieder, dass die weitere Fragmentierung des Gemeinwesens verhindert werden könne und die Gräben zwischen den Schichten und Interessen zu überwinden sind. Die Kirche war seiner Meinung nach dazu verpflichtet, hier Brücken zu bauen und dabei die Anwältin der „Schutzlosen und Armen“24 zu sein, die in der Politik durch niemand anderen vertreten werden. Gegen Ende seines Lebens wurde ihm die ökumenische Konsequenz seines Ansatzes bewusst. Das, was die Christen in dieser Welt sein sollen, kann von einer Konfession allein nicht umgesetzt werden. Die Reichweite ihrer Sendung transzendiert sowohl die Praxis der Volkskirchen als auch der Freikirchen. Damals wie heute verweist der Horizont des Reiches Gottes auf die Ökumene. 9.3 Die ökumenische Konsequenz In Chalmers ökumenischer Vision fehlten noch die nichtprotestantischen Kirchen. Er entfaltete aber bereits das ganze Spektrum der zwischenkirchlichen Beziehungen. Am Anfang stand bei ihm der Dialog, zuletzt nahm auch die Kooperation mit den anderen Kirchen schon konkrete Formen an. Durch ein vernetztes Vorgehen von Gemeinden unterschiedlicher Denominationen sollte ja eine flächendeckende Begleitung der Menschen in den sozialen Brennpunkten Edinburghs gewährleistet werden. In seinen Publikationen sprach Chalmers sich darüber hinaus für eine Union der protestantischen Kirchen aus. Er sah einen direkten Zusammenhang zwischen einer „sichtbaren Einheit“ der Christen und der von Gott erwarteten Erneuerung der Welt.25 Obwohl es auch in der jüngsten Vergangenheit beachtliche Beispiele für Kirchenunionen gibt, werden sie immer noch sehr kontrovers beurteilt. Über den Sinn und die Notwendigkeit der Zusammenarbeit und des gemeinsamen Auftretens der christlichen Konfessionen gibt es heute jedoch einen weitgehenden Konsens. Bei dem Auftrag der Kirche, die Gesellschaft mit zu gestalten, ist ihre ökumenische Dimension selbst von Bedeutung. Wo es verschiedenen Denominationen gelingt, gleichzeitig ihre Unterschiedlichkeit zu respektieren und ihre Einheit deutlich zu machen – nichts anderes ist Katholizität – zeigen sie, dass sie kompetent sind, beim Zusammenwachsen Europas und der Welt zu helfen. Alle Gesellschaften differenzieren sich heute 24 Chalmers: Works XVII, 277. 25 Vgl. The Witness 26. Juni 1844.

268

zunehmend, werden heterogener. Die Politik und die Wirtschaft agieren globaler. Angesichts dieser Entwicklung hat die Kirche einen großen Vorsprung vor vielleicht allen anderen Interessengruppen. Seit vielen hundert Jahren ist sie in nahezu allen Winkeln der Erde vertreten. Kein politisches System findet sich in so vielen Ethnien, wie sie. Da die Kirche sich immer nur in inkulturierter Form manifestiert, ist gerade ihre Vielgestaltigkeit Ausdruck der Präsens in vielen Kulturen und Milieus. Christlicher Gottesdienst reicht von der Versammlung im Wohnzimmer mit Laienpredigt bis zur orthodoxen Liturgie des Johannes Chrysostomos. Volf erinnert daran, dass die neue Schöpfung „nicht erst nach der Zerstörung der alten Schöpfung als neue creatio ex nihilo“ entsteht, „sondern durch deren Erneuerung bzw. Wiedergeburt. Wie die Völker ihre ‚Herrlichkeit‘ und ihren Reichtum in das neue Jerusalem – das Volk, nicht die Stadt! – einbringen werden (Apk 21,24.26)“, so kann auch die Kirche ein Ort sein „wo das Heil der konkreten Menschen dadurch erfahren wird, dass ihre naturellen und kulturellen Besonderheiten aufgenommen, geheiligt und miteinander versöhnt werden. Diese setzt freilich die prophetische Kritik voraus, die es erst ermöglicht, in den verschiedenen Kulturen das zu identifizieren, was der eschatologischen neuen Schöpfung Gottes entspricht.“26

Beginnend bei den Ortsgemeinden bis zur Ökumene kann die Kirche so die Alternative zum Kampf der Kulturen zeigen.

26 Volf: Trinität, 265.

269

Ausblick Thomas Chalmers war für viele Menschen der Mann, der die soziale Arbeit ausschließlich in die Hände der Gemeinden legen wollte. Die vorliegende Arbeit macht deutlich, dass sein sozial-theologisches Konzept weit mehr intendierte. Ihm ging es um die Verantwortung der Kirchen bei der weiteren Entwicklung der Gesellschaft. Hierbei sollten in der Tat zuerst die Wohnviertel, in dem sich die Gemeinden befinden, in den Blick genommen werden.1 Darüber hinaus dachte Chalmers aber auch über Mechanismen nach, die im landesweiten Rahmen die Lebensbedingungen der Menschen bestimmten. Dabei interessierten ihn vor allem die Ursachen der massenhaft auftretenden Armut. Seine Analysen und Lösungsansätze gingen dann weit über den Horizont der Stadtteilarbeit hinaus. Er begann bei den Kirchen selbst mit der Frage, welche Strukturen und Verkündigungsformen die Integration der Armen in die Gemeinden ermöglichten oder verhinderten. Als Vertreter der Kirche ergriff Chalmers aber auch das Wort in der wirtschafts- und sozialpolitischen Debatte seiner Zeit. Hier wies er darauf hin, dass allein ein flächendeckendes Schulsystem sowie eine Entlohnung, die auch den Niedrigqualifizierten mehr als das Existenzminimum ermöglichte, die gesellschaftlichen Spannungen abbauen könnten. Zuletzt maß er auch dem Staat eine größere Verantwortung zu als noch in seinen Glasgower Jahren. Er sollte der „grundsätzliche Versorger“2 der Bürgerinnen und Bürger des Landes sein, für chronisch Kranke und Menschen mit Behinderungen aufkommen, gegebenenfalls Soforthilfe leisten und zumindest im Katastrophenfall mit Sondersteuern und Beihilfen regulativ in den freien Markt eingreifen. Damit stellte er – zwar erst rudimentär – schon das Konzept einer sozialen Marktwirtschaft vor. Rückblickend kann gesagt werden, dass Chalmers die Bedeutung des Staates für die Absicherung der Bevölkerung auch in seiner letzten Lebensphase noch unterschätzte. In komplexen Gesellschaften müssen seine

1 Dieses von Chalmers propagierte Prinzip der locality ist auch gegenwärtig noch einer der Schlüsselbegriffe der Diakonie im ökumenischen Horizont. Hiermit ist heute vor allem gemeint, dass die diakonische Arbeit bei den Bedürfnissen der Menschen an konkreten Orten anzusetzen hat. Vgl. Strohm, Theodor: Diakonie zwischen Gemeindepraxis und sozialstaatlicher Wirklichkeit. Zeitgeschichtliche Herleitungen – Theologische Perspektiven, in: Das Recht der Kirche, Bd. III, Zur Praxis des Kirchenrechts, Gerhard Rau/HansRichard Reuter/Klaus Schlaich (Hg.), Forschungen und Berichte der Ev. Studiengemeinschaft, Bd. 51, Gütersloh 1994, 203–237: 220, 224–227. 2 Chalmers: Economy of a Famine, 261f.

270

materiellen und regulativen Möglichkeiten beim Knüpfen des sozialen Netzen einen größeren Stellenwert haben. Dennoch waren die kirchliche Diakonie und der Sozialstaat bereits zwei aufeinander bezogene Größen. Beide sollten sich ergänzen. Damit ist bereits der Rahmen angegeben, in dem auch heute noch die Handlungsfelder und die Positionierung der Diakonie reflektiert werden sollte. Die Kirchen kooperieren in ihrem Bereich mit staatlichen Institutionen und anderen nichtstaatlichen Organisationen. Sie müssen nicht alle möglichen Aufgaben übernehmen und nicht zu allen politischen Debatten einen Beitrag leisten. Wie im frühen 19. Jahrhundert brauchen die schwächsten Glieder der Gesellschaft allerdings immer noch Fürsprecher. Wo der Sozialstaat sich veränderten Bedingungen anpassen muss, sind die Kirchen als wachsame Partner der Politikerinnen und Politiker gefordert. Chalmers betonte die Wichtigkeit der aufsuchenden sozialen Arbeit, weil er auch die verschämten Armen unterstützen wollte. Bei den Veränderungen in den Sicherungssystemen stellt sich heute auf eine neue Weise die Frage nach den Menschen, die durch Löcher des sozialen Netzes fallen. Hier wachsen den diakonischen Einrichtungen Aufgaben zu, auf die u. U. mit neuen Strukturen reagiert werden sollte. Außerhalb Mittel- und Westeuropas ist Chalmers Ansatz noch in anderer Weise relevant. Kürzlich reisten Pfarrer Helmut Reith und seine Frau Verena in ein abgelegenes Gebiet im Westen der Demokratischen Republik Kongo. Nach 18 Jahren statteten sie der Gemeinde Kazembe in der Provinz Bandundu, die sie geleitet hatten, wieder einen Besuch ab. Der Weg in das Dorf im Dschungel war diesmal beschwerlicher als damals. Das Gebiet war zwar vom Bürgerkrieg verschont geblieben, aber offensichtlich hatte sich seit Jahren niemand um die Instandhaltung der Straßen gekümmert. An ihrer ehemaligen Wirkungsstätte bot sich ihnen jedoch ein überraschender Anblick. Als sie den Ort verließen, gab es nur kleine landwirtschaftlich genutzte Felder. Jetzt aber wurden in beachtlichem Umfang die unterschiedlichsten Gemüse- und Obstsorten angebaut. Das ganze Gemeinwesen hatte sich zudem verändert. Am deutlichsten zeigte sich dies an der Rolle der Frauen. Feld- und Gartenarbeit wurde früher allein ihnen überlassen. Jetzt halfen auch Männer mit. Die Organisation von ca. 12 verschiedenen Aufgabenbereichen lag nun in den Händen eines Frauenkomitees. Dazu gehörte z. B. die Witwenversorgung, die Überwachung der örtlichen Hygiene und die Ausrichtung von Handarbeitskursen. In der Vergangenheit hatten die Menschen hier zu einem großen Teil von dem Wild gelebt, das die Männer gejagt hatten. Nachdem im Westkongo viele Tierarten fast ausgestorben sind, musste für eine neue Existenzgrundlage gesorgt werden und die Veränderungen des überkommenen sozialen Gefüges in konstruktive Bahnen gelenkt werden. Diese Aufgabe übernahm vor allem die Kirchengemeinde. Sie ist nicht nur die Trägerin der Schule und Krankenstation, auch andere Elemente der Fortentwicklung des Ortes sind auf ihre Arbeit zurückzu271

führen. Die neue Stellung der Frauen macht deutlich, dass hier ebenfalls ein Bewusstseinswandel stattgefunden hat. Was Reiths begonnen hatten, wurde von ihren einheimischen Nachfolgern fortgesetzt. Das afrikanische Dorf ist ein Beispiel für ein Gemeinwesen, dessen bescheidene Prosperität vor allem auf die Aktivität der Kirche zurückzuführen ist. Wie in dem Glasgower Modellprojekt werden die Betroffenen darin unterstützt, selbst Verantwortung zu übernehmen und die solidarische Hilfe zu organisieren. Solange es solche Regionen in der Welt gibt, in denen kein Staat die Grundversorgung der Bevölkerung garantiert, hat auch Thomas Chalmers Gemeindediakonie noch Bedeutung.

272

Literatur1 Schriften von Thomas Chalmers A Few Thoughts on the Abolition of Colonial Slavery, Glasgow 1826. A Sermon, Preached Before the Society for Relief of the Destitute Sick, in St. Andrew’s Church, Edinburgh, on the Lord’s Day, April 18. 1813, Edinburgh 1813. An Inquiry into the Extent and Stability of National Resources (Nachdruck der 1. Auflage Edinburgh 1808), in der Reihe: Thomas Chalmers: Works on Economics and Social Welfare, Pioneers in Social Welfare I, London 1995. Christian Union. Address of the Rev. Dr. Chalmers at the Bicentenary Commemoration of the Westminster Assembly, July 13, 1843, London 1843. Churches and Schools for the Working Classes, Edinburgh/London 1846. Considerations on the System of Parochial Schools in Scotland, and on the Advantage of Establishing them in Large Towns, Glasgow 1819. Die innere Welt, Übersetzung von On the Power, Wisdom and Goodness of God durch Gustav Plieninger, Stuttgart 1838. Die kirchliche Armenpflege, übersetzt und bearbeitet durch Otto von Gerlach, Berlin 1847. Dr. Chalmers and the Poor Laws. A Comparison of Scotch and English Pauperism. Evidence before the Committee of the House of Commons, on the Subject of a Poor Law for Ireland 1830 (Nachdruck der 1. Auflage Edinburgh 1911), in der Reihe: Thomas Chalmers: Works on Economics and Social Welfare, Pioneers in Social Welfare I, London 1995. Earnest Appeal to the Free Church of Scotland on the Subject of its Economics, Edinburgh 1846. How Such a Union may Beginn, and to What it May Eventually Lead, in: Essays on Christian Union, London 1845, 1–18. Letter of the Rev. Dr. Chalmers, on American Slave-Holding; with Remarks, by the Belfast Anti-Slavery Committeé, Belfast 1846. Observation on a Passage in Mr. Playfairs’s Letter to the Lord Provost of Edinburgh Relative to the Mathematical Pretensions of the Scottish Clergy, Cupar 1805. On Political Economy in Connexion with the Moral State and Moral Prospects of Society (Nachdruck der 1. Auflage Glasgow 1832), in der Reihe: Thomas Chalmers: Works on Economics and Social Welfare, Pioneers in Social Welfare I, London 1995. On Preaching to the Common People: A Sermon, Delivered at the Opening of 1 Die Übersetzungen der Zitate aus der englischsprachigen Literatur sind durch den Autor erfolgt.

273

the Dean Church, near Edinburgh, on the 15th of May 1836, Edinburgh/Glasgow/London 1836. On the Evangelical Alliance. Its Design, its Difficulties, its Proceedings, and its Prospects: with Practical Suggestions, Edinburgh/London 1846. On the Power, Wisdom and Goodness of God as Manifested in the Adaptation of External Nature to the Moral and Intellectual Constitution of Man I–II, London 1833. On the Sufficiency of the Parochial System without a Poor Rate (Nachdruck der 1. Auflage Glasgow 1841), in der Reihe: Thomas Chalmers: Works on Economics and Social Welfare, Pioneers in Social Welfare I, London 1995. Posthumous works I–IX, William Hanna (Hg.), Edinburgh 1847–1849. Problems of Poverty. Selections from the Economic and Social Writings of Thomas Chalmers, Henry Hunter (Hg.) (Nachdruck der 1. Auflage London/Edinburgh u. a. 1912), in der Reihe: Thomas Chalmers: Works on Economics and Social Welfare, Pioneers in Social Welfare I, London 1995. Report on the Poor Laws of Scotland, North British Review, Bd. IV, Edinburgh 1845, 471–514. Saving Banks, North British Review, Bd. III, Edinburgh 1845, 318–344. The Cause of Church Extension, and the Question Shortly Stated, Between Churchmen and Dissenters in Regard to it, Edinburgh/Glasgow/London 4 1835. The Christian and Civic Economy of Large Towns I–III (Nachdruck der 1. Auflage Glasgow 1821–26), in der Reihe: Thomas Chalmers: Works on Economics and Social Welfare, Pioneers in Social Welfare I, London 1995. The Evidence and Authority of the Christian Revelation, Edinburgh 1814. The Importance of Civil Government to Society, and the Duty of Christians in regard to it. A Sermon Preached in St. John’s Church, Glasgow, on Sabbath, the 30th April, 1820, Glasgow 1820. The Impotency of the Voluntary System in the Large Towns of Scotland, Tracts on Religious Establishments, Glasgow 1834. The Influence of Bible Societies, on the Temporal Necessities of the Poor, Edinburgh 31817. The Political Economy of a Famine, North British Review, Bd. XIII, Edinburgh 1847, 247–290. The Political Economy of the Bible, North British Review, Bd. II, Edinburgh 1845, 1–52. The Substance of a Speech, Delivered in the General Assembly, on Thursday, May 25, 1809, Respecting the Merits of the Late Bill for the Augmentations of Stipends to the Clergy of Scotland, Edinburgh 1809. The Supreme Importance of a Right Moral to a Right Economical State of the Community: With Observation on a Recent Criticism in the Edinburgh Review (Nachdruck der 1. Auflage Glasgow 1832), in der Reihe: Thomas Chalmers: Works on Economics and Social Welfare, Pioneers in Social Welfare I, London 1995. The Works I–XXV, Edinburgh und London 21848–54 (Nachdruck der 1. Auflage von 1836–1842). Thoughts on Universal Peace: A Sermon Delivered on Thursday, January 18. 1816, Edinburgh 21816. Tracts on Pauperism – zuerst veröffentlicht i.d. Edinburgh Review 1817 und 18

274

– (Nachdruck der 1. Aufl. Glasgow 1833), in der Reihe: Thomas Chalmers: Works on Economics and Social Welfare, Pioneers in Social Welfare I, London 1995.

Weitere Literatur 1957–1997. 40 Jahre Diakonische Arbeitsgemeinschaft evangelischer Kirchen. Vertretung der „Freikirchen“ im Diakonischen Werk der EKD, Diakonische Arbeitsgemeinschaft evangelischer Kirchen (Hg.), Stuttgart 1997. Afflerbach, Ulrich: Die Entstehung des Elberfelder Armenpflegesystems, Dipl. Arbeit am Diakoniewissenschaftlichen Institut, Heidelberg 1976. Alison, William Pulteney: Reply to Dr. Chalmers’ Objections to an Improvement of the Legal Provision for the Poor in Scotland (Nachdruck der 1. Auflage Edinburgh und London 1841), in der Reihe: Thomas Chalmers: Works on Economics and Social Welfare, Pioneers in Social Welfare I, London 1995. Amherst, W. J.: The History of Catholic Emancipation and the Progress of the Catholic Church in the British Isles from 1771 to 1820, I–II, London 1886. Andreae, Johann Valentin: Christianopolis (1619). Originaltext und Übertragung nach D.S. Georgi (1741), eingeleitet v. Richard van Dülmen (Hg.), Stuttgart 2 1982. Arlacchi, Pino: Ware Mensch. Der Skandal des modernen Sklavenhandels, aus dem Italienischen übersetzt v. Enrico Heinemann, München 2000. Assmann, Reinhard: „Schicket euch in die Zeit!“ Zum Stand der Aufarbeitung der Geschichte des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG) in der DDR, in: Freikirchen Forschung 4, 1994, 15–35. Bach, Martin: Verantwortung für die städtische Gesellschaft. Aspekte der Geschichte und gegenwärtige Schwerpunkte des sozialen Denkens der Church of England vor dem Hintergrund der urbanen Krise, Beiträge zur Diakoniewissenschaft – Neue Folge, Abschlussarbeit am Diakoniewissenschaftlichen Institut, Heidelberg 1993. Balders, Günter (Hg.): Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe. 150 Jahre Baptistengemeinden in Deutschland, Wuppertal/Kassel 21989. –: Theurer Bruder Oncken. Das Leben Johann Gerhard Onckens in Bildern und Dokumenten, Wuppertal/Kassel 21984. Baron, Rüdeger/Landwehr, Rolf (Hg.): Geschichte der Sozialarbeit. Hauptlinien ihrer Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Weinheim/Basel 1983. Barth, Karl: Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformatorischer Lehre, Zollikon 1938. Bath, Rainer: Methodismus und Politik. Die sozialen Grundsätze der Evangelisch-methodistischen Kirche als Ausdruck ihres politischen Engagements, Stuttgart 1994. Battiscombe, Georgina: Shaftesbury. A Biography of the Seventh Earl 1801–1885, London 1974. Bauckham, Richard: Art. Chiliasmus IV Reformation und Neuzeit, in: TRE VII, Berlin/New York 1981, 737–745. Bauer, Wolfgang u. a.: Der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden. Eine Selbstdarstellung, Wuppertal/Kassel 1992.

275

Beasley-Murray, Paul/Guderian, Hans: Miteinander Gemeinde bauen. Ein anderer Weg Kirche zu sein, Wuppertal/Kassel 1995. Beaupain, Lothar: Der Bund Freier evangelischer Gemeinden in der DDR und der SED-Staat. Forschungsbericht über eine erste Phase der Beziehung bis ca. 1965, in: Freikirchen Forschung 4, 1994, 84–94. Beaupain, Lothar: Eine Freikirche sucht ihren Weg. Der Bund Freier evangelischer Gemeinden in der DDR, Wuppertal 2001. Bebbington, David W./Noll, Mark A./Rawlyk, George A. (Hg.): Evangelicalism. Comparative Studies of Popular Protestantism in North America, the British Isles, and Beyond 1700–1990, New York/Oxford 1990. Bebbington, David W.: Evangelicalism in Modern Britain. A History from the 1730s to the 1980s, London u. a. 1989. – (Hg.): The Baptists in Scotland. A History, Glasgow 1988. –: The Nonconformists Conscience. Chapel and politics 1870–1914, London/Boston/Sydney 1982. –: Victorian Nonconformity, Bangor 1992. Bender, Ross T./Sell, Alan P. F. (Hg.): Baptism, Peace and the State in the Reformed and Mennonite Traditions, Waterloo 1991. Benrath, Gustav Adolf: Art. Erweckung/Erweckungsbewegungen I Historisch, in: TRE X, Berlin/New York 1982, 205–220. Benz, Ernst: Schellings theologische Geistesahnen, Mainz/Wiesbaden 1955. Berg, Carsten: Gottesdienst mit Kindern. Von der Sonntagsschule zum Kindergottesdienst, Gütersloh 1987. Berg, Johannes van den: Constrained by Jesus’ Love. An Inquiry Into the Motives of the Missionary Awakening in Great Britain in the Period Between 1698 and 1815, Kampen 1956. –: The Evangelical Revival in Scotland and the nineteenth-century „Réveil“ in the Netherlands, in: Records of the Scottish Church History Society 26 (1994), 309–337. Berger, Giovanna: Die ehrenamtliche Tätigkeit in der Sozialarbeit – Motive, Tendenzen, Probleme – dargestellt am Beispiel des Elberfelder Systems, Frankfurt a. M. 1979. Berger, Peter L.: Pluralistische Angebote: Kirche auf dem Markt?, in: Osnabrück 1993. Bericht über die Tagung der achten Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 7. bis 12. November 1993, Hannover 1994, 153–165. Bericht zur Weiterentwicklung der ehrenamtlichen sozialen Arbeit in Wuppertal. Reform des Ehrenamtlichen Sozialdienstes der Stadt Wuppertal, Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal, Geschäftsbereich Soziales & Kultur, Ressort 201 – Sozialplanung (Hg.), Wuppertal 1997. Berneburg, Erhard: Das Verhältnis von Verkündigung und sozialer Aktion in der evangelikalen Missionstheologie, Wuppertal 1997. Berry, Christopher J.: Social Theory of the Scottish Enlightenment, Edinburgh 1997. Berufen – Beschenkt – Beauftragt. Das evangelisch-methodistische Verständnis von Kirche, Theologische Kommission des Europäischen Rates der Evangelisch-methodistischen Kirche (Hg.), Stuttgart/Zürich 1991. Berufen zu Liebe und Lobpreis. Das Wesen der christlichen Kirche in methodistischer Erfahrung und Praxis, Konferenzpapier der Britischen Methodisti-

276

schen Kirche 1999, Medienwerk der Evangelisch-methodistischen Kirche (Hg.), Stuttgart 2000. Best, Ernest E.: Religion and Society in Transition. The Church and Social Change in England, 1560–1850, New York/Toronto 1982. Betz, Ulrich: Leuchtfeuer und Oase. Aus 100 Jahren Geschichte der Freien evangelischen Gemeinde Hamburg und des Diakonissenmutterhauses „Elim“, Witten 1993. Beutel, Harald: Gemeinde unterwegs – Sozialtheologie und Diakonie in freikirchlicher Perspektive, in: Diakonische Kirche – Anstöße zur Gemeindeentwicklung und Kirchenreform, Arnd Götzelmann (Hg.), Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg Bd. 17, Heidelberg 2003, 273–292. Beyreuther, Erich: Die Erweckungsbewegung, Göttingen 1963. –: Die große Zinzendorf Trilogie, Marburg 1988. –: Geschichte der Diakonie und Inneren Mission in der Neuzeit, Berlin 31983. –: Geschichte des Pietismus, Stuttgart 1978. Blumhardt, Johann Christoph: Hausandachten für alle Tage des Kirchenjahrs I, Karlsruhe 1886. Blumhardt, Johann Christoph: Predigtblätter aus Bad Boll I, Stuttgart 1879. Boyd, Stephen B.: Pilgram Marpeck his Life and Social Theology, Durham 1992. Boyle, Robert: Works of the Honourable Robert Boyle, London 1772. Brachlow, Stephen: The Communion of Saints. Radical Puritan and Separatist Ecclesiology 1570–1625, Oxford u. a. 1988. Brackney, William Henry: The Baptists, New York/Westport/London 1988. Bradley, Ian: The politics of Godliness. Evangelicals in Parliament 1784–1832, Dissertation Universität Oxford 1974. Brecht, Martin u. a. (Hg.): Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert, Geschichte des Pietismus II, Göttingen 1995. Broadie, Alexander (Hg.): The Scottish Enlightenment. An Anthology, mit einer Einleitung v. Alexander Broadie, Edinburgh 1997. Brotherstone, Terry (Hg.): Covenant, Charter, and Party. Traditions of Revolt and Protest in Modern Scottish History, Aberdeen 1989. Brown, Callum G.: Art. Pew Rents, in: Dictionary of Scottish Church History and Theology, Nigel M. de S. Cameron u. a. (Hg.), Edinburgh 1993, 655. –: The Social History of Religion in Scotland since 1730, London 1987. –: The Sunday-school movement in Scotland, 1780–1914, in: Records of the Scottish Church History Society, 21/1, Edinburgh 1981, 3–26. Brown, Steward J./ Fry, M. (Hg.), Scotland in the Age of the Disruption, Edinburgh 1993. Brown, Steward J.: The Disruption and Urban Poverty: Thomas Chalmers and the West Port Operation in Edinburgh, 1844–47, in: Records of the Scottish Church History Society XX, 1978, 65–89. –: Thomas Chalmers and the Godly Commonwealth in Scotland, Oxford 1982. –: Thomas Chalmers, in: Gestalten der Kirchengeschichte. Die neueste Zeit I, Martin Greschat (Hg.), Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1985, 172–186. Brühlmeier, Daniel: Schottische Aufklärung, A hotbed of genius, Berlin 1996. Bruijn, Jacob de: Thomas Chalmers en zijn kerkelijk Streven (Dissertation Universität Utrecht), Nijkerk 1954.

277

Bulloch, James/Drummond, A. L.: The Scottish Church 1688–1843. The Age of the Moderates, Edinburgh/St. Andrews 1973. Burleigh, J.H. S.: A Church History of Scotland, London/New York/ Toronto 3 1973. Burns, R.: Historical Dissertation on the Law and Practice of Great Britain, and particularly of Scotland, with regard to the Poor, Edinburgh 1819. Cage, R. A./Checkland, E. O. A.: Thomas Chalmers and Urban Poverty. The St. John’s Parish Experiment in Glasgow, 1819–1837, in: The Philosophical Journal 13, 1976, 37–56. Calvin, Jean: Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis, Nach der letzten Ausgabe übersetzt und bearbeitet von Otto Weber, Neukirchen-Vluyn 51988. Carwardine, Richard: Transatlantic Revivalism. Popular Evangelicalism in Britain and America 1790–1865, Westport/London 1978. Checkland, Sydney: British public policy 1776–1939. An economic, social and political perspective, Cambridge u. a. 1983. Cheyne, Alexander: Art. Chalmers, Thomas, in: Dictionary of Scottish Church History and Theology, Nigel M. de S. Cameron u. a. (Hg.), Edinburgh 1993, 158–161. – (Hg.): The Practical and the Pious. Essays on Thomas Chalmers (1780–1847), Edinburgh 1985. Cliff, Philip B.: The rise and development of the Sunday School Movement in England: 1780–1980, Redhill 1986. Cochrane, James: The Manual of Family and Private Devotion; Consisting of Prayers, Original and Selected, with a Preface by Thomas Chalmers, Edinburgh u. a. 1838. Coggins, James Robert: John Smyth’s Congregation. English Separatism, Mennonite Influence, and the Elect Nation, Waterloo/Scottdale 1991. Coreth, Emerich/Schöndorf, Harald: Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart/Berlin/Köln 32000. Costas, Orlando E.: Christ Outside the Gate. Mission Beyond Christendom, Maryknoll 1982. –: Liberating News. A Theology of Contextual Evangelisation, Grand Rapids 1989. –: The Church and its Mission: A Shattering Critique from the Third World, Wheaton 1974. Cowan, Ian B.: The Scottish Covenanters 1660–1688, London 1976. –: The Scottish Reformation. Church and Society in sixteen century Scotland, London 1982. Currie, Robert/Gilbert, Alan/Horsley, Lee: Churches and Churchgoers. Patterns of Church Growth in the British Isles Since 1700, Oxford 1977. Daiches, David/Jones, Jean/Jones, Peter (Hg.): The Scottish Enlightenment 1730–1790. A Hotbed of Genius, Edinburgh 21996. Dale, R. W.: History of English Congregationalism, London 1907. Dallimore, Arnold: Forerunner of the charismatic movement: The Life of Edward Irving, Chicago 1983. Davies, Gareth/Ritchie, Lionel A.: Dr. Chalmers and the University of Glasgow, in: Records of the Scottish Church History Society, 20/3, Edinburgh 1980, 211–222.

278

Deppe, Leonhard (Hg.): Wichern-Bibliothek. Bücher aus dem Besitz von Johann Hinrich und Johannes Wichern in der Bibliothek des Diakonischen Werkes der EKD – Bestand Berlin. Katalog, Neustadt a.d. Aisch 1995. Detzler, Wayne Allen: British and American Contributors to the ’Erweckung’ in Germany 1815–1848, Dissertation Manchester 1974. Deutschmann, Stefan: Mission und Diakonie im Herzen der Stadt. Von den Anfängen der Stadtmissionsarbeit und ihre Entwicklung im britischen Methodismus, Beiträge zur Diakoniewissenschaft – Neue Folge Bd. 40, Diplomarbeit am Diakoniewissenschaftlichen Institut, Heidelberg 1995. Dexter, Henry Martyn: Congregationalism of the Last Three Hundred Years, New York 1880. Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche. In authentischen Texten mit geschichtlicher Einleitung und Register, E. F. Karl Müller (Hg.), Leipzig 1903. Dietrich, Wolfgang (Hg.): Ein Act des Gewissens. Dokumente zur Frühgeschichte der Freien evangelischen Gemeinden, Geschichte und Theologie der Freien evangelischen Gemeinden II, Witten 1988. – (Hg.): Ein Act des Gewissens. Erinnerungen an Hermann Heinrich Grafe, Geschichte und Theologie der Freien evangelischen Gemeinden I, Witten 1988. Dietrich, Wolfgang/Ritter, Heinz-Adolf (Hg.): Freie evangelische Gemeinde vor und nach der Mauer. Rückblick-Einsicht-Hoffnung, standpunkte-christsein heute, Heft 1/2, Witten 1995. Dodds, James: Thomas Chalmers, A Biographical Study (Nachdruck der 1. Auflage Edinburgh 1870), in der Reihe: Thomas Chalmers: Works on Economics and Social Welfare, Pioneers in Social Welfare I, mit einer neuen Einleitung von David Gladstone, London 1995. Drummond, Andrew L.: The Kirk and the Continent, Edinburgh 1956. Dupré, Louis/Meyendorff, John/Saliers, Don E.: Geschichte der christlichen Spiritualität III, Die Zeit nach der Reformation bis zur Gegenwart, Würzburg 1997. Durnbaugh, Donald F.: The Believers’ Church. The History and Character of Radical Protestantism, Scottdale (Pennsylvania) u. a. 1985. Dziewas, Ralf: Die Sündhaftigkeit sozialer Systeme. Perspektiven für eine freikirchliche Interpretation der Gesellschaft, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde 1, 1996, 80–94. –: Eine freie Kirche in einem freien Staat. Sozialethische Perspektiven zur politischen Verantwortung einer Freikirche in der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde 4, 1999, 312–338. Ebeling, Rainer: Dietrich Bonhoeffer und Freikirchen. Bericht zur Jahrestagung des VEfGT, in: Freikirchen Forschung 7, 1997, 217–233. –: Dietrich Bonhoeffers Ringen um die Kirche. Eine Ekklesiologie im Kontext freikirchlicher Theologie, Giessen/Basel 1996. Edwards, Jonathan: A Treatise Concerning Religious Affections, John E. Smith (Hg.), Yale University Press (Nachdruck der 1. Auflage von Boston 1746), New Haven 31976. –: The Works of President Edwards I–X, (Bd. I–VIII Nachdruck der Ausgabe von London 1817, Bd. IX–X Nachdruck der Ausgabe von Edinburgh 1847) Burt Franklin research and source works series 271, New York 1968. –: Freedom of the Will, Paul Ramsey (Hg.), Yale University Press, New Haven/London 51979.

279

Egelkraut, Helmuth: Die Zukunftserwartung der pietistischen Väter, Giessen/Basel 1987. Eisenblätter, Winfried Helmut: Carl Friedrich Adolph Steinkopf (1773–1859). Vom englischen Einfluß auf kontinentales Christentum zur Zeit der Erweckungsbewegung, Zürich 1974. Elazar, Daniel J.: Covenant and Civil Society. The Constitutional Matrix of Modern Democracy, The Covenant Tradition in Politics Bd. IV, New Brunswick/London 1998. –: Covenant and Commonwealth. From Christian Separation through the Protestant Reformation, The Covenant Tradition in Politics Bd. II, New Brunswick/London 1996. –: Covenant and Constitutionalism. The Great Frontier and the Matrix of Federal Democracy, The Covenant Tradition in Politics Bd. III, New Brunswick/London 1998. Elliot, Edward Bishop: Horae Apocalypticae: or, A commentary to the Apocalypse, critical and historical I–IV, London 1844. Endelman, Todd M.: The Jews of Britain, 1656 to 2000, Berkeley/Los Angeles/ London 2002. Enright, William G.: Urbanization and the Evangelical Pulpit in NineteenthCentury Scotland, in: Church History 47, 1978, 400–407. Erdlenbruch, Ernst Wilhelm/Ritter, Heinz-Adolf: Freie evangelische Gemeinden, Witten 61995. Ernst, Karsten: Auferstehungsmorgen. Heinrich A. Chr. Hävernick Erweckung zwischen Reformation Reaktion und Revolution, Gießen und Basel 1997. Escott, Harry: A History of Scottish Congregationalism, Glasgow 1959. Eugster, Stefan/Pinero, Esteban/Wallimann, Isidor: Entmündigung und Emanzipation durch die Soziale Arbeit. Individuelle und strukturelle Aspekte, Bern/Stuttgart/Wien 1997. Evanston-Dokumente: Berichte und Reden auf der Weltkirchenkonferenz in Evanston 1954, Focko Lüpsen (Hg.), Witten 1954. Everett, William Johnson: Gottes Bund und menschliche Öffentlichkeit, Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt v. Gerd Decke, Ökumenische Existenz heute Bd. 8, München 1991. Fechner, Bernd: Mission in der Industrie. Die Geschichte kirchlicher Industrieund Sozialarbeit in Großbritannien, Frankfurt a. M. u. a. 1994. Feldner, Ludwig: Grundzüge der christlichen Armenpflege nach Anleitung der „kirchlichen Armenpflege von Chalmers, übersetzt von O. von Gerlach“, Elberfeld 1847. Ferguson, W.: Social problems of the nineteenth century, in: Scottish Historical Review, 1961. Finlayson, Geoffrey B.A. M.: The Seventh Earl of Shaftesbury 1801–1885, London 1981. Fleßa, Steffen: Arme habt ihr allezeit! Ein Plädoyer für eine armutsorientierte Diakonie, Göttingen 2003. Förster, Winfried: Thomas Hobbes und der Puritanismus. Grundlagen und Grundfragen seiner Staatslehre, Hamburg 1969. Francke, August Hermann: Der große Aufsatz (1704), O. Podczeck (Hg.), Berlin 1962. Fraser, W.: Memoirs of the life of David Stow, London 1868.

280

Freire, Paulo: The Politics of Education. Culture Power and Liberation, South Hadley (Mass.) 1985. Friedrich, Martin: Kirchliche Armenpflege! Innere Mission, Kirche und Gesellschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Ders. u. a. (Hg.): Sozialer Protestantismus im Vormärz, ders. u. a. (Hg.), Bochumer Forum zur Geschichte des sozialen Protestantismus II, Münster 2001, 21–42. Frieling, Reinhard u. a.: Konfessionskunde. Orientierung im Zeichen der Ökumene, Stuttgart 1999. Fry, Elisabeth: Zwölf Regeln für die weiblichen Gefangenen und Anleitung für die dieselben besuchenden Damen, o. J., in: Quellen zur Geschichte der Diakonie II, Herbert Krimm (Hg.), Stuttgart 1963, 525–530. Furgol, Mary Theresa: Thomas Chalmers’ poor relief theories and their implementation in the early nineteen century, Dissertation Edinburgh 1987. Furneaux, Robin: William Wilberforce, London 1974. Gäbler, Ulrich: „Auferstehungszeit“. Erweckungsprediger des 19. Jahrhunderts, 6 Portraits, München 1991. –/u. a. (Hg.): Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, Geschichte des Pietismus III, Göttingen 2000. –/Schramm, Peter (Hg.): Erweckung am Beginn des 19. Jahrhunderts, Referate einer Tagung an der freien Universität Amsterdam 26.–29. März 1985, Amsterdam 1986. –: Erweckung im europäischen und amerikanischen Protestantismus. Cornelis Augustijn zum 60. Geburtstag, in: Pietismus und Neuzeit, ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus, Bd. 15, Göttingen 1989, 24–39. –: Art. Erweckungsbewegung, in: EKL I, Göttingen 31986, Sp. 1081–88. –: Konfession und Denomination. Das Lebenswerk des Schotten Thomas Chalmers (1780–1847), in: Konfessionalisierung vom 16. bis 19. Jahrhundert. Kirche und Traditionspflege. Referate am Fünften Internationalen Kirchenarchivtag, Budapest 1987, Helmut Baier (Hg.), Neustadt a.d. Aisch 1989, 107–118. –: Pietistische Erweckung um 1820 als europäisches Phänomen, in: Westfälische Forschungen 35, 1985, 7–10. Gebhard, Dörte: Menschenfreundliche Diakonie. Exemplarische Auseinandersetzungen um ein theologisches Menschenverständnis und um Leitbilder, Neukirchen-Vluyn 2000. Geldbach, Erich: Aufgaben und Zukunft der Freikirchen, in: Mennonitisches Jahrbuch 2000, Karlsruhe 2000, 33–40. –: Der Einfluß Englands und Amerikas auf die deutsche Erweckungsbewegung, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte XXVIII, Köln 1976, 113–122. –: Die Stellung der Freikirchen zu Staat und Gesellschaft, Referat des 3. Symposiums des Vereins zur Förderung der Erforschung freikirchlicher Geschichte und Theologie, April 1991, (als Manuskript vervielfältigt) Münster 1991. –: Einige Thesen zum politischen Verhalten der Freikirchen in Deutschland, in: Freikirchen Forschung 13, 2003, 98–110. –: Freikirchen. Erbe, Gestalt und Wirkung, Göttingen 1989. –: Freikirchen und Demokratie, in: Die Freikirchen und ihr gesellschaftlicher Beitrag, Stuttgart 1995, 30–38. –: Mission und Ökumene, in: Freikirchen Forschung 7, 1997, 102–114. –: Überlegungen zu ekklesiologischen Aspekten in den Freikirchen, in: Neuner,

281

Peter: Kirche in Gemeinschaft – Gemeinschaft der Kirchen, Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 66, Frankfurt a. M. 1993, 134–147. –: Zu Geschichte und Auftrag der freikirchlichen Diakonie in Europa, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde 5, Neckarsteinach 2000, 117–133. Gerhardt, Martin: Johann Hinrich Wichern. Ein Lebensbild I–III, Hamburg 1927–1931. –: Theodor Fliedner. Ein Lebensbild I–II, Düsseldorf 1933 u. 37. –: Wichern und England, in: Ders.: Johann Hinrich Wichern und die Innere Mission, Volker Herrmann (Hg.), Heidelberg 2002, 62–83. Gerlach, Otto von: Bericht über die Entstehung und Einrichtung vieler neuer Kirch- und Pfarrsysteme in England, mit Rücksicht auf unsere kirchlichen Zustände, in: Amtliche Berichte über die in neuerer Zeit in England erwachte Thätigkeit für die Vermehrung und Erweiterung der kirchlichen Anstalten erstatten von O. v. Gerlach, H. F. Uhden, A. Sydow und A. Stüler, Potsdam, 1845, 1–93. Giebel, Astrid: Glaube, der in der Liebe tätig wird. Diakonie im deutschen Baptismus von den Anfängen bis 1957, Kassel 2000. –: „Lasst uns Gutes tun an jedermann“ – Das Profil freikirchlicher Diakonie (Thesen anlässlich des 75 Jährigen Jubiläums der VEF 2001, Manuskript). Gladden, Washington: Social Salvation, Boston 1902. –: The Christian Pastor and the Working Church, New York 1906. Glass, J. M.: Art. Believers’ Church, in: Dictionary of Christianity in America, Daniel G. Reid (Hg.), Downers Grove 1990, 125. Glaubensbekenntnis der Mennonitischen Brüdergemeinden, Bund der Europäischen Mennonitischen Brüdergemeinden (Hg.), o. O. 1980. Götzelmann, Arnd: Die Speyerer Diakonissenanstalt. Ihre Entstehungsgeschichte im Zusammenhang mit Kaiserswerth und Straßburg, Heidelberg 1994. Goertz, Hans-Jürgen: Art. Menno Simons/Mennoniten, in: Theologische Realenzyklopädie XXII, 1992, 444–457. –: Die Täufer. Geschichte und Deutung, München 21988. –: Religiöse Bewegungen in der Frühen Neuzeit, München 1993. Grave, S. A.: The Scottish Philosophy of Common Sense, Oxford 1960. Greaves, Richard L.: Theology and Revolution in the Scottish Reformation. Studies in the Thought of John Knox, Washington 1980. Grebing, Helga (Hg.): Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus – Katholische Soziallehre – Protestantische Sozialethik, ein Handbuch, Essen 2000. Greschat, Martin: Christliche Erneuerung im Europa des 19. Jahrhunderts. Historische Voraussetzungen der Institutionalisierung der Diakonie, in: Kursbuch Diakonie, Michael Schibilsky (Hg.), Neukirchen-Vluyn 1991, 185–196. –: Das Zeitalter der Industriellen Revolution. Das Christentum in der Moderne, Christentum und Gesellschaft Bd. 11, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1980. –: Industrialisierung, Bergarbeiterschaft und ‚Pietismus’. Anmerkungen zur Wirkungsgeschichte eines Frömmigkeitstyps in der Moderne, in: Ders.: Protestanten in der Zeit. Kirche und Gesellschaft in Deutschland vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, Stuttgart/Berlin/Köln, 1994, 1–17. Großmann, Siegfried: Das Profil der freikirchlichen Diakonie – Ein Aufriß, Verband freikirchlicher Diakoniewerke, 1993.

282

Grundlagen der Lehre – Soziale Grundsätze, hg. im Auftrag der Evangelischmethodistischen Kirche von Mittel- und Südeuropa, Zürich 1994. Gurney, Joseph John: Familiar Sketch of the Late William Wilberforce, London 1838. Hahn, Otmar: Das Diakonenamt bei Calvin, Beiträge zur Diakoniewissenschaft – Neue Folge Bd. 9, Diplomarbeit am Diakoniewissenschaftlichen Institut, Heidelberg 1993. Halévy, Elie: A History of the English People in the Nineteenth Century I, England in 1815, London 1961 (Übersetzung von: Histoire du peuple anglais au XIXème siècle I, L’Angleterre en 1815, Paris 1931). Hanna, William: Memoirs of the Life and Writings of Thomas Chalmers I–IV, Edinburgh 1851–1852. Hart, James Richard: The Preaching of Thomas Chalmers, Dissertation Temple University 1959. Haug, Richard: Es komme dein Reich. Die Hoffnung der Christenheit bei den schwäbischen Vätern, Stuttgart 1987. Hauzenberger, Hans: Einheit auf evangelischer Grundlage. Vom Werden und Wesen der Evangelischen Allianz, Gießen/Zürich 1986. Hawkinson, James R./Johnston, Robert K. (Hg.): Servant Leadership. Authority and Governance in the Evangelical Covenant Church I, Chicago 1993. Hazard, Paul, Die Herrschaft der Vernunft. Das Europäische Denken im 18. Jahrhundert, Hamburg 1949. Hedke, Reinhold: Erziehung durch die Kirche bei Calvin. Der Unterweisungsund Erziehungsauftrag der Kirche und seine anthropologischen und theologischen Grundlagen, Heidelberg 1969. Heinrichs, Wolfgang E.: Freikirchen als Antwort auf die Herausforderungen einer modernen Zeit. Eine historische Betrachtung, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde, 6. Jg., Hamburg 2001, 236–254. –: Freikirchen – eine moderne Kirchenform. Entstehung und Entwicklung von fünf Freikirchen im Wuppertal, Gießen 1989. Heinrichs, Wolfgang: Über die Entstehung der Freikirchen im Wuppertal – Motive einer religiösen Bewegung im 19. Jahrhundert, in: Geschichte im Wuppertal 3, 1994, 86–97. Helfenstein, Pius Franz: Evangelikale Theologie der Befreiung. Das Reich Gottes in der Theologie der ’Fraternidad Teologia Latinoamericana’ und der gängigen Befreiungstheologie, ein Vergleich, Zürich 1991. Hempton, David: Evangelicalism and Eschatology, in: Journal of Ecclesiastical History 31, 1980, 179–194. –: Methodism and Politics in British Society 1750–1850, London u. a. 1984. Herman, Arthur: The Scottish Enlightenment. The Scots’ Invention of the Modern World, London 2002. Herriger, Norbert: Empowerment in der Sozialen Arbeit, Stuttgart/Berlin/Köln 1997 Hillerbrand, Hans J.: Föderaltheologie im radikalen Flügel der frühen Reformation, in: Konsens und Konsoziation in der politischen Theorie des frühen Föderalismus, Giuseppe Duso u. a. (Hg.), Berlin 1997, 9–17. Hilton, Boyd: The Age of Atonement. The Influence of Evangelicalism on Social and Economic Thought, 1795–1865, Oxford 1988. Holl, Karl: Thomas Chalmers und die Anfänge der kirchlich-sozialen Bewegung,

283

erstmals erschienen 1913, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 3, Tübingen 1928, 404–436. Honecker, Martin: Art. Politik und Christentum, in: TRE XXVII, Berlin/New York 1997, 6–22. Hörster, Gerhard/Lukas, Walter/Nijkamp, Martin: Gottes Herrschaft in der Gemeinde, Witten 1982. Huber, Wolfgang: Art. Menschenrechte/Menschenwürde, in: TRE XXII, Berlin/New York 1992, 577–602. Huie, Wade Prichard: The theology of Thomas Chalmers, Dissertation University of Edinburgh, 1949. Hylson-Smith, Kenneth: Evangelicals in the Church of England 1734–1984, Edinburgh 1988. Ingle, Larry H.: First Among Friends. George Fox and the Creation of Quakerism, New York und Oxford 1994. Jägermann, Kurt: Eine „Sternstunde“ für das Reich Gottes. Die Gründung der ersten Sonntagsschule in Hamburg – St. Georg am 9. Januar 1825, in: Freikirchen Forschung 10, 2000, 328–333. Jenkins, Gordon: Art. Chapels of Ease, in: Dictionary of Scottish Church History and Theology, Nigel M. de S. Cameron u. a. (Hg.), Edinburgh 1993, 162. –: Art. Chartist Churches, in: Dictionary of Scottish Church History and Theology, Nigel M. de S. Cameron u. a. (Hg.), Edinburgh 1993, 168. Jones, R. Tudur: Congregationalism in England 1662–1962, London 1962. Jong, James A. de: As the Waters Cover the Sea. Millenial Expectations in the Rise of the Anglo-American Missions 1640–1810, Kampen 1970. Jorns, Auguste: Studien über die Sozialpolitik der Quäker, Karlsruhe 1912. Jüllig, Carola/Röper, Ursula (Hg.): Die Macht der Nächstenliebe. Einhundertfünfzig Jahre Innere Mission und Diakonie 1848–1998, Berlin 1998. Jung, August: Als die Väter noch Freunde waren. Aus der Geschichte der freikirchlichen Bewegung, Wuppertal/Kassel/Witten 1999. –: Vom Kampf der Väter, Witten 1995. Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung, in: Ders.: Werke in 10 Bänden IX, Wilhelm Weischedel (Hg.), Darmstadt 1968. Kardorf, Ernst von/Kraimer, Klaus/Müller-Kohlenberg, Hildegard: Laien als Experten. Eine Studie zum sozialen Engagement im Ost- und Westteil Berlins, Frankfurt a. M. 1994. Kirkland, William Matthews: The impact of the French revolution on Scottish religious life and thought with special reference to Thomas Chalmers, Robert Haldane and Neil Douglas, Dissertation University of Edinburgh, 1951. Klaiber, Walter: Die Rolle der Freikirchen in der diakonischen Arbeit, in: DWI–INFO 32, Heidelberg 1999, 64. Klaiber, Walter/Marquardt, Manfred: Gelebte Gnade. Grundriß einer Theologie der Evangelisch-methodistischen Kirche, Stuttgart 1993. Klassen, William: Covenant and Community. The Life, Writings and Hermeneutics of Pilgram Marpeck, Grand Rapids (Michigan) 1968. Kleinert, Ulfrid: Sozialarbeit gehört zum Glauben. Berufspraxis der Gemeindediakonie, Freiburg i. Br. 1991. Kluxen, Kurt: Geschichte Englands. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 41991.

284

Kunz, Erhard: Protestantische Eschatologie. Von der Reformation bis zur Aufklärung, Freiburg/Basel/Wien 1980. Krauß-Siemann, Jutta: Kirchliche Stadtteilarbeit, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1983. Laqueur, T. W.: Religion and Respectability. Sunday Schools an Working Class Culture 1780–1840, New Haven und London 1976. Lean, Garth: God’s Politician. William Wilberforce’s Struggle, Colorado Springs 1987. Leathers, Charles G./Raines, J. Patrick: Adam Smith and Thomas Chalmers on Financing Religious Instruction, in: History of Political Economy, 31:2, Durham 1999. leben helfen. 1896–1996: 100 Jahre Bethanien. Eine Dokumentation, Otto Imhof (Hg.), Solingen 1996. Lee, Maurice/Volf, Miroslav: The Spirit and the Church, in: The Conrad Grebel Review 18, Nr. 3, Waterloo 2000, 20–45. Lehmann, Hartmut u. a. (Hg.): Glaubenswelt und Lebenswelten, Geschichte des Pietismus IV, Göttingen 2004. Lehnhard, Hartmut: Die Einheit der Kinder Gottes. Der Weg Hermann Heinrich Grafes (1818–1869) zwischen Brüderbewegung und Baptisten, Wuppertal 1977. Littell, Franklin Hamlin: Das Selbstverständnis der Täufer, Kassel 1966. –: Von der Freiheit der Kirche, Bad Nauheim 1957. Locke, John: Ein Brief über Toleranz, übersetzt und eingeleitet von Julius Ebbinghaus, Hamburg 1957. –: Zwei Abhandlungen über die Regierung, hg. u. eingeleitet v. Walter Euchner, Wien 1967. Löcherbach, Peter u. a. (Hg.): Case Management, Neuwied 2002. Löwe, F. A.: Denkwürdigkeiten aus dem Leben und Wirken des J. W. Rautenberg, Hamburg 1866. Lovelace, Richard F.: Theologie der Erweckung, Marburg 1984. Luckey, Hans: Johann Gerhard Oncken und die Anfänge des deutschen Baptismus, Kassel 31958. –: Ökumenische Einflüsse. Wichern und die angelsächsische Erweckungsbewegung, in: Reform von Kirche und Gesellschaft 1848–1973. Johann Hinrich Wicherns Forderungen im Revolutionsjahr 1848 als Fragen an die Gegenwart. Studien zum 125. Gründungstag des Centralausschusses für die Innere Mission der Deutschen Ev. Kirche, H. C. v. Hase/P. Meinhold (Hg.), Stuttgart 1973. Lube, Barbara: Mythos und Wirklichkeit des Elberfelder Systems, in: Karl-Hermann Beeck (Hg.), Gründerzeit. Versuch einer Grenzbestimmung im Wuppertal, Köln 1984, 195–231. Macnaughton Clark, Ivo: A History of Church Discipline in Scotland, Aberdeen 1929. Makey, Walter: The Church of the Covenant 1637–1651. Revolution and Social Change in Scotland, Edinburgh 1979. Marquardt, Manfred: Freikirchliche Aspekte einer politischen Ethik, in: Freikirchen Forschung 8, 1998, 52–71. Marsden, George M.: Fundamentalism and American culture. The shaping of twentieth-century Evangelicalism 1870 – 1925, New York 1980.

285

Martin, Roger H.: Evangelicals United. Ecumenical Stirrings in Pre-Victorian Britain, 1795–1830, London 1983. Marx, Karl: Das Kapital IV, in der Reihe: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke XXVI/1, Berlin 1965. Maser, Peter: Die Freikirchen und kleinere Religionsgemeinschaften in der Politik des SED-Staates, in: Freikirchen Forschung 4, 1994, 1–14. –: Hans Ernst von Kottwitz. Studien zur Erweckungsbewegung des frühen 19. Jahrhunderts in Schlesien und Berlin, Göttingen 1990. McBeth, H. Leon: A Sourcebook for Baptist Heritage, Nashville 1990. –: The Baptist Heritage, Nashville 1987. McCaffrey, John: Thomas Chalmers and Social Change, in: Scottish Historical Review 60,1981, 32–60. McCosh, James: The Scottish philosophy. biographical, expository, critical, from Hutcheson to Hamilton, Bristol 1990 (Repr. d. Ausg. 1875). McCulloch, John Ramsay: Review of ’On Political Economy in Connexion with the Moral State and Moral Prospects of Society’ (Nachdruck der Rezension in der Edinburgh Review vom Oktober 1832), in der Reihe: Thomas Chalmers: Works on Economics and Social Welfare, Pioneers in Social Welfare I, London 1995. McKee, Elsie Anne: Diakonie in der klassischen reformierten Tradition und heute, in: Erneuerung des Diakonats als ökumenischen Aufgabe, Theodor Strohm (Hg.), Heidelberg 1996. McLaren, A. Allan: Religion and Social Class. The Disruption Years in Aberdeen, London/Boston 1974. McLoughlin, William G.: Revivals, Awakenings, and Reform. An essay on Religion and social change in America, 1607–1977, Chicago/London 1978. Mead, Sidney E.: The Old Religion in the Brave New World. Reflections on the Relation Between Christendom and the Republic, Berkeley u. a. 1977. Mechie, Steward: The Church and Scottish Social Development, 1780–1870 Oxford u. a. 1960. Mede, Joseph: Clavis apocalyptica ex innatis et insitis visionum characteribus eruta et demonstrata, Cantabrigia 1627. –: The Key of the Revelation, London 1643. Meißner, Erwin: Der Kirchenbegriff Johann Hinrich Wicherns, Gütersloh 1938. Meyer, Dietrich: Monbijou-Konferenz (1856) und Evangelische Allianz (1857), in: Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union II, Joachim Rogge/Gerhard Ruhbach (Hg.), Leipzig 1994, 97–109. Merricks, William: Edward Irving: The Forgotten Giant, East Peoria 1983. Michel, Martin (Hg.): Wichernkonkordanz. Eine Konkordanz zur Ausgabe „Johann Hinrich Wichern, Sämtliche Werke I–VIII, hg.v. Peter Meinhold u. Günter Brakelmann“, Heidelberg 1988. Mittelstraß, Jürgen: Art. Aufklärung in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie I, Jürgen Mittelstraß in Verbindung mit Gereon Wolters (Hg.), Mannheim/Wien/Zürich 1980. Möller, Kurt Detlev: Hamburger Männer um Wichern. Ein Bild der religiösen Bewegung vor hundert Jahren. Hamburg 1933. Moltmann, Jürgen: Diakonie im Horizont des Reiches Gottes. Schritte zum Diakonenentum aller Gläubigen, Neukirchen-Vluyn 21989.

286

–: Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, München 71968. More, Henry: Conjectura cabbalistica or, a conjectural essay of interpreting the minde of Moses, according to a threefold cabbala, (Nachdruck der Ausgabe von 1653) Bristol 1997. Morgan, Edmund S.: Puritan Political Ideas: 1550–1794, Indianapolis 1976. Morrill, John (Hg.): The Scottish National Covenant in its British Context, Edinburgh 1990. Neander, August: William Wilberforce, der Mann Gottes, kein Mann der Partei. Worte der Einladung zur 24sten Stiftungsfeier der Preußischen Haupt-Bibelgesellschaft am 10. Oktober 1838, Nachmittags 3 Uhr in der DreifaltigkeitsKirche zu Berlin, Berlin 1838. Niedhard, Gottfried: Geschichte Englands im 19. und 20. Jahrhundert, (Geschichte Englands in 3 Bänden, III) München 1987. –: Geschichte Englands vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, (Geschichte Englands in 3 Bänden, II) München 1993. –: Großbritannien 1750–1850, in: Handbuch der Europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 4, Wolfram Fischer (Hg.), Stuttgart 1993, 401–461. Niethammer, Lutz: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek 2000. Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 21984. Nisbet, J. W.: Thomas Chalmers and the Economic Order, in: Scottish Journal of Political Economy 11, Oxford u. a. 1964, 151–157. Noll, Mark A./Wells, David F. (Hg.): Christian Faith and Practice in the World. Theology from and Evangelical Point of View, Grand Rapids (Mi) 1988. Noll, Mark A.: Revival, enlightenment, civic humanism and the development of dogma: Scotland and America, 1735–1843, in: Tyndale Bulletin, 40, London 1989, 49–76. –: The Scandal of the Evangelical Mind, Grand Rapids/Leicester 1994. –: Thomas Chalmers (1780–1847) in North America (ca. 1830–1917), in: Church History, 66/4, Red Bank (NJ) 1997, 762–777. Noske, Gerhard: Wicherns Plan einer kirchlichen Diakonie, Stuttgart 1952. Nowak, Kurt: Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 1995. Owen, John: Ogranon Ogrania. The Shaking and Translating of Heaven and Earth, London 1649. Oz-Salzberger, Fania: Translating the Enlightenment. Scottish Civic Discourses in Eighteenth-Century Germany, Oxford 1995. Padilla, C. René: Mission Between the Times. Essays on the Kingdom, Grand Rapids 1985. – (Hg.): Anstiftungen. Evangelium für die Armen Reichen, Moers 1986. – (Hg.): Zukunftsperspektiven. Evangelikale nehmen Stellung: Christen aus allen Kontinenten entfalten die umfassende Sendung der christlichen Gemeinde anhand der Lausanner Verpflichtung, Wuppertal 1977. Persson, Walter: In Freiheit und Einheit. Die Geschichte des Internationalen Bundes Freier evangelischer Gemeinden, Witten 1999.

287

Phillipson, Nicholas: The Scottish Enlightenment, in: The Enlightenment in National Context, Roy Porter/Mikulás Teich (Hg.), Cambridge 1981, 19–40. Piepmeier, Rainer: Art. Aufklärung I Philosophisch, in: TRE IV, Berlin/New York 1979, 575–594. Pörksen, Martin: Johann Hinrich Wichern und die soziale Frage, Rendsburg 1932. Pollock, John: Wilberforce, London 1986. Poole, David N. J.: Stages of Religious Faith in the Classical Reformation Tradition. The Covenant Approach to the Ordo Salutis, Lewiston/Queenston/Lampeter 1995. Popkes, Wiard: Gemeinde – Raum des Vertrauens. Neutestamentliche Beobachtungen und freikirchliche Perspektiven, Wuppertal/Kassel 1984. Poppers, Hirsch Leib: Die Entstehung des Kongregationalismus aus der puritanischen Bewegung und seine Bedeutung als Indepedentismus für die englische Staatsgeschichte des 17. Jahrhunderts, Berlin 1936. Poynter, John R.: Society and Pauperism. English Ideas on Poor Relief 1795–1834, London/Toronto 1969. Rack, Henry D.: Art. Thomas Chalmers, in: TRE VII, Berlin/New York 1981, 676–679. –: Domestic Visitation: a Chapter in Early Nineteenth Century Evangelism, in: The Journal of Ecclesiastical History 24, 1973, 357–376. Railton Nicholas M.: No North Sea. The Anglo-German Evangelical Network in the Middle of the Nineteenth Century, Leiden/Boston/Köln 2000. Rautenberg, Johann Wilhelm: Bericht über die Sonntagsschule zu St. Georg, dem hamburgischen Sonntagsschulverein in der ersten Jahresversammlung desselben am 27. Februar 1826, Hamburg 1826. –: Bericht über die Sonntagsschule zu St. Georg, dem hamburgischen Sonntagsschulverein in der dritten Jahresversammlung desselben am 11. März 1828, Hamburg 1828. –: Fünfter Bericht über die hamburgische Sonntagsschule, vom Jahre 1829, Hamburg 1830. Reform von Kirche und Gesellschaft 1848–1973. Johann Hinrich Wicherns Forderungen im Revolutionsjahr 1848 als Fragen an die Gegenwart. Studien zum 125. Gründungstag des Centralausschusses für die Innere Mission der Deutschen Ev. Kirche, H. C. v. Hase/P. Meinhold (Hg.), Stuttgart 1973. Reformierte Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen in deutscher Übersetzung, Paul Jacobs u. a. (Hg.), Neukirchen-Vluyn 1950. Reid, Daniel G.: Art. Voluntaryism; Voluntarism, in: Dictionary of Christianity in America, ders. (Hg.), Downers Grove 1990, 1227f. Reid, Thomas: An Inquiry into the Human Mind. On the Principles of Common Sense, Derek R. Brookes (Hg.), University Park (Pennsylvania) 1997. –: Untersuchung über den menschlichen Geist nach den Grundsätzen des gemeinsamen Menschenverstandes, Bristol 2000 (Nachdruck der deutschen Übersetzung der 3. englischen Aufl. von An Inquiry into the Human Mind. On the Principles of Common Sense, Leipzig 1782). Reininger, Dorothea: Diakonat der Frau in der Einen Kirche. Diskussionen, Entscheidungen und pastoral-praktische Erfahrungen in der christlichen Ökumene und ihr Beitrag zur römisch-katholischen Diskussion, Ostfildern 1999. Reitz-Dinse, Annegret: Theologie in der Diakonie. Exemplarische Kontroversen

288

zum Selbstverständnis der Diakonie in den Jahren 1957–1975, NeukirchenVluyn 1998. Rice, Daniel Frederick: An Attempt at Systematic Reconstruction in the Theology of Thomas Chalmers, in Church History 48, 1979, 174–188. –: Natural Theology and the Scottish Philosophy in the Thought of Thomas Chalmers, in: Scottish Journal of Theology 24, Cambridge 1971, 23–46. –: The theology of Thomas Chalmers, Dissertation Drew University, 1966. Richmond, Mary E.: Social Diagnosis, New York 1917. Riedinger, Johannes: Diakonie der Freikirchen, in: Theologie – Prägung und Deutung der kirchlichen Diakonie. Lehren Erfahren Handeln, Hans Christoph von Hase zum 75. Geburtstag gewidmet, Theodor Schober/Horst Seibert (Hg.), Redaktion: Hartwig Grubel, Stuttgart 1982, 327–340. Ritschl, Dietrich: Der Beitrag des Calvinismus für die Entwicklung des Menschenrechtsgedankens in Europa und Nordamerika, in: ders., Konzepte. Ökumene, Medizin, Ethik, München 1986, 301–315. Ritter, Heinz-Adolf: Die Mitverantwortung des Christen in Politik und Gesellschaft, in: Christsein Heute Forum 71/72, Witten 1993. –: Wie der Bund Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland die Kirchenpolitik der SED-Diktatur erlebt hat, in: Freikirchen Forschung 4, 1994, 62–83. –: Zur Geschichte der Freien evangelischen Gemeinden zwischen 1945 und 1995 – Teil I. Wie die Gemeindeväter nach 1945 mit Schuld aus der NS-Diktatur umgegangen sind, in: Christsein Heute forum 94/95, Witten 1996. –: Zur Geschichte der Freien evangelischen Gemeinden zwischen 1945 und 1995 – Teil II. Wie der Staatssicherheitsdienst der SED-Diktatur die Gemeinden einschätzte und überwachte und vom Umgang der Gemeinden mit ihren Erfahrungen, in: Christsein Heute forum 96/97, Witten 1996. Robbins, Keith (Hg.): Protestant Evangelicalism: Britain, Ireland, Germany and America c. 1750–c.1950, Essays in Honour of W. R. Ward, Oxford/New York 1990. Rosman, Doreen M.: Evangelicals and Culture, London und Canberra 1984. Ross, Kenneth: Art. Chapel Act, in: Dictionary of Scottish Church History and Theology, Nigel M. de S. Cameron u. a. (Hg.), Edinburgh 1993, 161f. Rott, Ludwig: Die Englischen Beziehungen der Erweckungsbewegung und die Anfänge des Wesleyanischen Methodismus in Deutschland. Ein Beitrag zur Geschichte der Erweckungsbewegung und des Freikirchentums in Deutschland in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1968. Roxborogh, John: The Legacy of Thomas Chalmers, in: International Bulletin of Missionary Research 23/4, 1999, 173–176. –: Thomas Chalmers and the mission of the Church with special reference to the rise of the missionary movement in Scotland, Dissertation Aberdeen 1978. –: Thomas Chalmers: Enthusiast for Mission. The Christian Good in Scotland and the Rise of the Missionary Movement, Edinburgh 1999. Rubinstein, W. D.: A History of the Jews in the English-Speaking World: Great Britain, Basingstoke/London 1996. Ruzicka, R.: Art. Naturrecht IV Neuzeit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie VI, Basel/Stuttgart 1984, 582–609. Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Vom Spätmittelalter bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart u. a. 1980.

289

Sack, Karl Heinrich: Die Kirche von Schottland. Beiträge zu deren Geschichte und Beschreibung I, Heidelberg 1844. –: Die Kirche von Schottland. Beiträge zu deren Geschichte und Beschreibung II, Heidelberg 1845. Salbstein, M.C. N.: The Emancipation of the Jews in Britain: The Question of the Admission of the Jews to Parliament, 1828–1860, London/Toronto 1982. Samuel, Vinay/Sugden, Chris (Hg.): Mission as Transformation a Theology of the Whole Gospel, Oxford 1999. Sautter, Hermann/Volf, Miroslav: Gerechtigkeit, Geist und Schöpfung. Die Oxford-Erklärung zu Fragen von Glaube und Wissenschaft, Wuppertal/Zürich 1992. Schäfer, Gerhard K.: Gottes Bund entsprechen. Studien zur diakonischen Dimension christlicher Gemeindepraxis, Heidelberg 1994. Schalk, Fritz: Art. Aufklärung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie I, Darmstadt 1971, 620–635. Scheick, William J. (Hg.): Critical Essays on Jonathan Edwards, Boston 1980 Schmidt, Martin: Art. Aufklärung II Theologisch, in: TRE IV, Berlin/New York 1979, 594–608. –: Art. Erweckungsbewegung, in: EKL I, 1956, 1135–1144. –: John Wesley II, Das Lebenswerk John Wesleys, Zürich/Frankfurt a. M. 1966. –: Kongregationalismus, in: Heyer, Friedrich (Hg.): Konfessionskunde, Berlin/New York 1977, 609–615. Schmolz, Werner: Gottes Mission und unser diakonischer Auftrag – die Diakonie der Evangelisch-methodistischen Kirche, in: Diakonie in Europa. Ein internationaler und ökumenischer Forschungsaustausch, Theodor Strohm (Hg.), Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts, Bd. 8, Heidelberg 1997, 212–252. Schröder, Caroline: Glaubenswahrnehmung und Selbsterkenntnis. Jonathan Edwards’ theologia experimentalis, Göttingen 1998. Schröder, Winfried: Art. Aufklärung, in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften I, Hans Jörg Sandkühler u. a. (Hg.), Hamburg 1990. Schütte, Hans-Walter: Die Vorstellung von der Perfektibilität des Christentums im Denken der Aufklärung, in: Birkner, Hans-Joachim/Rössler, Dietrich (Hg.): Beiträge zur Theorie des neuzeitlichen Christentums, Berlin 1968, 113–126. Scotland, Nigel: Methodism and The Revolt of the Field, Gloucester 1981. Scott, Richenda C. (Hg.): Die Quäker, Die Kirchen der Welt XIV, Hans Heinrich Harms u. a. (Hg.), Stuttgart 1974. Sedmak, Clemens: Sozialtheologie. Theologie, Sozialwissenschaft und der „Cultural Turn“, Frankfurt a. M. 2001. Senghaas, Dieter: Zivilisierung wider Willen. Der Konflikt der Kulturen mit sich selbst, Frankfurt a. M. 1998. Sennett, Richard: Respekt im Zeitalter der Ungleichheit, Berlin 2002. Sider, Ronald J.: Der Weg durchs Nadelöhr. Reiche Christen und Welthunger, Neukirchen-Vluyn 1978. – (Hg.): Evangelicals and Development. Toward a Theology of Social Change, Exeter 1981. Sieveking, Evakatrin: Die Quäker und ihre sozialpolitische Wirksamkeit, Bad Pyrmont 1948.

290

Shanahan, William: Der deutsche Protestantismus vor der soziale Frage 1815–1871, München 1962. Sher, Richard B.: Church and University in the Scottish Enlightenment. The Moderate Literati of Edinburgh, Princeton 1985. Smith, Crosbie: From design to dissolution: Thomas Chalmers debt to John Robinson, in: British Journal for the History of Science, 12, Cambridge 1979, 59–70. Smyth, John: The Works of John Smyth, Cambridge 1915. Staehelin, Ernst: Die Christentumsgesellschaft in der Zeit der Aufklärung und beginnenden Erweckung, Basel 1970. –: Die Christentumsgesellschaft in der Zeit der Erweckung bis zur Gegenwart, Basel 1974. Stephen, S. Leslie: Art. Wilberforce, William, Dictionary of National Biography 61, Oxford 1930, 208–217. Steubing, Hans u. a. (Hg.): Bekenntnisse der Kirche. Bekenntnistexte aus zwanzig Jahrhunderten, Wuppertal 21977. Strahm, Herbert: Die Bischöfliche Methodistenkirche im Dritten Reich, Stuttgart/Berlin/Köln 1989. –: Freikirchliches Denken und Handeln angesichts der Deutschen Christen in den Jahren 1933/34, dargestellt am Beispiel der Bischöflichen Methodistenkirche in Deutschland, in: Kirchliche Zeitgeschichte 1993, 312–331. Strauch, Peter: Typisch FeG. Freie evangelische Gemeinden unterwegs ins neue Jahrtausend, Witten 1997. Strehle, Stephen: Calvinism, Federalism, and Scholasticism. A Study of the Reformed Doctrine of Covenant, Bern/Frankfurt/New York/Paris 1988. Strohm, Theodor (Hg.): Diakonie an der Schwelle zum neuen Jahrtausend. Diakoniewissenschaftliche Perspektiven, in: ders. (Hg.): Diakonie an der Schwelle zum neuen Jahrtausend. Ökumenische Beiträge zur weltweiten und interdisziplinären Verständigung, Heidelberg 2000, 16–30. –: Entwicklungslinien einer Theologie der Diakonie im 19. Jahrhundert, in: Ders.: Diakonie in der Perspektive der verantwortlichen Gesellschaft. Beiträge zur sozialen Verantwortung der Kirche II, Volker Herrmann (Hg.), Heidelberg 2003. – (Hg.): Diakonie in Europa. Ein internationaler und ökumenischer Forschungsaustausch, Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg Bd. 8, Heidelberg 1997. –: Diakonie zwischen Gemeindepraxis und sozialstaatlicher Wirklichkeit. Zeitgeschichtliche Herleitungen – Theologische Perspektiven, in: Das Recht der Kirche III, Zur Praxis des Kirchenrechts, Gerhard Rau/Hans-Richard Reuter/Klaus Schlaich (Hg.), Forschungen und Berichte der Ev. Studiengemeinschaft, Bd. 51, Gütersloh 1994. –: Die Ausformung des sozialen Rechtsstaates in der protestantischen Überlieferung. Sozialethische Untersuchungen zur gegenwärtigen Verfassungswirklichkeit, Habil. masch., Münster 1969. –: Gemeinwesenarbeit. Eine sozialethische Zwischenbilanz, in: ders., Diakonie und Sozialethik. Beiträge zur sozialen Verantwortung der Kirche. Klaus Müller/Gerhard K. Schäfer (Hg.), Mit einem Geleitwort von Klaus Engelhard, Heidelberg 1993. –: „Theologie der Diakonie“ in der Perspektive der Reformation – Zur Wir-

291

kungsgeschichte des Diakonieverständnisses Martin Luthers, in: Theologie der Diakonie. Lernprozesse im Spannungsfeld von lutherischer Überlieferung und gesellschaftlich-politischen Umbrüchen, Ein europäischer Forschungsaustausch, Paul Philippi/Theodor Strohm (Hg.), Heidelberg 1989, 175–208. –: Theologie im Schatten politischer Romantik. Eine wissenschafts-soziologische Anfrage an die Theologie Friedrich Gogartens, München 1970. Strübind, Andrea: Die freikirchliche Forderung nach „Trennung von Staat und Kirche“ angesichts diktatorischer Systeme, in: Freikirchen Forschung 8, 1998, 86–106. –: Die unfreie Freikirche. Der Bund der Baptistengemeinden im „Dritten Reich“, Historisch-Theologische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1., G. Besier u. a. (Hg.), Neukirchen-Vluyn 1991. –: Diktatur und Geschichte. Überlegungen zum Fortgang der Geschichtsaufarbeitung im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde 4, 1999, 253–258. Sugden, Chris: Seeking the Asian Face of Jesus. The Practice and Theology of Christian Social Witness in Indonesia and India 1974–1996, Oxford u. a. 1997. The Second Book of Discipline. With Introduction and Commentary by James Kirk, Edinburgh1980. Thompson, Edward P.: The making of the English working class, London 1963. Thompson, Kenneth A.: Bureaucracy and Church Reform. The organizational response of the Church of England to Social Change 1800–1965, Oxford 1970. Tuveson, Ernest Lee: Millennium and Utopia. A Study in the Background of the Idea of Progress, New York 1964. Uhden, H. F.: Leben des William Wilberforce in seiner religiösen Entwicklung dargestellt nach „the life of Wm. Wilberforce by his sons Robert Isaac and Samuel Wilberforce. 5 Bde. London 1838“, mit einem Vorwort von Dr. August Neander, Berlin 1840. Uhlhorn, Gerhard: Die christliche Liebestätigkeit, Stuttgart 21895. Viertel, Gerlinde: Anfänge der Rettungshausbewegung und Adelbert Graf von der Recke-Volmerstein (1791–1878). Eine Untersuchung zur Erweckungsbewegung und Diakonie, Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte 110, Köln 1993. Voges, Friedhelm: Das Denken von Thomas Chalmers im kirchen- und sozialgeschichtlichen Kontext, Frankfurt am Main/Bern/New York 1984. Voigt, Karl-Heinz: Diakonie in den Freikirchen, in: Jahrbuch 1966 des Diakonischen Werkes – Innere Mission und Hilfswerk – der Evangelischen Kirche in Deutschland, Stuttgart 1966, 33–56. –: Die Evangelische Allianz als ökumenische Bewegung, Stuttgart 1990. –: Ökumene in der Diakonie – 150 Jahre Anlauf!, in: Freikirchen Forschung 7, 1997, 145–153. Volf, Miroslav: Arbeit und Charisma. Zu einer Theologie der Arbeit, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 31, 1987, 411–433. –: Exclusion and Embrace. A Theological Exploration of Identity, Otherness, and Reconciliation, Nashville 21997. –: Kirche als Gemeinschaft. Ekklesiologische Überlegungen aus freikirchlicher Perspektive, in: Evangelische Theologie 49, 1989, 52–76.

292

–: The Church as a Prophetic Community and Sign of Hope, in: European Journal of Theology 2.1, Exeter 1993, 9–30. –: The Trinity is Our Social Program. The Doctrine of the Trinity and the Shape of Social Engagement, in: Modern Theology 14.3, Oxford 1998, 403–423. –: Trinität und Gemeinschaft. Eine ökumenische Ekklesiologie, Mainz/Neukirchen-Vluyn 1996. Voß, Klaus Peter: Die Vereinigung Evangelischer Freikirchen auf dem Weg zur Kirchengemeinschaft? Perspektivische Anmerkungen zur neuen Präambel der VEF, in: Freikirchen Forschung 9, 1999, 188–205. Wagner, Falk: Art. Naturrecht II Neuzeitliche und evangelische Interpretationen seit der Reformation, in: TRE XXIV, Berlin/New York 1994, 153–185. Walsh, J. D.: Origins of the Evangelical Revival, in: Essays in Modern English Church History, ders./G. V. Bennett (Hg.), London 1966, 132–162. Ward, William Reginald: Faith and Faction, London 1993. –: Kirchengeschichte Großbritanniens vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Leipzig 2000. –: Religion and Society in England 1790–1850, London 1972. –: The Protestant Evangelical Awakening, Cambridge 1992. Wardin, Albert W. (Hg.): Baptists Around the World. A Comprehensive Handbook, Nashville1995. Waterman, A. M. C.: „The Canonical Classical Model of Political Economy“ in 1808, as Viewed from 1825: Thomas Chalmers on the „National Resources“, in: History of Political Economy, 23:2, Durham 1991. Watt, Hugh: Thomas Chalmers and the Disruption, Edinburgh 1943. Weaver, Dale: Evangelical Covenant Church of America. Some Sociological Aspects of a Swedish Emigrant Denomination 1885–1984, Lund 1985. Weir, David A.: The Origins of the Federal Theology in Sixteenth-Century Reformation Thought, Oxford 1990. Wendtland, Heinz-Dietrich: Der Begriff der „verantwortlichen Gesellschaft“ in seiner Bedeutung für die Sozialethik der Ökumene, in: Ders.: Die Kirche in der revolutionären Gesellschaft. Sozialethische Aufsätze und Reden, Gütersloh 1967. Wendt, Wolf Rainer: Case Management im Sozial- und Gesundheitswesen, Freiburg 2001. –: Geschichte der Sozialen Arbeit, Stuttgart 41995. Wellenreuther, Hermann: Glaube und Politik in Pennsylvania 1681–1776. Die Wandlung der Obrigkeitsdoktrin und des Peace Testimony der Quäker, Wien 1972. Whitney, Janet: Elizabeth Fry, Bad Pyrmont 1939. Wichern, Johann Hinrich: Sämtliche Werke I–X, Peter Meinhold/Günter Brakelmann (Hg.), Hamburg u. a. 1958–1988. Wilberforce, Robert Isaac/Wilberforce, Samuel: The Life of William Wilberforce I–V, London 1838. Wilberforce, William: A Letter on the Abolition of the Slave Trade; Addressed to the Freeholders and other Inhabitants of Yorkshire, London 1807. –: A Practical View of Christianity, mit einer Einleitung von Charles Colson, Kevin Charles Belmonte (Hg.), Peadbody, Massachusetts 21996 (kommentierter Nachdruck der 1. Auflage von: A Practical View of the Prevailing Religious

293

System of Professed Christians, in the Higher and Middle Classes in This Country, Contrasted with Real Christianity, 1797). –: An Appeal to the Religion, Justice, and Humanity of the Inhabitants of the British Empire in behalf of the Negro Slaves in the West Indies, London 1823. –: Familiengebete, aus dem Englischen übersetzt von Gustav Adolph Lüders, mit einer Vorrede von August Neander, Berlin 1835. –: Praktische Ansicht des herrschenden Religionssystems vorgeblicher Christen in den höheren und mittleren Ständen verglichen mit dem wahren Christenthum, aus dem Englischen nach der achten Auflage übersetzt von A. L. P. Schröder, Frankfurt a. M. 1807 (Übersetzung von: A Practical View of the Prevailing Religious System of Professed Christians, in the Higher and Middle Classes in This Country, Contrasted with Real Christianity). –: Private Papers of William Wilberforce, A. M. Wilberforce (Hg.), New York o. J., Nachdruck der ersten Ausgabe von London 1897. Williamson, Jeffrey G.: Coping with city growth during the British industrial revolution, Cambridge u. a. 1990. Wolffe, John: The Protestant Crusade in Great Britain 1829–1860, Oxford 1991. Wrigley, E. A.: People, Cities and Wealth. The Transformation of Traditional Society, Oxford 1987. Yoder, John Howard: Die Politik Jesu – der Weg des Kreuzes, Maxdorf 1981 (Übersetzung von: The Politics of Jesus: Vicit Agnus Noster, Grand Rapids 1972). –: Nachfolge Christi als Gestalt politischer Verantwortung, Weisenheim 22000. –: The Royal Priesthood. Essays Ecclesiological and Ecumenical, Michael G. Cartwright (Hg.), Grand Rapids 1994. Zeindler, Matthias: Die Kirche des Kreuzes – John Howard Yoders Ekklesiologie als Modell von Kirchesein in einer pluralistischen Gesellschaft, in: Jecker, Hanspeter (Hg.): Jesus folgen in einer pluralistischen Welt. Impulse aus der theologischen Arbeit von John Howard Yoder, Weisenheim 2001, 63–88. Zellfelder-Held: Solidarische Gemeinde. Ein Praxisbuch für diakonische Gemeindeentwicklung, Neuendettelsau 2002.

294

Anhang

Chalmersdenkmal auf der George Street in Edinburgh

Thomas Chalmers 1843 Calotypie von David Octavius Hill (1802–1870)

Napoleon Bonaparte war am 22. Juni 1815 abgedankt, als er seine letzte Schlacht bei Waterloo verloren hatte. Im November des gleichen Jahres erneuerten die Siegermächte Großbritannien, Preußen, Russland und Österreich ihr Bündnis zum Schutz gegen Frankreich (die sog. Quadrupel Allianz). Der 18. Januar 1816 wurde dann zu einem Tag nationaler Dankgottesdienste im Vereinigten Königreich. Gefeiert wurde der Friede nach den Jahren der napoleonischen Kriege. Thomas Chalmers war zu dieser Zeit Pfarrer der Trongemeinde in Glasgow. Die folgende Predigt hielt er zu diesem Anlass. Sie wurde in mehreren Auflagen veröffentlicht.1 Der Text soll einerseits zeigen, welche Art von Ansprachen im 19. Jahrhundert große Menschenmengen anzogen. Die Mentalität der klassischen Erweckungsbewegung wird hier spürbar. Zum anderen ist er ein bemerkenswertes Beispiel für Chalmers Theologie: Der Sieg über Frankreich veranlasste ihn nicht dazu den Einsatz der britischen Truppen zu heroisieren und theologisch zu überhöhen. Vielmehr herrschen in der Bewertung der zurückliegenden Kämpfe nachdenkliche Töne vor. Vor dem Hintergrund der furchtbaren Seiten des Krieges entfaltet Chalmers das Panorama eines universalen göttlichen Friedensreiches als Ziel der Weltgeschichte.

1 Die Übersetzung folgt der 2. Auflage Edinburgh 1816. Ins Deutsche übertragen wurde der Text von Patrick Wössner, Matthias Pfleiderer und dem Autor.

298

Gedanken über den weltweiten Frieden Predigt von Thomas Chalmers, gehalten am 16. Januar 1816 „Es wird keine Nation mehr gegen die andere das Schwert erheben und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“1 Es gibt sehr viele Stellen in der Schrift, welche die Erwartung rechtfertigen, dass eine Zeit kommt, da dem Krieg ein Ende gesetzt werden wird. Wenn seine Abscheulichkeiten und Gräuel verbannt sein werden vom Angesicht der Erde. Wenn die Rastlosigkeit des Ehrgeizes und des Neides endlich und für immer aufgehört hat, welche die Menschheit so lange in einem Zustand unaufhörlichen Aufruhrs hielt. Immer wieder wurde die Politik der Welt von seinen Wellen erfasst. Viele köstliche Bilder gebraucht die Bibel, wo sie durch das Licht der Prophetie geleitet wird. Sie versetzt uns in die Tage des Millenniums, wenn der Friede herrschen wird. Die umfassende und schrankenlose Nächstenliebe des Evangeliums, die keine Unterschiede macht, wird dann die ganze Menschheit zu einer einträchtigen Familie zusammenschließen. Aber bevor ich fortfahre, möchte ich auf ein falsches Verständnis der Prophetie hinweisen. Viele sagen ihre Erfüllungen seien vorherbestimmt, und wir hätten deshalb nichts zu tun, als auf sie zu warten, teilnahmslos, träge und gleichgültig. Die Wahrheit Gottes sei unabhängig von menschlicher Hilfe. Er beweise selbst, dass seine Ankündigungen unveränderlich sind. Die Macht Gottes sei auf die schwachen Bemühungen des Menschen nicht angewiesen, wenn es gilt, die Vollendung seiner Ziele zu beschleunigen. Deshalb wollen wir es uns bequem machen als Zuschauer und sehen, wie er seine Pläne verwirklicht, wollen Zeuge seiner weisen und gütigen Herrschaft sein. Gott wird seine Arbeit auf seine Art tun. Den Fortgang der Geschichte können wir nicht bestimmen. Nun, es ist völlig richtig, dass Gott seine Arbeit auf seine Art tun wird. Aber er hat beschlossen uns mitzuteilen, dass dies nicht ohne die Beteiligung der Menschen von statten geht. So könnte sich das Einnehmen dieser bequemen Zuschauerhaltung schließlich als eine ganz und gar verkehrte und ungehorsame Entscheidung erweisen. Auf dem Weg zur Verwirklichung von Gottes Zielen kommen auch menschliche Begriffe und Anstrengungen zum tragen. Es ist wahr, dass sich sein Plan verwirklichen wird, ob wir uns nun anbieten daran mitzuwirken oder nicht. 1 Jes 2,4b.

299

Falls wir an seiner Umsetzung nicht mitwirken wollen, wird Gott mit derselben Souveränität, durch die er den Plan beschlossen hat, die Herzen anderer erwecken. Ihnen wird dann die hohe Ehre zuteil, Mitarbeiter Gottes zu sein, während sie die Wahrheit seiner Prophetie würdigen. Wir werden dann vielleicht unbewusst die Warnung einer anderen Prophezeiung bestätigen: „Ich tue etwas in euren Tagen, was ihr nicht glauben werdet, wenn man es euch erzählt. Seht, ihr Verächter, wundert euch und geht zugrunde.“2 Nun dies ist genau die Art und Weise, wie Prophezeiungen tatsächlich erfüllt wurden. Die Rückkehr des Volkes Israel in ihr Land war ein Ereignis, das durch Inspiration vorhergesagt war. Es geschah, indem der Geist des Kyrus erweckt wurde. Er sah es als seine Pflicht an, in Jerusalem ein Haus für Gott zu bauen. Das Ausgießen des Geistes am Pfingsttag war vom Erlöser vorausgesagt worden, bevor er die Welt verließ. Menschen erlebten dies, die sich an dem Ort versammelten, zu dem sie befohlen worden waren. Dort warteten sie und beteten. Die rasche Ausbreitung des Christentums in jenen Tagen wurde von den Menschen, die an dieser Mission beteiligt waren, als Erfüllung des prophetischen Wortes verstanden. Aber tatsächlich ereignete sie sich durch die emsigen Anstrengungen, den beispiellosen Heroismus und die heilige Hingabe von Märtyrern, Aposteln und Evangelisten. Und sogar jetzt, meine Brüder, kann kein bekennender Christ leugnen, dass sein Glaube eines Tages der Glaube aller Länder sein wird. Aber während viele von ihnen untätig dasitzen und auf die Zeit warten, in der Gott wundersame und nie gehörte Dinge tut, damit der Glaube überall angenommen wird, gibt es Menschen, die das schlichte Mittel anwenden, ins Ausland unter die Völker zu gehen und sie zu lehren. Obwohl sie von einer uneinsichtigen Welt verspottet werden, scheinen sie genau die Menschen zu sein, von denen die Schrift spricht, die hingehen und die biblische Wahrheit verbreiten. Sie werden die würdigen Werkzeuge sein, welche die größte aller Verheißungen verwirklichen. Nun, ich gehe davon aus, dasselbe wird auf die Prophetie in meinem Text zutreffen. Die Ausrottung des Krieges wird nicht die Folge einer plötzlichen, unwiderstehlichen Heimsuchung vom Himmel sein, durch die das Wesen des Menschen verändert wird. Die Kriege hören nicht auf, indem ein mystischer Zauber die Herzen passiver Menschen verwandelt. Es wird nicht geschehen durch einen übermächtigen Schicksalsschlag, der die Erde treffen wird in irgendeiner fernen Zukunft, sodass wir heute nichts anderes tun können als still und unbeteiligt zuzusehen, wie die Dinge ihren Lauf nehmen. Die Prophezeiung eines Friedens, so universal wie die Ausbreitung der Menschheit, wird erfüllt werden. Er wird ewig währen wie der Mond am Firmament. Er wird genau zu der

2 Hab 1,5 nach der englischen Übersetzung.

300

Zeit kommen, die festgesetzt ist von Ihm, der das Ende aller Dinge schon bestimmt hat. Aber er wird zuwege gebracht werden durch Menschen. Er wird Raum greifen durch die Philanthropie von denkenden, intelligenten Christen. Die Bekehrung der Juden, die Ausbreitung des Evangeliums dort, wo der Götzendienst herrscht, dies sind eindeutig Bestandteile der Prophetie, um die sich die Gläubigen des Landes jetzt bemühen und die sie mit Eifer und Energie verfolgen. Ich glaube, die Verheißung der endgültigen Ausrottung des Krieges wird auf die gleiche Art und Weise erfüllt werden. Die christlichen Grundsätze werden hier der Maßstab sein. Viele werden sich vereinigen um alle Länder der Welt für die Absurditäten und Ungeheuerlichkeiten zu sensibilisieren. Die Öffentlichkeit wird aufgeklärt sein nicht durch die polemische und aufrührerische Propaganda einer Partei, sondern durch die unaufdringliche Verbreitung der Sensibilität, die dem Evangelium entspricht. Und die Weissagung dieses Buches wird sich erfüllen durch nichts anderes als den Einfluss ihrer einfachen Lehren auf die Herzen und das Bewusstsein der einzelnen Menschen. Zuerst werden diese Werte in ein Land gebracht werden. Nicht unchristliche Verbitterung wird dies vorantreiben. Der christliche Teil der Bevölkerung wird vielmehr die öffentliche Meinung beeinflussen können. So wird er seinen Widerwillen gegen den Krieg zum Ausdruck bringen. Er wird aber gleichermaßen christlich sein durch seine Loyalität und durch die sanftmütigen und gewaltfreien Tugenden des Neuen Testamentes. Jedem Menschenkind mit Wohlwollen zu begegnen, das wird sich wie ein heiliges Feuer ausbreiten bis in die letzten Winkel der Erde. So wird sich die biblische Wahrheit mit Macht von einem Volk zum anderen verbreiten. Sie wird alle Stämme und Geschlechter der Welt erfassen. So werden wir das Ziel erreichen, den Frieden in allen Provinzen der Erde und die Sicherheit an allen Orten. Im weiteren Verlauf dieser Ausführungen, werde ich zuerst etwas zu den Übeln des Krieges sagen. Zweitens werde ich eure Aufmerksamkeit lenken auf die Hindernisse, die seiner Ausrottung im Weg stehen, wodurch die Erfüllung der hier betrachteten Prophetie sich zu verzögern droht. Und drittens werde ich versuchen zu zeigen, wie diese Hindernisse ausgeräumt werden können. Mag dies auch gegenwärtig nur auf eine hastige und oberflächliche Art und Weise getan werden können. Zuerst also zu den Übeln des Krieges: Das bloße Vorhandensein der Prophezeiung in meinem Text ist eine Verdammung des Krieges. Sie stempelt das Wort „Verbrechen“ auf seine Stirn. Sobald das Christentum in der Welt die Vorherrschaft gewonnen haben wird, von dem Moment an, muss der Krieg verschwinden. Wir haben gehört, dass es etwas Edles in der Kunst der Kriegsführung gäbe. Wir habe gehört, ein feine Ritterlichkeit sei etwas Hochherziges. Sie entflammt in der Stunde der Angst und stürmt mit Freude in das dichteste und gefährlichste Getümmel. Ein ritterlicher Mann sei nie stolz, durch seine Todesverachtung wirkt er unerschrocken und heiter während tödliche Pfeile auf jeder Seite an ihm 301

vorbei fliegen. Wir haben das gehört, dieses: Lösche den Krieg aus und du löscht einige der glänzendsten Tugenden der Menschen aus. Lösche den Krieg aus und du zerstörst die Bühne, auf der einige der erhabensten Kräfte des menschlichen Charakters gezeigt wurden. Der Krieg wurde mit einem sehr fatalen Glorienschein umgeben. Man hat versucht, ihn zu rechtfertigen als ein Segen und eine Zierde der Gesellschaft. Man hat versucht, ihn mit vorbildlicher Moral zu verbinden. Das könnte uns fast versöhnen mit dem langen Zug der Gräuel und der Schrecken des Krieges, wenn wir nicht unserer Bibel glauben würden. Sie lehrt uns: In den Tagen der vollendeten Gerechtigkeit wird es keinen Krieg mehr geben. Sobald die Menschen auch noch den letzten Anteil der christlichen Grundsätze angenommen haben werden, werden alle Kriegswerkzeuge weggeworfen werden und alles, was er uns gelehrt hat, wird man vergessen haben. Deshalb sind die sogenannten Tugenden des Krieges überhaupt keine Tugenden. Falls aber doch, dann wird es einen besseren und würdigeren Schauplatz für sie geben. Kurzum, am Beginn dieser glücklichen Zeit, wenn die Herrschaft des Himmel aufgerichtet wird, dann wird sich der Krieg mit all den anderen Plagen und Gräueln, unter denen die Menschheit leidet, von der Welt verabschieden. Aber ganz abgesehen von diesen Belegen für das Böse des Krieges, lasst uns einfach mal einen Blick auf das werfen, was sich in einer Schlacht ereignet. Wir wollen sehen, ob nicht sein Wesen eingraviert ist auf dem, was der aufmerksame Beobachter dann wahrnimmt. Selbst der robusteste Besucher dieser Versammlung würde zurückschrecken, müsste er mitanschauen, wie ein einziger Mensch gewaltsam umkommt. Da steht ein Mann in diesem Moment noch in der Blüte seiner Kräfte vor dir, im nächsten Augenblick liegt er von einem tödlichen Schuss getroffen als lebloser Leichnam zu deinen Füßen. Bei jedem von uns würde sich in diesem Moment zeigen, wie sehr uns ein solches Schauspiel betroffen macht. Das ist der Tod in seiner Abscheulichkeit. Manche von euch würden Tage lang von dem Bild des Schreckens verfolgt werden, dessen Zeuge sie geworden sind. Ein solches Erlebnis ist zutiefst bedrückend. Nur die Zeit kann diese Wunde langsam heilen. Wer von Vorstellungen dieser Art verfolgt wird, ist weder fähig, seinen täglichen Geschäften nachzugehen noch sich an irgendetwas zu erfreuen. Von früh bis spät würden die Gedanken darum kreisen. Nachts würdet ihr davon träumen. So würde selbst das Bett, das euer Zufluchtsort sein sollte von den Qualen dieser Bilder, noch ein Ort der Ruhelosigkeit sein. Aber normalerweise vollzieht sich ein gewaltsamer Tod nicht in einem Augenblick. Zwischen dem Hieb, der ihn verursacht, und seinem Eintreten liegt oft ein schrecklicher und trostloser Zeitraum. Der geflügelte Bote der Zerstörung ist dann noch nicht bis zu dem Lebensnerv des Menschen vorgedrungen. Die Seele wird dann daran gehindert, ihr Haus zu verlassen. Stundenlang muss sie darum kämpfen bevor sie ihren gewundenen Weg aus der Wohnstatt gefunden hat, die von des Bruders 302

Hand zertrümmert wurde. Oh, meine Brüder, der plötzliche Tod ist erschreckend. Aber denkt nicht, dass er uns, wenn er langsam kommt, in einer milderen Form begegnet. Davon Zeuge zu sein, ist erschütternd. Oh, sagt mir, wenn es irgendeinen Rest von Mitleid in euch gibt, wie könnt ihr dann ertragen, den Todeskampf eines sterbenden Menschen anzuschauen? Von Schmerz gepeinigt, krallt er sich in den kalten Boden, Krämpfe schütteln ihn, oder der Blutverlust und der versiegenden Puls lassen ihn immer matter werden bis sein Gesicht weiß wie eine Wand geworden ist. Verzweifelt kann der Sterbende nur allein durch schwache Zuckungen zeigen, dass in seinem klaffenden Körper noch Leben ist. Mit brechendem Blick sieht er dich an, hofft auf Hilfe, die du ihm nicht geben kannst. Es mag schmerzlich sein, bei einer solchen Darstellung zu verweilen, aber nur so wird der Sache der Menschlichkeit gedient. Der Sentimentale wendet seinen Blick ab von den Leiden der Menschen. Er geht vorüber, auf der anderen Seite, dass er nicht das Flehen der Stimme hört. In ihrem Ton klingt Protest mit, kraftvoll und verstörend. Der Sentimentale kann es nicht ertragen hier innezuhalten, bei dem erschütternden Bild, das ein einzelner Mensch in einer solchen Lage bietet. Aber wir müssen diese Qualen zehntausend Mal vervielfachen, um uns ein einziges Schlachtfeld vorzustellen! Wer kann das Elend da ermessen? Wer kann es mit mathematischer Genauigkeit berechnen? Ja, es ist merkwürdig, wenn die Menge auf Zehenspitzen steht, um jede Silbe mitzubekommen bei der Bekanntgabe der gefallenen Soldaten, dann ist nicht ein Seufzer zu hören. Oh, sage, was für ein mystischer Zauber ist das, der uns so blind gegen die Leiden unserer Brüder macht? Was für ein Zauber macht unsere Ohren taub für die Stimme der verblutenden Menschlichkeit? Sie hallt wider in dem tausendfachen Schrei der Sterbenden. In ihm zeigt sich die ganze Monstrosität des Gemetzels. Dieser mystische Zauber wirft einen Schleier über die Grausamkeiten und Schrecken des Schlachtfeldes, der uns gleichgültig werden lässt gegenüber den widerlichsten Abscheulichkeiten, die sich hier zeigen. Dieser Zauber ist es, der den Seufzer aufhält, den wir bei der Nennung jedes Einzelnen Gefallenen ausstoßen müssten. Ich sage nicht, dass die ganze Verantwortung für dieses Verbrechens auf den kämpfenden Truppen ruht. Jemand ist verantwortlich dafür. Aber wer kann leugnen, dass ein Soldat auch ein Christ sein kann? Wenn er auf dem blutgetränkten Boden fällt, dann wird seine Seele sich aufschwingen und ihren Weg an die Ufer der friedvollen Ewigkeit finden. Aber bedenken wir, dass die Christen in der ganzen weiten Welt nur eine sehr kleine Herde sind und eine Armee ist kein günstiger Boden für das Wachstum christlicher Prinzipien. Bedenken wir das Wesen einer solchen Armee. Jahrelang wird sie bestimmt von rohem Ehrgeiz und gewöhnt an barbarische Szenen. Skrupellose Offiziere tun ihr übriges dazu, dass sich Gewalttaten häufen. Die Seele wird dadurch auf das grausamste abgestumpft. Folgen wir den Armeen aufs Schlachtfeld wird 303

uns klar, dass auf beiden Seiten dieses verzweifelten Kampfes die Freundlichkeit der Christenheit in kaum einer Brust Raum finden kann. Aber fast jedes Herz ist entbrannt von blinder Wut und Rache gegen einen Bruder des Menschengeschlechts. Das rechne ich zu den furchtbarsten Katastrophen des Krieges: Während dort der Tod seine Ernte einfährt, müssen so viele entleibte Seelen in die Gegenwart von Ihm treten, der auf dem Thron sitzt, in solch einer Haltung und mit solch einer Vorbereitung. Ich habe weder Zeit noch Lust, ein so trauriges Thema ausführlich zu erörtern. Es würde auch zu weit führen, wenn ich genauer eingehen würde auf die anderen Nöte, die zum Krieg gehören: Jedes Land, das er überrollt, lässt er öde zurück. Menschen werden geschändet, an allen Orten regiert die Angst. Sobald der Krieg heranrückt, quellen die Flüchtlingsströme aus den Häusern. Wo der Krieg ist, gilt das Recht auf Eigentum nicht mehr. Der gesamte Justizapparat verliert seine Bedeutung. Der Krieg achtet auch keine Sonntagsruhe, keinen Sabbat, an dem man sich entspannen kann. Die Kirchenglocke verstummt. Man hört ihre Musik nicht mehr über den Wiesen und Feldern, wie sie die fromme Landbevölkerung ins Gotteshaus ruft. Nichts ist zu hören als die tödlichen Geschützsalven der Schlacht und das unerträgliche Geschrei rasender Menschen. Ist der Sieg errungen, dann wird erlaubt, dass hemmungslose Zügellosigkeit sich unter den Leuten breit macht und auf allem, was als rein, ehrwürdig und heilig gilt, als Tugenden der Familien, wird grausam herumgetrampelt. Bitterer Spott wird damit getrieben. Oh, meine Brüder, würden wir uns hier mit den Details befassen, die kein Stift je niedergeschrieben hat und die sich in keiner Chronik finden, dann wären wir versucht zu fragen: „Inwiefern hat die Zivilisation eigentlich das Wesen der Menschheit verbessert?“ Sie hat ein paar armselige Verzierungen an der Oberfläche angebracht. In unsere Gesellschaftsordnung hat sie Gesetze gebracht, welche die Rechte des Einzelnen und sein Eigentum schützen. Aber dann tritt der Kriegsfall ein mit all seinen Paraden und Kundgebungen. Er mag politisch legitimiert sein. Lasst aber diesen Krieg nur seine Zeit dauern, dann wird man es zulassen, dass er diese juristischen Konstruktionen außer Kraft setzt. Dann werdet ihr sehen, wie sehr die Sicherheit im Land abhängt von geltenden Gesetzen. Es zeigt sich dann auch, wie wenig das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen hier Schutz bieten kann. Ich weiß sehr wohl, dass die positiven Anlagen des Menschen in jeder modernen und aufgeklärten Gesellschaft reichlich Raum zur Entfaltung bekommen haben. Sie sind aber leider auch ins Feld geführt worden, um die biblische Lehre von unserer erbärmlichen Verderbtheit zu widerlegen. Aber die Geschichte des Krieges beweist mir, das diese Lehre zutrifft. Sie sagt mir, dass der Mensch, wenn er sich selbst überlassen ist und auf seine Mitmenschen losgelassen wird, bald merken wird, wie dünn der Flitter ist, den die aufgeblasene Zivilisation über ihn gezogen hat. Dann wandelt er nach dem Ratschluss 304

seines eigenen Herzens und beurteilt die Dinge nach seinem eigenen Gutdünken. Wir müssen nur die Posaune des Krieges blasen und dem Menschen sagen, dass er nun seine Chance nutzen kann, schon wird sich zeigen aus welchen Bestandteilen sein Charakter besteht. Dann würden wir sehen, was es mit unseren moralischen und aufgeklärten Zeiten auf sich hat. Wie viele würden jetzt aufbrechen wie zu einer Freudenfeier und dann wie die Wilden im Busch streifen von einem Raubzug zum nächsten Verbrechen und zur nächsten Grausamkeit. Wir wollen nun diesen Teil des Themas verlassen und zum zweiten Punkt kommen. Welche Hindernisse stehen der Ausrottung des Krieges im Wege? Was also droht die Erfüllung unserer Prophetie zu verzögern? Der Friede ist eingezogen bei uns und in unseren Nachbarländern. Wir sind heute zusammen gekommen, um seinen Triumph zu feiern. Man könnte sich fragen, ob dies der rechte Zeitpunkt ist, das zu beklagen, was die Ausrottung des Krieges verhindert. Darf man an diesem Tag, an dem feierliche Glückwünsche ausgetauscht werden, solche Dinge zur Sprache bringen? Ganz Europa ist nun zur Ruhe gekommen nach dem Sturm, von dem es erschüttert wurde. Ein feierlicher Vertrag mit genauen Regelungen und Garantien verspricht, dass dieser Friede nun anhalten wird. Wir haben lange für solche glücklicheren Verhältnisse gekämpft und haben sie endlich einrichten können. Wir hinterlassen nun der Nachwelt ein Vermächtnis, welches wir uns hart verdient haben. Es ist ein reiches Erbe. Die jetzige Generation hat es durch Anstrengungen und Leiden gewonnen. Dieser monströse Ehrgeiz, der im Triumph über die stabilsten und ältesten unserer Monarchien stolzierte, ist nun zu Fall gebracht worden. Er wird nun nie wieder ausbrechen können aus seinem Gefängnis, um einen neuen Aufstand anzuzetteln. Er wird die Welt nie wieder mit Unruhen überziehen können. Das sei also festgehalten: Jede Phase der Ruhe zwischen zwei Kriegen ist kostbar. Über jede Atempause im Kreislauf der Gewalt sollten sich die Freunde der Menschlichkeit freuen. Jedes Abkommen zwischen den politischen Mächten, was für eine Zeit das Elend der Kriege unterbricht, ist bereits eine Antwort auf die Qualen der Welt. Die Kriegsverbrechen schreien in der Tat zum Himmel, sie werden das Gericht Gottes über die dunklen und rebellischen Bereiche seiner Schöpfung bringen. Ich glaube, an diesem Tag ist Dankbarkeit gegen Ihn, der allein den Aufruhr unter den Menschen stillen kann, die Empfindung jedes Herzens. Ich bin auch überzeugt davon, dass wir alle dem Schreiber des Neue Testamentes dankbar sind, für seine unzweideutige Lehre von der Treue, die den Anderen respektiert und sich ihm unterordnet. Wenn ich mich mit diesem Zeugnis des Willens Gottes befasse, dann kann ich nicht unparteiisch sein. Der Geist des Christentums ist ganz und gar unvereinbar mit dem Geist der politischen Verdrossenheit, der den Konsens verabscheut. Rastlos stiftet er Aufruhr und muss sich überall einmischen. Hier mache ich keine Kompromisse. Dieser scharfsinnige Abschnitt der Bibel 305

darf nicht angetastet werden. Unser Erlöser hat ihn uns hinterlassen, dass seine Jünger ihm gehorsam seien. Kein Jota oder Tüpfelchen darf hiervon aufgegeben werden. Kein noch so kleines Merkmal soll aus dem feinen Bild der Moral entfernt werden, das Christus für uns gezeichnet hat. Er hat es uns vermittelt durch Gebote aber auch durch sein Beispiel. Darin zeigte sich die Schönheit der menschliche Natur, die er angenommen hat. Ich bin sicher, dass jeder, der den ganzen Geist des Evangeliums eingesaugt hat, inmitten all der Wechselfälle des Lebens in dieser Welt eine erhabene Ruhe bewahren kann. Das ist der, welcher selbst ruht in dem Glauben an die Verheißung der Unsterblichkeit. Sein einziger Ehrgeiz ist es ausnahmslos, Schüler des reinen, geistlichen und selbstverleugnenden Christentums zu sein. Ich bin mir sicher, dass ein solcher Mensch auch den König respektiert und alle, die verantwortliche Positionen haben. Sein Gewissen wird ihm gebieten, dass er ihnen untertan ist. Er wird ihnen alles zukommen lassen, was ihnen gebührt. Nicht den kleinsten Teil des Tributes, den sie von ihm verlangen, wird er zurückhalten. Er wird der beste Untertan sein, eben weil er ein wahrer Christ ist. Er widersetzt sich keiner Ordnung Gottes und lebt ein ruhiges und friedliches Leben, fromm und aufrichtig. Ich freue mich, dass ich in diesem Zusammenhang Maßnahmen unserer Regierung lobend erwähnen kann. Gott, der für alle Menschen die Grenzen ihrer Wohnung vorschreibt, hat es gefallen, diesen Teil des Erdballs mit solchen Staatsmännern zu segnen. Die Loyalität gegenüber dieser Obrigkeit verdanke ich nicht nur meinen christlichen Grundsätzen, sondern auch meiner Zuneigung. Es fiele mir schwer, die Verehrung für diese Regierung aufzugeben, die vor wenigen Jahren die Tür zur Christianisierung Indiens öffnete. Diesen Männern zolle ich Respekt, die auch dem grauenhaften Sklavenhandel ein Ende setzten. Ich will niemals vergessen, was für einen Triumph die Menschlichkeit an diesem Tag innerhalb der Wände unseres aufgeklärten Parlamentes gefeiert hat. Das war der stolzeste Tag in der Geschichte Britanniens. Eher sollte meine rechte Hand ihre Geschicklichkeit vergessen, als dass ich dieses Land meiner Geburt vergäße, wo die Regierung sich großmütig entschloss, die Schande, die auf ihr lag, einfach abzuschütteln. Sie hat dies getan allen Protesten zum trotz, die einen wirtschaftlichen Niedergang heraufbeschworen. Alle Ertragsberechnungen wurden in den Wind geschlagen. Die Risiken, die damit verbunden waren, war man bereit in Kauf zu nehmen. Ich will auch nie vergessen, wie sie die Runde machte unter den zivilisierten Gesellschaften. An der Tür von jeder Regierung in Europa klopfte sie. Flehentlich erhob sie ihre Stimme für das geschändete Afrika. Vor den mächtigsten Monarchen der Welt vertrat sie die Sache seiner geplünderten Küsten und verletzten Familien. Ich kann weder mein Herz noch meine Augen vor der Tatsache verschließen, dass in diesem Moment unsere Kriegsmarine bis an den Rand ihrer Möglichkeiten geht, um die afrikanische Küste zu beschützen. Immer noch setzt hier eine unmensch306

liche Geldgier ihre miesen Projekte in die Tat um. Diese Habsucht will den grausamen Handel inmitten eines unschuldigen Volkes fortbestehen lassen mit all seinen Schrecken und Abscheulichkeiten. Der Sturz einer Regierung, wie wir sie haben, durch fremde Feinde oder durch die Hände ihrer eigenen fehlgeleiteten Kinder, würde immer auch die Entwicklung der Menschlichkeit und Tugendhaftigkeit unterbrechen. Oh, jedes Herz sollte bei dem Gedanken an das Land unserer Väter, nicht so sehr mit Stolz, sondern mit Dankbarkeit erfüllt werden. Ja, Ungerechtigkeit gibt es hier auch im Überfluss. Die Sittenlosigkeit breitet sich auch entlang unserer Straßen aus. Blasphemische Menschen gibt es auch bei uns. Aber obwohl unser Land bedeckt ist mit den scheußlichsten Gestalten der Schuld, ist es immer noch die sicherste Freistätte der Wertschätzung und Freiheit des Menschen. Dies ist das Land, dass am meisten beiträgt zur Ausbreitung des Christentums bis in die letzten Winkel der Welt. Dieses Land wimmelt von den großartigsten Plänen und Unternehmungen zum Wohl der Menschheit. Dies ist das Land, in dem der Gemeinsinn am meisten ausgeprägt ist. Nirgendwo wird das, was der Allgemeinheit dient, so gefördert wie hier. Dieser Impuls lässt zahlreiche Menschen des Landes die Grenzen eines selbstsüchtigen und engherzigen Patriotismus überwinden. Ja, und wenn den Philanthropen der Mut verlässt, angesichts der Verbrechen und Gräuel der Menschheit, dann weiß ich kein geeigneteres Mittel, um ihn aufzuheitern, als seinen Blick auf das Land zu lenken, in dem er lebt. Dort kann er die aufgeklärteste Regierung der Welt sehen. Sie ist die Stimme einer Bevölkerung, in der die Moral und Intelligenz am meisten entwickelt ist. Von daher beziehen sich die folgenden Bemerkungen nicht auf die Regierung meines Landes. Es geht vielmehr um die Natur des Menschen, um die Schwächen, die wir alle haben, um das Böse, das keine Staatsmacht beseitigen kann. Es gibt nun eine neue politische Konstellation. Die Folge davon ist eine zeitweilige Ruhe. Aber wir haben uns noch nicht auf den Weg gemacht zur Festung der menschlichen Leidenschaften. Die Mechanismen, welche die Kriege verursachen, sind für eine Zeit außer Kraft gesetzt, aber sie sind noch nicht zerstört. Sie nagen immer noch an manch einem ungebändigten Herzen. Die Wechselfälle der Geschichte haben es uns sehr gut gelehrt, dass sie wieder donnernd über die Gesellschaft hereinbrechen werden. Nein, meine Brüder, erst wenn sich das lebendige Christentum völlig auf der Erde ausgebreitet hat, wird sich auch ein dauerhafter Friede gleichzeitig mit ihm ausbreiten. Die Prophetie unseres Textes wird dann erfüllt werden. Das wird aber nicht geschehen bevor die Verse erfüllt werden, die ihr vorausgehen. Es wird nicht geschehen bevor der Einfluss des Evangeliums seinen Weg in die Herzen der Menschen gefunden hat und die Wurzeln des Krieges ausgerauft hat. Es wird erst kommen, wenn das Gebot der überströmenden Liebe unter uns Menschen zu wirken beginnt, die wir alle von der gleichen Natur sind. Der Friede wird sich erst auf der Welt ausbreiten, wenn 307

der Ehrgeiz seine Herrschaft über die Gefühle des inwendigen Menschen verloren hat. Das wird erst eintreten, wenn der Prunk des Krieges von keinem mehr bewundert wird, dann wird das massenhafte Dahinmetzeln von Menschen keine Heldentat mehr sein. Es wird erst eintreten, wenn sich der Nationalstolz in Demut verwandelt hat. Der Mensch muss zuerst lernen, dass wenn es die Pflicht jedes einzelnen von uns ist, den anderen höher als sich selbst zu achten, dann sollten wir diesen Grundsatz auch als Gemeinschaft umsetzen. Wenn die einzelnen Menschen sich zusammenschlössen nach ihrem eigenen Gutdünken, wenn sie zahlreiche und ausgedehnte Verbände gründeten und jeder von diesen das Ausmaß eines Weltreiches bekommen würde, dann müssten auch diese Weltreiche einander mit Verständnis und Nachsicht begegnen. Das wäre ihre christliche Pflicht. Der Friede wird sich erst auf der Welt ausbreiten, wenn der Mensch gelernt hat, seinen Bruder als Menschen zu respektieren, welchen Teil des Erdballs er auch immer bewohnt. Man muss sich abkehren von der Missgunst und den Vorlieben eines engherzigen Patriotismus. Der Krieg darf nicht mehr als Gewerbe betrachtet werden. Nichts Positives darf mehr mit der Fortdauer des Krieges verbunden werden. Die Freude an einem florierenden Warenverkehr darf niemanden mehr zu der barbarischen Sehnsucht nach einem Krieg verleiten. Mit einem Wort, der Friede wird sich auf der Welt nicht eher ausbreiten, bis sich die Einstellung der Menschen verändert hat, welche die Öffentlichkeit und die politischen Bewegungen bestimmen. Stolz, Missgunst, Eigennutz und alles, was dem Gesetz Gottes und der Nächstenliebe entgegensteht, darf hier keinen Raum mehr haben. Es gibt keine andere Kraft auf der Welt, die dies bewirken kann, als das Evangelium von Christus. Durch die allesüberwindende Macht des Geistes wird es in das Bewusstsein der Menschen gebracht. Wenn das geschehen ist, und erst dann, meine Brüder, wird der Friede kommen. Erst dann wird er seinen beständigen Wohnsitz bei uns aufschlagen und seine Ankunft auf Erden wird bejubelt werden durch einen Freudenschrei, der durch alle Geschlechter der Welt geht. Dann, und erst dann, wird der heilige Grundsatz, jedem Menschen mit Wohlwollen zu begegnen, so frei wie die Luft des Himmels in allen Ländern die Runde machen. Die Sonne, die dann vom Firmament herabschaut, wird eine wiederhergestellte Welt erblicken, die ganz und gar von Harmonie geprägt ist. Es wird erst in den letzten Tagen sein, „wenn der Berg mit dem Haus des Herrn fest stehen wird, höher als alle Berge und er wird alle Hügel überragen, und alle Nationen werden zu ihm strömen, und viele Völker werden hinzugehen und sagen: Kommt, lasst uns auf den Berg des Herrn gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, er wird uns seine Wege lehren und wir werden auf seinen Pfaden wandeln! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und das Wort des Herrn von Jerusalem. Und er wird richten unter den Nationen und zurechtweisen viele Völker.“ Dann, und erst dann „werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße

308

zu Sicheln schmieden. Es wird keine Nation mehr gegen die andere das Schwert erheben und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“3

Die obige Skizze lässt uns einen Blick auf die Dinge werfen, die im Wesentlichen die Ausrottung des Krieges verhindern. Im Folgenden möchte ich nun noch genauer auf einige von ihnen eingehen, soweit es meine Zeit erlaubt. Im Rahmen eines öffentlichen Gottesdienstes ist es leider nicht möglich, ein solches Thema erschöpfend zu behandeln. Das erste, was der Ausrottung des Krieges im Wege steht, ist die Wirkung, welche die betrügerische Pracht, die mit ihm einhergeht, auf das menschliche Herz hat. Hierdurch werden nicht mehr seine Barbarei und seine Schrecken wahrgenommen. Ein Gefühl der Erhabenheit umgibt das Bild von zwei aufeinander prallenden Armeen. Es ist gerade so wie beim Gedanken an die verwüstenden Kräfte eines Sturmes. Das ergreift den Menschen so sehr, dass er blind wird für die Tränen der Eltern, die ihren Sohn verloren haben und taub für das Stöhnen der Sterbenden. Das Schreien ihrer vereinsamten Familien hört er nicht mehr. Es gibt eine Anmut in dem Bild des jugendlichen Kriegers, der danach strebt, sich auf dem Schlachtfeld Auszeichnungen zu erwerben. Hiervon angetrieben stürzt er sich ins tiefste Getümmel, wo auch die jungen Männer der Gegenseiten dem grausamen Handwerk des Tötens nachgehen. Auch sie streben nach Tapferkeit und wollen sich einen Namen machen. Diese Seite des Bildes zieht so sehr unsere Aufmerksamkeit auf sich, dass uns die entstellten Körper der Gefallenen verborgen bleiben und die vielen Hunderten, die sich in Todeskämpfen winden. Auf den kalten Erdboden hat man sie gelegt. Dort werden sie immer matter bis sie schließlich sterben. Keiner ist da, der mit ihnen Mitleid hat. Keine Schwester ist da, die um sie weint. Keiner steht den Sterbenden zur Seite. Keiner verbindet die Wunden, die sich die Kinder des einen gemeinsamen Vaters in dem blindwütigen Kampf einander zugefügt haben. Fahl breitet sich der Tod über den Gesichtern aus, wenn die Nacht hereinbricht und es dunkel wird um die Getroffenen. Wie viele arme Kerle müssen so enden, ein blutiger Acker als Ort der letzten Leiden? Kein Freund ist da, dem man noch eine Nachricht für die Lieben zu Hause anvertrauen kann. Kein Gefährte ist am Ende noch da, um ihnen die Augen zu schließen. Ich bekenne offen, wie sich mir die Sache darstellt. Von den verschiedensten Richtungen her wird versucht, dem Krieg einen ganz und gar falschen Anstrich zu geben. Die schockierende Barbarei, die sich in ihm zeigt, wird dabei in den Hintergrund gerückt. Ich sehe das in der Geschichtsschreibung, die von dem außergewöhnlichen Auftreten der Truppen berichtet und wie glänzend sie ihre Einsätze gemeistert haben. Ich sehe das in der Dichtung, die mit dem Zauber ihrer Verse Loblieder auf das Blut singt. Sie rührt ihre vielen Verehrer durch ihre Bilder und 3 Jes 2,2–4.

309

Vergleiche. Da wird die Szenerie des legalisierten Schlachtens auf trügerische Weise beschönigt durch die wippenden Federbüsche an den Hüten der Kavallerie. Ich sehe das auch in der Militärmusik. Nachdem eingangs die Fanfaren ertönten, ist ein eleganter und feinsinniger Salon vollständig bereit, sich sentimentaler Unterhaltung hinzugeben. Da hört man keinen einzigen Seufzer, der diese Todesmusik unterbricht, welche die Klänge einer Schlacht nachzeichnet, mit den Schreien der getroffen Männer. All das beweist, was für sonderbare Geschöpfe wir sind, die wir offenen Auges nur die halbe Wahrheit sehen können. Wäre es nicht so, dann wäre der Krieg für die Menschen immer nur etwas ganz und gar Abscheuliches gewesen. Ich sehe nur eins, was der weit verbreitete Parteilichkeit für den Krieg ein Ende bereitet. Das ist die Zunahme der christlichen Art zu empfinden auf der Erde. Wenn dies eintritt, dann werden alle Neigungen und Fähigkeiten unserer Natur einem mächtigen Pflichtgefühl unterworfen sein. Alles wird an strengen Maßstäben gemessen werden. Dann wird nur noch das ehrenvoll genannt werden, was wirklich ehrenvoll ist. Der Umgang der Menschen miteinander wird von aufmerksamer Güte bestimmt sein. Sie wird jeden falschen Zauber verjagen und sich durch nichts mehr täuschen lassen. Sie wird sich zeigen in einfachen aber dennoch erhabenen Projekten, die dem Wohle der Menschheit dienen. Wahrheit und Friedlichkeit wird dann in der Welt regieren. Der grausame, scheußliche und unerbittliche Krieg wird dann seine Faszination verloren haben. Was des weiteren die Ausrottung des Krieges verhindert ist eine Einstellung, die anscheinend weltweit übernommen wurde, dass die Gesetze und Verheißungen des Evangeliums zwar dem einzelnen Individuum gelten, nicht aber den Nationen der Individuen. Denkt nur welche gewaltigen Auswirkungen es auf die Weltpolitik haben würde, wenn diese Meinung ihre Bedeutung verlöre und keinen Einfluss mehr auf Gespräche hätte, welche die Repräsentanten der Länder miteinander führten. Welche Auswirkungen hätte es, wenn die Art, wie die Nationen miteinander umgehen, nicht mehr davon bestimmt würde? Wenn Geduld eine Tugend des Individuums ist, dann ist Geduld auch eine Tugend für die Nation. Wenn die einzelnen Menschen dazu verpflichtet sind, jedem anderen Menschen mit Respekt zu begegnen, dann ist auch die Gesellschaft als größte Gemeinschaft der Menschen verpflichtet, das gleiche zu tun. Das ist die Aufgabe der Regierung. Sie ist das rechtmäßige Sprachrohr der Gesellschaft. Wenn es die Ehre eines Mannes ist, seinen Zorn zu beherrschen und einem Mitmenschen seine Schuld nicht anzurechnen, dann gilt das auch für die Nation. Wenn sie auf die geringste Beleidigung und Provokation reagiert mit Drohungen und dem Einsatz von Waffen, dann verkennt sie ihren Ruhm. Ein Mann, der verletzt wurde, ist großmütig, wenn er von Rache absieht. Dabei sammelt er feurige Kohlen auf das Haupt seines Feindes. So ist das auch eine großmütige Nation, die vor dem Einsatz von Gewalt zurückschreckt und Blutvergießen vermeiden 310

will und stattdessen eine christliche Botschaft sendet und es vorzieht auf sanfte Weise nachdrücklich Protest einzulegen. Das ist eine ruhmlose Nation, die bei einer solchen Herausforderung moralisch versagt. Oh, meine Brüder, es muss ein anderer Geist um den Erdball wehen, ehe die christianisierten Nationen darauf verzichten, einander zu beneiden. Dadurch bilden sie Fronten und verachten sich gegenseitig. Vieles muss getan werden mit den Einwohnern eines jedes Landes, bevor der prophezeite Einfluss des Evangeliums die Gremien und Regierungen der Welt erreichen wird. Dann werden sie sich durch Tugendhaftigkeit und Friedfertigkeit auszeichnen. Ich glaube, ich muss zum Schluss kommen. Ich muss mich zurückhalten verschiedene Themen zu erläutern, die ich noch vor euch ausbreiten wollte. Insbesondere wollte ich noch die Folgen der Ausrottung des Krieges in den Blick nehmen. Hierdurch würde ja ein Bereich wegfallen, der Menschen zu Ehren kommen lässt, indem sie ihren Mut beweisen. Gleichwohl würden sich hierdurch bessere und edlere Möglichkeiten auftun, in denen auch mutiges Handeln gefordert ist. Ich würde euch auch gern verdeutlichen, weshalb ich nicht in jeder Hinsicht das Konzept der Quäker übernommen haben. Die Grundzüge ihre Meinung über den Krieg schätze ich. Ich meine aber, dass ein Kriegseinsatz anders bewertet werden muss, wenn er ganz und gar defensiv ist. Ich habe den Eindruck, dass der Krieg abgeschafft werden soll, indem einer aggressiven Haltung im Umgang zwischen den Staaten kein Raum mehr gegeben wird. Den Prophezeiungen des Textes entnehme ich die Reihenfolge der Ereignisse. Es wird geschehen wenn „keine Nation mehr gegen die andere das Schwert erheben wird.“ Oder, in anderen Worten, wenn die Länder sich nicht mehr damit beschäftigen, wie sie einander angreifen können, dann wird militärisches Wissen nicht mehr benötigt. Dann werden die Menschen auf der Erde die Kunst der Kriegsführung nicht mehr erlernen. Wegen der begrenzten Zeit habe ich auch nichts zu der Frage gesagt, inwiefern Kriege, welche dieses Land geführt hat, gerecht oder notwendig waren. Ich bezweifle nicht, dass viele, die unsere vergangenen Kriege unterstützt haben, manche davon als Kriege angesehen haben, die notwendig waren, um zu überleben. Aber meine Meinung zu diesem Thema soll hier in keiner Weise von Bedeutung sein. Wenn ich in diesem Bereich eine Stellung beziehen würde, dann würde ich mich von dem christlichen Grundsatz entfernen, dass die Kanzel niemals zum Vehikel einer fragwürdigen Politik gemacht werden darf. Nein, die Kanzel darf niemals dazu dienen, einen Menschen zu beweihräuchern, noch darf sie als Forum einer aufrührerischen Partei beklatscht werden, die jeden Konsens ablehnt. Das ist ihrer nicht würdig. Hätte ich genügend Zeit, würde ich auch noch Erkenntnisse weitergeben, die ich aus meiner Beschäftigung mit der Politikwissenschaft gewonnen habe. Ich würden dann über die vielen wunden Punkte sprechen, die sich an der Peripherie dieses Landes finden. Der Grund hierfür sind die zahlreichen entfernteren Gebiete, die 311

von uns abhängig sind. Auch wenn sie dahin tendieren, die Militärpolitik unserer Regierung zu unterstützen, sind sie doch in Wahrheit den Preis eines Krieges nicht wert. Wenn man uns alle diese Gebiete entreißen würde, dann wären die Menschen unseres Königreiches genauso bedeutend und wohlhabend wie vorher. Wir wären dann immer noch in jeder Hinsicht in der Lage unser Land zu verteidigen. Wenn der Raum dafür da wäre, dann hätte ich vielleicht auch noch vorgeschlagen, dass wir Europäer uns ein wenig mehr an der Politik Chinas orientieren sollten. Es sollte dabei nicht darum gehen, den freien Warenverkehr zwischen den verschiedenen Ländern zu begrenzen. Aber die riesige Angst vor den Plänen und Aktionen der anderen Staaten würde dadurch gedämpft werden. Ich bin mir sicher, wenn jedes große Imperium der Welt den Grundsatz der Nichteinmischung immer so lange befolgen würde, bis es selbst angegriffen wird, dann würden alle Beteiligten die Bedeutung dieser Maxime für ihre Sicherheit erkennen. Alle würden dies als Errungenschaft wahrnehmen. Die Ressourcen eines defensiven Krieges sind so gewaltig, dass selbst, wenn die gesamten transportfähigen Streitkräfte Europas bei uns landen würden, dann wäre das Resultat eines solchen Versuches dies, dass es nie mehr wiederholt werden würde. Die zusammenströmende Bevölkerung Britanniens könnte sie alle von der Oberfläche ihres Territoriums fegen. Die Massen der Invasionsarmee würden sich unter der Macht unserer Regierung bald auflösen. Sie ist sicher verschanzt hinter der Loyalität ihrer Verteidiger. Ihre legitime Stärke rührt von der Liebe und dem Vertrauen, dass ihre Kinder ihr entgegen bringen. In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf Erkenntnisse der Volkswirtschaft kommen. Ich würde das nicht tun, wenn sie uns nicht mit nur einem Schritt zu einer christlichen Lehre führen würden. Ich halte es für meine Pflicht, gerade auf diese Lektion eure Aufmerksamkeit zu lenken: Wenn sich im Warenverkehr die Nachfrage plötzlich verändert, dann versetzt dies die Wirtschaft in eine zeitweilige Unordnung. Dabei ist es unwesentlich, ob diese Veränderung beim Wechsel vom Krieg zum Frieden oder umgekehrt stattfindet. Seit mehr als zwanzig Jahren ist unser Handel vom Kriegszustand bestimmt gewesen. Nachdem sich dies nun ändert, kann ich nicht sagen, was für Schwierigkeiten auf diese Region zukommen werden. Aber wir können sicher sein, dass fallende Preise auf den Märkten und Spekulationsverluste Ängste hervorrufen werden. In der Folge davon wird sich eine bedrückende Stimmung in vielen Industriegebieten des Landes breit machen. Auch wenn die Tatsache, dass ich mich hier auf fremdem Boden bewege, fragwürdig sein mag, so zögere ich doch nicht, euch in diesem Zusammenhang an eure dringlichste Pflicht zu erinnern: Kein ungeduldiges oder unzufriedenes Geschrei eurerseits darf die friedlichen Maßnahmen der Regierung seiner Majestät behindern! Durch sie kam ein großer Segen in dieses Land, dadurch, dass sie ihm den Frieden gebracht haben und es ist eure un312

tertänigste Aufgabe, während der Monate der möglicherweise verheerenden Wirtschaftsflaute, durchzuhalten. Die Ansprüche der Wirtschaft sind ein altes Argument, das gegen die wichtigsten und wesentlichsten Ansprüche der Menschlichkeit ins Feld geführt wurde. Als Paulus das Christentum nach Ephesus bringen wollte, brach ein Sturm der Opposition los. Ich wage zu sagen, dass er einen solchen Widerstand nicht aus diesem Bereich erwartet hat. Zufällig gab es dort einige Hersteller von Devotionalien und da der Erfolg des Apostels unwillkürlich eine Verringerung der Nachfrage dieses Produktes mit sich gebracht hätte, wurde das entscheidende Argument vorgebracht: „Meine Herren, durch dieses Handwerk haben wir unseren Reichtum und sollte dieser Paulus das Volk abbringen vom Anbeten der Götter, die wir von Hand herstellen, würde großer Schaden unserem Handel erwachsen.“4 Warum, meine Brüder, wenn dieses Argument erlaubt sei, wird hier kein einziger Vorteil vorgetragen, den die Annahme des Christentums mit sich bringen würde? Wäre es nicht gut, wenn die vielen gebildeten Männer im Lande von dem Gift abgebracht würden, das in zahlreichen frivolen Veröffentlichungen steckt? Wenn diese gesegnete Reformation umgesetzt würde, würde sich da niemand finden, der meint, dass seinem Geschäft geschadet würde? Wenn diese elenden Söhne der Lust nicht Buße tun, dann liegt vor ihnen die ganze Trostlosigkeit einer Ewigkeit, um die sie sich nie gekümmert haben. Wäre es nicht gut, wenn sie der Abhängigkeit von diesem Gift entrissen werden könnten, die sie in den Ungehorsam treibt? Gewiss würde sich da jemand beschweren, dass seinem Handel Schaden zugefügt worden sei. Ist es nicht gut, dass die Schande des Sklavenhandels aus der Britischen Geschichte getilgt wurde? Und doch werden sich noch viele von euch daran erinnern, wie diese Maßnahme lange aufgeschoben wurde und dass jährlich ungefähr zwanzig Flottillen, beladen mit menschlichem Elend, über den Atlantik gesandt wurden. Zur gleichen Zeit wurde das Parlament betäubt von dem nicht enden wollenden Geschrei über die wirtschaftlichen Verluste, die zu erwarten wären. Und jetzt, ist es nicht gut, dass den Nationen wieder einmal Frieden gegeben wurde? Wird man von euch im Anschluss an diese lange Reihe von Beispielen noch einen einzigen Ton der Unzufriedenheit hören über den großen Schaden, den er eurem Handel bringt? Nein, meine Brüder, ich werden keinen einzigen Zoll abweichen von dem, was das Christentum von euch fordert. Aber auch wenn eine riesige Flut von Konkursen über das Land kommt und jeden Einzelnen, der mich jetzt hört, in die bescheidensten Verhältnisse versetzt, so hat Gottes Zusage immer noch Bestand, Essen und Kleidung denen zu geben, die ihm vertrauen. Es ist nicht fair, andere bluten zu lassen, damit ihr im Wohlstand schwelgt. Es ist nicht fair, tausende von Familien ins Elend zu stürzen, damit eure

4 Vgl. Apg. 19,25ff.

313

Familien ein Leben im Luxus führen können. Das beste, nobelste und barmherzigste, was ihr tun könnt, ist, euch ganz und gar auf Gottes Verheißungen zu verlassen. Er wird euch und eure Lieben bergen im Schutz seines Zeltes5 bis diese Not vorbei ist. Ich komme zum dritten Punkt. Durch das, was gesagt wurde, ist sicherlich deutlich geworden, dass die Ausbreitung der christlichen Grundsätze unter den Menschen, die Gräuel des Krieges endgültig von der Erde verschwinden lässt. So kann jeder von uns auch dazu beitragen, dass diese glückliche Zeit früher eintritt. Jeder, der in seinem Bereich alles ihm mögliche unternimmt, um sich selbst und andere unter den beispiellosen Einfluss dieser Maßstäbe zu bringen, ist daran beteiligt. Letztlich wird die Welt von der öffentliche Meinung regiert. Ich bin überzeugt davon, dass Schritt für Schritt eine radikale Veränderung der öffentlichen Meinung eintreten wird. Dies wird kommen durch die Allmacht der Wahrheit des Evangeliums, die auf stille aber effektive Weise unter den Geschlechtern der Menschheit wirkt. Trotzdem bezweifle ich nicht, dass noch vieles getan werden kann, damit der immerwährende weltweite Friede früher eintritt. Eine bestimmte Gruppe von Männern ist hier wichtig, die all ihre Fähigkeiten und ihren ganzen Besitz in den Dienst dieses Zieles stellen. So wurde vor ein paar Jahren die britische Öffentlichkeit für die Sache Afrikas gewonnen. Auf diese Weise eilen zur Zeit auch einige andere Prophetien der Bibel ihrer Erfüllung entgegen und ich gehe davon aus, das auch die Prophetie unseres Textes in dieser Art, der Hilfe des Menschen bedarf. Es liegt in unserer Hand, ob ihre Erfüllung früher kommt. Menschen werden hier gebraucht, die sich dafür entschieden haben in diesem Bereich ihre Menschenfreundlichkeit auszuüben. Wenn jeder zu diesem Projekt seinen ganz persönlichen Beitrag leistete, dann wäre das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit eine der feinsten Sammlungen von christlicher Eloquenz, aufgeklärter Moral und solider politischer Philosophie, die jemals der Welt präsentiert wurde. Ich kenne nichts, das mehr geeignet ist, so eine Palette von Talenten ans Licht zu bringen und so viele hochherzige und gebildete Söhne der Menschheit zu versammeln. Sie würden das gemeinsame Ziel nur durch Veröffentlichungen verfolgen, dennoch würde es jedem von ihnen eine Hingabe und eine Kraft verleihen, die weit über das hinausgeht, was das Herz von Enthusiasten entflammt. Einer davon greift dann die Frage der Prinzipien des Krieges auf mit all seinen Abscheulichkeiten und entfaltet das Thema mit der ihm gegebenen moralischen Konsequenz. Ein anderer würde die Frage der Folgen des Krieges beleuchten und seine Begabung in Spiel bringen, Dinge anschaulich beschreiben zu können. Er würde einer aufgewachten Öffentlichkeit die eindrücklichen Details der Grausamkeiten und der Ängste

5 Vgl. Ps 27,5.

314

im Krieg schildern. Ein anderer widmet sich dann der Kriegslyrik und verdeutlicht die Verlogenheit ihrer Ästhetik als Beispiel fehlgeleiteter Begabungen. Wieder ein anderer würde zeigen, dass es einen wahrhaftigeren Weg zu nationaler Größe gibt, einen edelmütigen Weg, der noch nie beschritten wurde. Ein weiterer entfaltet mit überzeugenden Argumenten, warum die christliche Ethik einer Nation nicht von der christlichen Ethik seines einfachsten Individuums unterschieden werden kann. Wieder ein anderer bringt all seine Kenntnisse der Politikwissenschaft ein, um die erstaunlichen Möglichkeiten eines defensiven Krieges zu verdeutlichen. Er würde zeigen, dass ein Staat nicht dadurch sicherer wird, dass unaufhörlich Neid und Argwohn gegen ein anderes Land geschürt wird. Hierdurch wird nur die Flamme der Feindseligkeit zwischen den Staaten am Leben erhalten. Er würde zeigen, dass es viel besser ist, gut vorbereitet darauf zu warten bis der erste Eindringling seinen Fuß auf unser Land setzt. Dann erst sollte der Zeitpunkt gekommen sein, all den Stahl, Geist und Patriotismus des Landes aufzubieten, um diesen Verstoß gegen unsere Rechte zu ahnden. Ein anderer sollte das moderne Reflektionsvermögen einsetzen, um das ans Licht zu bringen, was im Bereich der Wirtschaft bisher im Dunkeln geblieben ist. Er sollte deutlich machen, dass nicht ein einziger Krieg geführt wurde, wegen der Gründe, die dafür angegeben wurden. Millionen und Abermillionen wurden dafür verschwendet, sind wir da nicht alle betrogen worden von dem Phantom eines imaginären wirtschaftlichen Gewinnes? Für viele mag dies aussehen wie die Utopie einer romantischen Vision. Aber ich bin überzeugt davon, dass die Wahrheit, welche einem christlichen Publikum verkündigt wird, immer zum Ziel kommt, wenn jeder Aspekt von ihr deutlich erhellt werden kann. Das gilt auch für die Wahrheit, um die es heute ging. Sie wird auf eine sehr praktische und überzeugende Weise in die Tat umgesetzt werden. Es ist eine der klarsten himmlischen Prophetien: „Dann werden die Menschen ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln schmieden und es wird keine Nation mehr gegen die andere das Schwert erheben und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“

315

Personenregister Aberdeen, 4th Earl of siehe: Hamilton-Gordon, George Althusius, Johannes 31 Andreae, Johann Valentin 113 Anstruther, Sir John 74 Ashley Cooper, Anthony, 7th Earl of Shaftesbury 56, 69f, 211–212 Aubigné, Jean Henri Merle d’ 250 Babington, Thomas 189 Bacon, Francis 122, 130 Barrow, Henry 28 Barth, Karl 93, 224 Bayle, Pierre 123 Bebbington, David W. 22, 115, 121, 123, 135, 200, 213, 215 Bengel, Johann Abrecht 117 Bentham, Jeremy 56, 130 Benz, Ernst 112 Berg, Johannes van den 103–105 Berger, Peter L. 215 Beyreuther, Erich 117 Blackburn, John 250f Blumhardt, Johann Christoph 117 Boyle, Robert 112 Brachlow, Stephen 21 Bradley, Ian 135 Bridgewater, Francis Henry Earl of 88 Brightman, Thomas 110 Brown, Steward J. 25, 175, 182, 185, 206f, 212 Browne, Robert 38f, 42, 45 Bunsen, Christian Carl Josias Freiherr von 247 Bunting, Jabez 251 Burns, R. 159 Cage, R. A. 170 Calvin, Jean 19, 27, 74, 95, 107, 109, 113, 124, 128, 139, 145, 160 Carey, William 115

Carnap, Johann Adolph von 238 Carwadine, Richard 211 Chalmers, Alexander 143 Chalmers, Elizabeth 73 Chalmers, Grace 80 Chalmers, James 78 Chalmers, John 73f Chalmers, Lucy 77 Charles I (Stuart), King of England, King of Scots, King of Ireland 32, 36 Charlotte, Queen (Frau von King George III) 118 Charter, Samuel 130 Checkland, E. O. A. 170 Checkland, Sydney 251 Cheyne, Alexander 165 Chrysostomos, Johannes 269 Coggins, James Robert 21f Cotton, John 49f Cromwell, Oliver 50f, 111 Darby, John Nelson 61, 116f Dealty, W. 251 Detzler, Wayen Allen 242, 249 Deutschmann, Stefan 204 Doddridge, Philip 115, 123 Drummond, Henry 212 Duff, Alexander 84 Dun, Laird of siehe: Erskine, John Duncan, Henry 163 Edwards, Jonathan 60, 74, 78, 114f, 120, 123 Ehrenfeuchter, Friedrich 243 Elazar, Daniel J. 21, 29, 47 Elliot, Edward Bishop 214 Ernst, Karsten 23, 63f, 120 Erskine, John 115 Erskine, John, Laird of Dun 29 Everett, William Johnson 21, 46f Ewan, James 204

317

Feldner, Ludwig 235f, 240, 253 Ferguson, Adam 46, 125f, 128, 130f Ferguson, W. 139 Fliedner, Theodor 62, 72, 249 Förster, Winfried 21, 46 Francke, August Hermann 113, 115 Freire, Paulo 173 Friedrich Wilhelm IV, König von Preußen 248 Friedrich, Martin 246f, 252 Friedrich, Norbert 68 Fry, Elizabeth 71f Fudickar, Peter 238 Furgol, Mary Theresa 25, 79, 154–156, 200 Gäbler, Ulrich 24, 61, 78, 107, 109f, 115f, 120f, 124, 127, 140, 158, 215 Gauvreau, Michael 216 Geldbach, Erich 45, 261f Gerhard, Martin 245, 249 Gerlach, Otto von 234f, 241, 243, 247f Giebel, Astrid 15 Gladden, Washington 252 Graham, Billy 215 Greschat, Martin 58, 103 Großmann, Siegfried 9 Haldane, James 66, 200 Haldane, Robert 66, 200, 207 Halévy, Elie 22 Hamilton-Gordon, George, 4th Earl of Aberdeen 91 Hanna, William 26, 89, 101, 200 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 112 Heinrichs, Wolfgang E. 235, 263 Helwys, Thomas 40, 43 Henderson, Charles 252 Herman, Arthur 123 Heydt, August von der 237 Heydt, Daniel von der 237–239 Heyne, Christian Gottlob 126 Hillis, Peter 196 Hilton, Boyd 23, 130, 139, 212, 250 Hobbes, Thomas 46 Holl, Karl 24, 222, 235, 247 Humboldt, Alexander von 172

318

Hume, David 122, 125f, 128 Irving, Edward 116f, 147, 153, 159f Iselin, Isaak 126 Jacob, Henry 39f, 42 Jähnichen, Traugott 68 James VI (Stuart), King of Scots ab 1603 auch: King of England and Ireland als James I 32, 37 Jefferson, Thomas 48 Johnston of Wariston, Sir Archibald 31, 36 Kant, Immanuel 122f Kardorf, Ernst von 161 Knox, John 19, 29, 32f, 35–37, 90, 93, 97, 100, 107, 224 Köstlin, Julius 248 Kottwitz, Hans Ernst Baron von 106 Kraimer, Klaus 161 Kunz, Erhard 133 Kyrus, König von Medien und Persien 300 Lalor, John 189 Laud, William 36 Lehmann, Hartmut 23, 64 Lewis, George 84 Lischke, Emil 239 Locke, John 46, 52, 123 Luckey, Hans 242 Luther, Martin 43, 108f, 113, 137, 157 Macaulay, Zachary 251 Maciver, Iain F. 227 Macleod, Donald 167, 170f, 174 Malthus, Thomas Robert 88, 163, 167, 219 Marx, Karl 88 Mary (Stewart), Queen of Scots 29 McBeth, H. Leon 22, 49, 52 McCaffrey, John 160 Mead, Joseph siehe: Mede, Joseph Meckel, Wilhelm 238 Mede oder: Mead, Joseph 110f, 113 Meiners, Christoph 126 Meißner, Erwin 241

Melville, Andrew 33 Merz, Heinrich 242 Milton, John 50 Moltmann, Jürgen 161, 265 Moody, Dwight Lyman 213 More, Henry 113 Morill, John 21 Müller-Kohlenberg, Hildegard 161 Napoleon (Bonaparte) 76, 298 Nasmith, David 204 Niedhard, Gottfried 55 Niethammer, Lutz 16 Noll, Mark 22, 66, 252 Nowak, Kurt 124 Owen, John 111 Oz-Salzberger, Fania 126 Pascal, Blaise 77 Peel, Sir Robert 193 Perkins, William 30f Peters, Emil 239 Phillipson, Nicholas 127 Poole, David N. J. 31 Poppers, Hirsch Leib 21, 42f, 49 Porteous, William 207f Poynter, John R. 156 Prinsterer, Guillaume Groen van 249, 254 Rack, Henry D. 155 Raikes, Robert 70 Rautenberg, Johann Wilhelm 154, 242f Rawlyk, George A. 22 Recke-Volmerstein, Adelbert Graf von der 214, 249 Reid, Thomas 73, 125, 127f, 145 Reith, Helmut 271f Reith, Verena 271f Rice, Daniel F. 95 Richardson, Samuel 51 Richmond, Mary E. 252 Rollock, Henry 36 Roxborogh, John 25, 141, 155, 163, 166, 180, 194 Sailer, Johann Michael 59

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 112 Schmidt, K. D. 104 Schröder, Caroline 74, 123 Schunk, Julius 249 Scotland, Nigel 68 Sedmark, Clemens 15 Senghaas, Dieter 18 Shaftesbury, 7th Earl of siehe: Ashley Cooper, Anthony Sider, Ronald J. 215 Sinclair, Sir John 127, 136 Smith, Adam 46, 56, 76, 87f, 125, 127, 131, 212, 228f, 265 Smyth, John 40, 43 Spener, Philipp Jakob 113, 115, 117 Stelen, Margared 38 Steward, Dugald 75, 125, 128 Stow, David 180 Strohm, Theodor 17, 106, 157 Sugden, Chris 215 Tasker, William 206 Tersteegen, Gerhard 117 Thadden, Rudolf von 215 Thompson, Edward P. 22 Thomson, Andrew 85 Tuveson, Ernest Lee 104, 112 Twisse, William 111 Tyndale, William 30 Uhlhorn, Gerhard 234 Venn, John 154 Verlin, Joshua 48 Voges, Friedhelm 25, 73, 75, 89, 95, 143, 226 Voght, Caspar von 237 Volf, Miroslav 139, 256f, 269 Ward, William Reginald 23, 71, 123 Watts, Isaak 123 Wendland, Heinz-Dietrich 45, 185 Wesley, John 59, 64, 69, 255 Wichern, Johann Hinrich 13, 20, 68, 106, 154, 160, 241–248, 253f, 265 Wiesmann, Johann Heinrich 237

319

Wilberforce, William 19, 56, 67, 69, 72, 77, 81, 135–143, 145, 155, 182, 212, 225 Williams, Roger 44f, 48–51, 100 Willison, John 115 Wilson, Daniel 155 Wolffe, John 103 Wolffe, John 214 Wrigley, E. A. 54

320

Yoder, John Howard 215 Young, Robert 90f Zellfelder-Held, Paul-Herrmann 157, 172f Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Graf von 59, 63f, 113, 115, 123, 264 Zwingli, Huldrych oder: Ulrich 106, 113