Die Sondervoten von Evelyn Haas [1 ed.] 9783428528967, 9783428128969

Evelyn Haas war von 1994 bis 2006 Richterin des Bundesverfassungsgerichts. In einer bewegten Phase des Gerichts war sie

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German Pages 300 Year 2013

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Die Sondervoten von Evelyn Haas [1 ed.]
 9783428528967, 9783428128969

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Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht Band 94

Die Sondervoten von Evelyn Haas

Herausgegeben von Malte Graßhof

Duncker & Humblot · Berlin

Malte Graßhof Die Sondervoten von Evelyn Haas

Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht Herausgegeben von Wo l f g a n g G r a f V i t z t hu m in Gemeinschaft mit J o c h e n v o n B e r n s t o r f f , M a r t i n He c k e l K a r l -He r m a n n K ä s t n e r, F e r d i n a n d K i r c h h o f H a n s v o n M a n g o l d t , M a r t i n Ne t t e s h e i m T h o m a s O p p e r m a n n , G ü nt e r P ü t t n e r Ba rba ra Remmer t, Michael Ronel lenf itsch Christia n Sei ler sämtlich in Tübingen

Band 94

Die Sondervoten von Evelyn Haas

Herausgegeben von Malte Graßhof

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6061 ISBN 978-3-428-12896-9 (Print) ISBN 978-3-428-52896-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-82896-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Sammlung umfasst die Sondervoten, die Evelyn Haas während ihrer Amtszeit als Richterin des Bundesverfassungsgerichts abge­ geben hat. Ein Sondervotum ist allerdings nicht zur isolierten Lektüre gedacht, son­ dern steht in einem unauflösbaren Bezug zu der Gerichtsentscheidung, der es beigefügt worden ist. Die Entscheidung enthält nicht nur den Sachverhalt des Falls, der Grundlage für das Verständnis der rechtlichen Ausführungen ist, sondern vor allem die Argumentation der Senatsmehrheit, von der das Sondervotum abweicht. Das Sondervotum bringt daher die Diskussion in­ nerhalb des Senats zum Ausdruck; es transformiert den Monolog der Ent­ scheidungsbegründung in einen Dialog von Rede und Gegenrede. Daher ist es in der Regel nicht sinnvoll, Sondervoten ohne die jeweilige Senatsent­ scheidung abzudrucken. Dies gilt insbesondere für die Sondervoten von Evelyn Haas, die häufig direkte Bezugnahmen auf einzelne Ausführungen der Entscheidungsbegründung enthalten, den Leser also zum direkten Ver­ gleich auffordern. Erst recht in den Fällen, in denen sich auch die Senats­ mehrheit in ihrer Begründung unmittelbar mit dem Sondervotum auseinan­ dersetzt, lassen sich Entscheidung und Sondervotum daher auch nachträglich nicht in getrennte Texte aufteilen. Ein Abdruck der Senatsentscheidungen ist hier allerdings nur insoweit erfolgt, wie es für das Verständnis der Sonder­ voten notwendig ist. Gekürzt worden sind daher die Entscheidungstenöre, überwiegend auch das Vorbringen der Beteiligten und Äußerungsberechtig­ ten, vereinzelt auch sonstige Ausführungen, insbesondere zur Zulässigkeit sowie zu Kostenfragen und zur Zurückverweisung. Nicht abgedruckt wor­ den sind auch Sondervoten anderer Richter, soweit diese nicht ausdrücklich das Sondervotum von Evelyn Haas ansprechen. Die Initiative für diese Zusammenstellung ging von Wolfgang Graf Vitz­ thum aus, der das Projekt mit mancherlei Anregung vorangetrieben und durch die Aufnahme in die von ihm und den übrigen Tübinger Publizisten herausgegebenen Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht erst ermöglicht hat. Ihm gilt der besondere Dank des Herausgebers. Dieser war von 2001 bis 2005 einer der wissenschaftlichen Mitarbeiter im Dezernat der Bundesverfassungsrichterin Haas. Heidelberg, im März 2013

Malte Graßhof

Inhaltsverzeichnis 1. Sitzblockaden-Entscheidung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Beschluß des Ersten Senats vom 10. Januar 1995 – 1 BvR 718, 719, 722, 723 / 89 (BVerfGE 92, 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Abweichende Meinung der Richter Seidl und Söllner und der Richterin Haas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2. Kruzifix-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Beschluß des Ersten Senats vom 16. Mai 1995 – 1 BvR 1087 / 91 (BVerfGE 93, 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Abweichende Meinung der Richter Seidl und Söllner und der Richterin Haas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Abweichende Meinung der Richterin Haas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3. Kollektivbeleidigung von Soldaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Beschluß des Ersten Senats vom 10. Oktober 1995 – 1 BvR 1476, 1980 / 91 und 102, 221 / 92 (BVerfGE 93, 266) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Abweichende Meinung der Richterin Dr. Haas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Urteil des Ersten Senats vom 27. Oktober 1998 – 1 BvR 2306, 2314 / 96, 1108, 1109, 1110 / 97 (BVerfGE 98, 265) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Abweichende Meinung des Vizepräsidenten Papier sowie der Richterinnen Graßhof und Haas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 5. Lebenspartnerschaftsgesetz (einstweilige Anordnung)  . . . . . . . . . . . . . . 150 Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli 2001 – 1 BvQ 23, 26 / 01 (BVerfGE 104, 51) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Abweichende Meinung des Vizepräsidenten Papier, der Richterin Haas und des Richters Steiner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 6. Blockadeaktionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Beschluss des Ersten Senats vom 24. Oktober 2001 – 1 BvR 1190 / 90, 2173 / 93, 433 / 96 (BVerfGE 104, 92) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Abweichende Meinung der Richterin Haas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Abweichende Meinung der Richterin Jaeger und des Richters Bryde  . . . . 183 7. Lebenspartnerschaftsgesetz (Hauptsacheentscheidung) . . . . . . . . . . . . . . 185 Urteil des Ersten Senats vom 17. Juli 2002 – 1 BvF 1, 2 / 01 (BVerfGE 105, 313) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Abweichende Meinung des Richters Papier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Abweichende Meinung der Richterin Haas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

8 Inhaltsverzeichnis 8. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Beschluss des Ersten Senats vom 4. Mai 2004 – 1 BvR 1892 / 03 (BVerfGE 110, 339) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Abweichende Meinung der Richterin Haas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 9. Analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG  . . . . . . . . . . . . . 216 Beschluss des Ersten Senats vom 6. Dezember 2005 – 1 BvR 1905 / 02 (BVerfGE 115, 51) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Abweichende Meinung der Richterin Haas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 10. Rasterfahndung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Beschluss des Ersten Senats vom 4. April 2006 – 1 BvR 518 / 02 (BVerfGE 115, 320) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Abweichende Meinung der Richterin Haas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Die Sondervoten von Evelyn Haas (Malte Graßhof) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

1. Sitzblockaden-Entscheidung Beschluß des Ersten Senats vom 10. Januar 1995 – 1 BvR 718, 719, 722, 723 / 89 (BVerfGE 92, 1)1 Amtlicher Leitsatz: Die erweiternde Auslegung des Gewaltbegriffs in § 240 Abs. 1 StGB im Zusammenhang mit Sitzdemonstrationen verstößt gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Aus den Gründen: A. Die Beschwerdeführer sind wegen gemeinschaftlicher Nötigung, begangen durch Sitzdemonstrationen vor einer militärischen Einrichtung, verurteilt worden. Sie rügen die Verletzung von Art. 103 Abs. 2 GG, die Beschwerde­ führer zu 3) und 4) zusätzlich die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren aus Art. 20 Abs. 3 GG.   Beschluß vom 10. Januar 1995

I. Der Verurteilung liegt eine Blockadeaktion vor dem Sondermunitionsla­ ger der Bundeswehr in Großengstingen zugrunde, in dem atomare Kurzstre­ ckenraketen des Typs Lance gelagert waren. Mit der Aktion sollte gegen die Stationierung der Raketen protestiert werden. Zugleich richtete sie sich gegen die beim Amtsgericht Münsingen laufenden Strafverfahren wegen anderer Blockadeaktionen. Die Beschwerdeführer hatten aufgrund eines Zeitungsinserats mit der Überschrift „Wer blockiert mit?“ den Entschluß gefaßt, sich an der Aktion zu beteiligen. Beweggrund war ihre Besorgnis über die Gefahren einer ato­ maren Bewaffnung. Sie fuhren am 9. Mai 1983 gemeinsam nach Großeng­ stingen, wo sie um 9.00 Uhr eintrafen und sich zu den übrigen Demon­ stranten gesellten, deren Zahl im Lauf des Tages zwischen 15 und 40 Per­ sonen schwankte.

1  An der Entscheidung haben mitgewirkt: Vizepräsident Henschel, die Richter Seidl, Grimm, Söllner und Kühling sowie die Richterinnen Seibert, Jaeger und Haas.

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1. Sitzblockaden-Entscheidung

Als sich zwischen 10.30 Uhr und 10.45 Uhr ein Fahrzeug der Bundes­ wehr mit Postsendungen näherte, setzten sich fünf Demonstranten auf die Fahrbahn. Hauptfeldwebel B. gab wenige Meter vor den Sitzenden den Befehl zum Anhalten und forderte sie auf, Durchfahrt zu gewähren. Als dies ohne Erfolg blieb, ordnete er an, umzukehren und in die Kaserne zu­ rückzufahren. Währenddessen standen die Beschwerdeführer mit den üb­ rigen Demonstranten am Straßenrand. Auf Veranlassung der Polizeidirektion Reutlingen ordnete das Landratsamt fernmündlich die Auflösung der Versammlung und einen Platzverweis an. Die Polizei wurde mit der Vollstreckung beauftragt. Als um 12.15 Uhr Hauptfeldwebel B. mit einem Verpflegungsfahrzeug eintraf und die De­ monstranten erneut die Zufahrt blockierten, gab Polizeihauptkommissar Z. die Verfügung des Landratsamts bekannt und wies auf die Strafbarkeit des Verhaltens wegen Nötigung hin. Nachdem die Demonstranten der Aufforde­ rung nicht gefolgt waren, ordnete er an, die Sitzenden wegzutragen. Das Fahrzeug konnte daraufhin in das Sondermunitionslager einfahren. Gegen 12.30 Uhr wiederholte sich der Vorgang, als das Fahrzeug das Munitions­ lager wieder verlassen wollte. Als sich Hauptfeldwebel B. und der ihm unterstellte Soldat in Beglei­ tung von Polizei um 17.15 Uhr erneut mit einem Verpflegungsfahrzeug näherten, setzten sich die Beschwerdeführer und eine weitere Person auf die Fahrbahn. Die übrigen Demonstranten standen am Straßenrand. Wie zuvor forderte Polizeihauptkommissar Z. die Sitzenden zur Räumung der Straße auf und ordnete dann an, sie wegzutragen. Gegen 17.30 Uhr konn­ ten die Soldaten die Fahrt fortsetzen. Bei der Ausfahrt des Fahrzeugs um 17.40 Uhr setzten sich acht Demonstranten auf die Straße, während die Beschwerdeführer am Straßenrand standen. Die Fahrbahn wurde wiederum geräumt. II. 1. Das Amtsgericht hat die Beschwerdeführer wegen des Vergehens der gemeinschaftlich begangenen Nötigung zu einer Geldstrafe von 15 Tages­ sätzen zu je 15 DM für die Beschwerdeführer zu 1., 3., 4. und zu 25 DM für die Beschwerdeführerin zu 2. verurteilt. Die Beschwerdeführer hätten in bewußtem und gewolltem Zusammen­ wirken die Einfahrt eines Kraftfahrzeugs in das Sondermunitionslager für längere Zeit verhindert. Dadurch hätten sie Gewalt im Sinne des § 240 StGB angewandt. Von ihrem Sitzen sei unwiderstehlicher psychischer Zwang auf die Insassen des Fahrzeugs ausgegangen, so daß sich der Fahr­ zeugführer gezwungen gesehen habe, dem Fahrer den Befehl zum Anhal­ ten zu geben.



Beschluß vom 10. Januar 199511

Die Tat sei auch rechtswidrig. Die Anwendung der Gewalt zu dem an­ gestrebten Zweck sei verwerflich. Zwar sei der Zweck, die Bevölkerung überzeugend und dringlich auf die Gefahr der atomaren Rüstung hinzuwei­ sen, achtenswert. Zur Verfolgung dieses Ziels sei aber nicht jedes Mittel erlaubt. Da die Beschwerdeführer es bewußt und gewollt darauf angelegt hätten, andere mit psychischem Zwang in ihrer Bewegungsfreiheit zu hin­ dern, könnten sie sich nicht auf den Schutz der Meinungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit berufen. Wenn es den Beschwerdeführern nicht ge­ lungen sei, durch Meinungsäußerungen den gewünschten Erfolg zu erzie­ len, so rechtfertige dies nicht die Erregung von Aufmerksamkeit durch Straftaten. Rechtfertigungsgründe lägen nicht vor; insbesondere könnten sich die Beschwerdeführer nicht auf Art. 20 Abs. 4 GG berufen. Bei der Strafzumessung hätten das positive Ziel und die achtenswerten Motive der Beschwerdeführer Berücksichtigung gefunden. Jedoch sei auch das Ausmaß der verschuldeten Behinderung gewürdigt worden. 2. Das Landgericht hat diese Entscheidung auf die Berufungen der Be­ schwerdeführer und der Staatsanwaltschaft aufgehoben und die Beschwer­ deführer freigesprochen, weil ihre Blockade unter Würdigung der Gesamt­ umstände und der Fernziele nicht verwerflich gewesen sei. 3. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hat das Oberlandesgericht dem Bundesgerichtshof die Frage vorgelegt, ob die Fernziele von Straßen­ blockierern bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit der Nötigung oder nur bei der Strafzumessung zu berücksichtigen seien (NStZ 1988, S. 129 f.). Der Bundesgerichtshof hat die Vorlagefrage mit dem angegriffenen Be­ schluß (BGHSt 35, 270) wie folgt beantwortet: Die Fernziele von Straßenblockierern sind nicht bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit der Nötigung, sondern ausschließlich bei der Strafzumessung zu berücksichtigen.

Das Oberlandesgericht hat daraufhin den Freispruch des Landgerichts mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 4. Nachdem die Staatsanwaltschaft die Zustimmung zur Einstellung des Verfahrens gemäß § 153 a StPO nicht erteilt hatte, hat das Landgericht im weiteren Berufungsverfahren das Urteil des Amtsgerichts lediglich im Rechtsfolgenausspruch geändert und die Geldstrafe auf die Mindesttages­ satzzahl von 5 Tagessätzen (§ 40 Abs. 1 StGB) reduziert sowie die Höhe der Tagessätze für die Beschwerdeführer zu 2., 3. und 4. auf je 15 DM und für den Beschwerdeführer zu 1. auf 50 DM festgesetzt. Nach dem festgestellten Sachverhalt hätten sich die Beschwerdeführer einer mittäterschaftlich begangenen Nötigung gemäß §§ 240, 25 StGB schuldig gemacht.

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1. Sitzblockaden-Entscheidung

Gegenstand der Verurteilung sei nicht nur der Vorfall, bei dem sich die Beschwerdeführer auf die Fahrbahn gesetzt hätten, sondern die gesamte Blockadeaktion, die für den ganzen Tag geplant gewesen und in einzelnen Sitzblockaden durch wechselnde Gruppen von fünf bis acht Demonstranten und unterstützendes Dabeistehen der übrigen Demonstranten am Straßen­ rand durchgeführt worden sei. Die Beschwerdeführer seien Mittäter, weil sie bewußt und gewollt ihren Beitrag zur gemeinschaftlichen Blockadeaktion durch unterstützendes Stehen am Straßenrand und durch das Sitzen auf der Fahrbahn geleistet hätten. Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 23, 46 [54] – Laepple) hat das Landgericht die Blockadeaktion als Anwen­ dung von Gewalt im Sinne von § 240 Abs. 1 StGB gewertet. Dies stehe nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 73, 206) nicht im Widerspruch zur Verfassung. Genötigte Person sei Hauptfeldwebel B., der an der einzigen Zufahrt zum Sondermunitionslager gezwungen ge­ wesen sei, das Fahrzeug anhalten zu lassen, um das Überfahren der Sitzen­ den zu vermeiden. Die Blockade der Straße habe bei ihm eine seelische Tötungs- und Verletzungshemmung ausgelöst, aufgrund derer ihm keine andere Wahl geblieben sei. Eine solche Hemmung wirke sich ebenso aus wie körperlicher Zwang und sei diesem deshalb gleichzustellen. Daß die jeweiligen Fahrer nicht hätten festgestellt werden können, sei unschädlich, weil es sich um dienstliche Fahrten gehandelt habe und die Fahrer die An­ ordnungen ihres Vorgesetzten hätten befolgen müssen. Die Anwendung der Gewalt zu dem angestrebten Zweck sei auch als verwerflich im Sinne des § 240 Abs. 2 StGB anzusehen; die Blockadeaktion sei deshalb rechtswidrig gewesen. Im Rahmen der Gesamtwürdigung der das Verwerflichkeitsurteil begründenden Umstände seien die Fernziele der Beschwerdeführer nicht zu berücksichtigen. Das Verwerflichkeitsurteil erge­ be sich aus folgenden Umständen: Die Blockadeaktion habe einen ganzen Tag gedauert. Hauptfeldwebel B. habe die Fahrt beim ersten Mal gar nicht und bei den vier weiteren Malen erst nach mehrminütiger „Warterei“ und zwangsweiser Räumung der Fahrbahn fortsetzen können. Zur Räumung sei ein beträchtlicher Polizeiaufwand erforderlich gewesen; in keinem Fall seien die Blockierer von selbst aufgestanden. Der Hauptfeldwebel und seine Fah­ rer seien nicht die richtigen Adressaten des Protests gewesen, da sie keine Entscheidungsgewalt über die Stationierung der Lance-Raketen gehabt und die Soldaten des Lagers nur mit Post und Essen versorgt hätten. Die Teil­ nehmer der Sitzblockade hätten den Hauptfeldwebel und seine Fahrer be­ wußt als bloße Werkzeuge benutzt, um die Öffentlichkeit über ihre politische Auffassung zu unterrichten. Ein solches Verhalten stelle eine Mißachtung der Menschenwürde der betroffenen Soldaten dar, welche sittlich nicht zu billigen sei.



Beschluß vom 10. Januar 199513

Die Beschwerdeführer könnten sich nicht auf Art. 5 und 8 GG berufen; schon der klare Wortlaut des Art. 8 GG bringe zum Ausdruck, daß dieses Grundrecht nicht zu unfriedlichem Verhalten gegen andere berechtige. Das Landgericht hat die Fernziele der Beschwerdeführer im Rahmen der Strafzumessung gewürdigt und auf die Mindesttagessatzzahl erkannt. 5.  Das Oberlandesgericht hat die Revision der Beschwerdeführer gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen. III. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer einen Ver­ stoß gegen Art. 103 Abs. 2 und Art. 20 Abs. 3 GG durch die angegriffenen Entscheidungen. […] IV. Zu den Verfassungsbeschwerden haben der Bundesminister der Justiz namens der Bundesregierung, das Justizministerium Baden-Württemberg sowie die Strafsenate des Bundesgerichtshofs Stellung genommen. […] 3. Der Präsident des Bundesgerichtshofs hat Äußerungen verschiedener Strafsenate übersandt. Der 2., 3. und 4. Strafsenat haben auf ihre einschlä­ gigen Entscheidungen hingewiesen (BGHSt 23, 46 und 34, 71; 5, 245 und 32, 165 [181 f.]; 18, 389 und 34, 238). Von einer Stellungnahme unter Be­ rücksichtigung des Verfassungsrechts haben sie abgesehen. Der 4. Strafsenat hat ergänzend ausgeführt, es sei aus kriminalpolitischen Erwägungen be­ denklich, daß bei der gegenwärtigen Strafverfolgungspraxis berechtigterwei­ se der Eindruck entstanden sei, „Fernziele“ würden nur bei bestimmten Sitzblockaden nicht berücksichtigt, während sie bei anderen Blockaden (z. B. bei Betriebsstillegungen oder wegen Belastungen des Fernverkehrs) zum Absehen von Strafverfolgung führten. Dies sei der Akzeptanz der Nö­ tigungsrechtsprechung des Bundesgerichtshofs abträglich. B. Die Verfassungsbeschwerden sind begründet. I. Die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandes­ gerichts verstoßen gegen Art. 103 Abs. 2 GG. 1.  Die Bedeutung von Art. 103 Abs. 2 GG hat das Bundesverfassungsge­ richt bereits in mehreren Verfahren dargelegt (vgl. zuletzt BVerfGE 71, 108 [114 ff.]; 73, 206 [234 ff.]).

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1. Sitzblockaden-Entscheidung

Danach enthält diese Regelung nicht nur ein Rückwirkungsverbot für Strafvorschriften. Sie verpflichtet den Gesetzgeber vielmehr auch, die Vor­ aussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, daß Anwendungs­ bereich und Tragweite der Straftatbestände sich aus dem Wortlaut ergeben oder jedenfalls durch Auslegung ermitteln lassen. Diese Verpflichtung dient einem doppelten Zweck. Sie soll einerseits sicherstellen, daß die Norma­ dressaten vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist. Sie soll andererseits gewährleisten, daß die Entscheidung über strafwürdiges Verhalten im voraus vom Gesetzgeber und nicht erst nach­ träglich von der vollziehenden oder der rechtsprechenden Gewalt gefällt wird. Insoweit enthält Art. 103 Abs. 2 GG einen strengen Gesetzesvorbehalt, der die Strafgerichte auf die Rechtsanwendung beschränkt. Das schließt allerdings nicht eine Verwendung von Begriffen aus, die in besonderem Maß der Deutung durch den Richter bedürfen. Auch im Straf­ recht steht der Gesetzgeber vor der Notwendigkeit, der Vielgestaltigkeit des Lebens Rechnung zu tragen. Ferner ist es wegen der Allgemeinheit und Abstraktheit von Strafnormen unvermeidlich, daß in Einzelfällen zweifel­ haft sein kann, ob ein Verhalten noch unter den gesetzlichen Tatbestand fällt oder nicht. Jedenfalls im Regelfall muß der Normadressat aber anhand der gesetzlichen Vorschrift voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist. In Grenzfällen ist auf diese Weise wenigstens das Risiko einer Bestrafung er­ kennbar. Für die Rechtsprechung folgt aus dem Erfordernis gesetzlicher Bestimmt­ heit ein Verbot analoger oder gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung. Da­ bei ist „Analogie“ nicht im engeren technischen Sinn zu verstehen; ausge­ schlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. Da Gegenstand der Auslegung ge­ setzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, erweist dieser sich als maßgebendes Kriterium: Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation. Da Art. 103 Abs. 2 GG die Vorhersehbarkeit der Strafandrohung für den Norm­ adressaten garantieren will, ist die Grenze aus dessen Sicht zu bestimmen. Der Gesetzgeber hat also zu entscheiden, ob und in welchem Umfang er ein bestimmtes Rechtsgut, dessen Schutz ihm wesentlich (und notwendig) erscheint, gerade mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen will. Den Ge­ richten ist es verwehrt, seine Entscheidung zu korrigieren. Würde erst eine über den erkennbaren Wortsinn der Vorschrift hinausgehende Deutung zur Strafbarkeit eines Verhaltens führen, so müssen sie zum Freispruch gelan­ gen. Dies gilt auch dann, wenn infolge des Bestimmtheitsgebots besonders gelagerte Einzelfälle aus dem Anwendungsbereich eines Strafgesetzes her­ ausfallen, obwohl sie ähnlich strafwürdig erscheinen mögen wie das pöna­



Beschluß vom 10. Januar 199515

lisierte Verhalten. Es ist dann Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, ob er die Strafbarkeitslücke bestehen lassen oder durch eine neue Regelung schließen will. 2.  § 240 StGB ist hinsichtlich der – hier allein einschlägigen – Gewalt­ alternative mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar. a) Die Nötigungsvorschrift des § 240 StGB stellt nach herrschender Meinung Angriffe auf die Freiheit der Willensentschließung und der Wil­ lensbetätigung unter Strafe. Die Freiheit der Willensentschließung und noch mehr die der Willensbetätigung unterliegt allerdings vielfältigen ge­ sellschaftlichen Zwängen, die keineswegs alle als Unrecht gelten oder gar strafwürdig erscheinen. Der Gesetzgeber hat daher die Strafbarkeit auf die Verwendung bestimmter Mittel beschränkt. In seiner ursprünglichen Fas­ sung stellte § 240 StGB die Nötigung „durch Gewalt oder durch Bedro­ hung mit einem Verbrechen oder Vergehen“ unter Strafe (vgl. zu Vorge­ schichte und Änderungen des Gesetzestextes Fabricius, Die Formulierungs­ geschichte des § 240 StGB, 1991). Durch die Strafrechtsangleichungsver­ ordnung vom 29. Mai 1943 (RGBl. I S. 339) wurde der Drohungstatbestand unter Rückgriff auf Vorarbeiten der Weimarer Zeit ausgeweitet. Strafbar war danach die „Drohung mit einem empfindlichen Übel“. Zur Begren­ zung des so erweiterten Tatbestands wurde gleichzeitig ein neuer Absatz 2 eingefügt, demzufolge die Tat rechtswidrig war, „wenn die Anwendung der Gewalt oder die Zufügung des angedrohten Übels zu dem angestrebten Zweck dem gesunden Volksempfinden widerspricht“. Dadurch sollte klar­ gestellt werden, daß es weder auf die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrig­ keit des Nötigungsmittels oder des Nötigungszwecks für sich allein ankam, sondern auf die Unangemessenheit der Verbindung von Mittel und Zweck im konkreten Fall (vgl. Schäfer, LK, 10. Aufl. 1989, § 240 Rdnr. 1). Das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. August 1953 (BGBl. I S. 735) hielt an der Ausweitung der Drohungsalternative fest, stellte aber den Maßstab für die Beurteilung des Zweck-Mittel-Verhältnisses von „gesun­ dem Volksempfinden“ auf „Verwerflichkeit“ um. Durch das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25. Juni 1969 (BGBl. I S. 645) wurden die angedrohten Strafen gemildert. b)  Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 11. November 1986 (BVerfGE 73, 206 – Mutlangen), das ebenfalls Sitzdemonstra­ tionen vor militärischen Einrichtungen betraf, die aus Protest gegen die ato­ mare Nachrüstung stattfanden, § 240 StGB für vereinbar mit Art. 103 Abs. 2 GG erklärt, und zwar sowohl hinsichtlich des Gewaltbegriffs in Absatz 1 als auch der Verwerflichkeitsklausel in Absatz 2 dieser Vorschrift (a. a. O., S. 236 bis 239). Darauf wird verwiesen. Ob daran auch bezüglich des Absatzes 2 in vollem Umfang festzuhalten ist, bedarf hier keiner Entscheidung.

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1. Sitzblockaden-Entscheidung

3. Dagegen verstößt die Auslegung des Gewaltbegriffs in § 240 Abs. 1 StGB durch die Strafgerichte gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Im Unterschied zur Verfassungsmäßigkeit der Norm war die Verfassungs­ mäßigkeit der Auslegung in dem Urteil vom 11. November 1986 (BVerfGE 73, 206) streitig geblieben. Während vier Richter keinen Grund zur verfas­ sungsrechtlichen Beanstandung dieser Auslegung sahen (a. a. O., S. 242 bis 244), hielten die vier anderen Richter sie für unvereinbar mit dem Be­ stimmtheitsgrundsatz (a. a. O., S. 244 bis 247). Die Entscheidung in dem damaligen Verfahren beruhte unter diesen Umständen auf § 15 Abs. 3 Satz 3 BVerfGG. Die verfassungsrechtliche Frage selber ist jedoch unentschieden geblieben (vgl. BVerfGE 76, 211 [217]). Sie wird nunmehr im Sinn der Unvereinbarkeit beantwortet. a) Den angegriffenen Entscheidungen liegt das Verständnis des Gewalt­ begriffs zugrunde, das sich in der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Lauf der Zeit entwickelt hat. Diese Entwicklung ist durch die abnehmende Bedeutung der Entfaltung körperlicher Kraft auf seiten des Täters und die wachsende Bedeutung der bei dem Opfer eintretenden Zwangswirkung ge­ kennzeichnet (vgl. Blei, JA 1970, S. 19, 77, 141; Schäfer, LK, a. a. O., Rdnr. 7). Anfangs war unter Gewalt allein eine physische Einwirkung des Täters auf das Opfer, die bei diesem als körperlicher Zwang wirkte, verstan­ den worden, während es sich bei der Drohung um psychische Einwirkungen handelte, die vom Opfer als seelischer Zwang empfunden wurden. Zwar hat die Rechtsprechung bis heute daran festgehalten, daß Gewalt im Sinn des Nötigungstatbestands nur beim Einsatz körperlicher Kraft vorliegt. Doch ist das Maß der aufgewandten Kraft, die für nötig gehalten wird, damit von Gewalt gesprochen werden kann, stetig verringert und das Erfordernis einer körperlichen Zwangswirkung beim Nötigungsopfer gänzlich aufgegeben worden. Den heutigen Stand der Rechtsprechung markiert das Laepple-Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1969 (BGHSt 23, 46 [54]). Danach setzt Gewalt im Sinn von § 240 Abs. 1 StGB nicht den „unmittelbaren Einsatz körperlicher Kräfte“ voraus. Es genügt vielmehr, daß der Täter „nur mit geringem körperlichen Kraftaufwand einen psychisch determinierten Pro­ zeß“ beim Opfer in Lauf setzt. Für die Strafbarkeit kommt es dabei ent­ scheidend auf das „Gewicht der … psychischen Einwirkung“ an. Diese Interpretation, die gewöhnlich als „Vergeistigung“ oder „Entmaterialisie­ rung“ des Gewaltbegriffs bezeichnet wird, findet ihren Grund in dem Be­ streben, die Willensfreiheit in wirksamer Weise auch gegenüber solchen strafwürdigen Einwirkungen zu schützen, die zwar sublimer, aber ähnlich wirksam wie körperlicher Kraftaufwand sind (vgl. BGHSt 1, 145 [147]; 8, 102 [103]; BVerfGE 73, 206 [242]).



Beschluß vom 10. Januar 199517

Diese Ausweitung des Gewaltbegriffs durch die Rechtsprechung ist so­ wohl in der strafrechtlichen als auch in der verfassungsrechtlichen Literatur umstritten (vgl. die umfassenden Nachweise in BVerfGE 73, 206 [232 f.]). Das Mutlangen-Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat die erhoffte Klä­ rung wegen der Stimmengleichheit im Senat nicht herbeigeführt. Die Aus­ führungen zum Gewaltbegriff haben vielmehr ihrerseits Kritik gefunden (vgl. etwa Bertuleit  /  Herkströter, KJ 1987, S. 331; Calliess, NStZ 1987, S. 209; Kühl, StV 1987, S. 122; Meurer / Bergmann, JR 1988, S. 49; Otto, NStZ 1987, S. 212; Prittwitz, JA 1987, S. 17; Schmitt Glaeser, Bay­ VBl. 1988, S. 454; Starck, JZ 1987, S 145; Tröndle, Rebmann-FS, 1989, S. 481; Zuck, MDR 1987, S. 636), die je nach Standpunkt die tragende oder die nichttragende Auffassung betrifft. b)  Bei einer erneuten Überprüfung ist das Bundesverfassungsgericht mit fünf zu drei Stimmen zu der Auffassung gelangt, daß die den angegriffenen Entscheidungen zugrundeliegende Auslegung des Gewaltbegriffs mit Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbar ist. Der Begriff der Gewalt, der im allgemeinen Sprachgebrauch mit unter­ schiedlicher Bedeutung verwendet wird, muß hier im Zusammenhang des Normgefüges verstanden werden. Der Gesetzgeber wollte in § 240 StGB nicht jede Zwangseinwirkung auf den Willen Dritter unter Strafe stellen. Andernfalls wären auch zahlreiche Verhaltensweisen, die im Sozialleben, etwa im Erziehungswesen, in der Arbeitswelt oder im Verkehrsbereich, teils erforderlich, teils unvermeidlich sind, der Strafdrohung unterfallen. Um das zu vermeiden, hat er sich nicht damit begnügt, das pönalisierte Verhalten als Nötigung zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu beschreiben, sondern die Strafbarkeit einer derartigen Handlung von der Wahl bestimm­ ter Nötigungsmittel abhängig gemacht, nämlich Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel. Eine Ausweitung der Mittel im Wege der Inter­ pretation, etwa auf List oder Suggestion, scheidet nach einhelliger Auffas­ sung in Judikatur und Literatur aus. Das gilt selbst dann, wenn diese Mittel eine ähnliche Wirkung auf das Nötigungsopfer haben wie die beiden im Gesetz pönalisierten. Art. 103 Abs. 2 GG setzt aber nicht nur der Tatbestandsergänzung, son­ dern auch der tatbestandsausweitenden Interpretation Grenzen. Die Ausle­ gung der Begriffe, mit denen der Gesetzgeber die pönalisierten Mittel be­ zeichnet hat, darf nicht dazu führen, daß die dadurch bewirkte Eingrenzung der Strafbarkeit im Ergebnis wieder aufgehoben wird. Da die Ausübung von Zwang auf den Willen Dritter bereits im Begriff der Nötigung enthalten ist und die Benennung bestimmter Nötigungsmittel in § 240 Abs. 2 StGB die Funktion hat, innerhalb der Gesamtheit denk­ barer Nötigungen die strafwürdigen einzugrenzen, kann die Gewalt nicht

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1. Sitzblockaden-Entscheidung

mit dem Zwang zusammenfallen, sondern muß über diesen hinausgehen. Deswegen verband sich mit dem Mittel der Gewalt im Unterschied zur Drohung von Anfang an die Vorstellung einer körperlichen Kraftentfaltung auf seiten des Täters. Zwangseinwirkungen, die nicht auf dem Einsatz kör­ perlicher Kraft, sondern auf geistig-seelischem Einfluß beruhen, erfüllen unter Umständen die Tatbestandsalternative der Drohung, nicht jedoch die der Gewaltanwendung. An der Körperlichkeit als Gewaltmerkmal hat die Rechtsprechung seitdem zwar festgehalten, auf die Kraftentfaltung jedoch so weitgehend verzichtet, daß nunmehr bereits die körperliche Anwesenheit an einer Stelle, die ein anderer einnehmen oder passieren möchte, zur Er­ füllung des Tatbestandsmerkmals der Gewalt genügt, falls der andere durch die Anwesenheit des Täters psychisch gehemmt wird, seinen Willen durch­ zusetzen. Das Tatbestandsmerkmal der Gewalt wird dadurch in einer Weise ent­ grenzt, daß es die ihm vom Gesetzgeber zugedachte Funktion, unter den notwendigen, unvermeidlichen oder alltäglichen Zwangseinwirkungen auf die Willensfreiheit Dritter die strafwürdigen zu bestimmen, weitgehend verliert. Es bezieht zwangsläufig zahlreiche als sozialadäquat betrachtete Verhaltensweisen in den Tatbestand ein, deren Strafbarkeit erst durch das Korrektiv der Verwerflichkeitsklausel in § 240 Abs. 2 StGB ausgeschlossen wird. Der Bundesgerichtshof hat sich deshalb veranlaßt gesehen, der Aus­ weitung des Gewaltbegriffs dadurch zu begegnen, daß er auf das „Gewicht“ der psychischen Einwirkung abgestellt hat. Damit wird die Eingrenzungs­ funktion aber einem Begriff aufgebürdet, der noch weit unschärfer ist als der der Gewalt. An einer befriedigenden Klärung, wann eine psychische Einwirkung gewichtig ist, fehlt es daher auch. Der Verweis auf das Korrek­ tiv der Verwerflichkeit ist deswegen nicht geeignet, die rechtsstaatlichen Bedenken zu zerstreuen, denen die Ausweitung des Gewaltbegriffs durch die Rechtsprechung begegnet. Die Auslegung des Gewaltbegriffs in der höchstrichterlichen Rechtspre­ chung hat folglich gerade jene Wirkungen, die zu verhüten Art. 103 Abs. 2 GG bestimmt ist. Es läßt sich nicht mehr mit ausreichender Sicherheit vorhersehen, welches körperliche Verhalten, das andere psychisch an der Durchsetzung ihres Willens hindert, verboten sein soll und welches nicht. In demjenigen Bereich, in dem die Gewalt lediglich in körperlicher Anwe­ senheit besteht und die Zwangswirkung auf den Genötigten nur psychischer Natur ist, wird die Strafbarkeit nicht mehr vor der Tat generell und abstrakt vom Gesetzgeber, sondern nach der Tat im konkreten Fall vom Richter aufgrund seiner Überzeugung von der Strafwürdigkeit eines Tuns bestimmt. Das eröffnet beträchtliche Spielräume bei der Strafverfolgung von Nöti­ gungen. Die unterschiedliche Behandlung von Blockadeaktionen aus Protest gegen die atomare Nachrüstung einerseits und solchen zum Protest gegen



Beschluß vom 10. Januar 199519

Werksstillegungen, Gebührenerhöhungen, Subventionskürzungen oder Ver­ kehrsplanungen andererseits belegt dies. Darauf hat auch der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in seiner Stellungnahme aufmerksam gemacht. Die Ungewißheit, die dem erweiterten Gewaltbegriff anhaftet, ist auch nicht durch ein im Lauf der Zeit gefestigtes Verständnis seiner Bedeutung entfallen, zumal der Bundesgerichtshof in anderen Bereichen wie dem der Vergewaltigung von einem erheblich engeren Gewaltbegriff ausgeht (vgl. BGH, NJW 1981, S. 2204). Wie die eben erwähnten Beispiele zeigen, ist aber selbst die Strafbarkeit von Blockadeaktionen als Nötigung höchst un­ gewiß geblieben. Auch die fortbestehenden Divergenzen in Judikatur und Literatur hinsichtlich der strafrechtlichen Würdigung von Sitzdemonstra­ tionen der vorliegenden Art (vgl. Schäfer, LK, a. a. O., Rdnr. 21 bis 27; Otto, NStZ 1992, S. 568) zeigen, daß sich eine gefestigte Rechtsauffassung bisher nicht hat bilden können. Die erforderliche Bestimmtheit ergibt sich auch nicht daraus, daß auf­ grund der höchstrichterlichen Rechtsprechung zumindest das Risiko der Bestrafung erkennbar ist. Abgesehen von der Fragwürdigkeit dieses Argu­ ments, demzufolge das Risiko der Bestrafung um so höher ist, je vager ein Straftatbestand formuliert wird, kann es bei der Bestimmtheitsprüfung je­ denfalls nur in bezug auf die Norm, nicht auch in bezug auf ihre Auslegung herangezogen werden. Das Bundesverfassungsgericht wollte mit dem Ver­ weis auf die Erkennbarkeit des Risikos dem Umstand Rechnung tragen, daß der Gesetzgeber auch im Strafrecht vor der Notwendigkeit steht, die Viel­ gestaltigkeit des Lebens in generellen und abstrakten Normen einzufangen, und nur denjenigen Grad an tatbestandlicher Präzision aufbringen kann, den der Regelungsbereich zuläßt (vgl. BVerfGE 71, 108 [115]). Insoweit hängt die verfassungsrechtlich verlangbare Bestimmtheit von der Möglichkeit der gesetzlichen Beschreibung des als strafwürdig angesehenen Verhaltens ab. Der Grundsatz kann aber nicht Auslegungen einer unvermeidlich vagen Strafnorm rechtfertigen, welche die Unbestimmtheit abermals erhöhen und sich damit noch weiter vom Ziel des Art. 103 Abs. 2 GG entfernen. Schließlich läßt sich die Ausweitung des Gewaltbegriffs auch nicht damit rechtfertigen, daß andernfalls unerwünschte Strafbarkeitslücken aufträten. Selbst wenn es zutreffen sollte, daß das mit der weiten Auslegung der Norm erfaßte Verhalten ähnlich strafwürdig ist wie das ihr unzweifelhaft unterfal­ lende, bleibt es Sache des Gesetzgebers, die Strafbarkeitslücke zu schließen (vgl. BVerfGE 71, 108 [116] m. w. N.). Die nunmehr notwendige Eingrenzung des Gewaltbegriffs in § 240 Abs. 1 StGB obliegt zuvörderst den Strafgerichten, nicht dem Bundesverfassungs­ gericht. Die Rechtswidrigkeit von Sitzdemonstrationen nach anderen Vor­ schriften bleibt von dieser Entscheidung unberührt. (…)

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1. Sitzblockaden-Entscheidung

III. Ob die angegriffenen Entscheidungen weitere verfassungsmäßige Rechte der Beschwerdeführer, namentlich den Grundsatz des fairen Verfahrens und das Grundrecht der Versammlungsfreiheit, verletzen, kann danach offen bleiben. Abweichende Meinung der Richter Seidl und Söllner und der Richterin Haas zum Beschluß des Ersten Senats vom 10. Januar 1995 – 1 BvR 718, 719, 722, 723 / 89 (BVerfGE 92, 20) Es verstößt nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG, daß die Strafgerichte im Ausgangsverfahren in der Sitzblockade eine mittels Gewalt im Sinne von § 240 Abs. 1 StGB begangene Nötigung gesehen haben. 1. Der Senat geht in der vorliegenden Entscheidung im Einklang mit seiner früheren Rechtsprechung (BVerfGE 73, 206 [233 f.]) davon aus, daß das Tatbestandsmerkmal der Gewalt in § 240 Abs. 1 StGB dem Bestimmt­ heitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG genügt (Abschnitt B. I. 2. der Gründe). Die Auslegung der Norm, um die es hier allein geht, wird durch Art. 103 Abs. 2 GG nach den hierzu vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätzen dahin eingeschränkt, daß sie den möglichen Wortsinn der Norm – beurteilt aus der Sicht des Normadressaten – nicht überschreiten darf (vgl. BVerfGE 73, 206 [235 f.]; 85, 69 [73]; ebenso Abschnitt B. I. 1. der Gründe der vorliegenden Entscheidung). Auch innerhalb des möglichen Wortsinns darf die Auslegung nicht weiter gehen, als es Zweck und Sinn­ zusammenhang der Norm zulassen (vgl. BVerfGE 57, 250 [262]). Nach diesem Maßstab ist – entgegen der Auffassung der Senatsmehrheit – die Auslegung des Gewaltbegriffs durch die Strafgerichte im Ausgangs­ verfahren nicht zu beanstanden.  a)  Nach dem Zweck des § 240 StGB, der die Freiheit der Willensentschlie­ ßung und der Willensbetätigung schützen will (vgl. BVerfGE 73, 206 [237] m. w. N.), kann allerdings das Tatbestandsmerkmal der Gewalt grundsätzlich nur im Sinne einer physischen Einwirkung (vgl. zu dieser Komponente des Gewaltbegriffs etwa: Brockhaus Enzyklopädie, 19. Aufl., Stichwort Gewalt) verstanden werden, während übertragene Bedeutungen, die der Gewaltbegriff nach allgemeinem Sprachgebrauch ebenfalls umfaßt (vgl. BVerfGE 73, 206 [242 f.] m. w. N.), ausscheiden. Der Normzweck fordert aber keine weitere Eingrenzung innerhalb dieses engeren Gewaltbegriffs. Auch der mögliche Wortsinn des Tatbestandsmerkmals ist nicht überschritten, wenn unter Gewalt eine physische Einwirkung jedweder Art, durch die das Opfer zu einer Hand­ lung, Duldung oder Unterlassung genötigt wird, verstanden wird.



Abweichende Meinung Seidl, Söllner und Haas21

Wenn die Nötigung auf eine Unterlassung gerichtet ist, kann die phy­ sische Einwirkung nach dem möglichen Wortsinn des Gewaltbegriffs auch in der Errichtung eines körperlichen Hindernisses bestehen, das der beab­ sichtigten Handlung – hier der Fortsetzung der Fahrt – entgegensteht. Auf das Ausmaß der aufgewendeten Kraft kommt es dabei nicht an. Ebenso ist es nach allgemeinem Sprachverständnis nicht entscheidend, ob eine unmit­ telbare Einwirkung auf den Körper des Opfers, etwa in Form einer Berüh­ rung, vorliegt. Daß ein aggressives Verhalten nicht erforderlich ist, ergibt sich im übrigen auch aus dem Normzusammenhang, weil der Gesetzgeber im Strafgesetzbuch zwischen Gewalt und Gewalttätigkeit ausdrücklich un­ terscheidet (vgl. § 113 Abs. 2 Nr. 2, §§ 124, 125 Abs. 1 StGB). Schließlich kommt es für das Vorliegen von Gewalt nicht darauf an, ob dem Opfer eine Chance bleibt, sich gegen den Zwang erfolgreich zu weh­ ren. Es ist kein Kriterium des Begriffs der Gewalt im Sinne von § 240 Abs. 1 StGB, daß diese unwiderstehlich sein muß (vgl. schon RGSt 13, 49 [51]). Ob Fälle auszuscheiden sind, in denen die physische Einwirkung so gering ist, daß sie vom Opfer überhaupt nicht als ernstzunehmendes Hin­ dernis für seine Willensentschließung und – betätigung empfunden wird, kann hier dahingestellt bleiben. b)  Durch eine Sitzblockade auf der Fahrbahn wird der Weiterfahrt heran­ nahender Fahrzeuge ein körperliches Hindernis entgegengestellt. Das ­Blockieren des Wegs mit dem Ziel, die Fahrzeuginsassen von der Weiter­ fahrt abzuhalten, ist danach eine Form der körperlichen, nicht der lediglich psychischen Einwirkung auf die Willensentschließung und -betätigung der Fahrzeuginsassen. Davon geht auch der Bundesgerichtshof in der sogenann­ ten Laepple-Entscheidung (BGHSt 23, 46 [54]) aus, auf die sich die Straf­ gerichte im Ausgangsverfahren bei der Bejahung des Gewaltbegriffs aus­ drücklich bezogen haben. Die Einwirkung steht und fällt mit der errichteten Blockade. Die – auch – psychische Einwirkung folgt erst daraus, daß der genötigte Fahrzeuginsasse in Fällen, in denen er das körperliche Hindernis durch Überfahren der Blockierer überwinden könnte, davon absieht, weil er diese sonst verletzen oder gar töten würde. Dieser psychisch determinierte Prozeß ist zwar entscheidend für den Erfolg der Blockade. Er ändert aber nichts daran, daß durch die Blockade selbst ein körperliches Hindernis bereitet wird. Der mögliche Wortsinn des Gewaltbegriffs wird unter diesen Umstän­ den auch nicht dadurch überschritten, daß bei der Beurteilung der Auswir­ kung des Zwangsmittels entscheidend auf den durch das Zwangsmittel ausgelösten psychischen Prozeß abgestellt wird. Nach überkommenem Verständnis ist der Gewaltbegriff ganz allgemein nicht auf Einwirkungen beschränkt, die die Willensbetätigung unmöglich machen (vis absoluta),

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1. Sitzblockaden-Entscheidung

sondern umfaßt auch körperliche Einwirkungen, die einen psychischen Pro­ zeß in Lauf setzen (vis compulsiva; vgl. dazu RGSt 64, 113 [116]). c)  Mit diesem Verständnis des Gewaltbegriffs wird nicht außer acht gelas­ sen, daß in § 240 Abs. 1 StGB nicht jegliche Zwangseinwirkung mit Strafe bedroht ist, sondern nur eine solche mittels Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel. Auch die Grenzen zwischen Gewalt und Drohung werden nicht verwischt. Die Fälle, in denen der Willensbetätigung ein kör­ perliches Hindernis entgegengestellt wird, erlauben nicht nur eine abgrenz­ bare Zuordnung zum Gewaltbegriff, sondern unterscheiden sich auch klar von den Fällen der Drohung, in denen die Willensentschließung oder -betäti­ gung nicht gegenwärtig körperlich behindert wird, sondern ausschließlich psychisch durch Inaussichtstellen eines Übels (vgl. BVerfGE 73, 206 [237]). Diese Auslegung des Gewaltbegriffs führt schließlich nicht dazu, daß sozialadäquates Verhalten bestraft wird. Dies wird vielmehr hinreichend dadurch ausgeschlossen, daß die Bestrafung nach dem Tatbestand des § 240 Abs. 1 StGB von der Absicht des Täters abhängt und der Tatbestand im übrigen in der Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB ein Korrektiv findet, das verhindert, auch solche Verhaltensweisen zu pönalisieren, für die die angedrohte Sanktion nach Art und Maß unverhältnismäßig wäre (vgl. BVerfGE 73, 206 [253, 254 f.]). 2. Es bedarf keiner Prüfung, ob eine Bestrafung aufgrund einer Ausle­ gung, die mit dem möglichen Wortsinn der Strafnorm und den sonstigen Auslegungskriterien in Einklang steht, dann gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen kann, wenn die Auslegung so fern liegt, daß der Täter mit ihr und damit auch mit seiner Bestrafung nicht zu rechnen brauchte; denn im Ausgangsfall war jedenfalls aufgrund der gefestigten Rechtsprechung zu § 240 StGB erkennbar, daß Sitzblockaden der vorlie­ genden Art nach dieser Vorschrift bestraft werden konnten. a) Für die Beurteilung der Bestimmtheit einer Strafnorm ist anerkannt, daß auch die Verwendung von Begriffen, die eine sehr weite Auslegung zulassen und aus diesem Grunde nach Art. 103 Abs. 2 GG Bedenken begeg­ nen könnten, dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitserfordernis genügen, wenn sie durch eine gefestigte Rechtsprechung eine Auslegung erfahren haben, die dem Normadressaten hinreichend verdeutlicht, was die Bestim­ mung strafrechtlich verbietet (vgl. BVerfGE 26, 41 [43]; 45, 363 [372]; 57, 250 [262]; 73, 206 [243] m. w. N.). Gleiches muß gelten, wenn man die Frage, mit welcher Auslegung der Norm in Grenzbereichen zu rechnen ist, nicht im Rahmen der Bestimmtheit der Norm, sondern unter dem Gesichts­ punkt der Voraussehbarkeit der Auslegung prüft. b) Daß Sitzblockaden der vorliegenden Art (und allgemein das Hindern der Weiterfahrt eines Fahrzeugs durch körperliches Dazwischentreten oder



Abweichende Meinung Seidl, Söllner und Haas23

-setzen) das Tatbestandsmerkmal der Gewalt im Sinne von § 240 Abs. 1 StGB erfüllen und zur Strafbarkeit nach dieser Vorschrift führen konnten, entsprach im Zeitpunkt der Tat einer gefestigten Rechtsprechung, die sich in einer über hundertjährigen Entwicklung herausgebildet hatte. Das Reichs­ gericht sah bereits im Jahre 1885 das Einsperren von Personen in einem Zimmer, um sie an der Fortschaffung von Ware zu hindern, als Gewalt im Sinne von § 240 StGB an (RGSt 13, 49 [51]). In einer Entscheidung aus dem Jahre 1911 sah es nicht nur nötigende Gewalt, sondern sogar Gewalt­ tätigkeit in einem Fall für gegeben an, in dem eine Menschenmenge einem Leichenzug den Weg versperrte, um die Beerdigung eines Selbstmörders in geweihter Erde zu verhindern (RGSt 45, 153 [156 f.]). In der Folgezeit entschied es, daß Gewaltanwendung vorliege, wenn der Täter durch Entge­ gentreten einem Fuhrwerk den Weg versperrt und den Fuhrwerkslenker dadurch zum Anhalten zwingt (RG, DJZ 1923, S. 371). Ebenso sah es Ge­ waltanwendung in einem Fall als gegeben an, in dem der Täter einer Rad­ fahrerin den Weg mit seinem eigenen Fahrrad versperrte, um sie zum Ab­ steigen zu zwingen (RG, HRR 1942, Nr. 193). In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Rechtsprechung vom Bundesgerichtshof (BGHSt 18, 389 [390]: Verhinderung des Überholt­ werdens durch Linksausscheren; BGHSt 23, 47 [54]: Blockieren des Stra­ ßenbahnverkehrs durch auf dem Gleiskörper stehende oder sitzende Stu­ denten) und von den Revisionsgerichten der Länder (vgl. etwa BayObLGSt 1953, 145 [147]: Nötigung eines Kraftfahrers zum Anhalten mittels Versper­ ren des Wegs durch Dazwischentreten; BayObLGSt 1963, 17 [20]: Verhin­ derung der Einfahrt in eine Parklücke durch eine dort stehende Frau, die die Lücke für ihren Ehemann freihalten wollte; BayObLGSt 1970, 71 [72]: Aufstellen des Täters vor einem Pkw, um den Fahrer an der Weiterfahrt zu hindern; OLG Karlsruhe, NJW 1974, S. 2144 [2147]: Blockieren des Stra­ ßenbahnverkehrs) fortgesetzt. c) Nach dieser Rechtsprechung, die auch in der Kommentarliteratur un­ beschadet gewisser Bedenken zustimmend referiert worden ist (vgl. BVerf­ GE 73, 206 [242] m. w. N.), stand außer Zweifel, daß für die Beschwerde­ führer im Tatzeitpunkt vorhersehbar war, daß ihr Verhalten als Nötigung mittels Gewalt im Sinne von § 240 Abs. 1 StGB angesehen werden würde. Daß sich in der Literatur kritische Stimmen fanden, die eine engere Ein­ grenzung des Gewaltbegriffs befürworteten, ändert daran nichts. Ebensowe­ nig wurde die Vorhersehbarkeit der Anwendung von § 240 Abs. 1 StGB auf Fälle der vorliegenden Art durch das in Abschnitt B. I. 3. b) der Gründe erwähnte Urteil des Bundesgerichtshofs vom 1. Juli 1981 (NJW 1981, S. 2204) beeinträchtigt. Die abweichende Beurteilung des Tatbestandsmerk­ mals der Gewalt in dieser Entscheidung bezog sich ausdrücklich nur auf den Tatbestand des § 177 StGB, in dem die Gewalt zu den dort genannten

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1. Sitzblockaden-Entscheidung

besonderen Nötigungszielen in Beziehung stehen muß, so daß nach Auffas­ sung des Bundesgerichtshofs eine darauf ausgerichtete besondere Zwangssi­ tuation vorliegen muß. Die Rechtsprechung zum Gewaltbegriff in § 240 Abs. 1 StGB wurde in der Entscheidung dagegen nicht in Frage gestellt (BGH, a. a. O., S. 2205). Auch in der Stellungnahme des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs im Verfassungsbeschwerdeverfahren, auf die sich die Senatsmehrheit beruft, ist dies nicht geschehen. Im übrigen haben auch die Revisionsgerichte der Länder die dargelegte Rechtsprechung zum Gewaltbe­ griff bis zur Gegenwart uneingeschränkt fortgeführt (vgl. etwa BayObLG, NJW 1988, S. 718; OLG Düsseldorf, StV 1987, S. 393 [394]; KG, NJW 1985, S. 209 [211]; OLG Köln, NJW 1986, S. 333 [335]; OLG Koblenz, NJW 1988, S. 720; OLG Schleswig, referiert bei Lorenzen, SHA, 1987, S. 101 [102]; OLG Stuttgart, NJW 1984, S. 1909 [1910]; NJW 1989, S. 1620 [1621]).

2. Kruzifix-Entscheidung Beschluß des Ersten Senats vom 16. Mai 1995 – 1 BvR 1087 / 91 (BVerfGE 93, 1)1 Amtlicher Leitsatz: 1.  Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräu­ men einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Art. 4 Abs. 1 GG. 2.  § 13 Abs. 1 Satz 3 der Schulordnung für Volksschulen in Bayern ist mit Art. 4 Abs. 1 GG unvereinbar und nichtig. Aus den Gründen: A. Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anbringung von Kreuzen oder Kruzifixen in Schulräumen.  Beschluß vom 16. Mai 1995

I. 1. Nach § 13 Abs. 1 Satz 3 der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern (Volksschulordnung – VSO) vom 21. Juni 1983 (GVBl. S. 597) ist in den öffentlichen Volksschulen in jedem Klassenzimmer ein Kreuz anzu­ bringen. Die Volksschulordnung ist eine vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus erlassene Rechtsverordnung, die auf einer Er­ mächtigung im Bayerischen Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichts­ wesen (BayEUG) und im (inzwischen aufgehobenen) Volksschulgesetz (VoSchG) beruht. § 13 Abs. 1 VSO lautet: Die Schule unterstützt die Erziehungsberechtigten bei der religiösen Erziehung der Kinder. Schulgebet, Schulgottesdienst und Schulandacht sind Möglichkeiten dieser Unterstützung. In jedem Klassenzimmer ist ein Kreuz anzubringen. Lehrer und Schüler sind verpflichtet, die religiösen Empfindungen aller zu achten.

2.  Die Beschwerdeführer zu 3. bis 5. sind die minderjährigen schulpflich­ tigen Kinder der Beschwerdeführer zu 1. und 2. Letztere sind Anhänger der 1  An der Entscheidung haben mitgewirkt: Vizepräsident Henschel, die Richter Seidl, Grimm, Söllner und Kühling sowie die Richterinnen Seibert, Jaeger und Haas.

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2. Kruzifix-Entscheidung

anthroposophischen Weltanschauung nach der Lehre Rudolf Steiners und erziehen ihre Kinder in diesem Sinne. Seit der Einschulung der ältesten Tochter, der Beschwerdeführerin zu 3., wenden sie sich dagegen, daß in den von ihren Kindern besuchten Schulräumen zunächst Kruzifixe und später teilweise Kreuze ohne Korpus angebracht worden sind. Sie machen geltend, daß durch diese Symbole, insbesondere durch die Darstellung eines „ster­ benden männlichen Körpers“, im Sinne des Christentums auf ihre Kinder eingewirkt werde; dies laufe ihren Erziehungsvorstellungen, insbesondere ihrer Weltanschauung, zuwider. Bei der Einschulung der Beschwerdeführerin zu 3. im Spätsommer 1986 war in deren Klassenzimmer ein Kruzifix mit einer Gesamthöhe von 80 cm und einer 60 cm hohen Darstellung des Korpus unmittelbar im Sichtfeld der Tafel angebracht. Die Beschwerdeführer zu 1. und 2. forderten die Entfer­ nung dieses Kruzifixes und lehnten es ab, die Beschwerdeführerin zu 3. zur Schule zu schicken, solange sie dem Anblick ausgesetzt sei. Der Konflikt wurde zunächst dadurch beigelegt, daß das Kruzifix gegen ein kleineres über der Tür angebrachtes Kreuz ohne Korpus ausgewechselt wurde. Die Auseinandersetzungen zwischen den Beschwerdeführern zu 1. und 2. und der Schulverwaltung flammten jedoch bei der Einschulung ihrer weiteren Kinder sowie beim Klassen- und schließlich beim Schulwechsel der Be­ schwerdeführerin zu 3. wieder auf, weil wiederum in den Schulräumen Kruzifixe angebracht waren. Wiederholt erreichten die Beschwerdeführer zu 1. und 2. dadurch, daß sie ihre Kinder, teilweise über längere Zeiträume, nicht zum Unterricht schickten, erneut die Kompromißlösung (kleines Kreuz ohne Korpus seitlich über der Tür) für die Klassenzimmer, nicht aber für sonstige Unterrichtsräume. Die Schulverwaltung gab den Beschwerdefüh­ rern zu 1. und 2. im übrigen keine Zusage, daß der Kompromiß bei jedem Klassenwechsel eingehalten werde. Zeitweilig besuchten die drei Kinder eine Waldorfschule; dies blieb je­ doch wegen Fehlens der erforderlichen Finanzmittel nur ein vorübergehender Versuch zur Lösung des Konflikts. 3.  Im Februar 1991 erhoben die Beschwerdeführer zu 1. und 2. im eige­ nen Namen und im Namen ihrer Kinder vor dem Verwaltungsgericht Klage gegen den Freistaat Bayern mit dem Ziel, daß aus sämtlichen von ihren Kindern im Rahmen ihres Schulbesuchs aufgesuchten und noch aufzusu­ chenden Räumen in öffentlichen Schulen die Kreuze entfernt würden. Zu­ gleich beantragten sie den Erlaß einer einstweiligen Anordnung bis zum Abschluß des Klageverfahrens auf Entfernung von Kruzifixen. a)  Das Verwaltungsgericht lehnte den Eilantrag ab. Durch das Anbringen von Kreuzen in Schulräumen würden weder das Erziehungsrecht der Eltern noch Grundrechte der Kinder verletzt. § 13 Abs. 1 Satz 3 VSO bestimme



Beschluß vom 16. Mai 199527

nicht, daß das Kreuz als Unterrichtsmittel einzusetzen und zum Gegenstand des allgemeinen Schulunterrichts zu machen sei. Es diene lediglich der verfassungsrechtlich unbedenklichen Unterstützung der Eltern bei der reli­ giösen Erziehung ihrer Kinder. Der verfassungsrechtlich zulässige Rahmen religiös-weltanschaulicher Bezüge im Schulwesen werde nicht überschrit­ ten. Das Prinzip der Nichtidentifikation beanspruche im Schulwesen – an­ ders als im rein weltlichen Bereich – nicht in gleicher Weise Beachtung, weil im Erziehungsbereich religiös-weltanschauliche Vorstellungen von je­ her von Bedeutung gewesen seien. Das Spannungsverhältnis zwischen po­ sitiver und negativer Religionsfreiheit müsse unter Berücksichtigung des Toleranzgebotes nach dem Prinzip der Konkordanz gelöst werden. Danach könnten die Beschwerdeführer nicht verlangen, daß ihrer negativen Be­ kenntnisfreiheit der absolute Vorrang gegenüber der positiven Bekenntnis­ freiheit derjenigen Schüler eingeräumt werde, die in einem religiösen Be­ kenntnis erzogen würden und sich dazu bekennen wollten. Vielmehr könne von den Beschwerdeführern Toleranz und Achtung der religiösen Überzeu­ gungen anderer erwartet werden, wenn sie deren Religionsausübung in der Schule begegneten (zu den Einzelheiten vgl. VG Regensburg, BayVBl. 1991, S. 345). b)  Die hiergegen gerichtete Beschwerde wies der Verwaltungsgerichtshof zurück. Es fehle bereits an einem Anordnungsgrund. Die Vorwegnahme des mit dem Hauptsacheverfahren verfolgten Ziels sei nicht zulässig, weil den Beschwerdeführern bei einem Zuwarten keine unzumutbaren, irreparablen Nachteile entstünden. Die Kinder besuchten seit 1986 öffentliche Schulen. Seitdem hätten sich ihre Eltern gegen das Anbringen von Kreuzen gewandt, Klage hätten sie aber erst im Februar 1991 erhoben. Außerdem habe sich die Schulbehörde in gewisser Weise kompromißbereit gezeigt. Unter diesen Umständen sei es den Beschwerdeführern zu 1. und 2. zuzumuten, in mög­ lichst vertrauensvoller Zusammenarbeit mit der Schule nach einer für sie zumutbaren Übergangslösung zu suchen. Der Anblick eines Kreuzes oder Kruzifixes sei eine vergleichbar geringfügige Belastung; mit dieser Darstel­ lung würden die Kinder auch anderswo konfrontiert. Darüber hinaus sei auch ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft ge­ macht; mit einem Erfolg im Hauptsacheverfahren könne nicht gerechnet werden. Zwar sei der Schutzbereich der Glaubensfreiheit berührt; diese treffe hier aber auf ihre Schranken, die sich aus dem staatlichen Schulorga­ nisationsrecht und den Grundrechten derjenigen Schüler und Eltern ergäben, die eine entgegengesetzte Auffassung verträten. Mit der Darstellung des Kreuzes als Sinnbild des Leidens und der Herrschaft Christi würden die Beschwerdeführer zwar mit einem religiösen Weltbild konfrontiert. Das Kreuz sei aber nicht Ausdruck eines Bekenntnisses zu einem konfessionell gebundenen Glauben, sondern wesentlicher Gegenstand der allgemein

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2. Kruzifix-Entscheidung

christlich-abendländischen Tradition und Gemeingut dieses Kulturkreises. Einem Nichtchristen oder sonst weltanschaulich anders Gesinnten sei es unter dem auch für ihn geltenden Gebot der Toleranz zumutbar, das Kreuz in der gebotenen Achtung vor der Weltanschauung anderer hinzunehmen. Das bloße Vorhandensein einer Kreuzesdarstellung verlange weder eine Identifikation mit den dadurch verkörperten Ideen oder Glaubensvorstel­ lungen noch ein irgendwie sonst darauf gerichtetes aktives Verhalten. Die Schule werde weder missionarisch tätig noch werde ihre Offenheit für an­ dere religiöse und weltanschauliche Werte beeinträchtigt. Die Schule präge die Kinder durch den Unterricht, nicht durch bildliche Darstellungen wie das überkommene Kreuzessymbol. Mit diesem Symbol werde kein Absolut­ heitsanspruch erhoben und auch nicht für eine bestimmte christliche Kon­ fession geworben; ebensowenig würden die Beschwerdeführer diskriminiert. Das Anbringen von Kreuzen in Schulräumen sei auch nicht geeignet, die von der Schule unabhängige elterliche Erziehung zu beeinträchtigen. Im vorliegenden Fall komme hinzu, daß die Beschwerdeführer zu 1. und 2. die Gestalt Jesu Christi als solche nicht ablehnten, sondern sich nur gegen die nach ihrer Meinung zu einseitige und schädliche Betonung des leidenden Christus wendeten. Auch deswegen sei ihre Beeinträchtigung verhältnismä­ ßig geringfügig; daß die Beschwerdeführer zu 3. bis 5. durch den Anblick einer Kreuzesdarstellung im Schulzimmer seelische Schäden erlitten, sei nicht glaubhaft gemacht. Es werde auch kein unausweichlicher Zwang da­ durch ausgeübt, daß die Kinder die Kreuzesdarstellung während des Unter­ richts ständig vor Augen hätten und anschauen müßten (zu den Einzelheiten vgl. BayVGH, NVwZ 1991, S. 1099). c) Das Hauptsacheverfahren ist, nachdem das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen hat, in der Berufungsinstanz anhängig. II. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich unmittelbar gegen die im Eilver­ fahren ergangenen Beschlüsse, mittelbar gegen § 13 Abs. 1 Satz 3 VSO. […] B. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Die Beschwerdeführer haben den Rechtsweg erschöpft (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Mit dem Beschluß des Verwaltungsgerichtshofs liegt eine das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes abschließende letztinstanz­ liche Entscheidung vor. Allerdings kann der Grundsatz der Subsidiarität in solchen Fällen der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde entgegenstehen, wenn Verfassungsverstöße gerügt werden, die sich nicht speziell auf das



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Eilverfahren beziehen, sondern Fragen aufwerfen, die sich genau so auch im Hauptsacheverfahren stellen, so daß letzteres geeignet ist, der behaupte­ ten verfassungsrechtlichen Beschwer abzuhelfen (vgl. BVerfGE 77, 381 [401]; 80, 40 [45]). Andererseits darf der Beschwerdeführer aber nicht auf das Hauptsacheverfahren verwiesen werden, wenn die Verletzung von Grundrechten durch die Eilentscheidung selbst geltend gemacht wird oder wenn die Entscheidung von keiner weiteren tatsächlichen oder einfachrecht­ lichen Aufklärung abhängt und die Voraussetzungen gegeben sind, unter denen gemäß § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG vom Erfordernis der Rechts­ wegerschöpfung abgesehen werden kann (vgl. BVerfGE 79, 275 [279]). Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Soweit die Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG durch die Verweigerung vorläufigen Rechtsschutzes geltend machen, erheben sie eine speziell das Eilverfahren betreffende Grundrechtsrüge. Hinsichtlich der anderen (materiellrechtlichen) Grundrechtsrügen bedarf es keiner weiteren tatsächlichen oder einfachrecht­ lichen Klärung. Insbesondere haben sich die Fachgerichte in den angegrif­ fenen Entscheidungen umfassend mit den maßgeblichen Rechtsfragen aus­ einandergesetzt. Vom Hauptsacheverfahren ist kein zusätzlicher Ertrag zu erwarten. Auch ist es den Beschwerdeführern angesichts der fortschreitenden Zeit und des Fortgangs der Schulausbildung nicht zumutbar, auf den Ab­ schluß des Hauptsacheverfahrens verwiesen zu werden. Für die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde kommt es nicht darauf an, ob die beschwerdeführenden Kinder noch die Volksschule besuchen (vgl. BVerfGE 41, 29 [43]). C. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Soweit der Verwaltungsge­ richtshof einen Anordnungsgrund verneint hat, verstößt seine Entscheidung gegen Art. 19 Abs. 4 GG (I.). Die Verneinung eines Anordnungsanspruchs ist mit Art. 4 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG unvereinbar (II.). I. 1.  Art. 19 Abs. 4 GG eröffnet den Rechtsweg gegen jede behauptete Ver­ letzung subjektiver Rechte durch ein Verhalten der öffentlichen Gewalt. Gewährleistet wird nicht nur das formelle Recht, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 35, 263 [274]; 35, 382 [401 f.] m. w. N.). Wirksamer Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Daraus folgt, daß gerichtlicher Rechtsschutz namentlich in Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei (endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig er­

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2. Kruzifix-Entscheidung

weist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können (vgl. BVerfGE 37, 150 [153]; 65, 1 [70]). Hieraus ergeben sich für die Gerichte Anforderungen an die Auslegung und Anwendung der jeweiligen Gesetzesbestimmungen über den Eilrechtsschutz (vgl. BVerfGE 49, 220 [226]; 77, 275 [284]). So sind die Fachgerichte etwa bei der Auslegung und Anwendung des § 123 VwGO gehalten, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn sonst dem Antragsteller eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, es sei denn, daß ausnahmsweise überwie­ gende, besonderes gewichtige Gründe entgegenstehen (vgl. BVerfGE 79, 69 [74 f.]). 2. Diesen Anforderungen genügt der Beschluß des Verwaltungsgerichts­ hofs nicht. Dieser verneint den für den Erlaß der begehrten einstweiligen Anordnung erforderlichen Anordnungsgrund, also die Eilbedürftigkeit der Sache, weil die Beschwerdeführer über Jahre hinweg mit der Anrufung der Gerichte gezögert und während dieser Zeit jedenfalls das Anbringen von Kreuzen statt der zunächst vorhandenen Kruzifixe hingenommen hätten. Es sei ihre Sache gewesen, mit der Schulverwaltung weiterhin nach einer für sie zumutbaren Übergangslösung in diesem Sinne zu suchen. Mit dieser Begründung wird der Verwaltungsgerichtshof weder dem tat­ sächlichen Geschehensablauf noch der Bedeutung des Anliegens der ­Beschwerdeführer gerecht. Tatsächlich hatten die Beschwerdeführer seit der Einschulung ihres ältesten Kindes auf allen Ebenen der Schulverwaltung – von der örtlichen bis zur ministeriellen – ihr Begehren angebracht. Daß sie ursprünglich auf eine außergerichtliche Einigung hofften und dadurch Zeit verstrich, darf ihnen nicht zum Nachteil gereichen; ein solches zunächst auf Streitvermeidung ausgerichtetes Verhalten entspricht vielmehr dem einer vernünftigen Partei. Es kommt hinzu, daß die Beschwerdeführer einem Kompromiß zugestimmt hatten, der jedoch von der Schulverwaltung wie­ derholt bei Klassenzimmer- oder Schulwechseln der Kinder in Frage gestellt wurde. Ein endgültiges Zugeständnis in diesem Sinne hat ihnen die Schul­ verwaltung nicht gemacht. Aus diesem Grunde wird auch die Auffassung des Verwaltungsgerichts­ hofs, die Beschwerdeführer hätten sich weiterhin um einen Kompromiß bemühen müssen, der Pflicht zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht gerecht. Es wäre vielmehr Sache des Gerichts gewesen auszuloten, ob die Schulverwaltung bereit war, durch eine Zusage auf der Linie der Kom­ promißlösung eine einstweilige Anordnung entbehrlich zu machen. Bei der Beantwortung der Frage, ob ein Anordnungsgrund vorlag, hat der Verwaltungsgerichtshof ferner nicht hinreichend berücksichtigt, daß es um eine vorläufige Regelung im Rahmen eines aktuellen Schulverhältnisses,



Beschluß vom 16. Mai 199531

also um einen Lebenssachverhalt ging, in dem schon wegen seines zeit­ lichen Fortschreitens auf einen Schulabschluß hin (die Beschwerdeführerin zu 3. ist inzwischen 16 Jahre alt) gerichtlicher Rechtsschutz besonders eil­ bedürftig ist. Gerade Rechtsstreitigkeiten in Schulsachen werden oft nur im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes ausgetragen, weil der Anspruch wegen des Zeitablaufs häufig im Hauptsacheverfahren nicht mehr durchge­ setzt werden kann. Dem Bedürfnis nach wirksamem Rechtsschutz dürfen sich die Fachgerichte nicht dadurch entziehen, daß sie überspannte Anfor­ derungen an das Vorliegen eines Anordnungsgrundes stellen. II. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen ferner die Beschwerdeführer zu 1. und 2. in ihren Grundrechten aus Art. 4 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG und die Beschwerdeführer zu 3. bis 5. in ihren Grundrechten aus Art. 4 Abs. 1 GG. Sie beruhen auf § 13 Abs. 1 Satz 3 VSO, der seinerseits mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig ist. 1. Art. 4 Abs. 1 GG schützt die Glaubensfreiheit. Die Entscheidung für oder gegen einen Glauben ist danach Sache des Einzelnen, nicht des Staates. Der Staat darf ihm einen Glauben oder eine Religion weder vorschreiben noch verbieten. Zur Glaubensfreiheit gehört aber nicht nur die Freiheit, ei­ nen Glauben zu haben, sondern auch die Freiheit, nach den eigenen Glau­ bensüberzeugungen zu leben und zu handeln (vgl. BVerfGE 32, 98 [106]). Insbesondere gewährleistet die Glaubensfreiheit die Teilnahme an den kul­ tischen Handlungen, die ein Glaube vorschreibt oder in denen er Ausdruck findet. Dem entspricht umgekehrt die Freiheit, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben. Diese Freiheit bezieht sich ebenfalls auf die Symbole, in denen ein Glaube oder eine Religion sich darstellt. Art. 4 Abs. 1 GG überläßt es dem Einzelnen zu entscheiden, welche reli­ giösen Symbole er anerkennt und verehrt und welche er ablehnt. Zwar hat er in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, kein Recht darauf, von fremden Glaubensbekundungen, kul­ tischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben. Davon zu unterscheiden ist aber eine vom Staat geschaffene Lage, in der der Ein­ zelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluß eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen dieser sich manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist. Insofern entfaltet Art. 4 Abs. 1 GG seine freiheitssichernde Wirkung gerade in Lebensbereichen, die nicht der gesellschaftlichen Selbstorganisation überlassen, sondern vom Staat in Vor­ sorge genommen worden sind (vgl. BVerfGE 41, 29 [49]). Dem trägt auch Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 4 WRV dadurch Rechnung, daß er ausdrücklich verbietet, jemanden zur Teilnahme an religiösen Übungen zu zwingen.

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2. Kruzifix-Entscheidung

Art. 4 Abs. 1 GG beschränkt sich allerdings nicht darauf, dem Staat eine Einmischung in die Glaubensüberzeugungen, -handlungen und -darstel­ lungen Einzelner oder religiöser Gemeinschaften zu verwehren. Er erlegt ihm vielmehr auch die Pflicht auf, ihnen einen Betätigungsraum zu sichern, in dem sich die Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet entfal­ ten kann (vgl. BVerfGE 41, 29 [49]), und sie vor Angriffen oder Behinde­ rungen von Anhängern anderer Glaubensrichtungen oder konkurrierender Religionsgruppen zu schützen. Art. 4 Abs. 1 GG verleiht dem Einzelnen und den religiösen Gemeinschaften aber grundsätzlich keinen Anspruch darauf, ihrer Glaubensüberzeugung mit staatlicher Unterstützung Ausdruck zu ver­ leihen. Aus der Glaubensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG folgt im Gegenteil der Grundsatz staatlicher Neutralität gegenüber den unterschiedlichen Reli­ gionen und Bekenntnissen. Der Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher oder gar gegensätzlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben, kann die friedliche Koexistenz nur gewährleisten, wenn er selber in Glaubensfragen Neutralität bewahrt. Er darf daher den religiösen Frieden in einer Gesellschaft nicht von sich aus gefährden. Dieses Gebot findet seine Grundlage nicht nur in Art. 4 Abs. 1 GG, sondern auch in Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 1 sowie Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV. Sie verwehren die Einführung staatskirch­ licher Rechtsformen und untersagen die Privilegierung bestimmter Bekennt­ nisse ebenso wie die Ausgrenzung Andersgläubiger (vgl. BVerfGE 19, 206 [216]; 24, 236 [246]; 33, 23 [28]; st. Rspr.). Auf die zahlenmäßige Stärke oder die soziale Relevanz kommt es dabei nicht an (vgl. BVerfGE 32, 98 [106]). Der Staat hat vielmehr auf eine am Gleichheitssatz orientierte Be­ handlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten (vgl. BVerfGE 19, 1 [8]; 19, 206 [216]; 24, 236 [246]). Auch dort, wo er mit ihnen zusammenarbeitet oder sie fördert, darf dies nicht zu einer Identifikation mit bestimmten Religionsgemeinschaften führen (vgl. BVerfGE 30, 415 [422]). Im Verein mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, der den Eltern die Pflege und Erziehung ihrer Kinder als natürliches Recht garantiert, umfaßt Art. 4 Abs. 1 GG auch das Recht zur Kindererziehung in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht. Es ist Sache der Eltern, ihren Kindern diejenigen Überzeugungen in Glaubens- und Weltanschauungsfragen zu vermitteln, die sie für richtig halten (vgl. BVerfGE 41, 29 [44, 47 f.]). Dem entspricht das Recht, die Kinder von Glaubensüberzeugungen fernzuhalten, die den Eltern falsch oder schädlich erscheinen. 2.  In dieses Grundrecht greifen § 13 Abs. 1 Satz 3 VSO sowie die ange­ griffenen Entscheidungen, die sich auf diese Vorschrift stützen, ein. a)  § 13 Abs. 1 Satz 3 VSO schreibt die Anbringung von Kreuzen in sämt­ lichen Klassenzimmern der bayerischen Volksschulen vor. Der Begriff des



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Kreuzes umfaßt nach der Auslegung durch die Gerichte des Ausgangsver­ fahrens Kreuze mit und ohne Korpus. In die Nachprüfung der Norm sind daher beide Bedeutungen einzubeziehen. Die Beschwerdeführer haben zwar in ihrem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz dem Wortlaut nach nur die Entfernung von Kruzifixen begehrt. Der Verwaltungsgerichtshof hat jedoch ausdrücklich unterstellt, daß damit auch Kreuze ohne Korpus gemeint sein könnten, und den Antrag auch in dieser weitergehenden Bedeutung abge­ lehnt. Zusammen mit der allgemeinen Schulpflicht führen Kreuze in Unter­ richtsräumen dazu, daß die Schüler während des Unterrichts von Staats wegen und ohne Ausweichmöglichkeit mit diesem Symbol konfrontiert sind und gezwungen werden, „unter dem Kreuz“ zu lernen. Dadurch unterschei­ det sich die Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern von der im All­ tagsleben häufig auftretenden Konfrontation mit religiösen Symbolen der verschiedensten Glaubensrichtungen. Zum einen geht diese nicht vom Staat aus, sondern ist eine Folge der Verbreitung unterschiedlicher Glaubensüber­ zeugungen und Religionsgemeinschaften in der Gesellschaft. Zum anderen besitzt sie nicht denselben Grad von Unausweichlichkeit. Zwar hat es der Einzelne nicht in der Hand, ob er im Straßenbild, in öffentlichen Verkehrs­ mitteln oder beim Betreten von Gebäuden religiösen Symbolen oder Mani­ festationen begegnet. Es handelt sich in der Regel jedoch um ein flüchtiges Zusammentreffen, und selbst bei längerer Konfrontation beruht diese nicht auf einem notfalls mit Sanktionen durchsetzbaren Zwang. Nach Dauer und Intensität ist die Wirkung von Kreuzen in Unterrichts­ räumen noch größer als diejenige von Kreuzen in Gerichtssälen. Schon in dem Zwang, entgegen den eigenen religiösen oder weltanschaulichen Über­ zeugungen einen Rechtsstreit unter dem Kreuz zu führen, hat das Bundes­ verfassungsgericht aber einen Eingriff in die Glaubensfreiheit eines jüdischen Prozeßbeteiligten gesehen, der darin eine Identifikation des Staates mit dem christlichen Glauben erblickte (vgl. BVerfGE 35, 366 [375]). Die Unvermeidbarkeit der Begegnung mit dem Kreuz in Schulräumen wird auch nicht durch die in Art. 7 Abs. 4 GG zugelassene Errichtung pri­ vater Schulen beseitigt. Zum einen ist gerade die Errichtung privater Volks­ schulen in Art. 7 Abs. 5 GG an besonders strenge Voraussetzungen geknüpft. Zum anderen wird, da diese Schulen sich in aller Regel über Schulgeld fi­ nanzieren, das von den Eltern aufzubringen ist, einem großen Teil der Be­ völkerung die Möglichkeit fehlen, auf solche Schulen auszuweichen. So verhält es sich auch im Fall der Beschwerdeführer. b) Das Kreuz ist Symbol einer bestimmten religiösen Überzeugung und nicht etwa nur Ausdruck der vom Christentum mitgeprägten abendlän­ dischen Kultur.

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2. Kruzifix-Entscheidung

Zwar sind über die Jahrhunderte zahlreiche christliche Traditionen in die allgemeinen kulturellen Grundlagen der Gesellschaft eingegangen, denen sich auch Gegner des Christentums und Kritiker seines historischen Erbes nicht entziehen können. Von diesen müssen aber die spezifischen Glaubens­ inhalte der christlichen Religion oder gar einer bestimmten christlichen Konfession einschließlich ihrer rituellen Vergegenwärtigung und symbo­ lischen Darstellung unterschieden werden. Ein staatliches Bekenntnis zu diesen Glaubensinhalten, dem auch Dritte bei Kontakten mit dem Staat ausgesetzt werden, berührt die Religionsfreiheit. Davon ist das Bundesver­ fassungsgericht schon in der Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Simultanschulen mit christlichem Charakter im überlieferten badischen Sinne ausgegangen, als es feststellte, daß die zulässige Bejahung des Chri­ stentums sich in erster Linie auf die Anerkennung des prägenden Kulturund Bildungsfaktors bezieht, wie er sich in der abendländischen Geschichte herausgebildet hat, nicht dagegen auf die Glaubenswahrheiten der christ­ lichen Religion. Nur bei einer solchen Begrenzung ist diese Bejahung auch gegenüber dem Nichtchristen durch das Fortwirken geschichtlicher Gege­ benheiten legitimiert (vgl. BVerfGE 41, 29 [52]). Das Kreuz gehört nach wie vor zu den spezifischen Glaubenssymbolen des Christentums. Es ist geradezu sein Glaubenssymbol schlechthin. Es versinnbildlicht die im Opfertod Christi vollzogene Erlösung des Men­ schen von der Erbschuld, zugleich aber auch den Sieg Christi über Satan und Tod und seine Herrschaft über die Welt, Leiden und Triumph in einem (vgl. das Stichwort „Kreuz“ in: Höfer / Rahner [Hrsg.], Lexikon für Theo­ logie und Kirche, 2. Aufl. 1961, Bd. 6, Sp. 605 ff.; Fahlbusch u. a. [Hrsg.], Evangelisches Kirchenlexikon, 3. Aufl. 1989, Bd. 2 Sp. 1462 ff.). Für den gläubigen Christen ist es deswegen in vielfacher Weise Gegenstand der Verehrung und der Frömmigkeitsübung. Die Ausstattung eines Gebäudes oder eines Raums mit einem Kreuz wird bis heute als gesteigertes Be­ kenntnis des Besitzers zum christlichen Glauben verstanden. Für den Nichtchristen oder den Atheisten wird das Kreuz gerade wegen der Bedeu­ tung, die ihm das Christentum beilegt und die es in der Geschichte ge­habt hat, zum sinnbildlichen Ausdruck bestimmter Glaubensüberzeugungen und zum Symbol ihrer missionarischen Ausbreitung. Es wäre eine dem Selbst­ verständnis des Christentums und der christlichen Kirchen zuwiderlaufende Profanisierung des Kreuzes, wenn man es, wie in den angegriffenen Ent­ scheidungen, als bloßen Ausdruck abendländischer Tradition oder als kul­ tisches Zeichen ohne spezifischen Glaubensbezug ansehen wollte. Der re­ ligiöse Bezug des Kreuzes wird auch aus dem Zusammenhang des § 13 Abs. 1 VSO deutlich. c)  Dem Kreuz kann auch die Einwirkung auf die Schüler nicht abgespro­ chen werden, wie das die angegriffenen Entscheidungen tun.



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Zwar ist es richtig, daß mit der Anbringung des Kreuzes in Klassenzim­ mern kein Zwang zur Identifikation oder zu bestimmten Ehrbezeugungen und Verhaltensweisen einhergeht. Ebensowenig folgt daraus, daß der Sach­ unterricht in den profanen Fächern von dem Kreuz geprägt oder an den von ihm symbolisierten Glaubenswahrheiten und Verhaltensanforderungen aus­ gerichtet wird. Darin erschöpfen sich die Einwirkungsmöglichkeiten des Kreuzes aber nicht. Die schulische Erziehung dient nicht nur der Erlernung der grundlegenden Kulturtechniken und der Entwicklung kognitiver Fähig­ keiten. Sie soll auch die emotionalen und affektiven Anlagen der Schüler zur Entfaltung bringen. Das Schulgeschehen ist darauf angelegt, ihre Per­ sönlichkeitsentwicklung umfassend zu fördern und insbesondere auch das Sozialverhalten zu beeinflussen. In diesem Zusammenhang gewinnt das Kreuz im Klassenzimmer seine Bedeutung. Es hat appellativen Charakter und weist die von ihm symbolisierten Glaubensinhalte als vorbildhaft und befolgungswürdig aus. Das geschieht überdies gegenüber Personen, die aufgrund ihrer Jugend in ihren Anschauungen noch nicht gefestigt sind, Kritikvermögen und Ausbildung eigener Standpunkte erst erlernen sollen und daher einer mentalen Beeinflussung besonders leicht zugänglich sind (vgl. BVerfGE 52, 223 [249]). Auch die angegriffenen Entscheidungen stellen den appellativen Charak­ ter des Kreuzes nicht völlig in Abrede. Zwar sprechen sie ihm gegenüber den andersdenkenden Schülern eine spezifisch christliche Bedeutung ab. Für die christlichen Schüler sehen sie in ihm aber einen wesentlichen Ausdruck von deren religiöser Überzeugung. Ähnlich meint der Bayerische Minister­ präsident, das Kreuz habe im allgemeinen Unterricht nur einen unspezi­ fischen Symbolwert, während es sich beim Schulgebet und im Religionsun­ terricht in ein spezifisches Glaubenssymbol verwandele. 3. Das Grundrecht der Glaubensfreiheit ist vorbehaltlos gewährleistet. Das bedeutet aber nicht, daß es keinerlei Einschränkungen zugänglich wäre. Diese müssen sich jedoch aus der Verfassung selbst ergeben. Eine Errich­ tung von Schranken, die nicht bereits in der Verfassung angelegt sind, steht dem Gesetzgeber nicht zu. Verfassungsrechtliche Gründe, die den Eingriff zu rechtfertigen vermöchten, sind hier aber nicht vorhanden. a) Aus Art. 7 Abs. 1 GG ergibt sich eine solche Rechtfertigung nicht. Allerdings erteilt Art. 7 Abs. 1 GG dem Staat einen Erziehungsauftrag (vgl. BVerfGE 34, 165 [181]). Er hat nicht nur das Schulwesen zu organi­ sieren und selbst Schulen zu errichten, sondern darf auch die Erziehungs­ ziele und Ausbildungsgänge festlegen. Dabei ist er von den Eltern unabhän­ gig (vgl. BVerfGE 34, 165 [182]; 47, 46 [71 f.]). Deswegen können nicht nur schulische und familiäre Erziehung in Konflikt geraten. Es ist vielmehr auch unvermeidbar, daß in der Schule die unterschiedlichen religiösen und

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2. Kruzifix-Entscheidung

weltanschaulichen Überzeugungen der Schüler und ihrer Eltern besonders intensiv aufeinander treffen. Dieser Konflikt zwischen verschiedenen Trägern eines vorbehaltlos ge­ währleisteten Grundrechts sowie zwischen diesem Grundrecht und anderen verfassungsrechtlich geschützten Gütern ist nach dem Grundsatz praktischer Konkordanz zu lösen, der fordert, daß nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal behauptet wird, sondern alle einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren (vgl. BVerfGE 28, 243 [260 f.]; 41, 29 [50]; 52, 223 [247, 251]). Ein solcher Ausgleich verlangt vom Staat nicht, daß er bei der Erfüllung des von Art. 7 Abs. 1 GG erteilten Erziehungsauftrags auf religiös-weltan­ schauliche Bezüge völlig verzichtet. Auch ein Staat, der die Glaubensfreiheit umfassend gewährleistet und sich damit selber zu religiös-weltanschaulicher Neutralität verpflichtet, kann die kulturell vermittelten und historisch ver­ wurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen nicht abstreifen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht und von denen auch die Erfül­ lung seiner eigenen Aufgaben abhängt. Der christliche Glaube und die christlichen Kirchen sind dabei, wie immer man ihr Erbe heute beurteilen mag, von überragender Prägekraft gewesen. Die darauf zurückgehenden Denktraditionen, Sinnerfahrungen und Verhaltensmuster können dem Staat nicht gleichgültig sein. Das gilt in besonderem Maß für die Schule, in der die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft vornehmlich tradiert und erneu­ ert werden. Überdies darf der Staat, der die Eltern verpflichtet, ihre Kinder in die staatliche Schule zu schicken, auf die Religionsfreiheit derjenigen Eltern Rücksicht nehmen, die eine religiös geprägte Erziehung wünschen. Das Grundgesetz hat das anerkannt, indem es in Art. 7 Abs. 5 GG staatliche Weltanschauungs- oder Bekenntnisschulen gestattet, Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach vorsieht (Art. 7 Abs. 3 GG) und darüber hinaus Raum für aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung läßt (vgl. BVerfGE 41, 29 [49]; 52, 223 [240 f.]). Allerdings ist es in einer pluralistischen Gesellschaft unmöglich, bei der Gestaltung der öffentlichen Pflichtschule allen Erziehungsvorstellungen voll Rechnung zu tragen. Insbesondere lassen sich die negative und die positive Seite der Religionsfreiheit nicht problemlos in ein und derselben staatlichen Institution verwirklichen. Daraus folgt, daß sich der Einzelne im Rahmen der Schule nicht uneingeschränkt auf Art. 4 Abs. 1 GG berufen kann. Das unvermeidliche Spannungsverhältnis zwischen negativer und posi­ tiver Religionsfreiheit unter Berücksichtigung des Toleranzgebotes zu lösen, obliegt dem Landesgesetzgeber, der im öffentlichen Willensbildungsprozeß einen für alle zumutbaren Kompromiß zu suchen hat. Er kann sich bei



Beschluß vom 16. Mai 199537

seiner Regelung daran orientieren, daß einerseits Art. 7 GG im Bereich des Schulwesens religiös-weltanschauliche Einflüsse zuläßt, andererseits Art. 4 GG gebietet, bei der Entscheidung für eine bestimmte Schulform religiösweltanschauliche Zwänge so weit wie irgend möglich auszuschalten. Beide Vorschriften sind zusammen zu sehen und in der Interpretation aufeinander abzustimmen, weil erst die Konkordanz der in den beiden Artikeln ge­ schützten Rechtsgüter der Entscheidung des Grundgesetzes gerecht wird (vgl. BVerfGE 41, 29 [50 f.]). Das Bundesverfassungsgericht hat daraus den Schluß gezogen, daß dem Landesgesetzgeber die Einführung christlicher Bezüge bei der Gestaltung der öffentlichen Volksschulen nicht schlechthin verboten ist, mögen auch Erziehungsberechtigte, die bei der Erziehung ihrer Kinder dieser Schule nicht ausweichen können, keine religiöse Erziehung wünschen. Vorausset­ zung ist jedoch, daß damit nur das unerläßliche Minimum an Zwangsele­ menten verbunden ist. Das bedeutet insbesondere, daß die Schule ihre Aufgabe im religiös-weltanschaulichen Bereich nicht missionarisch auffas­ sen und keine Verbindlichkeit für christliche Glaubensinhalte beanspruchen darf. Die Bejahung des Christentums bezieht sich insofern auf die Anerken­ nung des prägenden Kultur- und Bildungsfaktors, nicht auf bestimmte Glau­ benswahrheiten. Zum Christentum als Kulturfaktor gehört gerade auch der Gedanke der Toleranz für Andersdenkende. Deren Konfrontation mit einem christlich geprägten Weltbild führt jedenfalls so lange nicht zu einer diskri­ minierenden Abwertung nichtchristlicher Weltanschauungen, als es nicht um Glaubensvermittlung, sondern um das Bestreben nach Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit im religiös-weltanschaulichen Bereich gemäß der Grundentscheidung des Art. 4 GG geht (vgl. BVerfGE 41, 29 [51 f.]; 41, 65 [85 f.]). Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb die Regelung über die christliche Gemeinschaftsschule in Art. 135 Satz 2 der Bayerischen Verfas­ sung nur aufgrund einer verfassungskonformen Auslegung für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt (vgl. BVerfGE 41, 65 [66 und 79 ff.]) und in bezug auf die Simultanschule mit christlichem Charakter im überlieferten badischen Sinne betont, daß es sich nicht um eine bikonfessionelle Schule handele (vgl. BVerfGE 41, 29 [62]). Die Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern überschreitet die da­ nach gezogene Grenze religiös-weltanschaulicher Ausrichtung der Schule. Wie bereits festgestellt, kann das Kreuz nicht seines spezifischen Bezugs auf die Glaubensinhalte des Christentums entkleidet und auf ein allge­ meines Zeichen abendländischer Kulturtradition reduziert werden. Es sym­ bolisiert den wesentlichen Kern der christlichen Glaubensüberzeugung, die zwar insbesondere die westliche Welt in vielfacher Weise geformt hat, aber keineswegs von allen Gesellschaftsmitgliedern geteilt, sondern von vielen in Ausübung ihres Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 GG abgelehnt wird. Sei­

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2. Kruzifix-Entscheidung

ne Anbringung in der staatlichen Pflichtschule ist daher mit Art. 4 Abs. 1 GG unvereinbar, soweit es sich nicht um christliche Bekenntnisschulen handelt. b)  Die Anbringung des Kreuzes rechtfertigt sich auch nicht aus der posi­ tiven Glaubensfreiheit der Eltern und Schüler christlichen Glaubens. Die positive Glaubensfreiheit kommt allen Eltern und Schülern gleichermaßen zu, nicht nur den christlichen. Der daraus entstehende Konflikt läßt sich nicht nach dem Mehrheitsprinzip lösen, denn gerade das Grundrecht der Glaubensfreiheit bezweckt in besonderem Maße den Schutz von Minder­ heiten. Überdies verleiht Art. 4 Abs. 1 GG den Grundrechtsträgern nicht uneingeschränkt einen Anspruch darauf, ihre Glaubensüberzeugung im Rah­ men staatlicher Institutionen zu betätigen. Soweit die Schule im Einklang mit der Verfassung dafür Raum läßt wie beim Religionsunterricht, beim Schulgebet und anderen religiösen Veranstaltungen, müssen diese vom Prin­ zip der Freiwilligkeit geprägt sein und Andersdenkenden zumutbare, nicht diskriminierende Ausweichmöglichkeiten lassen. Das ist bei der Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern, deren Präsenz und Anforderung sich der Andersdenkende nicht entziehen kann, nicht der Fall. Schließlich wäre es mit dem Gebot praktischer Konkordanz nicht vereinbar, die Empfindungen Andersdenkender völlig zurückzudrängen, damit die Schüler christlichen Glaubens über den Religionsunterricht und freiwillige Andachten hinaus auch in den profanen Fächern unter dem Symbol ihres Glaubens lernen können. D. Danach ist die dem Streitfall zugrunde liegende Vorschrift des § 13 Abs. 1 Satz 3 VSO mit den genannten Grundrechten unvereinbar und für nichtig zu erklären. Die angegriffenen Entscheidungen des vorläufigen Rechts­ schutzverfahrens sind aufzuheben. Da das Hauptsacheverfahren inzwischen beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof anhängig ist, wird die Sache an ihn zurückverwiesen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Die Anordnung der Kosten­ erstattung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.   Abweichende Meinung Seidl, Söllner und Haas

Abweichende Meinung der Richter Seidl und Söllner und der Richterin Haas zum Beschluß des Ersten Senats vom 16. Mai 1995 – 1 BvR 1087 / 91 (BVerfGE 93, 25) Die Auffassung der Senatsmehrheit, § 13 Abs. 1 Satz 3 der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern, wonach in jedem Klassenzimmer ein Kreuz anzubringen ist, verstoße gegen das Grundgesetz, wird von uns nicht geteilt. Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Gerichtsentscheidungen



Abweichende Meinung Seidl, Söllner und Haas39

verletzen die Beschwerdeführer nicht in ihren Grundrechten aus Art. 4 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. I. 1. Nach Art. 7 Abs. 1 GG steht das gesamte Schulwesen unter der Auf­ sicht des Staates. Die Errichtung und das Betreiben von Volksschulen ist, wie sich aus Art. 7 Abs. 5 GG ergibt, der die Zulassung privater Volksschu­ len an besonders strenge Voraussetzungen knüpft, grundsätzlich Sache des Staates selbst. Der Staat hat insoweit einen eigenen Erziehungsauftrag und damit auch die Befugnis, Erziehungsziele festzulegen (vgl. BVerfGE 52, 223 [236]). Das Grundgesetz weist jedoch das Schulrecht ausschließlich dem Ho­ heitsbereich der Länder zu. Das Schulrecht ist in den Zuständigkeitskata­ logen der Art. 73 ff. GG nicht aufgeführt. Der Bund hat also für diesen Gegenstand – im Gegensatz zur Verfassungsordnung der Weimarer Repu­ blik, die auf dem Gebiete des Schulwesens gemäß Art. 10 Nr. 2 WRV dem Reich das Recht zur Grundsatzgesetzgebung zuerkannte – keine Gesetzge­ bungsbefugnis (Art. 70 ff. GG) und keine Verwaltungshoheit (Art. 30 GG). Die Entstehungsgeschichte des Art. 7 GG zeigt, daß eine weitgehende Selbständigkeit der Länder in bezug auf die weltanschaulich-religiöse Aus­ prägung der öffentlichen Schulen beabsichtigt war. Hier setzte sich das fö­ deralistische Prinzip durch. Anträge, die ein weitergehendes Elternrecht („konfessionelles Elternrecht“) und eine grundgesetzliche Sicherstellung der Bekenntnisschulen erstrebten, wurden bereits in den Vorberatungen zu Art. 7 GG abgelehnt. Wiederholt wurde betont, die Länder dürften in ihrer Zustän­ digkeit, die schulpolitischen Fragen zu regeln, nicht geschmälert werden (vgl. hierzu ausführlich BVerfGE 6, 309 [356] m. w. N.; ferner BVerfGE 41, 29 [45]). 2. Die verfassungsrechtliche Beurteilung der mit der Verfassungsbe­ schwerde aufgeworfenen Fragen muß danach von den Gegebenheiten des Freistaates Bayern ausgehen und darf nicht die Verhältnisse, die in anderen Ländern der Bundesrepublik gegeben sein mögen, zum Ausgangspunkt nehmen. Die Verfassung des Freistaates Bayern vom 2. Dezember 1946 (BV) ent­ hält in ihrem Abschnitt über Bildung und Schule folgende Bestimmung über die in allen Schulen zu verfolgenden Bildungsziele: Art. 131 (1) … (2) Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Über­ zeugung und vor der Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, Verantwortungs­

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2. Kruzifix-Entscheidung

gefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft, Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne und Verantwortungsbewußtsein für Natur und Umwelt.

Während das Bildungsziel „Verantwortungsbewußtsein für Natur und Umwelt“ erst durch das Fünfte Gesetz zur Änderung der Verfassung des Freistaates Bayern vom 20. Juni 1984 (GVBl. S. 223) hinzugefügt worden ist, bestehen die anderen Bildungsziele unverändert seit dem Inkrafttreten der Bayerischen Landesverfassung. Für das Volksschulwesen sah Art. 135 BV ursprünglich Bekenntnis- oder Gemeinschaftsschulen mit einem Vorrang der Bekenntnisschule vor. Auf­ grund der schulpolitischen Entwicklung (vgl. hierzu BVerfGE 41, 65 [79 ff.]) wurde diese Verfassungsbestimmung im Wege des Volksentscheids durch das Gesetz zur Änderung des Art. 135 der Verfassung des Freistaates Bayern vom 22. Juli 1968 (GVBl. S. 235) geändert. Sie lautet seitdem wie folgt: Art. 135 Die öffentlichen Volksschulen sind gemeinsame Schulen für alle volksschulpflich­ tigen Kinder. In ihnen werden die Schüler nach den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse unterrichtet und erzogen. Das Nähere bestimmt das Volksschulge­ setz.

In Art. 135 Satz 2 BV n. F. muß das Christentum nicht in einem konfes­ sionellen Sinne verstanden werden. Die Grundsätze der christlichen Be­ kenntnisse im Sinne dieser Vorschrift umfassen vielmehr die Werte, die den christlichen Bekenntnissen gemeinsam sind, und die ethischen Normen, die daraus abgeleitet werden (vgl. BVerfGE 41, 65 [84]). Es handelt sich um Werte und Normen, die, vom Christentum maßgeblich geprägt, weitgehend zum Gemeingut des abendländischen Kulturkreises geworden sind. In An­ wendung dieser Prinzipien sollen die Schüler zu den in Art. 131 Abs. 2 BV beschriebenen Bildungszielen hingeführt werden. Ein durch spezifisch christliche Glaubensinhalte geprägtes Erziehungsziel ist hingegen in der Bayerischen Verfassung nicht niedergelegt (vgl. BVerfG, a. a. O., S. 84 f.). Die Bejahung des Christentums bezieht sich nicht auf die Glaubensinhalte, sondern auf die Anerkennung des prägenden Kultur- und Bildungsfaktors und ist damit auch gegenüber Nichtchristen durch die Geschichte des abendländischen Kulturkreises gerechtfertigt (vgl. BVerfGE 41, 29 [64]). Nach Maßgabe dieser Erwägungen bestehen gegen den auf Art. 135 Satz 2 BV beruhenden Schultyp der christlichen Gemeinschaftsschule keine ver­ fassungsrechtlichen Bedenken (vgl. BVerfGE 41, 65 [79 ff.]). 3. Den Bundesländern als den Trägern des Volksschulwesens obliegt es gemäß Art. 7 Abs. 1 und 5 GG, die erforderlichen Bestimmungen über die Organisation der Volksschulen zu erlassen. Dem jeweiligen Landesgesetzge­ ber steht dabei ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Die Regelung des § 13



Abweichende Meinung Seidl, Söllner und Haas41

Abs. 1 Satz 3 der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern, wonach in jedem Klassenzimmer ein Kreuz anzubringen ist, überschreitet die Grenzen dieses Spielraums nicht. Da der Landesgesetzgeber in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise den Schultyp der christlichen Gemeinschaftsschule einführen darf, kann es ihm nicht verwehrt sein, die Wertvorstellungen, die diesen Schultyp prägen, in den Unterrichtsräumen durch das Kreuz zu sym­ bolisieren. a) Die Vorschrift des § 13 Abs. 1 Satz 3 der Volksschulordnung ist Teil der organisatorischen Ausgestaltung der christlichen Gemeinschaftsschule. Durch das Kreuz im Klassenzimmer werden die in dieser Schulform zu vermittelnden überkonfessionellen christlich-abendländischen Werte und ethischen Normen den Lehrern und Schülern sinnbildlich vor Augen ge­ führt. Bei dem Erlaß dieser Vorschrift durfte der Landesgesetzgeber der Tatsache Rechnung tragen, daß die Mehrzahl der in seinem Gebiet lebenden Staatsbürger einer christlichen Kirche angehört (vgl. BVerfGE 41, 29 [50 f., 60]). Er konnte ferner davon ausgehen, daß die Anbringung eines Kreuzes im Klassenzimmer wegen dessen Symbolcharakters für die überkonfessio­ nellen christlich-abendländischen Werte und ethischen Normen auch von einem Großteil der einer Kirche fernstehenden Personen begrüßt oder we­ nigstens respektiert würde. Dafür spricht nicht zuletzt, daß die Bestim­ mungen der Bayerischen Verfassung über die christliche Gemeinschafts­ schule die Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit (vgl. BVerfGE 41, 65 [67]) gefunden haben. b) Der Staat, der mit der Schulpflicht tief in die Erziehung der Kinder durch das Elternhaus eingreift, ist weitgehend auf die Akzeptanz des von ihm organisierten Schulwesens durch die Eltern angewiesen. Es ist ihm daher nicht verwehrt, die Übereinstimmung von Schule und Elternhaus in grundlegenden Wertanschauungen soweit als möglich aufrechtzuerhalten (vgl. BVerfGE 41, 29 [60]; 41, 65 [87]). Dazu kann auch die Anbringung von Kreuzen in Unterrichtsräumen beitragen, die in Bayern im übrigen ei­ ner langen Tradition entspricht, die nur in der Zeit des Nationalsozialismus auf Widerstand gestoßen ist. 4. Durch das Anbringen von Kreuzen in Unterrichtsräumen wird die Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität nicht verletzt. Unter der Geltung des Grundgesetzes darf das Gebot der weltanschaulichreligiösen Neutralität nicht als eine Verpflichtung des Staates zur Indifferenz oder zum Laizismus verstanden werden. Durch die Verweisung auf die Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung in Art. 140 GG ist das Neu­ tralitätsgebot im Sinne einer Zusammenarbeit des Staates mit den Kirchen und Religionsgesellschaften, die auch deren Förderung durch den Staat einschließt, ausgestaltet worden.

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2. Kruzifix-Entscheidung

In den Entscheidungen über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit christ­ licher Gemeinschaftsschulen hat das Bundesverfassungsgericht im Zusam­ menhang mit dem Neutralitätsgebot ausgesprochen, daß die Schule, soweit sie auf die Glaubens- und Gewissensentscheidungen der Kinder Einfluß nehmen kann, nur das Minimum an Zwangselementen enthalten darf. Ferner darf sie keine missionarische Schule sein und keine Verbindlichkeit christ­ licher Glaubensinhalte beanspruchen; sie muß auch für andere weltanschau­ liche und religiöse Inhalte und Werte offen sein (vgl. BVerfGE 41, 29 [51]; 41, 65 [78]). Die von der Senatsmehrheit für verfassungswidrig gehaltene Regelung des § 13 Abs. 1 Satz 3 der bayerischen Schulordnung für die Volksschulen genügt allen diesen Erfordernissen: Das bloße Vorhandensein eines Kreuzes im Klassenzimmer zwingt die Schüler nicht zu besonderen Verhaltensweisen und macht die Schule nicht zu einer missionarischen Veranstaltung. Das Kreuz verändert auch den Charakter der christlichen Gemeinschaftsschule nicht, sondern ist als ein den christlichen Konfessionen gemeinsames Symbol in besonderer Weise geeignet, als Sinnbild für die verfassungsrechtlich zuläs­ sigen Bildungsinhalte dieser Schulform zu dienen. Das Anbringen eines Kreuzes im Klassenzimmer schließt die Berücksichtigung anderer weltan­ schaulich-religiöser Inhalte und Werte im Unterricht nicht aus. Die Gestal­ tung des Unterrichts unterliegt zudem dem Gebot des Art. 136 Abs. 1 BV, wonach an allen Schulen die religiösen Empfindungen aller zu achten sind. II. Entgegen der Auffassung der Senatsmehrheit werden die Beschwerdefüh­ rer durch das Vorhandensein von Kreuzen in den Unterrichtsräumen nicht in ihrer Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG und Art. 4 Abs. 1 i. V. m. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) verletzt. 1. Mit der Schulpflicht und der Übernahme des Volksschulwesens in seine eigene Verantwortung hat der Staat einen für die Erziehung der Ju­ gend maßgeblichen Lebensbereich voll in seine Obhut genommen. Das hat zur Folge, daß er hier Raum geben muß für die Entfaltung der Freiheits­ rechte. Diese können zwar im Hinblick auf den legitimen Zweck der Ein­ richtung – hier der Schule – eingeschränkt, aber nicht aufgehoben werden. Die öffentliche Schule, die der Staat seiner organisatorischen und weitge­ hend auch inhaltlichen Gestaltung unterstellt hat, ist ein Lebensbereich, in dem sich staatliches Handeln und bürgerliche Freiheit begegnen. In einem solchen Bereich darf der Staat auch durch das Bereithalten sinnfälliger Wertsymbole, die in dem betreffenden Bundesland verbreiteter Übung ent­ sprechen, einen organisatorischen Rahmen schaffen, in dem sich zugleich die bei einem großen Teil der Schüler und ihrer Eltern vorhandenen religiö­



Abweichende Meinung Seidl, Söllner und Haas43

sen Überzeugungen entfalten können (vgl. OVG für das Land NordrheinWestfalen, NVwZ 1994, S. 597). Dagegen fällt die Ausstattung von Ge­ richtssälen mit Kreuzen, die das Grundrecht eines Prozeßbeteiligten aus Art. 4 Abs. 1 GG verletzen kann (vgl. BVerfGE 35, 366), in den Bereich ursprünglicher staatlicher Hoheitsfunktionen und unterliegt daher anderen verfassungsrechtlichen Bindungen als die Anbringung von Kreuzen in den Klassenräumen staatlicher Schulen (vgl. im einzelnen Böckenförde, Zeit­ schrift für evangelisches Kirchenrecht, 20. Bd. [1975], S. 119 [127 f., 134]). Die Bekenntnisfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG wird, was von der Senats­ mehrheit überhaupt nicht in den Blick genommen wird, durch die Gewähr­ leistung der ungestörten Religionsausübung in Art. 4 Abs. 2 GG noch ver­ stärkt und hervorgehoben (vgl. BVerfGE 24, 236 [245 f.]). Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sichern gemeinsam dem Einzelnen einen Raum für die aktive Betäti­ gung seiner Glaubensüberzeugung. Ist danach ein freiwilliges, überkonfes­ sionelles Schulgebet grundsätzlich verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl. BVerfGE 52, 223), so gilt das in gleicher Weise für das Kreuz im Klassen­ zimmer. Der Staat gibt damit der positiven Bekenntnisfreiheit Raum in einem Bereich, den er ganz in seine Vorsorge genommen hat und in wel­ chem religiöse und weltanschauliche Einstellungen von jeher relevant waren (vgl. BVerfGE 41, 29 [49]; 52, 223 [241]). 2.  In die Religionsfreiheit der Beschwerdeführer wird damit nicht einge­ griffen. a)  Die Beschwerdeführer berufen sich nicht auf die Religionsausübungs­ freiheit nach Art. 4 Abs. 2 GG. Sie machen auch keine Verletzung ihrer aus Art. 4 Abs. 1 GG folgenden positiven Bekenntnisfreiheit geltend, sondern rügen allein eine Verletzung ihrer – ebenfalls durch Art. 4 Abs. 1 GG ge­ schützten – negativen Religionsfreiheit. Denn sie verlangen nicht die An­ bringung eines Symbols ihrer eigenen Weltanschauung im Klassenzimmer neben dem Kreuz oder an dessen Stelle, sondern allein die Entfernung von Kruzifixen, die sie als Symbole einer von ihnen nicht geteilten religiösen Überzeugung betrachten und nicht dulden wollen. In dem Beschluß vom 5. November 1991 (BVerfGE 85, 94), mit dem der Antrag der Beschwerde­ führer auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen worden war, hatte der Senat die verfassungsrechtliche Frage – treffender als jetzt in der Hauptsacheentscheidung – wie folgt formuliert: „ob und unter welchen Umständen die Verwendung religiöser Symbole in einer Schule die negative Religionsfreiheit berührt und inwieweit sie von der Minderheit hinzuneh­ men ist, weil sie der positiven Religionsfreiheit der Mehrheit Rechnung tragen soll“ (BVerfG, a. a. O., S. 96). Freilich handelt es sich nicht um ein Problem des Verhältnisses von Mehr­ heit und Minderheit, sondern darum, wie im Bereich der staatlichen Pflicht­

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2. Kruzifix-Entscheidung

schule positive und negative Religionsfreiheit der Schüler und ihrer Eltern allgemein in Übereinstimmung gebracht werden können. Dieses im Bereich des Schulwesens unvermeidliche Spannungsverhältnis zwischen negativer und positiver Religionsfreiheit zu lösen, obliegt dem demokratischen Landes­ gesetzgeber, der im öffentlichen Willensbildungsprozeß unter Berücksichti­ gung der verschiedenen Auffassungen einen für alle zumutbaren Kompromiß zu suchen hat (vgl. BVerfGE 41, 29 [50]; 52, 223 [247]). Dabei ist die nega­ tive Religionsfreiheit kein Obergrundrecht, das die positiven Äußerungen der Religionsfreiheit im Falle des Zusammentreffens verdrängt. Das Recht der Religionsfreiheit ist kein Recht zur Verhinderung von Religion. Der notwen­ dige Ausgleich zwischen beiden Erscheinungsformen der Religionsfreiheit muß im Wege der Toleranz bewerkstelligt werden (vgl. Schlaich, in: Kirche und Staat in der neueren Entwicklung, 1980, S. 427 [439]; Starck, in: v. Man­ goldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, Art. 4 Abs. 1, 2 Rdnr. 17 m. w. N.). b) Diesen Grundsätzen ist der bayerische Landesgesetzgeber mit dem Erlaß des § 13 Abs. 1 Satz 3 der Volksschulordnung gerecht geworden. Die gebotene Abwägung mit den Belangen von Nicht- und Andersgläubigen läßt einen Verfassungsverstoß nicht erkennen. aa)  Bei der Einschätzung und Bewertung dieser Belange kann man nicht, wie es die Senatsmehrheit tut, generell die christlich-theologische Auffas­ sung von Bedeutung und Sinngehalt des Kreuzessymbols zugrunde legen. Entscheidend ist vielmehr, welche Wirkung der Anblick des Kreuzes bei den einzelnen Schülern entfaltet, insbesondere welche Empfindungen der Anblick des Kreuzes bei Andersdenkenden auslösen kann (vgl. dazu auch BVerfGE 35, 366 [375 f.]). Es mag sein, daß in einem Schüler christlichen Glaubens beim Anblick des Kreuzes im Klassenzimmer teilweise diejenigen Vorstellungen erweckt werden, die von der Senatsmehrheit als Sinngehalt des Kreuzes (unter C. II. 2. b) der Gründe) geschildert werden. Für den nichtgläubigen Schüler hingegen kann das nicht angenommen werden. Aus seiner Sicht kann das Kreuz im Klassenzimmer nicht die Bedeutung eines Symbols für christliche Glaubensinhalte haben, sondern nur die eines Sinn­ bilds für die Zielsetzung der christlichen Gemeinschaftsschule, nämlich für die Vermittlung der Werte der christlich geprägten abendländischen Kultur, und daneben noch die eines Symbols einer von ihm nicht geteilten, abge­ lehnten und vielleicht bekämpften religiösen Überzeugung. bb) Angesichts dieses Sinngehalts, den das Kreuz im Klassenzimmer für nichtchristliche Schüler hat, haben sie und ihre Eltern das Vorhandensein der Kreuze hinzunehmen. Dazu verpflichtet sie das Toleranzgebot. Unzumut­ bare Belastungen entstehen ihnen dadurch nicht. Die psychische Beeinträchtigung und mentale Belastung, die nichtchrist­ liche Schüler durch die zwangsläufige Wahrnehmung des Kreuzes im Un­



Abweichende Meinung Haas45

terricht zu erdulden haben, hat nur ein verhältnismäßig geringes Gewicht. Das Minimum an Zwangselementen, das in dieser Beziehung von den Schülern und ihren Eltern zu akzeptieren ist (vgl. BVerfGE 41, 29 [51]), wird nicht überschritten. Die Schüler sind nicht zu besonderen Verhaltens­ weisen oder religiösen Übungen vor dem Kreuz verpflichtet. Sie sind daher – anders als beim Schulgebet (vgl. BVerfGE 52, 223 [245 ff.]) – nicht ge­ zwungen, durch Nichtteilnahme ihre abweichende weltanschaulich-religiöse Überzeugung kundzutun. Die Gefahr ihrer Diskriminierung besteht daher von vornherein nicht. Die Schüler werden durch das Kreuz im Klassenzimmer auch nicht in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise (vgl. BVerfGE 41, 29 [51]) missio­ narisch beeinflußt. Ein unmittelbarer Einfluß auf Lehrinhalte und Erzie­ hungsziele im Sinne einer Propagierung christlicher Glaubensinhalte geht von dem Kreuz im Klassenzimmer nicht aus. Im übrigen ist auch insoweit von den besonderen Verhältnissen in Bayern auszugehen. Der Schüler wird dort – auch außerhalb des engeren kirchlichen Bereichs – in vielen anderen Lebensbereichen tagtäglich mit dem Anblick von Kreuzen konfrontiert. Beispielhaft seien nur erwähnt die in Bayern häufig anzutreffenden Wege­ kreuze, die vielen Kreuze in Profanbauten (wie in Krankenhäusern und Altersheimen, aber auch in Hotels und Gaststätten) und schließlich auch die in Privatwohnungen vorhandenen Kreuze. Unter solchen Verhältnissen bleibt auch das Kreuz im Klassenzimmer im Rahmen des Üblichen; ein missionarischer Charakter kommt ihm nicht zu. III. Hiernach hat der bayerische Landesgesetzgeber mit dem Anbringen von Kreuzen in den Klassenzimmern von Volksschulen in zulässiger Weise von der ihm zustehenden Gestaltungsbefugnis bei der Organisation des Volks­ schulwesens Gebrauch gemacht, ohne die Grenzen seines Gestaltungsspiel­ raums zu überschreiten. Die angegriffenen verwaltungsgerichtlichen Entschei­ dungen begegnen in dieser Hinsicht keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Abweichende Meinung der Richterin Haas zum Beschluß des Ersten Senats vom 16. Mai 1995 – 1 BvR 1087 / 91 (BVerfGE 93, 34) Ich teile darüber hinaus auch weder die Begründung der Senatsmehrheit zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde noch ihre Ausführungen zum Anordnungsgrund. Abweichende Meinung Haas

1. Soweit Zweifel an der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde etwa deshalb bestehen könnten, weil möglicherweise zwischenzeitlich die Be­

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2. Kruzifix-Entscheidung

schwer der Beschwerdeführer weggefallen ist, etwa durch einen Schulwech­ sel der Beschwerdeführer zu 3. bis 5. oder durch Abhängen der noch ver­ bliebenen Kruzifixe in den Unterrichtsräumen – nur darauf bezog sich der Antrag der Beschwerdeführer im einstweiligen Rechtsschutzverfahren –, mag das dahingestellt bleiben. Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde kann hier jedoch nicht aus denselben Gründen wie beim Wegfall der Be­ schwer im Hauptsacheverfahren (vgl. BVerfGE 41, 29 [43]) bejaht werden. Denn die Annahme eines fortdauernden Feststellungsinteresses berücksich­ tigt nicht hinreichend die Besonderheiten des einstweiligen Rechtsschutz­ verfahrens, dessen Bedeutung sich in der Regelung eines nur vorläufigen Zustands erschöpft. Indessen braucht diese Frage im Hinblick auf die hier vertretene Rechtsauffassung, wonach die Verfassungsbeschwerde unbegrün­ det ist, nicht weiter vertieft zu werden. 2.  Die angefochtene Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichts­ hofs ist auch insoweit verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, als das Vorliegen eines Anordnungsgrundes verneint wird; insbesondere ist Art. 19 Abs. 4 GG nicht verletzt. Die Verwaltungsgerichte gewähren vorläufigen Rechtsschutz u. a. nach § 123 VwGO. Art. 19 Abs. 4 GG fordert auch bei Verfahren, die die Vornahme einer Handlung betreffen, jedenfalls dann die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, wenn im anderen Falle schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 46, 166 [179]; 51, 268 [284]). Davon ist auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof ausgegangen. Bei der Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen eines Anordnungsgrundes hebt der Gerichtshof unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Gebots der Gewährung effektiven Rechtsschutzes zutreffend darauf ab, ob den Beschwerdeführern bei Nichterlaß einer einstweiligen Anordnung ein unzumutbarer und irreparabler Nachteil entstünde. Im Rahmen dieser Nachteilsprüfung hat er – verfassungsrechtlich unbe­ denklich – die Dringlichkeit und die Bedeutung des Anspruchs geprüft. Deshalb erscheint es mehr als zweifelhaft, ob die in einem einzigen Satz zusammengefaßten Erwägungen des Gerichtshofs zum Zeitablauf isoliert betrachtet und dahin gewürdigt werden können, daß das Gericht die Eilbe­ dürftigkeit des Anliegens der Beschwerdeführer verneint hat. Vielmehr müssen die Ausführungen zur Dauer des beanstandeten Zustands in ihrem Gesamtkontext gesehen und verstanden werden. Als Teil der Nachteilsprü­ fung des Gerichtshofs aber kommt der Dauer des Zustands namentlich die Bedeutung eines Indizes für die Schwere des Nachteils zu. Die Erwägung des Gerichtshofs, daß die Hinnahme eines bestimmten Zustands für die Dauer von etwa fünf Jahren Einfluß auf die Einschätzung eines Nachteils



Abweichende Meinung Haas47

als zumutbar haben kann, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es liegt jedenfalls nicht fern, die Frage der Zumutbarkeit eines Nachteils für die Betroffenen danach zu beurteilen, wie sich die Lage in der Vergangen­ heit für diese gestaltet hat und wie sie damit umgegangen sind. Daß der den Beschwerdeführern durch den Anblick eines Kruzifixes entstehende Nach­ teil allein in Folge Zeitablaufs unzumutbar geworden wäre, läßt sich den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs, die von den Beschwerdeführern nicht angegriffen worden sind, nicht entnehmen. Die Beschwerdeführer haben auch nichts dafür vorgetragen, daß diesbezügliches Vorbringen vom Verwaltungsgerichtshof außer Betracht gelassen worden ist. Überdies hat der Gerichtshof im Rahmen der Nachteilsprüfung noch weitere Aspekte rechtlich gewürdigt. Insoweit hat er berücksichtigt, daß die Beschwerdefüh­ rer zu 1. und 2. bei Nichterlaß der begehrten vorläufigen Regelung noch genügend Freiraum für eine der elterlichen Verantwortung gerecht werdende Erziehung behalten und daß der Anblick eines Kruzifixes in den Unter­ richtsräumen die Beschwerdeführer zu 3. bis 5. nur vergleichsweise gering belastet, weil sie diesem Anblick auch anderwärts ausgesetzt sind. Wenn der Bayerische Verwaltungsgerichtshof danach zu der Überzeugung gelangt ist, daß den Beschwerdeführern ein unzumutbarer und irreparabler Nachteil nicht entsteht, wenn eine vorläufige Regelung nicht getroffen wird, so be­ gegnet dies keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Diese Einschätzung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs hat im übrigen auch der erken­ nende Senat ersichtlich geteilt, als er seinerseits den Erlaß einer von den Beschwerdeführern beantragten einstweiligen Anordnung abgelehnt hat, weil sich bei der Folgenabwägung nicht feststellen lasse, daß die den Be­ schwerdeführern erwachsenden Nachteile überwögen (vgl. BVerfGE 85, 94 [96 f.]). Dabei hatte der erkennende Senat zu berücksichtigen, daß der von den Verfassungsbeschwerdeführern beanstandete Zustand angesichts der vieljährigen Dauer von Verfassungsbeschwerde-Verfahren von diesen noch mehrere Jahre hinzunehmen sein würde. Angesichts seiner Beurteilung des Nachteils als minderschwer brauchte der Verwaltungsgerichtshof auch nicht weiter zu prüfen, ob der Erlaß einer einstweiligen Anordnung etwa deshalb notwendig war, weil die Beschwer­ deführer vor den sie treffenden unzumutbaren und irreparablen Nachteilen anders nicht hätten bewahrt werden können (vgl. BVerfGE 46, 166 [179 f.]). Die Annahme des Gerichts, daß vor dem Hintergrund der Kompromißbereit­ schaft der Verwaltung auch in Zukunft außergerichtliche Kompromißlö­ sungen wie die gegenwärtig bestehende erreichbar seien, ist verfassungs­ rechtlich nicht zu beanstanden. Der Grundsatz der Gewährung effektiven Rechtsschutzes gebot es dem Gerichtshof auch nicht, Möglichkeiten einer vergleichsweisen Zwischen­ lösung „auszuloten“, um eine einstweilige Anordnung „entbehrlich“ zu

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2. Kruzifix-Entscheidung

machen. Es ist schon zweifelhaft, ob dem Wesen des Grundsatzes der Ge­ währung effektiven Rechtsschutzes eine Verhandlungsführung entspricht, die darauf abzielt, eine Entscheidung des Gerichts entbehrlich zu machen. Indessen bedarf es schon einfachrechtlich der Führung von Vergleichsver­ handlungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren deshalb nicht, weil es im Ermessen des Gerichts steht, welche Regelung im einzelnen es im Rahmen des Rechtsschutzbegehrens trifft (h. Rspr. und Lit., vgl. Nachweise bei Kopp, VwGO, 1994, § 123 Rdnr. 17), falls die Voraussetzungen für einen Erlaß einer einstweiligen Anordnung vorliegen. Liegen jedoch – wie hier – die Voraussetzungen für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung nach Auffassung des Gerichts nicht vor, ist also die Sache entscheidungsreif und der Antrag zurückzuweisen, so kann es jedenfalls unter dem Blickwin­ kel der Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht geboten sein, im Wege gerichtlicher Vergleichsverhandlungen eine Einigung der Beteiligten mit einem Ergebnis anzustreben, das auf dem eingeschlagenen Rechtsweg nicht erreichbar gewesen wäre.

3. Kollektivbeleidigung von Soldaten Beschluß des Ersten Senats vom 10. Oktober 1995 – 1 BvR 1476, 1980 / 91 und 102, 221 / 92 (BVerfGE 93, 266)1 Amtlicher Leitsatz: Zum Verhältnis von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz bei Kollektivurtei­ len über Soldaten Aus den Gründen: A. Die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfassungsbeschwer­ den betreffen strafgerichtliche Verurteilungen wegen Beleidigung der Bun­ deswehr und einzelner Soldaten durch Äußerungen wie „Soldaten sind Mörder“ oder „Soldaten sind potentielle Mörder“.  Beschluß vom 10. Oktober 1995

I. Verfahren 1 BvR 1476 / 91 1.  Der Beschwerdeführer, ein zur Tatzeit 30jähriger Student, hielt sich im September 1988 bei Bekannten in Mittelfranken auf, als dort das NatoHerbstmanöver „Certain Challenge“ stattfand. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts erlebte der Beschwerdeführer, der anerkannter Kriegsdienst­ verweigerer ist, dort erstmals ein großes Manöver. In der Nähe seines Auf­ enthaltsorts waren sieben bis zehn Kettenfahrzeuge der amerikanischen Armee in Stellung gebracht worden. Der Beschwerdeführer zeigte sich dar­ über bestürzt und schrieb auf ein Bettuch mit roter Farbe den Text: „A SOLDIER IS A MURDER“.

Das Transparent befestigte er gegen 10.00 Uhr an einer Straßenkreuzung am Ortsrand. Gegen 12.00 Uhr fuhr dort ein Offizier der Bundeswehr, Oberstleutnant Ü., vorbei, der das Transparent bemerkte und die Polizei informierte. Polizeibeamte nahmen das Transparent gegen 14.00 Uhr ab. Oberstleutnant Ü. stellte gegen den Beschwerdeführer Strafantrag. 1  An der Entscheidung haben mitgewirkt: Vizepräsident Henschel, die Richter Seidl, Grimm, Söllner und Kühling sowie die Richterinnen Seibert, Jaeger und Haas.

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3. Kollektivbeleidigung von Soldaten

2. a) Das Amtsgericht hat den Beschwerdeführer wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt. Der Beschwerdeführer habe sinngemäß geäußert: „Ein Soldat ist ein Mör­ der“, denn die direkte Übersetzung („Ein Soldat ist ein Mord“) ergebe keinen Sinn. Das Gericht sei deshalb überzeugt, daß der Beschwerdeführer den Ausdruck „murder“ statt des Wortes „murderer“ nur versehentlich ge­ braucht habe. Zwar habe er sich in der Hauptverhandlung darauf berufen, es sei ihm um die Doppelrolle des Soldaten als Täter und Opfer gegangen. Er habe aber ausdrücklich auf den sogenannten „Weltbühnen-Prozeß“ gegen Carl v. Ossietzky (vgl. KG, Urteil vom 17. November 1932, JW 1933, S. 972 bis 974) Bezug genommen, dessen Gegenstand die Wiedergabe eines Textes von Tucholsky gewesen sei, der gelautet habe: „… Soldaten sind Mörder“. Zudem habe der Beschwerdeführer in der Hauptverhandlung in Erwiderung auf den Zeugen Oberstleutnant Ü. geäußert: „Herr Ü. sagt, er müsse im Krieg ‚töten‘. Ich sage, er muß ‚morden‘ “. Zudem habe der Be­ schwerdeführer eingeräumt, nicht perfekt englisch zu sprechen. Dies und die Ähnlichkeit des deutschen Wortes „Mörder“ mit der unzutreffenden englischen Übersetzung lege eine bloß irrtümliche Ausdrucksweise des Be­ schwerdeführers nahe. Durch diese Äußerung habe sich der Beschwerdeführer einer Beleidigung des Oberstleutnants Ü. schuldig gemacht. Insoweit schließe sich das Amts­ gericht der Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 36, 83) an, daß die Beleidigung aktiver Bundeswehrsoldaten unter der Kollektivbe­ zeichnung „Soldaten“ dann möglich sei, wenn ein Unwerturteil mit einem eindeutig allen Soldaten zuzuordnenden Kriterium verbunden sei und die weitergehende Bezeichnung (alle Soldaten schlechthin) auch den engeren, klar abgrenzbaren und überschaubaren Kreis der aktiven Soldaten der Bun­ deswehr mit umfasse. Die Äußerung sei so substanzarm, daß sie als Werturteil einzuordnen sei. Nach ihrem objektiven Sinngehalt stelle sie einen rechtswidrigen Angriff auf die Ehre des Oberstleutnants Ü. durch vorsätzliche Kundgabe der Miß­ achtung dar. Die ohne jeden erklärenden Zusammenhang plakativ in den Raum gestellte Meinung stempele jeden Soldaten – auch die Soldaten der Bundeswehr – in aller Öffentlichkeit zum Schwerstkriminellen. Die recht­ liche Tragweite des Mordtatbestandes sei durch die Todesstrafen-Diskussio­ nen so allgemeinkundig, daß sie auch dem überdurchschnittlich gebildeten Beschwerdeführer nicht entgangen sein könne. Die Behauptung sei offen­ sichtlich nicht tatsachenadäquat, da – abgesehen von Unfällen – durch Soldaten der Bundeswehr noch niemand ums Leben gekommen sei. Der überwiegende Teil der derzeit aktiven Nato-Soldaten habe ebenfalls noch niemals im Ernstfall von der Waffe Gebrauch gemacht. Auch aufgrund des



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bisherigen Laufs der Geschichte und der darauf gründenden Aussichten für die Zukunft sei – auch für den Beschwerdeführer erkennbar – die Gefahr eines Mißbrauchs von Nato-Soldaten eher gering. Damit habe der Be­ schwerdeführer Kenntnis von der Unwahrheit der wenigen Tatsachen ge­ habt, die er seinem plakativen Werturteil zugrunde gelegt habe. Der Be­ schwerdeführer habe also eine vorsätzliche Beleidigung begangen. Die Äußerung sei auch nicht durch die Wahrnehmung berechtigter Inter­ essen (§ 193 StGB) gerechtfertigt. Dabei sei sich das Gericht bewußt, daß bei Beiträgen zum Meinungsstreit in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage wegen der besonderen Bedeutung des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG große Freiheit hinsichtlich Inhalt und Form der Meinungsäußerung bestehe und bei der Bejahung rechtswidriger Beleidigungen Zurückhaltung geboten sei. Gleichwohl sei festzustellen, daß die ehrverletzende Äußerung des Beschwerdeführers weder zur Wahrnehmung berechtigter eigener Inter­ essen noch von Interessen der Allgemeinheit geeignet und erforderlich ge­ wesen sei. Der Beschwerdeführer habe sich einen polemischen Ausfall zu­ schulden kommen lassen, der jedes Maß an Sachlichkeit vermissen lasse. Die Äußerung entbehre jedes sachlichen Gehalts und könne deshalb nicht als Beitrag zur Meinungsbildung oder Einstieg in eine fruchtbare Diskus­ sion verstanden werden. Hätte der Beschwerdeführer der Mißbilligung jeg­ licher Tötungshandlung im Krieg Ausdruck verleihen wollen, so hätte er dies auch zum Ausdruck bringen müssen. Dies habe er aber nicht einmal andeutungsweise getan. Vielmehr habe er unterschiedslos alle Soldaten Schwerstkriminellen gleichgestellt. b)  Das Landgericht hat sowohl die Berufung des Beschwerdeführers als auch die Berufung der Staatsanwaltschaft, die eine Erhöhung des Strafmaßes und eine Verurteilung wegen Volksverhetzung erstrebte, als unbegründet verworfen. Lediglich die Höhe des Tagessatzes hat es ermäßigt. Im Unterschied zur Vorinstanz hat das Landgericht das Vorbringen des Beschwerdeführers, er habe bewußt den Ausdruck „murder“ = Mord anstel­ le des Ausdrucks „murderer“ = Mörder verwendet, um die aktive und die passive Rolle des Soldaten als Täter und Opfer auszudrücken, als wahr angesehen. Der Beschwerdeführer, der undifferenziert jede Tötungshandlung von Soldaten als „Mord“ bezeichne, habe durch das Spruchband den am Manö­ ver beteiligten Soldaten, namentlich den nahe seinem Aufenthaltsort in Stellung gegangenen US-Soldaten, und der Bevölkerung einen Denkanstoß geben wollen. Dem Beschwerdeführer sei aber bewußt gewesen, daß das englische Wort „murder“ = Mord wie das deutsche Wort „Mörder“ klinge und deshalb von Personen, die der englischen Sprache weniger mächtig seien als er, leicht verwechselt werden könne; ihm sei ferner bewußt gewe­

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3. Kollektivbeleidigung von Soldaten

sen, daß ein Mörder ein Schwerstkrimineller sei, der mit lebenslanger Frei­ heitsstrafe bedroht werde. Darin liege eine Beleidigung des Oberstleutnants Ü. Zwar richte sich der Angriff vordergründig nur gegen den Beruf des Soldaten. Gleichzeitig sollten aber auch die Menschen getroffen werden, die diesen Beruf wahr­ nehmen. Indem der Beschwerdeführer alle Soldaten schlechthin genannt habe, habe er auch den Oberstleutnant Ü. als aktiven Soldaten der Bundes­ wehr erfaßt. Es sei durch die Rechtsprechung anerkannt, daß die Beleidi­ gung einer Mehrheit einzelner Personen unter einer Kollektivbezeichnung dann möglich sei, wenn mit einem eindeutig allen Soldaten zuzuordnenden Kriterium jedenfalls der klar abgrenzbare und insofern auch überschaubare Kreis der aktiven Soldaten der Bundeswehr angesprochen sein könne. Es sei nicht erforderlich, daß die Äußerung von vornherein auf den engeren Kreis der aktiven Soldaten der Bundeswehr bezogen sei, wenn die weitergehende Bezeichnung den engeren Kreis mitumfasse. Daß die Äußerung geeignet sei, die am Manöver beteiligten Soldaten – und damit auch Oberstleutnant Ü. – in ihrer Ehre zu kränken, sei offensicht­ lich. Mit Rücksicht darauf, daß das englische Wort „murder“ phonetisch gleichlautend mit dem deutschen Wort „Mörder“ sei, stelle die Äußerung eine Kundgabe der Mißachtung dar, da sie – ohne Erläuterung plakativ in den Raum gestellt – jeden Soldaten, und damit auch die Soldaten der Bun­ deswehr, in aller Öffentlichkeit zu Schwerstkriminellen stempele. Auf die Wahrnehmung berechtigter Interessen könne sich der Beschwer­ deführer nicht berufen. Insoweit entspricht die Begründung des Landgerichts fast wörtlich den Ausführungen des Amtsgerichts. c) Das Bayerische Oberste Landesgericht hat die Revisionen des Be­ schwerdeführers und der Staatsanwaltschaft verworfen. In den Entschei­ dungsgründen hat es sich nur mit den Verfahrensrügen der Staatsanwalt­ schaft auseinandergesetzt. 3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde greift der Beschwerdeführer die strafgerichtlichen Entscheidungen an und rügt die Verletzung seiner Grund­ rechte und grundrechtsgleichen Rechte aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Art. 103 Abs. 2 GG. […] 4.  Nach Auffassung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz ist die Verfassungsbeschwerde zulässig, aber nicht begründet. […]



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II. Verfahren 1 BvR 1980 / 91 1. Der 1949 geborene Beschwerdeführer ist Oberstudienrat und aner­ kannter Kriegsdienstverweigerer. Als im November 1989 in der Berufsschu­ le seines Wohnorts unter dem Titel „Rührt euch“ eine vom Streitkräfteamt der Bundeswehr durchgeführte Ausstellung von Karikaturen über die Bun­ deswehr stattfand, verfaßte er ein bebildertes Flugblatt mit folgendem Text: Sind Soldaten potentielle Mörder? Eines steht fest: Soldaten werden zu Mördern ausgebildet. Aus „Du sollst nicht töten“ wird „Du mußt töten“. Weltweit. Auch bei der Bundeswehr. Massenvernichtung, Mord, Zerstörung, Brutalität, Folter, Gnadenlosigkeit, Terror, Bedrohung, Unmenschlichkeit, Rache, Vergeltung, … … eingeübt im Frieden, … perfekt durchgeführt im Krieg. Das ist Soldatenhandwerk. Weltweit. Auch bei der Bundeswehr. Wenn Soldaten „ihre Pflicht“ erfüllen, Befehle erteilen und Befehle befolgen, dann geht es den Zivilisten an den Kragen. Militarismus tötet, auch ohne Waffen, auch ohne Krieg. Darauf gibt es nur eine Antwort: Für Frieden, Abrüstung und Menschlichkeit – Kriegsdienst verweigern! Wider­ stand gegen den Militarismus!

Dieses Flugblatt verteilte er in 20 bis 30 Exemplaren in der Aula der Berufsschule und befestigte weitere Exemplare an der Windschutzscheibe mehrerer Kraftfahrzeuge, die vor der Berufsschule geparkt waren. Wegen des Flugblatts haben der Soldat R. und das Bundesverteidigungs­ ministerium Strafanträge gestellt. 2.  a) Das Amtsgericht hat den Beschwerdeführer wegen Beleidigung des Soldaten R. und der Bundeswehr zu einer Geldstrafe verurteilt. Die schriftlichen Äußerungen des Beschwerdeführers stellten eine Kund­ gebung der Mißachtung sowohl der gesamten Bundeswehr als auch jedes einzelnen Soldaten dar. Er habe sich deshalb eines Vergehens der Beleidi­ gung gemäß § 185 StGB schuldig gemacht. Seine Äußerungen brächten zum Ausdruck, daß jeder Soldat am Ende seiner Ausbildung ein Mörder sei, jemand, der aus niedriger Gesinnung töte. Gegenüber diesem objektiven Sinngehalt der Äußerungen sei das Vorbrin­ gen des Beschwerdeführers unbeachtlich, er habe zum Ausdruck bringen wollen, daß auch Tötungshandlungen im Kriege und im Verteidigungsfall

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3. Kollektivbeleidigung von Soldaten

ethisch zu mißbilligen seien. Der objektive Sinngehalt gehe für den Durch­ schnittsempfänger erkennbar dahin, daß Soldaten der Bundeswehr dazu ausgebildet würden, aus niedrigen, jedenfalls in hohem Maße zu mißbilli­ genden Gründen andere Menschen zu töten. Dies sei dem Beschwerdeführer beim Verfassen des Flugblattes auch bewußt gewesen, da er die Bedeutung des Wortes „Mörder“ im juristischen Sinne gekannt habe. Die Äußerungen seien auch nicht durch das Grundrecht der freien Mei­ nungsäußerung und den § 193 StGB als besondere Ausgestaltung dieses Grundrechts gerechtfertigt. Sein wichtiges Anliegen habe der Beschwerde­ führer auch ohne Formulierungen, die die Menschenwürde herabsetzten, darstellen können. Nach Inhalt und Form sei hier die Grenze von der schar­ fen Kritik zur polemischen Diffamierung überschritten. b) Das Landgericht hat die Berufung des Beschwerdeführers verworfen und auf das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft das Strafmaß erhöht. Die Einlassung des Beschwerdeführers, er habe niemanden beleidigen, sondern auf die verharmlosende Ausstellung reagieren und die todernste Seite militärischer Gewaltanwendung zeigen wollen, habe die Strafkammer nicht zu überzeugen vermocht. Der Sachverhalt sei demjenigen vergleich­ bar, der den Gegenstand des Urteils des Bayerischen Obersten Landesge­ richts vom 16. November 1990 (NJW 1991, S. 1493) gebildet habe. Der Beschwerdeführer habe nämlich sein Flugblatt mit der Frage „Sind Soldaten potentielle Mörder?“ überschrieben und diese Frage dann durch den weite­ ren Text in Verbindung mit den verwendeten Zeichnungen bejaht. In der Hauptverhandlung habe er diese Auffassung bekräftigt und wie in dem der Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts zugrunde liegenden Sachverhalt erklärt, er meine nicht die Bundeswehr und ihre Angehörigen, sondern alle Armeen und alle Soldaten der Welt. Den Begriff „Mörder“ habe er im Sinne einer moralischen Verurteilung, nicht aber als strafrecht­ liche Bewertung verwendet. Ein Verbotsirrtum komme nicht in Betracht, da das – dem Beschwerde­ führer als Kriegsdienstverweigerer sicher bekannte – Urteil des Landgerichts Frankfurt / Main vom 8. Dezember 1987 (NJW 1988, S. 2683) zum Tatzeit­ punkt nicht rechtskräftig gewesen sei. Wahrnehmung berechtigter Interessen gemäß § 193 StGB liege nicht vor. § 193 StGB stelle eine Ausprägung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG dar. Im Hinblick auf die wechselseitige Be­ schränkung der allgemeinen Gesetze im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG und des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG dürfe aber die der ehrverletzenden Äuße­ rung zugrunde liegende pazifistische Grundüberzeugung die Güterabwägung nicht beeinflussen, da diese nicht der Nachprüfung durch die Gerichte un­ terliege. Es komme allein darauf an, ob dem, der seine Gedanken äußert,



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mit Rücksicht auf die Ehre anderer zugemutet werden könne, eine andere Formulierung zu wählen. Das sei dann zu bejahen, wenn dies ohne Sub­ stanzverlust möglich sei. Der Beschwerdeführer habe im Ergebnis die Sol­ daten der Bundeswehr als potentielle Mörder bezeichnet. Dies sei – unter Anwendung der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätze – als unzulässige Schmähkritik zu werten. In diesen Fällen trete der Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit regelmäßig hinter den Persönlichkeitsschutz zurück. Hierbei sei zu berücksichtigen, daß eine herabsetzende Äußerung erst dann den Charakter der Schmähung annehme, wenn in ihr nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund stehe. Bei der Bezeichnung von Soldaten der Bundeswehr als potentielle Mörder stehe jedoch die Herabsetzung ihres Ansehens im Vordergrund. Mord stelle sich im Verständnis der Bevölkerung als Tötung aus einer besonders verwerflichen Gesinnung heraus dar. Insoweit habe auch Berücksichtigung gefunden, daß die Soldaten der Bundeswehr durch ihr Verhalten in keiner Weise Anlaß zur öffentlichen Kritik, insbesondere der Bezeichnung als potentielle Mörder, gegeben hätten. c)  Das Bayerische Oberste Landesgericht hat die Revision des Beschwer­ deführers als offensichtlich unbegründet verworfen. 3.  Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Ver­ letzung seiner Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Art. 103 Abs. 2 GG (Bestimmtheitsgebot). […] 4. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hält die Verfassungsbe­ schwerde für zulässig, aber unbegründet. […] III. Verfahren 1 BvR 102 / 92 1. Die Verfassungsbeschwerde betrifft einen Leserbrief, den der Be­ schwerdeführer aus Anlaß des Freispruchs des Arztes Dr. A. im „Frankfurter Soldatenprozeß“ geschrieben hatte und der am 2. November 1989 in der in Mainz erscheinenden „Allgemeinen Zeitung“ abgedruckt worden war. Der unter der Überschrift „Ich erkläre mich solidarisch – Zu: ‚Freispruch im Soldatenprozeß‘ “ veröffentlichte Leserbrief hat folgenden Wortlaut: „Da gab es vier Jahre lang ganze Quadratmeilen Landes, auf denen war der Mord obligatorisch, während er eine halbe Stunde davon entfernt ebenso streng verboten war. Sagte ich: Mord? Natürlich Mord. Soldaten sind Mörder.“ Dieses Zitat von Kurt Tucholsky aus der Weltbühne 1931, für das im übrigen der Herausgeber, der spätere Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky, damals auch angeklagt und freigesprochen (!) wurde, ist auch heute, ja vielleicht gerade heute, aktuell. In Zeiten Orwellscher „Neusprach“ – da wird die militärische Unsicherheitspolitik zur „Sicherheitspolitik“ umdefiniert, da spricht man nicht mehr vom Krieg, son­

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3. Kollektivbeleidigung von Soldaten

dern von „Verteidigung“ – ist eine Sprache, die die Sache auf den Punkt bringt, nicht mehr erwünscht. Kriegsdienstverweigerer werden bei uns nur anerkannt, wenn sie den Kriegsdienst (dieses Wort steht wirklich noch im Grundgesetz) für sich als verwerflich, als Mord ablehnen. Und was ist denn auch sonst die Aufgabe einer Armee? Die Ent­ scheidung für eine militärische „Verteidigung“, für eine Armee, schließt immer die Bereitschaft zum Krieg, zum staatlich legitimierten Massenmord mit ein. Nur daß heute, im Gegensatz zu obigem Zitat von Tucholsky, dieser ein totaler Krieg mit der Folge der Ausrottung allen höheren Lebens wäre. Ich erkläre mich in vollem Umfang mit Herrn A. solidarisch und erkläre hiermit öffentlich: „Alle Soldaten sind potentielle Mörder!“

Wegen dieses Leserbriefs haben ein aktiver und zwei ehemalige Berufs­ soldaten, ein Reserveoffizier und ein den Grundwehrdienst leistender Soldat Strafanträge gestellt. Das Amtsgericht hat einen Strafbefehl gegen den Be­ schwerdeführer wegen eines Vergehens nach § 185 StGB erlassen. 2.  a) Auf den Einspruch des Beschwerdeführers hin hat das Amtsgericht ihn wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt. Der Beschwerdeführer hat das Urteil des Amtsgerichts nicht vorgelegt und auch dessen wesentlichen Inhalt nicht in der Verfassungsbeschwerde wiedergegeben. b) Das Landgericht hat die Berufung des Beschwerdeführers als unbe­ gründet verworfen. In den Entscheidungsgründen zeichnet es zunächst den Verlauf des Frank­ furter Prozesses und des ihm zugrunde liegenden Falles vom Diskussions­ abend am 31. August 1984 bis zum zweiten Freispruch des angeklagten Arztes durch das Landgericht Frankfurt / Main am 20. Oktober 1989 nach. Das Gericht legt sodann dar, daß der Beschwerdeführer von diesem Urteil durch einen Artikel in der Mainzer „Allgemeinen Zeitung“ vom 21. Oktober 1989 Kenntnis erlangt habe. Darin sei berichtet worden, daß der angeklagte Arzt anläßlich der Diskussionsveranstaltung zu einem Jugendoffizier der Bundeswehr gesagt habe: „Alle Soldaten sind potentielle Mörder – auch Sie“. Der Beschwerdeführer habe seinen Leserbrief im Anschluß an den Artikel in der „Allgemeinen Zeitung“ verfaßt. Dabei sei er sich darüber im klaren gewesen, daß die Äußerung „Soldaten sind potentielle Mörder“ in ihrer ausdrücklichen Bezugnahme auf die Soldaten der Bundeswehr einen Angriff auf die Ehre jedes einzelnen deutschen Soldaten durch die vorsätzliche Kundgabe der Mißachtung darstelle. Er habe gewollt, daß andere Personen – insbesondere Soldaten der Bundeswehr, auf die seine Äußerung in erster Linie abgezielt habe – von dem Inhalt seiner Leserzuschrift Kenntnis näh­ men. Dies sei auch geschehen. Die im Urteil namentlich aufgeführten Zeu­



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gen hätten den Leserbrief gelesen und diesen als persönliche Ehrverletzung empfunden. Die Einlassung des Beschwerdeführers, er habe sich auf die Soldaten aller Armeen der Welt bezogen und insofern auch die Soldaten der Bundes­ wehr einbezogen, sei widerlegt. Er habe nämlich dem Artikel in der „All­ gemeinen Zeitung“ vom 21. Oktober 1989 entnommen, daß Dr. A. zu dem Jugendoffizier der Bundeswehr, Hauptmann W., gesagt habe: „Alle Soldaten sind potentielle Mörder – auch Sie“. Der Beschwerdeführer habe also ge­ wußt, daß Dr. A. einen namentlich bezeichneten Offizier der Bundeswehr als „potentiellen Mörder“ abqualifiziert habe. Unter diesen Umständen könne die Erklärung des Beschwerdeführers, er erkläre sich „in vollem Umfang mit Herrn Peter A. solidarisch“, nur so verstanden werden, daß er die Bezeichnung „potentielle Mörder“ auf jeden Angehörigen der Bundes­ wehr – und nicht auf beliebige andere Soldaten beliebiger Armeen – habe bezogen wissen wollen. Danach habe sich der Beschwerdeführer einer Beleidigung nach § 185 StGB schuldig gemacht. Für den Vorsatz der Ehrverletzung spreche auch ein später in der „Allgemeinen Zeitung“ veröffentlichter Leserbrief des Beschwerdeführers, in dem er Soldaten als „bezahlte Killer auf Abruf“ be­ zeichnet habe, deren Aufgabe es sei, „in staatlichem Auftrag zu morden, zu plündern“. Auch dadurch werde die Absicht des Beschwerdeführers, jenseits der sachlichen Diskussion durch verletzende Polemik zu beleidigen, zwei­ felsfrei belegt. Eine Rechtfertigung durch die Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB) scheide aus. Die Strafkammer schließt sich insoweit den Gründen des Urteils des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 16. No­ vember 1990 an. Sie macht sich insbesondere folgende Erwägungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts zu eigen: Die Bezeichnung der Soldaten als „potentielle Mörder“ werde nicht durch § 193 StGB, der eine Ausprägung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit sei, gedeckt. Sie sei vielmehr als unzulässige Schmähkritik zu werten, da nicht die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund stehe. Die Gleichsetzung mit Mördern stelle eine schwer­ wiegende Ehrverletzung dar, die durch die Hinzufügung des Wortes „poten­ tiell“ nicht wesentlich abgemildert werde. Ein Teil der Mordmerkmale des § 211 StGB sei ausschließlich täterbezogen im Sinne einer Tötung aus einer besonders verwerflichen Gesinnung. Dadurch werde auch das Verständnis des Begriffs „Mörder“ in der Bevölkerung wesentlich mitgeprägt. Es han­ dele sich bei der beanstandeten Äußerung um eine pauschale Verunglimp­ fung, die nicht erforderlich sei, um pazifistische Grundüberzeugungen zu vermitteln. Die Brandmarkung des Krieges und der Tötung von Menschen

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3. Kollektivbeleidigung von Soldaten

im Krieg als verwerflich könne auch ohne Verwendung des Wortes Mörder zum Ausdruck gebracht werden. Die Äußerung sei wegen ihrer Mehrdeutig­ keit auch nicht dazu geeignet, pazifistische Grundüberzeugungen zum Aus­ druck zu bringen. Sie könne nämlich auch in dem Sinne verstanden werden, daß nur derjenige den Soldatenberuf wähle, der die charakterliche Eigen­ schaft zum Mörder habe, oder daß der Soldatenberuf diese Fähigkeit aus­ bilde. Bei einer solchen Äußerung, die angesichts ihrer Mehrdeutigkeit ge­ eignet sei, durch mißverständliche Deutung ihres Sinngehalts ihre herabset­ zende Wirkung noch zu verstärken, müsse die Meinungsfreiheit hinter dem Persönlichkeitsschutz zurücktreten. Denn insoweit bestehe kein öffentliches Interesse, das Vorrang beanspruche. c) Das Oberlandesgericht hat die Revision des Beschwerdeführers als offensichtlich unbegründet verworfen. 3. Mit der Verfassungsbeschwerde greift der Beschwerdeführer die Ent­ scheidung der Strafgerichte an und rügt die Verletzung seines Grundrechts auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. […] IV. Verfahren 1 BvR 221 / 92 1.  Im November 1989 fand in der Münchener Olympiahalle eine Motor­ radausstellung („Greger-Racing-Show“) statt. Dort befand sich auch ein Informationsstand der Bundeswehr, auf dem militärische Gerätschaften und ein altes Motorrad gezeigt und Videos über Übungen mit Fahrzeugen und Gerätschaften vorgeführt wurden. Vier Soldaten der Bundeswehr waren auf dem Stand tätig. Gegen 15.40 Uhr erschienen sechs Personen, darunter die Beschwerde­ führerin. Während vier von ihnen vor dem Informationsstand der Bundes­ wehr Flugblätter verteilten, hielt die Beschwerdeführerin gemeinsam mit einer weiteren Person ein 1 m × 3 m großes Transparent hoch, auf dem stand: Soldaten sind potentielle MÖRDER.

Das untere Drittel des Wortes „Mörder“ war mit dem Wort „Kriegsdienst­ verweigerer“ unterlegt oder überschrieben. Das von den Demonstranten verteilte Flugblatt enthält auf der einen Sei­ te einen Text, der sich dagegen wendet, daß die Bundeswehr nur die Faszi­ nation der Technik darstelle, die Realität des Krieges aber verschweige. Auf der anderen Seite sind drei Gewehre, eine Kanonenhaubitze, ein Granatwer­ fer und Munition sowie der Rumpf eines von mehreren Gewehrschüssen getroffenen Menschen und zwei – laut Überschrift – im Vietnam-Krieg getötete Zivilisten abgebildet.



Beschluß vom 10. Oktober 199559

Drei der vier auf dem Informationsstand tätigen Bundeswehrsoldaten haben gegen die Beschwerdeführerin und den Demonstranten, der mit ihr zusammen das Transparent gehalten hatte, Strafantrag wegen Beleidigung gestellt. Das Amtsgericht hat gegen die Beschwerdeführerin einen Strafbefehl er­ lassen, gegen den sie rechtzeitig Einspruch eingelegt hat. 2. a) Das Amtsgericht hat die Beschwerdeführerin und den weiteren Transparentträger wegen gemeinschaftlicher Beleidigung in drei rechtlich zusammentreffenden Fällen zu einer Geldstrafe verurteilt. Die Angeklagten hätten objektiv und subjektiv den Tatbestand der Belei­ digung erfüllt. Rechtsausführungen zur Frage der Kollektivbeleidigung seien nicht erforderlich, da jedenfalls vier Soldaten der Bundeswehr unmittelbar betroffen gewesen seien, von denen drei auch wirksam Strafanträge gestellt hätten. Auch durch die Verwendung der Formulierung „potentielle Mörder“ scheide eine Beleidigung nicht von vornherein aus. Sie bringe zum Aus­ druck, daß Soldaten generell die Bereitschaft in sich trügen, zum Mörder zu werden. Es werde mit dem Wort „potentiell“ also auf eine innere Einstel­ lung der Soldaten hingewiesen. Der Begriff „Mörder“ enthalte die Mißach­ tung einer Person. Unter Mord werde ganz allgemein die ethisch-moralisch auf niederster Stufe stehende, verwerflichste Handlung eines Menschen verstanden. Es treffe zwar zu, daß die Umgangssprache nicht zwischen Totschlag und Mord unterscheide, da es sich um rechtstechnische Begriffe handele. In der Umgangssprache werde aber jede rechtswidrige und ver­ werfliche Tötung als Mord bezeichnet. Soldaten würden allerdings auch zum Töten ausgebildet, und es sei jedem Soldaten klar, daß beim Einsatz von modernen Vernichtungswaffen auch Teile der Zivilbevölkerung betroffen werden könnten. Dies sei jedoch nicht das Angriffsziel der Soldaten, sondern oftmals nur eine ungewollte Neben­ folge. Das Töten des militärischen Gegners werde sicherlich billigend in Kauf genommen. Dies sei jedoch völkerrechtlich gerechtfertigt, da Soldaten nur im Falle eines Verteidigungskrieges eingesetzt werden dürften. Insoweit liege daher eine völkerrechtlich rechtmäßige Handlung vor. Das Verhalten der Angeklagten sei auch nicht durch § 193 StGB in Ver­ bindung mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gerechtfertigt. Zwar müßten die straf­ rechtlichen Ehrschutzbestimmungen ihrerseits im Lichte des Art. 5 Abs. 1 GG interpretiert werden, und auch der Schutz der Freiheit der geistigen Auseinandersetzung als einer tragenden Säule der Demokratie müsse Be­ rücksichtigung finden. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG garantiere außerdem die Freiheit, selbst zu entscheiden, wie Gedanken formuliert werden sollten. Es sei aber von entscheidender Bedeutung, unter welchen Umständen die ge­ dankliche Formulierung erfolge und ob sie unter diesen Umständen ange­

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3. Kollektivbeleidigung von Soldaten

messen sei. Die Angeklagten hätten mit ihrer Aktion den Militarismus in verschärfter Form anprangern wollen. Dies sei nicht im Rahmen eines Meinungsstreites zur politischen Meinungsbildung geschehen, sondern um gegen die Anwesenheit eines Bundeswehrstandes auf „einer Sportschau“ zu demonstrieren. Die kategorische Ablehnung des Militarismus sei aber ohne Schwierigkeit durch Auswechslung der Formulierung darzustellen gewesen. Das Vorgehen der Angeklagten sei deshalb nicht durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gedeckt. b)  Das Landgericht hat die Berufung der Beschwerdeführerin verworfen. Die Beschwerdeführerin habe durch das längere (wohl 10- bis 15-minü­ tige) Hochhalten des Transparents mit der Aufschrift „Soldaten sind poten­ tielle Mörder“ vor dem Informationsstand der Bundeswehr ihre Mißachtung der Soldaten der Bundeswehr zum Ausdruck gebracht. Dies stelle einen rechtswidrigen Angriff auf die Ehre der Soldaten der Bundeswehr dar. Die Bezeichnung der Soldaten der Bundeswehr als potentielle Mörder sei als eine unzulässige Schmähkritik zu werten, weil nicht die Auseinanderset­ zung in der Sache, sondern die Herabsetzung des Ansehens der Soldaten und damit deren Diffamierung im Vordergrund stehe. Das Landgericht nimmt insoweit auf das Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts Bezug. Ein Mörder töte nach dem Verständnis der Bevölkerung aus einer beson­ ders verwerflichen Gesinnung heraus. Davon könne bei den Soldaten der Bundeswehr keine Rede sein, da deren Aufgabe und Zielsetzung ausschließ­ lich die Abwehr eines Aggressors sei. Die Tötung eines Gegners im Rahmen eines Verteidigungskrieges sei somit durch Notwehr gedeckt und damit rechtmäßig. Aus der Wortwahl ergebe sich eindeutig, daß es der Beschwer­ deführerin darauf angekommen sei, die Soldaten der Bundeswehr in deren Ansehen herabzusetzen. Sie sei nicht daran gehindert gewesen, ihre Gedan­ ken in der gebotenen differenzierenden Form anderweitig zum Ausdruck zu bringen. Die Wahrnehmung berechtigter Interessen scheide hiernach aus. c)  Die Revision der Beschwerdeführerin hat das Bayerische Oberste Lan­ desgericht als offensichtlich unbegründet verworfen. 3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. […] 4.  Die Stellungnahme des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz ent­ spricht im wesentlichen den Äußerungen, die es zu den Verfassungsbe­ schwerden 1 BvR 1476 / 91 und 1 BvR 1980 / 91 abgegeben hat.



Beschluß vom 10. Oktober 199561

B. Die Verfassungsbeschwerden sind im wesentlichen zulässig. […] C. Die Verfassungsbeschwerden sind, soweit zulässig, begründet. Die ange­ griffenen Entscheidungen haben das Grundrecht der Beschwerdeführer aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht in dem erforderlichen Umfang beachtet. I. 1.  Die Äußerungen, deretwegen die Beschwerdeführer wegen Beleidigung bestraft worden sind, genießen den Schutz von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Diese Verfassungsnorm gibt jedem das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Meinungen sind im Un­ terschied zu Tatsachenbehauptungen durch die subjektive Einstellung des sich Äußernden zum Gegenstand der Äußerung gekennzeichnet (vgl. zuletzt BVerfGE 90, 241 [247 ff.]). Sie enthalten sein Urteil über Sachverhalte, Ideen oder Personen. Auf diese persönliche Stellungnahme bezieht sich der Grundrechtsschutz. Er besteht deswegen unabhängig davon, ob die Äuße­ rung rational oder emotional, begründet oder grundlos ist und ob sie von anderen für nützlich oder schädlich, wertvoll oder wertlos gehalten wird (vgl. BVerfGE 30, 336 [347]; 33, 1 [14]; 61, 1 [7]). Der Schutz bezieht sich nicht nur auf den Inhalt der Äußerung, sondern auch auf ihre Form. Daß eine Aussage polemisch oder verletzend formuliert ist, entzieht sie nicht schon dem Schutzbereich des Grundrechts (vgl. BVerfGE 54, 129 [138 f.]; 61, 1 [7 f.]). Geschützt ist ferner die Wahl des Ortes und der Zeit einer Äußerung. Der sich Äußernde hat nicht nur das Recht, überhaupt seine Meinung kundzutun. Er darf dafür auch diejenigen Umstände wählen, von denen er sich die größte Verbreitung oder die stärkste Wirkung seiner Mei­ nungskundgabe verspricht. Bei den Äußerungen, aufgrund deren die Beschwerdeführer wegen Belei­ digung bestraft worden sind, handelt es sich um Meinungen in diesem Sinn, die stets vom Schutz des Grundrechts umfaßt sind. Die Beschwerdeführer haben mit ihren Äußerungen, Soldaten seien Mörder oder potentielle Mör­ der, nicht von bestimmten Soldaten behauptet, diese hätten in der Vergan­ genheit einen Mord begangen. Sie haben vielmehr ein Urteil über Soldaten und über den Soldatenberuf zum Ausdruck gebracht, der unter Umständen zum Töten anderer Menschen zwingt. Vom Vorliegen eines Werturteils, nicht einer Tatsachenbehauptung, sind auch die Strafgerichte ausgegangen. 2. In der Bestrafung wegen dieser Äußerungen liegt ein Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts auf Meinungsfreiheit.

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3. Kollektivbeleidigung von Soldaten

3.  Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit ist allerdings nicht vorbehaltlos gewährleistet. Nach Art. 5 Abs. 2 GG findet es seine Schranken vielmehr an den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und dem Recht der persönlichen Ehre. Dazu gehört auch § 185 StGB, der den angegriffenen Entscheidungen zugrunde liegt. Um die Verurteilung tragen zu können, muß die Vorschrift jedoch ihrerseits mit dem Grundgesetz übereinstimmen und überdies in verfassungsmäßiger Weise ausgelegt und angewandt werden (vgl. BVerfGE 7, 198 [208 f.]; stRspr). II. Gegen § 185 StGB bestehen keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. 1.  Die Strafbestimmung ist mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG vereinbar. a)  Die Vorschrift schützt in erster Linie die persönliche Ehre. Im Rahmen des aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG abgeleiteten all­ gemeinen Persönlichkeitsrechts genießt diese selber grundrechtlichen Schutz (vgl. BVerfGE 54, 148 [153 f.]). Sie kann vor allem durch Meinungsäuße­ rungen verletzt werden. Deswegen ist sie in Art. 5 Abs. 2 GG ausdrücklich als rechtfertigender Grund für Einschränkungen der Meinungsfreiheit aner­ kannt. Daraus folgt allerdings nicht, daß der Gesetzgeber die Meinungsfrei­ heit im Interesse der persönlichen Ehre beliebig beschränken dürfte (vgl. BVerfGE 7, 198 [208]). Er muß vielmehr auch dann, wenn er von der Er­ mächtigung des Art. 5 Abs. 2 GG Gebrauch macht, das eingeschränkte Grundrecht im Auge behalten und übermäßige Einengungen der Meinungs­ freiheit vermeiden. Diesem Erfordernis trägt jedoch § 193 StGB Rechnung, indem er eine Bestrafung wegen einer Äußerung dann ausschließt, wenn diese in Wahrnehmung berechtigter Interessen getan worden ist. Diese Vor­ schrift, die vor jeder Verurteilung nach § 185 StGB zu beachten ist, steht mit ihrer weiten Formulierung dem Einfluß der Meinungsfreiheit in beson­ derer Weise offen und erlaubt damit einen schonenden Ausgleich der kolli­ dierenden Rechtsgüter (vgl. BVerfGE 12, 113 [125 f.]). b) Wie § 194 Abs. 3 Satz 2 StGB zu entnehmen ist, bezieht sich der Schutz von § 185 StGB allerdings nicht nur auf Personen, sondern auch auf Behörden oder sonstige Stellen, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehmen. Insoweit läßt sich die Norm nicht aus dem Gesichtspunkt der persönlichen Ehre rechtfertigen, denn staatliche Einrichtungen haben weder eine „persönliche“ Ehre noch sind sie Träger des allgemeinen Persönlich­ keitsrechts. Als Schutznorm zugunsten staatlicher Einrichtungen zählt § 185 StGB jedoch zu den allgemeinen Gesetzen im Sinn von Art. 5 Abs. 2 GG. Darunter sind alle Gesetze zu verstehen, die nicht eine Meinung als solche



Beschluß vom 10. Oktober 199563

verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche rich­ ten, sondern dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine be­ stimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen (vgl. BVerfGE 7, 198 [209]; stRspr). Das ist bei § 185 StGB der Fall. Ohne ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Akzeptanz vermögen staatliche Einrichtungen ihre Funk­ tion nicht zu erfüllen. Sie dürfen daher grundsätzlich auch vor verbalen Angriffen geschützt werden, die diese Voraussetzungen zu untergraben drohen (vgl. BVerfGE 81, 278 [292 f.]). Der strafrechtliche Schutz darf in­ dessen nicht dazu führen, staatliche Einrichtungen gegen öffentliche Kritik, unter Umständen auch in scharfer Form, abzuschirmen, die von dem Grund­ recht der Meinungsfreiheit in besonderer Weise gewährleistet werden soll (vgl. BVerfGE 28, 191 [202]). Diesem Erfordernis trägt aber wiederum § 193 StGB ausreichend Rechnung, der dem Einfluß von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG Raum gibt und gesteigerte Bedeutung erlangt, wenn § 185 StGB zum Schutz öffentlicher Einrichtungen und nicht zum Schutz der persönlichen Ehre eingesetzt wird. 2. § 185 StGB ist auch nicht zu unbestimmt und verstößt damit nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Zwar unterscheidet er sich von den übrigen Vorschriften des Strafgesetzbuchs dadurch, daß er den Straftatbestand ledig­ lich mit dem Begriff der Beleidigung benennt, aber nicht näher definiert. Auch wenn das für eine unter der Geltung des Grundgesetzes erlassene Strafvorschrift als unzureichend anzusehen sein sollte, hat der Begriff der Beleidigung jedenfalls durch die über hundertjährige und im wesentlichen einhellige Rechtsprechung einen hinreichend klaren Inhalt erlangt, der den Gerichten ausreichende Vorgaben für die Anwendung an die Hand gibt und den Normadressaten deutlich macht, wann sie mit einer Bestrafung wegen Beleidigung zu rechnen haben (vgl. BVerfGE 71, 108 [114 ff.]). Soweit es zur Kollektivbeleidigung noch ungeklärte Streitfragen gibt, wird dadurch die Bestimmtheit der Norm nicht berührt. III. Auslegung und Anwendung der Strafgesetze sind Sache der Strafgerichte. Handelt es sich um Gesetze, die die Meinungsfreiheit beschränken, ist dabei aber nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das eingeschränkte Grundrecht zu beachten, damit dessen wertsetzende Bedeu­ tung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 7, 198 [208 f.]). 1. Auf der Stufe der Normauslegung erfordert Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG eine im Rahmen der Tatbestandsmerkmale der betreffenden Gesetze vorzu­ nehmende Abwägung zwischen der Bedeutung einerseits der Meinungsfrei­ heit und andererseits des Rechtsguts, in dessen Interesse sie eingeschränkt

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worden ist. Damit ist eine Interpretation von § 185 StGB unvereinbar, die den Begriff der Beleidigung so weit ausdehnt, daß er die Erfordernisse des Ehren- oder Institutionenschutzes überschreitet (vgl. BVerfGE 71, 162 [181]) oder für die Berücksichtigung der Meinungsfreiheit keinen Raum mehr läßt (vgl. BVerfGE 43, 130 [139]). Desgleichen verbietet Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG eine Auslegung der §§ 185 ff. StGB, von der ein abschreckender Effekt auf den Gebrauch des Grundrechts ausgeht, der dazu führt, daß aus Furcht vor Sanktionen auch zulässige Kritik unterbleibt (vgl. BVerfGE 43, 130 [136]; stRspr). Besonders bei der Auslegung von § 193 StGB fällt ins Gewicht, daß die Meinungsfreiheit schlechthin konstituierend für die freiheitlich-demokra­ tische Ordnung ist (vgl. BVerfGE 7, 198 [208]). Ein berechtigtes Interesse kann daher nicht nur dann bestehen, wenn der Betroffene selber den Anlaß zu der Äußerung gegeben hat oder wenn jemand sich gegen persönliche Angriffe zur Wehr setzt, sondern auch, wenn er sich an einer öffentlichen Auseinandersetzung über gesellschaftlich oder politisch relevante Fragen beteiligt (vgl. BVerfGE 12, 113 [125, 127]). Das ist insbesondere zu beach­ ten, wenn die Ehrenschutzvorschriften der §§ 185 ff. StGB nicht auf Per­ sonen, sondern auf staatliche Einrichtungen bezogen werden. Sie dienen dann nicht dem Schutz der persönlichen Ehre, sondern suchen die öffent­ liche Anerkennung zu gewährleisten, die erforderlich ist, damit staatliche Einrichtungen ihre Funktion erfüllen können. Tritt dieser Schutzzweck in einen Konflikt mit der Meinungsfreiheit, so ist deren Gewicht besonders hoch zu veranschlagen, weil das Grundrecht gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist und darin unverändert seine Bedeutung findet. 2. Auf der Stufe der Anwendung von §§ 185 ff. StGB im Einzelfall ver­ langt Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG eine Gewichtung der Beeinträchtigung, die der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der ande­ ren Seite droht, bei der alle wesentlichen Umstände zu berücksichtigen sind (vgl. BVerfGE 7, 198 [212]; stRspr). Das Ergebnis dieser Abwägung läßt sich wegen ihres Fallbezugs nicht generell und abstrakt vorwegnehmen. Doch ist in der Rechtsprechung eine Reihe von Gesichtspunkten entwickelt worden, die Kriterien für die konkrete Abwägung vorgeben. So muß die Meinungsfreiheit stets zurücktreten, wenn die Äußerung die Menschenwürde eines anderen antastet. Dieser für die Kunstfreiheit ausge­ sprochene Grundsatz (vgl. BVerfGE 75, 369 [380]) beansprucht auch für die Meinungsfreiheit Geltung, denn die Menschenwürde als Wurzel aller Grundrechte ist mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig. Da aber nicht nur einzelne, sondern sämtliche Grundrechte Konkretisierungen des Prinzips der Menschenwürde sind, bedarf es stets einer sorgfältigen Begrün­



Beschluß vom 10. Oktober 199565

dung, wenn angenommen werden soll, daß der Gebrauch eines Grundrechts auf die unantastbare Menschenwürde durchschlägt. Desgleichen tritt bei herabsetzenden Äußerungen, die sich als Formal­ beleidigung oder Schmähung darstellen, die Meinungsfreiheit regelmäßig hinter den Ehrenschutz zurück (vgl. BVerfGE 61, 1 [12]). Wegen seines die Meinungsfreiheit verdrängenden Effekts hat das Bundesverfassungsgericht den in der Fachgerichtsbarkeit entwickelten Begriff der Schmähkritik aber eng definiert. Danach macht auch eine überzogene oder gar ausfällige Kritik eine Äußerung für sich genommen noch nicht zur Schmähung. Hinzutreten muß vielmehr, daß bei der Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Sie muß jenseits auch polemischer und überspitzter Kritik in der persönlichen Herabsetzung bestehen (vgl. BVerfGE 82, 272 [283 f.]). Aus diesem Grund wird Schmähkritik bei Äußerungen in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage nur ausnahmsweise vorliegen und im übrigen eher auf die sogenannte Privatfehde beschränkt bleiben (vgl. BGH, NJW 1974, S. 1762). Hält ein Gericht eine Äußerung fälschlich für eine Formalbeleidi­ gung oder Schmähung, mit der Folge, daß eine konkrete Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls entbehrlich wird, so liegt darin ein verfassungsrechtlich erheblicher Fehler, der zur Aufhebung der Entscheidung führt, wenn diese darauf beruht (vgl. BVerfGE 82, 272 [281]). Läßt sich die Äußerung weder als Angriff auf die Menschenwürde noch als Formalbeleidigung oder Schmähung einstufen, so kommt es für die Abwägung auf die Schwere der Beeinträchtigung der betroffenen Rechtsgü­ ter an. Dabei spielt es aber, anders als im Fall von Tatsachenbehauptungen, grundsätzlich keine Rolle, ob die Kritik berechtigt oder das Werturteil „rich­ tig“ ist (vgl. BVerfGE 66, 116 [151]; 68, 226 [232]). Dagegen fällt ins Gewicht, ob von dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit im Rahmen einer privaten Auseinandersetzung zur Verfolgung von Eigeninteressen oder im Zusammenhang mit einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage Gebrauch gemacht wird. Handelt es sich bei der umstrittenen Äußerung um einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung, so spricht nach der stän­ digen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Vermutung zu­ gunsten der Freiheit der Rede (vgl. BVerfGE 7, 198 [208, 212]; 61, 1 [11]). Abweichungen davon bedürfen folglich einer Begründung, die der konstitu­ tiven Bedeutung der Meinungsfreiheit für die Demokratie, in der die Ver­ mutungsregel wurzelt, Rechnung trägt. 3.  Voraussetzung jeder rechtlichen Würdigung von Äußerungen ist aller­ dings, daß ihr Sinn zutreffend erfaßt worden ist. Fehlt es bei der Verurtei­ lung wegen eines Äußerungsdelikts daran, so kann das im Ergebnis zur Unterdrückung einer zulässigen Äußerung führen. Darüber hinaus besteht

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3. Kollektivbeleidigung von Soldaten

die Gefahr, daß sich eine solche Verurteilung nachteilig auf die Ausübung des Grundrechts der Meinungsfreiheit im allgemeinen auswirkt, weil Äuße­ rungswillige selbst wegen fernliegender oder unhaltbarer Deutungen ihrer Äußerung eine Bestrafung riskieren (vgl. BVerfGE 43, 130 [136]). Da unter diesen Umständen schon auf der Deutungsebene Vorentscheidungen über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit von Äußerungen fallen, ergeben sich aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht nur Anforderungen an die Auslegung und Anwendung grundrechtsbeschränkender Gesetze, sondern auch an die Deu­ tung umstrittener Äußerungen. Ziel der Deutung ist die Ermittlung des objektiven Sinns einer Äußerung. Maßgeblich ist daher weder die subjektive Absicht des sich Äußernden noch das subjektive Verständnis der von der Äußerung Betroffenen, sondern der Sinn, den sie nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und ver­ ständigen Publikums hat. Dabei ist stets vom Wortlaut der Äußerung auszu­ gehen. Dieser legt ihren Sinn aber nicht abschließend fest. Er wird vielmehr auch von dem sprachlichen Kontext, in dem die umstrittene Äußerung steht, und den Begleitumständen, unter denen sie fällt, bestimmt, soweit diese für die Rezipienten erkennbar waren. Die isolierte Betrachtung eines umstrit­ tenen Äußerungsteils wird daher den Anforderungen an eine zuverlässige Sinnermittlung regelmäßig nicht gerecht (vgl. BVerfGE 82, 43 [52]). Urteile, die den Sinn der umstrittenen Äußerung erkennbar verfehlen und darauf ihre rechtliche Würdigung stützen, verstoßen gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit. Dasselbe gilt, wenn ein Gericht bei mehrdeutigen Äußerungen die zur Verurteilung führende Bedeutung zugrundelegt, ohne vorher die anderen möglichen Deutungen mit schlüssigen Gründen ausge­ schlossen zu haben (vgl. BVerfGE 82, 43 [52]). Dabei braucht das Gericht freilich nicht auf entfernte, weder durch den Wortlaut noch die Umstände der Äußerung gestützte Alternativen einzugehen oder gar abstrakte Deu­ tungsmöglichkeiten zu entwickeln, die in den konkreten Umständen keiner­ lei Anhaltspunkte finden. Lassen Formulierung oder Umstände jedoch eine nicht ehrenrührige Deutung zu, so verstößt ein Strafurteil, das diese über­ gangen hat, gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Dabei muß auch bedacht wer­ den, daß manche Worte oder Begriffe in unterschiedlichen Kommunikations­ zusammenhängen verschiedene Bedeutungen haben können. Das ist unter anderem bei Begriffen der Fall, die in der juristischen Fachterminologie in anderem Sinn benützt werden als in der Umgangssprache. Es ist daher ebenfalls ein verfassungsrechtlich erheblicher Fehler, wenn der Verurteilung der fachspezifische Sinn zugrunde gelegt wird, obwohl die Äußerung in einem umgangssprachlichen Zusammenhang gefallen ist (vgl. BVerfGE 7, 198 [227]; 85, 1 [19]). Die Anforderungen, die Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG an die Sinnermittlung von Äußerungen richtet, unterliegen der Nachprüfung durch das Bundesver­



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fassungsgericht, und zwar besonders dann, wenn es sich wie bei Strafurtei­ len, um einen intensiven Grundrechtseingriff handelt. Das hat das Bundes­ verfassungsgericht stets betont (vgl. BVerfGE 43, 130 [136 f.]; 54, 129 [136 ff.]; 61, 1 [6, 9 f.]; 82, 43 [50]; 82, 272 [280]; 85, 1 [13 f.]). Darin liegt keine Abweichung von der ständigen Rechtsprechung zum Umfang der Prüfungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 18, 85 [92]; 85, 248 [257 f.]). Denn auch bei der Verurteilung wegen Äußerungs­ delikten prüft das Bundesverfassungsgericht nur, ob die Gerichte Bedeutung und Tragweite des Grundrechts der Meinungsfreiheit verkannt haben. Im übrigen bleibt es bei der alleinigen Zuständigkeit der Fachgerichte. Im Zu­ sammenhang mit Äußerungsdelikten betrifft das Fragen wie die, ob die umstrittene Äußerung tatsächlich gefallen ist, welchen Wortlaut sie hatte, von wem sie stammte und unter welchen Umständen sie abgegeben wurde, zumal wenn die Feststellungen auf der Einmaligkeit des Gesamteindrucks der mündlichen Verhandlung beruhen (vgl. BVerfGE 43, 130 [137]). Die Ausführungen im Sondervotum, die von dieser ständigen Rechtsprechung abweichen, geben keinen Anlaß, die bisherige Praxis aufzugeben und den Grundrechtsschutz der Meinungsäußerung einzuschränken. IV. Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht voll gerecht. 1.  Es begegnet allerdings keinen Bedenken, daß die Gerichte in der Be­ zeichnung eines Soldaten als Mörder einen schwerwiegenden Angriff auf dessen Ehre gesehen haben. Selbst wenn mit dieser Bezeichnung nicht der Vorwurf einhergeht, der Betroffene habe tatsächlich Morde begangen, so bleibt doch die wertende Gleichstellung mit einem Mörder eine tiefe Krän­ kung. Diese wiegt besonders schwer, wenn der Ausdruck im strafrechtlichen Sinn unter Einschluß der subjektiven Mordmerkmale des § 211 StGB ge­ braucht wird. Sie besteht aber auch dann, wenn er umgangssprachlich ver­ wendet wird, denn auch in diesem Fall bezeichnet er eine Person, die in einer sittlich nicht zu rechtfertigenden Weise zur Vernichtung menschlichen Lebens beiträgt oder bereit ist. Darin liegt ebenfalls ein Unwerturteil, das geeignet ist, den Betroffenen im Ansehen seiner Umwelt empfindlich her­ abzusetzen. Das gilt insbesondere, wenn sich der Vorwurf nicht auf ein vereinzeltes Verhalten, sondern auf die gesamte berufliche Tätigkeit bezieht. Die Gerichte haben sich aber nicht hinreichend vergewissert, daß die mit Strafe belegten Äußerungen diesen Sinn auch wirklich hatten. Sie mußten alternativen Deutungen nachgehen, soweit diese strafrechtlich milder zu beurteilen waren. Andernfalls besteht die Gefahr, daß der sich Äußernde für eine Äußerung bestraft wird, die die angenommene Kränkung nicht enthält. Den Zugang zu solchen Alternativen dürfen sich die Gerichte nicht durch

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3. Kollektivbeleidigung von Soldaten

eine isolierte Betrachtung des inkriminierten Teils der Äußerung verschlie­ ßen. Vielmehr muß der Kontext, soweit er für die Adressaten der Äußerung wahrnehmbar war, berücksichtigt werden. Das gilt zuerst für den sprach­ lichen Zusammenhang, in dem die umstrittene Äußerung steht, kann aber auch außertextliche Umstände einschließen. In den vorliegenden Fällen bestanden Alternativen zu der von den Ge­ richten angenommenen Deutung, die Soldaten der Bundeswehr würden Mördern im strafrechtlichen oder im umgangssprachlichen Sinn gleichge­ stellt; damit werde zum Ausdruck gebracht, sie seien zu besonders nieder­ trächtigem Verhalten gegenüber anderen Menschen willens und fähig. Das ergibt sich vor allem aus zwei Umständen. Zum einen beziehen sich die Äußerungen der Beschwerdeführer ihrem Wortlaut nach durchweg auf Soldaten überhaupt, nicht aber auf einzelne Sol­ daten oder speziell auf diejenigen der Bundeswehr. Wenn vereinzelt auch die Bundeswehr erwähnt wird, so geschieht das nur, um zu bekräftigen, daß die Aussage über alle Soldaten auch für die Soldaten der Bundeswehr gelte. Die­ ser Umstand mußte zu der Überlegung Anlaß geben, ob sich die Äußerung nicht gegen Soldatentum und Kriegshandwerk schlechthin richtete, das ver­ urteilt wird, weil es mit dem Töten anderer Menschen verbunden ist, das unter Umständen auf grausame Weise vor sich geht und auch die Zivilbevöl­ kerung trifft. Daß die Beschwerdeführer überwiegend nicht unpersönlich von „Mord“, sondern personalisiert von „Mörder“ gesprochen haben, ist für sich allein genommen nicht geeignet, diese Deutung auszuschließen. Denn auch in der Verwendung des Wortes „Mörder“ muß nicht notwendig der Vorwurf einer schwerkriminellen Haltung oder Gesinnung gegenüber dem einzelnen Soldaten enthalten sein. Vielmehr kann der sich Äußernde auch in besonders herausfordernder Form darauf aufmerksam machen, daß Töten im Krieg kein unpersönlicher Vorgang ist, sondern von Menschenhand erfolgt. Es ist daher nicht von vornherein auszuschließen, daß die Formulierung bei den Wehr­ dienstleistenden und im Soldatenberuf Stehenden das Bewußtsein der persön­ lichen Verantwortlichkeit für das insgesamt verurteilte Geschehen wecken und so die Bereitschaft zur Kriegsdienstverweigerung fördern sollte. Zum zweiten standen die Äußerungen, Soldaten seien Mörder oder poten­ tielle Mörder, bei den Beschwerdeführern zu 2. bis 4. in einem längeren sprachlichen Kontext, beim Beschwerdeführer zu 2. in Gestalt eines Flug­ blatts, beim Beschwerdeführer zu 3. in Gestalt eines Leserbriefs und bei der Beschwerdeführerin zu 4. in Gestalt eines zusammen mit dem Transparent verwendeten und gleichzeitig an dem Bundeswehrstand verteilten Flugblatts. Darin ging es überwiegend um die Vernichtung von Menschenleben, unter den Soldaten wie in der Zivilbevölkerung, als in Kauf genommene Folge der Unterhaltung von Armeen und der damit verbundenen Bereitschaft zur



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Kriegsführung, gleich ob zu Angriffs- oder Verteidigungszwecken. Dagegen ging es nicht um Kritik an einem besonders verwerflichen Individualverhal­ ten oder gar an charakterlichen Mängeln von Soldaten. Anhaltspunkte für die Gleichstellung von Soldaten mit Mördern im Sinn der Erfüllung der subjektiven Mordmerkmale des § 211 StGB sind dem Kontext, in dem die inkriminierten Äußerungen stehen, überhaupt nicht zu entnehmen. 2.  Es ist von Verfassungs wegen weiterhin nicht zu beanstanden, daß die Gerichte in einer herabsetzenden Äußerung, die weder bestimmte Personen benennt noch erkennbar auf bestimmte Personen bezogen ist, sondern ohne individuelle Aufschlüsselung ein Kollektiv erfaßt, unter bestimmten Um­ ständen auch einen Angriff auf die persönliche Ehre der Mitglieder des Kollektivs sehen. Die persönliche Ehre eines Menschen, die durch die Strafdrohung des § 185 StGB vor Angriffen geschützt werden soll, läßt sich nicht rein indivi­ duell und losgelöst von den kollektiven Bezügen, in denen er steht, betrach­ ten. Der Einzelne bewegt sich in zahlreichen überindividuellen Zusammen­ hängen, die er teils frei wählt, teils ohne eigenes Zutun akzeptieren muß und die Rollen- und Verhaltenserwartungen begründen, denen er unterworfen ist. Auch von seiner Umwelt wird er mit den Kollektiven, denen er angehört, und den sozialen Rollen, die er ausfüllt, mehr oder weniger identifiziert. Sein Ansehen in der Gesellschaft hängt unter diesen Umständen nicht allein von seinen individuellen Eigenschaften und Verhaltensweisen, sondern auch von den Merkmalen und Tätigkeiten der Gruppen, denen er angehört, oder der Institutionen, in denen er tätig ist, ab. Insofern können herabsetzende Äuße­ rungen über Kollektive auch ehrmindernd für ihre Mitglieder wirken. Allerdings läßt sich bei herabsetzenden Äußerungen unter einer Sammel­ bezeichnung die Grenze zwischen einem Angriff auf die persönliche Ehre, die Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG schützt und die nach Art. 5 Abs. 2 GG Beschränkungen der Meinungsfreiheit rechtfertigt, und einer Kritik an sozialen Phänomenen, staatlichen oder gesellschaftlichen Einrichtungen oder sozialen Rollen und Rollenerwartungen, für die Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gerade einen Freiraum gewährleisten will, nicht scharf ziehen. Einer Bestrafung wegen derartiger Äußerungen wohnt deswegen stets die Gefahr überschießender Beschränkungen der Meinungsfreiheit in­ ne. Verschiedene ausländische Rechtsordnungen, namentlich des angelsäch­ sischen Rechtskreises, kennen daher die Sammelbeleidigung gar nicht und bestrafen nur die ausdrücklich oder erkennbar auf Einzelne bezogene Ehr­ verletzung (vgl. etwa Robertson / Nicol, Media Law, 3. Aufl. 1992, S. 57). Ob auch § 185 StGB in dieser Weise ausgelegt werden könnte, ist hier nicht zu entscheiden. Das Grundgesetz gebietet eine derart restriktive Aus­ legung der Ehrenschutzbestimmungen jedenfalls nicht. Doch muß bei der

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3. Kollektivbeleidigung von Soldaten

Anwendung von § 185 StGB auf herabsetzende Äußerungen unter einer Sammelbezeichnung stets geprüft werden, ob durch sie überhaupt die „per­ sönliche“ Ehre der einzelnen Gruppenangehörigen beeinträchtigt wird, und vor allem beachtet werden, daß es nicht zur Unterdrückung kritischer Äu­ ßerungen über politische und soziale Erscheinungen oder Einrichtungen kommen darf, für die der Schutz der Meinungsfreiheit in besonderer Weise gilt. Darauf weist auch die Strafrechtswissenschaft mit Nachdruck hin (vgl. Androulakis, Die Sammelbeleidigung, 1970, m. w. N.). Die Gerichte haben sich in diesem Zusammenhang auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs gestützt, die gerade aus Anlaß herabsetzender Äu­ ßerungen über Soldaten ergangen ist (vgl. BGHSt 36, 83). Der Bundesge­ richtshof geht in dieser Entscheidung davon aus, daß die Anforderungen, die das Reichsgericht an die Strafbarkeit von Sammelbeleidigungen gestellt hatte, nämlich, daß es sich um eine abgrenzbare und überschaubare Gruppe handeln müsse, den rechtsstaatlichen Erfordernissen der Eingrenzung von Straftatbeständen nicht genügten. Er fordert deswegen zusätzlich, daß die herabsetzende Äußerung an ein Merkmal anknüpft, das bei allen Angehöri­ gen des Kollektivs vorliegt, während die Anknüpfung an Merkmale, die zwar auf einige, offenkundig aber nicht auf alle Mitglieder zutreffen, nach dieser Rechtsprechung die persönliche Ehre jedes einzelnen Mitglieds nicht mindert. Da jedem Adressaten einer solchen Äußerung klar sei, daß nicht alle gemeint sein können, bestimmte Personen aber nicht genannt seien, werde durch eine solche Äußerung niemand beleidigt. Der Bundesgerichtshof geht allerdings offenbar davon aus, daß auch nach dieser Eingrenzung noch sehr große Kollektive übrig bleiben, deren Mitglie­ der durch herabsetzende Äußerungen unter einer Sammelbezeichnung als persönlich beleidigt zu gelten hätten. Um das zu vermeiden, hält er daran fest, daß herabsetzende Äußerungen über unüberschaubar große Gruppen (wie alle Katholiken oder Protestanten, alle Gewerkschaftsmitglieder, alle Frauen) nicht auf die persönliche Ehre jedes einzelnen Angehörigen der Gruppe durchschlagen. Daß sonst die für notwendig gehaltene Eingrenzung des Straftatbestandes wieder preisgegeben würde, wird auch in der Straf­ rechtswissenschaft angenommen (vgl. Herdegen, in: Leipziger Kommentar, 10. Aufl., Rn. 20 ff. vor § 185; Lenckner, in: Schönke  /  Schröder, StGB, 24. Aufl., Rn. 7 vor §§ 185 ff.; Tenckhoff, JuS 1988, S. 457; Dau, NJW 1988, S. 2650; Maiwald, JR 1989, S. 485; Arzt, JZ 1989, S. 647; Giehring, StV 1992, S. 194; Wehinger, Kollektivbeleidigung – Volksverhetzung, 1994, S. 53 ff.; Ignor, Der Straftatbestand der Beleidigung, 1995, S. 76 ff., 191 f.). Diese Auslegung trägt dem Gesichtspunkt der Meinungsfreiheit Rech­ nung. Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG wie auch Art. 5 Abs. 2 GG dienen dem Schutz der persönlichen Ehre. Je größer das Kollek­



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tiv ist, auf das sich eine herabsetzende Äußerung bezieht, desto schwächer kann auch die persönliche Betroffenheit des einzelnen Mitglieds werden, weil es bei den Vorwürfen an große Kollektive meist nicht um das indivi­ duelle Fehlverhalten oder individuelle Merkmale der Mitglieder, sondern um den aus der Sicht des Sprechers bestehenden Unwert des Kollektivs und seiner sozialen Funktion sowie der damit verbundenen Verhaltensanforde­ rungen an die Mitglieder geht. Auf der imaginären Skala, deren eines Ende die individuelle Kränkung einer namentlich bezeichneten oder erkennbaren Einzelperson bildet, steht am anderen Ende die abwertende Äußerung über menschliche Eigenschaften schlechthin oder die Kritik an sozialen Einrich­ tungen oder Phänomenen, die nicht mehr geeignet sind, auf die persönliche Ehre des Individuums durchzuschlagen. Diese Erwägungen treffen auch auf herabsetzende Äußerungen über Solda­ ten zu, sofern sie sich auf alle Soldaten der Welt beziehen. Dagegen sind die Strafgerichte von Verfassungs wegen nicht gehindert, in den (aktiven) Solda­ ten der Bundeswehr eine hinreichend überschaubare Gruppe zu sehen, so daß eine auf sie bezogene Äußerung auch jeden einzelnen Angehörigen der Bun­ deswehr kränken kann, wenn sie an ein Merkmal anknüpft, das ersichtlich oder zumindest typischerweise auf alle Mitglieder des Kollektivs zutrifft. Es ist dann allerdings inkonsequent, eine herabsetzende Äußerung, die ohne nähere Eingrenzung alle Soldaten zum Gegenstand hat, nur deswegen speziell auf die Soldaten der Bundeswehr zu beziehen, weil diese Teil der Gesamtheit aller Soldaten sind. Da jedes große Kollektiv in kleinere Unter­ gruppen zerfällt, verwandelt sich durch den Rekurs auf irgend eine von ihnen auch eine völlig unspezifizierte und deswegen straflose Äußerung in eine persönliche und damit strafbare Kränkung. Die vom Bundesgerichtshof aus rechtsstaatlichen Gründen vorgenommene Eingrenzung des Straftatbe­ standes wird dadurch im Ergebnis wieder aufgehoben. Diese Inkonsequenz ist auch verfassungsrechtlich erheblich. Da die Mei­ nungsfreiheit nur in dem Maß eingeschränkt werden darf, wie es zum Schutz der persönlichen Ehre erforderlich ist, diese durch herabsetzende Äußerungen über unüberschaubar große Kollektive nach der verfassungs­ rechtlich nicht zu beanstandenden Auffassung der Strafgerichte aber nicht berührt wird, liegt in der Bestrafung wegen derartiger Äußerungen eine unzulässige Beschränkung von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Soll jemand, der eine herabsetzende Äußerung über Soldaten im allgemeinen getan hat, we­ gen Beleidigung der Soldaten der Bundeswehr bestraft werden, so genügt es folglich nicht darzutun, daß die Soldaten der Bundeswehr eine Teilgrup­ pe aller Soldaten bilden; es muß vielmehr dargelegt werden, daß gerade die Soldaten der Bundeswehr gemeint sind, obwohl die Äußerung sich auf Soldaten schlechthin bezieht. Ein derartiges Auseinanderfallen von sprach­

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licher Fassung und objektivem Sinn ist keinesfalls unmöglich. Die Gerichte müssen dann aber die Umstände benennen, aus denen sich das am Wortlaut der Äußerung allein nicht erkennbare anderweitige Verständnis ergibt. Fehlt es daran, so liegt ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG vor. 3. Es begegnet schließlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, daß die Gerichte bei der Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz dem Ehrenschutz ohne weiteres den Vorzug geben, wenn in der umstrittenen Äußerung kein Beitrag zur Auseinandersetzung in der Sache liegt, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Das entspricht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Schmähkritik. Voraussetzung ist aber, daß es sich bei der fraglichen Äußerung wirklich um Schmähkritik handelt. Die Gerichte haben dies überwiegend unter Be­ rufung auf die erwähnte Entscheidung des Bayerischen Obersten Landes­ gerichts (NJW 1991, S. 1493) angenommen, die eine ganz ähnliche Äuße­ rung über Soldaten betraf. Diese Entscheidung gibt zwar die in der Ver­ fassungsrechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Schmähkritik zutref­ fend wieder, richtet die Rechtsanwendung aber nicht genügend daran aus. Auch dem Sondervotum liegt nicht der in der Verfassungsrechtsprechung mit Rücksicht auf die Meinungsfreiheit entwickelte enge Begriff der Schmähung zugrunde. Merkmal der Schmähung ist die das sachliche Anliegen völlig in den Hintergrund drängende persönliche Kränkung. Den Beschwerdeführern ging es indessen erkennbar um eine Auseinandersetzung in der Sache, und zwar um die Frage, ob Krieg und Kriegsdienst und die damit verbundene Tötung von Menschen sittlich gerechtfertigt sind oder nicht. Das ergibt sich bei den Beschwerdeführern zu 2. bis 4. aus dem Kontext der inkriminierten Äuße­ rung, den die Gerichte bei der Qualifizierung als Schmähkritik zu beachten hatten. Bei dem Beschwerdeführer zu 1. deuten zumindest die Wortwahl „murder“ statt „murderer“ sowie der situative Kontext darauf hin. Bei dem Widerstreit von Wehrbereitschaft und Pazifismus handelt es sich um eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage, bei der eine Vermutung zugunsten der Redefreiheit spricht. Angesichts dessen hätten die Gerichte darlegen müssen, daß in den konkreten Äußerungen auch unter Berücksich­ tigung ihres Kontexts die Sachauseinandersetzung von der Personendiffa­ mierung in den Hintergrund gedrängt worden war. Daran bestehen aber gerade deswegen Zweifel, weil sich die Äußerungen ihrem Wortlaut nach nicht auf bestimmte Personen bezogen, sondern unter­ schiedslos alle Soldaten erfaßten. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, daß auch bei herabsetzenden Äußerungen über große Kollektive die Diffamie­ rung der ihnen angehörenden Personen im Vordergrund steht. Das gilt ins­ besondere dann, wenn die Äußerungen an ethnische, rassische, körperliche



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oder geistige Merkmale anknüpfen, aus denen die Minderwertigkeit einer ganzen Personengruppe und damit zugleich jedes einzelnen Angehörigen abgeleitet wird. In der Regel werden aber nur Äußerungen über bestimmte Personen oder Personenvereinigungen als Schmähkritik in Betracht kom­ men. Nur in diesem Sinn ist der Begriff auch bisher in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs verwendet wor­ den (vgl. BVerfGE 61, 1 [12]; 82, 272 [284]; BGH, NJW 1974, S. 1762; NJW 1977, S. 626; LM Nr. 42 zu § 847 BGB). Geht es dagegen um Perso­ nengruppen, die durch eine bestimmte soziale Funktion geeint sind, so ist eher zu vermuten, daß die Äußerung nicht von der Diffamierung der Per­ sonen geprägt wird, sondern an die von ihnen wahrgenommene Tätigkeit anknüpft. Die Äußerung kann dann gleichwohl ehrverletzend sein. Sie un­ terfällt aber nicht mehr dem Begriff der Schmähkritik, der eine konkrete Abwägung mit den Belangen der Meinungsfreiheit unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles überflüssig macht. Eine andere Beurteilung ist entgegen dem Sondervotum auch nicht deshalb geboten, weil die Äußerung Soldaten betrifft. Insbesondere macht der Um­ stand, daß Soldaten Waffendienst leisten, als Wehrpflichtige hierzu vom Staat herangezogen werden und dabei Gehorsam üben müssen, ihre persönliche Ehre nicht schutzwürdiger als diejenige von Angehörigen ziviler Bevölke­ rungsgruppen. Ein verfassungsrechtlicher Grundsatz, wonach bestimmte Ge­ horsamspflichten durch erhöhten Ehrenschutz zu kompensieren sind, besteht nicht. Daß jemand, der geschmäht wird, Anspruch auf staatlichen Schutz sei­ ner Ehre hat, ist vielmehr Ausfluß des verfassungsrechtlichen Persönlich­ keitsschutzes, der allen Menschen in gleicher Weise zukommt. Der Schutz macht freilich den Nachweis, daß die umstrittene Äußerung ehrverletzend oder sogar schmähend ist, nicht entbehrlich, sondern setzt ihn voraus. V. Für die einzelnen zulässigerweise angegriffenen Entscheidungen gilt fol­ gendes: 1.  Verfahren 1 BvR 1476 / 91 a) Das Amtsgericht ist davon ausgegangen, daß der Beschwerdeführer das Wort „murder“ nur versehentlich verwendet und in Wahrheit von „mur­ derer“ gesprochen habe. Die so aufgefaßte Äußerung hat es dahin gedeutet, daß sie jeden Soldaten einschließlich jedes Soldaten der Bundeswehr zu einem Schwerstkriminellen stempele. Zu dieser Auffassung ist es gekom­ men, weil es die eingangs zutreffend als Werturteil charakterisierte Äuße­ rung in der Folge wie eine – bewußt unwahre – Tatsachenbehauptung be­ handelt hat. Das ergibt sich daraus, daß es den Begriff „Mörder“ im straf­ rechtlichen Sinn gedeutet und dann festgestellt hat, daß er „nicht tatsachen­

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adäquat“ sei, weil „durch einen Soldaten der Bundeswehr bisher noch niemand ums Leben gekommen“ sei. Alternative Deutungen, zu denen in diesem Fall insbesondere auch wegen der ungewöhnlichen sprachlichen Fassung „A soldier is a murder“ Anlaß bestanden hätte, hat es nicht erwo­ gen und den ehrverletzenden Charakter der Äußerung aus ihrer Unrichtig­ keit entnommen, auf die es bei Werturteilen nicht entscheidend ankommt. Es hat seiner Verurteilung damit die zur Strafbarkeit führende Deutung zu­ grunde gelegt, ohne hinreichend geklärt zu haben, ob die Äußerung in der Tat so zu verstehen ist oder auch einen Sinn haben könnte, der die Tatbe­ standsmerkmale des § 185 StGB nicht erfüllt. Das Amtsgericht hat die Äußerung ferner unter Berufung auf das er­ wähnte Urteil des Bundesgerichtshofs auf den Strafantragsteller Oberstleut­ nant Ü. bezogen, weil der Beschwerdeführer alle Soldaten schlechthin als Mörder bezeichnet und damit auch Oberstleutnant Ü. als aktiven Soldaten der Bundeswehr erfaßt habe. Daß der Beschwerdeführer selber seine Äuße­ rung nicht auf den engen Kreis der Bundeswehr-Soldaten gemünzt habe, sei unerheblich, wenn die weitergehende Bezeichnung den engeren Kreis mitumfasse. Damit fehlt es an einer hinreichenden Feststellung, daß die Äußerung gerade die Angehörigen der Bundeswehr unter Ausschluß der Soldaten anderer Armeen meinte. Auf der Grundlage seines Textverständnisses hat das Amtsgericht schließ­ lich die Wahrnehmung berechtigter Interessen mit der Begründung ausge­ schlossen, die Äußerung habe nicht zur Meinungsbildung beitragen können. Das wird aus der Annahme abgeleitet, daß es sich bei der Äußerung um einen „polemischen Ausfall“, der „jedes Maß an Sachlichkeit vermissen ließ“, und einen Wertungsexzeß gehandelt habe, der keinen Denkanstoß oder Einstieg in eine fruchtbare Diskussion über die Notwendigkeit oder Verzichtbarkeit des Militärs biete. Es trifft zwar zu, daß die Äußerung nicht, wie in den übrigen Verfahren, in einem sprachlichen Kontext stand, der näheren Aufschluß über das Anliegen des Beschwerdeführers geben konnte. Das ändert aber nichts daran, daß er mit ihr ein Thema anschlug, das die Öffentlichkeit wesentlich berührt. Indem das Amtsgericht dies verkannte, hat es sich die konkrete Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Ehren­ schutz versperrt, die in Fällen, in denen weder eine Formalbeleidigung noch eine Schmähkritik vorliegt, stets erforderlich ist. b) Im Gegensatz zum Amtsgericht ist das Landgericht davon ausgegan­ gen, daß der Beschwerdeführer das Wort „murder“ bewußt statt des Wortes „murderer“ gewählt hat, um auf die Doppelrolle des Soldaten als Täter und Opfer aufmerksam zu machen und den am Manöver beteiligten Soldaten, namentlich den in der Nähe befindlichen amerikanischen, einen Denkanstoß zu geben. Dessen ungeachtet hat das Landgericht daraus keine Konse­ quenzen gezogen, sondern die Äußerung wegen der Klangähnlichkeit von



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„murder“ und „Mörder“ dem Beschwerdeführer so zugerechnet, als habe er den Ausdruck „murderer“ gebraucht und damit die Soldaten Schwerstkrimi­ nellen gleichgestellt. Darin hat es wie das Amtsgericht eine Beleidigung des Oberstleutnants Ü. erblickt, weil er als Soldat von einer herabsetzenden Äußerung über alle Soldaten miterfaßt sei. Schließlich hat es die Wahrneh­ mung berechtigter Interessen aus denselben Überlegungen und weitgehend mit denselben Worten abgelehnt wie das Amtsgericht. Damit ist im Ergebnis auch hier Bedeutung und Tragweite von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verkannt. c)  Da das Bayerische Oberste Landesgericht die Revision des Beschwer­ deführers als offensichtlich unbegründet verworfen hat, leidet sein Urteil an denselben Mängeln wie das Berufungsurteil. 2.  Verfahren 1 BvR 1980 / 91 a)  Nach Auffassung des Amtsgerichts bringt die Äußerung des Beschwer­ deführers zum Ausdruck, „daß jeder Soldat am Ende seiner Ausbildung ein Mörder ist, jemand, der aus niedriger Gesinnung tötet“. Worauf diese Deu­ tung beruht, hat das Gericht ebensowenig dargelegt, wie es alternative Deutungsmöglichkeiten des Flugblatts erwogen hat. Es hat die vom Be­ schwerdeführer vorgetragene Deutung vielmehr als „unbeachtlich“ bezeich­ net, weil die Äußerung keinen anderen Sinn als den angenommenen haben könne. Indessen hätte gerade das vom Beschwerdeführer verfaßte Flugblatt Anhaltspunkte für andere Deutungen geboten. Er verwendet zwar im Zu­ sammenhang mit dem Ausbildungsziel des Militärs das Substantiv „Mör­ der“, geht bei der Charakterisierung der soldatischen Tätigkeit aber sogleich zum Verb „töten“ über, dem in der deutschen Sprache kein Substantiv ent­ spricht. Aus diesem Grund ist in der Umgangssprache auch für Personen, die getötet haben, ohne die Mordmerkmale des § 211 StGB zu erfüllen, der Begriff des Mörders gebräuchlich. Auch der folgende Text läßt es mit dem Abstellen auf das „Soldatenhandwerk“ und den „Militarismus“ als möglich erscheinen, daß der Beschwerdeführer nicht Soldaten den Vorwurf des Tö­ tens aus niedriger Gesinnung gemacht, sondern auf die möglichen Folgen der Soldatenausbildung und der Kriegsführung hingewiesen hat. Inwiefern sich die Äußerung gerade auf den strafantragstellenden Solda­ ten R. als Angehörigen der Bundeswehr bezog und nicht als Äußerung über die unüberschaubare Gruppe aller Soldaten dessen persönliche Ehre unbe­ rührt ließ, hat das Gericht nicht begründet. Die Wahrnehmung berechtigter Interessen ist dem Beschwerdeführer mit der Behauptung abgesprochen worden, daß sein Text die Menschenwürde herabsetze und die Grenze von der scharfen Kritik zur polemischen Diffa­ mierung überschreite. Für beides fehlt es an einer Begründung. Damit hat sich das Gericht der Notwendigkeit einer Abwägung zwischen Meinungs­ freiheit und Ehrenschutz entzogen.

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3. Kollektivbeleidigung von Soldaten

Für die weitere Annahme, daß die Äußerung nicht nur die einzelnen Soldaten, sondern die Bundeswehr im Ganzen beleidige, hat sich das Ge­ richt auf den Hinweis beschränkt, daß die Beleidigungsfähigkeit der Bun­ deswehr anerkannt sei. Es hat aber weder dargelegt, inwiefern diese tatsäch­ lich beleidigt worden ist, noch ausgeführt, warum die Herabsetzung ihres Ansehens schwerer wiegt als die Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit. b) Auch das Landgericht hat sich um eine Deutung der Äußerung nicht bemüht, sondern es bei der Feststellung bewenden lassen, daß der Be­ schwerdeführer die von ihm selbst gestellte Frage, ob Soldaten potentielle Mörder seien, bejaht habe. Es hat zwar das Verständnis, das der Beschwer­ deführer mit seiner Äußerung verband, ausführlich wiedergegeben, sich damit aber nicht auseinandergesetzt. Im Unterschied zum Amtsgericht hat das Landgericht allerdings darge­ legt, daß die herabsetzende Äußerung gerade auf die Soldaten der Bundes­ wehr und damit auch auf den strafantragstellenden Soldaten R. bezogen gewesen sei. Das wird daraus geschlossen, daß in dem Text des Flugblatts „zweimal mit dem Satz ‚bei der Bundeswehr‘ ausdrücklich die Bundes­ wehr angesprochen“ worden sei. Diese Bedeutung ergibt sich aus dem Text des Flugblatts aber nicht. Das Landgericht hat übergangen, daß in beiden Fällen allgemeine Aussagen über Soldaten sowie über das Solda­ tenhandwerk gemacht wurden. Die universale Gültigkeit dieser Aussagen hat der Beschwerdeführer durch das beidemal den Worten „auch bei der Bundeswehr“ unmittelbar vorangehende Wort „weltweit“ zum Ausdruck gebracht. Es bedurfte also einer Begründung, warum sich die Äußerung gleichwohl nicht auf alle Soldaten der Welt, sondern gerade auf diejenigen der Bundeswehr bezog. Die Wahrnehmung berechtigter Interessen hat das Landgericht verneint, weil es die Äußerung als Schmähung angesehen hat, bei der die Meinungs­ freiheit stets hinter dem Persönlichkeitsschutz zurücktritt. Zur Begründung hat es angeführt, daß die Herabsetzung des Ansehens der Soldaten im Vor­ dergrund stehe, weil Mord als Tötung aus verwerflicher Gesinnung anzuse­ hen sei und die Gleichsetzung von Soldaten mit Mördern durch die „angeb­ liche“ Ausdehnung auf sämtliche Soldaten der Welt und durch die Beifügung des Wortes „potentiell“ nicht wesentlich gemildert werde. Indessen hätte sowohl der gesamte Inhalt des Flugblatts als auch der Anlaß seiner Vertei­ lung Grund zu der Überlegung geben müssen, ob es im wesentlichen eine Diffamierung von Personen enthielt oder ob es um einen Beitrag zu einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage ging, der die Annahme einer Schmähkritik regelmäßig ausschließt. Eine Begründung dafür, daß die Bundeswehr insgesamt beleidigt worden sei, fehlt in dem Urteil.



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c)  Der Beschluß des Revisionsgerichts leidet an denselben Mängeln wie das Berufungsurteil. 3.  Verfahren 1 BvR 102 / 92 a)  Das landgerichtliche Urteil enthält keine Ausführungen zum Sinn der umstrittenen Äußerung. Das Landgericht ist vielmehr ohne weiteres davon ausgegangen, daß es sich um eine Ehrenkränkung handele. Dagegen hat es dem Einwand des Beschwerdeführers, seine Äußerung beziehe sich auf alle Soldaten der Welt und damit auf ein wegen seiner Unüberschaubarkeit nicht beleidigungsfähiges Kollektiv, offensichtlich rechtliche Erheblichkeit beigemessen und sich mit ihm auseinandergesetzt. Es hat ihn jedoch mit dem Argument zu widerlegen versucht, daß der Be­ schwerdeführer sich in seinem Leserbrief mit Dr. A., dem Angeklagten im sogenannten Frankfurter Soldatenprozeß, solidarisch erklärt habe, der seine Äußerung, jeder Soldat sei ein potentieller Mörder, auch auf den anwe­ senden Hauptmann W. bezogen hatte, weil dieser ebenfalls Soldat sei. Ab­ gesehen davon, daß sich der Schluß, damit habe der Beschwerdeführer seine Äußerung auf die Soldaten der Bundeswehr gemünzt, daraus nicht ergibt, hält die Begründung auch im übrigen einer Nachprüfung nicht stand. Bezieht sich eine herabsetzende Äußerung auf alle Soldaten der Welt und damit auf einzelne Soldaten nur insofern, als diese einen Teil der Gesamt­ heit aller Soldaten bilden, so werden sie gerade nicht näher bestimmt. Die Annahme, entgegen dem Text des Leserbriefs seien nicht alle Soldaten der Welt von der Äußerung umfaßt, sondern speziell die Soldaten der Bundes­ wehr, hätte also weiterer Feststellungen bedurft. Eine Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz hat das Landgericht mit dem Hinweis unterlassen, es handele sich um Schmähkri­ tik. Eine eigene Begründung dafür enthält das Urteil nicht. Es gibt vielmehr die Erwägungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in der erwähnten Entscheidung wieder und erklärt, dem sei nichts hinzuzufügen. Eine Sub­ sumtion unter die dort entwickelten Grundsätze wird nicht vorgenommen. Die Annahme, es handele sich um Schmähkritik, verbot sich im vorlie­ genden Fall aber schon wegen des Kontexts, in dem die umstrittene Äuße­ rung stand. Dieser machte deutlich, daß es dem Verfasser um das Sachpro­ blem der Unterhaltung von Militär und der damit verbundenen Bereitschaft zum Töten im Krieg ging. Ob er das in einer den Anforderungen des Eh­ renschutzes Rechnung tragenden Weise vorgebracht hatte, mußte also durch eine fallbezogene Abwägung geklärt werden. b)  Der Beschluß des Oberlandesgerichts weist dieselben Mängel wie das Berufungsurteil auf.

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3. Kollektivbeleidigung von Soldaten

4.  Verfahren 1 BvR 221 / 92 a) Das Amtsgericht hat in der Äußerung der Beschwerdeführerin eine Beleidigung erblickt, weil der Begriff „Mörder“ stets die Mißachtung der so bezeichneten Person enthalte. Es hat zwar berücksichtigt, daß in der Um­ gangssprache nicht zwischen Mord und Totschlag unterschieden wird, in dem Ausdruck aber eine Bezeichnung für die rechtswidrige und verwerf­ liche Tötung gesehen. Diese Bedeutung werde weder durch den Zusatz „potentiell“ noch durch die graphische Verbindung des Wortes „Mörder“ mit dem Wort „Kriegsdienstverweigerer“ aufgehoben. „Potentiell“ deute lediglich auf die generelle Bereitschaft aller Soldaten hin, zum Mörder zu werden; „Kriegsdienstverweigerer“ stelle die Soldaten vor die Alternative, entweder zu Kriegsdienstverweigerern oder zu Mördern zu werden. Der beleidigende Charakter der Äußerung ergibt sich für das Amtsgericht unter diesen Umständen daraus, daß Soldaten nicht rechtswidrig töten. Ob die Äußerung auch einen anderen Sinn gehabt haben könnte, hat das Gericht nicht erwogen. Dazu hätte indessen schon der Text des gleichzeitig verteil­ ten Flugblatts Anlaß gegeben, das im Zusammenhang mit dem Transparent stand und kritisierte, daß auf dem Stand nur die Faszination der Technik geschildert, die tödliche Realität des Krieges aber ausgeblendet werde. Auf dieses Flugblatt, dessen Text im Tatbestand wiedergegeben wird, ist das Gericht nicht eingegangen. Das Amtsgericht hat angenommen, daß die am Stand anwesenden Solda­ ten der Bundeswehr von der Äußerung direkt betroffen gewesen seien. Diese Betroffenheit ergab sich aber nicht aus der Äußerung selbst, sondern lediglich aus ihrer Anwesenheit. Feststellungen, daß sich die Äußerung ge­ rade auf sie als individuelle, von allen übrigen Soldaten unterscheidbare Gruppe bezog, hat das Gericht nicht getroffen. Den Vorrang des Ehrenschutzes vor der Meinungsfreiheit hat das Gericht damit begründet, daß die Formulierung außerordentlich scharf gewesen und nicht im Rahmen eines Meinungsstreits zur politischen Meinungsbildung, sondern aus Protest gegen die Anwesenheit eines Bundeswehrstandes auf einer Sportschau erfolgt sei. Indessen hängt die Frage, ob eine Äußerung einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung darstellt, nicht davon ab, ob sie auf einer Veranstaltung zur politischen Bildung fällt. Vielmehr kann gerade auch ein vermeintlich unpolitischer Kontext zur Aufdeckung seiner politischen Implikationen genutzt werden. b)  Das Landgericht hat in der Äußerung eine Gleichsetzung von Soldaten mit Mördern erblickt und den Begriff des Mörders durch die Tötung aus besonders verwerflicher Gesinnung charakterisiert, die bei Soldaten fehle, weil diese nur zur Abwehr eines Aggressors tätig werden dürften und die dabei vorkommenden Tötungen rechtmäßig seien. Ob die Äußerung auch



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einen anderen Sinn haben konnte, hat es nicht erwogen und auch nicht auf das zusammen mit dem Zeigen des Transparents verteilte Flugblatt abge­ stellt, das geeignet gewesen wäre, den Sinn der Transparentaufschrift näher zu erhellen. Aus welchem Grund trotz der alle Soldaten erfassenden Transparentauf­ schrift gerade die Bundeswehr-Soldaten gemeint waren, hat das Gericht nicht weiter dargelegt. Eine Abwägung zwischen den Belangen der Meinungsfreiheit und des Ehrenschutzes hat es unterlassen, weil es in dem Transparent eine Schmäh­ kritik gesehen hat. Bei der Transparentaufschrift habe nicht die Auseinan­ dersetzung in der Sache, nämlich die Verbreitung pazifistischen Gedanken­ guts, sondern die Diffamierung der Soldaten im Vordergrund gestanden. Zur Begründung hat das Gericht lediglich darauf verwiesen, daß es sich um eine schwere Kränkung handele. Auf das zugleich verteilte Flugblatt ist es nicht eingegangen. Das reicht zur Begründung von Schmähkritik aber nicht aus. c)  Der Beschluß des Bayerischen Obersten Landesgerichts ist aus densel­ ben Gründen wie das Berufungsurteil zu beanstanden. VI. In keinem der vier Fälle ist auszuschließen, daß die Gerichte, wenn sie naheliegende anderweitige Deutungsmöglichkeiten der Äußerungen erwo­ gen, den Unterschied zwischen einer herabsetzenden Äußerung über alle Soldaten der Welt und die Soldaten der Bundeswehr beachtet und den Be­ griff der Schmähkritik verfassungskonform verwendet hätten, zu anderen Ergebnissen gekommen wären. Die angegriffenen Entscheidungen müssen daher aufgehoben und die Sachen zurückverwiesen werden. Damit werden jedoch weder die Beschwerdeführer freigesprochen noch Kränkungen ein­ zelner Soldaten oder der Angehörigen bestimmter Streitkräfte durch Äuße­ rungen wie „Soldaten sind Mörder“ für zulässig erklärt. Vielmehr müssen die jeweiligen Äußerungen unter Beachtung der dargelegten Anforderungen aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG erneut gewürdigt werden. Diese Entscheidung ist hinsichtlich der Verfassungsbeschwerden zu 1., 3. und 4. mit fünf zu drei Stimmen, hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde zu 2. im Ergebnis einstimmig ergangen.

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Abweichende Meinung der Richterin Dr. Haas zum Beschluß des Ersten Senats vom 10. Oktober 1995 – 1 BvR 1476 / 91 und 102, 221 / 92 (BVerfGE 93, 313) Die Auffassung der Senatsmehrheit, daß die Entscheidungen des Baye­ rischen Obersten Landesgerichts und des Oberlandesgerichts Koblenz sowie die Urteile der Landgerichte als der letztinstanzlichen Tatsachengerichte verfassungswidrig sind, teile ich nicht. Das Grundrecht der Beschwerdefüh­ rer aus Art. 5 Abs. 1 GG ist nicht verletzt. Die Freiheit der Meinungsäuße­ rung findet ihre Schranke im Recht der persönlichen Ehre. 1.  Zutreffend haben die Gerichte der Ausgangsverfahren auf der Grund­ lage der von ihnen getroffenen Feststellungen den Sachverhalt rechtlich dahin gewürdigt, daß die Äußerung „Soldaten sind Mörder“ bzw. „Soldaten sind potentielle Mörder“ ein Unwerturteil über Soldaten der Bundeswehr enthält, das einer anderen als der von ihnen gegebenen Deutung bei Berück­ sichtigung des umgangssprachlichen Gehalts des Ausdrucks nicht zugäng­ lich ist. Dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Grundsätzlich gilt: Die Aufklärung und Würdigung des Sachverhalts ob­ liegt den Fachgerichten. Das Bundesverfassungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, daß gerichtliche Entscheidungen im Verfahren der Verfassungsbeschwerde nur in engen Grenzen nachgeprüft werden kön­ nen, daß insbesondere die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, aber auch die Auslegung einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall allein Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und seiner Nachprüfung entzogen sind (so bereits BVerfGE 18, 85 [92 f.]; 22, 93 [99 f.]; 30, 173 [196 f.]; 42, 143 [148]; 76, 143 [161]; 82, 6 [11]; 89, 276 [285]). Unter Betonung seiner besonderen Funktion und Stellung im Ver­ hältnis zu anderen Trägern der rechtsprechenden Gewalt hat das Bundesver­ fassungsgericht von jeher Wert darauf gelegt, daß es selbst dann nicht seine Aufgabe sein könne, seine eigene Wertung der Umstände des Einzelfalls nach Art eines Rechtsmittelgerichts (vgl. BVerfGE 30, 173 [197]) an die Stelle derjenigen des zuständigen Richters zu setzen, wenn die verfassungs­ rechtliche Beurteilung maßgeblich von der Bewertung der festgestellten Umstände abhängt (vgl. BVerfGE 22, 93 [97 f.]).  Soweit der Senat bei der Auslegung von Äußerungen einen anderen Prü­ fungsmaßstab anlegt, bisweilen sogar die „volle“ verfassungsgerichtliche Nachprüfung (vgl. BVerfGE 42, 143 [149]) beansprucht oder die Forderung erhebt, der Tatrichter müsse unter mehreren möglichen Deutungen eine „überzeugend“ (vgl. BVerfGE 82, 272 [280 f.] m. w. N.; 86, 122 [129]) oder „schlüssig“ (so auch die Senatsmehrheit, Umdruck, S. 43) begründete Aus­ wahl treffen, vermag ich dem nicht zu folgen. Die „Überzeugung“ (wessen?)



Abweichende Meinung Haas81

ist kein verfassungsrechtlicher Maßstab; „Schlüssigkeit“ kann bei der Wür­ digung von Erklärungen nicht verlangt werden, weil das Verständnis seinen eigenen Gesetzen, nicht ohne weiteres denen der Logik folgt (vgl. Gerhard Herdegen, NJW 1994, 2933). Letztlich hat der weitere Prüfungsmaßstab dazu geführt, daß das Bundesverfassungsgericht die tatrichterliche Deu­ tungskompetenz weitgehend für sich beansprucht und in Entscheidungs­ spielräume eingreift, die der sachnäheren Fachgerichtsbarkeit mit ihren spezifischen Aufklärungsmöglichkeiten, zumal auch ihren Erkenntnismög­ lichkeiten in der mündlichen Verhandlung, vorbehalten sind. Dies stößt in zunehmendem Maße auf Kritik (vgl. Bertrams, DVBl. 1991, S. 1226; Hill­ gruber / Schemmer, JZ 1992, S. 949; Kiesel, NVwZ 1992, S. 1131; Isensee, AfP 1993, S. 629; Sendler, NJW 1993, S. 2157 f.; Herdegen, NJW 1994, S. 2934; Krey, JR 1995, S. 226 f.; Ossenbühl, JZ 1995, S. 640; Tröndle, in: Dreher  /  Tröndle, Strafgesetzbuch, 47. Aufl. [1995], Rn. 14 d zu § 193; Campbell, NStZ 1995, S. 328; s. auch OLG Bamberg, NStZ 1994, S. 406). Welche Besonderheiten hier eine eingehendere Prüfung rechtfertigen oder gar gebieten könnten, ist nicht erkennbar. Die Tatsache, daß vom Ergebnis der Sachverhaltswürdigung die verfassungsrechtliche Beurteilung unter dem Blickwinkel des Art. 5 Abs. 1 GG abhängt, genügt als solche jedenfalls nicht; sie gilt für andere Grundrechte in gleicher Weise. Hier wie dort muß sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle auf Verstöße gegen spezifisches Verfassungsrecht beschränken. Die Verfassungsbeschwerde eröffnet dem Bundesverfassungsgericht zwar die Prüfung, ob die für die Auslegung be­ deutsamen Umstände vom Gericht zur Kenntnis genommen, erwogen und unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Vorgaben gewichtet worden sind. Ob der Fachrichter den Sinn einer mehrdeutigen Äußerung in jeder Hinsicht zutreffend gedeutet hat, ist hingegen keine Frage des Verfassungs­ rechts. Die Auffassung der Senatsmehrheit, daß das Bundesverfassungsge­ richt gleichwohl prüfen kann, ob alle von ihm als denkbar erkannten Deu­ tungsmöglichkeiten vom Fachgericht ebenfalls erwogen worden sind, teile ich daher nicht. 2. Wenn die Fachgerichte in Rücksicht auf die von ihnen getroffenen Tatsachenfeststellungen dem Begriff „Mörder“ den Sinn eines Unwerturteils von erheblichem Gewicht beilegen, so leuchtet das unmittelbar ein. Auch auf der Grundlage der Auffassung der Senatsmehrheit ist diese Auslegung nicht zu beanstanden. In der Umgangssprache wird mit dem Wort „Mörder“ ein besonders negativ herausgehobener Verbrechertyp assoziiert. Mörder bilden die verabscheuungswürdigste Täterkategorie. Eine andere Deutung, die dem Vorwurf, ein Mörder zu sein, den zutiefst ehrverletzenden Gehalt nehmen könnte, ist nicht ersichtlich. Auch die Senatsmehrheit zeigt eine solche Deutungsvariante, die dem Verständnis des objektiven, unvoreinge­ nommenen Betrachters nahegebracht werden könnte, nicht auf. Daß das

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3. Kollektivbeleidigung von Soldaten

Wort „murder“ (= Mord) im Verfahren 1 BvR 1476 / 91 die Aussage vermit­ telt, der Soldat sei Täter und Opfer zugleich, erscheint kaum wahrscheinlich; wäre aber im übrigen auch unerheblich, weil diese Auslegung ebenfalls Soldaten mit Mördern gleichsetzt (so zutreffend: Herdegen, a. a. O., S. 2934). Der Gesamtzusammenhang schließlich, in dem die Äußerung jeweils steht, erlaubt gleichfalls keine andere Deutung. So erfährt im Falle der Beschwer­ deführerin im Verfahren 1 BvR 221 / 92 die diskriminierende Aussage des weithin sichtbaren Transparents für einzelne Flugblattleser keine Abschwä­ chung. Ungeachtet dessen kommt hier eine den Flugblattext berücksichti­ gende Deutung ohnehin schon deshalb nicht in Betracht, weil das Fachge­ richt nicht festgestellt hat und nach aller Lebenserfahrung auch nicht fest­ stellen kann, daß alle Betrachter des Transparents auch den Flugblattext zur Kenntnis genommen hätten. Denn ein von ihm nicht festgestellter Sachver­ halt eröffnet dem Fachgericht auch keine Deutungsalternative. Für die Deutung des Begriffs „Mörder“ ist schließlich auch unerheblich, was der Äußernde sagen wollte, solange dies keinen Ausdruck in der Äu­ ßerung gefunden hat. In Frage steht zunächst nur, was er tatsächlich gesagt hat; entscheidend ist der objektive Sinn, wie die Äußerung für den Durch­ schnittsbetrachter in der Lage des Äußerungsempfängers im Zeitpunkt der Aufnahme zu verstehen war. Deshalb kann die mögliche Absicht der Be­ schwerdeführer, durch die Wortwahl bei den Betroffenen das Bewußtsein persönlicher Verantwortlichkeit zu wecken, entgegen der Auffassung der Senatsmehrheit (vgl. Bl. 47 des Umdrucks) die Sinnhaftigkeit der Äußerung nicht beeinflussen; denn an Inhalt und Sinn des gewählten Wortes ändert dies nichts. Überdies hätte die Berücksichtigung einer derartigen Absicht zur Voraussetzung, daß das Fachgericht entsprechende Feststellungen über­ haupt getroffen hat; daran fehlt es etwa im Verfahren 1 BvR 102 / 92. 3. Auf der Grundlage des von ihnen festgestellten Sachverhalts, wonach die ehrverletzende Äußerung sich ausdrücklich oder aus dem Gesamtzusam­ menhang ersichtlich auf Soldaten der Bundeswehr bezog, konnten die Ge­ richte auch bejahen, daß die Soldaten der Bundeswehr und damit jeder einzelne Angehörige der Streitkräfte Adressat der Äußerung war. Inwieweit den Ausführungen der Senatsmehrheit zur Kollektivbeleidigung gefolgt werden kann, kann hier dahinstehen. Bedenken bestehen bereits insoweit, als die Senatsmehrheit die zustimmend zitierte Entscheidung des Bundesge­ richtshofs (BGHSt 36, 83 [87]) dahin versteht, daß ein bei allen Angehöri­ gen der Gruppe vorliegendes Merkmal zusätzlich noch zum Kriterium der Überschaubarkeit der Gruppe hinzutreten muß. 4. Die Meinungsäußerungen der Beschwerdeführer werden auch nicht mehr von dem unter dem Schrankenvorbehalt des Rechts der persönlichen Ehre stehenden Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 GG) ge­



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deckt. Daß die angegriffenen Entscheidungen insoweit die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts verkannt hätten, ist nicht ersichtlich. Die Fachgerichte haben die herabsetzende Gleichstellung von Soldaten und Mördern als Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG), nicht aber als Verletzung der Menschen­ würde (Art. 1 Abs. 1 GG) gewürdigt; obwohl zu erwägen wäre, ob der Vorwurf, ein Mörder zu sein, nicht den sittlichen Wert des Einzelnen in Frage stellt und mithin auf das Wesen des so Angesprochenen schlechthin durchgreift. Jedenfalls haben die Fachgerichte die zwischen Meinungsfrei­ heit und Ehrenschutz bestehende Spannungslage in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise aufgelöst. Nach der Rechtsprechung des Bundesver­ fassungsgerichts tritt in Fällen der Schmähkritik die Meinungsfreiheit regel­ mäßig hinter den Ehrenschutz zurück (BVerfGE 82, 43 [51] m. w. N.). Schmähkritik ist stets anzunehmen, wenn die herabsetzende Äußerung im Vordergrund steht. Danach kann allein schon das Vorhandensein eines Sach­ bezugs, soweit er als solcher überhaupt den die Äußerung wahrnehmenden Personen erkennbar ist, den Vorwurf der Schmähkritik nicht ausräumen (OLG Bamberg, NStZ 1994, S. 406). Bei der ihnen zukommenden Abwä­ gung aller Umstände des Einzelfalls in tatsächlicher Hinsicht sind die Fach­ gerichte zu dem Ergebnis gelangt, daß die Schmähung der Soldaten das übrige Geschehen in einer Weise dominiert, daß ein etwa gleichfalls zum Ausdruck gebrachtes sachliches Anliegen zurücktritt. Wenn – wie im Fall des Beschwerdeführers im Verfahren 1 BvR 1476 / 91 – mangels jeglichen über den ehrverletzenden Wortlaut des Transparents hinausgehenden Zu­ satzes ein bestimmtes oder auch nur bestimmbares Sachanliegen für den vorbeifahrenden Betrachter nicht erkennbar wird, versteht sich dies von selbst und bedarf keiner besonderen Begründung mehr. Auch in den beiden anderen Verfahren ist die von den Fachgerichten vorgenommene Abwägung unter diesem Gesichtspunkt nicht zu beanstanden. Das Grundgesetz hat nicht von ungefähr als Schranke der Meinungsfrei­ heit ausdrücklich das Recht auf persönliche Ehre genannt. Auch ohne diese besondere Heraushebung käme dem Recht auf persönliche Ehre als Aus­ druck der Persönlichkeit und als Ausfluß der Menschenwürde, die zu schüt­ zen und zu achten Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist (Art. 1 Abs. 1 GG) schrankensetzende Bedeutung zu, und das insbesondere auch bei Äu­ ßerungen in der Öffentlichkeit. Dem Verfassungsgeber genügte dies nicht. Sein Anliegen war, mit der im Grundgesetz verankerten Begrenzung der Meinungsfreiheit nachdrücklich einer Ausuferung des politischen Meinungs­ kampfes in den persönlichen Bereich hinein entgegenzuwirken. Weil der bisherige Ehrenschutz vor dem Hintergrund der vor allem in der Zeit der Weimarer Republik gemachten Erfahrungen (vgl. Ernst Rudolf Huber, Deut­ sche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VII [1984], S. 534 f., 544 [Mag­

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3. Kollektivbeleidigung von Soldaten

deburger Prozeß des Reichspräsidenten]) allerseits als ungenügend angese­ hen wurde, wurde im Jahre 1949 das Recht der persönlichen Ehre als aus­ drückliche Schranke der Meinungsfreiheit in das Grundgesetz aufgenommen und damit eine Grundlage für einen Ehrenschutz geschaffen, der diesen Namen verdient (vgl. H. von Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 1953, S. 67). Dieser „Ehrenschutz“ ist bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates von Anfang bis Ende unumstritten gewesen (vgl. JöR n. F. Bd. 1 [1951], S. 79 f.). Was damals selbstverständlich war, verdient auch heute noch Beachtung. Der Verzicht auf persönliche Diffamierungen im politi­ schen Meinungsbildungsprozeß kann diesen nur befördern, indem er die politische Streitkultur hebt. Für öffentliche Äußerungen mit Bezug auf die Angehörigen der deutschen Streitkräfte muß dies um so mehr deshalb gelten, als die Soldaten verpflich­ tet sind, den verfassungsrechtlich vorgegebenen Verteidigungsauftrag nach besten Kräften zu erfüllen. Sie setzen ihr Leben ein, um von der Zivilbe­ völkerung die Greuel des Krieges fernzuhalten und deren Leben und nicht zuletzt auch das derjenigen zu schützen, die ihr Tun geringschätzen und sie in der Öffentlichkeit verächtlich machen. Eine Rechtsordnung, die junge Männer zum Waffendienst verpflichtet und von ihnen Gehorsam verlangt, muß denjenigen, die diesen Pflichten genügen, Schutz gewähren, wenn sie wegen dieses Soldatendienstes geschmäht und öffentlich als Mörder be­ zeichnet werden. Dabei geht es nicht um die Konstruktion einer besonderen „Soldatenehre“. Es geht um die schlichte Selbstverständlichkeit, daß die Verfassung, will sie ihre Glaubwürdigkeit nicht verlieren, diejenigen nicht schutzlos stellen darf, die ihre Gebote befolgen und (ausschließlich) gerade deshalb angegriffen werden. Die Wechselbeziehung zwischen Schutz und Gehorsam gehört zu den elementaren Grundsätzen einer Rechtsordnung. Dies kann und darf nicht unberücksichtigt bleiben.

4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz Urteil des Ersten Senats vom 27. Oktober 1998 – 1 BvR 2306, 2314 / 96, 1108, 1109, 1110 / 97 (BVerfGE 98, 265)1 Amtlicher Leitsatz: 1. Eine Kompetenz des Bundesgesetzgebers kraft Sachzusammenhangs setzt voraus, daß eine ihm zugewiesene Materie verständigerweise nicht geregelt werden kann, ohne daß zugleich eine nicht ausdrücklich zugewie­ sene andere Materie mitgeregelt wird, wenn also das Übergreifen in den Kompetenzbereich der Länder für die Regelung der zugewiesenen Materie unerläßlich ist (so schon BVerfGE 3, 407 [421]). 2.  Der Bund kann von einer Kompetenz kraft Sachzusammenhangs auch durch erkennbaren, absichtsvollen Regelungsverzicht mit Sperrwirkung ge­ genüber den Ländern Gebrauch machen. 3. Da der Bundesgesetzgeber den strafrechtlichen Schutz des ungebore­ nen Lebens nur dann partiell zurücknehmen darf, wenn er an dessen Stelle ein anderes wirksames Schutzkonzept setzt, werden die der ausschließlichen Landesgesetzgebungskompetenz unterfallenden punktuellen Regelungen, die für die Verwirklichung dieses Konzepts unerläßlich sind, von der Bundes­ kompetenz kraft Sachzusammenhangs umfaßt. 4. Das Verfahren der Verfassungsbeschwerde gegen ein Landesgesetz eröffnet im Rahmen der Überprüfung der Gesetzgebungskompetenz des Landes nicht die Kontrolle der materiellen Verfassungsmäßigkeit eines Bun­ desgesetzes, durch das der Bund von seiner den Landesgesetzgeber aus­ schließenden Zuständigkeit Gebrauch macht. 5. Zur Verfassungsmäßigkeit des bayerischen Gesetzes über ergänzende Regelungen zum Schwangerschaftskonfliktgesetz und zur Ausführung des Gesetzes zur Hilfe für Frauen bei Schwangerschaftsabbrüchen in besonde­ ren Fällen (Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz – BaySchwHEG) vom 9. August 1996 (BayGVBl. S. 328). 

1  An der Entscheidung haben mitgewirkt: Vizepräsident Papier, die Richterin Graßhof, die Richter Grimm und Kühling, die Richterinnen Seibert (vor Leistung der Unterschrift aus dem Amt ausgeschieden), Jaeger und Haas sowie der Richter Hömig.

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4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz

Aus den Gründen: A. Die Beschwerdeführer der zur gemeinsamen Verhandlung und Entschei­ dung verbundenen Verfahren sind Ärzte. Sie wenden sich unmittelbar gegen berufsregelnde Vorschriften im bayerischen Gesetz über ergänzende Rege­ lungen zum Schwangerschaftskonfliktgesetz und zur Ausführung des Ge­ setzes zur Hilfe für Frauen bei Schwangerschaftsabbrüchen in besonderen Fällen (Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz – BaySchwHEG) vom 9. August 1996 (BayGVBl. S. 328). Die angegriffenen Vorschriften enthalten ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt für Einrichtungen, in denen Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden, sowie die Voraussetzungen der Erlaubniserteilung und strafrechtliche Sanktionen. Außerdem legen sie eine Grenze hinsichtlich der Einnahmen aus Schwangerschaftsabbrüchen fest (höchstens 25 vom Hundert der Gesamteinnahmen), eröffnen den zu­ ständigen Behörden entsprechende Kontroll- und Überwachungsbefugnisse und regeln besondere ärztliche Pflichten im Zusammenhang mit Schwanger­ schaftsabbrüchen. Der Beschwerdeführer zu 2. greift das Gesetz auch inso­ weit an, als Schwangerschaftsabbrüche nur durch Fachärzte für Frauenheil­ kunde und Geburtshilfe durchgeführt werden dürfen, ohne daß für Ärzte mit langjährigen Erfahrungen in dieser Art von ambulanten Operationen Aus­ nahmen vorgesehen sind. I. 1.  Die den Schwangerschaftsabbruch regelnden Vorschriften sind vielfach geändert und bereits zweimal verfassungsgerichtlicher Kontrolle unterzogen worden. a) […] e) Mit Urteil vom 28. Mai 1993 erklärte das Bundesverfassungsgericht unter anderem § 218a Abs. 1 StGB in der Fassung des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes mit dem Grundgesetz für unvereinbar und nichtig (BVerfGE 88, 203). f) Nach dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat der Bundesgesetzgeber mit dem Schwangeren- und Familienhilfeänderungsge­ setz (SFHÄndG) vom 21. August 1995 (BGBl I S. 1050) den Rechtsbe­ reich novelliert und unter anderem in Art. 1 das Gesetz über Aufklärung, Verhütung, Familienplanung und Beratung vom 27. Juli 1992 (BGBl I S. 1398) in Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG) umbenannt und eben­ so wie das Strafgesetzbuch (Art. 8), die Approbationsordnung für Ärzte (Art. 2), die Gebührenordnung für Ärzte (Art. 3) sowie das Fünfte Buch des Sozialgesetzbuchs – SGB V – (Art. 4) geändert. Als Art. 5 wurde das



Urteil vom 27. Oktober 199887

Gesetz zur Hilfe für Frauen bei Schwangerschaftsabbrüchen in besonderen Fällen erlassen. Das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz beruht auf der Be­ schlußempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Ju­ gend (BTDrucks 13 / 1850), mit der die Gesetzentwürfe der Fraktionen der CDU / CSU (BTDrucks 13 / 285), der SPD (BTDrucks 13 / 27) und der F.D.P. (BTDrucks 13 / 268) durch einen gemeinsamen Änderungsantrag zusammen­ geführt worden waren. Dieser fand die parlamentarische Mehrheit. Bei den parlamentarischen Beratungen und Abstimmungen lagen darüber hinaus Gesetzentwürfe der Fraktion Bündnis 90  /  DIE GRÜNEN (BTDrucks 13 / 402), von Abgeordneten der CDU / CSU (BTDrucks 13 / 395) und von Abgeordneten der PDS (BTDrucks 13 / 397) vor. Außerdem knüpften die Beratungen an Entwürfe aus der 12. Wahlperiode sowie an die Erkenntnisse des Sonderausschusses „Schutz des ungeborenen Lebens“ (vgl. BTDrucks 12 / 6643; 12 / 6669; 12 / 6944; 12 / 7660; 12 / 8609) an, dessen Gesetzentwurf zwar im Bundestag verabschiedet, jedoch in der 12. Wahlperiode nicht mehr Gesetz geworden war. Nach § 218a Abs. 1 StGB ist nunmehr der Tatbestand des strafbaren Schwangerschaftsabbruchs nach § 218 StGB nicht verwirklicht, wenn seit der Empfängnis nicht mehr als 12 Wochen vergangen sind, der Abbruch von einem Arzt vorgenommen wird, die Schwangere den Abbruch verlangt und dem Arzt durch eine Bescheinigung nach § 219 Abs. 2 Satz 2 StGB nach­ gewiesen hat, daß sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat bera­ ten lassen (Beratungsregelung). Bei medizinischer oder kriminologischer Indikation ist der Schwangerschaftsabbruch gemäß § 218a Abs. 2 und 3 StGB unter bestimmten Voraussetzungen nicht rechtswidrig. § 219 StGB regelt Zweck, Inhalt und Formalien der Beratung der Schwan­ geren in einer Not- und Konfliktlage: § 219 Beratung der Schwangeren in einer Not- und Konfliktlage (1) Die Beratung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens. Sie hat sich von dem Bemühen leiten zu lassen, die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und ihr Perspektiven für ein Leben mit dem Kind zu eröffnen; sie soll ihr helfen, eine verantwortliche und gewissenhafte Entscheidung zu treffen. Dabei muß der Frau bewußt sein, daß das Ungeborene in jedem Stadium der Schwan­ gerschaft auch ihr gegenüber ein eigenes Recht auf Leben hat und daß deshalb nach der Rechtsordnung ein Schwangerschaftsabbruch nur in Ausnahmesituationen in Betracht kommen kann, wenn der Frau durch das Austragen des Kindes eine Belastung erwächst, die so schwer und außergewöhnlich ist, daß sie die zumutba­ re Opfergrenze übersteigt. Die Beratung soll durch Rat und Hilfe dazu beitragen, die in Zusammenhang mit der Schwangerschaft bestehende Konfliktlage zu be­

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4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz

wältigen und einer Notlage abzuhelfen. Das Nähere regelt das Schwangerschafts­ konfliktgesetz. (2) …

Das Schwangerschaftskonfliktgesetz in der Fassung des Art. 1 Nr. 7 SFH­ ÄndG bestimmt dazu: § 5 Inhalt der Schwangerschaftskonfliktberatung (1) … (2)  Die Beratung umfaßt: 1.  das Eintreten in eine Konfliktberatung; dazu wird erwartet, daß die schwange­ re Frau der sie beratenden Person die Gründe mitteilt, derentwegen sie einen Abbruch der Schwangerschaft erwägt; der Beratungscharakter schließt aus, daß die Gesprächs- und Mitwirkungsbereitschaft der schwangeren Frau erzwungen wird; …

Das Schwangerschaftskonfliktgesetz trifft auch Regelungen für Einrich­ tungen zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen: § 13 Einrichtungen zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen (1) Ein Schwangerschaftsabbruch darf nur in einer Einrichtung vorgenommen werden, in der auch die notwendige Nachbehandlung gewährleistet ist. (2) Die Länder stellen ein ausreichendes Angebot ambulanter und stationärer Einrichtungen zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen sicher. § 14 Bußgeldvorschriften (1)  Ordnungswidrig handelt, wer entgegen § 13 Abs. 1 einen Schwangerschaftsab­ bruch vornimmt. (2) Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße bis zu zehntausend Deut­ sche Mark geahndet werden.

Nach wie vor ist niemand verpflichtet, an einem Schwangerschaftsab­ bruch mitzuwirken, soweit nicht die Mitwirkung notwendig ist, um von der Frau eine anders nicht abwendbare Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung abzuwenden (§ 12 SchKG). Über Abbrüche nach § 218a Abs. 1 bis 3 StGB ist eine Bundesstatistik durch das Statistische Bundesamt zu führen (§ 15 SchKG). Im Strafgesetzbuch werden Folgen der Verletzung ärztlicher Pflichten geregelt:



Urteil vom 27. Oktober 199889 § 218c StGB Ärztliche Pflichtverletzung bei einem Schwangerschaftsabbruch (1)  Wer eine Schwangerschaft abbricht, 1.  ohne der Frau Gelegenheit gegeben zu haben, ihm die Gründe für ihr Verlan­ gen nach Abbruch der Schwangerschaft darzulegen, 2. ohne die Schwangere über die Bedeutung des Eingriffs, insbesondere über Ablauf, Folgen, Risiken, mögliche physische und psychische Auswirkungen ärzt­ lich beraten zu haben, 3. ohne sich zuvor in den Fällen des § 218a Abs. 1 und 3 auf Grund ärztlicher Untersuchung von der Dauer der Schwangerschaft überzeugt zu haben oder 4.  obwohl er die Frau in einem Fall des § 218a Abs. 1 nach § 219 beraten hat, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in § 218 mit Strafe bedroht ist. (2)  Die Schwangere ist nicht nach Absatz 1 strafbar.

Hierdurch soll nach der Begründung der Ausschußfassung die Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach Verhaltensanforderungen an den Arzt umgesetzt werden, soweit sie durch Strafrecht und nicht durch Berufsrecht zu regeln seien. Von einer Regelung, die die Mitteilung des Geschlechts des Ungeborenen unter Strafe stellt, sei mangels praktischer Relevanz in Deutschland abgesehen worden. Sollte sich in Zukunft ein Regelungsbedarf ergeben, müsse der Gesetzgeber tätig werden (BTDrucks 13 / 1850, S. 26). Bei den parlamentarischen Beratungen im Bundestag bestand Einigkeit, daß der Kompromißvorschlag der Ausschußfassung des § 218c StGB, der schließlich die parlamentarische Mehrheit fand, keine Verpflichtung der Frau begründete, mit dem Arzt über die Gründe für den Abbruch zu spre­ chen (vgl. BTDrucks 13 / 1850, S. 19 unter 3.; Deutscher Bundestag, 13. WP, Protokoll der 47. Sitzung vom 29. Juni 1995, S. 3759 D, S. 3760 A, S. 3768 D, S. 3769 A, S. 3777 C), weshalb die Regelung von Vertretern des Min­ derheitengesetzentwurfs der CDU  /  CSU beanstandet wurde (BTDrucks 13 / 1850, S. 19 unter 6. und Protokoll, a. a. O., S. 3777 D). Auch für die gesetzliche Krankenversicherung wurden Neuregelungen getroffen. Die Krankenkassen haben bei nicht rechtswidrigen Abbrüchen die Kosten zu tragen, treten jedoch auch bei Abbrüchen nach § 218a Abs. 1 StGB für solche Frauen in Vorleistung, denen die Aufbringung der Mittel hierfür nicht zumutbar ist (vgl. das Gesetz zur Hilfe für Frauen bei Schwan­ gerschaftsabbrüchen in besonderen Fällen vom 21. August 1995 [BGBl I S. 1054], verkündet als Art. 5 SFHÄndG). Für diesen Personenkreis gelten die §§ 24 b, 73 Abs. 2 Nr. 11, 75 Abs. 9, 76 Abs. 1 Satz 1, 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 11 SGB V sowie in Verbindung hiermit die Vereinbarung von Qualitäts­ sicherungsmaßnahmen beim ambulanten Operieren gemäß § 14 des Ver­ trages nach § 115 b Abs. 1 SGB V zwischen den Spitzenverbänden der

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4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz

Krankenkassen und der Deutschen Krankenhausgesellschaft sowie der Kas­ senärztlichen Bundesvereinigung vom 13. Juni 1994, geändert durch Vertrag vom 10. November 1995 (Deutsches Ärzteblatt 1994, A-2124; 1995, A-3648). Zu den ambulanten Operationen und Anästhesien gehören auch Schwangerschaftsabbrüche (vgl. Abschnitt B.X.3., Nr. 195, 197, 198 des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes für die ärztlichen Leistungen, abge­ druckt in Hoffmann / Otto [Hrsg.], Soziale Gesetzgebung und Praxis, Gebüh­ ren- und Vertragsrecht – Ärzte, Teil 2), die grundsätzlich nur Fachärzte vornehmen dürfen, wobei allerdings Ausnahmen für solche Ärzte vorgese­ hen sind, die bereits vor Inkrafttreten der Vereinbarung die Leistungen durchgeführt und abgerechnet haben und weiterhin die baulichen, apparativtechnischen, hygienischen und sonstigen personellen Voraussetzungen erfül­ len (§ 9 Abs. 3 Satz 2 bis 7 und Abs. 4 der Qualitätssicherungsvereinbarung). Auch § 135 Abs. 2 Satz 3 SGB V in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Neuordnung von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in der gesetz­ lichen Krankenversicherung (2. GKV-Neuordnungsgesetz – 2. GKV-NOG) vom 23. Juni 1997 (BGBl I S. 1520) enthält eine entsprechende Klausel bei Einführung neuer Qualifikationen. 2.  Das ärztliche Berufsrecht hat seine Grundlage in der Bundesärzteord­ nung vom 2. Oktober 1961 (BGBl I S. 1857; im folgenden: BÄO) in der Fassung vom 16. April 1987 (BGBl I S. 1218), zuletzt geändert durch Ge­ setz vom 27. April 1993 (BGBl I S. 512, geändert durch das Gesetz vom 27. September 1993 [BGBl I S. 1666]). Ärzte erhalten danach zur uneinge­ schränkten Ausübung der Heilkunde am Menschen unter der Bezeichnung „Arzt“ die Approbation. Die Bundesärzteordnung enthält zugleich die Er­ mächtigungsgrundlage für die Approbationsordnung (§ 4 Abs. 1 BÄO) und die Gebührenordnung (§ 11 BÄO). Durch Art. 2 SFHÄndG wurde die Approbationsordnung für Ärzte in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. Juli 1987 (BGBl I S. 1593; im fol­ genden: ÄAppO) dahingehend geändert, daß zum Prüfungsstoff für den zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung auch die Beratung und Beurtei­ lung in Konfliktsituationen, insbesondere medizinische, rechtliche und ethi­ sche Aspekte des Schwangerschaftsabbruchs, gehören (Abschnitt II und IV der Anlage 16 zu § 29 Abs. 2 Satz 2 ÄAppO). Die durch Art. 3 SFHÄndG geänderte Gebührenordnung der Ärzte sieht für Schwangerschaftsabbrüche nach § 218a Abs. 1 StGB eine Begrenzung bis zum 1,8fachen des Gebüh­ rensatzes vor; Honorarvereinbarungen für damit zusammenhängende ärzt­ liche Leistungen sind ausgeschlossen (§ 2 Abs. 1 Satz 2, § 5 a der Gebüh­ renordnung für Ärzte [GOÄ] in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. Februar 1996 [BGBl I S. 210]). 3. In Bayern wird die ärztliche Berufsausübung im Gesetz über die ­Berufsausübung, die Berufsvertretungen und die Berufsgerichtsbarkeit der



Urteil vom 27. Oktober 199891

Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte und Apotheker (Heilberufe-Kammergesetz – HKaG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. Juli 1994 (BayGV­ Bl. S. 853) geregelt. Danach sind die Ärzte verpflichtet, ihren Beruf gewis­ senhaft auszuüben, insbesondere sich im fachlichen Rahmen ihrer Berufs­ ausübung fortzubilden, sich dabei über die für ihre Berufsausübung geltenden Bestimmungen zu unterrichten und über in Ausübung ihres Berufes ge­ machte Feststellungen und getroffene Maßnahmen Aufzeichnungen zu ferti­ gen. Bei einem Verstoß gegen ärztliche Berufspflichten sieht das Heilbe­ rufe- Kammergesetz unter anderem als Sanktionen die Rüge, den Verweis und Geldbußen (bis 100.000 DM) vor. Weitere Vorschriften über die Berufspflichten enthalten die auf dieser Ermächtigungsgrundlage von der Landesärztekammer erlassene Berufsord­ nung für die Ärzte Bayerns (im folgenden: BayBO, Neufassung vom 1. Ja­ nuar 1994, zuletzt geändert am 12. Oktober 1997 [Bayerisches Ärzteblatt 11 / 1997, S. 389]), sowie die Weiterbildungsordnung für die Ärzte Bayerns vom 18. Oktober 1992 (Bayerisches Ärzteblatt 9 / 1993, S. 1). Danach sind die Ärzte verpflichtet, sich über die für ihre Berufsausübung geltenden Vorschriften zu unterrichten und diese zu beachten sowie ärztliche Aufzeichnungen zu fertigen und aufzubewahren. Sie haben die von der Kammer festgelegten Grundsätze korrekter Berufsausübung zu berücksich­ tigen, zu denen auch die Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst gehört. Die Ärzte sind verpflichtet, an den von der Kammer eingeführten Maßnahmen zur Sicherung der Qualität der ärztlichen Tätigkeit teilzuneh­ men. Bei speziellen medizinischen Maßnahmen oder Verfahren, die ethische Probleme aufwerfen und zu denen die Kammer Empfehlungen festgelegt hat, haben sie diese Empfehlungen – auch im Hinblick auf die persönlichen und sachlichen Voraussetzungen – zu beachten. Unter der Überschrift „Er­ haltung des ungeborenen Lebens“ bestimmt Kapitel B § 14 BayBO in Übereinstimmung mit den Berufsordnungen der anderen Länder, daß der Arzt grundsätzlich verpflichtet ist, das ungeborene Leben zu erhalten, daß der Schwangerschaftsabbruch den gesetzlichen Bestimmungen unterliegt und daß der Arzt nicht gegen sein Gewissen gezwungen werden kann, einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Die Weiterbildungsordnung regelt die Voraussetzungen für die Anerken­ nung als Facharzt, die an den Erwerb und den Nachweis eingehender Kenntnisse und Erfahrungen gebunden ist – auch in instrumentellen, appa­ rativen, operativen und invasiven Untersuchungs- und Operationsmethoden sowie in der Prävention, Diagnostik, konservativen und operativen Therapie gynäkologischer Erkrankungen aller Altersstufen, einschließlich der gebiets­ bezogenen Sonographie und der Deutung gynäkologischer Röntgenaufnah­ men. Für das ambulante Operieren hat die Bayerische Landesärztekammer keine Richtlinien erlassen und auch die Richtlinie der Bundesärztekammer

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4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz

nicht übernommen. Die Ankündigung „Ambulante Operationen“ oder „Am­ bulantes Operieren“ auf dem ärztlichen Praxisschild setzt aber nach der Verwaltungspraxis gemäß Kapitel D Nr. 2 Abs. 5 BayBO und dem hier angebrachten Verweis auf Qualitätssicherungsmaßnahmen inhaltlich voraus, daß die für die vertragsärztliche Versorgung geltenden Qualitätssicherungs­ vereinbarungen erfüllt werden. In Kapitel D Nr. 2 Abs. 6 BayBO sind darü­ ber hinaus die Voraussetzungen für die Ankündigung „Praxisklinik“ mit Regelungen zu apparativen und personellen Anforderungen enthalten, die ebenfalls auf die anerkannten Qualitätssicherungsregeln des Vertragsarzt­ rechts Bezug nehmen. II. Die mit den Verfassungsbeschwerden angegriffenen Regelungen des Art. 2, Art. 3, Art. 5 Abs. 1 bis 4, Art. 8, Art. 9 und Art. 10 BaySchwHEG betreffen Einrichtungen, in denen Schwangerschaftsabbrüche von einem Arzt mit Einwilligung der Schwangeren vorgenommen werden. Sie gelten grundsätzlich nicht für Abbrüche, die notwendig sind, um von der Frau eine anders nicht abwendbare Gefahr des Todes oder einer schweren Ge­ sundheitsschädigung abzuwenden, und deren Vornahme deshalb von Ärzten gemäß § 12 Abs. 2 SchKG nicht verweigert werden darf (Art. 1 Abs. 1). Einrichtungen in diesem Sinne sind Krankenhäuser, Krankenanstalten im Sinne des § 30 GewO und ärztliche Praxen (Art. 1 Abs. 2). Nehmen nieder­ gelassene Ärzte Schwangerschaftsabbrüche in anderen Einrichtungen vor, gelten diese Einrichtungen insoweit als Teil der Praxis dieser Ärzte. Räum­ lichkeiten, in denen Krankenhausärzte auf eigene Rechnung Schwanger­ schaftsabbrüche vornehmen, gelten ebenfalls als selbständige Einrichtungen (Art. 1 Abs. 3). Sonderregelungen bestehen für staatliche Krankenhäuser einschließlich Hochschulkliniken (Art. 1 Abs. 2 Satz 2). Nach Art. 2, Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BaySchwHEG dürfen Schwangerschafts­ abbrüche nur in Einrichtungen vorgenommen werden, denen eine Erlaubnis durch die Regierung erteilt wurde; bei bestimmten Krankenhäusern genügt es, daß sie ihre Bereitschaft hierzu angezeigt haben. Diese Vorschriften lauten: Art. 2 Zugelassene Einrichtungen Schwangerschaftsabbrüche dürfen nur in Einrichtungen nach Erteilung der Erlaub­ nis gemäß Art. 3 oder nach Erstattung der Anzeige gemäß Art. 4 vorgenommen werden. Die Träger, Inhaber und ärztlichen Leiter von Einrichtungen haben dafür Sorge zu tragen, daß dieses Verbot in der Einrichtung eingehalten wird.



Urteil vom 27. Oktober 199893 Art. 3 Erlaubnispflichtige Einrichtungen (1) Einrichtungen bedürfen zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen der Erlaubnis durch die Regierung, es sei denn, sie sind im Krankenhausplan mit der Fachrichtung „Gynäkologie und Geburtshilfe“ aufgenommen oder sie werden von einem öffentlich-rechtlichen Träger in einer Rechtsform des öffentlichen oder privaten Rechts betrieben; das gleiche gilt bei Beteiligung eines öffentlich-recht­ lichen Trägers an einem in einer Rechtsform des privaten Rechts geführten Kran­ kenhaus, wenn der überwiegende Einfluß des öffentlich-rechtlichen Trägers insbe­ sondere durch seine Mehrheit am Grundkapital oder durch sein Stimmrecht oder durch die rechtlichen oder organisatorischen Verhältnisse sichergestellt ist.

Auf schriftlichen Antrag wird die Erlaubnis erteilt, wenn nachgewiesen ist, daß die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 1 Satz 3 BaySchwHEG erfüllt sind. Die Vorschrift lautet: Art. 3 Erlaubnispflichtige Einrichtungen (1)  … Sie wird erteilt, wenn nachgewiesen ist, daß in der Einrichtung 1.  die Anforderungen des § 13 Abs. 1 SchKG erfüllt sind, 2. Ärzte mit fachärztlicher Anerkennung auf dem Gebiet „Frauenheilkunde und Geburtshilfe“, die die Anforderungen nach Art. 5 Abs. 5 Satz 1 erfüllen, und das erforderliche, fachlich geeignete Assistenzpersonal zur Verfügung stehen, 3. die Versorgung durch Ärzte mit fachärztlicher Anerkennung auf dem Gebiet „Anästhesiologie“ sichergestellt ist, sofern ein Schwangerschaftsabbruch in Allge­ meinnarkose durchgeführt wird, 4.  eine ausreichende Notfallintervention möglich ist, 5. Räumlichkeiten in einer Beschaffenheit vorhanden sind, daß der Schwanger­ schaftsabbruch nach den Regeln der ärztlichen Kunst, den Anforderungen der Hygiene und ohne sonstige Gefährdung der Schwangeren durchgeführt werden kann, 6. die zur Feststellung des Alters der Schwangerschaft erforderliche Geräteaus­ stattung vorhanden ist und wenn der Träger oder Inhaber der Einrichtung die Gewähr dafür bietet, daß die Rechtspflichten bei der Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen einschließ­ lich der Pflichten nach Art. 5 eingehalten werden.

An diese Vorschrift knüpft Art. 8 BaySchwHEG an, der den Widerruf der Erlaubnis und die Untersagung und Unterbindung von Abbrüchen regelt. Gemäß Art. 5 Abs. 1 BaySchwHEG dürfen Schwangerschaftsabbrüche nur von Ärzten mit fachärztlicher Anerkennung auf dem Gebiet der Frauen­ heilkunde und Gynäkologie oder unter deren Aufsicht von Ärzten vorge­ nommen werden, die sich in Weiterbildung auf diesem Fachgebiet befinden. Die Vorschrift lautet:

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4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz Art. 5 Pflichten der Einrichtungen

(1) Schwangerschaftsabbrüche sind nach den anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst vorzunehmen; sie dürfen nur von den in Art. 3 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 bezeich­ neten Ärzte oder unter deren verantwortlicher Aufsicht von Ärzten vorgenommen werden, die sich in Weiterbildung auf dem entsprechenden Fachgebiet befinden.

Die Einnahmen der Einrichtung aus Schwangerschaftsabbrüchen, für die keine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung besteht, dürfen gemäß Art. 5 Abs. 2 BaySchwHEG ein Viertel der aus der gesamten Tätig­ keit der Einrichtung erzielten Einnahmen nicht übersteigen. Hierzu gehören Schwangerschaftsabbrüche nach § 218a Abs. 1 StGB sowie alle Abbrüche, die die Schwangere selbst zahlt oder die bei Mittellosigkeit von öffentlichen Trägern übernommen werden. Die Vorschrift lautet: (2) Die Einnahmen aus den in der Einrichtung je Kalenderjahr vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüchen, für deren Vornahme die Einrichtung einen Zahlungs­ anspruch gegen die Schwangere selbst hat oder die sie nach dem Gesetz zur Hilfe für Frauen bei Schwangerschaftsabbrüchen in besonderen Fällen vom 21. August 1995 (BGBl I S. 1054) abrechnet, dürfen ein Viertel der aus der ge­ samten Tätigkeit der Einrichtung erzielten Einnahmen nicht übersteigen. Die Vergütung der ambulant in stationären Einrichtungen (Art. 1 Abs. 2) vorgenom­ menen Schwangerschaftsabbrüche, bei denen die Voraussetzungen des § 218a Abs. 1 StGB vorliegen, bestimmt sich, soweit nicht das Gesetz zur Hilfe für Frauen bei Schwangerschaftsabbrüchen in besonderen Fällen Anwendung findet, nach der jeweils geltenden Fassung der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) unter Beachtung der Beschränkungen nach § 2 Abs. 1 und § 5 a GOÄ.

Nach Art. 5 Abs. 3 BaySchwHEG hat die Einrichtung der Regierung bis spätestens 31. März eines jeden Jahres Anzahl und Art der im vorangegan­ genen Jahr vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüche und die vereinnah­ mten Vergütungen zu melden, damit die einnahmebezogene Quotenregelung durch Plausibilitätsprüfungen überwacht werden kann. Die Vorschrift lautet: (3)  Die Einrichtung hat der Regierung bis spätestens 31. März eines jeden Jahres und vorbehaltlich der Sätze 3 und 4 1. die Zahl der im vorangegangenen Jahr vorgenommenen Schwangerschaftsab­ brüche, getrennt nach solchen, bei denen die Voraussetzungen a)  des § 218a Abs. 1 StGB, b)  des § 12 Abs. 2 SchKG, c) des § 218a Abs. 2 StGB, ausgenommen die unter Buchstabe b) bezeichneten Fälle, d)  des § 218a Abs. 3 StGB vorliegen und 2. die jeweilige Summe der für diese Schwangerschaftsabbrüche vereinnahmten Vergütungen nach der Gebührenordnung für Ärzte oder nach dem Gesetz zur



Urteil vom 27. Oktober 199895 Hilfe für Frauen bei Schwangerschaftsabbrüchen in besonderen Fällen und der Pflegesätze bei selbstzahlenden oder nach dem genannten Gesetz anspruchsbe­ rechtigten Patientinnen einschließlich der Pflegesätze nach § 24 b Abs. 4 Satz 3 SGB V sowie die Einnahmen für die übrigen, von der Einrichtung in diesem Zeitraum erbrachten Leistungen zu melden. Die Regierungen können für die Mel­ dungen die Verwendung amtlicher Vordrucke vorschreiben. …

Die Überwachung der Einrichtung hinsichtlich der Einhaltung der Anfor­ derungen und Pflichten nach Art. 2 bis 4, Art. 5 Abs. 1, 5 und 6 Bay­ SchwHEG obliegt den Gesundheitsämtern, die Überwachung der Einnahme­ quotierung und der Melde- und Vorlagepflichten nach Art. 5 Abs. 2 bis 4 BaySchwHEG den Regierungen. Die Regierungen unterrichten wegen der Auskunftspflicht der Ärzte für die Bundesstatistik nach § 18 Abs. 3 Nr. 1 SchKG die Bayerische Landes­ ärztekammer und, soweit es sich um Vertragsärzte handelt, auch die Kas­ senärztliche Vereinigung Bayerns (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BaySchwHEG) über die zugelassenen Arztpraxen. Ferner unterrichten die Regierungen zum Zwecke der Durchführung des Gesetzes zur Hilfe für Frauen bei Schwan­ gerschaftsabbrüchen in besonderen Fällen die gesetzlichen Krankenkassen oder ihre Verbände im Freistaat Bayern über die zugelassenen Einrichtungen (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 BaySchwHEG). Wenn der jeweilige Träger oder Inha­ ber der Einrichtung nicht widerspricht, erteilen die Gesundheitsämter und die gesetzlichen Krankenkassen auf Ersuchen Frauen Auskunft über Be­ zeichnung und Anschrift der im Regierungsbezirk zugelassenen Einrich­ tungen (Art. 6 Abs. 3 BaySchwHEG). Das Gesetz enthält in Art. 9 eine Strafnorm zur Ahndung von Verstößen gegen Art. 2, 5 und 8. Die Strafvorschrift lautet: Art. 9 Strafvorschriften (1) Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer entgegen Art. 2 Satz 1 oder entgegen einer vollziehbaren Untersagung nach Art. 8 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 eine Schwangerschaft abbricht, wenn die Tat nicht in § 218 StGB mit Strafe bedroht ist. (2)  Ebenso wird bestraft, wer als Träger, Inhaber oder ärztlicher Leiter von Ein­ richtungen entgegen Art. 2 Satz 2, auch in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2, nicht dafür Sorge trägt, daß Schwangerschaftsabbrüche nicht vorge­ nommen werden, oder entgegen Art. 5 Abs. 1 nicht dafür Sorge trägt, daß Schwan­ gerschaftsabbrüche nur unter den dort genannten Voraussetzungen vorgenommen werden, wenn die Tat nicht in § 218 StGB mit Strafe bedroht ist. (3)  Die Schwangere ist nicht nach Absatz 1 oder 2 strafbar.

Das Bayerische Schwangerenhilfeergänzungsgesetz hat überdies das Heilberufe-Kammergesetz geändert. Danach dürfen Ärzte den Abbruch ei­ ner Schwangerschaft im Einzelfall nicht für verantwortbar halten, wenn die

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4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz

Frau die Beweggründe für ihr Verlangen nach Abbruch der Schwangerschaft nicht darlegt; sie müssen ihre Mitwirkung daran ablehnen. Die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmenden Ärzte trifft deshalb eine besondere Dokumentationspflicht bezüglich der Tatsache, daß die Frau ihre Beweg­ gründe dargelegt hat. Außerdem darf das Geschlecht des ungeborenen Kin­ des innerhalb der ersten 12 Wochen nicht mitgeteilt werden, soweit nicht ein Ausnahmetatbestand vorliegt. Art. 11 Nr. 1 Buchstabe a BaySchwHEG hat folgenden Wortlaut: Art. 11 Änderung des Heilberufe-Kammergesetzes Das Gesetz über die Berufsausübung, die Berufsvertretungen und die Berufsge­ richtsbarkeit der Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte und Apotheker (Heilberufe-Kammer­ gesetz – HKaG –) in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. Juli 1994 ­(GVBl. S. 853, ber. 1995 S. 325, BayRS 2122-3-A), wird wie folgt geändert: 1. Art. 18 wird wie folgt geändert: a)  Es wird folgender neuer Absatz 2 eingefügt: „(2)  Ärzte, die den Abbruch einer Schwangerschaft im Einzelfall für nicht verant­ wortbar halten, müssen ihre Mitwirkung daran ablehnen; nicht verantwortbar ist ihre Mitwirkung insbesondere dann, wenn die Frau die Beweggründe für ihr Verlangen nach Abbruch der Schwangerschaft nicht dargelegt hat. Ferner haben Ärzte es zu unterlassen, einer anderen Person als einem Arzt das Geschlecht eines Ungeborenen mitzuteilen, bevor seit der Empfängnis zwölf Wochen verstrichen sind, wenn nicht die Mitteilung nach ärztlicher Erkenntnis zur Beurteilung der Voraussetzungen des § 218a Abs. 2 StGB oder aus ärztlicher Sicht im Interesse des ungeborenen Lebens geboten ist; sie haben zur Einhaltung dieser Pflicht ihre berufsmäßig tätigen Gehilfen und die Personen anzuhalten, die bei ihnen zur Vorbereitung auf den Beruf tätig sind. Ärzte, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen, haben Aufzeichnungen zu fertigen über 1.  die festgestellte Dauer der Schwangerschaft, 2. die Tatsache, daß die Frau die Beweggründe für ihr Verlangen nach Abbruch der Schwangerschaft dargelegt hat, 3.  die Durchführung der Aufklärung und Beratung über die ärztlich bedeutsamen Gesichtspunkte, insbesondere über Ablauf, Folgen und Risiken sowie über mög­ liche körperliche und seelische Auswirkungen des Abbruchs der Schwangerschaft, 4. die Unterrichtung der Frau über die für die ärztliche Entscheidung maßgeb­ lichen Gesichtspunkte und über den von der Verfassung gebotenen Schutz des ungeborenen Lebens. Außerdem sind von den an einem Schwangerschaftsabbruch mitwirkenden Ärzten, soweit nicht ein Fall des § 218a Abs. 1 StGB vorliegt, die für die ärztliche Er­ kenntnis im Einzelfall maßgeblichen Gesichtspunkte einschließlich der Stellung­ nahmen konsiliarisch beigezogener anderer Fachärzte aufzuzeichnen. Die Sätze 1 bis 4 gelten nicht für Schwangerschaftsabbrüche, bei denen die Voraussetzungen des § 12 Abs. 2 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes vorliegen.“



Urteil vom 27. Oktober 199897

Der Gesetzentwurf verweist zur Begründung auf die Ausführungen im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 (BVerfGE 88, 203 ff.). Der Bundesgesetzgeber sei den Aufträgen des Gerichts – teils man­ gels Gesetzgebungskompetenz – nicht umfassend nachgekommen, so daß der Landesgesetzgeber habe tätig werden müssen. Es sei auch nicht abseh­ bar gewesen, ob und wann die ärztliche Berufsvertretung dem Regelungs­ auftrag nachkommen würde (LTDrucks 13 / 4961, S. 1, 11). III. Etwa ein Jahr nach Verabschiedung des Schwangeren- und Familienhilfe­ änderungsgesetzes des Bundes war das bayerische Gesetzgebungsvorhaben Gegenstand einer Bundestagsdebatte und zweier Entschließungen des ­Deutschen Bundestages (Deutscher Bundestag, 13. WP, 110. Sitzung vom 13. Juni 1996, S. 9747 B bis 9771 B). 1. a) Der Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90 / DIE GRÜ­ NEN (BTDrucks 13 / 4858) war überschrieben: „Unzulässige Verschärfung des Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetzes des Bundes … durch das Bayerische Schwangerenberatungsgesetz und das Bayerische Schwange­ renhilfeergänzungsgesetz.“ In der Begründung wird ausgeführt: „Ebenso sind eine Reihe der in dem Entwurf für ein Bayerisches Schwangeren­ hilfeergänzungsgesetz vorgesehenen Regelungen nicht mit dem bundesrechtlichen Schwangeren- und Familienhilfeergänzungsgesetz vereinbar. Das gilt insbesondere für die Einführung einer Erlaubnispflicht für Einrichtungen, in denen ambulante Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden sollen, und hinsichtlich der Beschränkung der Vornahme von Abbrüchen auf Frauenärzte sowie der Begren­ zung der Einnahmen aus Schwangerschaftsabbrüchen auf 25 Prozent. All dies geht weit über die Anforderungen nach dem SFHÄndG hinaus und ist damit ein klarer Verstoß gegen Bundesrecht.“

Der Antrag war darauf gerichtet, die Bayerische Staatsregierung aufzufor­ dern, die eingebrachten Gesetzentwürfe zurückzuziehen. Der Antrag wurde mit 316 zu 264 Stimmen bei 61 Enthaltungen angenommen (13. WP, 110. Sitzung vom 13. Juni 1996, S. 9765 A). b) Der Antrag der Fraktion der F.D.P. (BTDrucks 13 / 4879) war über­ schrieben: „Verfassungsgebotene Einhaltung des bundeseinheitlichen Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetzes … durch die Bayerische Staatsregierung.“ Zur Begründung wird ausgeführt: „Der bayerische Gesetzentwurf schafft … für die betroffenen Frauen zusätzliche Hürden und erzeugt Druck, wodurch das Ziel der Schwangerenberatung, Hilfe für die Frau in einer schwierigen Konfliktlage durch eine offene und vertrauensvolle Atmosphäre zu geben, gefährdet würde. Mit dem … Bayerische(n) Schwangeren­ hilfeergänzungsgesetz … soll die Arbeit von Einrichtungen zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen durch einen weiteren Erlaubnisvorbehalt besonders

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4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz

erschwert werden. Sieht das Schwangerschaftskonfliktgesetz des Bundes vom 21. August 1995 keine über die Sicherstellung der notwendigen Nachbehandlung hin­ ausgehenden Zulassungsvoraussetzungen vor, macht dieser Entwurf die Erlaubnis für ärztliche Praxen insbesondere davon abhängig, daß nur ein Viertel der aus der gesamten Tätigkeit der Einrichtung gemachten Einnahmen aus vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüchen erzielt werden darf. Damit soll verhindert werden, daß in ärztlichen Praxen, obwohl sie über die notwendige medizinische Ausstat­ tung und die ärztliche Qualifikation verfügen, überwiegend Schwangerschafts­ abbrüche vorgenommen werden. Diese zusätzlichen Beschränkungen bergen die Gefahr in sich, daß betroffene Frauen in einem anderen Bundesland einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen. Der Deutsche Bundestag ist deshalb bereit, die Durchsetzung von Bundesrecht nötigenfalls auf dem Rechtswege zu erzwingen.“

Der Antrag war darauf gerichtet, daß der Bundestag folgendes beschlie­ ßen möge: „Die Gesetzgebungsvorhaben der Bayerischen Staatsregierung zum Schwangerenund Familienhilfeänderungsgesetz des Bundes verstoßen gegen Bundesrecht. Der Deutsche Bundestag hält den nach vielen Anläufen über die Grenzen aller Frak­ tionen hinweg erreichten Kompromiß bei der Ausgestaltung des § 218 StGB für einen wichtigen Gewinn an Rechtsfrieden in unserem Land. Er appelliert eindring­ lich an die Bayerische Staatsregierung, im Interesse der Frauen und des Schutzes des ungeborenen Lebens zu dem breiten politischen Konsens, wie er im Schwan­ geren- und Familienhilfeänderungsgesetz des Bundes vom 21. August 1995 seinen Niederschlag gefunden hat, zurückzukehren und die bereits eingebrachten Ge­ setzentwürfe nicht weiter zu verfolgen.“

Dieser Antrag wurde mit 348 zu 250 Stimmen bei 40 Enthaltungen ange­ nommen (13. WP, 110. Sitzung vom 13. Juni 1996, S. 9769 A). 2. Im Rahmen der parlamentarischen Debatte über diese Anträge in der 110. Sitzung der 13. Wahlperiode am 13. Juni 1996 stellte Bundesjustizmi­ nister Schmidt-Jortzig, der als Abgeordneter sprach, auf Nachfrage des Abgeordneten Göhner, der sich auf die von ihm selbst bejahte bayerische Gesetzgebungskompetenz für die Einnahmequotierung und bestätigende frühere Äußerungen aus dem Bundesjustizministerium bezog, fest: „Es geht mir darum, ob es dem bayerischen Gesetzgeber an diesem Punkt erlaubt ist, mit einem eigenen Entwurf, mit einer eigenen Regelung gegenüber der des Bundesgesetzgebers aktiv zu werden. Ich glaube nicht, daß das geht; denn in Art. 72 des Grundgesetzes steht nun einmal: Die Länder haben Gesetzge­ bungszuständigkeit nur, soweit und solange der Bundesgesetzgeber von seiner Regelungszuständigkeit keinen Gebrauch gemacht hat. Da er davon Gebrauch gemacht hat, kann das so nicht akzeptiert werden.“ In diesem Zusammenhang nahm er zu einem Beitrag des Abgeordneten Hüppe wie folgt Stellung: „… Ich bin in der Tat nicht glücklich über die bundesrecht­ liche Regelung in der Sache. Aber völlig abgesehen davon: Der Bundesge­ setzgeber hat die Regelung nun einmal so getroffen, und deswegen ist es



Urteil vom 27. Oktober 199899

nicht zulässig, daß sich ein Land dagegen stellt, egal, ob man diese Rege­ lung gut findet oder nicht“ (S. 9761 D bis 9762 A). IV. 1.  Die Beschwerdeführer sind in Bayern niedergelassene Ärzte, die 1996 bei Verkündung des Bayerischen Schwangerenhilfeergänzungsgesetzes aus ambulanten Abbrüchen mehr als ein Viertel ihrer Einnahmen erzielten. Vier von ihnen sind Fachärzte. a) Der 1955 geborene Beschwerdeführer zu 1. ist seit dem 4. Februar 1994 niedergelassener Arzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe in Nürn­ berg. Seine auf Schwangerschaftsabbrüche spezialisierte Klinik führt er als rechtlich selbständigen Betrieb auf dem Gelände des Klinikums Nord der Stadt Nürnberg. Dies geht auf eine Initiative der Stadt zurück, weil es recht­ lich und tatsächlich schwierig war, einen zu Abbrüchen bereiten Arzt für das Städtische Klinikum zu gewinnen. Er nimmt jährlich zwischen 3.000 und 4.000 Abbrüche vor; der hierauf entfallende Anteil seiner Einnahmen betrug zwischen 1994 und 1997 zwischen 77 und 87 vom Hundert. b)  Der 1946 geborene Beschwerdeführer zu 2., der zwei Jahre lang eine Facharztausbildung durchlief, diese jedoch nicht beendete, ist auf Schwan­ gerschaftsabbrüche spezialisiert. 1980 wurde ihm erstmals in Hessen hierzu die Genehmigung erteilt, wobei er auch sonographische Leistungen und ambulante Operationen kassenärztlich abrechnen konnte. Nach Niederlas­ sungen als Kassenarzt in Nordrhein-Westfalen und Hessen, jeweils mit der Erlaubnis zu ambulanten Schwangerschaftsabbrüchen, wurde er 1993 in München als Vertragsarzt zugelassen; zwei Jahre später erhielt er auch die vertragsärztliche Genehmigung zur Durchführung ambulanter Operationen unter Einschluß von Schwangerschaftsabbrüchen. Er nimmt dort jährlich etwa 3.000 Abbrüche vor, aus denen er in den Jahren 1995 bis 1997 etwa 77 vom Hundert seiner Gesamteinnahmen erzielte. c)  Der 1955 geborene Beschwerdeführer zu 3. ist als approbierter Frau­ enarzt seit 1994 in Niederbayern als Vertragsarzt mit der Genehmigung zur Durchführung ambulanter Operationen zugelassen. Er betreut etwa 350 bis 400 Patientinnen pro Quartal. Im Jahre 1995 erzielte er aus etwa 200 bis 300 Abbrüchen jährlich 50 vom Hundert seiner Gesamteinnahmen; in den Folgejahren erhöhte sich die Anzahl der Abbrüche bis auf etwa 370, wobei sich der hieraus erzielte Anteil an den Gesamteinnahmen auf knapp 40 vom Hundert verringerte. d)  Der 1952 geborene Beschwerdeführer zu 4. ist seit 1987 als Facharzt für Frauenheilkunde zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen; seitdem besitzt er auch die Berechtigung zur Durchführung ambulanter Operationen auf seinem Fachgebiet. Angegliedert an seine Praxis betreibt er im Regie­

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4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz

rungsbezirk Schwaben eine kleine Frauenklinik. Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt auf dem Gebiet der gynäkologischen Beratung, Behandlung und Geburtshilfe, einschließlich Hausgeburten. Er betreut pro Quartal etwa 400 bis 430 Patientinnen. An zwei Tagen in der Woche führt er ambulante Abbrüche durch. Aus den in den Jahren 1996 und 1997 jährlich knapp 400 Abbrüchen erzielte er 34 bis 38 vom Hundert seiner Gesamteinnahmen. e) Der 1949 geborene Beschwerdeführer zu 5. ist seit 1992 als Frauen­ arzt zur vertragsärztlichen Versorgung im Regierungsbezirk Unterfranken zugelassen. In seiner Praxis behandelt er knapp 650 Patientinnen im Jahr, davon etwa 600 Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung. Er führt an einem Tag in der Woche in einer Tagesklinik Abbrüche durch. 1995 er­ reichten die Einnahmen aus 500 bis 600 Abbrüchen jährlich 50 vom Hun­ dert seiner Gesamteinnahmen. Sie stiegen im Folgejahr bei gleichbleibender Anzahl auf 62 vom Hundert und sanken 1997 auf 59 vom Hundert der Gesamteinnahmen, wobei auch die Anzahl der Abbrüche auf unter 500 ab­ sank. 2.  Mit ihren im November 1996 (Beschwerdeführer zu 1. und 2. und im Mai 1997 (Beschwerdeführer zu 3. bis 5.) eingegangenen, unmittelbar ge­ gen das Gesetz gerichteten Verfassungsbeschwerden rügen die Beschwerde­ führer im wesentlichen die Verletzung von Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und 2 GG. […] V. Die Verfassungsbeschwerden sind dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung, der Bayerischen Staatsregierung, dem Bayerischen Land­ tag, dem Bayerischen Senat, den Präsidenten des Bundesgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundessozialgerichts, der Bayerischen Landesärztekammer, der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns, dem Be­ rufsverband der Frauenärzte, dem Hartmann-Verband der Ärzte Deutsch­ lands, dem Marburger Bund, dem Deutschen Ärztinnenbund, Pro Familia und dem Deutschen Juristinnenbund mit der Gelegenheit zur Stellungnahme zugestellt worden. […] VI. Die Bayerische Staatsregierung ist den Verfahren der Beschwerdeführer zu 1. und 2., der Bayerische Landtag den Verfahren der Beschwerdeführer zu 3. bis 5. beigetreten. In der mündlichen Verhandlung vom 23. Juni 1998 haben sich alle Ver­ fahrensbeteiligten geäußert.



Urteil vom 27. Oktober 1998101

VII. Mit Urteil vom 24. Juni 1997 (BVerfGE 96, 120), wiederholt durch Be­ schlüsse vom 9. Dezember 1997 und 5. Juni 1998, hat das Bundesverfas­ sungsgericht in den Verfahren der Beschwerdeführer zu 1. und 2. für Ärzte, die bereits vor dem 9. August 1996 Schwangerschaftsabbrüche in eigener Praxis oder als Belegarzt in Bayern durchgeführt haben, angeordnet, daß Art. 3 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 Halbsatz 1 und Art. 5 Abs. 1 Halbsatz 2 Bay­ SchwHEG nicht anzuwenden sind, wenn sie als Vertragsärzte oder nach ärztlichem Standesrecht zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen be­ fugt sind. Außerdem ist Art. 5 Abs. 2 Satz 1 BaySchwHEG für solche Ärzte einstweilen außer Kraft gesetzt worden, deren Einnahmen aus Schwanger­ schaftsabbrüchen in Bayern schon im Jahre 1996 ein Viertel ihrer Gesamt­ einnahmen überstiegen haben. B. Die Verfassungsbeschwerden sind im Umfang der in der mündlichen Verhandlung gestellten Anträge zulässig. […] C. Die Verfassungsbeschwerden sind überwiegend begründet. Zurückzuwei­ sen sind die Verfassungsbeschwerden nur, soweit sie sich gegen die Einfüh­ rung des Erlaubnisvorbehalts richten. Die ärztliche Tätigkeit der Beschwerdeführer unterfällt auch, soweit sie Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, dem Schutzbereich des Art. 12 GG (I. 1.). Die angegriffenen Regelungen enthalten Einschränkungen der ärzt­ lichen Tätigkeit der Beschwerdeführer, die am Maßstab des Art. 12 Abs. 1 GG zu messen sind (I. 2.). Sie müssen der Kompetenzordnung des Grund­ gesetzes entsprechen (II. 1. und 2.). Für den Facharztvorbehalt und das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt hat der Freistaat Bayern die Kompetenz, die bundesrechtlichen Regelungen über den Schwangerschaftsabbruch durch Regelungen des ärztlichen Berufsrechts zu ergänzen (II. 3.). Das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt hält der verfassungsrechtlichen Prüfung auch im übrigen stand; der Facharztvorbehalt bedarf allerdings einer Übergangsregelung zu­ gunsten von Ärzten mit langjähriger einschlägiger Erfahrung (II. 4.). Für die strafrechtliche Ahndung von Verstößen gegen das Verbot mit Erlaubnisvor­ behalt fehlt dem Landesgesetzgeber die Regelungskompetenz (III.). Hin­ sichtlich der quotierten Einnahmebeschränkung und der Verpflichtung, den Abbruch nur vorzunehmen, wenn die Frau ihre Gründe genannt hat, werden die Beschwerdeführer in ihren Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt, weil die insoweit erschöpfende Bundesregelung abweichendes Landesrecht ausschließt (IV.).

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4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz

I. 1.  Die angegriffenen Vorschriften berühren den Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG. Zwar betreffen sie vor allem die Vornahme solcher Schwanger­ schaftsabbrüche, die von der Rechtsordnung mißbilligt werden. Daraus folgt indessen nicht, daß dieser Teil der ärztlichen Tätigkeit außerhalb des Schutzbereichs des Art. 12 Abs. 1 GG läge. Dabei bedarf es keiner grundsätzlichen Entscheidung über die Frage, ob rechtswidriges berufsmäßiges Tun vom Gewährleistungsbereich des Art. 12 Abs. 1 GG generell umfaßt wird. Jedenfalls hier, wo die Tätigkeit des Arztes notwendiger Bestandteil des gesetzlichen Schutzkonzepts ist, weil es seiner Mitwirkung im Interesse der Schwangeren und ihrer Gesundheit bedarf und von der Beteiligung des Arztes am Schutzkonzept zugleich ein besserer Schutz für das ungeborene Leben durch eingehende ärztliche Beratung (vgl. dazu BVerfGE 88, 203 [290]) zu erwarten ist, kann der ärztlichen Vornahme von rechtswidrigen Schwangerschaftsabbrüchen der Schutz des Art. 12 Abs. 1 GG nicht versagt werden. Mit ähnlichen Erwägungen hat das Bun­ desverfassungsgericht entschieden, daß sich die ärztliche Mitwirkung auf der Grundlage rechtswirksamer Verträge vollzieht (vgl. BVerfGE 88, 203 [295]). 2. Die angegriffenen Vorschriften des Bayerischen Schwangerenhilfeer­ gänzungsgesetzes greifen in die Berufsausübungsfreiheit der Beschwerde­ führer ein. a) Die Ärzte in Bayern bedürfen für Schwangerschaftsabbrüche einer staatlichen Erlaubnis, die nur erteilt wird, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 2 Satz 1 1. Alternative, Art. 3 Abs. 1 Satz 1 und Art. 8 BaySchwHEG); der Verstoß gegen die Erlaubnispflicht ist strafbewehrt (Art. 9 BaySchwHEG). Die Einnahmen aus Abbrüchen dürfen nur einen Teil der Gesamteinnahmen ausmachen (Art. 5 Abs. 2 Satz 1 BaySchwHEG). Die Ärzte müssen Fachärzte auf dem Gebiet der Frauenheilkunde und Ge­ burtshilfe sein (Art. 3 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 Halbsatz 1, Art. 5 Abs. 1 Halbsatz 2 und Art. 8 Abs. 2 Satz 2 BaySchwHEG). Sie dürfen einen Schwanger­ schaftsabbruch nicht für verantwortbar halten und ihn deshalb nicht vorneh­ men, wenn die Frau ihre Gründe nicht dargelegt hat (Art. 18 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 und Satz 3 Nr. 2 HKaG). Ergänzt werden diese Vorschriften durch Mitteilungs- und Offenbarungspflichten, die der Kontrolle und Über­ wachung der vorstehenden Verpflichtungen dienen. b) Eingriffe in die Freiheit der Berufsausübung bedürfen gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG einer gesetzlichen Grundlage, die den Anforderungen der Verfassung an grundrechtsbeschränkende Gesetze genügt. Ein solches Ge­ setz muß kompetenzgemäß erlassen sein. Beschränkungen der Berufsaus­ übungsfreiheit sind im übrigen mit der Verfassung nur vereinbar, wenn sie



Urteil vom 27. Oktober 1998103

vernünftigen Zwecken des Gemeinwohls dienen und den Berufstätigen nicht übermäßig oder unzumutbar treffen (vgl. BVerfGE 85, 248 [259]). II. Das an die Ärzte gerichtete Verbot, Abtreibungen ohne Erlaubnis vorzu­ nehmen, und der Facharztvorbehalt regeln Bereiche der ärztlichen Berufs­ ausübung, die der Landeskompetenz unterfallen. Der Ausübung dieser Kompetenz steht Bundesrecht nicht entgegen. Die Einführung eines Verbots mit Erlaubnisvorbehalt begegnet auch materiell keinen verfassungsrecht­ lichen Bedenken. Hingegen fehlt dem Facharztvorbehalt die verfassungs­ rechtlich gebotene Übergangsregelung. 1. Nach Art. 70 Abs. 1 GG haben die Länder das Recht der Gesetzge­ bung, soweit das Grundgesetz nicht dem Bund Gesetzgebungsbefugnisse verleiht. Im Unterschied zu den Ländern bedarf nach dieser Regelung der Bund für ein Gesetzesvorhaben einer ihm vom Grundgesetz zugewiesenen Befugnis. Für die Frage, ob eine solche Zuweisung besteht, kommt es auf die Gesetzgebungsmaterien an, wie sie insbesondere in Art. 73, 74, 74 a, 75 und Art. 105 GG niedergelegt sind. Dabei dürfen die einzelnen Vorschriften eines Gesetzes aber nicht isoliert betrachtet werden. Ausschlaggebend ist vielmehr der Regelungszusammenhang. Eine Teilregelung, die bei isolierter Betrachtung einer Materie zuzurechnen wäre, für die der Bundesgesetzgeber nicht zuständig ist, kann gleichwohl in seine Kompetenz fallen, wenn sie mit dem kompetenzbegründenden Schwerpunkt der Gesamtregelung derart eng verzahnt ist, daß sie als Teil dieser Gesamtregelung erscheint (vgl. BVerfG, Urteil vom 17. Februar 1998 – 1 BvF 1 / 91 –, NJW 1998, S. 16272; Beschluß vom 10. März 1998 – 1 BvR 178  /  97 –, NJW 1998, S. 2128 [2129]3). Ungeschriebene Gesetzgebungskompetenzen des Bundes sind dagegen nur in äußerst engen Grenzen anerkannt. Sie bestehen zum einen, wenn nach der Natur der Sache allein eine Bundesregelung in Betracht kommt, zum anderen wenn der Bund von einer ihm ausdrücklich eingeräumten Kompetenz nicht ohne Zugriff auf eine den Ländern zustehende Materie sinnvoll Gebrauch machen kann (Annexkompetenz und Kompetenz kraft Sachzusammenhangs). Das Bedürfnis nach einer bundeseinheitlichen Rege­ lung reicht dafür nicht aus. Die Kompetenz kraft Sachzusammenhangs stützt und ergänzt vielmehr eine zugewiesene Zuständigkeit nur dann, wenn die entsprechende Materie verständigerweise nicht geregelt werden kann, ohne daß zugleich eine nicht ausdrücklich zugewiesene andere Materie mitgere­ 2  BVerfGE 3  BVerfGE

97, 228 [251 f.]. 97, 332 [342 f.].

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4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz

gelt wird, wenn also das Übergreifen unerläßliche Voraussetzung für die Regelung der zugewiesenen Materie ist (vgl. BVerfGE 3, 407 [421]). Eine ungeschriebene Gesetzgebungszuständigkeit gibt dem Bund aber nicht das Recht, die gesamte den Ländern vorbehaltene Materie an sich zu ziehen. Er darf vielmehr nur diejenigen Einzelregelungen treffen, ohne die er seine ausdrücklich zugewiesene Kompetenz nicht sinnvoll nutzen könnte. Die umfassende Regelung eines den Ländern vorbehaltenen Bereichs ist ihm daher in keinem Fall eröffnet (vgl. BVerfGE 61, 149 [205]). Wann ein solch zwingender Konnex zwischen der Wahrnehmung einer ausdrücklich zugewiesenen Kompetenz und der punktuellen Inanspruchnahme einer Lan­ deskompetenz besteht, läßt sich nicht generell und abstrakt bestimmen. Die Frage kann vielmehr nur unter Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Regelungsgegenstandes beantwortet werden. Handelt es sich bei der Gesetzgebungskompetenz des Bundes um eine konkurrierende gemäß Art. 72 GG, so behält der Landesgesetzgeber seine Befugnis, soweit nicht der Bund von der ihm verliehenen Zuständigkeit Gebrauch gemacht hat. Ein Gebrauchmachen im Sinne dieser Vorschrift liegt allerdings nicht nur dann vor, wenn der Bund eine Regelung getroffen hat. Auch in dem absichtsvollen Unterlassen einer Regelung kann ein Ge­ brauchmachen von einer Bundeszuständigkeit liegen, das dann insoweit Sperrwirkung für die Länder erzeugt (vgl. BVerfGE 32, 319 [327 f.]). Zu einem erkennbar gewordenen Willen des Bundesgesetzgebers, zusätzliche Regelungen auszuschließen, darf sich ein Landesgesetzgeber nicht in Wider­ spruch setzen, selbst wenn er das Bundesgesetz – gemessen an höherran­ gigen Grundrechtsverbürgungen – wegen des Fehlens der Regelung für unzureichend hält (vgl. BVerfGE 32, 319 [327]; 36, 193 [211 f.]; 36, 314 [320 f.]; 85, 134 [147]). Die Frage, ob und inwieweit der Bund von einer Zuständigkeit Gebrauch gemacht hat, kann im einzelnen schwer zu entscheiden sein. Die Antwort ergibt sich in erster Linie aus dem Bundesgesetz selbst, in zweiter Linie aus dem hinter dem Gesetz stehenden Regelungszweck, ferner aus der Gesetz­ gebungsgeschichte und den Gesetzesmaterialien. Das gilt auch bei einem absichtsvollen Regelungsverzicht, der in dem Gesetzestext selbst keinen unmittelbaren Ausdruck finden kann. Ob der Gebrauch, den der Bund von einer Kompetenz gemacht hat, abschließend ist, muß aufgrund einer Ge­ samtwürdigung des betreffenden Normenkomplexes festgestellt werden (vgl. BVerfGE 67, 299 [324] m. w. N.). In jedem Fall setzt die Sperrwirkung für die Länder voraus, daß der Gebrauch der Kompetenz durch den Bund hinreichend erkennbar ist. Überdies verpflichtet die bundesstaatliche Kompetenzordnung alle recht­ setzenden Organe, ihre Regelungen so aufeinander abzustimmen, daß die



Urteil vom 27. Oktober 1998105

Rechtsordnung nicht aufgrund unterschiedlicher Anordnungen widersprüch­ lich wird. Die Verpflichtungen einerseits zur Beachtung der bundesstaat­ lichen Kompetenzgrenzen und andererseits zur Ausübung der Kompetenz in wechselseitiger bundesstaatlicher Rücksichtnahme werden durch das Rechtsstaatsprinzip in ihrem Inhalt verdeutlicht und in ihrem Anwendungs­ bereich erweitert. Beide setzen damit zugleich der Kompetenzausübung Schranken. Konzeptionelle Entscheidungen eines zuständigen Bundesge­ setzgebers dürfen auch durch auf Spezialzuständigkeiten gründende Einzel­ entscheidungen eines Landesgesetzgebers nicht verfälscht werden. Insbeson­ dere dürfen den Normadressaten nicht gegenläufige Regelungen erreichen, die die Rechtsordnung widersprüchlich machen (vgl. BVerfG, Urteile vom 7. Mai 1998 – 2 BvR 1991 / 95 u. a. und 2 BvR 1876 / 91 u. a. –, NJW 1998, S. 2341 [2342] und S. 2346 [2347]). 2. Bei der Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs konnte sich der Bund im Schwerpunkt auf die Gesetzgebungszuständigkeit aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 und ergänzend auf die aus Nr. 7, 11, 12 und 19 GG berufen. Dazu tritt punktuell die Befugnis zur bundesgesetzlichen Regelung kraft Sachzusammenhangs. Für das Bestehen einer solchen Kompetenz sind die Besonderheiten des Regelungsgegenstandes ausschlaggebend. Das Bundes­ verfassungsgericht hatte die Absicht des Gesetzgebers, die Strafdrohung für Schwangerschaftsabbrüche zurückzunehmen, nur bei Aufrechterhaltung des Unwerturteils und nur dann für verfassungsmäßig erachtet, wenn an die Stelle des ursprünglichen strafrechtlichen Lebensschutzes ein anderes wirk­ sames Konzept des Lebensschutzes träte. Ein derartiges Konzept und damit die partielle Ersetzung des Strafrechts ließ sich aber nur verwirklichen, wenn dabei punktuell Gesetzgebungskompetenzen in Anspruch genommen wurden, die an sich den Ländern zustehen. Denn die Zweckbestimmung dieser Regelungen, den strafrechtlichen Lebensschutz teilweise zu ersetzen, macht sie nicht selber zu Normen des Strafrechts. Dieses aus der Verfassung abgeleitete Junktim zwischen der Zulässigkeit der Aufhebung strafrecht­ licher Vorschriften und der gleichzeitigen Normierung eines alternativen Schutzkonzepts für das ungeborene Leben begründet daher eine Bun­ deskompetenz kraft Sachzusammenhangs für solche Einzelregelungen, die zur Verwirklichung seines Konzepts unerläßlich sind und bei denen auf eine gemeinsame Regelung der Länder nicht gewartet werden kann (vgl. BVerfGE 88, 203 [304 f.]). a) Der Bundesgesetzgeber war mit dem Schwangeren- und Familienhil­ fegesetz vom 27. Juli 1992, das in seinem grundsätzlichen Ansatz und in weiten Teilen der Ausgestaltung durch das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfGE 88, 203) bestätigt und im übrigen durch das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz vom August 1995 novelliert und ergänzt wor­ den ist, vom Strafrecht als staatlicher Reaktion auf Schwangerschaftsabbrü­

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che zu einem strafrechtlich abgesicherten Konzept des Schutzes durch Be­ ratung übergegangen. Dieses Konzept bedurfte zu seiner Ausformung neben den Änderungen im Strafrecht zahlreicher weiterer Regelungen. Wegen der Bedeutung des Lebensschutzes durch Beratung, der – ebenso wie das Straf­ recht, das durch die Beratungslösung teilweise ersetzt wird – keine unter­ schiedliche Gesetzeslage in einzelnen Gebieten der Bundesrepublik Deutsch­ land duldet, war eine auf Art. 72 Abs. 2 und Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG ge­ stützte bundeseinheitliche Regelung unerläßlich. Der Gesetzgeber war ge­ halten, die Wirksamkeit seines neuen Schutzkonzeptes einzuschätzen und die als notwendig erachteten Rahmenbedingungen unter Berücksichtigung der Konfliktlage sowie der unterschiedlichen staatlichen Reaktionsmöglich­ keiten daraufhin zu prüfen, ob das teilweise Absehen von Strafe verfas­ sungsrechtlich hinnehmbar war (vgl. BVerfGE 88, 203 [263, 265 f.]). Dabei ist allerdings nicht ausgeschlossen, daß flankierende Maßnahmen oder Teile des Berufs- und Organisationsrechts nach Maßgabe der Landeskompetenz den Ländern vorbehalten bleiben. Konzeptionell mußte der Bundesgesetz­ geber jedoch eine umfassende Lösung verwirklichen, da anderenfalls die bundeseinheitliche Rücknahme strafrechtlichen Schutzes verfassungsrecht­ lich nicht zu rechtfertigen gewesen wäre. b) Die Verzahnung unterschiedlicher Rechtsgebiete im Schutzkonzept verleiht dem Bund auch die Kompetenz, die nach diesem Konzept uner­ läßlichen Regelungen im ärztlichen Berufsrecht zu treffen, solange er da­ mit die Länderkompetenz nicht aushöhlt. Diese Befugnis steht ihm kraft Sachzusammenhangs zu, weil er die ihm obliegende Aufgabe nicht hätte erfüllen können, ohne zugleich die Zuständigkeit hierfür in Anspruch zu nehmen. Grundsätzlich liegt das ärztliche Berufsrecht – abgesehen von der Zulas­ sung zu den ärztlichen und anderen Heilberufen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG) und dem Recht der Vertragsärzte (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) sowie berufs­ bezogenen Strafvorschriften (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) – in der ausschließ­ lichen Kompetenz der Länder. Mit Rücksicht darauf regeln Bundesgesetze, die auf die Kompetenztitel der Nummern 1, 12 oder 19 von Art. 74 Abs. 1 GG gestützt sind, das Berufsrecht nicht abschließend. Insbesondere ist der strafrechtliche Rechtsgüterschutz in aller Regel nicht abschließend und hin­ dert nicht, daß die Länder im Rahmen ihrer Zuständigkeit andere Gesetze nicht strafrechtlicher Art zum Schutz solcher Rechtsgüter erlassen, die ent­ weder durch Strafandrohung geschützt werden oder eines strafrechtlichen Schutzes ermangeln. Auf die Befugnis zum Erlaß solcher ergänzender Re­ gelungen beruft sich der Freistaat Bayern, soweit er mit den Mitteln des ärztlichen Berufsrechts Maßnahmen zum Schutz des ungeborenen Lebens getroffen hat, ohne an der Straffreiheit der Frau, wie sie vom Bund ausge­ staltet worden ist, Änderungen vorzunehmen.



Urteil vom 27. Oktober 1998107

Solche Verbesserungen des Rechtsgüterschutzes sind zwar im allgemei­ nen zulässig. Hier bestand jedoch die geschilderte Sondersituation, daß der Bundesgesetzgeber von einer Bestrafung des Schwangerschaftsabbruchs nur dann teilweise absehen durfte, wenn er zugleich die rechtlichen Rahmenbe­ dingungen dergestalt änderte, daß der verfassungsrechtlich gebotene Le­ bensschutz gewahrt blieb. Die partielle Ablösung der Strafnorm setzte ein ausreichendes Alternativkonzept voraus, dessen Verwirklichung Übergriffe in die Länderkompetenz unausweichlich machte. Das Absehen von Strafe und die anderweitige Sicherstellung des gebotenen Lebensschutzes wurzeln in derselben Kompetenz und bedingen einander. Das Konzept des Bundesgesetzgebers geht davon aus, daß der Schutz der Leibesfrucht nur im Zusammenwirken mit der Frau und unter Einbin­ dung anderer Berufsgruppen, nämlich der Ärzte und der Beratungsstellen, erreicht werden kann. Es beruht auf der Erkenntnis, daß Repression wenig vermocht hat, weshalb das geänderte Verfahren mit der Erwartung verbun­ den ist, daß es das Verhalten der Frauen im Sinne des Lebensschutzes beeinflussen wird. Das Konzept setzt auf Ermutigung und Überzeugungs­ bildung durch Beratung und materielle Unterstützung, ohne auf Zwang vollständig zu verzichten. Die Wirksamkeit eines solchen Konzepts hängt entscheidend davon ab, daß alle einzelnen Elemente und die notwendigen Rahmenbedingungen aufeinander abgestimmt sind. Eine weitergehende Re­ striktion kann sich ebenso nachteilig auf den Lebensschutz auswirken wie eine Liberalisierung. Der Gesetzgeber durfte davon ausgehen, daß prak­ tische Erleichterungen des Schwangerschaftsabbruchs die Verantwortlich­ keit der Entscheidung negativ beeinflussen, praktische Erschwerungen da­ gegen die Kooperationsbereitschaft der Frauen schwächen können. Ist ein solches Konzept nicht ausgewogen, entsteht nach Einschätzung des Gesetz­ gebers eine Lücke beim Lebensschutz entweder durch zu weitgehende Freigabe des Abbruchs oder durch mangelnde Akzeptanz und Ausweichen in die Illegalität. Allerdings hat es der Staat nicht in der Hand, sämtliche Rahmenbedin­ gungen selbst festzulegen oder herzustellen. Die Gewissensfreiheit der Ärzte, die Bereitschaft kirchlicher Stellen, an der Beratung mitzuwirken, oder die Entscheidungen von Krankenhausträgern bergen Unsicherheiten bei der Organisation einer ausreichenden Beratung und Versorgung. Angesichts dieser unvermeidbaren Schwächen hängt die Verwirklichung des Konzepts im Sinne größtmöglichen Lebensschutzes wesentlich davon ab, daß wenig­ stens die rechtlich festlegbaren Bedingungen im ganzen Bundesgebiet nicht verändert werden. Im Gesetzgebungsverfahren ist die Rücksichtnahme des Bundesgesetzge­ bers auf unterschiedliche ethische Wertungen und regionale Besonderheiten

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4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz

deutlich hervorgetreten (vgl. BTDrucks 13 / 1850, S. 18 ff.; Deutscher Bun­ destag, 13. WP, 47. Sitzung vom 29. Juni 1995, S. 3755 D, S. 3756 D, S. 3758 A, S. 3759 A, S. 3760 D, S. 3766 C, S. 3768 D, S. 3769 A, S. 3771 D, S. 3772 C, S. 3780 A und D, S. 3781 D, S. 3785 A). Die Fraktionen des Bundestages haben Zugeständnisse gemacht, um mit einem konsensfähigen Kompromiß Rechtssicherheit zu erzielen. Wenn der Bundesgesetzgeber die Sicherstellung einer ausreichenden Versorgung gewährleisten und im Hin­ blick auf die Beratungsstellen, die Ärzte und die schwangeren Frauen Rechtssicherheit herstellen wollte, mußte er vermeiden, daß das Schutzkon­ zept für weitere Ergänzungen und Veränderungen durch Landesrecht offen­ blieb, weil jede Veränderung einzelner Bedingungen sich auf das Verhalten aller Beteiligten auswirken kann. Die Bundesregelung setzt daher nicht Mindestbedingungen für eines der betroffenen Schutzgüter, sondern die ausreichenden, aber auch notwendigen Bedingungen für das Absehen von Strafe. Der 13. Deutsche Bundestag hat denn auch das Bayerische Schwan­ gerenhilfeergänzungsgesetz als eine Abweichung von seinem Gesamtkon­ zept und damit als einen Verstoß gegen Bundesrecht angesehen, was aus den in der Plenarsitzung vom 13. Juni 1996 angenommenen Entschließungs­ anträgen deutlich hervorgeht (vgl. oben A III). 3. Im Hinblick auf das an die Ärzte gerichtete Verbot, Abtreibungen ohne Erlaubnis vorzunehmen (a), und den Facharztvorbehalt (b) entfaltet das Bundesrecht keine Sperrwirkung gegenüber landesrechtlichen Rege­ lungen. a)  Zu den Berufsausübungsregelungen, die nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes den Ländern zugewiesen sind, gehören auch präventive Verbote mit Erlaubnisvorbehalt. Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG verleiht dem Bund nur die Kompetenz, die Zulassung zu ärztlichen und anderen Heilberufen gesetzlich festzulegen. Ausgestaltende Regelungen der ärztlichen Berufsausübung fallen nicht da­ runter (vgl. BVerfGE 4, 74 [83]; 17, 287 [292]; 33, 125 [154 ff.]). Die bundesgesetzlichen Regelungen über die Erteilung der Approbation schlie­ ßen deshalb nicht aus, daß der Zugang zu einer speziellen ärztlichen Tätig­ keit an weitere Erfordernisse geknüpft wird, solange nicht der Zugang zur ärztlichen Tätigkeit als Ganzes abweichend geregelt wird (vgl. BVerfGE 33, 125 [154 ff.]). Das geschieht durch die angegriffene Regelung nicht. Denn den Beschwerdeführern bleiben die Rechte aus der Approbation grundsätz­ lich erhalten. Auch im übrigen ist nicht ersichtlich, daß der Bund selbst das Zulassungsverfahren hätte regeln wollen. Eine Kompetenz kraft Sachzusam­ menhangs hat er insoweit nicht in Anspruch genommen. Die von den Beschwerdeführern geäußerten Zweifel an der Kompetenz des Landes zum Erlaß der Regelungen teilt der Senat nicht.



Urteil vom 27. Oktober 1998109

Zwar spricht bei historischer Betrachtung einiges dafür, daß der Bundes­ gesetzgeber kein Zulassungsverfahren gewollt hat. Den durch das 15. Straf­ rechtsänderungsgesetz bundeseinheitlich eingeführten Zulassungsvorbehalt hat er im Jahre 1992 durch das Schwangeren- und Familienhilfegesetz aufgehoben und diese Entscheidung auch im Änderungsgesetz vom 21. Au­ gust 1995 beibehalten. An einer bestehenden Bundeskompetenz kraft Sach­ zusammenhangs zur Einführung einer Zulassung, wie sie im 15. Strafrechts­ änderungsgesetz geregelt war, sind Bedenken nicht geäußert worden (vgl. BVerwGE 75, 330 [332]). Auch die Nichtregelung würde, wenn in ihr der Verzicht auf ein Zulassungsverfahren als für das Regelungskonzept unerläß­ lich zum Ausdruck gebracht worden wäre, für den Landesgesetzgeber Sperr­ wirkung entfalten. Die Gesetzgebungsmaterialien können aber auch so verstanden werden, daß nur von einer positiven Bundesregelung mit gesetzlichen Vorgaben für die Zulassung der Einrichtung abgesehen wird (vgl. den nicht Gesetz ge­ wordenen Entwurf in BTDrucks 12 / 841, S. 11), den Ländern aber insoweit Gestaltungsraum bleiben sollte. Ein ausdrückliches Verbot für jedwedes Zulassungsverfahren erwähnen sie nicht. Die Gesetzesmaterialien verwen­ den sogar den Begriff der Zulassung, indem klarstellend angemerkt wird, daß die Zulassung ambulanter Einrichtungen in keinem Land generell ver­ weigert werden könne (BTDrucks 13 / 1850, S. 22, die den Begriff aus BT­ Drucks 12 / 2605 [neu], S. 23 aufgreift). Da sich somit eine Regelung mit Sperrwirkung nicht hinreichend deutlich erkennen läßt, bleiben die Länder nach dem Verteilungsgrundsatz des Art. 70 GG insoweit regelungsbefugt. Förmliche Zulassungsverfahren kraft Landes­ rechts sind danach nicht ausgeschlossen. Die bundesrechtliche Sperre greift nur so weit, wie das Zulassungsverfahren die vom Bundesgesetzgeber nor­ mierten Voraussetzungen und Rahmenbedingungen zu respektieren hat. b)  Die Länder haben auch die Gesetzgebungskompetenz, Qualifikations­ anforderungen für bestimmte ärztliche Verrichtungen einzuführen. Hierzu gehört der Facharztvorbehalt des Art. 5 Abs. 1 BaySchwHEG. Auch inso­ weit läßt sich der bundesrechtlichen Regelung nicht entnehmen, daß mit ihr abschließend festgelegt werden sollte, daß jeder Arzt zum Schwanger­ schaftsabbruch befugt sei. Den Ländern ist die Kompetenz zu eigener Re­ gelung verblieben. Zwar war dieser Punkt ebenfalls Gegenstand der Beratungen in den ­ esetzgebungsverfahren der 12. und 13. Wahlperiode, nachdem schon zu­ G vor kein einheitliches Landesrecht in Deutschland gegolten hatte. In der 12. Wahlperiode war teilweise der Facharztvorbehalt in die Gesetzentwürfe aufgenommen worden (bejahend BTDrucks 12  /  1178 [neu], S. 14 und 12 / 1179, S. 15 – verneinend BTDrucks 12 / 6715, S. 3). Hingegen ging der

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Gruppenantrag davon aus, daß Abbrüche auch durch einen qualifizierten Arzt ohne Facharztabschluß zulässig sein sollten (vgl. BTDrucks 12 / 2605 [neu], S. 23). Eine Sperrwirkung für abweichendes Landesrecht ist dem Gesetz indes­ sen nicht zu entnehmen. Hierzu genügte ein Regelungsverzicht nicht. Viel­ mehr hätte es einer ausdrücklichen Vorschrift bedurft, da dem Bundesge­ setzgeber bei seiner Novellierung die uneinheitliche Rechtslage in den Ländern bekannt war. Auf diese hat er Rücksicht genommen, indem er für alle Ärzte in der Approbationsordnung vorschrieb, daß ihnen besondere Kenntnisse hinsichtlich der Beratung in einer Konfliktlage zu vermitteln seien. Damit ist gewährleistet, daß auch in den Ländern, in denen kein Facharztvorbehalt besteht, in Zukunft alle Ärzte die im Interesse des unge­ borenen Lebens notwendigen Kenntnisse erwerben. Die bundesrechtliche Regelung ist somit für eine unterschiedliche Rechtsentwicklung in den einzelnen Bundesländern offen. Hätte sie einen Gynäkologenvorbehalt ab­ schließend verhindern wollen, hätte dies schon um der Rechtsklarheit willen deutlich ausgesprochen werden müssen, weil dann älteres Landesrecht außer Kraft gesetzt worden wäre. Auf die in der Stellungnahme des Bundessozialgerichts geäußerten Be­ denken, ob das bundesweit geltende Vertragsarztrecht durch landesgesetz­ liche Norm geändert werden könne, braucht nicht eingegangen zu werden. Auch der Beschwerdeführer zu 2. stützt seine Verfassungsbeschwerde nicht darauf, daß seine Berufsausübungsfreiheit als Vertragsarzt eingeschränkt werde. Die Vertragsarztzulassung ist für seine Tätigkeit von untergeordneter Bedeutung, weil die Vornahme des Abbruchs und die Nachbehandlung bei komplikationslosem Verlauf nach § 24 b Abs. 3 SGB V in der Fassung des Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetzes nicht zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung gehören. 4. Die gesetzliche Ausgestaltung der Berufsausübungsregelungen in Ge­ stalt des Zulassungsverfahrens ist auch in materiellrechtlicher Hinsicht mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar (a). Dem Facharztvorbehalt fehlt hingegen die verfassungsrechtlich gebotene Übergangsregelung (b). Beschränkungen der freien Berufsausübung müssen durch ausreichende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt sein und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. a)  Die als präventives Verbot mit gesetzlich gebundenem Erlaubnisvorbe­ halt ausgestalteten Normen (Art. 2 Satz 1 1. Alternative, Art. 3 Abs. 1 Satz 1 und Art. 8 Abs. 2 BaySchwHEG) verdeutlichen das bundesgesetzliche Schutzkonzept, indem sie die personellen, apparativen und räumlichen Vor­ aussetzungen für die Durchführung beratener Schwangerschaftsabbrüche näher umschreiben. Sie verfolgen damit dieselben Gemeinwohlziele wie das Bundesrecht.



Urteil vom 27. Oktober 1998111

Die Regelungen genügen auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Sie dienen dadurch dem Schutz von Mutter und Kind, daß nur solche Ärzte Abbrüche vornehmen dürfen, die die Gewähr dafür bieten, daß die Rechts­ pflichten bei der Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen eingehalten werden. Die Einschätzung des bayerischen Gesetzgebers, daß durch die Einführung eines vorgeschalteten behördlichen Kontrollverfahrens in Gestalt eines Erlaubnisvorbehalts die gesetzlichen Schutzziele effektiver erreicht werden als bei lediglich nachträglicher Kontrolle, selbst wenn diese durch eine Anzeigepflicht erleichtert wird, ist vertretbar. Die landesgesetzliche Regelung genügt damit den verfassungsrechtlichen Anforderungen der Ge­ eignetheit und Erforderlichkeit. Sie ist auch verhältnismäßig im engeren Sinne, weil einerseits hohe Rechtsgüter auf dem Spiel stehen und andererseits die präventive Kontrolle als solche die Ärzte nicht schwerwiegend belastet. Das ergibt sich daraus, daß in Art. 3 Abs. 1 Satz 3 BaySchwHEG ein Anspruch auf Zulassung er­ öffnet ist. Soweit dieser Anspruch an bestimmte Voraussetzungen anknüpft, die Gegenstand gesonderter verfassungsrechtlicher Prüfung sind (vgl. hierzu C III 2), kann das Ergebnis dieser Prüfung nicht in Frage stellen, daß der Freistaat Bayern dem Grunde nach berechtigt ist, den Schwangerschafts­ abbruch in ambulanten Einrichtungen einem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt zu unterstellen. b) Zu Recht rügt der Beschwerdeführer zu 2., daß die Einführung des Facharztvorbehalts in Bayern gemäß Art. 3 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 Halbsatz 1, Art. 5 Abs. 1 Halbsatz 2 und Art. 8 Abs. 2 Satz 2 BaySchwHEG nicht durch eine schonende Übergangsregelung ergänzt worden ist. Seinen Angriff ge­ gen das Erfordernis selbst hat er nicht aufrechterhalten. Das Facharzterfordernis soll nach der Zielsetzung des bayerischen Ge­ setzgebers der Qualitätssicherung im Interesse des Gesundheitsschutzes der Frau dienen; zugleich soll es dem Schutz des ungeborenen Lebens zugute kommen (LTDrucks 13 / 4961, S. 8). Die Wahl dieses Mittels und die ihr zugrunde liegende Einschätzung des Gesetzgebers sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsge­ richts, daß Regelungen, die die Berufsfreiheit in statthafter Weise beschrän­ ken, insofern gegen Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Gebot des Vertrauensschutzes verstoßen können, als sie keine Übergangsregelung für diejenigen vorsehen, welche eine künftig unzulässige Tätigkeit in der Ver­ gangenheit in erlaubter Weise ausgeübt haben (vgl. die umfänglichen Nach­ weise in BVerfGE 75, 246 [279]). Regelmäßig liegt es nicht im Ermessen des Gesetzgebers, ob er sich zu Übergangsregelungen entschließt; sofern das Gesetz nicht akute Mißstände in der Berufswelt unterbinden soll, steht

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4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz

dem Gesetzgeber lediglich die Ausgestaltung der Übergangsregelung frei (vgl. BVerfGE 32, 1 [34]; 68, 272 [287]). Der Vertrauensschutz gebietet es allerdings nicht, die berufliche Betäti­ gung auch solchen Personen in bisherigem Umfang zu erhalten, denen die Qualifikation fehlt, die im Interesse des vom Gesetzgeber definierten Rechtsgüterschutzes für die Zukunft eingeführt worden ist. Von einer Über­ gangsregelung darf aber nicht allein deshalb abgesehen werden, weil den betroffenen Personen andere Berufsfelder offenstehen oder weil sie die volle Qualifikation nachholen könnten (vgl. BVerfGE 68, 272 [286 f.]), wenn sie bislang in dem nunmehr versperrten Teilbereich zulässigerweise tätig sein konnten, sich hierauf weiterhin beschränken und die geringere Ausbildung durch berufspraktische Erfahrung ausgleichen. Dies gilt nicht, wenn der Gesetzgeber mit seiner Neuregelung Mißständen begegnen will, die ein ausnahmsloses Handeln erfordern. Danach ist vorliegend eine Übergangsregelung zugunsten derjenigen nie­ dergelassenen Allgemeinärzte geboten, die Schwangerschaftsabbrüche bisher in zulässiger Weise durchgeführt haben. Ihnen muß die Möglichkeit einge­ räumt werden, den Nachweis der dafür erforderlichen Qualifikation durch bisherige umfangreiche und beanstandungsfreie Tätigkeit zu erbringen. Diese Gruppe von Ärzten wird durch das Facharzterfordernis des Art. 5 Abs. 1 BaySchwHEG besonders schwer in ihrer Berufsfreiheit betroffen. Es beschneidet sie in einem Betätigungsfeld, für das ihnen mit ihrer Approba­ tion und dem ärztlichen Berufsrecht die Qualifikation zugesprochen war, das sie im Rahmen ihrer Berufsausübung zur Sicherung ihrer wirtschaft­ lichen Existenz genutzt und für das sie auch die erforderlichen Investitionen vorgenommen haben. Der Schutz von Mutter und Leibesfrucht, dem das Facharzterfordernis dient, erfordert seine übergangslose Einführung nicht. Die Einschätzung des Gesetzgebers, daß Gynäkologen generell besser für die Beratung der Schwangeren und die Durchführung des Abbruchs qualifiziert sind, ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Seine darauf gegründete Absicht, den Schutz von Leben und Gesundheit durch das Facharzterforder­ nis zu verbessern, ist legitim und hat erhebliches Gewicht. Jedoch ist dieses Anliegen mit Blick auf Allgemeinärzte, die bisher in zulässiger Weise Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt haben, weniger dringlich als ge­ genüber Berufsanfängern. Daß Frauen bei Schwangerschaftsabbrüchen durch Allgemeinärzte in der Vergangenheit schlechter behandelt oder weni­ ger verantwortlich beraten worden wären, ist im Verfahren nicht hervorge­ treten. Dafür gibt es auch keine besonderen Anhaltspunkte: Bis zur Änderung der Approbationsordnung durch Art. 2 SFHÄndG war die Vermittlung be­



Urteil vom 27. Oktober 1998113

sonderer Kenntnisse hinsichtlich der Beratung in einer Konfliktlage auch für Fachärzte der Frauenheilkunde nicht sichergestellt. Insofern bietet die nach früherem Recht erworbene Facharztqualifikation für sich genommen keine Gewähr für eine Konfliktberatung, die dem Schutz des ungeborenen Lebens besser dient als die Beratung durch einen Allgemeinarzt. Folgerichtig ver­ pflichtet der bayerische Gesetzgeber in Art. 5 Abs. 5 BaySchwHEG alle zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen bereiten und verantwortlichen Frauenärzte zur Teilnahme an Fortbildungsveranstaltungen über die bei diesen Eingriffen zu beachtenden besonderen ärztlichen Berufspflichten. Durch eine Erstreckung dieser Pflicht auf Allgemeinärzte, denen im Wege einer Übergangsregelung die Durchführung von Schwangerschaftsunterbre­ chungen weiterhin gestattet würde, kann bei ihnen dasselbe Niveau sicher­ gestellt werden. Wägt man die besondere Schwere des Eingriffs gegenüber den einschlä­ gig praktizierenden Allgemeinärzten mit der hier verminderten Gefährdung der Schutzgüter ab, denen der Facharztvorbehalt dienen soll, so erweist sich der Eingriff als unzumutbar. Diese Einschätzung entspricht der bundesein­ heitlichen berufsrechtlichen Handhabung im Vertragsarztrecht. Die Spitzen­ verbände der Krankenkassen und der Kassenärztlichen Vereinigung haben vereinbart, daß Schwangerschaftsabbrüche nur noch von Gynäkologen ab­ gerechnet werden können, verleihen diese Berechtigung aber übergangswei­ se auch Allgemeinärzten, wenn diese den Nachweis einer gleichwertigen Qualifikation durch eine vorherige umfangreiche und beanstandungsfreie Tätigkeit erbracht haben (vgl. die Vereinbarungen über Qualitätssicherungs­ maßnahmen beim ambulanten Operieren gemäß § 14 des Vertrages nach § 115 b Abs. 1 SGB V, Deutsches Ärzteblatt 1994, A-2124; 1995, A-3648). III. Für die Strafvorschriften in Art. 9 Abs. 1 und 2 BaySchwHEG (1.), für die Einnahmequotierung (2.) und für die angegriffene Ergänzung des Heil­ berufe-Kammergesetzes (3.) fehlt dem bayerischen Gesetzgeber die Gesetz­ gebungskompetenz. 1. Art. 9 Abs. 1 BaySchwHEG bedroht mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr die Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen, sofern hierfür eine Erlaubnis nicht erteilt (Art. 2 Satz 1 BaySchwHEG) oder widerrufen (Art. 8 Abs. 1 BaySchwHEG) oder wenn die Tätigkeit untersagt worden ist (Art. 8 Abs. 2 Satz 2 BaySchwHEG). Absatz 2 erstreckt die Strafdrohung auf die Verletzung von Überwachungspflichten im Zusammenhang mit Schwanger­ schaftsabbrüchen. Strafvorschriften als Sanktionen ärztlicher Pflichtverletzungen im Zusam­ menhang mit Schwangerschaftsabbrüchen dürfen durch Landesrecht nicht

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4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz

eingeführt werden, weil der Bund von seiner konkurrierenden Gesetzge­ bungsbefugnis aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG abschließend Gebrauch gemacht hat. Der Bundesgesetzgeber kann im Bereich der im Strafgesetzbuch her­ kömmlich geregelten Materien Straftatbestände auch dort schaffen, wo ihm sonst durch den Zuständigkeitskatalog des Grundgesetzes Grenzen gezogen sind (vgl. BVerfGE 23, 113). Soweit diese Regelungen abschließend sind, verhindern sie ergänzendes oder abweichendes Landesrecht, das auf den Schutz desselben Rechtsguts gerichtet ist. Dies wird in Art. 4 Abs. 2 EGStGB einfachgesetzlich bestätigt. Strafrechtliche Sanktionen für ärztliche Handlungen im Zusammenhang mit Schwangerschaftsabbrüchen sind herkömmlich im Strafgesetzbuch ab­ schließend geregelt. Im geltenden Recht ist dies in den §§ 218, 218b und 218c StGB geschehen. Da der Bundesgesetzgeber in § 219 StGB ergänzend auf das Schwangerschaftskonfliktgesetz verwiesen und dort die Verstöße gegen materielle Anforderungen an die Einrichtungen, in denen Schwanger­ schaftsabbrüche vorgenommen werden dürfen, als Ordnungswidrigkeiten bußgeldbewehrt hat (§§ 13, 14 SchKG), hat er seine Regelungskompetenz wahrgenommen. Dadurch hat er gemäß Art. 72 Abs. 1 GG die Landeskom­ petenz verdrängt. Dies gilt auch, soweit der Landesgesetzgeber die straf­ rechtliche Sanktion an bloßes Verwaltungsunrecht angeknüpft haben sollte. Für die landesrechtliche Strafvorschrift des Art. 9 Abs. 1 und 2 BaySchwHEG bleibt danach kein Raum. 2. Der Freistaat Bayern durfte den Fortbestand oder das Entstehen von auf Abbrüche spezialisierten Einrichtungen nicht mittels einer Einnahme­ quotierung verhindern. Art. 5 Abs. 2 BaySchwHEG ist nichtig. a)  Die bayerische Vorschrift, wonach die Einnahmen aus den in der Ein­ richtung je Kalenderjahr vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüchen ein Viertel der aus der gesamten Tätigkeit der Einrichtung erzielten Einnahmen nicht übersteigen dürfen, soll der Abwehr von Gefahren dienen, die aus spezialisierten Einrichtungen drohen könnten (LTDrucks 13 / 4961, S. 1 unter B und S. 8 f.). Regelungsbedarf hat Bayern gesehen, weil der Bundesgesetz­ geber einem entsprechenden Regelungsauftrag des Bundesverfassungsge­ richts nicht nachgekommen sei. b) Das Gesetzgebungsmotiv, eine als unvollständig angesehene Bundes­ regelung verfassungsnäher auszugestalten, verleiht einem Land jedoch keine Gesetzgebungskompetenz, sofern die Bundesregelung abschließend und damit sperrend ist [vgl. oben C. II. 1.)]. aa) Insgesamt schützen die den Schwangerschaftsabbruch betreffenden Vorschriften des Bundes das ungeborene Leben sowie Gesundheit und Le­ ben der Frau durch gewissenhafte Beratung, ausreichende Versorgung, qualifizierte ärztliche Berufsausübung sowie durch sonstige Hilfen (vgl.



Urteil vom 27. Oktober 1998115

BVerfGE 88, 203 [257, 289, 331]). Alle unmittelbar im Schutzkonzept wur­ zelnden und für seine Wirksamkeit erforderlichen Regelungen fallen damit, soweit nicht andere Kompetenzvorschriften wie Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG (öffentliche Fürsorge) oder Nr. 11 (ärztliches Gebührenrecht; vgl. BVerfGE 68, 319 [330 ff.]) einschlägig sind, unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG und die ergänzend in Anspruch genommene Kompetenz kraft Sachzusammenhangs. Das gilt einerseits etwa für die Strafvorschriften, die sich auf die am Ab­ bruch beteiligten Personen beziehen, und die Regelung über den Sicherstel­ lungsauftrag im Umfang des § 13 Abs. 2 SchKG sowie andererseits für die unerläßlichen gesetzlichen Bestimmungen, die das vom Bundesgesetzgeber gewählte Schutzkonzept mit Zurücknahme der Strafdrohung im übrigen näher ausgestalten. Soweit in dieses Konzept die Ärzte eingebunden sind, hat der Bundesgesetzgeber deshalb die unerläßlichen Rahmenbedingungen selbst geregelt; hierzu war er befugt. bb) Dementsprechend hat auch das Bundesverfassungsgericht – sinnge­ mäß – den Auftrag, die spezifischen Risiken spezialisierter Praxen bei seiner Regelung zu bedenken, an den Bundesgesetzgeber gerichtet. Dieser Prüfund Regelungsauftrag findet sich im Anschluß an die Forderung nach Straf­ normen zur Bekräftigung von Berufspflichten und nach der Konkretisierung einer verfassungskonformen Handhabung bundesrechtlicher Regelungen im Zivil- und Arbeitsrecht. In diesen bundesrechtlichen Zusammenhang einge­ bettet äußert das Bundesverfassungsgericht die Vermutung, daß sich spezia­ lisierte Einrichtungen bilden werden, und sieht hierdurch Gefahren für die Erfüllung der dem Arzt im Rahmen einer Beratungsregelung zufallenden Aufgabe beim Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens als auf der Hand liegend an. Die verfassungsrechtliche Schutzpflicht gebiete es daher dem Gesetzgeber zu prüfen, in welcher Weise solchen Gefahren wirksam entgegengetreten werden könne, und geeignete Regelungen zu treffen (BVerfGE 88, 203 [294 f.]). c)  Da es um die Eindämmung vermuteter Schutzdefizite in bezug auf das ungeborene menschliche Leben geht, ist, sofern auf die Strafdrohung ver­ zichtet wird, die entsprechende Gefahrenabwehr unabweisbare Aufgabe des Bundesgesetzgebers, wenn er eine verfassungswidrige Schutzlücke vermei­ den will. Der Prüfaufgabe hat sich der Bundesgesetzgeber auch unterzogen. aa) Schon in älteren Gesetzgebungsvorhaben war das Problem speziali­ sierter Einrichtungen Gegenstand von Überlegungen (vgl. BTDrucks 7 / 1983, S. 18, 28 f.; BTDrucks 7 / 1984 [neu], S. 14, 24). Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1993 (BVerfGE 88, 203) griff der in der 12. Wahlperiode eingerichtete Sonderausschuß des Deutschen Bundestages „Schutz des ungeborenen Lebens“ das Thema quotierter Einnahmebeschrän­ kungen erneut auf (Anhörung der Sachverständigen am 14. April 1994 – Pro­

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4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz

tokoll der 21. Sitzung, S. 91 f.) und sandte im April 1994 eine Delegation nach Frankreich, um Aufschluß darüber zu erhalten, wie sich die vom Bun­ desverfassungsgericht beispielhaft genannte französische Regelung auswirkte (vgl. Protokoll der 21. Sitzung des Sonderausschusses vom 14. April 1994, S. 95 und den Bericht über die Informationsreise in der Ausschußdrucksache 145). Weiteren Beratungsbedarf sahen die Mitglieder des Ausschusses an­ schließend nicht; sie beschlossen deshalb, den Ländern den Bericht der Dele­ gation zur Information zur Verfügung zu stellen (Protokoll der 24. Sitzung vom 19. Mai 1994, S. 6). Die Ermittlungen des Ausschusses zu dieser Frage­ stellung machen aber deutlich, daß er die Abwehr etwaiger Gefahren, die von spezialisierten Einrichtungen ausgehen, trotz ursprünglich gehegter Zweifel an einer Kompetenz des Bundesgesetzgebers (vgl. Protokoll der 21. Sitzung des Sonderausschusses vom 14. April 1994, S. 95) als eine eigene Aufgabe begriffen hat (vgl. Ausschußdrucksache 145, S. 3). Er hat erkennbar nicht nur vorsorglich für die Länder Vorarbeiten leisten und es deren Einschätzung überlassen wollen, ob und in welcher Weise gehandelt werden sollte. Mit der Weiterleitung des Berichts an die Länder sollten vielmehr diese nur frühzeitig unterrichtet und damit auch die Beratungen im Bundesrat vorbereitet werden. bb)  Aus den Erkenntnissen des Sonderausschusses hat der Bundesgesetz­ geber auf der Grundlage der Gesetzentwürfe, die in der 13. Legislatur­ periode zur gemeinsamen Ausschußfassung zusammengeführt worden sind, Folgerungen gezogen: Er hat den Sicherstellungsauftrag in § 13 Abs. 2 SchKG gesetzlich geregelt und die Arzteinnahmen aus Abbrüchen durch feste Gebühren begrenzt (Art. 3 SFHÄndG). Eine etwaige Gefahr durch Spezialeinrichtungen ist im Gesetzgebungsverfahren nicht mehr erörtert worden, obwohl der Gesetzgebungsverlauf von dem Bemühen getragen ist, allen Anregungen des Bundesverfassungsgerichts nachzugehen, auch wenn dessen Einschätzung schließlich nicht in allen Punkten geteilt wird. In die­ ser Hinsicht beruht die Arbeit des 13. Deutschen Bundestages auf den in der 12. Legislaturperiode gewonnenen Erkenntnissen. In der Debatte am 29. Juni 1995 ist deutlich geworden, daß die Parlamentarier den Beratungs­ gang seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als zusammen­ hängenden Erkenntnisprozeß angesehen haben, obwohl er zwei Legislatur­ perioden umfaßt (vgl. Deutscher Bundestag, 13. WP, 47. Sitzung, S. 3755 C, S. 3757 B, S. 3760 B und C, S. 3768 C, S. 3772 A, S. 3773 D). d)  Schon dieser Ablauf belegt, daß der Bundesgesetzgeber – unbeschadet seiner Kompetenz zur Regelung der Frage von Spezialisierungsbeschrän­ kungen allgemein – es jedenfalls abgelehnt hat, Spezialeinrichtungen mit dem Mittel der Einnahmequotierung zu verhindern. Denkbaren Gefähr­ dungen für den Lebensschutz ist er durch eine gebührenrechtliche Einbin­ dung der Ärzte entgegengetreten und hat deshalb die Vertragsfreiheit einge­ engt. Er hat die Höhe der Vergütung für den Schwangerschaftsabbruch



Urteil vom 27. Oktober 1998117

selbst festgelegt und Gebührenvereinbarungen hierüber ausgeschlossen (§ 2 Abs. 1 Satz 2 und § 5 a GOÄ: für mittellose Frauen etwa 175 DM, je nach Punktwert in der Sozialversicherung; für sonstige Schwangere etwa das Doppelte). Vergütungsregelungen sind allgemein als Mittel der Verhaltens­ steuerung anerkannt. Niedrige Entgelte sind geeignet, eine Ausweitung be­ stimmter ärztlicher Tätigkeiten zu verhindern. Zwar ist nach der Stellung­ nahme des Bundessozialgerichts nicht auszuschließen, daß die vom Bundes­ gesetzgeber gewählte Ausgestaltung nicht hinlänglich wirksam und daher verbesserungsbedürftig ist. Diese Beobachtung weckt jedoch keine Zweifel daran, daß der Bundesgesetzgeber den Weg einer gebührenrechtlichen Re­ gelung und nicht den einer Quotierung eingeschlagen hat. Vorkehrungen, eine Spezialisierung zu verhindern, hat er nicht getroffen. Diese gesetzgeberische Entscheidung kann darauf beruhen, daß die vom Bundesverfassungsgericht geäußerte Einschätzung hinsichtlich des Gefah­ renpotentials nicht geteilt worden ist. Möglich ist auch, daß nach Kenntnis der französischen Erfahrungen, wo es Abbrüche nur in Krankenhäusern und dort zum Teil in hochspezialisierten, abgegrenzten Abteilungen von Groß­ kliniken gibt, das Mittel der quotierten Einnahmebegrenzung generell für wenig geeignet angesehen worden ist, um spezialisierte Einrichtungen zu verhindern, zumal es erhebliche Unterschiede zwischen dem deutschen und dem französischen System gibt, die auch in den Materialien zum baye­ rischen Gesetz nochmals dargestellt worden sind (LTDrucks 13 / 4961, S. 9). Es kann auch sein, daß der Gesetzgeber von seiner Kompetenz, spezialisier­ te Einrichtungen zu unterbinden, nur deshalb keinen Gebrauch gemacht hat, weil er der Auffassung war, daß Spezialisierung zwar einerseits die Qualität der Beratung beeinträchtigen, andererseits aber dem Gesundheitsschutz zu­ gute kommen kann. Auch in der Sachverständigenanhörung vor dem Son­ derausschuß waren von seiten der Ärzteschaft Bedenken geäußert worden, ob eine entsprechende Regelung praktikabel sei (Protokoll der 21. Sitzung vom 14. April 1994, S. 91 f.). In den öffentlichen Verlautbarungen der Ärz­ teschaft zum bayerischen Gesetzgebungsverfahren, die von den Beschwer­ deführern überreicht worden sind, ist ebenfalls die Befürchtung geäußert worden, daß hiervon negative Auswirkungen ausgehen könnten; es sei zweifelhaft, ob sich noch genügend Ärzte bereit finden würden, Abbrüche vorzunehmen. Insgesamt werden die für die Mehrheit des Bundestages tragenden Grün­ de aus den Materialien nicht vollständig deutlich, weil das Ringen um einen tragfähigen Kompromiß, dem Abgeordnete aus allen Parteien und auch der Bundesrat zustimmen konnten, es nicht erlaubt hat, die jeweils unterschied­ lichen Motive vollständig offenzulegen (vgl. das Protokoll der gemeinsamen Sitzung der Ausschüsse für Familien und Senioren und für Frauen und Ju­ gend am 5. Juli 1995, S. 7, 8, 9, 11, 12, 13 und Deutscher Bundestag,

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4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz

13. WP, 47. Sitzung vom 29. Juni 1995, S. 3755 D, S. 3756 D, S. 3759 A, S. 3760 A, S. 3762 B, S. 3771 D, S. 3785 A). Erkennbar ist aber, daß dem Mittel der Einnahmebegrenzung, dem durch einen grenzüberschreitenden Vergleich nachgegangen worden ist, kein Raum gegeben werden sollte. Das ist durch das Absehen von einer bundesgesetzlichen Regelung unter gleich­ zeitiger Übersendung des Berichts des Sonderausschusses über seine Reise nach Frankreich an die Länder hinreichend deutlich geworden. Dementspre­ chend hat der Bundestag durch die Entschließungen vom 13. Juni 1996 bekräftigt, den Willen zu einer abschließenden Regelung gehabt zu haben [vgl. oben A. III.]. e) Die danach gegebene Sperrwirkung des Bundesgesetzes kann nicht dadurch in Frage gestellt werden, daß der Freistaat Bayern und die im Bund unterlegenen Abgeordneten, die einen Minderheitenentwurf eingebracht hatten (vgl. BTDrucks 13 / 395 und 13 / 1850, S. 14), Zweifel daran geäußert haben, ob das Bundesrecht nach Erlaß des Schwangeren- und Familienhil­ feänderungsgesetzes die aus Art. 2 Abs. 2 GG abgeleiteten Vorgaben erfüllt. Das Verfahren der Verfassungsbeschwerde gegen ein Landesgesetz eröffnet auch im Rahmen der Überprüfung der Gesetzgebungskompetenz nicht die volle verfassungsgerichtliche Kontrolle über ein Bundesgesetz, durch das der Bund im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung von seiner den Landesgesetzgeber ausschließenden Zuständigkeit Gebrauch gemacht hat (Art. 72 Abs. 1 GG). aa) Aus den Vorschriften über die Zuständigkeit des Bundesverfassungs­ gerichts und über die Wirkung seiner Entscheidungen ist abzuleiten, daß Gesetzesnormen zu befolgen sind, solange das Bundesverfassungsgericht sie nicht für verfassungswidrig erklärt hat (vgl. §§ 31, 78, 79, 95 Abs. 3 Satz 2 BVerfGG). Das im Rahmen der Kompetenzordnung erlassene Bundesrecht beansprucht Geltung gegenüber jedermann, auch gegenüber den Ländern. Das gilt unabhängig davon, ob man der entsprechenden Feststellung des Bundesverfassungsgerichts deklaratorische oder konstitutive Bedeutung bei­ mißt. Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit kann nur im Rahmen der dafür vorgesehenen Verfahren getroffen werden; die Länder können sie durch einen Antrag nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG herbeiführen. Daran fehlt es hier. Die Beschwerdeführer werden durch die bundesrechtliche Regelung, um deren Sperrwirkung es geht, nicht beschwert. Die Bayerische Staatsre­ gierung hat einen Normenkontrollantrag nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG nicht gestellt. bb) Dieses immer noch mögliche Normenkontrollverfahren kann nicht durch eine Inzidentprüfung im Rahmen der Beurteilung der Gesetzgebungs­ kompetenz der Länder ersetzt werden. Die Länder könnten sich einer Bun­ desregelung entziehen, indem sie diese mit der Behauptung, sie sei verfas­ sungswidrig, durch eine eigene Regelung ersetzen. Damit würden sowohl



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die notwendige Abgrenzung und Balance zwischen den einzelnen Verfah­ rensarten als auch die Rechtssicherheit gefährdet, die darauf gründet, daß verkündete Gesetze beachtet werden. Ob diese Gesetze auf einer Kompetenz kraft Sachzusammenhangs oder auf konkurrierender Gesetzgebungszustän­ digkeit beruhen, ist hierfür unerheblich. Dieser Rechtsunsicherheit würde auch nicht ohne weiteres abgeholfen, wenn die Normen Gegenstand von Rechtsstreitigkeiten würden. Hielten die angerufenen Gerichte die jeweils anwendbare Norm für verfassungsgemäß, könnten sie selbst entscheiden. Sie könnten hierbei je nach Fallgestaltung das Bundesrecht oder das Landesrecht als gültig anwenden; auch brauchten die Gründe, die das jeweils zur Entscheidung berufene Gericht zur Beja­ hung der Verfassungsmäßigkeit heranzieht, durchaus nicht einheitlich zu sein. Mit der Vorlagepflicht nach Art. 100 GG ist damit nicht sichergestellt, daß die zwischen Bund und Land streitige Frage durch das hierfür allein zuständige Bundesverfassungsgericht geklärt wird. Kompetenzfragen sind daher nicht nach Maßgabe einer vollen verfassungsrechtlichen Überprüfung des sperrenden Gesetzes zu entscheiden. Die Prüfung nach Art. 72 GG be­ schränkt sich darauf, ob der Bund durch ein faktisches Gebrauchmachen von seiner Kompetenz die Sperre ausgelöst hat. cc)  Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht auch bisher die Sperrwir­ kung eines Gesetzes nur dann im Rahmen einer Inzidentprüfung verneint, wenn das Gesetz bereits in einem früheren Verfahren auf seine Verfassungs­ mäßigkeit überprüft worden war (vgl. BVerfGE 7, 377 [387]). Nur wenn es dabei für verfassungswidrig erklärt worden ist, entfällt die Sperrwirkung. Im übrigen hat das Bundesverfassungsgericht schon im Beschluß vom 28. No­ vember 1973 (BVerfGE 36, 193 [211 f.]) entschieden, daß die Länder nicht berechtigt seien, Gesetzgebungsbefugnisse dort in Anspruch zu nehmen, wo sie im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung eine abschließende Bun­ desregelung für unzulänglich und darum reformbedürftig erachten. Das Grundgesetz weise ihnen nicht die Aufgabe zu, kompetenzgemäß getroffene Entscheidungen des Bundes „nachzubessern“. Erweise sich eine vollstän­ dige bundesrechtliche Regelung im Hinblick auf eine höherrangige Grund­ rechtsverbürgung oder institutionelle Garantie der Verfassung als unzurei­ chend, so sei es Sache des Bundesgesetzgebers, aufgrund seiner Zuständig­ keit eine Änderung vorzunehmen, die Abhilfe schaffe. Kompetenzrechtlich bleibe aber die Materie mit Sperrwirkung für die Länder ausgeschöpft, so­ lange die bundesrechtliche Norm Bestand habe (vgl. auch BVerfGE 36, 314 [320]; 85, 134 [147]). dd) Hiervon abzugehen bestünde auch dann keine Veranlassung, wenn der Landesgesetzgeber die Verfassungswidrigkeit der Bundesregelung für offensichtlich gehalten hätte. Die dargelegte Rechtsunsicherheit ist auch in einem solchen Fall zu besorgen. Im übrigen gibt das Sondervotum des Vi­

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4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz

zepräsidenten Papier und der Richterinnen Graßhof und Haas Anlaß zu der – ohne die nach Abschluß der Beratungen aus dem Amt geschiedene Rich­ terin Seibert getroffenen – Bemerkung, daß eine offensichtliche Verfas­ sungswidrigkeit der Bundesregelung nicht vorliegt. Eine solche ist weder in den Gesetzesberatungen des Bayerischen Land­ tags geltend gemacht worden (vgl. LTDrucks 13 / 4961) noch hat sich die Bayerische Staatsregierung im vorliegenden Verfahren darauf berufen. Auch in der Sitzung des Deutschen Bundestages vom 13. Juni 1996, die das ­bayerische Gesetzgebungsvorhaben betraf, hat der Freistaat Bayern seinen Gesetzentwurf nicht damit gerechtfertigt, daß eine offensichtlich verfas­ sungswidrige Lage korrigiert werden müsse. Er hat es lediglich als seine Aufgabe angesehen, den im Bundestag erzielten Kompromiß für Bayern zu verbessern (vgl. 13. WP, 110. Sitzung, S. 9755 ff.). Eine offensichtliche Verfassungswidrigkeit würde zudem voraussetzen, daß vernünftigerweise keine Zweifel möglich sind. Davon kann indes keine Rede sein. Die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Bundesregelung ergeben sich aus Unterschieden zu dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 88, 203 [294 f.]). Der Bundesgesetzgeber ist Vorkehrungen gegen das Entstehen von Spezialeinrichtungen, wie sie das Bundesverfas­ sungsgericht erwartet hatte, nach Erwägung der in dem Urteil beispielhaft angeführten Möglichkeit nicht nähergetreten. Darin liegt aber kein offen­ sichtlicher Verfassungsverstoß. Denn weder hat die Bindungswirkung verfas­ sungsgerichtlicher Entscheidungen ein absolutes Normwiederholungsverbot zur Folge (vgl. BVerfGE 77, 84 [103 f.]; 96, 260 [263]) noch befindet sich der Regelungsverzicht in demselben normativen Kontext, der Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Prüfung war. Der Bundesgesetzgeber hat vielmehr ein novelliertes Schutzkonzept für das ungeborene Leben anhand von Hin­ weisen des Bundesverfassungsgerichts in Kraft gesetzt. Dabei kann die Ein­ schätzung von Gefahren und die Beurteilung wirksamer Mittel zu ihrer Ab­ wehr dem Gesetzgeber grundsätzlich vom Bundesverfassungsgericht nicht vorgegeben werden. Dasselbe gilt für die Einschätzung der Wirksamkeit ein­ zelner Bestandteile des Schutzkonzepts im Rahmen der Gesamtregelung. 3.  Das Bundesrecht hat auch abschließend die Anforderungen festgelegt, die für die Beratung der Frau durch den Arzt gelten. Ihr ist nach § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB Gelegenheit zu geben, die Gründe für ihr Verlangen nach Abbruch der Schwangerschaft darzulegen. Ihre Gesprächs- und Mitwir­ kungsbereitschaft darf danach nicht erzwungen werden. Der Bundesgesetzgeber hat sich bei dieser Regelung zum Ziel gesetzt, übereinstimmendes Recht für die Konfliktberatung (§ 219 StGB in Verbin­ dung mit § 5 SchKG) und für die nachfolgende Beratung beim Arzt (§ 218c StGB) zu schaffen; davon hat er sich angesichts der gegenläufigen – durch



Urteil vom 27. Oktober 1998121

Druck und Offenheit bewirkten – Kräfte ein Maximum an Lebensschutz erhofft, indem Verständnis, Ermutigung und offenes Gespräch die Verant­ wortungsbereitschaft der Frau stärken. Für ergänzendes Landesrecht ist in­ soweit kein Raum. Die bundesrechtlichen Vorschriften umreißen in diesem Punkt zugleich die Grenzen des ärztlichen Berufsrechts. Dem Freistaat ­Bayern fehlt die Kompetenz zum Erlaß der angegriffenen Vorschriften in Art. 18 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 HKaG. a) Wortlaut und Entstehungsgeschichte des § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB sprechen dafür, daß die Verpflichtung des Arztes, der Frau im Gespräch Gelegenheit zur Darlegung ihrer Gründe zu geben, inhaltlich dem entspre­ chen soll, was in § 5 Abs. 2 SchKG ausführlicher normiert ist: Von der schwangeren Frau wird erwartet, daß sie die Gründe mitteilt, derentwegen sie einen Abbruch erwägt; der Beratungscharakter schließt aber aus, daß die Gesprächs- und Mitwirkungsbereitschaft erzwungen wird. aa)  Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sah der in der 12. Wahlperiode im Bundestag verabschiedete und im Bundesrat geschei­ terte Koalitionsentwurf noch vor, daß der Arzt sich strafbar machte, wenn er einen Abbruch vornahm, ohne sich zuvor die Gründe der Frau darlegen zu lassen (vgl. BTDrucks 12 / 6643, S. 8). Hinsichtlich dieser Fassung war umstritten, ob der Tatbestand verwirklicht war, wenn der Arzt versuchte, die Gründe zu ermitteln, die Frau jedoch schwieg und der Arzt den Abbruch vornahm (vgl. Deutscher Bundestag, 12. WP, 230. Sitzung vom 26. Mai 1994, S. 19963 D, S. 19967 D bis 19968 B, S. 19969 D bis 19970 A, S. 19980 A, B). bb) In der 13. Wahlperiode entsprachen die Gesetzentwürfe der Frakti­ onen von SPD (BTDrucks 13 / 27, S. 3, 10) und F.D.P. (BTDrucks 13 / 268, S. 9, 22) der jetzt gültigen Fassung, wobei in der Begründung des F.D.P.Entwurfs klargestellt wurde, daß keine Darlegungspflicht der Frau bestehe. Demgegenüber hielt der Entwurf der CDU  /  CSU-Fraktion an der in der 12. Wahlperiode verabschiedeten Fassung fest (BTDrucks 13 / 285, S. 8, 19). Bei der parlamentarischen Beratung der Beschlußempfehlung des federfüh­ renden Bundestagsausschusses, der die Entwürfe der CDU / CSU, SPD und F.D.P. zu einer gemeinsamen Ausschußfassung zusammengefügt und inso­ weit die Formulierungen aus den F.D.P.- und SPD-Entwürfen übernommen hatte, bestand Einigkeit, daß damit keine Verpflichtung der Frau statuiert werde, mit dem Arzt über ihre Gründe zu sprechen (vgl. Deutscher Bundes­ tag, 13. WP, 47. Sitzung vom 29. Juni 1995, S. 3758 B, S. 3759 D, S. 3760 A und D, S. 3776 A, S. 3777 C). cc)  Der Gesetzgeber hat danach mehrheitlich die Erwägungen, die für die Konfliktberatung gelten, auch für das Gespräch beim Arzt für durchschla­ gend erachtet.

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4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz

(1)  Die Art und Weise der ärztlichen Beratung ist bei einem Schutzkon­ zept zentraler Bestandteil des Gesetzesvorhabens, wenn hierdurch das unge­ borene Leben durch die Mutter selbst und nicht gegen sie geschützt werden soll. Die Beratung erfüllt eine Schlüsselfunktion. Das Bundesverfassungsge­ richt spricht deshalb auch von „Beratungskonzept“. Der Bundesgesetzgeber hat dieses Konzept, das das Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 28. Mai 1993 gebilligt hat, aus den dort genannten Gründen weiterverfolgt. Er hat allerdings die dort für verschiedene Gesprächssituationen (Recht­ fertigung, Konfliktberatung, ärztliche Beratung) unterschiedlich beurteilte Problematik nicht in derselben Weise differenziert wie das Bundesverfas­ sungsgericht, sondern eine weitgehend gleichartige Lösung gewählt. Die Frau, auf deren Sicht der Gesetzgeber maßgeblich abgestellt hat, soll sich anderen Personen öffnen, ihnen ihre Gründe darlegen und für deren Rat offen sein. Dazu muß sie nicht nur äußere Umstände, sondern auch innere Vorgänge darstellen. Selbst wenn die Rechtsordnung der Frau die Letztver­ antwortung für ihre Entscheidung nach ausreichender Beratung überläßt, ist unvermeidlich, daß sie tatsächlich der Beurteilung durch den Gesprächspart­ ner ausgesetzt ist. Dies kann für die Schwangere wohltuend sein, weil Verständnis durch andere entlastend wirkt. Die Beratungssituation kann aber auch als belastend empfunden werden, wenn die Konfliktsituation als höchstpersönlich und schamvoll erlebt wird. Insoweit gilt, was das Bundesverfassungsgericht zur Indikationenregelung gesagt hat: Die Umstände, die einer Frau das Austragen eines Kindes bis zur Unzumutbarkeit erschweren können, bestimmen sich nicht nur nach objektiven Komponenten, sondern auch nach ihren physischen und psychi­ schen Befindlichkeiten und Eigenschaften. Je mehr Dritte in den innersten Abwägungsprozeß der Frau eindringen, um so größer wird die Gefahr, daß die Frau sich dem durch Vorschieben von anderen Gründen oder Auswei­ chen in die Illegalität entzieht (BVerfGE 88, 203 [265 f.]). Deshalb kann der Gesetzgeber davon ausgehen, daß die Entscheidung für die Mutterschaft eher behindert als gefördert wird, wenn ein Dritter die Gründe, aus denen eine Frau das Austragen ihres Kindes als unzumutbar ansieht, überprüfen und bewerten müßte (BVerfGE 88, 203 [267]). Im Rahmen der Konfliktberatung, wo Prüfung und Bewertung der Grün­ de dem Gesprächspartner nach geltendem Recht nicht abverlangt werden, ist die erfolgreiche Beratung davon abhängig, daß dies der Frau auch deutlich wird, damit sie für eine richtige Entscheidung gewonnen werden kann. Dies rechtfertigt es nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts davon abzusehen, die erwartete Gesprächs- und Mitwirkungsbereitschaft der Frau zu erzwingen oder sie zu verpflichten, sich im Beratungsgespräch als Per­ son zu identifizieren (BVerfGE 88, 203 [282]).



Urteil vom 27. Oktober 1998123

(2) Aus der Sicht der Frau ist aber der Zwang zur Offenbarung in der Beratungsstelle und beim Arzt in gleicher Weise belastend. Beim Arzt kann nicht einmal die Anonymität gewahrt werden, die auch das Bundesverfas­ sungsgericht als hilfreich für eine offene Beratung eingeschätzt hat (BVerf­ GE 88, 203 [282]). Enthält das Gesetz eine Verpflichtung der Frau, dem Arzt die Gründe für ihren Abbruchwunsch dennoch mitzuteilen, wird sich ihr kaum erschließen, daß der Arzt die Gründe nicht überprüfen und bewer­ ten wird. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, die Feststel­ lung und Beurteilung einer Indikation werde vom Arzt gerade nicht verlangt, wenn er sich ein Bild darüber machen solle, ob er nach seinem ärztlichen Selbstverständnis eine Mitwirkung bei dem von der Frau gewünschten Ab­ bruch verantworten könne (BVerfGE 88, 203 [291 f.]). Zugleich ist aber das ärztlich verantwortbare Handeln davon abhängig gemacht worden, daß der Arzt sich selbst ein Bild davon macht, ob der Abbruchwunsch auf einem verantwortlichen Entschluß und achtenswerten Gründen beruhe (BVerfGE 88, 203 [292]). Die Ärzteschaft selbst hat insoweit eine schwere Belastung des Vertrauensverhältnisses zur Patientin befürchtet (vgl. Deutsches Ärzte­ blatt 92, Heft 23 vom 9. Juni 1995, S. B-1218). Deshalb hat der Gesetzge­ ber in den – auch nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung – äußerst seltenen Fällen, in denen die Frau zu den Gründen schweigt, von mittel­ barem Druck abgesehen, um ein Ausweichen in die Illegalität zu verhindern, zumal es dem Arzt unbenommen bleibt, den Schwangerschaftsabbruch ab­ zulehnen. Das Bestreben, in der Konfliktberatung und beim Arzt gleicher­ maßen keinen Zwang zur Offenlegung einzuführen, damit der Arzt nicht insgeheim wieder zum Richter werde, ist im Parlament ausführlich und mit dem Ergebnis debattiert worden, daß durchgehend auf Freiwilligkeit gesetzt werde (BTDrucks 12 / 8609, S. 11; BTDrucks 13 / 27, S. 10; 13 / 268, S. 22; Deutscher Bundestag, 12. WP, 230. Sitzung vom 26. Mai 1994, S. 19963 C / D, S. 19968 A, S. 19969 D, S. 19980 A; 13. WP, 47. Sitzung vom 29. Ju­ ni 1995, S. 3759 D / 3760 A). Das ist in der Debatte zu den Entschließungs­ anträgen zum bayerischen Gesetzgebungsverfahren nochmals verdeutlicht worden (Deutscher Bundestag, 13. WP, 110. Sitzung vom 13. Juni 1996, S. 9758 B und C). Schon im Bericht des Sonderausschusses „Schutz des ungeborenen Lebens“ (BTDrucks 12 / 8609, S. 8, 11) und in der 12. Wahl­ periode im Parlament (230. Sitzung vom 26. Mai 1994, S. 19963 D, S. 19980 A) war auf die durch Unschärfen eröffneten gesetzgeberischen Freiräume hingewiesen worden. b)  Die für das Schutzkonzept grundlegende Strafnorm des § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB markiert damit zugleich die Grenze, bis zu der durch eine ge­ setzliche Regelung das Berufsrecht verhaltenssteuernd in das Verhältnis zwischen Arzt und Patientin eingreifen darf. Sie entfaltet insoweit Sperrwir­ kung für den Landesgesetzgeber.

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4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz

Regelmäßig kann eine solche Sperrwirkung aus einer Strafnorm nicht ab­ geleitet werden [vgl. oben C. II. 2. b)]. Regelmäßig steuern aber berufsrecht­ liche Normen auch nur das ärztliche Verhalten und nicht das der Patienten, auf die das ärztliche Berufsrecht allenfalls mittelbar zurückwirkt. Abwei­ chendes gilt indessen für Art. 18 Abs. 2 Satz 2 HKaG, der sich in Verbindung mit der Dokumentationspflicht nach Satz 3 Nr. 2 mindestens gleichrangig an Schwangere und Arzt wendet. Die Schwangere soll wissen, daß sie nach Bundesrecht die Beratungsbescheinigung nach § 7 SchKG erhalten kann, ob­ wohl sie die Gründe, die sie zum Schwangerschaftsabbruch bewegen, nicht genannt hat. Einen Abbruch nach § 218a Abs. 1 StGB wird sie in Bayern je­ doch ohne Offenlegung der Gründe beim Arzt nicht vornehmen lassen kön­ nen. Das soll Art. 18 Abs. 2 Satz 1 HKaG sicherstellen. Kein Mitglied der Bayerischen Ärztekammer kann in einem derartigen Fall einen Schwanger­ schaftsabbruch vornehmen, ohne sich berufsrechtlichen Sanktionen auszuset­ zen. Für die Schwangere setzt damit die Norm die Mindestvoraussetzungen, die sie selbst erfüllen muß, um die Schwangerschaft abbrechen zu lassen, obwohl sie sich an den Arzt richtet und lediglich umschreibt, was ärztlich verantwortbares Handeln ist und – nach den Ausführungen des Bundesver­ fassungsgerichts (BVerfGE 88, 203 [292]) – ohnedies gilt. Allerdings hatte das Bundesverfassungsgericht insoweit eine berufsrecht­ liche Normierung nicht für ausreichend gehalten und verlangt, daß den ärztlichen Verhaltenspflichten im Zusammenhang mit dem Schwanger­ schaftsabbruch mit einer Strafdrohung der nötige Nachdruck verliehen wird. Dies hat der Bundesgesetzgeber vollzogen, dabei aber zugleich sicherge­ stellt, daß die Frau einheitliche Offenbarungspflichten in der Konfliktbera­ tung und beim Arzt treffen. Deshalb hat er die gesetzlichen Vorgaben in § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB und die in § 219 StGB in Verbindung mit § 5 SchKG aufeinander abgestimmt. Nach seiner Auffassung konnte nur auf diese Weise die Gesamtregelung wirkungsvoll und widerspruchsfrei bleiben. Um dieses Regelungszieles willen war es auch unerläßlich, den Rege­ lungsgegenstand, das Gespräch zwischen dem Arzt und der Schwangeren in der Konfliktsituation vor dem Schwangerschaftsabbruch, im Strafrecht zu regeln. Die punktuell beanspruchte Kompetenz kraft Sachzusammenhangs unter Verdrängung des den Ländern überantworteten Berufsrechts war ange­ sichts der geschilderten Sondersituation auch geboten, wenn der Bundesge­ setzgeber sein Konzept stringent verwirklichen wollte. c)  Für die Sperrwirkung der bundesrechtlichen Regelung kommt es nicht darauf an, ob der Bundesgesetzgeber in allen Punkten den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gerecht geworden ist. Er hat ersichtlich nicht nur das Urteil vom 28. Mai 1993 umsetzen oder die Anordnung nach § 35 BVerfGG in Gesetzesform gießen wollen. Vielmehr hat er aufgrund eigener



Urteil vom 27. Oktober 1998125

Prüfung und Einschätzung in einigen Punkten die vom Bundesverfassungs­ gericht vorgezeichneten Wege verlassen, was besonders deutlich wird hin­ sichtlich des Verbots, das Geschlecht des Kindes mitzuteilen, und hinsicht­ lich der Strafbarkeit des familiären Umfeldes (vgl. 4. Sitzung des Unteraus­ schusses Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz vom 1. Juni 1995 und die Beiträge hierzu in der 47. Plenardebatte des Bundestages am 29. Juni 1995). Entscheidend ist, daß sich der eindeutige Wille des Bundes­ gesetzgebers feststellen läßt, die Anforderungen an das ärztliche Beratungs­ gespräch abschließend zu regeln. An diesem Willen läßt der Verlauf der Gesetzgebung keinen Zweifel. Die langen parlamentarischen Beratungen verdeutlichen, daß gerade sol­ che Teile des Gesetzentwurfes, die sich von den Vorgaben des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 lösten oder sie doch zu einem einheitlichen Konzept zusammenzuführen trachteten, als zentrale Fragen inhaltlich eingehend erörtert worden sind. Hinsichtlich der Ausgestaltung des Beratungsgesprächs beim Arzt waren die Standpunkte auch im Rechts­ ausschuß geteilt (Protokoll der 21. Sitzung vom 28. Juni 1995, S. 34 ff.). Die Abgeordneten waren sich darin einig, daß ein Kompromiß gefunden werde müsse, der für die Zukunft Rechtssicherheit gerade auch für die Ärzte schaffe (Deutscher Bundestag, 13. WP, 47. Sitzung vom 29. Juni 1995, S. 3758 A, S. 3769 A, S. 3780 A und D, S. 3781 D); im Bundesrat bestand der Wunsch, im Rahmen der Vereinheitlichung des Rechts im wie­ dervereinigten Deutschland eine allgemeine grundlegende Lösung des Pro­ blems zu treffen (vgl. Protokoll der gemeinsamen Sondersitzung der Aus­ schüsse für Familien und Senioren und für Frauen und Jugend am 5. Juli 1995, S. 8). Die Absicht des Gesetzgebers, eine im Hinblick auf die Vorgaben des Einigungsvertrages einheitliche Regelung zu finden, die für Rechtssicherheit im vereinten Deutschland sorgt, läßt sich auch noch den Bundestagsdebatten entnehmen, die stattgefunden haben, nachdem bekannt geworden war, daß Bayern ergänzende Regelungen zum Schwangerschaftsrecht erlassen wollte (vgl. das Protokoll der 110. Sitzung des Deutschen Bundestages am 13. Ju­ ni 1996 zu Drucks 13 / 4858 und Drucks 13 / 4879); die parlamentarische Aussprache war darauf gerichtet, das bundeseinheitliche Recht zu erhalten. Überwiegend wurde die Auffassung vertreten, daß in verfassungskonformer Weise durch einen Kompromiß die Rechtsfragen abschließend entschieden sind und die Rechtseinheit in Deutschland hergestellt sowie Rechtsfriede beabsichtigt ist, der durch abweichende Landesregelungen in Frage gestellt wird. Diese Auffassung war nach namentlicher Abstimmung mehrheitsfähig. d) Die verfassungsrechtliche Beanstandung der bayerischen Regelung bedeutet indessen nicht, daß Ärzte, die einen Schwangerschaftsabbruch

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4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz

deshalb nicht für verantwortbar halten, weil die Frau ihnen keine Gründe mitgeteilt hat, zur Abtreibung verpflichtet wären. Insoweit zeigt sich, daß die berufsrechtlichen Regelungen in unterschiedlicher Intensität auf den Arzt einerseits und die Schwangere andererseits einwirken. Jeder Arzt kann und muß einen von ihm nicht für verantwortbar gehaltenen Abbruch ohne­ dies verweigern (§ 12 SchKG). Weder wird die individuell begründete Haltung des einzelnen Arztes behindert noch die Entwicklung berufsethi­ scher Standards gehemmt, wenn weitere – landesrechtliche – Normierungen aufgrund der sperrenden Bundesregelung in § 218c StGB unterbleiben. […] Abweichende Meinung des Vizepräsidenten Papier sowie der Richterinnen Graßhof und Haas zum Urteil des Ersten Senats vom 27. Oktober 1998 – 1 BvR 2306, 2314 / 96, 1108, 1109, 1110 / 97 (BVerfGE 98, 329) Den Ergebnissen zu C. III. 2. (Einnahmequotierung), C. III. 3. (kompe­ tenzrechtliche Sperre des Landes für die Regelung ärztlichen Berufsrechts) und zu C. II. 4. b) (Fehlen einer Übergangsregelung beim Facharztvorbe­ halt) können wir nicht zustimmen. Wir halten auch die kompetenzrecht­ lichen Maßstäbe der Senatsmehrheit zu C. II 1. und 2. für zu weitgehend, soweit sie die Kompetenz kraft Sachzusammenhangs betreffen. Die Senatsmehrheit wendet ihre kompetenzrechtlichen Maßstäbe schon nicht konsequent an (I.). Selbst auf der Grundlage ihrer eigenen Maßstäbe hätte die Senatsmehrheit nicht zu den Ergebnissen kommen können: –– der Bundesgesetzgeber habe es den Ländern mit § 13 Abs. 2 SchKG stillschweigend untersagt, Spezialkliniken durch eine Quotenregelung entgegenzuwirken; hierfür habe er auch eine Kompetenz kraft Sachzu­ sammenhangs in Anspruch nehmen dürfen (I. 2.); –– § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB lege – kompetenzgemäß – zugleich die be­ rufsrechtlichen Anforderungen abschließend fest, die nach ärztlichem Berufsrecht für die Beratung der abbruchwilligen Frau durch den Arzt gelten (I. 3.). Überdies mißachtet die Senatsmehrheit die strikten Grenzziehungen des Grundgesetzes bei der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern (II.).   Darüber hinaus verkennt die Senatsmehrheit, daß ein Bundesgesetz, das im Wege der Kompetenz kraft Sachzusammenhangs in einen ausschließ­ lichen Gesetzgebungsbereich des Landes übergreift, die Landeszuständigkeit nur verdrängen kann, wenn es auch materiell verfassungsgemäß ist (III.).



Abweichende Meinung Papier, Graßhof und Haas127

Schließlich bedurfte es keiner Übergangsregelung für die Einführung des Facharztvorbehalts (IV.). I. 1. Die Senatsmehrheit erkennt, daß der bayerische Gesetzgeber mit den Regelungen zur Verhinderung von Arztpraxen, die vorwiegend Schwanger­ schaftsabbrüche vornehmen, und mit der Normierung des bei Schwanger­ schaftsabbrüchen geltenden ärztlichen Berufsrechts Sachverhalte geregelt hat, die zur Materie des ärztlichen Berufsrechts gehören, für die der Lan­ desgesetzgeber ausschließlich zuständig ist. Gleichwohl habe der bayerische Gesetzgeber die beiden hier in Rede stehenden berufsrechtlichen Regelungen nach der Kompetenzordnung nicht treffen dürfen, weil der Bundesgesetzge­ ber diesen Sachbereich mit § 13 Abs. 2 SchKG und mit § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB als unerläßliche Voraussetzung für die Ausgestaltung des Abtreibungs­ strafrechts auf der Grundlage des Schutzkonzepts der Beratungsregelung selbst habe regeln dürfen. Ohne diese Regelungen habe der Bund seine zugewiesene Strafrechtskompetenz nicht sinnvoll nutzen können. Dabei habe der Bundesgesetzgeber von seiner Zuständigkeit auch „durch absichts­ volles Unterlassen einer Regelung“ Gebrauch machen können. Ob der Ge­ brauch, den der Bund von einer Kompetenz gemacht habe, erschöpfend sei, müsse aufgrund einer Gesamtwürdigung des betreffenden Normenkomplexes festgestellt werden. In jedem Fall setze die Sperrwirkung für die Länder voraus, daß der Gebrauch der Kompetenz durch den Bund hinreichend er­ kennbar sei. Diese Maßstäbe wendet die Senatsmehrheit nur dort konsequent an, wo sie dem Landesgesetzgeber zugesteht, noch eine Kompetenz zur Regelung eines Erlaubnisvorbehalts und einer Facharztqualifikation zu haben. Inso­ weit werde nicht erkennbar, ob das Schwangeren- und Familienhilfeergän­ zungsgesetz des Bundes den Ländern solche Regelungen als für das bun­ desrechtliche Regelungskonzept unerläßlich stillschweigend untersagt habe. Bei den beiden Sachbereichen (Spezialkliniken, ärztliches Berufsrecht), die den Schwerpunkt auch der rechtspolitischen Auseinandersetzung um den bayerischen „Sonderweg“ bilden, kommt die Senatsmehrheit zu entgegenge­ setzten Ergebnissen, obwohl Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Norm­ zweck der Regelungen des Schwangeren- und Familienhilfeergänzungs­ gesetzes auch keine genaueren Anhaltspunkte für die Erkennbarkeit einer Mitregelung dieser Bereiche des ärztlichen Berufsrechts durch den Bundes­ gesetzgeber geben. 2. Die Senatsmehrheit kommt zu dem Ergebnis, das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz des Bundes enthalte einen „absichtsvollen Regelungsverzicht“ hinsichtlich der Verhinderung einer Spezialisierung von

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4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz

Arztpraxen auf Schwangerschaftsabbrüche durch eine Quotenregelung und normiere diesen Sachbereich mit Sperrwirkung für die Länder erschöpfend. Dazu kann sie nach ihren Maßstäben nur gelangen, wenn sie feststellt, es sei für den Landesgesetzgeber hinreichend erkennbar gewesen, daß der Bundesgesetzgeber von seiner Kompetenz in dieser Weise Gebrauch ge­ macht hat. Diese Feststellung hat die Senatsmehrheit nicht in nachvollzieh­ barer Weise getroffen. Sie kann aus dem Gesetzgebungsverfahren nur heranziehen, daß sich der Bundesgesetzgeber „der Prüfaufgabe“ des Bundesverfassungsgerichts zur Begegnung der von Spezialeinrichtungen für den Lebensschutz ausgehenden Gefahren „unterzogen“ hat, indem er eine Delegation nach Frankreich ge­ schickt hat, um die dortige Regelung zu begutachten. Danach habe der Bundesgesetzgeber keinen weiteren Beratungsbedarf gesehen. Diese Frage sei dann im Gesetzgebungsverfahren „nicht mehr erörtert“ worden. Statt einer Quotenregelung habe der Bundesgesetzgeber den sog. Sicherstellungs­ auftrag in § 13 Abs. 2 SchKG vorgesehen und die „Arzteinnahmen aus Abbrüchen durch feste Gebühren begrenzt“. Über die Motive des Bundesgesetzgebers zur Untersagung einer Quoten­ regelung als unerläßlich für das Schutzkonzept kann die Senatsmehrheit nur spekulieren [C. III. 2. d)], um dann schließlich die fehlende Erkennbarkeit solcher Motive damit zu erklären, daß das Ringen um einen Kompromiß es nicht zugelassen habe, die Motive offenzulegen. Es sei aber immerhin er­ kennbar, daß dem Mittel der Einnahmebegrenzung „kein Raum gegeben werden sollte“. Auch habe der Bundestag rund ein Jahr nach der Verkün­ dung des Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetzes in der Plenar­ debatte zu dem bayerischen Gesetzesvorhaben „bekräftigt“, seinerzeit „den Willen zu einer erschöpfenden Regelung gehabt zu haben“. a)  Hätte die Senatsmehrheit die Entstehungsgeschichte vollständig heran­ gezogen sowie Sinn und Zweck einer Verhinderung von Spezialkliniken einerseits und des sog. Sicherstellungsauftrags (§ 13 Abs. 2 SchKG) ande­ rerseits berücksichtigt, so wäre die Spekulation um die Motive der von ihr angenommenen Regelung des Bundesgesetzgebers überflüssig gewesen. Die Entstehungsgeschichte zeigt eindeutig, daß der Bundesgesetzgeber bewußt auf jegliche Normierung zur Thematik von Spezialkliniken verzich­ tet hat. Er hat solchen Kliniken weder durch eine ausdrückliche Regelung selbst entgegengewirkt, noch hat er den eigentlich zuständigen Ländern entsprechende Regelungen stillschweigend untersagt. Nur in diesem Sinn hat der Bundesgesetzgeber „dem Mittel der Einnahmebegrenzung keinen Raum gegeben“. aa) Die Senatsmehrheit meint, es sei den Ländern erkennbar gewesen, daß der Bundesgesetzgeber ihnen die Einschätzung dazu, ob Spezialkliniken



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durch eine Quotenregelung entgegengewirkt werden soll, nicht überlassen habe; der Sonderausschuß „Schutz des ungeborenen Lebens“ des Bundes­ tages habe jedenfalls die Abwehr etwaiger Gefahren „als eine eigene Auf­ gabe begriffen“. Aus der Entstehungsgeschichte ergibt sich hierzu das Ge­ genteil: Der Sonderausschuß hat den Ländern einen Bericht über die Praktizie­ rung der Quotenregelung in Frankreich „zur Information“ zugesandt (vgl. Protokoll der 24. Sitzung des Sonderausschusses „Schutz des ungeborenen Lebens“, 12. WP vom 19. Mai 1994, S. 6 Tagesordnungspunkt 1). Wenn der federführende Ausschuß des Bundestages Ländern zur Information einen Bericht übersendet, der eine Materie ihres Zuständigkeitsbereichs betrifft, so liegt hierin der eindeutige Erklärungswert, daß die Länder zuständigkeits­ halber damit befaßt werden. Informationen bedarf derjenige, der auf ihrer Grundlage noch tätig werden kann. Das ist bei den Ländern der Fall, wenn sie noch gesetzgeberische Konsequenzen ziehen können – nicht aber, wenn die „Information“ sie von weiterer Gesetzgebung ausschließen soll. Die Senatsmehrheit meint, die frühzeitige Unterrichtung der Länder habe diese auf die Beratungen im Bundesrat vorbereiten sollen. Dies ist wie­der­ um eine bloße Spekulation. Wenn auf Bundesebene schon der Bundestag zum Thema der Spezialkliniken keinen Beratungs- und Erörterungsbedarf mehr sah, liegt die Annahme fern, daß dieser Bedarf beim Bundesrat be­ stand. Tatsächlich kann die Senatsmehrheit auch zu einer Behandlung dieses Themas im Bundesrat nichts anführen. bb) Im Gesetzgebungsverfahren wird es auch nicht erkennbar, daß der Bundesgesetzgeber – gewissermaßen als Ersatz für eine den Ländern unter­ sagte Quotenregelung – Spezialeinrichtungen durch die Festschreibung der ärztlichen Gebühren verhindern wollte. Die Diskussionen im Sonderaus­ schuß „Schutz des ungeborenen Lebens“ und im Bundestag zeigen keinerlei Verbindung zwischen beiden Regelungen auf. Diese drängt sich – entgegen der Auffassung der Senatsmehrheit – auch nicht auf. Erhalten Ärzte für beratene Schwangerschaftsabbrüche, die überwiegend nicht über die Kran­ kenkassen abgerechnet werden, Gebühren zwischen 300 und 400 DM, so kann die einheitliche Festlegung derartiger Gebühren nicht dazu bestimmt sein, Spezialkliniken entgegenzuwirken. Ärzten, die auf die Vornahme von Abtreibungen spezialisiert sind und bis zu 20 solcher Eingriffe am Tag vornehmen, kann hierdurch keinerlei Anreiz gegeben werden, ihre beruf­ liche Tätigkeit auf andere ärztliche Leistungen umzustellen. cc)  Im Gesetzgebungsverfahren tritt die Unhaltbarkeit der Auffassung der Senatsmehrheit am deutlichsten aus der Antwort hervor, die die Vorsitzende des federführenden Sonderausschusses „Schutz des ungeborenen Lebens“ auf die Frage eines Sachverständigen gegeben hat, warum der Bund keine

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4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz

Regelungen zur Untersagung von Einrichtungen getroffen habe, die sich auf die Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen spezialisiert haben: „Zunächst einmal ist die Frage umstritten, ob insoweit eine Kompetenz des Bun­ desgesetzgebers besteht. Das ist das Problem. Und dies konnte nicht abschließend geklärt werden. Nachdem die Kompetenz von wichtigen Bundesministerien be­ stritten wird, hat man auf eine Regelung verzichtet.“ (BTProt. 21. Sitzung vom 14. April 1994, S. 95)

Eine gegenteilige Erklärung ist im weiteren Verlauf des Gesetzgebungs­ verfahrens nicht erfolgt. Entgegen dem Eindruck, den die Senatsmehrheit mit ihren Ausführungen zu C. III. 2. c) aa) erweckt, folgt auch nicht aus der zitierten Ausschußdrucksache 145 Seite 3 (Deutscher Bundestag, Son­ derausschuß „Schutz des ungeborenen Lebens“, Ausschuß-Drucks 145), daß die Zweifel an der Kompetenz des Bundesgesetzgebers später aufgegeben wurden. Die Drucksache enthält einen Bericht über die – bereits von der Ausschußvorsitzenden in der oben erwähnten 21. Sitzung angekündigte – Reise einer Delegation des Sonderausschusses nach Paris am 24. und 25. April 1994. Auf Seite 3 heißt es nach Darstellung des Hinweises des Bun­ desverfassungsgerichts auf die von Spezialeinrichtungen ausgehenden Ge­ fahren (BVerfGE 88, 203 [294]): „Diesem Hinweis folgend war es Zweck der Reise, durch Gespräche Informatio­ nen über die rechtlichen Bestimmungen, die Erfahrungen der beratenden und ab­ brechenden Ärzte sowie der Einrichtungen, in denen Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden, zu erhalten.“

Die Auskunft der Ausschußvorsitzenden wird durch die Tatsache bestä­ tigt, daß das Bundesministerium der Justiz, das im Verfahren der Gesetzge­ bung des Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetzes um fachliche Beratung ersucht worden war, die schriftliche Auskunft gegeben hatte, dem Bund fehle für die Anordnung einer Quotenregelung die Kompetenz (vgl. hierzu den ehemaligen Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministe­ rium der Justiz Göhner in der Plenardebatte vom 13. Juni 1996, 13. WP, 110. Sitzung, S. 9761 C). dd)  Aus allem folgt eindeutig, daß der Bundesgesetzgeber davon ausging, er habe für eine Quotenregelung keine Kompetenz. Nur darum „gab er ihr keinen Raum“. Hier hätte die Senatsmehrheit klar erkennbare Motive für das Schweigen des Bundesgesetzgebers zu dieser Frage finden können. Ihre Spekulationen nach den Motiven des Gesetzgebers gehen damit ins Leere. ee) Die Senatsmehrheit kann sich als Beleg für die Gesetzgebungsge­ schichte keinesfalls auf die Plenardebatte des Bundestages vom 13. Juni 1996 berufen. Hier ging es – rund ein Jahr nach der Verkündung des Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetzes – um höchst streitige politische Meinungsäußerungen von Abgeordneten des Bundestages, der



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selbst mit keinem Gesetzgebungsverfahren zu dieser Materie mehr befaßt war, zu dem bayerischen Gesetzesvorhaben (vgl. dazu Deutscher Bundestag, 13. WP, 110. Sitzung, S. 9747–9764). In der Debatte wurde teils die Auf­ fassung vertreten, der Bundesgesetzgeber habe mit dem Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz dem bayerischen Gesetzgeber die Kompetenz für seine beiden Gesetzgebungsvorhaben (Bayerisches Schwangerenbera­ tungsgesetz und Bayerisches Schwangerenhilfe- und Ergänzungsgesetz) ge­ nommen (so von den Abgeordneten der SPD, Bündnis 90 / Die Grünen und der PDS). Teils wurde dem insgesamt widersprochen (durch Abgeordnete der CDU / CSU). Teils wurde ausdrücklich nur die Kompetenz des baye­ rischen Gesetzgebers für das Schwangerenberatungsgesetz als durch das Schwangeren- und Familienhilfeergänzungsgesetz des Bundes verdrängt angesehen (so insbesondere durch Abgeordnete der F.D.P.). Die Antwort, die der Abgeordnete Schmidt-Jortzig in dieser Debatte auf die Fragen des Abgeordneten Göhner gegeben hat, stellt die Senatsmehrheit zu A. III. 2. ungenau dar. Während der gesamten Debatte hat der Abgeord­ nete Schmidt-Jortzig lediglich davon geredet, daß eines der geplanten baye­ rischen Gesetze gegen das Bundesgesetz verstößt (vgl. etwa a. a. O., S. 9759 C. und D.). Hierauf hat der Abgeordnete Göhner in seiner Frage an den Abgeordneten Schmidt-Jortzig hingewiesen und gefragt, welche Einwen­ dungen er gegen den zweiten bayerischen Gesetzentwurf (den des hier an­ gegriffenen Gesetzes) habe. Hierauf hat der Abgeordnete Schmidt-Jortzig dem Wortlaut nach mehrdeutig, dem Sinnzusammenhang nach aber seine früheren Äußerungen bestätigend, geantwortet: „Herr Kollege Göhner, es geht mir in der Tat nur um die rechtliche Frage… Es geht mir darum, ob es dem bayerischen Gesetzgeber an diesem Punkt erlaubt ist, mit einem eigenen Entwurf, mit einer eigenen Regelung gegenüber der des Bun­ desgesetzgebers aktiv zu werden. Ich glaube nicht, daß das geht; denn in Art. 72 des Grundgesetzes …“

Diesen Sinnzusammenhang vernachlässigt die Senatsmehrheit. Diese Plenardebatte ist ausschließlich als eine politische Auseinanderset­ zung des Deutschen Bundestages mit dem bayerischen „Sonderweg“ zu verstehen. Hieraus Erkenntnisse über die Vorstellungen des Gesetzgebers des längst verabschiedeten Schwangeren- und Familienhilfeänderungsge­ setzes zu ziehen, wird juristischer Argumentationsweise nicht gerecht; schon gar nicht ist diese politische Debatte Teil der Gesetzgebungsgeschichte des Bundesgesetzes. b) Mit ihrer Auffassung, der Bundesgesetzgeber habe es als „unabweis­ bare Aufgabe“ „zur Eindämmung vermuteter Schutzdefizite für das ungebo­ rene menschliche Leben“ ansehen dürfen, den Ländern zu untersagen, Spezialkliniken durch eine Quotenregelung entgegenzuwirken, stellt die

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4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz

Senatsmehrheit das Schutzkonzept der Beratungsregelung, das das Bundes­ verfassungsgericht gebilligt hatte und das der Bundesgesetzgeber umsetzen wollte (vgl. Begründung zur Beschlußempfehlung BTDrucks 13  /  1850, S. 18), geradezu auf den Kopf. Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung vom 28. Mai 1993 (vgl. BVerfGE 88, 203 [294]) konnten es dem Bundes­ gesetzgeber nur nahelegen, spezialisierten Abbruchkliniken entgegenzuwir­ ken, um so Beratungsdefizite zu verhindern. Die Senatsmehrheit geht dem­ gegenüber davon aus, der Gesetzgeber habe es zum Schutz des ungeborenen Lebens durch das Beratungskonzept als unabweisbar ansehen können, daß Spezialkliniken zugelassen bleiben. Diese von ihr vermutete Einschätzung des Gesetzgebers begründet die Senatsmehrheit durch Spekulationen über entsprechende Motive des Gesetz­ gebers, die allerdings, wie schon ausgeführt ist, ins Leere gehen. Überdies ermangelt es jeglicher Anhaltspunkte dafür, daß dem Gesetzgebungsverfah­ ren entsprechende Tatsachenfeststellungen und Einschätzungen zugrunde lagen. Diese lagen der Mehrheit in der gesetzgebenden Körperschaft auch fern. Die Mehrheit sah in dem Schwangeren- und Familienhilfeergänzungs­ gesetz die „Umsetzung des Urteils“ und nicht eine „Ersetzung durch eigene Wertentscheidung“ (vgl. Abgeordneter Scheu unter Bestätigung des Frak­ tionsvorsitzenden der CDU / CSU – Deutscher Bundestag, 13. WP, 47. Sit­ zung, S. 3774 A; dies fand Eingang in die Begründung zur Beschlußemp­ fehlung BTDrucks 13 / 1850, S. 18). Der Wertung des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 28. Mai 1993 entsprechen die Vermutungen der Senatsmehrheit zu den Regelungsabsichten des Gesetzgebers nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat die Erfüllung des sog. Sicherstellungsauftrags nur insoweit zugelassen, als zu seiner Verwirklichung nicht andere dem Lebensschutz abträgliche Maßnahmen gefördert werden (vgl. BVerfGE 88, 203 [333 f.]). Danach kann es nicht in Betracht kommen, Spezialkliniken trotz ihrer Defizite für den Lebensschutz zuzulassen, um ausreichend viele Einrichtungen zur Vornah­ me von Schwangerschaftsabbrüchen zu haben. Ähnliches gilt für die Mutmaßungen der Senatsmehrheit, der Gesetzgeber habe von seiner Kompetenz, spezialisierte Einrichtungen zu unterbinden, nur deshalb keinen Gebrauch gemacht, weil er der Auffassung war, daß Spezialisierung zwar einerseits die Qualität der Beratung beeinträchtigen, andererseits aber dem Gesundheitsschutz zugute kommen kann. Es gab keine Sachverständigenausführungen dazu, daß etwa die medizinische Be­ treuung der Frauen bei Abtreibungen durch Fachärzte oder gynäkologische Stationen der Krankenhäuser defizitär sei und durch Spezialkliniken sicher­ gestellt werden müsse.



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3.  Den Straftatbestand des § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB legt die Senatsmehr­ heit dahin aus, daß er zugleich – stillschweigend – die berufsrechtlichen Anforderungen abschließend festlege, die für die Beratung abbruchwilliger Frauen im gesamten Bundesgebiet einheitlich gelten sollen. Dieses Ergebnis hat nach den Maßstäben der Senatsmehrheit wiederum zur Voraussetzung, daß festgestellt werden kann, es sei für den Landesgesetzgeber erkennbar geworden, daß der Bundesgesetzgeber die nicht ausdrücklich erfolgte be­ rufsrechtliche Regelung als unerläßlich in den Zusammenhang seines Schutzkonzepts einbezieht. Hierzu trifft die Senatsmehrheit teils keine Fest­ stellungen, teils solche, die weder nach Wortlaut, noch nach Sinn und Zweck, noch unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte des § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB zu überzeugen vermögen. a) Die Senatsmehrheit meint, § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB umschreibe die der Frau obliegenden Pflichten bei ihrem Gespräch mit dem Arzt abschlie­ ßend und mit demselben Inhalt, wie sie ihr bei der Konfliktberatung gemäß § 219 StGB, § 5 SchKG auferlegt sind. An diesen Ausgangspunkt ihrer Auffassung knüpft die Senatsmehrheit die Folgerung, daß § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB zugleich auch die Grenze markiere, bis zu der das Berufsrecht durch eine gesetzliche Regelung in das Verhältnis zwischen Arzt und Pati­ entin eingreifen dürfe. Mit berufsrechtlichen Anforderungen an die Pflichten eines Arztes beim Gespräch mit abbruchwilligen Patientinnen werde auch deren Verhalten gesteuert. Das dürfe aber nicht weitergehend der Fall sein, als das Beratungskonzept es zur Herstellung eines Maximums an Lebens­ schutz durch Austarierung von „Druck und Offenheit“ regele. Wenn ein Arzt von der Frau verlange, daß sie ihm ihre Gründe für den verlangten Schwangerschaftsabbruch darlege, so setze dies die Frau einem Druck aus, der ihrer Offenheit für ein Beratungsgespräch abträglich sei. Der Frau wer­ de nicht deutlich, daß der Arzt ihre Angaben nicht überprüfen und bewerten müsse. Belege dafür, daß diese Einschätzungen auch die Einschätzungen des Gesetzgebers waren, kann die Senatsmehrheit nicht anführen. Sie beruft sich hierzu nur auf die Äußerungen einzelner Abgeordneter der SPD und F.D.P. oder auf die – nicht Gesetz gewordenen – Gesetzentwürfe der SPD und F.D.P. Die Äußerung, der Arzt dürfe nicht „insgeheim wieder zum Richter“ werden, fiel erst ein Jahr später in der besagten Plenardebatte vom Juni 1996 (vgl. a. a. O., S. 9754 C). Auffassungen einzelner Bundestagsab­ geordneter zu einem Gesetzesvorhaben sind – auch wenn es sich um einen im Wege des Kompromisses ausgehandelten Entwurf handelt – grundsätz­ lich nicht die Auffassung „des Gesetzgebers“. Dazu müßten solche Mei­ nungsäußerungen in amtliche Begründungen oder Berichte der maßgebenden Ausschüsse Eingang gefunden haben. Gerade in dem rechtspolitisch höchst umstrittenen Gesetzgebungsverfahren, wie es die Regelung des Abtreibungs­

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4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz

strafrechts darstellte, wurden in den Beratungen des Bundestages die unter­ schiedlichsten rechtlichen und ethischen Auffassungen geäußert (vgl. etwa einerseits Abgeordneter Hüppe [CDU / CSU], Deutscher Bundestag, 12. WP, 230. Sitzung, S. 19998, andererseits Abgeordnete Bläss [PDS / Linke Liste] a. a. O., S.  19970). b) Der Wortlaut des § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB gibt schon für den Aus­ gangspunkt der Erwägungen der Senatsmehrheit nichts her. Er enthält kei­ nerlei Formulierungen, die denen des § 5 SchKG entsprechen. § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB droht dem Arzt für ein Unterlassen Strafe an und kann daher gar nicht – wie § 5 SchKG – Erwartungen zum Ausdruck bringen, welche die Rechtsordnung an die Frau stellt. Ebensowenig finden sich in § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB irgendwelche Anhaltspunkte für eine Mitregelung des ärztlichen Berufsrechts. c)  Das Verständnis der Senatsmehrheit vom Regelungsgehalt des § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB wird dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift und ihrer Bedeutung für das Beratungskonzept nicht gerecht. aa)  § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB kann schon vor dem Hintergrund des Re­ gelungsgefüges von Abtreibungsstrafrecht einerseits und Gewissensfreiheit des Arztes (§ 12 Abs. 1 SchKG) andererseits kein „Recht schaffen“, das mit dem der Konfliktberatung übereinstimmt. Die Norm, die ein Unterlassen des Arztes mit Strafe bedroht, kann auch nicht die Frau von einer „Pflicht“ befreien, dem Arzt ihre Gründe für die verlangte Abtreibung darzulegen. § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB kann weder die Grenzen eigener Darlegungs­ pflicht der Frau vor dem Arzt noch die Grenzen eines Fragerechts des Arztes bestimmen. § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB wird erst in einem Stadium aktuell, in dem der beratene Schwangerschaftsabbruch – bei Beachtung der Fristen – in jedem Fall straffrei wäre und seine Vornahme nur noch von der Entscheidung des Arztes abhängt. Diese hat der Arzt aber allein an seinem ärztlichen Gewis­ sen auszurichten. Gesetzliche Vorgaben – auch solche berufsrechtlicher Art – hat er dabei nur zu beachten, soweit sie Mindestanforderungen stellen. Welche Darlegung ein Arzt von einer Frau fordert, wenn diese von ihm verlangt, einen zwar straffreien, aber nicht als rechtmäßig festgestellten Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen und dabei ungeborenes Leben zu töten, entscheidet – unter Beachtung der Mindestanforderungen des Berufs­ rechts – allein der Arzt. „Rechte“ und „Pflichten“ der Frau gibt es dabei nicht. Die Frau hat unter keiner Voraussetzung einen Anspruch auf Vornah­ me eines beratenen Schwangerschaftsabbruchs gegen den Arzt. Das gilt selbst dann, wenn sie ihm ihre Gründe für den beratenen Abbruch eingehend und nachvollziehbar darlegt. Die Frau erwirbt für sich auch die Straffreiheit der Abtreibung nicht erst durch Erfüllung irgendwelcher Pflichten gegen­



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über dem Arzt. Ohne Rücksicht darauf, ob und mit welchem Inhalt der Arzt ein Gespräch mit ihr führt, ist sie straffrei, wenn sie dem Arzt fristgerecht die Beratungsbescheinigung vorgelegt hat und der Arzt innerhalb der Zwölf­ wochenfrist die Abtreibung vornimmt. Am Ende der Konfliktberatung steht, daß der Frau mit Erteilung der Beratungsbescheinigung die Letztverantwortung über das Austragen des Kindes zuerkannt wird. Die Wahrnehmung dieser Verantwortung kann durch eine Konfliktberatung optimiert werden, wenn „Druck und Offenheit“ ge­ geneinander austariert werden. Das Gespräch zwischen Arzt und abbruch­ williger Frau muß aber in erster Linie dem Arzt Grundlagen für seine Entscheidung geben, ob er es vor seinem ärztlichen Selbstverständnis ver­ antworten kann, entgegen seinem Gelöbnis, ungeborenes Leben grundsätz­ lich zu schützen, dieses Leben zu töten, ohne daß hierfür Rechtfertigungs­ gründe festgestellt sind. Dieses nach ärztlichem Berufsrecht ohnehin zu führende Gespräch mit der abbruchwilligen Frau wird in die notwendigen Rahmenbedingungen eines dem Lebensschutz dienenden Beratungskonzepts einbezogen (vgl. BVerfGE 88, 203 [271]). Diese wesentlichen Unterschiede zwischen einer Konfliktberatung und dem Gespräch zwischen Arzt und abbruchwilliger Frau geben keinerlei Grundlage für eine einheitliche rechtliche Ausgestaltung dieser beiden Rah­ menbedingungen des Schutzkonzepts der Beratungsregelung. bb)  (1)  Die Senatsmehrheit bewegt sich wiederum im Bereich von Spe­ kulationen, wenn sie dem Gesetzgeber die Einschätzung unterstellt, die Frage des Arztes nach den Gründen für den verlangten Schwangerschafts­ abbruch setze die Frau einem Druck aus, der dem Lebensschutz unzuträglich sei. Diese Einschätzung wird von dem Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 88, 203 [285, 291 f.]) zu Recht nicht geteilt. Der Frau wird ihre ausschließlich eigene Verantwortung für einen Schwan­ gerschaftsabbruch schon bei der Konfliktberatung bewußt gemacht. Es ist ihr daher deutlich, daß der Arzt ihre Angaben nicht zu überprüfen hat. Anderer­ seits weiß sie aber auch, daß sie einen Arzt durch das bloße Verlangen, kör­ perliche Eingriffe bei ihr vorzunehmen, nicht aus seiner ärztlichen Verant­ wortung entlassen kann. Es wird ihr einleuchten, daß kein Arzt etwa den Blinddarm, die Mandeln oder die Gebärmutter auf bloßen Wunsch hin entfer­ nen würde und dürfte. Die Frau wird es daher auch ohne weiteres verstehen, daß dies bei dem schwerwiegenderen – lebenszerstörenden – Eingriff eines Schwangerschaftsabbruchs ebensowenig in Betracht kommen kann. Der Frau wird nach allem mit der Frage des Arztes nach den Gründen für ihren Abbruchwunsch nichts Ungewöhnliches zugemutet. Die ärztliche Schweigepflicht macht den Arzt zudem zu einem für die Frau vertrauens­ würdigen Geheimnisträger. Soweit die Senatsmehrheit es in diesem Zusam­

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menhang auch schon als einen für den Lebensschutz bedenklichen Druck ansieht, daß die Frau sich der Abtreibung beim Arzt nicht anonym unterzie­ hen könne, zeigt dies, daß sie in dem Arzt den bloßen Vollstrecker des Verlangens der Frau sehen möchte. Hierin liegt eine Mißachtung des ärzt­ lichen Selbstverständnisses. Soweit die Senatsmehrheit unter Hinweis auf eine knappe Meinungsbil­ dung des 98. Deutschen Ärztetages den Eindruck zu erwecken sucht, als lehnten es die Ärzte ab – anders als die Vertreter der ärztlichen Standesor­ ganisationen in der mündlichen Verhandlung vor dem Zweiten Senat –, erst nach Darlegung von Gründen eine Entscheidung über die ärztliche Verant­ wortbarkeit eines Schwangerschaftsabbruchs zu treffen, so gibt die ange­ führte Zitatstelle dafür nichts her. Aus ihr wird nur deutlich, daß die knap­ pe Mehrheit des 98. Deutschen Ärztetages sich gegen die strafrechtliche Sanktionierung ärztlichen Berufsrechts wendet. (2) Im übrigen übersieht die Senatsmehrheit bei ihrer Auffassung, der Gesetzgeber habe einheitliche Offenbarungspflichten der Frau vor der Bera­ tungsstelle und dem Arzt festgelegt, um „Druck und Offenheit“ gegenüber der Frau auszutarieren, daß diese Ausgewogenheit durch ein gesetzlich ge­ regeltes Berufsrecht gar nicht zu verwirklichen wäre. Nach den Erklärungen der Vertreter der ärztlichen Standesorganisationen in der mündlichen Ver­ handlung vor dem Zweiten Senat (vgl. BVerfGE 88, 203 [292]) ist davon auszugehen, daß die ärztlichen Standesorganisationen und damit jedenfalls die Mehrzahl der Frauenärzte es als unerläßlich für eine ärztlich verantwort­ bare Entscheidung ansehen, von der Frau Gründe für ihr Verlangen nach Abtreibung zu erfahren. Eine berufsrechtliche Regelung des Bundesgesetz­ gebers, daß der Arzt einen Schwangerschaftsabbruch ärztlich schon verant­ worten dürfe, wenn er der Frau nur Gelegenheit zur Darlegung ihrer Grün­ de gegeben hat, kann daher keinen Arzt davon abhalten, sich an die – stren­ geren – ungeschriebenen Maßstäbe des Berufsrechts zu halten. Daher wären Frauen dem von der Senatsmehrheit so eingeschätzten Druck in den meisten Fällen selbst dann ausgesetzt, wenn das normierte Berufsrecht die ärztlichen Berufspflichten nivellierte, indem diese den strafrechtlich sanktionierten ärztlichen Pflichten angepaßt würden. cc)  Hätte die Senatsmehrheit – wie es den Regeln der juristischen Aus­ legungsmethodik entspricht – die Entstehungsgeschichte des § 218c Abs. 1 Satz 1 StGB vollständig herangezogen, so hätte sie erkennen können, daß es dem Gesetzgeber mit § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB nur darum ging, die spezifische Forderung des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen, das ver­ langt hatte, die vorgefundenen – bei den ärztlichen Standesorganisationen nicht umstrittenen – ärztlichen Verhaltenspflichten strafrechtlich zu normie­ ren. Die berufsrechtlichen Anforderungen waren nicht Gegenstand eines



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vom Bundesverfassungsgericht erkannten Regelungsbedarfs, da sie – so wie sie sich im ärztlichen Selbstverständnis entwickelt hatten – dem Untermaß­ verbot genügten. Die berufsrechtlichen Anforderungen haben daher auch im Gesetzgebungsverfahren keine Rolle gespielt. (1) Im Gesetzgebungsverfahren war es unstreitig, daß der später Gesetz gewordene Entwurf eines Schwangeren- und Familienhilfeergänzungsge­ setzes eine „Umsetzung des Urteils“ des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 war und „nicht Ersetzung durch eigene Wertentscheidung“ des Gesetzgebers; dies sollte „jede Auslegung“ binden (vgl. Abgeordneter Scheu (CSU), Deutscher Bundestag, 13. WP, 47. Sitzung, S. 3774 A; Abge­ ordnete Niehuis (SPD), Deutscher Bundestag, 13. WP, 110. Sitzung vom 13. Juni 1996, S. 9748 A; vgl. auch die Begründung zur Beschlußempfeh­ lung BTDrucks 13 / 1850, S. 18). Mag zwar vor diesem Hintergrund § 218c Abs. 1 Satz 1 StGB noch als eine „vorsichtige Korrektur“ (vgl. dazu Sachverständiger Prof. Dr. Klaus Bernsmann, Protokoll der 21. Sitzung des Sonderausschusses „Schutz des ungeborenen Lebens“, 12. WP vom 14. April 1994, S. 47) des verfassungs­ gerichtlichen Urteils begriffen werden, so liegt es aber doch nicht nahe, daß der Bundesgesetzgeber darüber hinaus auch noch weitere, schwerwiegendere Korrekturen vornehmen und die gesetzliche Regelung des ärztlichen Berufs­ rechts, für das die Länder allein zuständig sind, in Angriff nehmen wollte. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, daß die Anordnung, ein Arzt dürfe einen beratenen Abbruch schon dann verantworten, wenn er der Frau nur Gelegenheit gegeben habe, ihm ihre Gründe mitzuteilen, den tragenden Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung vom 28. Mai 1993 widerspräche (vgl. BVerfGE 88, 203 [271, 289 bis 293, 308]). Die berufsrechtliche Regelung war auch nicht notwendig dadurch veran­ laßt, daß der Bundesgesetzgeber das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der strafrechtlichen Sanktionierung ärztlicher Pflichten „vor­ sichtig korrigiert“ hat. Ärztliche Berufspflichten, sich von der Frau Gründe für den verlangten Abbruch mitteilen zu lassen, bleiben auch dann sinnvoll, wenn der Arzt nur dafür bestraft wird, daß er der Frau nicht einmal Gele­ genheit zur Darlegung ihrer Gründe gibt. (2)  Vor dem Hintergrund des unumstrittenen Zieles des Bundesgesetzge­ bers, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen, keine eigenen Wertentscheidungen an seine Stelle zu setzen, und die durch die Vollstre­ ckungsanordnung geschaffene Rechtslage zu beachten (vgl. BTDrucks 13 / 1850, S. 18), gibt es auch keinerlei Anlaß für die Annahme der Senats­ mehrheit, der Gesetzgeber habe übereinstimmendes Recht für die Konflikt­ beratung und für die nachfolgende Beratung beim Arzt schaffen wollen. Von solch übereinstimmendem Recht geht das Urteil des Bundesverfassungsge­

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richts gerade nicht aus. Am deutlichsten tritt dies in der von dem Bundes­ verfassungsgericht getroffenen Vollstreckungsanordnung hervor (vgl. BVerf­ GE 88, 203 [209 bis 213]). Hiernach (S. 210 zu 3 (2) a) „umfaßt die Bera­ tung das Eintreten in eine Konfliktberatung; dazu wird erwartet, daß die schwangere Frau der sie beratenden Person die Tatsachen mitteilt, derent­ wegen sie einen Abbruch der Schwangerschaft erwägt“. Demgegenüber obliegen dem „Arzt, von dem die Frau den Abbruch der Schwangerschaft verlangt, die sich aus den Urteilsgründen ergebenden Pflichten“ (S. 212 zu 5.). Danach „hat er sich die Gründe, aus denen die Frau den Schwanger­ schaftsabbruch verlangt, darlegen zu lassen“ (a. a. O., S. 290). (3) Nach ihren Maßstäben hätte die Senatsmehrheit feststellen müssen, daß es dem Landesgesetzgeber erkennbar war, daß der Bundesgesetzgeber die Mitregelung des ärztlichen Berufsrechts als unerläßlich zur Verwirkli­ chung seines Konzepts selbst vorgenommen hat. Hierzu behauptet die Se­ natsmehrheit lediglich – unbelegt –, es lasse sich „der eindeutige Wille des Bundesgesetzgebers feststellen, die Anforderungen an das ärztliche Bera­ tungsgespräch abschließend zu regeln“. An diesem Willen lasse „der Verlauf der Gesetzgebung keinen Zweifel“. Soweit die Senatsmehrheit meint, dies daraus folgern zu können, daß der Gesetzgeber sich nicht nur bei § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht gehalten, sondern auch die Strafbarkeit wegen der Mitteilung des Ge­ schlechts des Kindes und des familiären Umfelds nicht geregelt habe, belegt dies nicht den bundesrechtlichen Übergriff in ärztliches Berufsrecht, für das die Länder zuständig sind. Zum einen hat der Gesetzgeber zur Notwendig­ keit einer Sanktionierung der Bekanntgabe des Geschlechts des Kindes ei­ gene Erkenntnisse gewonnen, zum anderen hat er die Strafbarkeit der Nöti­ gung zum Schwangerschaftsabbruch jedenfalls mit § 240 Abs. 4 Nr. 2 StGB erfaßt. Im übrigen kann daraus, daß der Gesetzgeber – nach dokumentierten eingehenden Beratungen – davon absieht, bestimmte Sanktionen im Straf­ recht einzuführen, noch nicht geschlossen werden, daß er – ohne dies in Beratungen zu problematisieren – auch in das den Ländern vorbehaltene Berufsrecht regelnd übergreifen will. Aus dem Gesetzgebungsverfahren folgt im Gegenteil, daß der Bundesge­ setzgeber das ärztliche Berufsrecht nicht regeln wollte: In der Begründung zum Entwurf des § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB (BTDrucks 13 / 1850, S. 26) heißt es in nicht mehr zu überbietender Klarheit: „Diese Regelung setzt die Forderungen des Bundesverfassungsgerichts nach Ver­ haltensanforderungen an den den Abbruch vornehmenden Arzt um, soweit sie durch Strafrecht und nicht durch Berufsrecht zu regeln sind.“

Der Bericht des Sonderausschusses „Schutz des ungeborenen Lebens“ (BTDrucks 12 / 8609) stellt unter 3.5. (S. 12) die vom Sonderausschuß vor­



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geschlagenen Regelungen des „Arztrechts“ dar und führt dabei die beiden Regelungen auf, welche die Kosten für einen Schwangerschaftsabbruch bundeseinheitlich festsetzen und die (bundesrechtliche) Approbationsord­ nung dahin ändern, daß bei der ärztlichen Ausbildung Kenntnisse auch über die rechtlichen und ethischen Aspekte eines Schwangerschaftsabbruchs zu vermitteln seien. „Mittelbar“ solle damit auch auf das ärztliche Standesrecht in bezug auf den Schwangerschaftsabbruch eingewirkt werden. Hieraus wird deutlich: Der Gesetzesvorschlag nutzt die dem Bund einge­ räumten Kompetenzen aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG und Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG zum Erlaß gesetzlicher Regelungen im Bereich des Arztrechts und erkennt, daß dem Bund eine unmittelbare Regelung des ärztlichen Be­ rufsrechts versagt ist. Er konnte sich daher über die im eigenen Kompetenz­ bereich getroffenen Regelungen nur mittelbare Einwirkungen auf das ärzt­ liche Standesrecht erhoffen. Deutlicher kann nicht hervortreten, daß der Vorschlag des maßgebenden Sonderausschusses gerade nicht vorgesehen hat, das ärztliche Berufsrecht über den Sachzusammenhang mit der Straf­ rechtskompetenz des Bundes unmittelbar mitzuregeln. dd) Nach allem kann § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB auch unter Zugrundele­ gung der kompetenzrechtlichen Maßstäbe des Senats nur dahin verstanden werden, daß er ärztliche Beratungspflichten im Zusammenhang mit der Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen nicht abschließend für das ärzt­ liche Berufsrecht festlegt. Er sieht die Verletzung von Pflichten, die bei der Vornahme beratener Schwangerschaftsabbrüche gelten, nur dann als straf­ würdig an, wenn der Arzt schon seine im Vorfeld liegende Pflicht verletzt, der Frau zunächst einmal Gelegenheit zur Darlegung ihrer Gründe zu geben. Die Verletzung dieser Pflicht erscheint dem Gesetzgeber schwerwiegend, weil der Arzt sich damit von vornherein der Möglichkeit begibt, die Frau lebensschützend zu beraten. II. Die Senatsmehrheit zieht die Grenzen der Anerkennung einer Ausnahme­ kompetenz kraft Sachzusammenhangs weiter als das Bundesverfassungsge­ richt sie bisher festgelegt hat (1.). Sie beachtet auch die grundlegenden Unterschiede einer konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit und einer Kompetenz kraft Sachzusammenhangs nicht hinreichend (2.). 1. Für die Ausnahmekompetenz kraft Sachzusammenhangs läßt die Se­ natsmehrheit es zu, daß der Bund aus seiner Zuständigkeit für das Strafrecht heraus ein umfassendes Schutzkonzept entwickeln kann, mit dem er in ausschließliche Gesetzgebungsbereiche der Länder hineinwirkt, soweit er dies zur Durchsetzung seiner konzeptionellen Entscheidung und zur Herstel­ lung bundeseinheitlicher Rechtsverhältnisse als unerläßlich ansieht. Mit

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diesen großzügigen Maßstäben gesteht die Senatsmehrheit dem Bund fak­ tisch eine Kompetenz-Kompetenz zu. Der Bundesgesetzgeber hat es in der Hand, durch Entwicklung eines sich auf zahlreiche Gebiete der Rechtsord­ nung erstreckenden Gesamtkonzepts die in ständiger Rechtsprechung errich­ teten engen Grenzen einer Kompetenz kraft Sachzusammenhangs selbst zu seinen Gunsten zu versetzen. Dies läßt das föderale Prinzip des Grundge­ setzes nicht zu [a)]. Es steht auch im Widerspruch zu den tragenden kom­ petenzrechtlichen Erwägungen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 [b)]. a)  aa) Wenn das Grundgesetz alle staatliche Gewalt und damit auch die Gesetzgebung (Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG) an die Grundrechte bindet, so spricht es Bund und Länder gleichermaßen an. Sie können sich einer grundrechtlichen Schutzpflicht nur im Rahmen ihrer eigenen Kompe­ tenzen annehmen. Auch sein Schutzkonzept für ungeborenes Leben kann der Bund daher nur auf dem Boden seiner grundgesetzlichen Kompetenz­ titel ausgestalten. Eine umfassende Gesamtkompetenz für das Abtreibungs­ recht ist dem Bund nicht zugewiesen. bb) Das schließt freilich nicht aus, daß der Bundesgesetzgeber bei der Regelung des Abtreibungsstrafrechts in fremde Sachbereiche punktuell übergreifen kann. Allerdings beurteilt sich die Unerläßlichkeit einer solchen Mitregelung nicht nach einem Gesamtkonzept, das ohne Beschränkung auf eigene Kompetenztitel entworfen ist und etwa repressives Strafen durch präventive Schutzmaßnahmen in vielerlei Sachbereichen ersetzt. Will der Bundesgesetzgeber auf der Grundlage seiner Strafrechtskompe­ tenz ein Konzept entwerfen, mit dem er einen an sich durch das Strafrecht zu gewährenden Schutz teilweise zurücknehmen und durch anderweitige Schutzmaßnahmen ersetzen will, so kann er seine Tatbestände so fassen, daß sie an das Vorliegen der Schutzmaßnahmen anknüpfen. Dabei kann es sich um Tatbestände handeln, welche die Bedingungen der Strafbarkeit oder Straffreiheit regeln. Will der Gesetzgeber etwa einen Teilbereich eines Straf­ tatbestandes straffrei stellen, dies aber an das Vorliegen und die Verwirk­ lichung bestimmter Schutzmaßnahmen knüpfen, durch die eine insoweit erfolgte Zurücknahme des strafrechtlichen Schutzes ausgeglichen werden soll, so wird er diese Voraussetzungen in seine strafrechtlichen Tatbestände aufnehmen. Hieran wäre er gehindert, wenn diese Schutzmaßnahmen zu einer Materie gehören, für die die Länder zuständig sind. Insoweit ist die Mitregelung unerläßlich. Anderes gilt, wenn Strafbarkeit oder Straffreiheit tatbestandsmäßig nicht von anderweitigen Schutzmaßnahmen abhängen. Hält der Bundesgesetzge­ ber es gleichwohl für erforderlich, solche Schutzmaßnahmen als Ersatz für die Zurücknahme von Strafrecht vorzusehen, weil anderenfalls das Unter­



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maßverbot im Hinblick auf ein von Verfassungs wegen gebotenes Schutzni­ veau nicht mehr beachtet wäre, so kann er es nicht ohne weiteres als uner­ läßlich erachten, insoweit mitregelnd in den Kompetenzbereich der Länder überzugreifen. Dies wird von der Senatsmehrheit anders gesehen. Ihrer Auffassung steht jedoch die Striktheit der grundgesetzlichen Kompetenzordnung entgegen. Wenn diese keine umfassende Bundeskompetenz für die Herstellung eines angemessenen Schutzes vorsieht, der dem ungeborenen Leben in allen Be­ reichen der Rechtsordnung geschuldet ist, so kann der Bundesgesetzgeber sich eine solche Kompetenz auch nicht dadurch verschaffen, daß er ein Konzept entwickelt, welches auf Strafe teilweise verzichtet, dafür aber – tatbestandsmäßig nicht miteinander verknüpfte – Schutzmaßnahmen in an­ deren Rechtsbereichen vorsieht. Will der Bundesgesetzgeber seine konzep­ tionelle Entscheidung gleichwohl verwirklichen, so bleibt es ihm unbenom­ men, sich mit den Ländern zu verständigen, soweit diese für die Regelung anderer Schutzmaßnahmen zuständig sind. Hierbei handelt es sich um ein prinzipielles kompetenzrechtliches Problem und nicht – wie die Senats­ mehrheit andeuten will – um einen nur im Abtreibungsrecht entstehenden Regelungsbedarf. Daß die kompetenzrechtliche Sicht der Senatsmehrheit die Kompetenz­ verteilung zwischen Bund und Ländern aufweicht, wird auch daraus deut­ lich, daß die Senatsmehrheit es offenbar der beliebigen Disposition des Bundesgesetzgebers überläßt, wie weit er nach seiner konzeptionellen Ent­ scheidung eine Mitregelung anderer Kompetenzbereiche für „sinnvoll“ und unerläßlich hält. Aus der Sicht der Senatsmehrheit gibt es keine objektive Begrenzung dieser Einschätzung des Bundesgesetzgebers. Die Senatsmehr­ heit zieht nicht einmal in Erwägung, die – von ihr angenommene – Ein­ schätzung des Bundesgesetzgebers, ein Übergriff in den Kompetenzbereich der Länder sei unerläßlich, verfassungsgerichtlich zu überprüfen. cc)  Die Annahme der Senatsmehrheit, infolge bundesgesetzlicher Konsti­ tuierung eines umfassenden und abschließenden Regelungskonzepts seien die Länder mit ergänzenden Regelungen selbst im eigenen Kompetenzbe­ reich ausgeschlossen, kann sich auch nicht auf die Urteile des Zweiten Senats vom 7. Mai 1998 (NJW 1998, S. 2341 [2342] und S. 2346 [2347]) stützen. Dort ging es um das spezifische Verhältnis von Sachgesetzgebung (Abfallrecht) und Steuergesetzgebung, soweit diese sachorientierte Len­ kungszwecke verfolgt. Für diese Konstellation hat der Zweite Senat festge­ stellt, daß die Ausübung der Steuergesetzgebungshoheit zur Lenkung in einem anderweitig geregelten Sachbereich nur zulässig ist, wenn dadurch die Rechtsordnung nicht widersprüchlich wird, etwa dadurch, daß die steu­ errechtliche Regelung der abfallrechtlichen Konzeption des Bundesgesetz­

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gebers zuwiderläuft. Eine vergleichbare Konstellation des Aufeinandertref­ fens von Sachzuständigkeiten und Steuerregelungshoheit unter Inanspruch­ nahme von sachlichen Lenkungszielen ist hier ersichtlich nicht gegeben. Ferner ist zu berücksichtigen, daß in der vom Zweiten Senat entschie­ denen Konstellation unproblematisch von einer umfassenden konzeptio­ nellen Regelung des Bundes deswegen ausgegangen werden konnte, weil der Bund für den von ihm geregelten Sachbereich (Abfallrecht) eine Voll­ kompetenz hat (Art. 74 Abs. 1 Nr. 24 GG). Das ist für den hier in Rede stehenden Komplex des Schwangerschaftsabbruches aber – wie dargelegt – gerade nicht der Fall. b) Die hier vertretene enge Begrenzung der Ausnahmekompetenz kraft Sachzusammenhangs liegt auch den kompetenzrechtlichen Beurteilungen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 zu­ grunde: aa)  Die Straflosigkeit einer Abtreibung hängt gemäß § 218a StGB davon ab, daß ein Arzt sie vornimmt und die Frau durch eine Bescheinigung nach­ gewiesen hat, daß sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff durch eine anerkannte Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle hat beraten lassen. Diese strafrechtliche Regelung kann nicht angewandt werden, ohne daß die Organisation und die materiellen Vorgaben einer Beratung geregelt sind. Insoweit ist es unerläßlich, daß der Strafrechtsgesetzgeber Regelungen über Organisation und Durchführung der Beratung trifft. Ohne diese Regelungen wäre das Abtreibungsstrafrecht nicht selbständig denkbar. Insoweit greift der Gesetzgeber zulässig durch Inanspruchnahme einer Kompetenz kraft Sachzusammenhangs und Annexes in den Kompetenzbereich der Länder über (vgl. BVerfGE 88, 203 [304 f.]). bb) Anders verhält es sich bei einer bundesrechtlichen Regelung, welche die Länder verpflichtet, ein ausreichendes und flächendeckendes Angebot sowohl ambulanter als auch stationärer Einrichtungen zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen sicherzustellen. Das Bundesverfassungsgericht hat erwogen und zugleich wieder verworfen, für diese bundesrechtliche Regelung einer den Ländern vorbehaltenen Materie des Gesundheitswesens eine Annexkompetenz zum Strafrecht anzunehmen. Diese könne aber nur ein „im Strafrecht wurzelndes Schutzkonzept“ tragen, um dem Bundesge­ setzgeber den sonst durch Strafrecht zu gewährleisteten Schutz zu ermög­ lichen (BVerfGE 88, 203 [331]). cc)  Gleiches gilt für die von der Senatsmehrheit in den Sicherstellungs­ auftrag des § 13 Abs. 2 SchKG hineingelesene bundesrechtliche Regelung, die den Ländern untersagt, durch eine Quotenregelung spezialisierte Abtrei­ bungskliniken in ihrem Gebiet zu verhindern. Daß eine solche Regelung für den Vollzug des bundesrechtlichen Abtreibungsstrafrechts und des – straf­



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rechtsersetzenden – Beratungskonzeptes notwendig ist, kann schwerlich behauptet werden. Die Abtreibung ist gemäß §§ 218a ff. StGB unabhängig davon straffrei oder strafbar, ob der Arzt sie ambulant oder stationär durchführt, ob er eine Spezialklinik betreibt und ob die Frau die Klinik gut und schnell erreichen kann. Das Beratungskonzept kann mithin als Ersatz für einen dem ungebo­ renen Leben durch das Strafrecht geschuldeten Schutz ins Werk gesetzt werden, ohne daß es dieser Regelungen über die Qualität der Abtreibungs­ kliniken bedarf. Der Gesetzgeber setzt in diesem Zusammenhang nur darauf, das ungeborene Leben mit der Mutter zu schützen, indem er sie hierfür durch die Konfliktberatung zu gewinnen sucht. Darüber hinaus sieht der Gesetzgeber strafrechtlichen Schutz des ungebo­ renen Lebens durch Strafbewehrung der ärztlichen Beratungspflichten vor (§ 218c StGB). Auch dieser Straftatbestand ist in seinen Voraussetzungen nicht davon abhängig, ob der Arzt im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit überwiegend Schwangerschaftsabbrüche vornimmt oder nicht. Auch dieser Straftatbestand kann daher angewandt werden, ohne daß es einer Regelung zur Zulassung oder Nichtzulassung von Spezialkliniken bedarf. Die Senatsmehrheit erkennt in Übereinstimmung mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 (BVerfGE 88, 203 [331]) an, daß die Kompetenz zur Regelung des Sicherstellungsauftrags nicht auf den notwendigen Sachzusammenhang mit Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG gestützt wer­ den kann [vgl. C. III. 2. b) aa) der Entscheidungsgründe]. Gleichwohl sieht sie aber in der Untersagung einer Quotenregelung, die sie ja in die Regelung des Sicherstellungsauftrags des § 13 Abs. 2 SchKG hineinliest, eine notwen­ dige Folgeregelung der Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs. Näheres zu diesen Widersprüchen führt die Senatsmehrheit nicht aus, statt dessen unternimmt sie es, den Auftrag des Zweiten Senats an den „Gesetz­ geber“ (BVerfGE 88, 203 [295]), geeignete Regelungen zur Verhinderung von Spezialkliniken zu treffen, als einen Auftrag an den Bundesgesetzgeber zu deuten. Zur Unvertretbarkeit dieser Auffassung ist oben zu I 2 a aa schon das Nötige gesagt worden. An der zitierten Stelle befaßt der Zweite Senat sich im übrigen nur mit der materiellen Ausgestaltung des erforderlichen Schutzniveaus, nicht aber mit der Kompetenz für solche Regelungen. 2. Die Ausführungen der Senatsmehrheit dazu, daß der Bundesgesetz­ geber auch durch „absichtsvollen Regelungsverzicht“ erschöpfende Rege­ lungen eines Sachbereichs treffen könne, werden dem Ausnahmecharakter der Kompetenz kraft Sachzusammenhangs nicht gerecht. a) Hat der Bundesgesetzgeber für eine Materie die konkurrierende Zu­ ständigkeit, so kann er umfassend regeln und damit den Ländern ihre Kom­

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4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz

petenz insoweit nehmen (Art. 72 Abs. 1 GG). Die bundesrechtliche Normie­ rung kann positive und negative Regelungen enthalten. Letztere liegen dann vor, wenn dem Schweigen des Bundesgesetzes zu einem – nicht ausdrück­ lich geregelten – Aspekt die Bedeutung zukommt, daß hierzu keinerlei – also auch keine landesrechtliche – Regelung zugelassen sein soll (vgl. BVerfGE 32, 319 [328]; zuletzt Beschluß des Zweiten Senats vom 5. Juni 1998, 2 BvL 2 / 97, Umdruck S. 24). b) Die nur ausnahmsweise gegebene Kompetenz kraft Sachzusammen­ hangs kann eine dementsprechende Regelungsbefugnis grundsätzlich nicht verleihen. Von ihr kann regelmäßig nur punktuell durch positive Teilrege­ lungen des fremden Sachbereichs Gebrauch gemacht werden. Darf in einen fremden Kompetenzbereich nur hineingewirkt werden, wenn und soweit dies notwendig ist, um eine damit im Zusammenhang stehende Materie des eigenen Zuständigkeitsbereichs regeln zu können, so kann dies nur durch Sachregelungen geschehen, mit denen der zuständige Gesetzgeber das Aus­ maß eines Hineinwirkens in den fremden Bereich ausdrücklich offenlegt und damit zum Ausdruck bringt, daß es dieser Regelungen zur Normierung der eigenen Materie bedarf. Diese Abgrenzung einer Ausnahmekompetenz von der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz läßt die Senatsmehrheit außer acht. Ihre Ausführungen zur bundesgesetzlichen Normierung durch „absichts­ volles Unterlassen“ beziehen sich – einschließlich der dafür angeführten Rechtsprechung – ausschließlich auf die konkurrierende Gesetzgebungszu­ ständigkeit. III. Der Auffassung der Senatsmehrheit, ein kompetenzgemäßes Bundesgesetz verdränge ein Landesgesetz auch dann, wenn es zwar materiell verfassungs­ widrig ist, dies aber vom Bundesverfassungsgericht in den dafür gegebenen Verfahren noch nicht festgestellt ist, kann jedenfalls dann nicht gefolgt werden, wenn das Bundesgesetz nur eine Ausnahmekompetenz kraft Sach­ zusammenhangs in Anspruch nehmen kann (1.). Ungeachtet dessen müßte die Senatsmehrheit aber zumindest einem offensichtlich verfassungswidrigen Bundesgesetz die kompetenzverdrängende Kraft versagen (2.). Die Verfas­ sungswidrigkeit der von der Senatsmehrheit in § 13 Abs. 2 SchKG und in § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB hineingelesenen bundesrechtlichen Regelungen drängt sich hier auf, so daß der bayerische Gesetzgeber seine ausschließ­ liche Zuständigkeit auch aus diesem Grund behalten hat (3.). 1.  Während im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung das Verhältnis von Landes- und Bundeszuständigkeit in der Weise ausgestaltet ist, daß die grundsätzliche Doppelkompetenz zugunsten einer Vorranggesetzgebung des



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Bundes aufgelöst wird, greift der Bund bei der Inanspruchnahme einer ­Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs punktuell in eine ausschließliche Regelungszuständigkeit der Länder über. Abweichend von der geschriebenen Kompetenzordnung des Grundgesetzes regelt er aus Gründen zwingender Konnexität mit ihm übertragenen Kompetenzen Sachbereiche, die an sich der genuinen und ausschließlichen Zuständigkeit der Länder überantwortet sind. Die in diesem Fall eintretende Sperrwirkung zu Lasten der Länder betrifft diese in ihnen ausschließlich zugewiesenen Kompetenzbereichen, so daß verlangt werden kann, daß der Bund für diesen „Übergriff“ zum einen zwingende Gründe vorweist und zum anderen jene exzeptionelle Zurück­ drängung originärer und ausschließlicher Länderhoheit nur mit einem in jeder Hinsicht verfassungsgemäßen Recht bewirkt. a) Mag es bei der Inanspruchnahme des Rechts zur konkurrierenden Gesetzgebung aus Gründen der Rechtssicherheit angezeigt sein, die Sperr­ wirkung des Art. 72 Abs. 1 GG ungeachtet der materiellen Verfassungskon­ formität des Bundesrechts eintreten zu lassen, solange die Verfassungswid­ rigkeit des Bundesrechts nicht formal in den dafür vorgesehenen Verfahren festgestellt ist, so können diese Rechtssicherheitserwägungen bei der Inan­ spruchnahme einer ungeschriebenen Regelungskompetenz kraft Sachzusam­ menhangs nicht zum Tragen kommen. Denn hier ist es gerade die Durch­ brechung der geschriebenen Kompetenzordnung, welche die Rechtssicher­ heit erheblich beeinträchtigt. Das läßt sich nur legitimieren, wenn der bun­ desgesetzliche Einbruch in die Länderhoheit einerseits unverzichtbar und andererseits in jeder Hinsicht verfassungskonform ist. b) Dies hat das Bundesverfassungsgericht inzident zu prüfen, wenn es darum geht, ob das im ausschließlichen Kompetenzbereich des Landes er­ gangene Gesetz ausnahmsweise durch ein Bundesgesetz verdrängt wird. Dabei kommt es nicht darauf an, ob diese Kollision zwischen Bundes- und Landesrecht in einem solchen Fall gemäß Art. 72 Abs. 1 GG oder gemäß Art. 31 GG zu lösen ist (bei einer Kompetenz kraft Sachzusammenhangs verweist BVerfGE 61, 149 [204] auf Art. 31 GG). Im Geltungsbereich des Art. 31 GG geht Bundesrecht dem Landesrecht ohnehin nur dann vor, wenn es auch materiell verfassungsgemäß ist (vgl. BVerfGE 96, 345 [365]; Beschluß des Zweiten Senats vom 5. Juni 1998, 2 BvL 2 / 97, Umdruck S. 23; Pietzker, HStR, Bd. IV, § 99 S. 704). 2.  Im übrigen verkennt die Senatsmehrheit auch, daß die von ihr heran­ gezogenen Gesichtspunkte der Rechtssicherheit jedenfalls dann einer Inzi­ dentprüfung durch das Bundesverfassungsgericht nicht im Wege stehen, wenn sich die Verfassungswidrigkeit des Bundesgesetzes aufdrängt. 3.  Für die Frage, ob die Verfassungswidrigkeit des Bundesgesetzes offen zu Tage tritt, kann es – entgegen der Auffassung der Senatsmehrheit – nicht

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darauf ankommen, ob der Freistaat Bayern diese Verfassungswidrigkeit ge­ rügt hat. Hier geht es um die Verfassungswidrigkeit der von der Senats­ mehrheit in § 13 Abs. 2 SchKG und in § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB hineinge­ lesenen bundesrechtlichen Regelung, die – wie die Senatsmehrheit meint – der bayerische Gesetzgeber als bundesrechtliche Normierung zwar hätte erkennen können, die er aber gleichwohl nicht erkannt hat. Letzteres tritt im Gesetzgebungsverfahren und im vorliegenden VerfassungsbeschwerdeVerfahren klar hervor. Bei dieser Sachlage konnte der bayerische Gesetzge­ ber aber die Verfassungswidrigkeit der angeblichen bundesrechtlichen Rege­ lung, die sich ihm gar nicht erschlossen hat, auch nicht rügen. a) Es drängt sich auf, daß die von der Senatsmehrheit in § 13 Abs. 2 SchKG hineingelesene bundesrechtliche Anordnung, die Länder dürften Spezialkliniken nicht durch eine Quotenregelung entgegenwirken, das Un­ termaßverbot verletzt, das vom Gesetzgeber bei der Erfüllung der Schutz­ pflicht für ungeborenes Leben zu beachten ist (vgl. BVerfGE 88, 203 [254]). aa) Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 28. Mai 1993 ausgeführt, daß die verfassungsrechtliche Schutzpflicht für das ungeborene menschliche Leben dem Gesetzgeber gebiete, geeignete Maß­ nahmen zur Verhinderung von Spezialkliniken zu treffen, weil die von ihnen ausgehenden Gefahren für die Erfüllung der dem Arzt im Rahmen der Be­ ratungsregelung zufallenden Aufgabe beim Schutz des ungeborenen mensch­ lichen Lebens auf der Hand lägen (vgl. BVerfGE 88, 203 [294 f.]). Diese Gefahren konkretisierten sich dem Ersten Senat sogar in der münd­ lichen Verhandlung zum einstweiligen Rechtsschutzverfahren: Ein Vertreter der Ärzteschaft hat ausgeführt, eine den berufsrechtlichen Anforderungen genügende ärztliche Beratung der abbruchwilligen Schwangeren habe etwa eine halbe Stunde zu dauern. Legt man die Aussage der Beschwerdeführer zugrunde, daß sie für einen Eingriff und die darauf folgende Nachsorge ca. 15 Minuten veranschlagen, und rechnet man noch je eine Pause des Arztes von fünf Minuten nach zwei Eingriffen sowie eine Mittagspause von einer Stunde hinzu, so werden für 20 Abtreibungen täglich schon knapp sieben Stunden, für 15 Abtreibungen immer noch ca. vier Stunden benötigt. Es bleibt in jedem Fall nur Zeit übrig, einzelne Patientinnen ordnungsgemäß zu beraten. Der Schutz des ungeborenen Lebens fordert es aber, daß jedem Ungeborenen dieser Schutz durch eine Beratung der Mutter zuteil wird, bevor über seine Tötung entschieden wird. bb)  Bei diesem Befund drängt sich die Verfassungswidrigkeit der von der Senatsmehrheit angenommenen Bundesregelung auf, ohne daß es dabei noch darauf ankommt, ob und in welchem Umfang der Gesetzgeber gemäß § 31 BVerfGG an die erwähnten Ausführungen des Zweiten Senats gebun­ den war. Der Befund führt deutlich vor Augen, daß der Schutz des ungebo­



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renen Lebens bei Abbrucheinrichtungen, in denen Schwangerschaftsabbrü­ che in dem Umfang vorgenommen werden, wie es in der mündlichen Ver­ handlung vorgetragen wurde, erheblich schlechter gewährleistet ist als im Fall einer ambulanten oder stationären Abtreibung im Rahmen allgemeiner fachärztlicher Tätigkeit. Eine gesetzliche Regelung, die es untersagt, derar­ tigen Spezialeinrichtungen entgegenzuwirken, verhindert damit, daß jedem Ungeborenen eine annähernd gleiche Chance des Schutzes gegeben werden kann. cc) Ob unter diesen Umständen das bei Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflicht zu beachtende Untermaßverbot (vgl. BVerfGE 88, 203 [254]) noch gewahrt ist, wenn ein Gesetzgeber keinerlei gesetzliche Regelungen zu Spezialeinrichtungen vorsieht und diese damit duldet, ist hier nicht zu ent­ scheiden. Dem verfassungsrechtlich gebotenen Mindestmaß eines Schutzes wird der Bundesgesetzgeber aber ersichtlich dann nicht mehr gerecht, wenn er – ohne Feststellung sachgerechter Gründe – andere zuständige Hoheits­ träger daran hindert, im Rahmen der auch ihnen auferlegten Schutzpflicht und des auch ihnen zukommenden Einschätzungsraums Schutzmaßnahmen zu ergreifen, welche die ordnungsgemäße ärztliche Beratung der schwange­ ren Frau sicherer gewährleisten. Das übersieht die Senatsmehrheit, die diese Sachlage gar nicht prüft. Es reicht nicht aus, wenn die Senatsmehrheit keine verfassungsrechtlichen Bedenken darin sieht, daß der Bundesgesetz­ geber der vom Bundesverfassungsgericht „beispielhaft angeführten Mög­ lichkeit“ einer Quotierungsregelung „nicht nähergetreten ist“. 4. Deutlich zu Tage tritt auch die Verfassungswidrigkeit der von der Senatsmehrheit in § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB hineingelesenen bundesrecht­ lichen Nivellierung von ärztlichen Berufspflichten. a) Vor dem Hintergrund der dargestellten tragenden Ausführungen des Zweiten Senats (BVerfGE 88, 203 [271, 289 bis 293, 308]) drängt es sich hier auf, der Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der von der Senatsmehr­ heit angenommenen berufsrechtlichen Regelung des § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB nachzugehen. Dabei kommt es selbstverständlich nicht – wie es im Urteil angedeutet wird – darauf an, ob die Mehrheit, die im Gesetzgebungs­ verfahren den Kompromiß gefunden hat, ihr Gesetz für verfassungsgemäß hielt und sie die von ihr angeordneten Schutzmaßnahmen so einschätzt, daß sie sich im Rahmen des Untermaßverbots halten. Die verfassungsrechtliche Tragfähigkeit dieser Einschätzung des Gesetzgebers unterliegt verfassungs­ gerichtlicher Kontrolle (vgl. dazu im einzelnen BVerfGE 88, 203 [262 f.]). b)  Diese – hier vorzunehmende – Kontrolle kann es dahinstehen lassen, ob es eine vertretbare Einschätzung des Bundesgesetzgebers ist, daß das Strafrecht – entgegen den vom Zweiten Senat für richtig gehaltenen Anfor­ derungen – ungeborenes Leben noch angemessen schützt, wenn es nur

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4. Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz

sanktioniert, daß der Arzt der Frau nicht einmal Gelegenheit gibt, die Grün­ de für ihr Abbruchverlangen mit ihm zu erörtern. Hier geht es allein um die Verfassungsmäßigkeit der von der Senatsmehrheit in § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB hineingelesenen berufsrechtlichen Regelung. Hierzu unterstellt die Senatsmehrheit dem Gesetzgeber die Einschätzung, daß er es für eine aus­ reichende Schutzmaßnahme angesehen habe, wenn der Arzt der Frau nur Gelegenheit geben muß, ihm ihre Gründe mitzuteilen. Darüber hinaus hält die Senatsmehrheit es sogar zur Bewirkung eines Maximums an Schutz für erforderlich, daß die Frau vor dem Druck geschützt werde, dem Arzt ihre Gründe mitteilen zu müssen. Wären diese beiden Einschätzungen für den Bundesgesetzgeber wirklich maßgebend gewesen, so wären sie eindeutig unvertretbar. Die in § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB hineingelesene arztrechtliche Regelung nimmt Anforderungen zurück, die sich in der Ärzteschaft seit langem als Bestandteil des ärztlichen Selbstverständnisses und Berufsethos herausgebil­ det haben und auch praktiziert werden. Gibt es nunmehr eine berufsrecht­ liche Normierung, die es den Ärzten gestattet, ihre bisherigen Maßstäbe an ärztlich verantwortbares Handeln zurückzunehmen, so wird hierdurch ihr Verhalten gesteuert. In der Lebenswirklichkeit werden sich Ärzte finden, welche die von Rechts wegen angebotene Erleichterung annehmen. Dies wird sich herumsprechen. Jedenfalls werden bestimmte Beratungsstellen Frauen auf „großzügigere“ Ärzte hinweisen. Damit erleidet der bisher durch ärztliches Selbstverständnis dem ungeborenen Leben zuteil gewordene Schutz eine erhebliche Einbuße. Feststellungen oder Einschätzungen des Gesetzgebers, die dies gleichwohl rechtfertigen könnten, hat die Senats­ mehrheit nicht aufgezeigt. Die Unvertretbarkeit einer eventuellen Einschät­ zung des Gesetzgebers, die Frau werde einem Druck ausgesetzt, der dem Lebensschutz unzuträglich sei, wurde bereits oben [I. 3. c) bb)] dargelegt. Nach allem kann es nicht zweifelhaft sein, daß die Zurücknahme ärzt­ licher Berufspflichten, die zum Schutz ungeborenen Lebens seit langem anerkannt und angewandt werden, das Untermaßverbot verletzt. Die Verfas­ sungswidrigkeit einer solchen Regelung drängt sich geradezu auf. IV. Schließlich bedarf es keiner unbefristeten Übergangsregelung für die Ein­ führung des Facharztvorbehalts. In der mündlichen Verhandlung hat die Ba­ yerische Staatsregierung darauf hingewiesen, daß es nach ihrer Erkenntnis und der des bayerischen Gesetzgebers in Bayern außer dem Beschwerdefüh­ rer zu 2. keine weiteren Allgemeinmediziner mit größerer Abtreibungspraxis gibt. Bei dieser Sachlage durfte der bayerische Gesetzgeber vom Erlaß einer abstrakten Übergangsregelung für Allgemeinmediziner absehen.



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Es ist von Verfassungs wegen auch nicht zu beanstanden, daß der Gesetz­ geber in Würdigung der besonderen Umstände des hier vorliegenden Einzel­ falles die Notwendigkeit des Erlasses einer konkreten Übergangsregelung für den Beschwerdeführer zu 2. verneint hat. Hierbei konnte er insbesondere be­ rücksichtigen, daß der Beschwerdeführer zu 2. eine umfangreiche Abtrei­ bungstätigkeit in der Vergangenheit entfaltet hatte und bereits im Jahre 1996 fünfundzwanzig vom Hundert aller Abtreibungen in Bayern von ihm vorge­ nommen worden waren. Im Blick auf die von ihm mit dem Facharztvorbehalt beabsichtigte Verbesserung des Lebensschutzes des ungeborenen Lebens ­mußte der Gesetzgeber keine Übergangsregelung schaffen, die seinen Geset­ zeszweck auf Jahrzehnte hinaus konterkarierte. Denn nach dem oben Ge­ sagten konnte für den Gesetzgeber kein Zweifel daran bestehen, daß die vom ihm beabsichtigte Gewährleistung eines landesweit einheitlichen verbesserten Lebensschutzes durch die Aufrechterhaltung der Tätigkeit des Beschwerde­ führers zu 2. eine wesentliche Einschränkung erfahren würde. War der bayerische Gesetzgeber schon in Anbetracht der Gewährleistung des Gesetzeszwecks nicht zu einer den Beschwerdeführer zu 2. begünsti­ genden Übergangsregelung verpflichtet, so gilt dies um so mehr auch des­ halb, als der Beschwerdeführer zu 2. sich nicht mit Erfolg auf Vertrauens­ schutz berufen kann, weil ihm bereits im vertragsärztlichen Zulassungsver­ fahren von den zuständigen Stellen verdeutlicht worden war, daß er für die ausschließliche Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen eine Zulas­ sung nicht erhalten würde und auch nicht erhalten hat. Ungeachtet dessen mußte der Beschwerdeführer zu 2., der seine vertragsärztliche Zulassung in Bayern erst nach Ergehen des Urteils des Zweiten Senats vom 28. Mai 1993 (BVerfGE 88, 203) erhalten hatte, damit rechnen, daß er eine Praxis, in der nahezu ausschließlich Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden, auf Dauer nicht würde betreiben können. Im übrigen kann auch nicht angenommen werden, daß das Fehlen einer Übergangsregelung für den Beschwerdeführer zu 2. etwa unzumutbar wäre. Nach seinen eigenen Angaben, die er in der mündlichen Verhandlung im Verfahren auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gemacht hat, ist er au­ ßerhalb Bayerns Inhaber einer weiteren Einrichtung zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen. Der Entscheidung ist eine weitere abweichende Meinung des Richters Kühling und der Richterin Jaeger angefügt, wonach dem Freistaat Bayern bereits die Kompetenz fehle, irgendeinen Teilbereich der ärztlichen Berufs­ ausübung unter ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt zu stellen. Zudem griffen die angegriffenen Regelungen in unverhältnismäßiger Weise in die Berufs­ freiheit der Beschwerdeführer ein.

5. Lebenspartnerschaftsgesetz (einstweilige Anordnung) Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli 2001 – 1 BvQ 23, 26 / 01 (BVerfGE 104, 51)1 Aus den Gründen: A. Die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung richten sich gegen das In-Kraft-Treten des Gesetzes zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaften zum 1. Au­ gust 2001. I. Das Gesetz zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaften vom 16. Februar 2001 (BGBl I S. 266; im Folgenden: LPartDisBG) führt mit dem Ziel, gleichgeschlecht­ lichen Partnerschaften einen rechtlichen Rahmen zu geben, ein neues fami­ lienrechtliches Institut, die eingetragene Lebenspartnerschaft, ein. Diese kann von zwei Personen gleichen Geschlechts vor der zuständigen Behörde begründet werden.   An die Begründung der eingetragenen Lebenspartnerschaft knüpfen sich vielfältige Rechtsfolgen im Zivil- und im öffentlichen Recht, die denen einer Ehe zum Teil gleichen, aber auch von ihnen abweichen und sowohl im neu geschaffenen Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft (Lebenspart­ nerschaftsgesetz – LPartG) als auch im Bürgerlichen Gesetzbuch und in zahl­ reichen Bundesgesetzen verankert sind (Art. 1 bis 3 LPartDisBG). Der ursprüngliche Entwurf des Gesetzes (BTDrucks 14  /  3751) enthielt noch weitere Regelungen, die auf Empfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages aus dem Gesetz ausgegliedert und im Entwurf eines Le­ benspartnerschaftsgesetzergänzungsgesetzes zusammengefasst worden sind 1  An der Entscheidung haben mitgewirkt: Vizepräsident Papier, die Richterinnen Jaeger und Haas, die Richter Hömig und Steiner, die Richterin Hohmann-Dennhardt sowie die Richter Hoffmann-Riem und Bryde.



Urteil vom 18. Juli 2001151

(BTDrucks 14  /  4545, S. 69). Sie betreffen insbesondere Änderungen des Personenstandsgesetzes mit Regelungen über die Zuständigkeit und das Verfahren bei Begründung und Eintragung der Lebenspartnerschaft. Diese Regelungen haben bisher nicht die erforderliche Zustimmung des Bundes­ rates erhalten. Ein Vorschlag des angerufenen Vermittlungsausschusses liegt noch nicht vor. II. 1. a) Die Sächsische und die Bayerische Staatsregierung begehren mit ihren Normenkontrollanträgen vom 15. Juni 2001 (1 BvF 1 / 01) und vom 2. Juli 2001 (1 BvF 2 / 01) die Feststellung, das Gesetz zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartner­ schaften sei insgesamt, hilfsweise seien einzelne seiner Vorschriften wegen Verstoßes gegen das Erfordernis der Zustimmung des Bundesrates sowie gegen Art. 6 Abs. 1 und 2, Art. 3 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG mit dem Grundgesetz unvereinbar und daher nichtig. Das Gesetz verstoße gegen Art. 6 Abs. 1 GG, weil es mit der eingetrage­ nen Lebenspartnerschaft die Ehe imitiere und dem in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen Differenzierungs- und Abstandsgebot durch Übernahme von Regeln widerspreche, die in unverwechselbarer Weise den Kern und die Struktur von Ehe und Familie prägten. Außerdem beschränke das Gesetz in einer Art. 14 Abs. 1 GG verletzenden Weise die Testierfreiheit der Le­ benspartner, greife in verfassungswidriger Weise in das Elternrecht des nicht sorgeberechtigten Elternteils nach Art. 6 Abs. 2 GG ein und verletze man­ gels steuerrechtlicher Berücksichtigung der gesetzlichen Unterhaltspflicht von Lebenspartnern Art. 3 Abs. 1 GG. b) Die Antragstellerinnen beantragen, das angegriffene Gesetz im Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht in Kraft treten zu lassen, hilfsweise außer Vollzug zu setzen. Eine einstweilige Anordnung sei dringend geboten, da das Gesetz eine verfas­ sungsrechtlich angreifbare, grundlegende Umgestaltung des Ehe und Familie ordnenden Rechts zur Folge habe, die auch nicht für einen begrenzten Zeitraum wirksam werden dürfe, um dann rückwirkend wieder hinfällig zu werden. Auch könne den Antragstellerinnen nicht zugemutet werden, eine politisch derart bedeutsame Regelung des Bundes durch Bestimmung von Zuständigkeiten anwendbar zu machen, bevor eine verbindliche Feststellung zur Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung getroffen sei. Die Länder seien im Übrigen zu Regelungen im Personenstandswesen nicht befugt, weil der Bund diese Materie abschließend geregelt habe. Das In-Kraft-Treten des Gesetzes und seine spätere Aufhebung wegen Verfassungswidrigkeit führten zu unzumutbaren Rechtsunsicherheiten für

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5. Lebenspartnerschaftsgesetz (einstweilige Anordnung)

Lebenspartner, aber auch für Dritte wie Vermieter, Erben oder Geschäfts­ partner. Es sei nicht hinreichend geklärt, welche Konsequenzen die Nichtig­ keit des Gesetzes für schon eingetretene Rechtsfolgen hätte. Demgegenüber bestehe kein öffentliches Interesse von besonderem Gewicht an einem so­ fortigen In-Kraft-Treten des Gesetzes. Für die Betroffenen verzögere sich lediglich die Möglichkeit, eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingehen zu können. Es liege auch in ihrem wohlverstandenen Interesse, ein gültiges und nicht ein möglicherweise verfassungswidriges Gesetz zur Grundlage ihrer Bindungen zu machen. 2.  a) Nach Auffassung der Bundesregierung sind die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung unbegründet […] 3. Zu den Anträgen haben sich auch die Landesregierung SchleswigHolstein und der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg schriftlich ge­ äußert. Sie haben sich ebenso wie der Bundestag der Stellungnahme der Bundesregierung angeschlossen. Demgegenüber unterstützt der Freistaat Thüringen die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Alle Be­ teiligten haben sich in der mündlichen Verhandlung am 11. Juli 2001 geäu­ ßert und ihre schriftlich unterbreiteten Stellungnahmen bestärkt. B. Die Anträge sind zulässig, aber unbegründet. I. Nach § 32 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Ge­ setzes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, der in der Hauptsache gestellte Antrag ist insgesamt unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens muss das Bundesverfas­ sungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige An­ ordnung nicht erginge, das Normenkontrollverfahren aber Erfolg hätte, ge­ genüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die angegriffene Regelung außer Vollzug gesetzt, sie sich aber im Hauptsacheverfahren als verfassungsgemäß erweisen würde (vgl. BVerfGE 91, 320 [326]; stRspr). Dabei ist, wenn die Aussetzung des Vollzugs eines Gesetzes begehrt wird, ein besonders strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 3, 41 [44]; 83, 162 [171]; stRspr). Das Bundesverfassungsgericht darf von seiner Befugnis, ein Gesetz außer Kraft zu setzen, nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch



Urteil vom 18. Juli 2001153

machen (vgl. BVerfGE 82, 310 [313]), ist doch der Erlass einer einstweili­ gen Anordnung gegen ein Gesetz stets ein erheblicher Eingriff in die Ge­ staltungsfreiheit des Gesetzgebers. Nur dann darf deshalb ein Gesetz vor­ läufig außer Kraft gesetzt werden, wenn die Nachteile, die mit seinem InKraft-Treten bei späterer Feststellung seiner Verfassungswidrigkeit verbun­ den wären, in Ausmaß und Schwere die Nachteile deutlich überwiegen, die im Falle der vorläufigen Verhinderung eines sich als verfassungsgemäß er­ weisenden Gesetzes einträten. Die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts darf nicht zu einem Mittel werden, mit dem im Gesetzgebungsverfahren unterlegene Beteiligte das In-Kraft-Treten des Gesetzes verzögern können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Mai 2001 – 2 BvQ 48 / 00 –, S. 8 f. des Umdrucks). II. Die Normenkontrollanträge sind zulässig und nicht offensichtlich unbe­ gründet. Dies gilt zum einen für die von den Antragstellerinnen vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das Zustandekommen des Gesetzes ohne Zustimmung des Bundesrates und seine Abtrennung vom Regelungs­ gegenstand des noch nicht zustande gekommenen Lebenspartnerschaftsge­ setzergänzungsgesetzes. Es betrifft zum anderen die Frage, ob das Gesetz mit Art. 6 Abs. 1 GG in Einklang steht und darüber hinaus noch weitere Grundrechtsverletzungen mit sich bringt. Beides bedarf der Klärung im Hauptsacheverfahren und lässt sich nicht ohne weiteres anhand der verfas­ sungsrechtlichen Rechtsprechung oder mit Hilfe des rechtswissenschaft­ lichen Schrifttums eindeutig beantworten. III. Bei offenem Ausgang des Normenkontrollverfahrens sind die jeweils eintretenden Folgen gegeneinander abzuwägen. 1.  Bei einem In-Kraft-Treten des angegriffenen Gesetzes sind irreversible Nachteile für das Institut der Ehe nicht zu erwarten. Das rechtliche Funda­ ment der Ehe erfährt keine Veränderung. Sämtliche Regelungen, die der Ehe einen rechtlichen Rahmen geben und das Institut mit Rechtsfolgen ausstat­ ten, bleiben unabhängig davon, ob das Gesetz in Kraft tritt oder nicht, un­ berührt. Ob die Einführung des neuen Instituts der eingetragenen Le­ benspartnerschaft mit seinen der Ehe zum Teil nachgebildeten Rechtsfolgen einem aus Art. 6 Abs. 1 GG hergeleiteten Abstands- oder Differenzierungs­ gebot zuwiderläuft, ist eine verfassungsrechtliche Frage, die bei der Ent­ scheidung über den Erlass einer einstweiligen Anordnung grundsätzlich außer Betracht zu bleiben hat (vgl. BVerfGE 3, 34 [37]).

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5. Lebenspartnerschaftsgesetz (einstweilige Anordnung)

2. Das zur Prüfung gestellte Gesetz ist auch vollziehbar. Die Länder sind nicht daran gehindert, in eigener Kompetenz hierzu Ausführungsge­ setze zu erlassen (vgl. Art. 83, 84 Abs. 1 GG), solange und soweit der Bundesgesetzgeber für diesen neuen Regelungsbereich von seiner Gesetz­ gebungszuständigkeit noch nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat (Art. 72 Abs. 1 GG). Unterschiedliche Ausführungsgesetze der Länder über die Zuständigkeit und das Verfahren hinsichtlich des Personenstandes der eingetragenen Le­ benspartnerschaft führen auch nicht zu einem problematischen Mangel an Transparenz im Personenstandswesen. Landesbezogene Unterschiede sind vielmehr Ausdruck der grundgesetzlichen föderalen Kompetenzzuweisung. Die schon vorliegenden Gesetze und Gesetzentwürfe der Länder zeigen, dass die Gefahr mangelnder Nachweisbarkeit des Personenstandes nicht besteht. Im Übrigen liegt es in der Entscheidungsgewalt der Antragstellerin­ nen selbst, in Abstimmung mit den anderen Ländern durch Erlass entspre­ chender Gesetze einer solchen Gefahr entgegenzuwirken und damit dem von ihnen insoweit befürchteten Nachteil abzuhelfen. 3. Sollte sich das Gesetz nach seinem In-Kraft-Treten später als verfas­ sungswidrig und damit nichtig erweisen, entfiele – wovon auch die Antrag­ stellerinnen ausgehen – rückwirkend die rechtliche Grundlage für eingetra­ gene Lebenspartnerschaften und damit auch der sich hierauf gründende personenrechtliche Status. § 79 BVerfGG setzt eine solche Rückwirkung implizit als Regelfall voraus, indem er hiervon Ausnahmen bildet. Seine sinngemäße Anwendung auch auf Privatrechtsverhältnisse ist insbesondere für abgewickelte Rechtsbeziehungen bejaht worden (vgl. BVerfGE 32, 387 [389]; 97, 35 [48]; 98, 365 [402]). Um einen solchen Fall handelt es sich jedoch nicht, wenn ein Personenstand neu geschaffen wird, der schon ge­ setzlich so ausgestaltet ist, dass Mängel bei seiner Begründung im Einzelfall nicht nur zur Aufhebbarkeit, sondern zur rückwirkenden Unwirksamkeit führen (vgl. Schwab, FamRZ 2001, S. 385 [388]). Sind mit der Begründung eingetragener Lebenspartnerschaften bereits Rechtsfolgen zwischen den Partnern wie auch im Verhältnis zu Dritten eingetreten, müssten sie im Falle der Nichtigkeit des Gesetzes rückabgewi­ ckelt werden, soweit dies rechtlich und tatsächlich möglich ist. Wie jede nachträgliche Feststellung rechtlicher Unwirksamkeit hätte das die Notwen­ digkeit der Klärung noch offener Rechtsfragen, gegebenenfalls durch die Gerichte, zur Folge. Die Rechtsordnung stellt Regeln und Verfahren bereit, wie solche Probleme zu lösen sind, die auf unwirksamen privatrechtlichen Rechtsgeschäften, auf fehlerhaften Verwaltungsakten oder auch auf der Ver­ fassungswidrigkeit von Gesetzen beruhen können. Diese Vorkehrungen verhindern den Eintritt von Rechtsunsicherheit.



Urteil vom 18. Juli 2001155

Auch vorliegend sind keine Folgen zu befürchten, die über das übliche Maß bei sonstigen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht hinausge­ hen, in denen Neuregelungen des Gesetzgebers auf dem verfassungsrecht­ lichen Prüfstand stehen. Das angegriffene Gesetz stellt insofern auch im Hinblick auf die Vielzahl geänderter Gesetze keine verfassungsrechtlich erhebliche Besonderheit dar. Allein die Ungewissheit, ob eine gesetzliche Neuregelung mit Rechtsfolgen für den Rechtsverkehr zwischen Privaten vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand hat, und die damit verbundene Möglichkeit, dass schon erfolgte Rechtswirkungen rückgängig gemacht werden müssten, rechtfertigen es nicht, einem Gesetz im Wege der einstwei­ ligen Anordnung die vom Gesetzgeber gewollte Wirkkraft zu nehmen. An­ derenfalls hätte ein Angriff gegen noch nicht in Kraft getretene Normen regelmäßig ihre Aussetzung zur Folge. 4. Allerdings könnten bestimmte Rechtsfolgen, die das Gesetz vorsieht, bei ihrem Eintritt und Vollzug nicht mehr rückgängig gemacht werden, auch wenn sich das Gesetz später als verfassungswidrig erweisen würde und nichtig wäre. Die dadurch bewirkten Nachteile überwiegen jedoch nicht eindeutig diejenigen, die einträten, wenn die einstweilige Anordnung ergin­ ge, das Gesetz sich jedoch später als verfassungsgemäß erwiese. Dies gilt auch für mögliche Nachteile in den Bereichen des Erbrechts, der Einbürge­ rung und der Zeugnisverweigerungsrechte. a) Dem Nachteil, der für das Erbrecht anderer Erbberechtigter eintreten könnte, wenn bei Tod eines Lebenspartners der überlebende Partner das gesetzliche Erbe angetreten und das Ererbte verbraucht hätte, bevor die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes festgestellt wäre, steht der Nachteil ge­ genüber, den der überlebende Lebenspartner erfahren würde, wenn die einstweilige Anordnung erginge, das Gesetz sich jedoch als verfassungsge­ mäß herausstellte. Durch den Entzug der Möglichkeit, eine eingetragene Lebenspartnerschaft einzugehen, wäre der gesetzliche Erbanspruch endgül­ tig vereitelt. Die Möglichkeit testamentarischer oder erbvertraglicher Rege­ lung schafft keinen vollwertigen Ersatz für die gesetzliche Regelung. Dies und die durch die einstweilige Anordnung fortdauernde Belastung einer Lebenspartnerschaft, für einen möglicherweise nahenden Todesfall nicht anderweitig entsprechend Sorge tragen zu können, lassen diesen Nachteil für den überlebenden Lebenspartner mindestens gleich schwer wiegen wie den, der im anderen Fall bei den sonstigen Erbberechtigten drohte. b)  Ein schwerer Nachteil für das gemeine Wohl ist angesichts der allen­ falls kleinen Zahl der in der Zeit bis zur Entscheidung in der Hauptsache zu erwartenden Einbürgerungen ebenfalls nicht zu erkennen. Schwer ist hingegen der Nachteil, der Lebenspartner träfe, wenn das Gesetz zunächst nicht in Kraft träte, sich jedoch später als verfassungsgemäß erwiese. Sie

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5. Lebenspartnerschaftsgesetz (einstweilige Anordnung)

müssten nicht nur vorübergehend auf eine Einbürgerung verzichten, sondern stünden in der fortdauernden Gefahr oder Situation, ihre Partnerschaft auf Grund der Beendigung von Aufenthaltsrechten oder der Versagung einer Einreise nicht mehr oder gar nicht in der Bundesrepublik leben zu können. Die damit verbundene Belastung jedes einzelnen Partners und ihrer Partner­ schaft mit möglicherweise irreparablen Folgen für das Zusammenleben ist auch im Lichte des Persönlichkeitsschutzes von Art. 2 Abs. 1 GG hoch zu gewichten. c)  Der Schaden, der der Rechtsordnung und dem Rechtsvertrauen in die Richtigkeit von gerichtlichen Entscheidungen dadurch zugefügt werden könnte, dass Urteile wegen des Lebenspartnern durch das Gesetz einge­ räumten Zeugnisverweigerungsrechts auf der Basis einer eingeschränkten Sachverhaltsaufklärung ergingen, erscheint nicht schwerer als der Schaden, der unwiderruflich für das Zusammenleben von Partnern entstehen könnte, wenn durch Nicht-In-Kraft-Treten des Gesetzes ein Lebenspartner gegen den anderen mangels eines Zeugnisverweigerungsrechts aussagen müsste und damit die Aussage nicht mehr aus der Welt zu schaffen wäre und zwi­ schen den Partnern stünde. 5.  Schon wenn die jeweiligen Nachteile der abzuwägenden Folgekonstel­ lationen einander in etwa gleichgewichtig gegenüberstehen, gebietet es die gegenüber der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers notwendige Zurückhal­ tung des Gerichts, das angegriffene Gesetz nicht am In-Kraft-Treten zu hindern, bevor geklärt ist, ob es vor der Verfassung Bestand hat. Für die zuvor angeführten Fälle irreversibler Folgen ist zumindest diese Gleichwer­ tigkeit festzustellen. Bei einer Gesamtbetrachtung des Gesetzes überwiegen indessen die Nachteile bei Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung eindeutig. Würde das Gesetz vorläufig außer Vollzug gesetzt, erwiese es sich jedoch später als verfassungsgemäß, träte zwar keine Rechtsunsicherheit ein; es wären auch keine Rechtsbeziehungen rückabzuwickeln, aber es käme zu endgültigen Rechtsverlusten bei allen durch das Gesetz begünstigten Perso­ nen. Das beträfe sämtliche Bereiche, die einer privatrechtlichen Gestaltung ganz oder teilweise verschlossen sind. Dass es sich dabei um nicht unerheb­ liche Rechtsfolgen handelt, gestehen auch die Antragstellerinnen zu, die gerade aus diesem Grunde die Aussetzung des Gesetzes anstreben. Die Folgen der einstweiligen Anordnung bewirken auch dann einen Rechtsver­ lust und nicht eine bloße Rechtsverhinderung, wenn das Bundesverfassungs­ gericht schon vor In-Kraft-Treten entscheidet, denn schon mit der Verkün­ dung hat der Gesetzgeber den Begünstigten die Rechte zuerkannt. Diese Rechtspositionen verlieren sie bis zur Entscheidung über die Verfassungs­ mäßigkeit des Gesetzes unwiderruflich.



Abweichende Meinung Papier, Haas und Steiner157

Die genannten Nachteile wiegen umso schwerer, als der Gesetzgeber Personen erstmals Rechte zuerkennt, die ihnen zu einer besseren Entfaltung ihrer Persönlichkeit verhelfen und die zum Abbau langdauernder Diskrimi­ nierungen führen sollen. Ein zumindest vorläufiger Entzug dieser gesetzlich eingeräumten Rechte im Wege einer einstweiligen Anordnung rechtfertigte sich nur bei anderenfalls eintretenden schwerwiegenderen Nachteilen für das gemeine Wohl. Solche sind hier nicht zu erkennen. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist deshalb nicht geboten. Abweichende Meinung des Vizepräsidenten Papier, der Richterin Haas und des Richters Steiner zum Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli 2001 – 1 BvQ 23, 26 / 01 (BVerfGE 104, 61) Wir stimmen der Entscheidung des Senats nicht zu. Nach unserer Auffas­ sung sind die Anträge begründet. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zur Abwehr einer Gefahr für das gemeine Wohl im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG dringend geboten. Der Senat geht zutreffend davon aus, dass die Normenkontrollanträge der Bayerischen und der Sächsischen Staatsregierung weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet sind, und sich somit die Entscheidung darüber, ob eine einstweilige Anordnung zu ergehen hat oder nicht, nach einer Fol­ genabwägung richtet. Im Unterschied zu der Senatsmehrheit sind wir jedoch der Auffassung, dass die Nachteile, die einträten, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, das zur Prüfung gestellte Gesetz aber später für verfassungswidrig und nichtig erklärt würde, eindeutig schwerer wiegen als diejenigen Nachteile, die entstünden, wenn das Gesetz nicht zum vorgese­ henen Zeitpunkt in Kraft träte, sich aber im Hauptsacheverfahren als ver­ fassungsgemäß erwiese.   Würde das zur Prüfung gestellte Gesetz wie vorgesehen am 1. August 2001 in Kraft treten, hätte dies für eine unüberschaubare Zahl von Rechts­ vorgängen und insbesondere für den allgemeinen Rechtsverkehr gravierende Auswirkungen. Das Gesetz knüpft an die ab diesem Zeitpunkt mögliche Begründung einer eingetragenen Lebenspartnerschaft eine Fülle unmittel­ barer und mittelbarer Rechtsfolgen, die sich auf die unterschiedlichsten Lebensbereiche erstrecken. Zu den im Lebenspartnerschaftsgesetz (Art. 1 LPartDisBG) selbst geregelten Rechtswirkungen, etwa im Bereich des Na­ mens-, des Kindschafts-, des Unterhalts- oder des Erbrechts, und den zahl­ reichen Änderungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs (Art. 2 LPartDisBG) treten umfangreiche weitere Rechtsänderungen, die sich auf nicht weniger als 61 Gesetze und Rechtsverordnungen des Bundes verteilen (Art. 3 LPart­

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5. Lebenspartnerschaftsgesetz (einstweilige Anordnung)

DisBG). Betroffen sind nicht nur das Staatsangehörigkeitsgesetz, das Aus­ ländergesetz und die Prozessordnungen, sondern selbst Gesetze wie das Bundeskleingartengesetz, das Milch- und Margarinegesetz sowie das Fahr­ lehrergesetz. Hätte der Antrag, das zur Prüfung gestellte Gesetz für nichtig zu erklären, im Hauptsacheverfahren Erfolg, wäre in jedem einzelnen Fall der bis dahin begründeten Lebenspartnerschaften im Sinne des Gesetzes bereits eine Viel­ zahl von Rechtswirkungen eingetreten, die nicht nur das Rechtsverhältnis der Lebenspartner untereinander, sondern auch dasjenige zu Dritten beträ­ fen. Es kann sich hierbei sowohl um bereits vollständig abgewickelte als auch um noch nicht beendete Sachverhalte handeln. Die Feststellung der Nichtigkeit des Gesetzes würde zunächst die Frage nach dem Fortbestand der bis zu diesem Zeitpunkt eingetragenen Lebenspartnerschaften aufwer­ fen. Ungeklärt ist, ob der einmal begründete personenstandsrechtliche Status ex nunc oder ex tunc entfiele. Darüber hinaus wäre eine Abwicklung oder Rückabwicklung der in den verschiedensten Lebens- und Rechtsbereichen eingetretenen Folgen – sofern überhaupt rechtlich und tatsächlich möglich – mit erheblichen Schwierigkeiten und unabsehbaren Folgen für den Rechts­ verkehr verbunden. Die Rechtssicherheit wäre hierdurch – was die Senats­ mehrheit verkennt – in nicht hinnehmbarer Weise beeinträchtigt. Demgegenüber fallen die Nachteile, die mit einem Hinausschieben des In-Kraft-Tretens des sich im Hauptsacheverfahren als verfassungsgemäß erweisenden Gesetzes verbunden wären, weniger schwer ins Gewicht. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil die Personen, die eine Lebenspartner­ schaft im Sinne des Gesetzes eingehen wollen, bereits nach der derzeitigen Rechtslage ihre Rechtsbeziehungen in weiten Bereichen durch einseitige oder wechselseitige Willenserklärungen in ihrem Sinne ordnen können. So steht es den Betroffenen etwa frei, sich testamentarisch oder durch Erbver­ trag als Erben einzusetzen. Die Auffassung der Senatsmehrheit, die Le­ benspartner könnten für den möglichen Todesfall nach derzeitigem Recht keine ausreichende Sorge tragen, überzeugt nicht. Ebenso können die Be­ troffenen sich auch heute schon beispielsweise wirksam ein Besuchsrecht für den Fall eines künftigen Krankenhausaufenthalts oder die Berechtigung zur Entgegennahme von Auskünften über den Gesundheitszustand des Part­ ners durch entsprechende Erklärung sichern. Soweit das noch nicht in Kraft getretene Gesetz Rechtsvorteile gewährt, die sich ohne gesetzliche Grundla­ ge nicht erlangen lassen, werden diese den Betroffenen nur für den Zeitraum vorenthalten, den das Bundesverfassungsgericht für die Prüfung der Verfas­ sungsmäßigkeit dieser Rechtsvorteile in der Hauptsache benötigt. Dies ist zumutbar; denn gesicherte Rechtspositionen werden den Betroffenen entge­ gen der Auffassung der Senatsmehrheit nicht entzogen.

6. Blockadeaktionen Beschluss des Ersten Senats vom 24. Oktober 2001 – 1 BvR 1190 / 90, 2173 / 93, 433 / 96 (BVerfGE 104, 92)1 Amtlicher Leitsatz: 1. Art. 103 Abs. 2 GG ist nicht verletzt, wenn die Strafgerichte das Tat­ bestandsmerkmal der Gewalt in § 240 Abs. 1 StGB auf Blockadeaktionen anwenden, bei denen die Teilnehmer über die durch ihre körperliche Anwe­ senheit verursachte psychische Einwirkung hinaus eine physische Barriere errichten. 2.  Versammlung im Sinne des Art. 8 GG ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffent­ lichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung. 3.  Das Selbstbestimmungsrecht der Träger des Grundrechts der Versamm­ lungsfreiheit hinsichtlich Ziel und Gegenstand sowie über Ort, Zeitpunkt und Art der Versammlung umfaßt nicht auch die Entscheidung, welche Beein­ trächtigungen die Träger kollidierender Rechtsgüter hinzunehmen haben. 4.  Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Prüfung der Ver­ werflichkeit nach § 240 Abs. 2 StGB. Aus den Gründen:  A. Die Verfassungsbeschwerden betreffen strafgerichtliche Verurteilungen wegen Nötigung auf Grund der Teilnahme an Blockadeaktionen. I. Verfahren 1 BvR 1990 / 90 und 1 BvR 2173 / 93 1. Am 23. Juni 1986 erschien gegen 6.00 Uhr eine aus 25 bis 30 Perso­ nen, darunter die Beschwerdeführerinnen zu 1. und 2., bestehende Aktions­ gruppe vor dem Haupttor (Tor 1) des Baugeländes der geplanten Wieder­ 1  An der Entscheidung haben mitgewirkt: Vizepräsident Papier, die Richterinnen Jaeger und Haas, die Richter Hömig und Steiner, die Richterin Hohmann-Dennhardt sowie die Richter Hoffmann-Riem und Bryde.

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6. Blockadeaktionen

aufarbeitungsanlage in Wackersdorf. Die Beschwerdeführerinnen und acht weitere Mitglieder der Gruppe blockierten ab etwa 6.30 Uhr die Zufahrt zu dem Gelände in der Weise, dass sie sich jeweils eine Kette um die Hüfte schlangen, die wiederum mittels einer Kette mit der Kette des jeweiligen Nachbarn verbunden war. Die am Ende der so gebildeten Gesamtkette ste­ henden Personen ketteten sich mit Sicherheitsschnappschlössern unmittelbar an die Torpfosten des Haupttores an. Jede dieser zehn Personen hatte unter den übrigen Mitgliedern der Gruppe einen „Betreuer“, der auch für etwaige Notfälle im Besitz eines Schlüssels für die entsprechenden Schlösser war. Zu Beginn der Aktion wurden Flugblätter verteilt, in denen das Vorhaben näher erläutert wurde. Mit der als „gewaltfreier Widerstand“ bezeichneten Aktion wollten die Teilnehmer die Bauarbeiten an der Wiederaufarbeitungs­ anlage symbolisch einstellen, auf die Gefahren der Atomenergie aufmerksam machen und ihren Widerstand gegen das Bauvorhaben zum Ausdruck brin­ gen. Sie gingen davon aus, dass die vor Ort anwesende Polizei nach höchs­ tens 15 bis 30 Minuten mit Bolzenschneidern die Kette durchtrennen und die Zufahrt wieder frei machen werde. Die Polizei forderte die Demonstran­ ten unmittelbar nach Beginn der Aktion und in der Folgezeit wiederholt dazu auf, die Zufahrt frei zu machen, weil sie sich sonst strafbar machten. In zwei Lautsprecheraufrufen um 8.06 Uhr und 8.30 Uhr erklärte die Polizei die Versammlung für aufgelöst. Nachdem angeforderte Transportfahrzeuge der Polizei gegen 9.00 Uhr eingetroffen waren, begannen Polizeibeamte, die Kette mit Bolzenschneidern zu durchtrennen. Die losgeketteten Demonst­ ranten ließen sich widerstandslos festnehmen. Etwa um 9.30 Uhr war die Aktion beendet. In der Zeit von 6.30 Uhr bis 8.30 Uhr trafen nach und nach auf der Bau­ stelle Beschäftigte mit ihren Privatfahrzeugen sowie Führer von Lastkraftwa­ gen ein, die durch das Tor einfahren wollten. Insgesamt wurden mindestens 20 ankommende Fahrzeugführer zum Anhalten und Warten veranlasst. Zehn Personenkraftwagen, ein Transporter und ein Lastkraftwagen konnten durch die Polizei umgeleitet werden und durch ein anderes Tor das Baugelände er­ reichen. Von den am Einfahren gehinderten Lastkraftwagenführern entschlos­ sen sich einige nach Wartezeiten zwischen einer Stunde und zwei Stunden dazu, ihre Fahrzeuge zu wenden und durch ein anderes, etwa drei bis vier Kilometer entferntes Tor auf das Gelände einzufahren. Dies war nur unter erheblichen Schwierigkeiten möglich, weil der Weg zu diesem Tor für Last­ kraftwagen schwer zu befahren und die Toreinfahrt nicht für größere und schwerere Fahrzeuge ausgebaut war. Die übrigen Lastkraftwagen konnten erst nach Beendigung der Blockade ihre Fahrt auf das Gelände fortsetzen. Mehrere Führer von Lastkraftwagen und Baumaschinen wurden durch die Blockadeaktion gehindert, mit den Fahrzeugen das Gelände zu verlassen.



Beschluss vom 24. Oktober 2001161

2.  a) Das Amtsgericht verwarnte die Beschwerdeführerin zu 1. wegen des Vergehens einer gemeinschaftlich begangenen Nötigung und behielt die Verurteilung zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 35 DM vor. Die Beschwerdeführerin habe die Fahrzeugführer abgehalten, die von ihnen beabsichtigte Zu- beziehungsweise Abfahrt durch das Tor 1 zu nehmen. Ihr Verhalten sei als Gewalt im Sinne des § 240 StGB anzusehen. Wesentlich für den Gewaltbegriff sei eine die Freiheit der Willensentschließung oder Willensbetätigung beeinträchtigende Zwangswirkung, wobei der Gewaltbe­ griff auch die Fälle umfasse, in denen der Täter mit nur geringem Kraftauf­ wand einen lediglich psychisch determinierten Prozess in Lauf setze und damit einen unüberwindlichen Zwang auf den Genötigten ausübe. Diese Art von Gewaltanwendung wohne auch Blockadeaktionen der vorliegenden Art inne. Die Tat sei auch rechtswidrig. Unter Berufung auf Art. 8 und Art. 5 GG könne das Verhalten der Beschwerdeführerin nicht gerechtfertigt werden, da die Behinderung Dritter nicht nur als Nebenfolge in Kauf genommen wor­ den, sondern beabsichtigt gewesen sei, um die Aufmerksamkeit für das Demonstrationsanliegen zu erhöhen. Im Übrigen entfalle der Schutz der Versammlungsfreiheit infolge der Auflösung der Versammlung. Die Anwendung der Gewalt zu dem angestrebten Zweck sei verwerflich. Die mangels allgemeiner Rechtfertigungsgründe erforderliche Abwägung aller wesentlichen Umstände führe zwingend zur Annahme verwerflichen Handelns. Die mit der Aktion verbundene tatsächliche Störung des Bau­ stellenverkehrs habe länger als zwei Stunden gedauert. Die Führer von mehr als 20 Fahrzeugen seien an der Weiterfahrt gehindert worden. Dies sei weder zeitlich noch quantitativ geringfügig gewesen und durch das An­ ketten zusätzlich verstärkt worden. Die Beschwerdeführerin habe in erster Linie auf die Verkehrsbehinderung abgezielt, obwohl auch weniger ein­ schneidende Möglichkeiten für eine „symbolische Aktion“ zur Verfügung gestanden hätten. Die Teilnehmer hätten gezielt in die Handlungsfreiheit anderer eingegriffen. Die Opfer seien ganz bewusst zum Werkzeug, zum Objekt der Aktion gemacht worden. Ein solches Verhalten sei auch wegen der darin zum Ausdruck kommenden Missachtung der Menschenwürde sittlich zu missbilligen. Ob die Polizei durch früheres Einschreiten den Umfang der Behinderung hätte begrenzen können, sei unbeachtlich. Nach welchen taktischen Grundsätzen sie bei der Konfrontation mit Blockierern vorgehe, sei allein ihre Sache. Zugunsten der Beschwerdeführerin fielen ins Gewicht: die mit der Aktion verfolgte Absicht, eine Alternative zu vo­ rangegangenen gewalttätigen Ausschreitungen aufzuzeigen, die bewusste Vermeidung einer Konfrontation mit der Staatsgewalt, die Verdeutlichung des Aktionszwecks mit Hilfe von Flugblättern und das Anliegen, durch

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6. Blockadeaktionen

Gespräche mit den Betroffenen die am Bau der Wiederaufarbeitungsanlage beteiligten Personen dazu zu bringen, nachzudenken. Diese – tatbezogene – „subjektive Zielsetzung“ sei bedeutsam, denn die Beurteilung der Verwerf­ lichkeit des Handelns enthalte wesentlich auch Elemente subjektiver Vor­ stellungen und Absichten. Das Fernziel der Blockade, für die Verhinderung der geplanten Wiederaufarbeitungsanlage einzutreten, sei bei der Verwerf­ lichkeitsprüfung nicht zu berücksichtigen. Bei der Strafzumessung hielt das Gericht der Beschwerdeführerin zugute, dass sie ein altruistisches Ziel ver­ folgt habe, nämlich auf die nach ihrer Auffassung bestehenden Gefahren der Kernenergie hinzuweisen. b) Das Landgericht wies die Berufung der Beschwerdeführerin mit der Maßgabe zurück, dass die Höhe der Tagessätze der vorbehaltenen Geldstra­ fe auf je 20 DM reduziert wurde. Zur Begründung übernahm und vertiefte es die Argumentation des Amtsgerichts und führte ergänzend aus: Selbst wenn man als „Fernziel“ nur den über die unmittelbare Behinderung hi­ nausgehenden Zweck ansehe, die Bevölkerung aufzurütteln und einen Wil­ lensbildungsprozess zu fördern, vermöge das dem Nahziel einer Behinde­ rung anderer die Verwerflichkeit nicht zu nehmen, sofern das Fernziel auch durch legale Ausübung des Demonstrationsrechts erreicht werden könnte. Den Teilnehmern der Aktion sei es unbenommen geblieben, ohne die Be­ einträchtigung anderer für ihr Anliegen zu demonstrieren. c) Die von der Beschwerdeführerin eingelegte Revision verwarf das Baye­rische Oberste Landesgericht als unbegründet. 3.  a) Die Beschwerdeführerin zu 2. wurde vom Amtsgericht unter Vorbe­ halt einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 20 DM mit entsprechendem Schuldvorwurf und im Wesentlichen gleicher Begründung wie die Be­ schwerdeführerin zu 1. verwarnt. b)  Nachdem das Landgericht Amberg die Beschwerdeführerin freigespro­ chen hatte und nach Aufhebung des Berufungsurteils durch das Bayerische Oberste Landesgericht erneut zu einem Freispruch gelangt war, wurde auch dieses Urteil aufgehoben und die Sache an das Landgericht Nürnberg-Fürth zurückverwiesen. Das Landgericht Nürnberg-Fürth verwarf die Berufung der Beschwerde­ führerin. Es übernahm die Begründung des Amtsgerichts zum Teil wörtlich, im Übrigen inhaltlich und führte ergänzend aus: Der Tatbeitrag der Be­ schwerdeführerin sei nicht auf eine bestimmte Zeit angelegt gewesen. Auf den Umstand, dass zumindest ein Teil der behinderten Fahrzeuge ein ande­ res Tor habe benutzen können, komme es angesichts der eingetretenen Zwangswirkung ebenso wenig an wie auf die Frage, ob die Polizei durch früheres Einschreiten den Umfang der Behinderung hätte begrenzen können.



Beschluss vom 24. Oktober 2001163

c) Die hiergegen eingelegte Revision der Beschwerdeführerin verwarf das Bayerische Oberste Landesgericht als unbegründet. 4. Mit ihren im Wesentlichen gleich begründeten Verfassungsbeschwer­ den rügen die Beschwerdeführerinnen die Verletzung ihrer Rechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 8 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 2 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. […] II. Verfahren 1 BvR 433 / 96 1. Der Beschwerdeführer zu 3. ist Präsident des Roma-Nationalkongres­ ses in Deutschland. Er führte eine Gruppe von etwa 600 Sinti und Roma an, die am Morgen des 9. November 1990 mit Personenkraftwagen, Wohn­ mobilen und Bussen auf der Bundesautobahn (BAB) 5 in Richtung Basel fuhren. Der Gruppe gehörten ganz überwiegend Personen an, die nicht Deutsche im Sinne des Grundgesetzes sind. Einem Teil von ihnen drohte die Abschiebung aus dem Bundesgebiet. Aus diesem Grund beabsichtigten die Teilnehmer der Fahrt, in die Schweiz einzureisen und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen in Genf aufzusuchen, wo sie sich für ein Bleiberecht in Deutschland oder der Schweiz einsetzen woll­ ten. Nachdem die schweizerischen Grenzbehörden vorab einer Delegation mitgeteilt hatten, der Gruppe werde die Einreise verweigert, hielt der Be­ schwerdeführer, der sich mit seinem Fahrzeug an der Spitze der Fahrzeug­ kolonne auf der Autobahn befand, gegen 12.00 Uhr in einer Entfernung von etwa 500 m vor dem Grenzübergang sein Fahrzeug an und stellte es auf der Fahrbahn ab. Die weiteren Fahrzeuge der Kolonne wurden eben­ falls angehalten und in der Weise auf beiden Fahrstreifen und den Seiten­ streifen abgestellt, dass ein Durchkommen des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen war. Dies hatte zur gewollten oder zumindest billigend in Kauf genommenen Folge, dass die Autobahn und der Grenzübergang Weil am Rhein von anderen Verkehrsteilnehmern nicht mehr passiert werden konnten. In der Folgezeit kam es zu Gesprächen zwischen dem Beschwerdeführer und Polizeibeamten. Hierbei machte der Beschwerdeführer ausweislich der Feststellungen des amtsgerichtlichen Urteils das Ziel der Gruppe deutlich, unbedingt ein Gespräch mit dem Hohen Flüchtlingskommissar zu erreichen. Aufforderungen der Polizei zur Räumung der Autobahn unter Hinweis auf die Rechtswidrigkeit ihres Verhaltens kamen die Teilnehmer der Aktion nicht nach. Der Beschwerdeführer gab zu bedenken, dass eine zwangsweise Räumung der Autobahn zu einer Katastrophe führen würde. Gegen 17.00 Uhr des folgenden Tages wurden die Fahrzeuge schließlich durch die Aktions­ teilnehmer entfernt.

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6. Blockadeaktionen

Infolge der Autobahnblockade musste eine großräumige Umleitung des Verkehrs über Nebenstrecken vorgenommen werden. Hierbei kam es zu nicht unerheblichen Stauungen des Verkehrs und Zeitverzögerungen für andere Verkehrsteilnehmer. 2.  a)  Das Amtsgericht verurteilte den Beschwerdeführer wegen Nötigung zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 40 DM. Das Verhalten des Beschwerdeführers und das der an der Blockade beteiligten Personen stelle sich als Gewalt im Sinne des § 240 StGB dar. Diese Gewalt habe die Nö­ tigung einer Vielzahl von Verkehrsteilnehmern zur Folge gehabt, die auf der BAB 5 Richtung Basel unterwegs gewesen seien. Diese hätten infolge des Verhaltens des Beschwerdeführers und der anderen Personen zum Teil er­ hebliche Umwege und zeitliche Verzögerungen in Kauf nehmen müssen. Der Beschwerdeführer habe die Folgen seines Verhaltens zumindest billi­ gend in Kauf genommen. Es sei auch Rechtswidrigkeit im Sinne von § 240 StGB gegeben; denn die Anwendung der Gewalt zu dem angestrebten Zweck (Einreise in die Schweiz zur Erreichung eines Bleiberechts) sei ver­ werflich. Dies gelte auf jeden Fall unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Blockade sich mehr als 24 Stunden hingezogen habe. Im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigte das Amtsgericht zugunsten des Be­ schwerdeführers, dass Anlass für die Aktion die nachvollziehbare Sorge um die Abschiebung und damit möglicherweise verknüpfte Gefahren für Leib oder Leben gewesen sei. Strafschärfend wertete es den langen Zeitraum der Blockade, das Betroffensein einer Vielzahl von Autofahrern sowie die mehr­ fachen vergeblichen Aufforderungen zur Beendigung der Blockade. b) Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Beschwerdeführers ver­ warf das Oberlandesgericht als unbegründet. 3.  Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Ver­ letzung seiner Rechte aus Art. 2, 5, 8 und Art. 103 Abs. 2 GG. Er macht im Wesentlichen geltend: Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Januar 1995 zur Auslegung des Gewaltbegriffs in § 240 Abs. 1 StGB (BVerfGE 92, 1) stehe fest, dass die Blockade von Straßen durch Sitzdemonstrationen nicht mehr als Nötigung bestraft werden dürfe, weil sie keine Gewalt im Sinne der benannten Strafrechtsnorm sei. Sei eine Sitzblockade keine Ge­ walt gegenüber einem Kraftfahrzeugführer, so sei erst recht eine aus gutem Grunde erfolgte Spontandemonstration keine Gewalt. Die Einwirkung der vor dem Grenzübergang wartenden Fahrzeuge und Personen auf andere habe allein darin bestanden, dass der nachfolgende Verkehr habe umgeleitet werden müssen. Art. 8 GG sei verletzt, weil das Amtsgericht nicht berücksichtigt habe, dass das gemeinsame Halten vor der Grenze als eine von Art. 8 GG ge­



Beschluss vom 24. Oktober 2001165

schützte Spontandemonstration aufzufassen sei. Es sei allgemein anerkannt, dass auf einer Spontandemonstration beruhende Beeinträchtigungen anderer oder allgemeiner Rechtsgüter wie der Leichtigkeit des Verkehrs hingenom­ men werden müssten. Der Gesetzesvorbehalt des Art. 8 GG erfordere eine verfassungskonforme Auslegung der zum Schutz anderer Rechtsgüter beste­ henden Normen des Strafrechts. Das angegriffene Urteil des Amtsgerichts habe sich auch ohne Kenntnis der neueren Rechtsprechung des Bundesver­ fassungsgerichts zum Gewaltbegriff mit den Rechten des Beschwerdeführers aus Art. 8 GG auseinander setzen müssen. Hierbei hätten die Zwecke der Spontandemonstration berücksichtigt werden müssen. Es sei darum gegan­ gen, die schweizerischen Behörden und Schweizer Bürger auf die für den Beschwerdeführer unverständliche Verweigerung der Einreise hinzuweisen und auf die Probleme der betroffenen Menschen in Deutschland und vor allem Nordrhein-Westfalen aufmerksam zu machen. Hilfsweise macht der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Grund­ rechts auf Meinungsfreiheit geltend und sieht sich auch in seinem Grund­ recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit beeinträchtigt. III. Zu den Verfassungsbeschwerden haben der Präsident des Bundesgerichts­ hofs, zu den Verfassungsbeschwerden 1 BvR 1190 / 90 und 1 BvR 2173 / 93 auch das Bayerische Staatsministerium der Justiz Stellung genommen. […] B. Die Verfassungsbeschwerden sind unbegründet. Die angegriffenen Ent­ scheidungen verletzen die Beschwerdeführer nicht in ihren Rechten aus Art. 103 Abs. 2, Art. 8, Art. 5 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG. I. Die Verurteilungen der Beschwerdeführer wegen Nötigung verstoßen nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG. 1.  Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Begriff der Gewalt in § 240 Abs. 1 StGB hinreichend bestimmt im Sin­ ne des Art. 103 Abs. 2 GG (vgl. BVerfGE 73, 206 [232 f.]; 92, 1 [13 f.]). Die Auslegung und Anwendung dieses Begriffs in den angegriffenen Ent­ scheidungen verstößt nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG. a)  Zwar konnten die in den Verfahren 1 BvR 1190 / 90 und 1 BvR 2173 / 93 angegriffenen Entscheidungen der Strafgerichte den später ergangenen ­Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Januar 1995 (BVerfGE 92, 1) noch nicht berücksichtigen. Sie sind deshalb noch von dem so ge­

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nannten vergeistigten Gewaltbegriff der älteren Rechtsprechung ausgegan­ gen. Es ist jedoch auch nach den in dem Beschluss vom 10. Januar 1995 formulierten Voraussetzungen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die Strafgerichte die von ihnen zu beurteilende Blockade der Zufahrt zur Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf als Gewalt qualifiziert ha­ ben. Daher beruhen die angegriffenen Entscheidungen nicht auf dem von ihnen zu Grunde gelegten Gewaltbegriff. Das Tatbestandsmerkmal der Gewalt kann nach der angeführten Entschei­ dung des Bundesverfassungsgerichts unter dem Gesichtspunkt der Be­ stimmtheit der Strafandrohung nicht in Fällen bejaht werden, in denen die Gewalt lediglich in körperlicher Anwesenheit besteht und die Zwangswir­ kung auf den Genötigten nur psychischer Natur ist (BVerfGE 92, 1 [18]). Die Aktion der Beschwerdeführerinnen beschränkte sich im vorliegenden Fall jedoch nicht auf die körperliche Anwesenheit vor dem Tor und den dadurch auf die Führer der Kraftfahrzeuge ausgelösten psychischen Zwang, wegen der Gefahr der Verletzung oder Tötung der Demonstranten anzuhal­ ten oder umzukehren. Zusätzlich erfolgte durch die Demonstranten selbst eine körperliche Kraftentfaltung, und zwar durch die Anbringung der in Hüfthöhe mit den Personen verbundenen Metallketten an den beiden Pfos­ ten des Einfahrtstors. Es ist nicht zu beanstanden, dass die Strafgerichte darin eine Gewaltanwendung gesehen haben. Insofern ist nicht etwa maß­ gebend, dass auch die Entfernung der Fixierung eine körperliche Kraftent­ faltung erfordert. Die Ankettung gab der Demonstration eine über den psychischen Zwang hinausgehende Eignung, Dritten den Willen der De­ monstranten aufzuzwingen. Sie nahm den Demonstranten die Möglichkeit, beim Heranfahren von Kraftfahrzeugen auszuweichen und erschwerte die Räumung der Einfahrt. Unter Bestimmtheitsaspekten ist es von Verfassungs wegen nicht zu be­ anstanden, wenn das Hinzutreten der von den Beschwerdeführerinnen er­ richteten physischen Barriere von den Strafgerichten als ausreichend für die Bejahung des Tatbestandsmerkmals der Gewalt angesehen wird. Auf Grund der Begleitumstände ist die Abgrenzung zur rein psychischen Zwangswir­ kung in einer hinreichend deutlichen und vorhersehbaren Weise möglich. Das Tatbestandsmerkmal der Gewalt setzt im Übrigen nicht das Überwiegen der Kraftentfaltung gegenüber der durch die bloße Anwesenheit von Perso­ nen ausgelösten psychischen Hemmung voraus. b) Auch die in dem Verfahren 1 BvR 433 / 96 zu beurteilende Autobahn­ blockade war durch eine von körperlicher Kraftentfaltung ausgehende Zwangswirkung geprägt. Das Anhalten der Fahrzeugkolonne und das Ab­ stellen der von den Teilnehmern benutzten Fahrzeuge auf den beiden Fahr­ streifen und dem Seitenstreifen der Autobahn stellten die Errichtung eines



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Hindernisses durch körperliche Kraftentfaltung dar, von dem eine Zwangs­ wirkung ausging. Die Überwindung dieser physischen Barriere hätte das Risiko der Selbstschädigung für diejenigen ausgelöst, die sich hätten wider­ setzen wollen. Dass infolge der Blockade weitere Kraftfahrzeuge Dritter stehen blieben, ist für die Beurteilung des Verhaltens des Beschwerdeführers ohne Belang. Der Sachverhalt gibt daher keinen Anlass, auf die so genann­ te Zweite-Reihe-Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGHSt 41, 182) einzugehen. 2. Das Bundesverfassungsgericht hat schon entschieden, dass auch die Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG gerecht wird. Dabei hat es darauf abgestellt, dass diese Klausel von den Strafgerichten als tatbestandsregulierendes, den Täter be­ günstigendes Korrektiv behandelt wird, das strafbarkeitsbeschränkend wirkt (vgl. BVerfGE 73, 206 [238 f.]). II. Die angegriffenen Entscheidungen führen im Ergebnis nicht zu einer Verletzung der Grundrechte der Beschwerdeführer aus Art. 8, Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Art. 2 Abs. 1 GG. Die Normen des Strafrechts unter Einschluss des § 240 StGB sind unter Beachtung der Wertentscheidungen der Grundrechte auszulegen und anzu­ wenden. Maßgebend sind im vorliegenden Fall das Grundrecht der Ver­ sammlungsfreiheit aus Art. 8 GG und das Gebot schuldangemessenen Stra­ fens aus Art. 2 Abs. 1 GG. Demgegenüber scheidet Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG als Prüfungsmaßstab aus. Zwar kann eine an den Inhalt oder die Form der Meinungsäußerung anknüpfende Bestrafung das Grundrecht der Meinungs­ freiheit auch dann berühren, wenn die Meinungskundgabe in einer oder durch eine Versammlung erfolgt. Gegenstand der strafrechtlichen Verurtei­ lung ist im vorliegenden Fall aber nicht die Äußerung, sondern die der Erzielung öffentlicher Aufmerksamkeit dienende Blockadeaktion. 1. Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistet allen Deutschen das Recht, sich fried­ lich und ohne Waffen zu versammeln. Geschützt sind nicht allein Veranstal­ tungen, bei denen Meinungen in verbaler Form kundgegeben oder ausge­ tauscht werden, sondern auch solche, bei denen die Teilnehmer ihre Mei­ nungen zusätzlich oder ausschließlich auf andere Art und Weise, auch in Form einer Sitzblockade, zum Ausdruck bringen (vgl. BVerfGE 87, 399 [406]). a)  Art. 8 GG schützt die Freiheit der Versammlung als Ausdruck gemein­ schaftlicher, auf Kommunikation angelegter Entfaltung (vgl. BVerfGE 69, 315 [343]). Der besondere Schutz der Versammlungsfreiheit beruht auf ihrer

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Bedeutung für den Prozess öffentlicher Meinungsbildung in der freiheit­ lichen demokratischen Ordnung des Grundgesetzes. Der Schutz reicht daher über den der allgemeinen Entfaltungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG hinaus. Die Grundrechtsausübung unterliegt insbesondere nur den in Art. 8 Abs. 2 GG vorgesehenen Schranken. Dieses auf kollektive Meinungsäußerung ge­ richtete Grundrecht kommt Mehrheiten wie Minderheiten zugute und ver­ schafft auch denen Möglichkeiten zur Äußerung in einer größeren Öffent­ lichkeit, denen der direkte Zugang zu den Medien versperrt ist (vgl. BVerfGE 69, 315 [346 f.]). Für die Eröffnung des Schutzbereichs reicht es wegen seines Bezugs auf den Prozess öffentlicher Meinungsbildung nicht aus, dass die Teilnehmer bei ihrer gemeinschaftlichen kommunikativen Entfaltung durch einen belie­ bigen Zweck verbunden sind. Vorausgesetzt ist vielmehr zusätzlich, dass die Zusammenkunft auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung ge­ richtet ist. Versammlungen im Sinne des Art. 8 GG sind demnach örtliche Zusammenkünfte mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilha­ be an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kund­ gebung. aa)  Diese Voraussetzungen erfüllte die in den Verfahren 1 BvR 1190 / 90 und 1 BvR 2173 / 93 zu beurteilende Blockadeaktion an der Zufahrt zur geplanten Wiederaufarbeitungsanlage. Die Teilnehmer wollten ihren Wider­ stand gegen das Vorhaben zum Ausdruck bringen, auf die Gefahren der Atomenergie aufmerksam machen und in diesem Rahmen die Bauarbeiten symbolisch einstellen. Entsprechende – im Sondervotum der Richterin Haas zu Unrecht als fehlend kritisierte – Feststellungen finden sich sowohl in dem Urteil des Landgerichts Amberg betreffend die Beschwerdeführerin zu 1 als auch in dem Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth betreffend die Beschwerdeführerin zu 2. Im Vordergrund der von den Beschwerdeführerin­ nen als „gewaltfreier Widerstand“ ausgegebenen Aktion stand der öffent­ liche Protest mit dem Ziel der Einwirkung auf die öffentliche Meinungsbil­ dung. Die beabsichtigte Unterbrechung der Bauarbeiten war nicht Selbst­ zweck, sondern ein dem Kommunikationsanliegen untergeordnetes Mittel zur symbolischen Unterstützung ihres Protests und damit zur Verstärkung der kommunikativen Wirkung in der Öffentlichkeit. bb)  Demgegenüber diente im Verfahren 1 BvR 433 / 96 die Blockade des Grenzübergangs an der Autobahn nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, der Kundgebung einer Meinung oder der Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit für ein kommunikatives Anliegen. Nach den Feststellungen des Amtsge­ richts zielte die Blockadeaktion der Roma und Sinti darauf, nach Verweige­ rung der Einreise in die Schweiz dennoch unbedingt ein Gespräch mit dem Hohen Flüchtlingskommissar in Genf zu erreichen und dafür die Einreise



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zu erzwingen. Darauf waren auch die parallel zur Blockade geführten Ver­ handlungen über die Einreise und über die Möglichkeit zur Beendigung der Aktion gerichtet. Art. 8 GG schützt die Teilhabe an der Meinungsbildung, nicht aber die zwangsweise oder sonst wie selbsthilfeähnliche Durchsetzung eigener For­ derungen (vgl. Herzog, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Stand März 2001, Art.  8 Rn.  100; Ladeur, in: Ridder / Breitbach / Rühl / Steinmeier, Versamm­ lungsrecht, 1992, Art. 8 GG Rn. 25). Die Erzwingung des eigenen Vorha­ bens stand nach dem vom Amtsgericht festgestellten Sachverhalt im Vorder­ grund der Blockadeaktion. Die Strafgerichte durften das Verhalten des Be­ schwerdeführers zu 3 deshalb als Nötigung bewerten, ohne es insoweit an Art. 8 GG zu messen. Soweit der Beschwerdeführer darlegt, die Aktion habe auch einen an die Öffentlichkeit gerichteten Kommunikationszweck verfolgt und sei als Spon­ tanversammlung zu bewerten, sind die Ausführungen nicht hinreichend substantiiert. b)  Für die Beschwerdeführerinnen entfällt der Schutz des Art. 8 GG nicht wegen Unfriedlichkeit der durchgeführten Blockade. Art. 8 GG schützt die Freiheit kollektiver Meinungskundgabe bis zur Grenze der Unfriedlichkeit. Die Unfriedlichkeit wird in der Verfassung auf einer gleichen Stufe wie das Mitführen von Waffen behandelt. Unfriedlich ist eine Versammlung daher erst, wenn Handlungen von einiger Gefährlich­ keit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden, nicht schon, wenn es zu Behinderun­ gen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genom­ men (vgl. BVerfGE 73, 206 [248]; 87, 399 [406]). Die Ankettung der Teilnehmer der Blockadeaktion führte nicht zu der so umschriebenen Gefährlichkeit für Personen oder Sachen und damit zur Un­ friedlichkeit im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG. Auch der weitere Verlauf hielt sich im Rahmen eines passiven Protestes und die Demonstranten ließen sich ohne Widerstand festnehmen, nachdem Polizeibeamte die Kette mit Bolzen­ schneidern zerlegt hatten. Ungeachtet der strafrechtlichen Bewertung als Gewalt kann das Verhalten der Teilnehmer der Blockadeaktion daher nicht als unfriedlich angesehen werden. Für die Begrenzung des Schutzbereichs des Art. 8 Abs. 1 GG ist jedoch allein der verfassungsrechtliche Begriff der Unfriedlichkeit maßgebend, nicht der umfassendere Gewaltbegriff des § 240 StGB (vgl. BVerfGE 73, 206 [248]). c) Auch der Umstand, dass mit der rechtmäßigen Auflösung einer Ver­ sammlung das Grundrecht aus Art. 8 GG unanwendbar wird (vgl. BVerfGE 73, 206 [250 und 253]), führt nicht dazu, dass die Beschwerdeführerinnen

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sich nicht auf den Schutz des Grundrechts berufen können. Die Gerichte haben nämlich die Verurteilungen – ungeachtet der Rechtmäßigkeit der später erfolgten Versammlungsauflösung – jedenfalls auch auf ein Verhalten der Beschwerdeführerinnen gestützt, das zeitlich vor der Auflösung lag. Bis zu einer rechtmäßigen Auflösung genießt jedoch eine Versammlung den Schutz des Art. 8 GG. Dies hätten die Strafgerichte ungeachtet des Umstan­ des berücksichtigen müssen, dass die Sitzblockade auch nach Auflösung der Versammlung fortgesetzt wurde. Die rein hypothetische Überlegung, dass die Versammlung unter Umstän­ den von Anfang an hätte rechtmäßigerweise aufgelöst werden können, be­ deutet – entgegen der missverständlichen Formulierung in der Entscheidung BVerfGE 82, 236 (264) – nicht, dass Versammlungsteilnehmer allein deshalb den Grundrechtsschutz von vornherein verlieren. Die in § 15 VersG als Schranke im Sinne des Art. 8 Abs. 2 GG enthaltene Ermächtigung zur Ge­ fahrenabwehr sieht für Eingriffe in die Versammlungsfreiheit die Form des Verwaltungsakts vor, dessen Erlass zudem im Ermessen der Versammlungs­ behörde steht. Bei ihrer Entscheidung hat die Behörde zu prüfen, ob die Gefahr unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eine Auflösung der Versammlung rechtfertigt und ob nach pflichtgemäßem Ermessen ein Einschreiten angezeigt ist. Die behördliche Entscheidung kon­ kretisiert die Rechte und Pflichten der Versammlungsteilnehmer. Vor der Auflösung der Versammlung ist nicht in einer rechtsstaatlichen Anforderun­ gen genügenden Weise festgestellt, dass die Veranstaltung nicht mehr unter dem Schutz des Art. 8 GG steht. Selbst die Auflösung schafft keine endgül­ tige Klarheit. Im Fall der Rechtswidrigkeit dieser Maßnahme hätten die Versammlungsteilnehmer Folgeanordnungen, etwa die Aufforderung sich zu entfernen, zwar zu befolgen, würden den Schutz des Art. 8 GG im Übrigen aber nicht verlieren (vgl. BVerfGE 87, 399 [408 ff.]). 2.  Die Strafgerichte haben die Bedeutung der Art. 8 und Art. 2 Abs. 1 GG bei der Auslegung und Anwendung des § 240 Abs. 2 StGB in den Verfahren 1 BvR 1190 / 90 und 1 BvR 2173 / 93 nicht hinreichend berücksichtigt. a)  Gegen die Verfassungsmäßigkeit der Strafbarkeit von Nötigungen be­ stehen unter dem Gesichtspunkt der Versammlungsfreiheit allerdings keine Bedenken. Ein allgemein verbotenes Verhalten wird nicht dadurch rechtmä­ ßig, dass es gemeinsam mit anderen in Form einer Versammlung erfolgt. Art. 8 GG schafft insbesondere keinen Rechtfertigungsgrund für strafbares Verhalten (vgl. BVerfGE 73, 206 [248 ff.]). Die Zuordnung eines Verhaltens zum Schutzbereich eines Grundrechts bewirkt für sich allein – entgegen der Auffassung der Richterin Haas – noch nicht seine Beurteilung als rechtmä­ ßig. Aus Grundrechtsschranken kann sich vielmehr seine Rechtswidrigkeit ergeben. Absatz 2 des Art. 8 GG sieht ausdrücklich vor, dass für Versamm­



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lungen unter freiem Himmel das Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden darf. Das den Grundrechtsträgern durch Art. 8 GG eingeräumte Selbstbestim­ mungsrecht über Ort, Zeitpunkt sowie Art und Inhalt der Veranstaltung ist durch den Schutz der Rechtsgüter Dritter und der Allgemeinheit begrenzt. Es umfasst nicht auch die Entscheidung, welche Beeinträchtigungen die Träger kollidierender Rechtsgüter hinzunehmen haben. Die Blockade einer Zufahrt beeinträchtigt jedenfalls die Fortbewegungsfreiheit der an der Stra­ ßenbenutzung gehinderten Kraftfahrzeugführer, eventuell auch deren Frei­ heit beruflicher Betätigung. Mit der Ausübung des Versammlungsrechts sind häufig unvermeidbar gewisse nötigende Wirkungen in Gestalt von Behinde­ rungen Dritter verbunden (vgl. BVerfGE 73, 206 [250]). Derartige Behinde­ rungen Dritter und Zwangswirkungen sind durch Art. 8 GG gerechtfertigt, soweit sie als sozial-adäquate Nebenfolgen mit rechtmäßigen Demonstra­ tionen verbunden sind (vgl. BVerfGE 73, 206 [250]). b) Das Versammlungsgesetz und die allgemeine Rechtsordnung sichern die Einhaltung dieser Grenze. Wird sie durch eine Gefährdung oder Störung der öffentlichen Sicherheit überschritten, ist dies – wie § 15 VersG ergibt – rechtswidrig. Wegen der Rechtswidrigkeit des Verhaltens der Beschwerde­ führerinnen durfte die zuständige Behörde die angebrachten Ketten zer­ schneiden und die Demonstranten aus der Zufahrt entfernen. Eine andere – von der Richterin Haas zu Unrecht nicht gesondert aufge­ worfene – Frage ist, ob ein nach Versammlungsrecht rechtswidriges Verhal­ ten auch unter Strafe gestellt und welche Strafrechtsnorm anwendbar ist. Im vorliegenden Fall ist allerdings nur zu klären, ob an das Verhalten der Be­ schwerdeführerinnen eine strafrechtliche Sanktion nach Maßgabe des § 240 StGB geknüpft werden darf. Die Anwendbarkeit dieser Norm setzt neben dem Vorliegen der Tatbestandsmerkmale des Absatzes 1 die Feststellung der Verwerflichkeit des Handelns nach Absatz 2 voraus. Bei der Anwendung der Verwerflichkeitsklausel ist der wertsetzenden Bedeutung des Art. 8 GG ebenso Rechnung zu tragen wie dem in Art. 2 Abs. 1 GG verankerten Gebot schuldangemessenen Strafens. aa)  Die Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB ist Ausdruck des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. An dieser Stelle ist der Rechtsgüter­ konflikt im Rahmen einer einzelfallbezogenen Abwägung zu bewältigen. Entscheidend ist nach § 240 Abs. 2 StGB, ob die Anwendung der Gewalt zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. Es entspricht verfas­ sungsrechtlichen Anforderungen, wenn dabei alle für die Mittel-Zweck-Rela­ tion wesentlichen Umstände und Beziehungen erfasst werden und eine Ab­ wägung der auf dem Spiel stehenden Rechte, Güter und Interessen nach ih­ rem Gewicht in der sie betreffenden Situation erfolgt (vgl. BVerfGE 73, 206

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[255 f.]). Ob die Gerichte bei Anwendung eines engen Gewaltbegriffs der Erfüllung des Tatbestandsmerkmals „Gewalt“ eine die Rechtswidrigkeit indi­ zierende Wirkung beimessen können (vgl. BVerfGE 73, 206 [255]), bedarf vorliegend – entgegen der Auffassung im Sondervotum der Richterin Haas – keiner Entscheidung. Es ist verfassungsrechtlich jedenfalls nicht zu beanstan­ den, dass die Gerichte bei der hier in Rede stehenden Ankettungsaktion der Beschwerdeführerinnen eine solche Indizwirkung verneint haben. bb) Ob eine Handlung als verwerfliche Nötigung zu bewerten ist, lässt sich ohne Blick auf den mit ihr verfolgten Zweck nicht feststellen. Mit der Bewertung des zu Grunde liegenden Zwecks wird zugleich eine Weiche für die Verwerflichkeitsprüfung gestellt. Erfolgt das Verhalten im Schutzbereich des Art. 8 GG, muss die Bestimmung des relevanten Zwecks von der wert­ setzenden Bedeutung dieses Grundrechts geleitet sein. (1)  Maßgebend ist aus dem Blickwinkel des Art. 8 GG insofern der Kom­ munikationszweck, den die Versammlung verfolgt. Vom Selbstbestimmungs­ recht der Grundrechtsträger ist auch die Entscheidung erfasst, was sie anstre­ ben. Die Beschwerdeführerinnen wollten mit der als spektakulär inszenierten Blockade der Zufahrt, die sie in Erwartung ihrer baldigen Entfernung durch die Polizei als kurzfristig einkalkuliert hatten, Aufmerksamkeit für ihren Pro­ test gegen die Nutzung der Atomenergie erzeugen. Das ergibt sich aus den von den Strafgerichten festgestellten Umständen unter Einschluss der von ihnen ausgewerteten Flugblätter. Von dem Ziel der Erregung von Aufmerk­ samkeit sind die Strafgerichte bei der Strafzumessung auch ausdrücklich aus­ gegangen. Insofern war der für Art. 8 GG maßgebende Zweck nicht die mit der demonstrativen Blockade bewirkte Verhinderung der Durchfahrt. Die Sperrung galt nicht einem beliebigen Tor, sondern dem zu der politisch um­ strittenen Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf. Die Beschwerdeführe­ rinnen setzten die Blockade als Mittel ein, um das kommunikative Anliegen, die Erzielung von öffentlicher Aufmerksamkeit für ihren politischen Stand­ punkt, auf spektakuläre Weise zu verfolgen und dadurch am Prozess öffent­ licher Meinungsbildung teilzuhaben. Die Verwirklichung eines solches Kom­ munikationsziels wird im Rahmen des Art. 8 GG geschützt. Daher ist für die Abwägung bedeutsam, dass die Beschwerdeführerinnen bei ihrer Aktion davon ausgingen, zu einer die Öffentlichkeit angehenden, kontrovers diskutierten Frage – der friedlichen Nutzung der Atomkraft – Stellung zu beziehen. Es ist den Gerichten insofern verwehrt, das kommu­ nikative Anliegen inhaltlich zu bewerten und sein Gewicht in der Abwägung je nachdem zu bestimmen, ob sie die Stellungnahme als nützlich und wert­ voll einschätzen und ob das verfolgte Ziel nach gerichtlicher Beurteilung zu billigen ist oder nicht. Eine solche Bewertung verbietet sich, weil der Staat gegenüber der Grundrechtsbetätigung der Bürger auch im Interesse der Offenheit kommunikativer Prozesse inhaltsneutral bleiben muss.



Beschluss vom 24. Oktober 2001173

(2) Das Anliegen der Beschwerdeführerinnen, für ihren Standpunkt öf­ fentliche Aufmerksamkeit zu erzielen, ist bei der strafrechtlichen Prüfung der Verwerflichkeit des Handelns notwendig zu berücksichtigen. Die Verwerflichkeitsklausel untersagt als Ausdruck des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit übermäßige Sanktionen und schützt unter Berücksichti­ gung des Art. 8 GG insbesondere davor, dass eine Strafandrohung ein über­ mäßiges Risiko bei der Verwirklichung des Versammlungszwecks bewirkt. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz soll aber auch sichern, dass den anderen betroffenen Rechtsgütern Schutz gewährt wird. Kollidiert die Versamm­ lungsfreiheit mit der Entfaltungsfreiheit oder anderen Grundrechten und sonstigen Rechtspositionen Dritter, ist für eine wechselseitige Zuordnung der Rechtsgüter mit dem Ziel größtmöglichen Schutzes beider Sorge zu tragen. Soweit eine strafrechtliche Sanktion eingesetzt wird, muss sie zum Schutz der Rechtsgüter Dritter oder der Allgemeinheit nicht nur geeignet, sondern auch angesichts der damit verbundenen Beeinträchtigung der Ver­ sammlungsfreiheit erforderlich und angemessen sein. Dabei ist das Recht der Träger des Grundrechts der Versammlungsfreiheit zu berücksichtigen, selbst über Art und Umstände der Ausübung ihres Grundrechts zu bestimmen, also zu entscheiden, welche Maßnahmen sie zur Erregung der öffentlichen Aufmerksamkeit für ihr Anliegen einsetzen wol­ len. Diese Einschätzung der Träger des Grundrechts ist jedenfalls insoweit maßgeblich, als sie Rechte Dritter nicht beeinträchtigen. Kommt es zu Rechtsgüterkollisionen, ist ihr Selbstbestimmungsrecht allerdings durch das Recht anderer beschränkt. Im Strafverfahren besteht anders als für ver­ sammlungsbehördliche Entscheidungen, die im Vorfeld von Versammlungen ergehen, jedoch keine Möglichkeit, Rechtsgüterkollisionen durch versamm­ lungsrechtliche Auflagen auszuschließen und dem Grundsatz der Verhältnis­ mäßigkeit durch Modifikation der Durchführung der Versammlung, etwa die Veränderung der Route eines Aufzugs oder der Dauer der Kundgebung, Rechnung zu tragen. Die Strafgerichte können lediglich die schon durchge­ führte Versammlung strafrechtlich einordnen. Das Gebot, das Selbstbestim­ mungsrecht hinsichtlich Ziel und Gegenstand sowie Ort, Zeitpunkt und Art der Versammlung anzuerkennen, führt in einem solchen Fall dazu, dass die Gerichte die Einschätzung der Träger des Grundrechts der Versammlungs­ freiheit zu respektieren haben, wie sie ihre Aktion zur Verfolgung des Kommunikationszwecks gestalten wollen. Vom Selbstbestimmungsrecht der Grundrechtsträger ist jedoch nicht die Entscheidung umfasst, welche Beein­ trächtigungen die Träger der kollidierenden Rechtsgüter hinzunehmen ha­ ben. Bei der Angemessenheitsprüfung haben die Gerichte daher auch zu fragen, ob das Selbstbestimmungsrecht unter hinreichender Berücksichti­ gung der gegenläufigen Interessen Dritter oder der Allgemeinheit ausgeübt worden ist. Der Einsatz des Mittels der Beeinträchtigung dieser Interessen

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ist zu dem angestrebten Versammlungszweck bewertend in Beziehung zu setzen, um zu klären, ob eine Strafsanktion zum Schutz der kollidierenden Rechtsgüter angemessen ist. Insofern werden die näheren Umstände der Demonstration für die Verwerf­ lichkeitsprüfung bedeutsam (vgl. BVerfGE 73, 206 [257]). In diesem Rah­ men sind insbesondere auch Art und Maß der Auswirkungen auf betroffene Dritte und deren Grundrechte zu berücksichtigen. Wichtige Abwägungsele­ mente sind unter anderem die Dauer und Intensität der Aktion, deren vorhe­ rige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten, die Dring­ lichkeit des blockierten Transports, aber auch der Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestge­ genstand (vgl. in Anknüpfung an BVerfGE 73, 206 [257] Eser, in: Festschrift für Jauch, 1990, S. 35 [39]). Das Gewicht solcher demonstrationsspezifischer Umstände ist mit Blick auf das kommunikative Anliegen der Versammlung zu bestimmen, ohne dass dem Gericht eine Bewertung zusteht, ob es dieses Anliegen als nützlich und wertvoll einschätzt oder es missbilligt. Stehen die äußere Gestaltung und die durch sie ausgelösten Behinderungen in einem Zusammenhang mit dem Versammlungsthema oder betrifft das Anliegen auch die von der Demonstration nachteilig Betroffenen, kann die Beeinträch­ tigung ihrer Freiheitsrechte unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände möglicherweise eher sozial erträglich und dann in größerem Maße hinzuneh­ men sein, als wenn dies nicht der Fall ist. Demgemäß ist im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, ob und wie weit die Wahl des Versammlungs­ ortes und die konkrete Ausgestaltung der Versammlung sowie die von ihr betroffenen Personen einen auf die Feststellung der Verwerflichkeit einwir­ kenden Bezug zum Versammlungsthema haben. c)  Die angegriffenen Entscheidungen werden den dargestellten Grundsät­ zen nicht gerecht. aa)  Die Auswahl und Gewichtung der nach Lage des konkreten Sachver­ halts in die Verwerflichkeitsprüfung einzubeziehenden Gesichtspunkte ist Sache der Strafgerichte und der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung grundsätzlich entzogen. Eine Ausnahme besteht, wenn der Abwägungsvor­ gang Fehler enthält, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung und Tragweite des betroffenen Grundrechts beruhen und auch im konkreten Fall von einigem Gewicht sind (vgl. BVerfGE 18, 85 [92 f.]; 42, 143 [148 f.]). bb)  So liegt es hier. Es ist zwar verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das Amtsgericht in beiden Verfahren davon ausgegangen ist, Art. 8 GG enthalte keinen allgemeinen Rechtfertigungsgrund für die Blockadeaktion der Beschwerdeführerinnen. Es hat aber den Schutzbereich des Art. 8 GG verkannt, als es diese Grundrechtsnorm im Zuge der strafrechtlichen Ver­



Beschluss vom 24. Oktober 2001175

werflichkeitsprüfung unbeachtet gelassen hat. Im Rahmen dieser Prüfung hat es die Sozialwidrigkeit der beabsichtigten Verkehrsbehinderung ohne Rück­ griff auf Art. 8 GG bejaht und das von den Beschwerdeführerinnen verfolgte Anliegen der Erzielung öffentlicher Aufmerksamkeit in der die Öffentlichkeit angehenden Frage der Nutzung der Kernenergie unberücksichtigt gelassen. Es hat die Annahme der Verwerflichkeit des Handelns der Beschwerdeführe­ rinnen insbesondere darauf gestützt, dass andere, weniger einschneidende Möglichkeiten für eine „symbolische Aktion“ zur Verfügung gestanden hät­ ten. Insoweit hat es das Recht der Grundrechtsträger zur eigenbestimmten Entscheidung über die Ausgestaltung der Versammlung verkannt und die sich erst daran anschließende Zuordnung der kollidierenden Rechtsgüter dement­ sprechend in verkürzter Weise vorgenommen. Den Eingriff in die Entschei­ dungsfreiheit der an der Einfahrt in das Tor Gehinderten hat es zudem fälsch­ lich als Missachtung der Menschenwürde bewertet und dadurch einer Abwä­ gung mit anderen Rechtsgütern entzogen. Demzufolge hat es den Sachbezug zwischen dem Protestgegenstand und dem Ort der Aktion sowie den in ihrer Fortbewegung beeinträchtigten Personen nicht berücksichtigt. Auch hat das Gericht, soweit Umleitungsmöglichkeiten bestanden, diesen im Rahmen der Abwägung kein Gewicht beigemessen, sondern allein darauf abgestellt, dass die Kraftfahrzeugführer die Vorstellung gehabt hätten, ihnen werde durch das Hindernis die Weiterfahrt verwehrt. In ihren mit den Verfassungsbeschwerden 1 BvR 1190 / 90 und 1 BvR 2173 / 93 angegriffenen Urteilen haben sich die Landgerichte Amberg und Nürnberg-Fürth der Auffassung des Amtsgerichts in wesentlichen Teilen wortgleich, im Übrigen inhaltlich angeschlossen. Das Bayerische Oberste Landesgericht hat die Revisionen in seinen verfahrensbeendenden Beschlüs­ sen ohne nähere Ausführungen als offensichtlich unbegründet verworfen. Insofern sind die Tatsachenwertungen des Amtsgerichts maßgebend für die Verurteilungen geworden. 3. Auch wenn die Strafgerichte demnach in den Verfahren betreffend die Beschwerdeführerinnen zu 1 und 2 die Bedeutung des Art. 8 GG im Rah­ men der Verwerflichkeitsprüfung verkannt haben, bedarf es hier dennoch nicht der Aufhebung der angegriffenen Entscheidungen und der Zurückver­ weisung der Sachen an die Strafgerichtsbarkeit. Im Ergebnis halten die Entscheidungen nämlich verfassungsrechtlichen Anforderungen stand, da sie nicht auf dem Fehler beruhen. Auch bei hinreichender Berücksichtigung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit erscheint es ausgeschlossen, dass die Gerichte den Beschwerdeführerinnen günstigere Entscheidungen getroffen hätten. Dies gilt gleichermaßen für die Verwerflichkeitsprüfung, den Schuld­ spruch und die verhängte Sanktion. Die Gerichte haben jedenfalls bei der Strafzumessung ausdrücklich das kommunikative Anliegen der Beschwerdeführerinnen, das mit der Kritik der

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Nutzung der Kernenergie eine die Öffentlichkeit angehende Frage betraf, ebenso berücksichtigt wie die örtliche Begrenzung der Aktion auf eine Zu­ fahrt zum Baugelände der Wiederaufarbeitungsanlage und die relativ gerin­ ge Auswirkung auf die Opfer der Aktion. Sie haben auch den Umstand gewürdigt, dass die Beschwerdeführerinnen bewusst eine Konfrontation mit der Staatsgewalt und Gewalttätigkeiten oder weitere Eskalationen vermei­ den wollten und zugleich mittels Flugblättern dafür sorgten, den Sinn ihrer Aktion zu verdeutlichen, also den Kommunikationszweck eindeutig in den Mittelpunkt ihrer Aktion zu stellen. Darüber hinaus haben die Gerichte in verfassungsrechtlich nicht zu bean­ standender Weise (vgl. BVerfGE 73, 206 [261]) die Tatmotive der Be­ schwerdeführerinnen und ihr mit der Blockade verfolgtes politisches Anlie­ gen berücksichtigt. Sie haben eine relativ milde Sanktion verhängt, nämlich eine Verwarnung mit dem Vorbehalt der Zahlung einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 20 DM. In Anbetracht dessen haben die Gerichte bei ih­ ren damaligen Entscheidungen trotz Verkennung der Bedeutung von Art. 8 GG die für die Verwerflichkeitsprüfung wesentlichen Gesichtspunkte letzt­ lich im Ergebnis der Entscheidung zum Tragen gebracht. Die Grundrechts­ verletzung hat sich daher auf die Entscheidungen nicht ausgewirkt. 4. Da die Verurteilung des Beschwerdeführers zu 3 keinen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 GG bewirkt (vgl. B II 1 a bb), sind die von ihm angegriffenen Entscheidungen nur an dem in Art. 2 Abs. 1 GG veran­ kerten Gebot schuldangemessenen Strafens zu messen. Insoweit kann ein Verfassungsverstoß nicht festgestellt werden. Das Amtsgericht hat zur Be­ gründung der Verwerflichkeit des Handelns des Beschwerdeführers nach­ vollziehbar insbesondere auf die über 24 Stunden hinausgehende Dauer der Blockade abgestellt und im Rahmen der Strafzumessung in verfassungs­ rechtlich unbedenklicher Weise auch strafmildernd berücksichtigt, dass An­ lass für die Aktion die Sorge um die Abschiebung und damit möglicherwei­ se verknüpfte Gefahren für Leib und Leben war. Abweichende Meinung der Richterin Haas zum Beschluss des Ersten Senats vom 24. Oktober 2001 – 1 BvR 1190 / 90, 2173 / 93, 433 / 96 (BVerfGE 104, 115) Ich stimme der Entscheidung im Ergebnis, nicht jedoch in der Begrün­ dung zu.   I. 1. Gezielte Gewaltausübung zur Erregung von Aufmerksamkeit für das mit dem Protest verfolgte Kommunikationsanliegen ist durch Art. 8 Abs. 1



Abweichende Meinung Haas177

GG nicht geschützt (vgl. dazu auch BVerfGE 73, 206 [250]; 82, 236 [264]). Die kollektive Behinderung durch gezielte Gewaltausübung ist selbst dann als Nötigung strafbar, wenn sie der Meinungskundgabe dient (BVerfGE 82, 236 [264]). Die Auffassung der Senatsmehrheit, dass mit Gewalt Aufmerk­ samkeit für die gemeinschaftliche Meinungskundgabe erregt werden dürfe, dies sonach nicht verwerflich im Sinne des § 240 Abs. 2 StGB sei, läuft im Ergebnis darauf hinaus, dass unter dem Schutz der Versammlungsfreiheit rechtmäßig private Gewalt gegenüber anderen Grundrechtsträgern ausgeübt werden kann, die selbst keinen Grund dazu gegeben haben. a) Grundrechte verbürgen dem Einzelnen Rechte gegenüber dem Staat als Abwehr- und Leistungsrechte; in bestimmten Fällen auch gegenüber Dritten. Für ihre Durchsetzung kann der Einzelne gerichtlichen Schutz in Anspruch nehmen. Selbsthilfe ist nur in engen gesetzlich umschriebenen Grenzen zulässig. Grundanliegen des modernen Staates ist es, Selbsthilfe und Privatgewalt möglichst umfassend zurückzudrängen. Zwar führt die Inanspruchnahme der Versammlungsfreiheit unvermeidbar zu Behinderungen Dritter. Wenn sich eine größere Anzahl von Personen an einem Ort versammelt, ist für andere – möglicherweise – dort kein Raum mehr. Mit der Gewährleistung der Versammlungsfreiheit hat der Verfas­ sungsgeber dies als sozialadäquate Nebenfolge in Kauf genommen, wobei nach Art. 8 Abs. 2 GG die Verwaltung die Beeinträchtigungen Dritter durch Auflagen verringern kann. Nicht indessen ist durch Art. 8 Abs. 1 GG die gezielte Gewaltausübung zur Erregung von Aufmerksamkeit gedeckt (so ausdrücklich noch BVerfGE 73, 206 [250]).   b)  Die Versammlungsfreiheit wird in der Rechtsprechung des Bundesver­ fassungsgerichts als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe verstanden (vgl. dazu BVerfGE 69, 315 [345]). Der verfassungsrechtliche Schutz gilt der geistigen Auseinandersetzung (BVerfGE 69, 315 [359 f.]). Dies bestimmt die Mittel und die Ausdrucksformen. Die gemeinschaftliche Artikulation eines Anliegens vermittelt den Eindruck „massenhafter“ Unterstützung und verschafft dem Anliegen Nachdruck und Breitenwirkung; in diesem Sinne erregt sie Aufmerksamkeit. Darin erschöpft sich die Bedeutung der Ver­ sammlung. Ihr kommt lediglich instrumentelle Funktion zu. Daraus folgt zwar, dass Art. 8 Abs. 1 GG der Versammlung als solcher insoweit spezifi­ sche Rechte je nach Fallgestaltung zuweist; im Allgemeinen aber gilt, dass das Grundrecht, das die Teilnehmer einer Versammlung in diesem Rahmen ausüben, die Rechte der Versammlung auch begründet und begrenzt. Für die Meinungskundgabe in der Öffentlichkeit kann sich der Einzelne auf Art. 5 Abs. 1 GG berufen. Die Verfassung gewährleistet ihm das Recht auf freie Rede im umfassenden Sinne. Nicht hingegen garantiert Art. 5 Abs. 1 GG ein Recht darauf, von Jedermann oder auch nur von Einzelnen

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6. Blockadeaktionen

gehört zu werden (vgl. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Stand März 2001, Rn. 60 zu Art. 5; Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, 4. Aufl. 1999, Rn. 34 zu Art. 5; Tettinger, JZ 1990, S. 846). Soweit eine Pflicht zur Kennt­ nisnahme gegeben ist, ergibt sich dies aus anderen Vorschriften der Verfas­ sung (vgl. Art. 17, Art. 103 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG) gesondert. Dem Privatmann gegenüber hat der Einzelne jedoch kein aus der Verfassung (Art. 5 Abs. 1 GG) fließendes Recht auf Gehör oder auch nur Aufmerksam­ keit. Das korrespondiert zu dem Recht jedes Menschen, „in Ruhe gelassen zu werden“, keine Aufmerksamkeit gewähren zu müssen. Dieses Recht er­ wächst ihm aus dem Anspruch auf unbedingte Achtung seiner Person und seiner Belange, den der in Gemeinschaft lebende Mensch gegenüber seinen Mitmenschen hat (vgl. BVerfGE 44, 197 [203]). Fordert der Einzelne die Aufmerksamkeit Dritter gar noch mit Gewalt ein, etwa weil er sie am Weg­ gehen hindert und so das Zuhören, jedenfalls aber deren Aufmerksamkeit erzwingt, kann er sich nicht mehr auf Art. 5 Abs. 1 GG berufen. Wenn dem Einzelnen die Erregung der Aufmerksamkeit Dritter für seine Meinungsäußerung nicht durch Art. 5 Abs. 1 GG gewährleistet ist, so kann er diese auch nicht im Verein mit anderen als Versammlung, schon gar nicht mit Gewalt erzwingen. Mit diesen Erwägungen ist ersichtlich nichts dazu gesagt, ob mit der Zu­ ordnung eines Verhaltens zum Schutzbereich eines Grundrechts dieses regel­ mäßig als rechtmäßig zu beurteilen sein wird (vgl. Bl. 23 des Umdrucks). Insoweit liegt offensichtlich ein Missverständnis der Senatsmehrheit vor. 2. Es fehlt an jeglicher Feststellung in den angegriffenen Entscheidun­ gen, wonach die Beschwerdeführerinnen mit der Ankettung eine höhere Aufmerksamkeit für ihren Anti-Atomprotest erzielen wollten, als ihnen dies durch die schlichte Blockade der demonstrierenden Versammlungsteilneh­ mer im Werkstor hätte gelingen können. Nur um diese Ankettung geht es im Rahmen der Prüfung des § 240 StGB, nicht aber um die von der Ver­ sammlung im Tor verursachte Blockade, die nach Meinung der Senatsmehr­ heit ohnehin keine Gewalt im Sinne des § 240 StGB darstellt. Das Bundesverfassungsgericht hat von den Sachverhaltsfeststellungen auszugehen, die die Fachgerichte ihren Entscheidungen zu Grunde gelegt haben und die nicht erfolgreich mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen worden sind. Nach den hier maßgeblichen Feststellungen der Fachgerichte haben sich die Beschwerdeführerinnen untereinander und an die Pfosten des Werkstores angekettet und sind bis zur Auflösung der Demonstration auch angekettet geblieben. Diese aktive und fortdauernde Anwendung von Ge­ walt – keineswegs ist dieses Verhalten im Verlaufe der Demonstration als passiver Protest zu beurteilen (so aber die Senatsmehrheit, Bl. 20 f. des Umdrucks) – verhinderte nachhaltig für die Dauer der Demonstration das



Abweichende Meinung Haas179

Betreten oder Verlassen des Baugeländes durch Arbeitnehmer und Zuliefe­ rer. Zur gewaltsamen Behinderung der Verkehrsteilnehmer haben die Fach­ gerichte festgestellt (zitiert nach den Urteilen der Landgerichte NürnbergFürth und Amberg): „Die Beschwerdeführerinnen hatten sich nach vorheri­ ger Planung … an einer Blockade beteiligt, bei der eine längere, empfind­ liche Störung des Baustellenverkehrs in Kauf genommen wurde. … Die Blockade zielte in erster Linie auf die Verkehrsbehinderung ab“. An anderer Stelle heißt es, dass die Beschwerdeführerinnen mit ihrem Verhalten beab­ sichtigten, die Arbeiten auf dem Baugelände vorübergehend stillzulegen. Für ihre Auffassung, die Ankettung habe der Erzielung höherer Aufmerk­ samkeit für den Protest der nach den Feststellungen der Fachgerichte „klei­ nen Gruppe“, deren Aktion „nicht viele Zuschauer“ fand, gedient, kann sich die Senatsmehrheit nicht auf in den Urteilen festgestellte Umstände (wel­ che?) oder auf entsprechende Feststellungen der Fachgerichte zum Inhalt der Flugblätter berufen; auch die Ausführungen der Berufungsgerichte zur Strafzumessung verhalten sich nicht zur Ankettung. II. Selbst wenn man im Grundsatz hier Art. 8 Abs. 1 GG für anwendbar hält, können sich die Beschwerdeführerinnen nicht mit Erfolg auf Art. 8 Abs. 1 GG berufen. Ob dies schon deshalb zu gelten hat, weil die Demonstration von Beginn an rechtswidrig war und deshalb hätte aufgelöst werden können (unmissverständlich dazu BVerfGE 82, 236 [264]), kann dahingestellt blei­ ben. Darauf kommt es hier letztlich nicht an. Denn jedenfalls nach der rechtmäßigen Auflösung der Demonstration, die hier nicht in Frage steht, war bei der Prüfung der Verwerflichkeit der Gewaltanwendung Art. 8 Abs. 1 GG von den Fachgerichten nicht mehr in Betracht zu ziehen. III. Stellt man sich auf den Standpunkt der Senatsmehrheit und macht man sich deren Grundannahmen zu Eigen, sind die angegriffenen Entscheidun­ gen gleichwohl nicht zu beanstanden. 1. Die Auslegung und Anwendung einfachen Rechts ist grundsätzlich Sache der Fachgerichte, die den Sachverhalt aufzuklären und die von ihnen getroffenen Feststellungen der rechtlichen Beurteilung zu Grunde zu legen haben. An diese Feststellungen, sofern sie nicht mit zulässigen und begrün­ deten Verfassungsrechtsrügen angegriffen sind, ist das Bundesverfassungs­ gericht bei der Prüfung, ob die angegriffenen Entscheidungen Art. 8 Abs. 1 GG verletzen, gebunden. 2.  Die Fachgerichte haben auf der Grundlage der von ihnen getroffenen Feststellungen bei der rechtlichen Würdigung die Bedeutung und Tragweite

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6. Blockadeaktionen

des Art. 8 Abs. 1 GG nicht verkannt. Insbesondere unterliegt die Prüfung der Verwerflichkeit (§ 240 Abs. 2 StGB) keinen verfassungsrechtlichen Be­ denken. a) Mit der Rechtsprechung (schon BGHSt 2, 194 [195]) und der herr­ schenden Meinung in der Literatur (vgl. etwa Tröndle  /  Fischer, StGB, 50. Aufl., Rn. 32 zu § 240; Lackner / Kühl, StGB, 23. Aufl., Rn. 25 zu § 240; Otto, NStZ 1992, 568 [571]) ist davon auszugehen, dass die Rechtswidrig­ keitsregel des § 240 Abs. 2 StGB ein allgemeines Verbrechensmerkmal ist. Die Prüfung der Rechtswidrigkeit eines Tuns dient nicht dem Ziel „über­ mäßige Sanktionen“ zu verhindern, sondern der Vergewisserung, ob über­ haupt eine strafrechtliche Sanktion verhängt werden kann. Bei Zugrundele­ gung der Rechtsauffassung der Senatsmehrheit, wonach die Nötigung zwar tatbestandsmäßig aber nicht rechtswidrig ist, kann die Verurteilung keinen Bestand haben. Daran ändert auch nichts, dass die Verwarnung keine Strafe ist (§ 59 Abs. 1 StGB). Die materielle Umschreibung der Rechtswidrigkeit in Absatz 2 ist not­ wendig, weil die Verwirklichung des Tatbestandes infolge der „weiten“ Tatbestandsmerkmale der Vorschrift nicht ohne weiteres rechtswidrigkeitsin­ dizierende Wirkung hat. Dies ist nur in einem Kernbereich des § 240 Abs. 1 StGB, der durch seinen Unrechtsgehalt ohne weiteres die Rechtswidrigkeit indiziert, der Fall. Die Senatsmehrheit hätte deshalb im Blick auf die frühe­ re Rechtsprechung des Senats (BVerfGE 73, 206 [255]) Gelegenheit gehabt, die Frage zu erörtern, ob die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals „Gewalt“ in seiner jetzigen Konzeption rechtswidrigkeitsindizierende Wirkung hat. War bisher wegen der weiten Auslegung des Gewaltbegriffs eine indizielle Bedeutung der Tatbestandserfüllung ausgeschlossen (vgl. BVerfGE 73, 206 [255]; 76, 211 [217]), wovon hier auch die Fachgerichte ausgehen, so stellt sich die Frage nach der Einengung des Gewaltbegriffs in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 92, 1  f.) neu. Dies umso mehr als das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung seinerzeit ausgeführt hat, dass die Indizwirkung bei Anwendung eines engen Gewaltbegriffs vertretbar sei (vgl. BVerfGE 73, 206 [255]). b) Die Rechtswidrigkeit ist von den Fachgerichten im Wege wertender Betrachtung der Relation von Nötigungszweck und Nötigungsmittel festge­ stellt worden. Zutreffend haben die Entscheidungen in Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung auf den unmittelbaren, mit der Gewalt­ anwendung verfolgten Zweck (hier: Hinderung des Durchlasses mit dem Ziel der wenn auch nur kurzfristigen Einstellung der Bauarbeiten) abgestellt. Die Feststellung eines sozial unerträglichen Missverhältnisses zwischen Tathandlung und Zweckverwirklichung fordert einen möglichst engen Be­ zug von Mittel und Zweck. Nur dies wird der konkreten Lebenssituation



Abweichende Meinung Haas181

und der Funktion des Absatzes 2 des § 240 StGB gerecht. Der Rückgriff auf den unmittelbaren Zweck verhindert zudem, dass bei der Feststellung des Zwecks Wertungen des Richters zu mittelbaren und „entfernteren“ Zwecken den Ausschlag gibt. Wertungsspielräume dieser Art dürfen im Strafrecht nicht eröffnet werden. Die von der Rechtsprechung für maßgeblich erachte­ te Unmittelbarkeit des Zwecks muss wegen der Abstraktheit der Vorschrift für alle Anwendungsfälle ungeachtet des Lebensbereichs gleichermaßen gelten. Auf den Lebensbereich, dem die Handlung zuzuordnen ist, kann es demgemäß nicht ankommen. Mit Rücksicht auf den Schutzzweck der Strafgesetze als Normen des Rechtsgüterschutzes darf überdies das Opfer nicht aus dem Blick geraten. Die Nötigungshandlung ist in erster Linie danach zu beurteilen, was dem Opfer widerfährt. Soweit die Tathandlung im Zusammenhang mit der Aus­ übung von Grundrechten durch den Täter steht, ist es geboten, in die recht­ liche Würdigung stets auch die Grundrechte des Opfers, die diesen gegen­ über stehen, einzubeziehen. Auch das Opfer kann sich im Einzelfall auf die Handlungs- oder die Demonstrationsfreiheit, auf das Grundrecht auf Ge­ sundheit und Leben berufen; Freiheiten, in denen es durch die Tathandlung beschränkt wird. Die aktive Grundrechtsausübung des Täters ist gegenüber dem zur Passivität genötigten Opfer, das seine Grundrechte wegen der Ge­ waltausübung des Täters nicht zur Geltung bringen kann, nicht ohne weite­ res als höherwertig einzustufen. Insbesondere ist das Gewicht der Grund­ rechte der Opfer nicht etwa deshalb als geringer zu veranschlagen, weil ein Sachbezug derselben zum Protestgegenstand besteht. Dass dies ein gänzlich ungeeignetes Kriterium ist, wird deutlich, wenn man beispielsweise bedenkt, dass sich eine Demonstration gegen Ausländer bestimmter Nationalität rich­ tet und unter einem entsprechenden Motto stattfindet. Müssen sich die angesprochenen Ausländer wegen des offensichtlichen „Sachbezugs zum ­ Protestgegenstand“ tatsächlich mehr gefallen lassen als andere Ausländer oder Deutsche, die von einer solchen Ankettungsaktion gleichfalls betroffen sind? Vorliegend dürfte etwa der „besondere“ Sachbezug der betroffenen Arbeitnehmer, die auf Grund arbeitsvertraglicher Pflichten mit dem Protest­ gegenstand in Berührung kamen, kaum überzeugend begründbar sein. Den Grundrechten der Opfer und ihrer Bedeutung im konkreten Fall trägt die Senatsmehrheit nicht hinreichend Rechnung. Mit der Festlegung auf den nächst unmittelbaren Zweck der Handlung ist indessen nicht etwa die Berücksichtigung des sozialen Sinns des Verhaltens des Täters ausgeschlossen. Vielmehr fordert die Funktion des Absatzes 2 des § 240 StGB, dies in die Betrachtung mit einzubeziehen. Das bedeutet für den vorliegenden Fall, dass die Behinderung der Arbeitnehmer und Zu­ lieferer nicht nur den Zweck hatte, das Betreten und Verlassen des Geländes zu verhindern, sondern den sozialen Sinn, die Bauarbeiten auf dem Gelände

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6. Blockadeaktionen

damit – vorübergehend – stillzulegen. Die Senatsmehrheit vernachlässigt diesen eigentlichen Sinn und Zweck des Tuns, zu dem sich die Beschwer­ deführerinnen in der mündlichen Verhandlung vor den Strafgerichten auch bekannt haben, wenn sie dem Tun der Blockadeteilnehmer einen anderen – übergeordneten – Zweck, die Erregung von Aufmerksamkeit beilegt. Ver­ mittels der Berufung auf Art. 8 Abs. 1 GG wird das Geschehen von der Senatsmehrheit auf eine höhere Abstraktionsebene gehoben; der Zweck des Handelns des Täters verändert sich damit unversehens. Das natürliche Zu­ ordnungsverhältnis von Gewaltanwendung und dem dem Opfer abgenötigten Verhalten in seinem unmittelbaren sozialen Bezug wird seiner Bedeutung entkleidet. Der Einfluss der Gewalt und deren spezielles Ziel (Einstellung der Bauarbeiten) wird überspielt. Damit wird verkannt, dass die strafrecht­ liche Beurteilung der Rechtswidrigkeit des Tuns des Täters realitätsnah zu sein hat, um eine zutreffende Beurteilung des Unrechtsgehalts der Tat zu gewährleisten. Es ist auch verfehlt, jedes Tun anlässlich einer Demonstration im Lichte des Art. 8 Abs. 1 GG dem weitgefassten und abstrakten Zweck der Mei­ nungskundgabe widmen zu wollen. So wird man doch wohl kaum daran denken, die zwangsweise erwirkte Rauschgiftherausgabe durch Art. 8 Abs. 1 GG deshalb als gerechtfertigt zu erachten, weil der Demonstrationsredner infolge Rauschgiftkonsums zu höherer Eloquenz findet, was ihm die Auf­ merksamkeit der Zuhörer sichert. 3.  Ohne rechtliche Bedeutung ist es hier, dass die Meinungskundgabe ein die Öffentlichkeit bewegendes Thema betrifft. Die Demonstrationsfreiheit ist gewährleistet ungeachtet der Bedeutung des Themas für die Gesellschaft. Im Übrigen ist es oft nur eine Frage der Formulierung und der ihren eige­ nen Gesetzmäßigkeiten folgenden, der Öffentlichkeitswirkung verpflichteten Medienberichterstattung, ob aus einem wenig bedeutenden, etwa zunächst auch nur eigennützigen Thema ein „gesellschaftlich relevantes“, wird. Dem Richter würde hier ein Bewertungsspielraum eröffnet, obwohl die Senats­ mehrheit an anderer Stelle – zutreffend – betont, dass hinsichtlich des De­ monstrationsthemas keine Wertungsspielräume eröffnet werden dürfen, weil sich der Staat neutral zu verhalten hat. 4. Wertungsspielräume bei der Bestimmung des Zwecks des in Rede stehenden Handelns, bei der Beurteilung der Bedeutung des Demonstra­ tionsthemas für die Allgemeinheit im Zusammenhang mit einer Fülle von als prüfungsrelevant angesehenen, aus Art. 8 Abs. 1 GG hergeleiteten Krite­ rien dieses Ausmaßes (wie etwa Betroffenheit beziehungsweise Sachbezug des Opfers) führen aber dazu, dass die strafgerichtliche Verwerflichkeitsbe­ urteilung in hohem Maße von Unwägbarkeiten abhängt. Das Merkmal der Verwerflichkeit ist ohnehin schon im Blick auf die Bestimmtheit von Straf­



Abweichende Meinung Jaeger und Bryde183

rechtsvorschriften (Art. 103 Abs. 2 GG) als nicht völlig unproblematisch einzustufen. Die von der Senatsmehrheit nunmehr für erforderlich angese­ hene Prüfung führt nicht zu mehr, sondern im Gegenteil zu weniger Rechts­ sicherheit. Die verfassungsrechtlich geforderte Bestimmtheit von Strafrechtsnormen dient neben anderem auch dem Zweck, dass der Einzelne das Risiko einer Bestrafung einzuschätzen vermag. Für den Täter gilt das im Hinblick auf die Tathandlung, für das Opfer ist dies wichtig für die Beurteilung einer etwa gerechtfertigten Abwehrhandlung. Sein Verhalten kann – setzt es sich zur Wehr – entweder als rechtswidrig und strafbar oder aber als gerechtfer­ tigt zu beurteilen sein. Die nunmehr erschwerte Einordnung der Verwerf­ lichkeit der Tat lässt befürchten, dass die Problematik nun auf eine andere Ebene verschoben wird.   Künftig werden sich vermehrt die Fragen stellen, ob und welche Abwehr­ handlung eines Betroffenen – im konkreten Spannungsfeld gegenläufiger Rechte, auch Grundrechte – noch angemessen ist. Die Prüfung wird sich auf die Bestimmung der Grenzen strafrechtlich beachtlichen Irrtums konzentrie­ ren. Damit ist nichts gewonnen, vielmehr ein hohes Maß an Unsicherheit geschaffen. Es steht zu besorgen, dass die gegenläufigen Grundrechtsposi­ tionen von gewaltanwendenden Blockierern und Blockadebetroffenen kaum noch klar gegeneinander abgrenzbar sind. Darüber hinaus wird das Risiko befördert, dass im Demonstrationsalltag bei Blockaden der vorliegenden Art Gewalt mit privater Gewalt begegnet wird. Mit der Eröffnung des Schutz­ bereichs der Grundrechte für ihre gewaltsame Durchsetzung leistet der Be­ schluss sonach der Radikalisierung der Gesellschaft Vorschub. Abweichende Meinung der Richterin Jaeger und des Richters Bryde zum Beschluss des Ersten Senats vom 24. Oktober 2001 – 1 BvR 1190 / 90, 2173 / 93, 433 / 96 (BVerfGE 104, 92) Es leuchtet nicht ein, bereits die Selbstfesselung oder die Ankettung an eine andere Person nur deshalb als Gewalt im Sinne des § 240 StGB zu bezeichnen, weil die Handlung, die sich zunächst nur gegen die eigene Person oder gegen eine einverstandene andere Person richtet, Dritte zur Kraftentfaltung nötigt, wenn sie die Personen trennen oder einen Menschen vom Ort seiner Fixierung entfernen wollen. Auch in diesem Fall beruht die Zwangseinwirkung nicht auf dem Einsatz von körperlicher Kraft, sondern auf geistig-seelischem Einfluss (vgl. BVerfGE 92, 1 [17]). Die Ablehnung des „vergeistigten“ Gewaltbegriffs in der Entscheidung BVerfGE 92, 1 lässt nicht den Umkehrschluss zu, dass bereits geringfügige, nicht aggressiv ge­ gen etwaige Opfer eingesetzte physische Hilfsmittel der körperlichen Anwe­

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6. Blockadeaktionen

senheit an einem Ort als „Gewalt“ definiert werden könnten. Eine solche Auslegung entfernt sich zu weit vom Normtext; erst die hinzutretenden Dritten drücken einer bereits abgeschlossenen Handlung das dann straf­ rechtlich maßgebliche Gepräge auf, wohingegen die Gefesselten schlicht physisch anwesend sind. Die Grenze des Art. 103 Abs. 2 GG wird auf diese Weise nicht gewahrt. Die angegriffenen Entscheidungen tragen den verfas­ sungsrechtlichen Überlegungen der – später ergangenen – Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu § 240 StGB (BVerfGE 92, 1) nicht Rechnung. Deshalb wäre ihre Aufhebung in den Verfahren 1 BvR 1190 / 90 und 1 BvR 2173 / 93 geboten. Die danach verfassungsrechtlich geforderte enge Ausle­ gung des Gewaltbegriffs in § 240 StGB ist auch geeignet, noch deutlicher als die Differenzierung der Senatsmehrheit zwischen strafrechtlicher „Gewalt“-definition und Gewalttätigkeit im Sinne des Versammlungsrechts solche Missverständnisse zu vermeiden, wie sie im Sondervotum der Rich­ terin Haas aufscheinen. Die Beschwerdeführer üben ihre Grundrechte nicht mit Hilfe von Gewalt aus. Zuzustimmen ist dem Senat darin, dass von den Angeketteten keine Ge­ fahren für andere Personen oder Sachen ausgingen; die gemeinsame Mei­ nungskundgebung war nicht unfriedlich im Sinne des Art. 8 GG. Insoweit teilen wir die Auffassung des Senats. Wenn aber mit der Senatsmehrheit festzustellen ist, dass die Strafgerichte bei der Verwerflichkeitsprüfung das zugunsten der Angeklagten streitende Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG vollständig vernachlässigt haben, lässt sich eine Aufhebung der angegriffe­ nen Entscheidungen nicht mit Rücksicht auf den milden Strafausspruch vermeiden. Es ist allein Sache der Strafgerichte, die für Subsumtion und Abwägung bei der Verwerflichkeitsprüfung sowie schließlich die für die Strafzumessung bedeutsamen Umstände zu gewichten und hieraus Schluss­ folgerungen zu ziehen. Sie können dem Strafgericht vom Bundesverfas­ sungsgericht weder vorgegeben werden, wenn der Rechtsstreit nach Aufhe­ bung zurückverwiesen wird, noch dürfen sie im Wege einer vorwegnehmen­ den pauschalen Folgenabschätzung ersetzt werden. Stellt sich ein tatbe­ standsmäßiges Verhalten unter Berücksichtigung von Art. 8 GG nicht als verwerflich dar, ist auch die mildeste Strafe übermäßig.

7. Lebenspartnerschaftsgesetz (Hauptsacheentscheidung) Urteil des Ersten Senats vom 17. Juli 2002 – 1 BvF 1, 2 / 01 (BVerfGE 105, 313)1 Amtlicher Leitsatz: 1. […]2 2. […] 3. Die Einführung des Rechtsinstituts der eingetragenen Lebenspartner­ schaft für gleichgeschlechtliche Paare verletzt Art. 6 Abs. 1 GG nicht. Der besondere Schutz der Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG hindert den Gesetzgeber nicht, für die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft Rechte und Pflich­ ten vorzusehen, die denen der Ehe gleich oder nahe kommen. Dem Institut der Ehe drohen keine Einbußen durch ein Institut, das sich an Personen richtet, die miteinander keine Ehe eingehen können. 4.  Es verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, daß nichtehelichen Lebens­ gemeinschaften verschiedengeschlechtlicher Personen und verwandtschaft­ lichen Einstandsgemeinschaften der Zugang zur Rechtsform der eingetrage­ nen Lebenspartnerschaft verwehrt ist. Aus den Gründen: A. Die Normenkontrollanträge betreffen die Vereinbarkeit des Gesetzes zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaften vom 16. Februar 2001 (BGBl I S. 266; im Folgen­ den: LPartDisBG), das am 1. August 2001 in Kraft getreten ist, mit dem Grundgesetz.   1  An der Entscheidung haben mitgewirkt: Präsident Papier, die Richterinnen Jae­ ger und Haas, die Richter Hömig und Steiner, die Richterin Hohmann-Dennhardt sowie die Richter Hoffmann-Riem und Bryde. 2  Da das Sondervotum zu dieser Entscheidung sich nicht auf die formelle Ver­ fassungsmäßigkeit des Lebenspartnerschaftsgesetzes bezieht, sind die entsprechen­ den Ausführungen der Entscheidung hier nicht abgedruckt worden.

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7. Lebenspartnerschaftsgesetz

I. Ziel des Gesetzes ist es, die Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Paare abzubauen und ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, ihrer Partnerschaft einen rechtlichen Rahmen zu geben. Hierzu ist mit der eingetragenen Lebenspart­ nerschaft ein familienrechtliches Institut für eine auf Dauer angelegte gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft mit zahlreichen Rechtsfolgen geschaffen worden. 1.  Im Jahre 2000 lebten mindestens 47.000 gleichgeschlechtliche Paare in der Bundesrepublik Deutschland zusammen (siehe Eggen, Gleichgeschlecht­ liche Lebensgemeinschaften, 2. Teil, in: Baden-Württemberg in Wort und Zahl 12 / 2001, S. 579 ff.). Nach einer von Buba und Vaskovics im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz erstellten Studie aus dem Jahre 2000 unter­ scheiden sich gleichgeschlechtliche Paare in ihren Erwartungen an die Part­ nerschaft, deren Dauerhaftigkeit, ihre gegenseitige Unterstützungsbereit­ schaft und an das Einstehen füreinander nicht wesentlich von denen verschie­ dengeschlechtlicher Paare. Mehr als die Hälfte der in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften lebenden Befragten äußerten den Wunsch, in einer rechtsverbindlichen Partnerschaft zu leben (Buba  /  Vaskovics, Benachteili­ gung gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare, Studie im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz, 2000, S. 75 ff., 117 ff.). Gleichgeschlecht­ lichen Paaren ist die Eingehung einer Ehe versagt. 2. Die ersten parlamentarischen Initiativen zu einer gesetzlichen Rege­ lung homosexueller Partnerschaften in der Bundesrepublik reichen bis in die 11. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages zurück (vgl. den Ent­ schließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN vom 18. Mai 1990, BT­ Drucks 11 / 7197). 1994 forderte das Europäische Parlament in einer Ent­ schließung die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf, die ungleiche Behandlung von Personen mit gleichgeschlechtlicher Orientierung in ihren jeweiligen Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu vermeiden, und richtete an die Kommission den Appell, Homosexuellen den Zugang zur Ehe oder entsprechenden rechtlichen Regelungen zu eröffnen (vgl. Amtsblatt der Eu­ ropäischen Gemeinschaften C 61 vom 28. Februar 1994, S. 40 f.; BTDrucks 12  /  7069, S. 4). Inzwischen existieren in mehreren europäischen Ländern Regelungen über gleichgeschlechtliche Partnerschaften (vgl. die Studie des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht, hrsg. von Basedow u. a., Die Rechtsstellung gleichgeschlechtlicher Lebensge­ meinschaften, 2000). Sie reichen von Partnerschaften in den skandinavi­ schen Ländern, die in ihren Wirkungen der Ehe gleichgestellt sind, bis hin zum Pacte civil de solidarité (PACS) in Frankreich mit seiner Möglichkeit der Registrierung von gleichgeschlechtlichen wie verschiedengeschlecht­ lichen Lebensgemeinschaften, der im Vergleich zur Ehe weniger Rechtsfol­



Urteil vom 17. Juli 2002187

gen entfaltet und leichter wieder aufgelöst werden kann. In den Niederlan­ den steht gleichgeschlechtlichen Paaren inzwischen die Ehe offen. Im Juli 2000 brachten die Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90 / DIE GRÜ­ NEN den Entwurf eines Gesetzes zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaften (BTDrucks 14 / 3751) in das Gesetzgebungsverfahren ein. Die FDP-Fraktion legte eben­ falls einen Gesetzentwurf vor (BTDrucks 14  /  1259). Nach erster Lesung beider Entwürfe, Überweisung an die Ausschüsse und Durchführung einer Sachverständigenanhörung empfahl der federführende Rechtsausschuss des Bundestages am 8. November 2000 die Ablehnung des Gesetzentwurfs der FDP und die Annahme des Entwurfs der Regierungsfraktionen. […] Die gegen das In-Kraft-Treten des Gesetzes gerichteten Anträge auf Er­ lass einer einstweiligen Anordnung der Staatsregierungen der Freistaaten Bayern und Sachsen blieben vor dem Bundesverfassungsgericht erfolglos (vgl. Urteil vom 18. Juli 2001 – 1 BvQ 23 / 01 und 1 BvQ 26 / 01 –, NJW 2001, S. 2457). […] 3. Das mit den Normenkontrollanträgen angegriffene Gesetz regelt die Begründung und Beendigung einer eingetragenen Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare. Die Lebenspartnerschaft wird durch Vertrags­ schluss zweier gleichgeschlechtlicher Personen begründet, wobei die hierzu notwendigen Erklärungen vor der zuständigen Behörde abgegeben werden müssen (Art. 1 § 1 Abs. 1). Weitere Voraussetzung für die Begründung der Lebenspartnerschaft ist eine beiderseitige Erklärung über den Vermögens­ stand (Art. 1 § 1 Abs. 1 Satz 4). Auf Antrag eines oder beider Lebenspartner endet die Lebenspartnerschaft durch aufhebendes Urteil (Art. 1 § 15). Die Lebenspartner sind einander zu Fürsorge und Unterstützung sowie zur gemeinsamen Lebensgestaltung verpflichtet. Sie tragen füreinander Ver­ antwortung (Art. 1 § 2). Eine Geschlechtsgemeinschaft setzt das Gesetz nicht voraus. Die Rechtsfolgen der Lebenspartnerschaft sind zum Teil den Rechtsfolgen der Ehe nachgebildet, weichen aber auch von ihnen ab. So schulden die Lebenspartner einander Unterhalt. Dies gilt modifiziert auch bei Getrenntlebenden und nach Aufhebung der Partnerschaft (Art. 1 §§ 5, 12 und 16). Die Lebenspartner müssen sich zu ihrem Vermögensstand erklären, wobei sie zwischen der Ausgleichsgemeinschaft und einem Vertrag wählen können, der ihre vermögensrechtlichen Verhältnisse regelt (Art. 1 §§ 6 und 7). Sie können einen gemeinsamen Namen bestimmen (Art. 1 § 3). Dem Lebenspartner oder früheren Lebenspartner eines Elternteils, der mit dem Kind längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat, steht ein Um­ gangsrecht zu (Art. 2 Nr. 12, § 1685 Abs. 2 BGB). Ein Lebenspartner gilt als Familienangehöriger des anderen (Art. 1 § 11). Eingeführt worden ist ein

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7. Lebenspartnerschaftsgesetz

gesetzliches Erbrecht des Lebenspartners, das dem des Ehegatten entspricht (Art. 1 § 10). Auch im Sozialversicherungsrecht treten bei Eingehen der Lebenspartnerschaft Rechtsfolgen ein (Art. 3 §§ 52, 54 und 56). So werden etwa in der gesetzlichen Krankenversicherung Lebenspartner in die Fami­ lienversicherung aufgenommen (Art. 3 § 52 Nr. 4). Im Ausländerrecht wer­ den die für eheliche Lebensgemeinschaften geltenden Familiennachzugs­ vorschriften auf gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften entsprechend erstreckt (Art.  3 §  11). Das LPartDisBG räumt darüber hinaus dem ­Lebenspartner eines allein sorgeberechtigten Elternteils mit dessen Einver­ nehmen die Befugnis zur Mitentscheidung in Angelegenheiten des täglichen Lebens des Kindes, das „kleine Sorgerecht“, ein (Art. 1 § 9). Das angegriffene Gesetz und das noch nicht zustande gekommene Ergän­ zungsgesetz sehen keinen Versorgungsausgleich zwischen den Lebenspart­ nern für den Fall der Aufhebung ihrer Partnerschaft und keine Regelungen über eine Versorgung im Todesfall vor. Ebenso bleibt eine gemeinsame Adoption Minderjähriger ausgeschlossen. Steuerrechtliche und sozialhilfe­ rechtliche Regelungen sind im Ergänzungsgesetz vorgesehen, nicht aber im LPartDisBG enthalten. II. Mit ihren Normenkontrollanträgen rügen die Antragstellerinnen die Un­ vereinbarkeit des Gesetzes insgesamt und einzelner seiner Bestimmungen mit dem Grundgesetz. […] III. Zu den Verfahren haben der Deutsche Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung, die Länderregierungen, die Wissenschaftliche Vereinigung für Familienrecht e. V., der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland, der Deutsche Familienverband sowie die Ökumenische Arbeitsgruppe Ho­ mosexuelle und Kirche e. V. Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Hier­ von haben der Deutsche Bundestag, die Bundesregierung, der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg, die Landesregierung Schleswig-Holstein, der Lesben- und Schwulenverband sowie die Ökumenische Arbeitsgruppe Gebrauch gemacht und ihre Stellungnahme mit Ausnahme des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg sowie der Ökumenischen Arbeitsgruppe in der mündlichen Verhandlung vertiefend ergänzt. […] B. Die Anträge sind unbegründet. Das Gesetz zur Beendigung der Diskrimi­ nierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaften (LPartDisBG) ist mit dem Grundgesetz vereinbar.



Urteil vom 17. Juli 2002189

I. Das LPartDisBG ist verfassungsgemäß zustande gekommen. […] II. Das LPartDisBG ist auch materiell verfassungsgemäß. 1.  Es ist mit Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar. Die Einführung des neuen Ins­ tituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare und seine rechtliche Ausgestaltung verstoßen weder gegen die in Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistete Eheschließungsfreiheit noch gegen die dort nor­ mierte Institutsgarantie. Die eingetragene Lebenspartnerschaft ist auch mit Art. 6 Abs. 1 GG in seiner Eigenschaft als wertentscheidende Grundsatz­ norm vereinbar. a) Als Grundrecht schützt Art. 6 Abs. 1 GG die Freiheit, eine Ehe mit einem selbst gewählten Partner zu schließen (vgl. BVerfGE 31, 58 [67]; 76, 1 [42]). Dieses Recht auf ungehinderten Zugang zur Ehe wird durch das LPartDisBG nicht berührt. aa)  Jeder ehefähigen Person steht auch nach Einführung der eingetrage­ nen Lebenspartnerschaft durch das LPartDisBG der Weg in die Ehe offen. Allerdings kann die Ehe nur mit einem Partner des jeweils anderen Ge­ schlechts geschlossen werden, da ihr als Wesensmerkmal die Verschieden­ geschlechtlichkeit der Partner innewohnt (vgl. BVerfGE 10, 59 [66]) und sich nur hierauf das Recht der Eheschließungsfreiheit bezieht. Gleichge­ schlechtlichen Paaren bleibt auch nach dem LPartDisBG die Ehe verschlos­ sen. Ihnen wird für eine dauerhafte Bindung als Rechtsinstitut allein die eingetragene Lebenspartnerschaft eröffnet. Ebenso beeinflusst das Gesetz weder unmittelbar noch mittelbar die Frei­ heit verschiedengeschlechtlicher Paare, eine Ehe zu begründen. Da ihnen die eingetragene Lebenspartnerschaft verschlossen bleibt, können sie durch dieses Institut nicht vom Eheschluss abgehalten werden. bb)  Der Zugang zur Ehe wird durch das LPartDisBG nicht eingeschränkt. Eine schon eingegangene Lebenspartnerschaft steht nach dem Gesetz einer Eheschließung nicht entgegen. Das LPartDisBG statuiert für diesen Fall kein ausdrückliches Ehehindernis. Der Standesbeamte hat bei einer solchen Konstellation aber zu prüfen, ob als Voraussetzung für die Eheschließung der ernsthafte Wille der Partner besteht, eine Ehe einzugehen, und seine Mitwirkung an der Eheschließung zu verweigern, wenn ein solcher Wille fehlt (§ 1310 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 1314 Abs. 2 Nr. 5 BGB). Allerdings hat der Gesetzgeber offen gelassen, ob ein Eheschluss bei bestehender eingetragener Lebenspartnerschaft rechtliche Folgen für den weiteren Bestand der Lebenspartnerschaft nach sich zieht und gegebenen­

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falls welche dies wären. Die Beantwortung dieser Fragen ist damit letztlich der Rechtsprechung überlassen. Diese im Gesetz enthaltene Lücke kann nur unter Beachtung des der Ehe nach Art. 6 Abs. 1 GG zukommenden Schutzes verfassungskonform ge­ schlossen werden. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die Ehe als Form einer engen Zweierbeziehung zwischen Mann und Frau eine personelle Ex­ klusivität auszeichnet. Dieses Wesensmerkmal könnte der Ehe verloren ge­ hen, wenn es einem oder beiden Ehepartnern erlaubt bliebe, die ebenfalls auf Dauer angelegte Lebenspartnerschaft mit einem anderen Partner beizubehal­ ten. Der Schutz der Ehe aus Art. 6 Abs. 1 GG gebietet es, neben der Ehe keine andere rechtsverbindliche Partnerschaft des Ehegatten zuzulassen, wo­ von der Gesetzgeber selbst in Art. 1 § 1 Abs. 2 LPartDisBG ausgegangen ist. Aus diesem Grunde wird in der rechtswissenschaftlichen Literatur vorge­ schlagen, die durch das LPartDisBG nicht unterbundene Möglichkeit, bei bestehender Lebenspartnerschaft eine Ehe zu schließen, mit der Rechtsfolge zu verbinden, dass der Eheschluss die Lebenspartnerschaft ipso iure auflöst, die damit keinen rechtlichen Bestand mehr hat (vgl. Schwab, FamRZ 2001, S. 385 [389]). Dies wäre ein Weg, die vorhandene gesetzliche Lücke in einer Art. 6 Abs. 1 GG gerecht werdenden Weise zu schließen. Diese Lö­ sung beeinträchtigt zwar den anderen Lebenspartner stärker als bei einer Aufhebung nach Art. 1 § 15 LPartDisBG, ist aber angesichts der Gewähr­ leistung des Art. 6 Abs. 1 GG noch hinnehmbar. Dem Gebot, die Ehe als Lebensform zwischen einem Mann und einer Frau zu schützen, könnte jedoch auch dadurch Genüge getan werden, das Eingehen einer Ehe davon abhängig zu machen, dass eine Lebenspartner­ schaft nicht oder nicht mehr besteht. Ein solches Ehehindernis würde die Freiheitsgarantie des Art. 6 Abs. 1 GG nicht unzulässig einschränken, weil es seinen sachlichen Grund gerade im Wesen und in der Gestalt der Ehe fände (vgl. BVerfGE 36, 146 [163]). Ebenso wie eine bestehende Ehe das Eingehen einer neuen Ehe verhindert (§ 1306 BGB), um die Zweierbezie­ hung der Ehe nicht zu gefährden, entspricht es dem Schutz der Ehe, sie nur denjenigen zu eröffnen, die sich nicht schon anderweitig in einer Partner­ schaft rechtsverbindlich gebunden haben. Diese Möglichkeit, der Ehe den gebotenen Schutz zukommen zu lassen, böte darüber hinaus denjenigen Vertrauensschutz, die mit der eingetragenen Lebenspartnerschaft eine Le­ bensform gewählt haben, die ihnen der Gesetzgeber als rechtsverbindliche, auf Dauer angelegte Verantwortungsgemeinschaft nunmehr zur Verfügung gestellt hat. Für sie würde sichergestellt, dass ihre Partnerschaft nicht schon allein durch den einseitigen Entschluss des anderen Partners, eine Ehe schließen zu wollen, beendet werden könnte. Ein Verbot, die Ehe bei Be­ stehen der Lebenspartnerschaft einzugehen, wäre zwar grundsätzlich sach­



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lich gerechtfertigt. Es begrenzte jedoch die Eheschließungsfreiheit. Ob das vorliegende Gesetz auch insoweit eine richterliche Lückenfüllung ermög­ licht, ist hier nicht zu entscheiden. Berücksichtigt man die tief greifenden Folgen, die eine Auflösung oder Beendigung einer eingetragenen Le­ benspartnerschaft für das persönliche Leben sowie die wirtschaftliche Situ­ ation der einzelnen Betroffenen nach sich zieht und die je nachdem, welche rechtliche Konstruktion gewählt wird, um ein Nebeneinander zwischen Ehe und Lebenspartnerschaft auszuschließen, sehr unterschiedlich ausfallen kön­ nen, wäre es nahe liegend, dass der Gesetzgeber selbst festlegt, ob eine bestehende Lebenspartnerschaft das Eingehen einer Ehe verhindert oder eine Eheschließung zur Auflösung einer bestehenden Lebenspartnerschaft führt. b)  Dem verfassungsrechtlichen Gebot des Art. 6 Abs. 1 GG, die Ehe als Lebensform anzubieten und zu schützen (Institutsgarantie, vgl. BVerfGE 10, 59 [66 f.]; 31, 58 [69 f.]; 80, 81 [92]), hat der Gesetzgeber mit der Einfüh­ rung der eingetragenen Lebenspartnerschaft durch das LPartDisBG nicht zuwider gehandelt. Regelungsgegenstand des Gesetzes ist nicht die Ehe. aa) Das Grundgesetz selbst enthält keine Definition der Ehe, sondern setzt sie als besondere Form menschlichen Zusammenlebens voraus. Die Verwirklichung des verfassungsrechtlichen Schutzes bedarf insoweit einer rechtlichen Regelung, die ausgestaltet und abgrenzt, welche Lebensgemein­ schaft als Ehe den Schutz der Verfassung genießt. Der Gesetzgeber hat dabei einen erheblichen Gestaltungsspielraum, Form und Inhalt der Ehe zu bestimmen (vgl. BVerfGE 31, 58 [70]; 36, 146 [162]; 81, 1 [6 f.]). Das Grundgesetz gewährleistet das Institut der Ehe nicht abstrakt, sondern in der Ausgestaltung, wie sie den jeweils herrschenden, in der gesetzlichen Rege­ lung maßgebend zum Ausdruck gelangten Anschauungen entspricht (vgl. BVerfGE 31, 58 [82 f.]). Allerdings muss der Gesetzgeber bei der Ausfor­ mung der Ehe die wesentlichen Strukturprinzipien beachten, die sich aus der Anknüpfung des Art. 6 Abs. 1 GG an die vorgefundene Lebensform in Verbindung mit dem Freiheitscharakter des verbürgten Grundrechts und anderen Verfassungsnormen ergeben (vgl. BVerfGE 31, 58 [69]). Zum Ge­ halt der Ehe, wie er sich ungeachtet des gesellschaftlichen Wandels und der damit einhergehenden Änderungen ihrer rechtlichen Gestaltung bewahrt und durch das Grundgesetz seine Prägung bekommen hat, gehört, dass sie die Vereinigung eines Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft ist, begründet auf freiem Entschluss unter Mitwirkung des Staates (vgl. BVerfGE 10, 59 [66]; 29, 166 [176]; 62, 323 [330]), in der Mann und Frau in gleichberechtigter Partnerschaft zueinander stehen (vgl. BVerfGE 37, 217 [249 ff.]; 103, 89 [101]) und über die Ausgestaltung ihres Zusammenlebens frei entscheiden können (vgl. BVerfGE 39, 169 [183]; 48, 327 [338]; 66, 84 [94]).

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bb) Von diesem Schutz wird das Institut der eingetragenen Lebenspart­ nerschaft nicht erfasst. Die Gleichgeschlechtlichkeit der Partner unterschei­ det es von der Ehe und konstituiert es zugleich. Die eingetragene Le­ benspartnerschaft ist keine Ehe im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG. Sie erkennt gleichgeschlechtlichen Paaren Rechte zu. Der Gesetzgeber trägt damit den Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 und 3 GG Rechnung, indem er diesen Per­ sonen zu einer besseren Entfaltung ihrer Persönlichkeit verhilft und Diskri­ minierungen abbaut. cc) Die Ehe als Institut ist in ihren verfassungsrechtlichen Strukturprin­ zipien und ihrer Ausgestaltung durch den Gesetzgeber vom LPartDisBG selbst nicht betroffen. Ihr rechtliches Fundament hat keine Änderung erfah­ ren. Sämtliche Regelungen, die der Ehe einen rechtlichen Rahmen geben und das Institut mit Rechtsfolgen ausstatten, haben nach wie vor Bestand (vgl. BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2001 – 1 BvQ 23 / 01 und 1 BvQ 26 / 01 –, NJW 2001, S. 2457 f.). Der Institutsgarantie kann, gerade weil sie sich nur auf die Ehe bezieht, kein Verbot entnommen werden, gleichgeschlechtlichen Partnern die Möglichkeit einer rechtlich ähnlich ausgestalteten Partnerschaft zu eröffnen. c) Art. 6 Abs. 1 GG erschöpft sich jedoch nicht darin, die Ehe in ihrer wesentlichen Struktur zu gewährleisten, sondern gebietet als verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffen­ den privaten und öffentlichen Rechts einen besonderen Schutz durch die staatliche Ordnung (vgl. BVerfGE 6, 55 [72]; 55, 114 [126]). Um dem Schutzauftrag Genüge zu tun, ist es insbesondere Aufgabe des Staates, einer­ seits alles zu unterlassen, was die Ehe schädigt oder sonst beeinträchtigt, und sie andererseits durch geeignete Maßnahmen zu fördern (vgl. BVerfGE 6, 55 [76]; 28, 104 [113]; 53, 224 [248]; 76, 1 [41]; 80, 81 [92 f.]; 99, 216 [231 f.]). Dagegen hat der Gesetzgeber mit dem LPartDisBG nicht verstoßen. aa) Die Ehe wird durch das LPartDisBG weder geschädigt noch sonst beeinträchtigt. Der besondere Schutz, der der Ehe nach Art. 6 Abs. 1 GG zukommt, verbietet es, sie insgesamt gegenüber anderen Lebensformen schlechter zu stellen (vgl. BVerfGE 6, 55 [76]; 13, 290 [298 f.]; 28, 324 [356]; 67, 186 [195 f.]; 87, 234 [256 ff.]; 99, 216 [232 f.]). (1)  Dies geschieht nicht dadurch, dass das LPartDisBG gleichgeschlecht­ lichen Paaren die Möglichkeit eröffnet, eine eingetragene Lebenspartner­ schaft mit Rechten und Pflichten einzugehen, die denen der Ehe nahe kommen. Zwar hat der Gesetzgeber in weiten Bereichen die Rechtsfolgen des neu­ en Instituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft den eherechtlichen Rege­



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lungen nachgebildet. Dadurch werden die Ehe oder Ehegatten jedoch nicht schlechter als bisher gestellt und nicht gegenüber der Lebenspartnerschaft oder Lebenspartnern benachteiligt. Dem Institut der Ehe drohen keine Ein­ bußen durch ein Institut, das sich an Personen wendet, die miteinander keine Ehe eingehen können. (2)  Ein Verstoß des LPartDisBG gegen das Benachteiligungsverbot liegt auch nicht darin, dass der Gesetzgeber davon abgesehen hat, mit diesem Gesetz zugleich das Bundessozialhilfegesetz um Regelungen zu ergänzen, die auch bei Lebenspartnern eine gegenseitige Einkommens- und Vermö­ gensberücksichtigung bei der Bedürftigkeitsprüfung als Voraussetzung für die Gewährung von Sozialhilfe vorschreiben. Damit werden derzeit im Sozialhilferecht zwar Ehepaare als wirtschaft­ liche Einheit behandelt, nicht jedoch ausdrücklich auch Lebenspartner. Bei Ehegatten kann dies wegen der vorzunehmenden Einkommensanrechnung zur Reduzierung oder zum Wegfall des Sozialhilfeanspruchs führen, wäh­ rend Lebenspartner ohne Einkommensanrechnung in den Genuss des unge­ kürzten Bezuges von Sozialhilfe kommen könnten. Eine darin liegende Benachteiligung von Ehegatten würde jedoch nicht durch das LPartDisBG bewirkt, sondern durch das Fehlen entsprechender Regelungen im Bundes­ sozialhilfegesetz. Das LPartDisBG privilegiert Lebenspartner hinsichtlich der Verpflichtung zu gegenseitiger Unterhaltstragung gerade nicht gegenüber Ehegatten. Werden im Sozialhilferecht daraus nicht die entsprechenden rechtlichen Konsequenzen gezogen, kann dort ein Verstoß gegen das Be­ nachteiligungsverbot aus Art. 6 Abs. 1 GG eintreten, nicht aber durch die Vorschriften des LPartDisBG, die allein Gegenstand des abstrakten Nor­ menkontrollverfahrens sind. bb)  Der Gesetzgeber hat mit der Einführung des neuen Instituts der ein­ getragenen Lebenspartnerschaft auch nicht gegen das Gebot verstoßen, die Ehe als Lebensform zu fördern. Das Gesetz entzieht der Ehe keine Förde­ rung, die sie bisher erfahren hat. Es nimmt lediglich eine andere Lebensge­ meinschaft unter rechtlichen Schutz und weist ihr Rechte und Pflichten zu. cc) Dem Gesetzgeber ist es wegen des verfassungsrechtlichen Schutzes der Ehe aus Art. 6 Abs. 1 GG nicht verwehrt, diese gegenüber anderen Le­ bensformen zu begünstigen (vgl. BVerfGE 6, 55 [76]). Aus der Zulässigkeit, in Erfüllung und Ausgestaltung des Förderauftrags die Ehe gegenüber ande­ ren Lebensformen zu privilegieren, lässt sich jedoch kein in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenes Gebot herleiten, andere Lebensformen gegenüber der Ehe zu benachteiligen. Dies verkennt die Richterin Haas in ihrer abweichenden Meinung, wenn sie das Fördergebot des Art. 6 Abs. 1 GG als ein Benach­ teiligungsgebot für andere Lebensformen als die Ehe versteht. Art. 6 Abs. 1 GG privilegiert die Ehe durch einen nur ihr zukommenden verfassungs­

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rechtlichen Schutz und verpflichtet den Gesetzgeber, sie mit den ihr ange­ messenen Mitteln zu fördern. Ein Gebot, andere Lebensformen zu benach­ teiligen, lässt sich hieraus jedoch nicht ableiten. Das Ausmaß des rechtlichen Schutzes und der Förderung der Ehe wird in keinerlei Hinsicht verringert, wenn die Rechtsordnung auch andere Lebensformen anerkennt, die mit der Ehe als Gemeinschaft verschiedengeschlechtlicher Partner nicht in Konkur­ renz treten können. Es ist verfassungsrechtlich auch nicht begründbar, aus dem besonderen Schutz der Ehe abzuleiten, dass solche anderen Lebensge­ meinschaften im Abstand zur Ehe auszugestalten und mit geringeren Rech­ ten zu versehen sind. Sein Schutz- und Förderauftrag gebietet es dem Ge­ setzgeber allerdings, dafür Sorge zu tragen, dass die Ehe die Funktion er­ füllen kann, die ihr von der Verfassung zugewiesen ist. (1) Wenn Art. 6 Abs. 1 GG die Ehe unter besonderen Schutz stellt, liegt die Besonderheit darin, dass allein die Ehe als Institut neben der Familie diesen verfassungsrechtlichen Schutz erfährt, nicht dagegen eine andere Lebens­ form. Die Ehe kann nicht ohne Verfassungsänderung abgeschafft oder in ih­ ren wesentlichen Strukturprinzipien verändert werden (so schon von Man­ goldt im Ausschuss für Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rates, in: Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Akten und Protokolle, Bd. 5 / II, 1993, be­ arbeitet von Pikart / Werner, S. 826). Nur für sie besteht ein verfassungsrecht­ licher Auftrag zur Förderung. Der Besonderheit des Schutzes eine darüber hinausgehende Bedeutung dahingehend beizumessen, dass die Ehe auch im Umfang stets mehr zu schützen sei als andere Lebensgemeinschaften (so im Ergebnis Badura, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 6 Abs. 1 Rn. 56 [Stand: August 2000]; Burgi, in: Der Staat, Bd. 39, 2000, S. 487 ff.; Krings, ZRP 2000, S. 409 ff.; Pauly, NJW 1997, S. 1955 f.; Scholz  /  Uhle, NJW 2001, S. 393 f.; Tettinger, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 35, 2001, S. 140), kann weder auf den Wortlaut der Grundrechtsnorm noch auf ihre Entstehungsgeschichte gestützt werden. Art. 6 Abs. 1 GG hat im Laufe der Beratungen im Parlamentarischen Rat mannigfache textliche Veränderungen erfahren, wobei des Öfteren die For­ mulierung zwischen einem Schutz und einem besonderen Schutz der Ehe wechselte (vgl. Parlamentarischer Rat, Hauptausschuss, 21. Sitzung, Proto­ koll, S. 239; Protokoll der 32. Sitzung des Grundsatzausschusses, in: Der Parlamentarische Rat 1948–1949, a. a. O., Bd. 5  /  II, 1993, S. 910 [935]; Protokoll der 43. Sitzung des Hauptausschusses, S. 545 [554 f.]; Stellung­ nahme des Allgemeinen Redaktionsausschusses zur Fassung der 2. Lesung des Hauptausschusses, S. 121; Parlamentarischer Rat, Hauptausschuss, Pro­ tokoll der 57. Sitzung, S. 743 f.). Den Debatten ist dabei nicht zu entneh­ men, dass diese Textänderungen erfolgten, weil Ehe und Familie ein mehr oder weniger starker Schutz zukommen sollte. Vielmehr gibt es deutliche Hinweise dafür, dass diese Änderungen allein vom jeweiligen Sprachemp­



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finden veranlasst waren. So meinte von Mangoldt zum Vorschlag des Deut­ schen Sprachvereins, das Wort „besonderen“ zu streichen und die Formulie­ rung zu wählen „Ehe und Familie … stehen unter dem Schutze der Verfas­ sung“, dies sei inhaltlich genau dasselbe, aber in der Formulierung besser (Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Bd. 5 / II, a. a. O.). In den Debatten um Art. 6 Abs. 1 GG spielte auch die Frage des Schutzes neuer Lebensformen eine wesentliche Rolle (vgl. hierzu die Beiträge von Helene Weber, in: Protokoll der 21. Sitzung des Hauptausschusses, S. 240, und Elisabeth Selbert, in: Protokoll der 43. Sitzung des Hauptausschusses, S. 552 f.). Dabei hatte insbesondere das Argument, der besondere Schutz der Familie schließe die Gleichstellung unehelicher Kinder in Art. 6 Abs. 5 GG aus (vgl. Weber und Süsterhenn in: Protokoll der 21. Sitzung des Hauptaus­ schusses, S. 242 f.) keinen Erfolg. Wenn von Mangoldt als Berichterstatter in seinem Schriftlichen Bericht zu Art. 6 Abs. 1 GG schließlich anmerkte, diese Grundrechtsnorm sei kaum mehr als eine Deklaration, bei der nicht recht zu übersehen sei, welche Wirkungen sie als unmittelbar geltendes Recht habe (Anlage zum stenographischen Bericht der 9. Sitzung des Par­ lamentarischen Rates, S. 6), dann spiegelt dies wider, dass zwar Einigkeit darüber bestand, Ehe und Familie unter verfassungsrechtlichen Schutz zu stellen, jedoch keine Klärung erfolgte, was dies im Einzelnen für ihr Ver­ hältnis zu anderen Lebensformen bedeutet. Ein Abstandsgebot kann hierauf jedenfalls nicht gestützt werden. (2) Art. 6 Abs. 1 GG schützt die Ehe, wie sie vom Gesetzgeber unter Wah­ rung ihrer wesentlichen Grundprinzipien jeweils Gestalt erhalten hat (vgl. BVerfGE 31, 58 [82 f.]). Als von Menschen gelebte Gemeinschaft ist sie Frei­ heitsraum und zugleich Teil der Gesellschaft, von deren Veränderungen sie nicht ausgeschlossen ist. Auf solche kann der Gesetzgeber reagieren und die Ausgestaltung der Ehe gewandelten Bedürfnissen anpassen. Damit ändert sich zugleich das Verhältnis der Ehe zu anderen Formen menschlichen Zu­ sammenlebens. Das Gleiche gilt, wenn der Gesetzgeber nicht die Ehe gesetz­ lich neu gestaltet, sondern andere Lebensgemeinschaften regelt. Insofern ste­ hen Lebensformen nicht in einem festen Abstand, sondern in relativer Bezie­ hung zueinander. Zugleich können sie sich durch die jeweilige Ausgestaltung nicht nur in den ihnen zugewiesenen Rechten und Pflichten unterscheiden oder gleichen, sondern auch in ihrer Funktion und hinsichtlich des Kreises von Personen, die Zugang zu ihnen finden. So kann der Schutz, der der Ehe als Institut zukommt, nicht von den Normadressaten getrennt werden, für die die Ehe als geschützte Lebensform bereitzuhalten ist. (3) Die Förderpflicht des Staates hat sich am Schutzzweck des Art. 6 Abs. 1 GG auszurichten. Trüge der Gesetzgeber selbst durch Normsetzung dazu bei, dass die Ehe ihre Funktion einbüßte, würde er das Fördergebot

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aus Art. 6 Abs. 1 GG verletzen. Eine solche Gefahr könnte bestehen, wenn der Gesetzgeber in Konkurrenz zur Ehe ein anderes Institut mit derselben Funktion schüfe und es etwa mit gleichen Rechten und geringeren Pflichten versähe, so dass beide Institute austauschbar wären. Eine derartige Aus­ tauschbarkeit ist mit der Schaffung der eingetragenen Lebenspartnerschaft jedoch nicht verbunden. Sie kann mit der Ehe schon deshalb nicht in Kon­ kurrenz treten, weil der Adressatenkreis, an den sich das Institut richtet, nicht den der Ehe berührt. Die eingetragene Lebenspartnerschaft ist wegen dieses Unterschieds auch keine Ehe mit falschem Etikett, wie dies in beiden Minderheitenvoten angenommen wird, sondern ein aliud zur Ehe. Nicht ihre Bezeichnung begründet ihre Andersartigkeit, sondern der Umstand, dass sich in der eingetragenen Lebenspartnerschaft nicht Mann und Frau, sondern zwei gleichgeschlechtliche Partner binden können. In ihrer Gesamt­ heit geben die Strukturprinzipien, die die Ehe kennzeichnen, dieser die Gestalt und Exklusivität, in der sie als Institut verfassungsrechtlichen Schutz erfährt. Art. 6 Abs. 1 GG reserviert jedoch nicht einzelne dieser Strukturele­ mente allein für die Ehe. Er verbietet dem Gesetzgeber nicht, Rechtsformen für ein auf Dauer angelegtes Zusammenleben auch anderen Personenkons­ tellationen als der Verbindung von Mann und Frau anzubieten. Durch das Merkmal der Dauerhaftigkeit werden solche Rechtsbeziehungen nicht zur Ehe. Auch sonst ist nicht erkennbar, dass sie das Gefüge dieses Instituts beschädigen könnten. 2. Das LPartDisBG verstößt weder gegen das besondere Diskriminie­ rungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG noch gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. a)  Darin, dass das Gesetz nur gleichgeschlechtlichen Paaren die eingetra­ gene Lebenspartnerschaft eröffnet (Art. 1 § 1 Abs. 1 LPartDisBG), liegt keine Benachteiligung von verschiedengeschlechtlichen Paaren wegen ihres Geschlechts nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. Das Gesetz verbindet Rechte und Pflichten nicht mit dem Geschlecht einer Person, sondern knüpft an die Geschlechtskombination einer Perso­ nenverbindung an, der sie den Zugang zur Lebenspartnerschaft einräumt. Den Personen in dieser Verbindung weist sie dann Rechte und Pflichten zu. Ebenso wie die Ehe mit ihrer Beschränkung auf die Zweierbeziehung zwi­ schen Mann und Frau gleichgeschlechtliche Paare wegen ihres Geschlechts nicht diskriminiert, benachteiligt die Lebenspartnerschaft heterosexuelle Paare nicht wegen ihres Geschlechts. Männer und Frauen werden stets gleichbehandelt. Sie können eine Ehe mit einer Person des anderen Ge­ schlechts eingehen, nicht jedoch mit einer ihres eigenen Geschlechts. Sie können eine Lebenspartnerschaft mit einer Person ihres eigenen Geschlechts gründen, nicht aber mit einer des anderen.



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b)  Es verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, dass nichtehelichen Lebens­ gemeinschaften verschiedengeschlechtlicher Personen und verwandtschaftli­ chen Einstandsgemeinschaften der Zugang zur Rechtsform der eingetragenen Lebenspartnerschaft verwehrt ist. Art. 3 Abs. 1 GG verbietet, eine Gruppe von Normadressaten im Ver­ gleich zu anderen Normadressaten anders zu behandeln, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (vgl. BVerfGE 55, 72 [88]; 84, 348 [359]; 101, 239 [269]; stRspr). Derartige Unterschiede bestehen jedoch zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren und den anderen sozialen Personengemeinschaften. aa) Die eingetragene Lebenspartnerschaft ermöglicht gleichgeschlechtli­ chen Paaren, ihre Lebensgemeinschaft auf eine rechtlich anerkannte Basis zu stellen und sich in Verantwortung zueinander dauerhaft zu binden, was ihnen bisher verwehrt war, da sie keine Ehe eingehen können. Demgegen­ über ist das Anliegen verschiedengeschlechtlicher Paare, sich rechtsverbind­ lich auf Dauer zu binden, zwar in der Einschätzung der Betroffenen glei­ chermaßen gewichtig wie das gleichgeschlechtlicher Paare und ihm im Wesentlichen auch ähnlich (vgl. Buba / Vaskovics, a. a. O., S. 16, 245 ff.). Im Gegensatz zu gleichgeschlechtlichen Paaren steht ihnen hierfür aber das Institut der Ehe offen. Der Unterschied, dass aus einer auf Dauer verbunde­ nen Zweierbeziehung von Mann und Frau gemeinsame Kinder erwachsen können, aus einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft dagegen nicht, recht­ fertigt es, verschiedengeschlechtliche Paare auf die Ehe zu verweisen, wenn sie ihrer Lebensgemeinschaft eine dauerhafte Rechtsverbindlichkeit geben wollen. Sie werden hierdurch nicht benachteiligt. bb) Auch im Verhältnis der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften zu den Geschwister- oder anderen verwandtschaftlichen Einstandsgemein­ schaften bestehen Unterschiede, die ihre unterschiedliche Behandlung recht­ fertigen. Dies betrifft schon die Exklusivität der eingetragenen Lebensgemein­ schaft, die keine weitere Beziehung gleicher Art neben sich zulässt, während Geschwister- und andere verwandtschaftliche Einstandsgemeinschaften häu­ fig in weitere vergleichbare Beziehungen eingebunden sind und auch neben einer sonstigen Bindung durch Ehe oder Partnerschaft bestehen. Verwandt­ schaftliche Einstandsgemeinschaften erfahren überdies schon nach geltendem Recht in gewisser Hinsicht eine Absicherung, die gleichgeschlechtlichen Paa­ ren erst mit der Lebenspartnerschaft eröffnet worden ist. So bestehen im Ver­ wandtschaftsverhältnis Zeugnisverweigerungsrechte, Erbrechte und zum Teil auch Pflichtteilsrechte sowie deren steuerliche Begünstigung. cc) Es ist dem Gesetzgeber zwar generell nicht verwehrt, für verschie­ dengeschlechtliche Paare oder für andere Einstandsgemeinschaften neue

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Möglichkeiten zu eröffnen, ihre Beziehung in eine Rechtsform zu bringen, wenn er dabei eine Austauschbarkeit der jeweiligen rechtlichen Gestalt mit der Ehe vermeidet. Ein verfassungsrechtliches Gebot, solche Möglichkeiten zu schaffen, besteht jedoch nicht. 3. Auch die im Gesetz enthaltenen Bestimmungen zum Sorge- und Erb­ recht von Lebenspartnern sowie zum Unterhaltsrecht sind verfassungsrecht­ lich nicht zu beanstanden. […] C. Diese Entscheidung ist hinsichtlich der Vereinbarkeit des LPartDisBG mit Art. 6 Abs. 1 GG mit 5:3 Stimmen, hinsichtlich der Vereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 1 GG mit 7:1 Stimmen, im Übrigen einstimmig ergangen. Abweichende Meinung des Richters Papier zum Urteil des Ersten Senats vom 17. Juli 2002 – 1 BvF 1, 2 / 01 (BVerfGE 105, 357) Ich vermag den Ausführungen der Senatsmehrheit insbesondere zu der in Art. 6 Abs. 1 GG verankerten Institutsgarantie der Ehe und den sich hieraus ergebenden Folgerungen nicht zuzustimmen.   Art. 6 Abs. 1 GG stellt die Ehe unter den besonderen Schutz der staat­ lichen Ordnung. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfas­ sungsgerichts enthält diese Verfassungsbestimmung – wie auch die Senats­ mehrheit annimmt – sowohl ein Grundrecht auf Schutz vor Eingriffen des Staates als auch eine Institutsgarantie und eine wertentscheidende Grund­ satznorm (vgl. BVerfGE 31, 58 [67]; 62, 323 [329]). Ist die Ehe als Lebens­ gemeinschaft zwischen Mann und Frau auf eine einfachrechtliche Regelung angewiesen, so eröffnet dies keinesfalls für den einfachen Gesetzgeber die uneingeschränkte Befugnis, die Ehe nach den jeweils in der Gesellschaft wirklich oder vermeintlich herrschenden Auffassungen auszugestalten (vgl. BVerfGE 6, 55 [82]; 9, 237 [242 f.]; 15, 328 [332]). Vielmehr sind die einfachgesetzlichen Regelungen – ungeachtet eines anzuerkennenden Ge­ staltungsspielraums des Gesetzgebers – an Art. 6 Abs. 1 GG als vorrangiger, selbst die Grundprinzipien enthaltender Leitnorm zu messen (vgl. BVerfGE 10, 59 [66]; 24, 104 [109]; 31, 58 [69 f.]). Danach muss jede einfachgesetz­ liche Regelung die wesentlichen, das Institut der Ehe bestimmenden Prinzi­ pien beachten (vgl. BVerfGE 31, 58 [69]). Zu diesen durch Art. 6 Abs. 1 GG gewährleisteten Strukturprinzipien, die der Verfügungsgewalt des Ge­ setzgebers entzogen sind, zählt, dass die Ehe die Verbindung eines Mannes und einer Frau zu einer umfassenden grundsätzlich unauflösbaren Lebens­ gemeinschaft ist (vgl. BVerfGE 62, 323 [330]). Dies erkennt auch die Se­



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natsmehrheit an, die die Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehepartner zu den die Ehe konstituierenden Merkmalen zählt, so dass der Gesetzgeber in der Konsequenz gehindert wäre, einfachrechtlich unter die Ehe auch die Partnerschaft zweier gleichgeschlechtlicher Personen zu fassen. Es ist aber vor diesem Hintergrund nicht einsichtig, dass allein eine andere Bezeich­ nung für die neu geschaffene Rechtsform der Lebenspartnerschaft es sollte rechtfertigen können, die Institutsgarantie des Art. 6 Abs. 1 GG für nicht einschlägig zu erachten. Denn das in Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistete Insti­ tut der Ehe ist nicht nur dem Namen nach, sondern in seinen strukturbil­ denden Merkmalen vor beliebigen Dispositionen des Gesetzgebers geschützt. Schafft der Gesetzgeber, wenn auch unter einem anderen Namen, eine rechtsförmlich ausgestaltete Partnerschaft zwischen zwei gleichgeschlechtli­ chen Personen, die im Übrigen in Rechten und Pflichten der Ehe entspricht, so missachtet er hierdurch ein wesentliches, ihm durch Art. 6 Abs. 1 GG vorgegebenes Strukturprinzip. Es ist ein Fehlschluss, anzunehmen, dass gerade aufgrund des Abweichens von einem wesentlichen Strukturprinzip die verfassungsrechtliche Institutsgarantie als Maßstab ausscheide. Bei An­ wendung dieses verfassungsrechtlichen Maßstabes hätte im Urteil im Ein­ zelnen dargelegt werden müssen, dass die verfassungsrechtlich verankerte Institutsgarantie durch das zur Prüfung gestellte LPartDisBG in ihren we­ sentlichen Strukturprinzipien nicht berührt werde. Soweit in dem Urteil davon ausgegangen wird, dass die Institutsgarantie allein deshalb nicht betroffen sei, weil die die Ehe regelnden Normen durch das LPartDisBG keine Änderung erfahren, beruht diese Annahme auf der Verkennung des Wesens einer Institutsgarantie. Diese bezweckt nicht in erster Linie die Abwehr ungerechtfertigter Eingriffe zulasten der Ehe – in­ soweit ist vorrangig die abwehrrechtliche Funktion des Art. 6 Abs. 1 GG einschlägig –; Sinn der Institutsgarantie ist vielmehr, den Gesetzgeber bei Ausgestaltung der Ehe an gewisse Strukturprinzipien, zu denen auch die Verschiedengeschlechtlichkeit der Partner rechnet, zu binden. Er ist dem­ nach gehindert, unter einem anderen Namen für gleichgeschlechtliche Paare ein der Ehe im Übrigen entsprechendes Institut einzuführen. Ob dies mit dem LPartDisBG erfolgt ist oder nicht, versäumt die das Urteil tragende Senatsmehrheit darzulegen, gerade weil sie die spezifischen verfassungs­ rechtlichen Wirkungen der Institutsgarantie des Art. 6 Abs. 1 GG außer Acht lässt. Sie setzt im Gegenteil keinerlei Grenzen für eine substantielle Gleich­ stellung mit der Ehe.

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7. Lebenspartnerschaftsgesetz

Abweichende Meinung der Richterin Haas zum Urteil des Ersten Senats vom 17. Juli 2002 – 1 BvF 1, 2 / 01 (BVerfGE 105, 359) 1. Ich stimme mit der Senatsmehrheit darin überein, dass von Verfas­ sungs wegen nichts grundsätzlich gegen die Einführung einer Rechtsform der eingetragenen Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare zu erinnern ist. Damit kann jedermann (mit einigen gesetzlich geregelten Aus­ nahmen) seine Gemeinschaft mit einem Partner gleichen Geschlechts regis­ trieren lassen, ohne dass zwischen diesen eine homosexuelle Beziehung besteht oder beabsichtigt wäre. Allerdings war die Einführung der Rechts­ form der eingetragenen Lebenspartnerschaft nicht von Verfassungs wegen geboten.   2. Die Begründung der Senatsmehrheit zur Verfassungsgemäßheit der konkreten Ausgestaltung der Rechtsform der eingetragenen Lebenspartner­ schaft ermöglicht es mir jedoch nicht, der Entscheidung in ihren wesent­ lichen Begründungsteilen zuzustimmen. a)  Die Entscheidung wird insbesondere nicht der Bedeutung der Instituts­ garantie des Art. 6 Abs. 1 GG gerecht. Sie berücksichtigt nicht in dem gebotenen Maß Bedeutung und Wirkwei­ se der Institutsgarantie der Ehe. Im Blick darauf hätte die Senatsmehrheit prüfen müssen, ob die Rechtsform der eingetragenen Lebenspartnerschaft vom Gesetzgeber der Ehe vergleichbar ausgestaltet worden ist und weshalb dies im Lichte der Verfassungsgewährleistung keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet. Art. 6 Abs. 1 GG stellt die Ehe unter den besonderen Schutz der staat­ lichen Ordnung. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfas­ sungsgerichts enthält diese Verfassungsbestimmung – wie auch die Senats­ mehrheit annimmt – eine Institutsgarantie, eine wertentscheidende Grund­ satznorm sowie ein Grundrecht auf Schutz vor Eingriffen des Staates (vgl. BVerfGE 31, 58 [67]; 62, 323 [329]). Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet als Institutsgarantie den Bestand der pri­ vatrechtlichen Einrichtung der Ehe und Familie; sie hält den rechtlichen Rahmen einer Lebensordnung (BVerfGE 6, 55 [72]) bereit, in der Mann und Frau sich in der Lebensgemeinschaft der Ehe finden und die sie zur Fami­ liengemeinschaft weiterentwickeln können. Wegen dieser in der Ehe poten­ ziell angelegten Elternschaft, die der Gemeinschaft von Eltern und Kind Stabilität verheißt, hat der Verfassungsgeber Ehe und Familie dem Schutz der Verfassung unterstellt. Um der Bedeutung der Ehe für Familie und Ge­ sellschaft willen enthält Art. 6 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als wertent­ scheidende Grundsatznorm überdies auch noch ein an den Staat gerichtetes



Abweichende Meinung Haas201

Fördergebot (BVerfGE 6, 55 [76]; stRspr), welches die Ausgestaltung und Fortentwicklung der Ehe durch den Gesetzgeber geprägt hat. Die verfas­ sungsrechtlich gebotene Förderung bedeutet entgegen der Auffassung der Senatsmehrheit mehr als nur die Verhinderung der Benachteiligung der Ehe. Förderung bedeutet positive Zuwendung über das normale Maß hinaus, damit also Privilegierung der Ehe. Dem Fördergebot des Art. 6 Abs. 1 GG kann daher auch nicht durch die bloße Benachteiligung anderer Lebensge­ meinschaften genügt werden; das Fördergebot zugunsten der Ehe stellt ge­ rade kein Benachteiligungsgebot zu Lasten Dritter dar. Als Institutsgarantie bindet Art. 6 Abs. 1 GG den Gesetzgeber – jenseits der Abwehrrechte der Grundrechtsträger – bei der Ausgestaltung einfachge­ setzlicher Regelungen. Der Gesetzgeber ist gehalten, die wesentlichen, das Institut der Ehe bestimmenden Strukturprinzipien zu beachten (vgl. BVerfGE 31, 58 [69]). Zu den wesentlichen Strukturprinzipien des Instituts der Ehe gehört dabei die Verschiedengeschlechtlichkeit der Partner. Ob das Institut Ehe den Schutz oder wie es in der Verfassung heißt, den „besonderen“ Schutz der staatlichen Ordnung genießt, ist in diesem Zusam­ menhang nachgerade unerheblich. Bereits das ausdrückliche Gebot des Schutzes, das sich in der Verfassung nur noch in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG in Bezug auf die Würde des Menschen in vergleichbarer Weise findet, weist auf den hohen Stellenwert hin, den der Verfassungsgeber Ehe und Familie beigemessen hat. Keine andere Rechtsgemeinschaft, keine Personengemein­ schaft, auch wenn sie auf dauerhaften gegenseitigen Beistand angelegt ist, wird daher in vergleichbarer Weise von Verfassungs wegen als Institut ge­ schützt. Die Senatsmehrheit wird dieser Bedeutung der Institutsgarantie nicht gerecht, wenn sie nur darauf abhebt, dass die Ehe durch die Einrichtung einer eingetragenen Lebenspartnerschaft keinen Schaden nimmt. Die Insti­ tutsgarantie bezweckt nicht in erster Linie die Abwehr ungerechtfertigter Eingriffe zu Lasten der Ehe – insoweit ist vorrangig die abwehrrechtliche Funktion des Art. 6 Abs. 1 GG –; Sinn der Institutsgarantie ist vielmehr, den Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Ehe an fundamentale Strukturprinzi­ pien, zu denen auch nach Meinung der Senatsmehrheit die Verschiedenge­ schlechtlichkeit der Partner rechnet, zu binden. Dem verfassungsrechtlichen Gebot, dass nur verschiedengeschlechtliche Partner eine Ehe eingehen können, wird zuwidergehandelt, wenn ihr ein Institut für Paare gleichen Geschlechts zur Seite gestellt wird, dessen Ausgestaltung den für die Ehe in Umsetzung des verfassungsrechtlichen Fördergebots gefundenen Formen entspricht. Auf die Bezeichnung kommt es nicht an. Denn das in Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistete Institut der Ehe ist nicht nur dem Namen nach, sondern in seinen strukturbildenden Merkmalen vor beliebigen Dispositio­

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7. Lebenspartnerschaftsgesetz

nen des Gesetzgebers geschützt. Der Gesetzgeber kann sich den Anforde­ rungen des Art. 6 Abs. 1 GG nicht dadurch entziehen, dass er die Bezeich­ nung „Ehe“ vermeidet. Schafft der Gesetzgeber, ohne dass ihm die das In­ stitut der Ehe rechtfertigenden Gründe zur Seite stehen, die Rechtsform einer Partnerschaft zwischen Personen gleichen Geschlechts, die im Übrigen in Rechten und Pflichten denen der Ehe entspricht, so missachtet er hier­ durch ein wesentliches, eben durch Art. 6 Abs. 1 GG vorgegebenes Struk­ turprinzip. Dies verkennt die Senatsmehrheit, wenn sie meint, dass gerade aufgrund des Abweichens von einem wesentlichen Strukturprinzip die ver­ fassungsrechtliche Institutsgarantie als Maßstab ausscheide. Die Senatsmehrheit hätte deshalb prüfen müssen, ob die Rechtsform der eingetragenen Lebenspartnerschaft einen Regelungsgehalt aufweist, der mit dem des Instituts der Ehe vergleichbar ist. Dies wäre mit Art. 6 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren, da der Lebenspartnerschaft die die Ehe prägenden, ihre Exklusivität auf die Verbindung von Mann und Frau beschränkenden und ihre besondere Förderung rechtfertigenden Elemente fehlen. Denn sie ist nicht auf ein eigenes Kind hin angelegt, führt nicht zu Elternverantwort­ lichkeit und erbringt dadurch keinen Beitrag für die Zukunftsfähigkeit von Staat und Gesellschaft. b) Die Auffassung der Senatsmehrheit, Art. 3 Abs. 3 GG sei nicht ver­ letzt, weil an die Bindung zweier Personen und nicht an das Geschlecht angeknüpft werde, ist wenig überzeugend. Denn Voraussetzung für das Eingehen einer eingetragenen Lebenspartnerschaft mit einem bestimmten Partner ist die Zugehörigkeit zu dessen Geschlecht. Damit wird für die Eröffnung der Registrierung der Zweierbeziehung naturgemäß an die Ge­ schlechtszugehörigkeit angeknüpft. Insoweit wäre es wünschenswert gewe­ sen, wenn der Senat über die knappe Begründung hinaus noch weitere Ausführungen gemacht hätte. c) Die Ausführungen der Senatsmehrheit zur Verfassungsmäßigkeit des Ausschlusses der Eingehung der eingetragenen Lebenspartnerschaft durch Geschwister und Verwandte gerader Linie (Art. 1 § 1 Abs. 2 Nr. 2 und 3 LPartDisBG) vermögen in ihrer Allgemeinheit die Auffassung der Senats­ mehrheit, Art. 3 Abs. 1 GG sei nicht verletzt, nicht zu begründen. (1)  Bereits der Maßstab, den die Senatsmehrheit anwendet, ist ungenau. Bei der Prüfung der ungleichen Behandlung von Personengruppen unterliegt nach ständiger Rechtsprechung der Gesetzgeber einer strengen Bindung (vgl. BVerfGE 55, 72 [88]; 88, 87 [96]), die umso enger ist, je mehr sich die personenbezogenen Merkmale den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten annä­ hern und je stärker sich die Ungleichbehandlung der Personen auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann (vgl. BVerfGE 60, 123 [134]; 82, 126 [146]; 88, 87 [96]). Ebenso wie an



Abweichende Meinung Haas203

der vollständigen Darstellung des Maßstabs fehlt es auch an einer Darstel­ lung der Vergleichsgruppen; ein Mangel der sich auf die Prüfung auswirkt. (2)  Dem verkürzten Maßstab entspricht die verkürzte Argumentation der Senatsmehrheit. Auf ihrer Grundlage ist nicht erkennbar, welche Unterschie­ de von solchem Gewicht zwischen den Partnern einer eingetragenen Le­ benspartnerschaft und einer zwischen Geschwistern oder Verwandten beste­ henden Lebensgemeinschaft bestehen, die die unterschiedliche Behandlung der Personenkreise zu rechtfertigen vermöchten. So wird zur Begründung des Ausschlusses der Eingehung einer eingetra­ genen Lebenspartnerschaft durch Verwandte auf die Exklusivität der einge­ tragenen Lebenspartnerschaft abgestellt; begründet und näher dargestellt wird diese „Exklusivität“ jedoch nicht. Diese lässt sich auch weder aus der Vorschrift über die Eingehung der eingetragenen Lebenspartnerschaft noch aus dem Gesamtkontext des Gesetzes herleiten. Dass Verwandte „häufig“ schon anderwärts in einer Ehe oder einer Le­ benspartnerschaft gebunden sind, worauf die Senatsmehrheit hinweist, ist in diesem Zusammenhang unerheblich, denn dem wird schon durch die Part­ nerschaftsbegründungshindernisse nach Art. 1 § 1 Abs. 2 Nr. 1 oder 4 LPart­ DisBG Rechnung getragen. Warum also ledige und anderweitig nicht durch eine Partnerschaft gebun­ dene Verwandte gerader Linie und Geschwister nicht dem von der Senats­ mehrheit postulierten „Exklusivitäts“grundsatz genügen könnten, erschließt sich aus der Begründung des Urteils nicht. Durch ihre abstrakt gehaltene Argumentation weicht die Senatsmehrheit einer Befassung mit der eigentlich relevanten Vergleichsgruppe aus. Diese besteht aus Geschwistern und Verwandten gerader Linie, die in einer Weise zusammenleben, dass ihr rechtliches Regelungsbedürfnis mit dem anderer Partnerschaften vergleichbar ist, denen jetzt die Rechtsform der eingetrage­ nen Lebenspartnerschaft eröffnet ist, weil sie einen gemeinsamen Hausstand führen, einander in Notlagen beistehen, im Rechtsverkehr gemeinsam oder jeweils für den anderen auftreten und emotional – mit derselben Verlässlich­ keit wie andere auf Dauer angelegte Beziehungen – primär aufeinander bezogen sind. Soweit es der Senatsmehrheit genügt, darauf hinzuweisen, dass verwandt­ schaftliche Einstandsgemeinschaften schon nach geltendem Recht „in ge­ wisser Hinsicht eine Absicherung (erhalten), die gleichgeschlechtlichen Paaren erst mit der Lebenspartnerschaft eröffnet worden ist“, zeigt bereits diese Formulierung, die ganz im Unverbindlichen und Ungefähren verbleibt, dass es der Senatsmehrheit an einem konkreten Maßstab für die Gleichheits­ prüfung fehlt. Es bleibt unklar, welche Umstände für den Vergleich relevant

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7. Lebenspartnerschaftsgesetz

sein sollen und welches Maß an Unterschiedlichkeit erforderlich ist, um die Ungleichbehandlung von Lebensgemeinschaften zwischen Verwandten und zwischen Nicht-Verwandten zu rechtfertigen. Auch der an dieser Stelle ein­ geführte Begriff der „Absicherung“ wird nicht näher definiert. Der dann folgende Hinweis auf im Verwandtschaftsverhältnis bestehende „Zeugnis­ verweigerungsrechte, Erbrechte und zum Teil auch Pflichtteilsrechte sowie deren steuerliche Begünstigung“ ist in dieser Undifferenziertheit unrichtig und überdies unvollständig. Dies zeigt sich etwa in Folgendem: Zwar besit­ zen Geschwister ein Zeugnisverweigerungsrecht etwa nach § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO. Jedoch haben Geschwister nur ein eingeschränktes gesetzliches Erbrecht (Eltern und Kinder gehen vor, § 1924 Abs. 1, § 1930 Abs. 1 BGB und § 1925 Abs. 1 und 2 BGB) und überhaupt kein Pflichtteilsrecht (§ 2303 Abs. 1 und 2 BGB). Vor allem sind die rechtlichen Auswirkungen der Le­ benspartnerschaft nicht auf das Erbrecht sowie die Regelung von Zeugnis­ verweigerungsrechten beschränkt, sondern betreffen eine Vielzahl von Rechtsgebieten. Ein wesentliches Merkmal der Lebenspartnerschaft ist etwa die Unterhaltsverpflichtung, die zwischen Geschwistern nicht besteht (§ 1601 BGB). Geschwister werden auch nicht in die Familienversicherung aufgenommen (§ 10 Abs. 1 SGB V); ferner können sie nicht ihren Vermö­ gensstand (Art. 1 § 6 LPartDisBG) regeln und sie erhalten kein „kleines Sorgerecht“ wie in Art. 1 § 9 LPartDisBG. Wegen der von ihr vorgenommenen eingeschränkten Prüfung hat die Senatsmehrheit den Sachverhalt nicht hinreichend im Lichte des Art. 3 Abs. 1 GG zu würdigen vermocht. Es ist danach nicht erkennbar geworden, dass zwischen Einstandsgemeinschaften von Geschwistern und Verwandten jeweils gleichen Geschlechts und anderen Lebenspartnerschaften, denen die Rechtsform der eingetragenen Lebenspartnerschaft eröffnet ist, Unterschiede von solchem Gewicht bestehen, dass es gerechtfertigt ist, für die beiden erstgenannten Personengruppen ein vergleichbares Regelungsbedürfnis ihrer Beziehungen zu verneinen und ihnen die Eingehung einer eingetragenen Lebenspartnerschaft zu versagen.

8. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Beschluss des Ersten Senats vom 4. Mai 2004 – 1 BvR 1892 / 03 (BVerfGE 110, 339)1 Amtlicher Leitsatz: Zu den Anforderungen des Grundsatzes eines fairen Verfahrens bei der Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Fällen, in denen die Fristversäumung auf Fehlern des Gerichts beruht. Aus den Gründen: A. Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Versagung der Wiederein­ setzung in die Begründungsfrist für einen Berufungszulassungsantrag (§ 124 a Abs. 4 Satz 4 und 5 VwGO). 1.  Die Beschwerdeführerin, eine Agrargenossenschaft, klagte im verwal­ tungsgerichtlichen Ausgangsverfahren auf Gewährung einer Beihilfe zum Hanfanbau. Am Ende des klageabweisenden Urteils des Verwaltungsge­ richts, der Beschwerdeführerin zugestellt am 23. Mai 2002, gab die Rechts­ mittelbelehrung die Rechtslage korrekt wieder, indem es hieß, ein Antrag auf Zulassung der Berufung und dessen Begründung seien beim Verwal­ tungsgericht einzureichen.   Die Beschwerdeführerin reichte zunächst beim Verwaltungsgericht einen nicht begründeten Antrag auf Zulassung der Berufung ein und teilte mit, die Begründung bleibe einem gesonderten Schriftsatz vorbehalten. Mit einem auf richterlicher Anordnung beruhenden Schreiben forderte die Geschäfts­ stelle des Verwaltungsgerichts die Beschwerdeführerin auf, künftige Schrift­ sätze an den Verwaltungsgerichtshof zu richten; beigefügt war die Abschrift ihres Schreibens an den Verwaltungsgerichtshof, mit dem das Verwaltungs­ gericht den Eingang des Antrages auf Zulassung der Berufung anzeigte und die Akten an den Verwaltungsgerichtshof übersandte. Mit einem Schreiben des Vorsitzenden bestätigte der Verwaltungsgerichtshof der Beschwerdefüh­ 1  An der Entscheidung haben mitgewirkt: Präsident Papier, die Richterinnen Jaeger und Haas, die Richter Hömig und Steiner, die Richterin Hohmann-Dennhardt sowie die Richter Hoffmann-Riem und Bryde.

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8. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

rerin den Eingang des Zulassungsantrages. Die Gerichtsakten seien dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung vorgelegt worden, und das Ver­ fahren habe beim Verwaltungsgerichtshof eine neue Geschäftsnummer er­ halten, die stets anzugeben sei. Der Vorsitzende fragte außerdem, ob Ein­ verständnis mit einer Entscheidung durch ihn bestehe, und gab folgenden Hinweis: „Sie werden gebeten, Schriftsätze nur dann mittels Telefax einzureichen, wenn dies durch besondere Umstände ausnahmsweise gerechtfertigt ist (z. B. Fristab­ lauf). Ansonsten sollten Schriftsätze ausschließlich auf dem normalen Postweg übersandt bzw. unmittelbar hier abgegeben werden.“

Mit einem per Fax am 23. Juli 2002 unter dem neuen Aktenzeichen an den Verwaltungsgerichtshof übermittelten Schriftsatz begründete die Be­ schwerdeführerin ihren Antrag auf Zulassung der Berufung. Mit Schreiben vom 23. Januar 2003 wies der Verwaltungsgerichtshof die Beschwerdefüh­ rerin darauf hin, die Begründung hätte entsprechend der zwingenden Vor­ schrift des § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO beim Verwaltungsgericht einge­ reicht werden müssen. Darauf weise auch die Rechtsmittelbelehrung aus­ drücklich hin. Mit einem am 29. Januar 2003 per Fax an den Verwaltungs­ gerichtshof übermittelten Schriftsatz beantragte die Beschwerdeführerin wegen der versäumten Frist zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Nach den Schreiben des Verwaltungsgerichts und des Vorsitzenden des zuständigen Senats des Verwaltungsgerichtshofs habe die Beschwerdeführerin davon ausgehen müs­ sen, dass die Begründung beim Verwaltungsgerichtshof einzureichen sei. Am 30. Januar 2003 ging die Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung beim Verwaltungsgericht ein. 2.  Der Verwaltungsgerichtshof verwarf den Antrag der Beschwerdeführe­ rin auf Zulassung der Berufung als unzulässig. Die Beschwerdeführerin habe die zweimonatige Begründungsfrist versäumt und ihr könne die bean­ tragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt werden, da sie nicht ohne ihr Verschulden gehindert gewesen sei, die Frist einzuhalten. Zwar sei die Übersendung der Gerichtsakten an den Verwaltungsgerichtshof verfrüht gewesen und hätten die Schreiben des Verwaltungsgerichts und des Verwaltungsgerichtshofs Zweifel aufkommen lassen können, bei welchem Gericht die Begründung des Zulassungsantrags einzureichen sei. Von einem Rechtsanwalt müsse aber verlangt werden, dass er den Vorrang der eindeu­ tigen gesetzlichen Regelung und der damit übereinstimmenden Rechtsmit­ telbelehrung erkenne. Schließlich hätten die Bevollmächtigten der Be­ schwerdeführerin die Möglichkeit gehabt, die Begründung des Zulassungs­ antrags vorsorglich bei beiden Gerichten einzureichen oder so rechtzeitig bei einem Gericht, dass dieses den Schriftsatz im ordentlichen Geschäftsgang fristwahrend an das zuständige Gericht hätte weiterleiten können.



Beschluss vom 4. Mai 2004207

3. Die Beschwerdeführerin rügt mit ihrer Verfassungsbeschwerde eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 und Art. 103 Abs. 1 GG durch die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs. Es gehöre zu einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung, den durch Gerichte irrege­ führten Rechtsuchenden zumindest dadurch schadlos zu halten, dass ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werde. 4. Zur Verfassungsbeschwerde haben die Hessische Staatskanzlei sowie die Beklagte des Ausgangsverfahrens Stellung genommen. Sie halten die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. B. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die angegriffene Entscheidung verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip sowie in ihrem Justizgewährungsanspruch aus Art. 19 Abs. 4 GG. 1.  Das aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG als allge­ meinem Prozessgrundrecht folgende Recht auf ein faires Verfahren (vgl. BVerfGE 38, 105 [111]; 57, 250 [274 f.]) hat für ein rechtsstaatliches Ge­ richtsverfahren grundlegende Bedeutung (vgl. auch Art. 6 EMRK und Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union). Aus dem Gebot eines fairen Verfahrens folgt unter anderem, dass das Gericht aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern, Unklarheiten oder Versäum­ nissen keine Verfahrensnachteile ableiten darf (vgl. BVerfGE 78, 123 [126]). Der in Art. 19 Abs. 4 GG verankerte Justizgewährungsanspruch gegen Akte der öffentlichen Gewalt überlässt zwar die nähere Ausgestaltung des durch die Vorschrift garantierten Rechtsweges der jeweiligen Prozessord­ nung. Bei der Auslegung und Anwendung dieser Prozessordnung dürfen die Gerichte aber den Zugang zu den den Rechtsuchenden eingeräumten Instan­ zen nicht in unzumutbarer Weise erschweren (vgl. BVerfGE 44, 302 [305]; 52, 203 [207]; 69, 381 [385]). Insbesondere dürfen die Anforderungen da­ ran, was der Betroffene veranlasst haben muss, um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erlangen, nicht überspannt werden (vgl. BVerfGE 40, 88 [91]; 67, 208 [212 f.]). Beruht eine Fristversäumung auf Fehlern des Ge­ richts, sind die Anforderungen an eine Wiedereinsetzung mit besonderer Fairness zu handhaben. 2. Diese Grundsätze werden durch die angegriffene Entscheidung ver­ letzt. Sowohl Verwaltungsgericht als auch Verwaltungsgerichtshof haben im Verfahren Fehler begangen. Sie haben der Beschwerdeführerin nicht nur missverständliche, sondern falsche Hinweise gegeben. a)  Das Verwaltungsgericht forderte die Beschwerdeführerin auf, künftige Schriftsätze an den Verwaltungsgerichtshof zu richten, und übermittelte ihr

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8. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

die Abschrift eines Schreibens an den Verwaltungsgerichtshof, mit dem das Verwaltungsgericht den Verwaltungsgerichtshof über den Eingang des An­ trages auf Zulassung der Berufung informierte und die Akten nebst Anlagen und Überstücken an den Verwaltungsgerichtshof übersandte. Alle Unter­ lagen, die für den Prozess von Bedeutung sein können, waren damit schon beim Berufungsgericht, obwohl erst nach der noch beim Verwaltungsgericht einzureichenden Begründung die Abgabe an die zweite Instanz ansteht. Das Schreiben des Verwaltungsgerichts war kein bloßes Versehen der Geschäfts­ stelle, sondern beruhte auf richterlicher Anordnung. Es war auch nicht mehrdeutig. Als künftiger Schriftsatz kam in diesem Verfahrensstand nur die – bereits angekündigte – Begründung des Antrags auf Zulassung der Beru­ fung in Betracht. Diese ist jedoch gemäß § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO bei dem Verwaltungsgericht und gerade nicht bei dem Verwaltungsgerichtshof einzureichen. b) Der Verwaltungsgerichtshof bestätigte der Beschwerdeführerin den Eingang der Akten und des Zulassungsantrags. Außerdem wurde bei der Beschwerdeführerin angefragt, ob sie mit einer Streitentscheidung durch den Vorsitzenden gemäß § 87 a Abs. 2 und 3 VwGO einverstanden sei. Der Hinweis über die Einreichung künftiger Schriftsätze enthielt zudem die Worte „unmittelbar hier“. Insgesamt lässt sich das Schreiben des Verwal­ tungsgerichtshofs im Berufungszulassungsverfahren, bei dem es nach Stel­ lung des Antrags auf Zulassung der Berufung im Wesentlichen nur um einen einzigen Schriftsatz, nämlich die Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung geht, nicht anders auslegen, als dass das Verfahren nunmehr beim Verwaltungsgerichtshof anhängig ist und alle Schriftsätze dorthin gerichtet werden sollen. Auch in diesem Schreiben konnten die Prozessbevollmäch­ tigten der Beschwerdeführerin nicht lediglich ein Versehen der Geschäfts­ stelle sehen. Das Schreiben ist vom Vorsitzenden des zuständigen Senats unterschrieben und enthielt mit der Anfrage nach § 87 a VwGO auch Ele­ mente, die eine inhaltliche richterliche Befassung mit dem Gegenstand ­voraussetzen. 3. Die Einreichung der Begründung zum Berufungszulassungsantrag di­ rekt beim Verwaltungsgerichtshof durch die Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin wurde daher unmittelbar durch die unzutreffenden Hinweise beider Gerichte veranlasst. Allerdings widerspricht das Vorgehen der Prozessbevollmächtigten dem Wortlaut der Vorschrift des § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO, die den Prozess­ bevollmächtigten bekannt sein musste. Auch die Rechtsmittelbelehrung verlangte dem Gesetz entsprechend die Einreichung der Begründung beim Verwaltungsgericht. Grundsätzlich darf sich ein Prozessbevollmächtigter bei einer klaren Rechtslage nicht auf eine falsche Auskunft des Gerichts verlas­



Beschluss vom 4. Mai 2004209

sen. Im vorliegenden Fall sind die Hinweise gleich zweier Gerichte jedoch so eindeutig und in Form eines Schreibens des Senatsvorsitzenden so ge­ wichtig, dass bei den Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin der Eindruck entstehen musste, sie bräuchten sich nicht nach der Rechtslage und der Belehrung zu richten. Dass die Prozessbevollmächtigten diesen Hinweisen folgten, lag auch des­ halb nahe, weil der Rechtsuchende im Falle des § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO mit einer zwar sprachlich eindeutigen, aber der Sache nach nicht ohne weite­ res nachvollziehbaren gesetzlichen Regelung konfrontiert ist. Da das Gesetz eine Abhilfemöglichkeit durch das Verwaltungsgericht nicht vorsieht und der Rechtsstreit nach verbreiteter Auffassung in Rechtsprechung und Literatur (vgl. die Nachweise bei Roth, NVwZ 2003, S. 1189 [1190 Fn. 17]) mit Stel­ lung des Zulassungsantrags beim Verwaltungsgerichtshof anhängig ist, ist es wenig einsichtig, dass die Begründung beim Verwaltungsgericht eingereicht werden muss. Inzwischen hat auch der Gesetzgeber beschlossen, die Rege­ lung zu ändern; er sieht künftig die Einreichung der Begründung beim Ober­ verwaltungsgericht vor (Art. 6 Nr. 2 a des Ersten Gesetzes zur Modernisie­ rung der Justiz [BRDrucks 537 / 04]). Die Gesetzesmaterialien zur noch gel­ tenden Fassung enthalten zu Absatz 4 keine Begründung (BTDrucks 14 / 6393, S. 13 [zu – damals – § 124 b des Entwurfs]). Im Anschluss an die Begrün­ dung einer erfolglosen Anregung des Bundesrates, bei zugelassener Berufung die Berufungsbegründung ebenfalls beim Verwaltungsgericht einzureichen (BTDrucks 14 / 6854, S. 5 Nr. 13), wird in der Rechtsprechung der Sinn von § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO darin gesehen, die Akten bis zur Fertigstellung der Begründung zur Erleichterung der Akteneinsicht beim – typischerweise für den Rechtsuchenden näheren – Verwaltungsgericht zu belassen (vgl. VGH Baden-Württemberg, NVwZ-RR 2003, S. 156 [157]; OVG NordrheinWestfalen, NVwZ 2003, S. 1279; vgl. auch BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 3. März 2003 – 1 BvR 310 / 03 -, NVwZ 2003, S. 728 [729]). Damit ist es schwer zu vereinbaren, wenn die Akten wie im vorlie­ genden Fall formularmäßig schon mit Antragseingang an das Berufungsge­ richt weiter geleitet werden. Jedenfalls musste der Hinweis auf die Aktenwei­ terleitung die Prozessbevollmächtigten zusätzlich in der Vorstellung bestär­ ken, dass sie von nun an nur noch mit dem Verwaltungsgerichtshof zu ver­ kehren haben. In dieser Situation durften die Prozessbevollmächtigten der Beschwerde­ führerin davon ausgehen, dass die Gerichte sich zu einer pragmatischen Handhabung entschlossen hatten. Unter diesen besonderen Umständen kann ihnen auch ausnahmsweise aus der Nichtbeachtung des Wortlauts von Ge­ setz und Rechtsmittelbelehrung kein Vorwurf gemacht werden. Die schwer nachvollziehbare Gesetzeslage verstärkt hier die Fürsorgepflicht der Gerich­ te. Sie müssen es vermeiden, durch eigenes Verhalten zusätzliche Verwir­

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8. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

rung zu stiften. Das kann nur gelingen, wenn sie die Handhabung der Eingangsbestätigung und Aktenversendung genau an der Rechtslage aus­ richten, die für die Rechtsmittelführer gilt. 4. Die Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin haben die ge­ setzlichen Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erfüllt. Sie haben rechtzeitig nach der Belehrung über die Fristversäumung die Begründungsschrift beim Verwaltungsgericht eingereicht und rechtzeitig die Wiedereinsetzung beantragt. Unter diesen Umständen kann die Zurückweisung des Antrags der Be­ schwerdeführerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand keinen Be­ stand haben. 5. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin folgt aus § 34 a Abs. 2 BVerfGG. 6.  Die Entscheidung ist mit 7 : 1 Stimmen ergangen. Abweichende Meinung der Richterin Haas zum Beschluss des Ersten Senats vom 4. Mai 2004 – 1 BvR 1892 / 03 (BVerfGE 110, 346) Der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs, mit dem der Antrag auf Wie­ dereinsetzung in die Frist zur Begründung des Zulassungsantrags abgelehnt und der Antrag auf Zulassung der Berufung verworfen worden ist, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.   I. Aus der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG ergibt sich, dass die Gerichte den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten In­ stanzen durch die Auslegung und Anwendung des Prozessrechts nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise er­ schweren dürfen (stRspr, vgl. etwa BVerfGE 77, 275 [284]). Dies gilt auch für die Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Versäumung einer Rechtsmittelfrist (stRspr, vgl. etwa BVerfGE 54, 80 [84]). Keine Überspannung der Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung liegt darin, dass ein der Partei zurechenbares Anwaltsverschulden grundsätzlich in mangelnden Rechtskenntnissen gesehen wird (vgl. BGHZ 8, 47 [54]; Greger, in: Zöller, ZPO, 24. Aufl. 2004, § 233 Rn. 23 Stichwort „Rechtsirr­ tum“). Wird die Begründungsfrist des § 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO ver­ säumt, weil der Prozessbevollmächtigte sie entgegen der zwingenden Form­ vorschrift des § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO in seiner während des Aus­ gangsverfahrens geltenden Fassung (die Vorschrift wird durch Art. 6 Nr. 2 a



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des Ersten Gesetzes zur Modernisierung der Justiz geändert, BRDrucks 537 / 04) nicht beim Verwaltungsgericht eingereicht hat, beruht die Fristver­ säumung daher in der Regel auf einem Verschulden des Anwalts. Allerdings folgt aus dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch auf ein faires Verfahren, dass ein Richter aus eigenen oder ihm zuzurech­ nenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten darf (vgl. BVerfGE 78, 123 [126]). Geht es um die Wahrung von Fristen, schließt es der Grundsatz fairer Verfahrensführung aus, die Verantwortung für eine Säumnis auf den Bürger abzuwälzen, deren Ursache allein in der Sphäre des Gerichts liegt (vgl. BVerfGE 69, 381 [386 f.]). Von einer alleinigen Verur­ sachung durch das Gericht kann jedoch dann nicht ausgegangen werden, wenn der Bürger oder sein Prozessbevollmächtigter mögliche und ihm zu­ mutbare Anstrengungen unterlassen hat, von sich aus zum Wegfall des Hindernisses beizutragen, das der Wahrung der Frist entgegensteht (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 21. Dezember 1995 – 2 BvR 2033 / 95, NJW 1996, S. 1811). Die verfassungsrechtliche Gewähr­ leistung fairen Verfahrens hat daher nicht zur Folge, dass ein Rechtsanwalt jede gerichtliche Äußerung ungeprüft befolgen müsste. Gibt eine gericht­ liche Äußerung zu Zweifeln Anlass, hat der Rechtsanwalt den Zweifeln nachzugehen, sich ein eigenes Bild von der Rechtslage zu machen und gegebenenfalls geeignete Maßnahmen zu treffen, um einen Formverstoß zu verhindern. Gerichtliche Auskünfte oder Anweisungen, erst recht gericht­ liche Bitten oder Anregungen, stehen im Rang nicht über dem geltenden Prozessrecht. Sie vermögen zwingendes Recht nicht abzubedingen. Sie suspendieren insbesondere nicht den Anwalt von der ihm als Organ der Rechtspflege eigenständig obliegenden Aufgabe, die Rechtslage zu kennen und entsprechend zu verfahren. Wann bei dieser Rechtslage einen Rechtsanwalt in Rücksicht ganz beson­ ders gelagerter Konstellationen ausnahmsweise kein Verschulden trifft, kann dahinstehen. Ein solcher Fall liegt hier jedenfalls nicht vor. II. Der Verwaltungsgerichtshof ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin aufgrund der Gerichts­ schreiben nicht davon ausgehen durften, sie könnten die Begründungsschrift bei dem Verwaltungsgerichtshof einreichen, sondern dass bei ihnen durch die Schreiben nur Zweifel an dem richtigen Adressaten der Begründungs­ schrift ausgelöst werden konnten, welche sie hätten ausräumen müssen. 1.  Das Schreiben des Verwaltungsgerichts – es handelt sich nicht um ein richterliches Schreiben, sondern um das Schreiben einer Urkundsbeamtin, welches mit dem Zusatz „auf Anordnung“ unterzeichnet ist, ohne dass für

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8. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

den Adressaten deutlich wird, um wessen Anordnung es sich handelt – war zwar nicht ganz eindeutig, aber konnte von den Prozessbevollmächtigten so verstanden werden, als sollten alle künftigen Schriftsätze an den Verwal­ tungsgerichtshof gerichtet werden. Denn seinem Wortlaut nach bezog sich die in ihm enthaltene Bitte, künftige Schriftsätze beim Verwaltungsgerichts­ hof einzureichen, auch auf die Begründung des Zulassungsantrags, obwohl dieser nach § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO beim Verwaltungsgericht einzu­ reichen ist. Die Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin konnten aus diesem Schreiben gleichwohl nicht hinreichend sicher schließen, dass sie die Be­ gründungsschrift entgegen § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO beim Verwaltungs­ gerichtshof einreichen durften. Dies folgt vor allem daraus, dass die Pro­ zessbevollmächtigten wissen mussten, dass es sich bei § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO um eine zwingende Vorschrift handelt, also kein Raum für eine hiervon abweichende Aufforderung durch das Verwaltungsgericht war. Im Hinblick darauf, dass es sich bei dem Schreiben vom 26. Juni 2002 ersicht­ lich um einen Vordruck handelte, lag auch zur Erklärung der Gedanke nahe, dass die auf einem Textbaustein basierende Formulierung an den seit 1. Ja­ nuar 2002 geltenden § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO noch nicht angepasst war bzw. die Urkundsbeamtin das falsche Formular gewählt hatte. Die Bitte, künftige Schriftsätze beim Verwaltungsgerichtshof einzurei­ chen, erhielt auch nicht deshalb ein größeres Gewicht, weil es sich um eine richterliche Auskunft oder Bitte gehandelt hätte. Daraus, dass das Schreiben „auf Anordnung“ erging, konnten die Prozessbevollmächtigten nicht schlie­ ßen, dass das Schreiben auf einer richterlichen Anordnung beruhte. Denn die Unterzeichnung „auf Anordnung“ lässt – wie die Prozessbevollmächtig­ ten als im Umgang mit Gerichten Kundige wissen mussten und auch wuss­ ten, wie ihre Einlassung belegt, die nicht von einem richterlichen, sondern einem gerichtlichen Schreiben spricht – grundsätzlich keinen Schluss über die Person des Anordnenden zu (vgl. den Runderlass des Hessischen Minis­ teriums der Justiz vom 20. März 1997 über die Vollziehung von Schriftstü­ cken, JMBl S. 393 unter Nr. III 1). Schließlich mussten die Prozessbevoll­ mächtigten berücksichtigen, dass über die Zulässigkeit des Antrags auf Zulassung der Berufung nicht das Verwaltungsgericht, sondern der Verwal­ tungsgerichtshof entscheidet. Dem Schreiben der Urkundsbeamtin konnten jedoch keine Anhaltspunkte dafür entnommen werden, dass der Verwal­ tungsgerichtshof bei seiner Entscheidung über die Zulässigkeit des Beru­ fungszulassungsantrags von den Voraussetzungen des § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO abweichen würde. 2.  Die Eingangsbestätigung des Verwaltungsgerichtshofs konnte für sich genommen bei den Prozessbevollmächtigten noch nicht einmal Zweifel über



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die Verbindlichkeit des § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO auslösen. Anders als die Senatsmehrheit wohl meint, verhält das Schreiben des Verwaltungsge­ richtshofs sich nicht zu der Frage, ob anwaltliche Schriftsätze im Zulas­ sungsverfahren beim Verwaltungsgerichtshof oder beim Verwaltungsgericht einzureichen sind. Dies gilt insbesondere für die Passage, in der darum gebeten wird, auf die Versendung von Schriftsätzen per Telefax möglichst zu verzichten. Sie lautet: „Sie werden gebeten, Schriftsätze nur dann mittels Telefax einzureichen, wenn dies durch besondere Umstände ausnahmsweise gerechtfertigt ist (z.  B. Fristablauf). Ansonsten sollten Schriftsätze aus­ schließlich auf dem normalen Postweg übersandt bzw. unmittelbar hier ab­ gegeben werden.“ Dieser Hinweis befasst sich nicht damit, ob Schriftsätze beim Verwaltungsgerichtshof oder beim Verwaltungsgericht eingereicht werden sollen oder können. Er betrifft nach seinem klaren Wortlaut nur die Frage, auf welche Weise (wie) Schriftsätze beim Verwaltungsgerichtshof eingereicht werden sollen. Ohne Bedeutung ist dabei auch, dass der Hinweis unter anderem die Worte „unmittelbar hier“ enthält. Aus dem Kontext dieser Passage ergibt sich eindeutig, dass „unmittelbar hier abgegeben“ als Alter­ native zu „auf dem normalen Postweg übersandt“ gemeint ist, sich also nur auf die Art und Weise der Übermittlung bezieht. Auch unter Berücksichtigung der konkreten Verfahrenssituation konnte der Hinweis über die Form der Schriftsatzeinreichung nicht als Anweisung verstanden werden, die Begründung des Zulassungsantrags beim Verwal­ tungsgerichtshof einzureichen. Dies wäre angesichts der klaren, von den Prozessbevollmächtigten auch erkannten Zielrichtung des Hinweises (Be­ grenzung der Telefaxnutzung) selbst dann nicht zweifelhaft, wenn er sich nur auf die Begründung des Antrags beziehen könnte, weil andere Schrift­ sätze nicht denkbar wären, wovon offensichtlich die Senatsmehrheit ausgeht. Tatsächlich kommt jedoch eine Vielzahl von Schriftsätzen in Betracht, die im Rahmen des Zulassungsverfahrens an den Verwaltungsgerichtshof ge­ richtet werden dürfen. Dabei handelt es sich etwa um Anfragen zur Verfah­ rensdauer und zur Geschäftsverteilung, um Stellungnahmen zum Streitwert, um die Replik auf die Erwiderung des Rechtsmittelgegners oder auch die Zurücknahme des Zulassungsantrags (weitere Beispiele zu § 124a VwGO a. F. etwa bei Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124 a, Stand Juli 2000, Rn. 52, 108, 117, 217, 220, 223). Auf diese Schriftsätze bezieht sich der Hinweis des Verwaltungsgerichtshofs über die Art und Weise der Einrei­ chung. Aus der inhaltlichen Gesamtschau des Schreibens des Verwaltungsge­ richtshofs ergibt sich für das Verständnis vom Sinn des Hinweises – den übrigens auch die Prozessbevollmächtigten in der vorstehend dargelegten Weise verstanden haben – nichts anderes. Insbesondere ist insoweit ohne Bedeutung für das Verständnis des Hinweises auf die Zahl der einzurei­

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8. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

chenden Kopien, dass in der Eingangsbestätigung danach gefragt wird, ob Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Vorsitzenden besteht. Diese Anfrage, die keinen Bezug zum Einreichungsmodus hat, erfolgte er­ sichtlich routinemäßig, da zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht die Begrün­ dung des Zulassungsantrags vorlag. Deshalb kann aus dieser Anfrage – entgegen der Auffassung der Senatsmehrheit – auch nicht auf eine nähere inhaltliche Befassung des Vorsitzenden mit dem Zulassungsverfahren ge­ schlossen werden. Die Eingangsbestätigung des Verwaltungsgerichtshofs war daher auch nicht geeignet, den durch das Schreiben der Urkundsbeamtin des Verwal­ tungsgerichts vermittelten Eindruck in dem Sinn zu verstärken, dass die Prozessbevollmächtigten sicher davon ausgehen konnten, sie sollten entge­ gen § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO die Begründungsschrift beim Verwal­ tungsgerichtshof einreichen. Nur bei sehr oberflächlicher Lektüre konnte der Umstand, dass die Eingangsbestätigung sich auch mit der Form der Einrei­ chung von Schriftsätzen befasst, als – wie die Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin in ihrem Wiedereinsetzungsantrag vorgetragen haben – „Ergänzung“ der verwaltungsgerichtlichen Verfügung verstanden werden. 3.  Auch die in dem Schreiben des Verwaltungsgerichtshofs enthaltene Be­ stätigung des Akteneingangs konnte bei den Prozessbevollmächtigten nicht die zweifelsfreie Überzeugung hervorrufen, der Senat erwarte von ihnen nun­ mehr die Einreichung der Begründungsschrift beim Verwaltungsgerichtshof. In ihrem Wiedereinsetzungsantrag haben die Prozessbevollmächtigten inso­ weit zunächst nur vorgetragen, sie seien davon ausgegangen, das Verwal­ tungsgericht könne nach Abgabe der Akten weitere in der Sache eingehende Schriftsätze gar nicht mehr zuordnen. Für diesen praxisfernen Schluss be­ standen jedoch keinerlei Anhaltspunkte. Vielmehr mussten die Prozessbevoll­ mächtigten wissen, dass Gerichte bei Abgabe des Verfahrens stets ein Retent führen. Im Rahmen der weiteren Begründung des Wiedereinsetzungsantrags haben die Prozessbevollmächtigten dann ausgeführt, sie hätten den Hinweis auf die möglichste Vermeidung von Telefaxen so verstanden, dass unnötiger Verwaltungsaufwand vermieden werden sollte. Als unnötigen Verwaltungs­ aufwand hätten sie es aber betrachtet, einen Schriftsatz an ein Gericht zu schicken, bei dem keinerlei Akten mehr vorhanden seien, so dass dieser Schriftsatz unmittelbar an das für die Entscheidung zuständige Gericht wei­ tergeleitet werden müsste. Verfassungsrechtlich unbedenklich hat der Verwal­ tungsgerichtshof diese Folgerung der Prozessbevollmächtigten als sie nicht verschuldensentlastend angesehen. Noch nachvollziehbar ist zwar der Schluss der Prozessbevollmächtigten von dem konkreten Anliegen des Verwaltungs­ gerichtshofs, den Eingang von Telefaxen zu begrenzen, auf die abstrakte Maßgabe, unnötigen Verwaltungsaufwand zu vermeiden. Jedoch findet die weitere Schlussfolgerung, dass der Verwaltungsgerichtshof mit dieser allge­



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meinen Zielsetzung auch die Einreichung der Begründungsschrift beim Ver­ waltungsgerichtshof vorgegeben habe, in der Eingangsbestätigung keinerlei Grundlage. Insbesondere konnten die Prozessbevollmächtigten nicht anneh­ men, dass der Verwaltungsgerichtshof von ihnen nicht nur ein effizientes und prozessordnungsgemäßes Verhalten (Vermeidung unnötiger Telefaxe), son­ dern auch ein prozessordnungswidriges Verhalten, die Abweichung von § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO, erwartete. 4.  Der Verwaltungsgerichtshof hat bei der Beurteilung des Verschuldens der Prozessbevollmächtigten am Maßstab des fairen Verfahrens wie auch des Art. 19 Abs. 4 GG zu Recht unberücksichtigt gelassen, welchen Rege­ lungszweck die Vorschrift des § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO verfolgt. Für die Frage des Verschuldens kommt es nur auf solche subjektiven Umstände an, die von den Prozessbevollmächtigten selbst geltend gemacht werden. Die Prozessbevollmächtigten haben sich in ihrem Wiedereinsetzungsantrag aber nicht darauf berufen, dass sie Sinn und Zweck des § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO nicht erkannt hätten und daher davon ausgegangen seien, die Gerichte hätten sich zu einer pragmatischen Vorgehensweise entschlossen. 5. Der Verwaltungsgerichtshof ist bei der Ablehnung des Wiedereinset­ zungsantrags daher in verfassungskonformer Weise von einem Verschulden der Prozessbevollmächtigten ausgegangen. Das Verschulden liegt darin, dass die Prozessbevollmächtigten ihren Angaben zufolge gar nicht auf die Idee gekommen sind, sich über die vermeintlichen Vorgaben des Verwaltungsge­ richts und des Verwaltungsgerichtshofs hinwegzusetzen oder diese auch nur anzuzweifeln. Angesichts des Wortlauts des Schreibens der Urkundsbeamtin und der entgegenstehenden, eindeutigen Rechtslage mussten sich einem Prozessbevollmächtigten vielmehr erhebliche Zweifel daran aufdrängen, die Begründungsschrift fristwahrend auch beim Verwaltungsgerichtshof einrei­ chen zu können. Demgemäß wären die Prozessbevollmächtigten gehalten gewesen, alles zu tun, um eine Klärung herbeizuführen oder jedenfalls so zu verfahren, dass die Gefahr einer Fristversäumung gebannt war. Dass sie das nicht getan haben – darin liegt, wie der Verwaltungsgerichtshof verfas­ sungsrechtlich unbedenklich erkannt hat, ihr Verschulden.

9. Analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG Beschluss des Ersten Senats vom 6. Dezember 2005 – 1 BvR 1905 / 02 (BVerfGE 115, 51)1 Amtlicher Leitsatz: Zur analogen Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG auf nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer vom Bundesverfassungsgericht im Rahmen verfassungskonformer Auslegung als verfassungswidrig verwor­ fenen Interpretationsvariante einer Rechtsvorschrift oder auf der Auslegung und Anwendung unbestimmter Gesetzesbegriffe beruhen, die vom Bundes­ verfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden sind. Aus den Gründen: A. Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob § 79 Abs. 2 Satz 3 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht auch den Fall erfasst, dass die zu vollstreckende Entscheidung eines Zivilgerichts auf der vom Bundesver­ fassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Auslegung und Anwendung einer zivilrechtlichen Generalklausel beruht.   I. 1. Mit Beschluss vom 19. Oktober 1993 (BVerfGE 89, 214) entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die Zivilgerichte verpflichtet sind, bei der Konkretisierung und Anwendung von Generalklauseln wie § 138 und § 242 BGB die grundrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie in Art. 2 Abs. 1 GG zu beachten. Gegenstand der Entscheidung waren unter anderem ein Urteil des Bundesgerichtshofs und die von diesem wiederher­ gestellte Entscheidung eines Landgerichts. Darin war die damalige Be­ schwerdeführerin zur Zahlung von 100.000 DM aus einem Bürgschaftsver­ trag verurteilt worden, den sie zugunsten ihres – zunächst als Immobilien­ 1  An der Entscheidung haben mitgewirkt: Präsident Papier, Richterin Haas, die Richter Hömig und Steiner, die Richterin Hohmann-Dennhardt sowie die Richter Hoffmann-Riem, Bryde und Gaier.



Beschluss vom 6. Dezember 2005217

makler, später als Reeder tätigen – Vaters mit einer Sparkasse abgeschlossen hatte. Zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses war die Bürgin 21 Jahre alt, überwiegend arbeitslos und ohne Vermögen (vgl. ZIP 1989, S. 629). Das Bundesverfassungsgericht hob das Revisionsurteil des Bundesge­ richtshofs wegen Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1 GG auf. Dieser gewährleiste die Privatautonomie als Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben. Dabei bestehe weitgehend Einigkeit darüber, dass die Vertragsfreiheit nur im Fall eines annähernd ausgewogenen Kräfteverhältnisses der Vertragspartner als Mittel eines angemessenen Interessenausgleichs tauge und der Ausgleich gestörter Vertragsparität zu den Hauptaufgaben des Zivilrechts gehöre. In diesem Zusammenhang hätten die Generalklauseln des Bürgerlichen Gesetz­ buchs zentrale Bedeutung. Der Wortlaut des § 138 Abs. 2 BGB bringe das besonders deutlich zum Ausdruck. Darin würden typische Umstände bezeich­ net, die zwangsläufig zur Verhandlungsunterlegenheit des einen Vertragsteils führten. Nutze der überlegene Vertragsteil eine solche Schwäche aus, um sei­ ne Interessen einseitig durchzusetzen, führe das zur Nichtigkeit des Vertrags. Differenziertere Rechtsfolgen ergäben sich aus § 242 BGB. Nach der Auffas­ sung der Zivilrechtswissenschaft begründe der Grundsatz von Treu und Glau­ ben, der eine immanente Grenze vertraglicher Gestaltungsmacht bezeichne, die Befugnis zu einer richterlichen Kontrolle des Inhalts von Verträgen. Über Voraussetzungen und Intensität dieser Kontrolle bestehe zwar Streit. Für die verfassungsrechtliche Würdigung genüge aber die Feststellung, dass das gel­ tende Recht Instrumente bereit halte, die es ermöglichten, auf strukturelle Störungen der Vertragsparität angemessen zu reagieren. Für die Zivilgerichte folge daraus die Pflicht, bei der Auslegung und Anwendung der Generalklauseln darauf zu achten, dass Verträge nicht als Mittel der Fremdbestimmung dienten. Sei der Inhalt eines Vertrags für eine Seite ungewöhnlich belastend und als Interessenausgleich offensichtlich unangemessen, müssten sie klären, ob die vereinbarte Regelung eine Folge strukturell ungleicher Verhandlungsstärke ist, und gegebenenfalls mit Hilfe der zivilrechtlichen Generalklauseln korrigierend eingreifen. Wie sie dabei zu verfahren hätten und zu welchem Ergebnis sie gelangen müssten, sei in erster Linie eine Frage des einfachen Rechts, dem die Verfassung einen weiten Spielraum lasse. Ein Verstoß gegen die Gewährleistung der Privat­ autonomie komme aber dann in Betracht, wenn das Problem gestörter Vertragsparität gar nicht gesehen oder seine Lösung mit untauglichen Mit­ teln versucht werde. In dem hier zu beurteilenden Fall sei ein solcher Ver­ stoß gegeben. 2.  Bei der Umsetzung dieser Entscheidung gingen die für das Bürgschafts­ recht und den Schuldbeitritt zuständigen Senate des Bundesgerichtshofs zu­ nächst unterschiedliche Wege (vgl. Fischer, WM 1998, S. 1749 [1750 ff.,

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9. Analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG

1757 f.]; Tonner, ZIP 1999, S. 901). Die Annäherung ihrer Rechtsprechung fand – im Wesentlichen auf der Grundlage des § 138 BGB – schrittweise statt. Inzwischen herrscht Einigkeit darüber, dass eine finanzielle Überforde­ rung von Bürgen, die dem Hauptschuldner als Ehegatte, Verwandter oder sonst emotional verbunden sind und für diesen ohne eigenes Interesse an der Kreditgewährung bürgen, nicht allein schon zur Sittenwidrigkeit im Sinne des § 138 Abs. 1 BGB führt. Es müssen vielmehr weitere, die Entschlie­ ßungsfreiheit des Bürgen beeinträchtigende und dem Kreditgeber zurechen­ bare Umstände hinzutreten. Bei krasser finanzieller Überforderung besteht allerdings eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass die Bürg­ schaft nicht in realistischer Einschätzung des wirtschaftlichen Risikos, son­ dern allein im Hinblick auf die emotionale Verbundenheit mit dem Haupt­ schuldner übernommen und dies vom Kreditgeber in sittlich anstößiger Wei­ se ausgenutzt worden ist. Dabei geht die Rechtsprechung von einer krassen finanziellen Überforderung aus, wenn der Bürge nach der Beurteilung im Zeitpunkt der Bürgschaftsübernahme bei Eintritt des Sicherungsfalls voraus­ sichtlich nicht einmal die auf die Hauptschuld entfallenden laufenden Zinsen aus dem pfändbaren Teil seines Einkommens und Vermögens wird aufbrin­ gen können. Anderweitige Sicherheiten des Kreditgebers schließen die An­ nahme einer krassen finanziellen Überforderung des Bürgen nur aus, wenn sie das Haftungsrisiko für ihn auf ein rechtlich vertretbares Maß beschränken (zu den Einzelheiten vgl. Nobbe / Kirchhof, BKR 2001, S. 5 [6 ff.]; Schimans­ ky, WM 2002, S. 2437; Tiedtke, NJW 2003, S. 1359 [1360 f.]). II. 1. Die Beschwerdeführerin des vorliegenden Verfahrens übernahm 1988 gegenüber der im Ausgangsrechtsstreit beklagten Bank zur Absicherung mehrerer Darlehen ihres – später von ihr geschiedenen – Ehemanns eine selbstschuldnerische Bürgschaft in Höhe von 200.000 DM. Sie widmete sich damals ausschließlich der Haushaltsführung und der Erziehung der Kinder. Nennenswertes Vermögen hatte sie nicht. 1991 kündigte die Bank die Geschäftsverbindung zum Hauptschuldner, stellte ihre Gesamtforderung fällig und nahm nach Verwertung anderer Sicherheiten die Beschwerdefüh­ rerin aus der Bürgschaft in Höhe einer Restforderung von gut 70.000 DM in Anspruch. Da die Beschwerdeführerin, die seit Ende 1990 von Sozialhil­ fe lebte, die Forderung nicht erfüllen konnte, erhob die Bank Klage, der 1992, nachdem zuvor ein Prozesskostenhilfegesuch der Beschwerdeführerin mit ausführlicher Begründung zurückgewiesen worden war, durch rechts­ kräftig gewordenes Versäumnisurteilstattgegeben wurde. 2. Nachdem 1993 die Bürgschaftsentscheidung des Bundesverfassungs­ gerichts ergangen war und die Rechtsprechung der Zivilgerichte begonnen hatte, diese Entscheidung umzusetzen (vgl. dazu oben unter A I 2), wandte



Beschluss vom 6. Dezember 2005219

sich die Beschwerdeführerin im Ausgangsverfahren im Wege der Vollstre­ ckungsabwehrklage gegen die Vollstreckung aus dem Versäumnisurteil. Das Landgericht erklärte die Zwangsvollstreckung nach § 767 ZPO in Verbin­ dung mit § 79 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (Bundesverfassungsgerichtsgesetz – BVerfGG) in der Fassung der Bekannt­ machung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) für unzulässig. Das Ober­ landesgericht wies die Klage dagegen auf die Berufung der beklagten Bank ab (NJW-RR 2001, S. 139). Die Revision der Beschwerdeführerin gegen diese Entscheidung hat der Bundesgerichtshof mit dem angegriffenen Urteil zurückgewiesen (BGHZ 151, 316): Die Revision mache zwar zu Recht geltend, dass der Bürgschaftsvertrag von 1988 auf der Grundlage der heutigen Rechtsprechung des IX. und des XI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs wegen Sittenwidrigkeit nach § 138 Abs. 1 BGB als nichtig anzusehen sei. Das im Vorprozess ergangene Ver­ säumnisurteil von 1992 habe aber damals mit der Rechtsprechung des IX. Zivilsenats in Einklang gestanden. Eine dem Bürgen günstige Änderung dieser Rechtsprechung habe für die Öffentlichkeit erkennbar erst nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 1993 eingesetzt. Die Beschwerdeführerin könne sich nicht unter Berufung auf diese Ent­ scheidung gegen die Vollstreckung des Versäumnisurteils wenden. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts enthalte keine Aussage, die die Wirkungen des § 79 Abs. 2 Satz 2 und 3 BVerfGG auslöse. Nach § 79 Abs. 1 BVerfGG sei die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen ein rechts­ kräftiges Strafurteil nicht nur im Fall einer für nichtig erklärten Norm (Alternative 2), sondern auch dann zulässig, wenn das Bundesverfassungs­ gericht die Unvereinbarkeit einer Vorschrift mit dem Grundgesetz festge­ stellt (Alternative 1) oder eine bestimmte Auslegung der Norm für grund­ gesetzwidrig erklärt habe (Alternative 3). Die beiden zuletzt genannten Fälle erwähne § 79 Abs. 2 BVerfGG nicht. Ob bei allen Entscheidungen außerhalb von Strafurteilen die Vollstre­ ckungssperre nur nach Nichtigerklärung einer Norm greife oder § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG sich auf alle in § 79 Abs. 1 BVerfGG enthaltenen Alterna­ tiven beziehe, werde in Rechtsprechung und Schrifttum unterschiedlich beurteilt. Im Gegensatz zur wohl überwiegenden Meinung, nach der § 79 Abs. 2 BVerfGG nur die Entscheidungen erfasse, die auf einer für nichtig erklärten Norm beruhen, werde in den Kommentaren zum Bundesverfas­ sungsgerichtsgesetz praktisch durchgängig die Auffassung vertreten, die weitere Vollstreckung aus einem hoheitlichen Akt sei gemäß § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG auch dann unzulässig, wenn das Bundesverfassungsgericht eine Norm oder eine bestimmte Normauslegung für mit dem Grundgesetz unvereinbar bezeichnet habe.

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9. Analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG

Selbst wenn § 79 Abs. 2 BVerfGG in diesem weiten Sinne verstanden werde, erfasse er nicht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die fachgerichtliche Entscheidungen nur wegen verfassungswidriger Anwen­ dung einer Rechtsnorm aufheben. Der Richter habe bei Auslegung und Anwendung aller Rechtsvorschriften das verfassungsrechtliche Wertsystem als interpretationsleitend zu berücksichtigen. Weise die gerichtliche Ent­ scheidung in dieser Hinsicht erhebliche Mängel auf, handele es sich nur um verfassungsrechtlich bedeutsame Subsumtionsfehler, die vom Bundesverfas­ sungsgericht im Einzelfall korrigiert werden könnten. Solche Entscheidun­ gen ließen in der Regel den Bestand der einschlägigen Norm unberührt. § 79 Abs. 2 BVerfGG setze demgegenüber normbezogene Erkenntnisse des Verfassungsgerichts voraus und verbiete daher die Vollstreckung nur aus solchen Entscheidungen, die auf einem Inhalt der Rechtsnorm beruhten, den das Bundesverfassungsgericht im Wege der verfassungskonformen Ausle­ gung ausgeschlossen habe. Eine solche Auslegung enthalte der Beschluss des Bundesverfassungsge­ richts vom 19. Oktober 1993 nicht. Er mache keine Vorgaben, wie § 765 BGB zu verstehen sei oder die §§ 138, 242 BGB auszulegen seien, sondern beanstande nur, dass sich der Bundesgerichtshof im vorausgegangenen Ver­ fahren mit der ausgeprägten Unterlegenheit der Bürgin und der von ihr geltend gemachten Beeinträchtigung ihrer Entscheidungsfreiheit nicht in der gebotenen Weise auseinander gesetzt habe. Das Bundesverfassungsgericht habe damit nur einen verfassungsrechtlichen Fehler allgemeiner Art bei der rechtlichen Subsumtion im konkreten Einzelfall festgestellt und darauf hin­ gewiesen, die Gerichte müssten in solchen Fällen klären, ob die vertragliche Regelung eine Folge strukturell ungleicher Verhandlungsstärke sei, und gegebenenfalls im Rahmen der Generalklauseln des Zivilrechts korrigierend eingreifen. Wie sie dabei zu verfahren hätten und zu welchem Ergebnis sie gelangen müssten, sei nach der Aussage des Bundesverfassungsgerichts in erster Linie eine Frage des einfachen Rechts, dem die Verfassung einen weiten Spielraum lasse. Der Beschluss vom 19. Oktober 1993 besage mithin nichts darüber, ob und unter welchen Voraussetzungen Bürgschaften wegen finanzieller Über­ forderung des Verpflichteten als nichtig anzusehen seien. Die entsprechen­ den Kriterien herauszuarbeiten, sei allein Aufgabe der Zivilgerichte gewe­ sen. Das sei erst in der Folgezeit geschehen. Dem Beschluss des Bundes­ verfassungsgerichts fehle damit eine normbezogene Aussage im Sinne des § 79 Abs. 2 BVerfGG.



Beschluss vom 6. Dezember 2005221

III. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verlet­ zung von Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG. […] IV. Zu der Verfassungsbeschwerde haben das Bundesministerium der Justiz, der Bundesfinanzhof, das Bundessozialgericht und die Beklagte des Aus­ gangsverfahrens Stellung genommen. […] B. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. I. Maßstab für die verfassungsgerichtliche Prüfung ist der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Dieser gebietet es, Gleiches gleich und Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschieden zu behandeln (vgl. BVerfGE 71, 255 [271]). Verboten ist es deshalb, Sachverhalte un­ gleich zu behandeln, wenn sich die Differenzierung sachbereichsbezogen nicht auf einen sachlich einleuchtenden Grund zurückführen oder im Hin­ blick auf Art und Gewicht vorhandener Unterschiede nicht verfassungs­ rechtlich rechtfertigen lässt (vgl. BVerfGE 93, 386 [397]; 108, 52 [67 f.] m. w. N.). Das gilt nicht nur für den Gesetzgeber, sondern auch für die Auslegung gesetzlicher Vorschriften durch die Gerichte(vgl. BVerfGE 84, 197 [199]; 99, 129 [139]; 101, 239 [269]). Dabei sind der Differenzierung auch hier umso engere Grenzen gezogen, je stärker sich die Ungleichbe­ handlung auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann (vgl. BVerfGE 92, 53 [69]; 107, 133 [141]). II. Nach diesen Grundsätzen kann das angegriffene Urteil keinen Bestand haben. Es verstößt gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, weil es den Anwendungsbereich des § 79 Abs. 2 Satz 3 in Verbindung mit Satz 2 und Satz 1 BVerfGG in einer Weise einschränkt, die zu einer verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigenden Ungleichbehandlung und durch die Vollstreckung aus verfassungswidrigen Entscheidungen zu einer Beeinträchtigung von Grundrechten führt. 1.  § 79 BVerfGG regelt in seinen Absätzen 1 und 2 die Folgen von Se­ natsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, durch die eine Rechts­ norm für verfassungswidrig erklärt wird, auf deren Grundlage Entscheidun­

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9. Analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG

gen ergangen sind, die schon rechtskräftig geworden oder auch sonst nicht mehr anfechtbar sind. Da der Gesetzgeber bei Erlass des Bundesverfas­ sungsgerichtsgesetzes im Jahre 1951 (vgl. BGBl I S. 243) davon ausging, dass die Rechtsfolge der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes dessen Nich­ tigkeit mit Wirkung ex tunc sein würde (vgl. BTDrucks I / 788, S. 34 zu § 72), sollten mit § 79 BVerfGG die Rechtsfolgen der Nichtigkeit im Inte­ resse des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit begrenzt werden (vgl. dazu die Ausführungen der Abg. Dr. Wahl [CDU] und Neumayer [FDP] in der 112. Sitzung des 1. Deutschen Bundestages am 18. Januar 1951, Sten. Ber., S. 4227 f., 4234 [B], [C], sowie schon BVerfGE 2, 380 [404 f.]; 7, 194 [195 f.]; 20, 230 [235]; 37, 217 [262]). a) Das geschah vor allem durch die bis heute unverändert gebliebene Vorschrift des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG, in der als Grundsatz (vgl. BVerfGE 7, 194 [195]; 11, 263 [265]) bestimmt ist, dass – vorbehaltlich des § 95 Abs. 2 BVerfGG oder einer besonderen gesetzlichen Regelung – nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer für nichtig erklärten Norm beruhen, unberührt bleiben, also in ihrer Existenz nicht mehr in Frage ge­ stellt werden sollen. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz machte der Gesetzgeber nur für das Strafrecht (vgl. BVerfGE 11, 263 [265]; 32, 387 [389]; 37, 217 [262]). Niemand soll gezwungen sein, den Makel einer Stra­ fe auf sich lasten zu lassen, die auf einem verfassungswidrigen Strafgesetz beruht. Deshalb hat der Gesetzgeber in § 79 Abs. 1 BVerfGG einen zusätz­ lichen Wiederaufnahmegrund geschaffen (vgl. BVerfGE 12, 338 [340]), mit Hilfe dessen es dem Verurteilten möglich sein soll, diesen Makel nach den Vorschriften der Strafprozessordnung durch Aufhebung oder Berichtigung des auf verfassungswidriger Grundlage ergangenen Strafurteils zu beseitigen (vgl. BVerfGE 15, 309 [312]). Nur in diesem Fall soll deshalb die Rechts­ kraft der Entscheidung durchbrochen werden können. Hinsichtlich aller sonstigen Hoheitsakte (Verwaltungsakte und Gerichts­ entscheidungen) verbleibt es dagegen bei dem Grundsatz des Satzes 1 von § 79 Abs. 2 BVerfGG (vgl. BVerfGE 15, 309 [312]; 37, 217 [262]; 81, 363 [384]). Doch gilt für sie, soweit aus ihnen noch nicht vollstreckt worden ist, das Verbot der Vollstreckung nach den Sätzen 2 und 3 der Vorschrift. Dabei ist, wenn die Zwangsvollstreckung nach der Zivilprozessordnung durchzu­ führen ist, § 767 ZPO entsprechend anzuwenden. Das Bundesverfassungs­ gericht hat aus diesen Regelungen und aus Satz 4 des § 79 Abs. 2 BVerfGG den allgemeinen Rechtsgedanken abgeleitet, dass einerseits zwar unanfecht­ bar gewordene Akte der öffentlichen Gewalt, die auf verfassungswidriger Grundlage zustande gekommen sind, nicht rückwirkend aufgehoben und die nachteiligen Wirkungen, die in der Vergangenheit von ihnen ausgegangen sind, nicht beseitigt werden, andererseits jedoch zukünftige Folgen, die sich aus einer zwangsweisen Durchsetzung verfassungswidriger Entscheidungen



Beschluss vom 6. Dezember 2005223

ergeben würden, abgewendet werden sollen (vgl. BVerfGE 20, 230 [236]; 37, 217 [263]; 91, 83 [90 f.]; 97, 35 [48]). b) An dieser Zielrichtung und Systematik hat sich nichts dadurch geän­ dert, dass der Gesetzgeber mit dem Vierten Gesetz zur Änderung des Ge­ setzes über das Bundesverfassungsgericht vom 21. Dezember 1970 (BGBl I S. 1765) § 79 Abs. 1 BVerfGG geändert und dieser Vorschrift ihre bis heute gültige Fassung gegeben hat. aa)  Nach der Neufassung ist die Möglichkeit der Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens nicht mehr – wie bis zum InKraft-Treten des Änderungsgesetzes – auf den Fall beschränkt, dass das in dem Strafverfahren ergangene Urteil auf einer vom Bundesverfassungsge­ richt für nichtig erklärten Strafnorm beruht. Wiederaufnahmefähig sind vielmehr jetzt ausdrücklich auch die Verfahren, in denen das rechtskräftige Strafurteil auf der Grundlage einer Norm oder einer Normauslegung ergan­ gen ist, die vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grund­ gesetz erklärt worden ist. Diese Regelung, die in dem von der Bundesregierung vorgelegten Ent­ wurf des Änderungsgesetzes noch nicht enthalten war (vgl. BTDrucks VI / 388, S. 3), geht auf einen Vorschlag des Rechtsausschusses des Deut­ schen Bundestages zurück. Der Ausschuss hielt die Gesetzesänderung für notwendig, weil – unter den Strafgerichten in Verfahren gegen Kriegsdienst­ verweigerer (vgl. die Ausführungen des Abg. Dr. Arndt [SPD] in der 81. Sitzung des 6. Deutschen Bundestages am 2. Dezember 1970, Sten. Ber., S. 4597 [A]) – umstritten war, ob auch dann ein Wiederaufnahmever­ fahren möglich ist, wenn das rechtskräftige Strafurteil auf der Auslegung einer Rechtsnorm beruht, die vom Bundesverfassungsgericht für verfas­ sungswidrig erklärt worden ist. Er war der Auffassung, dass dieser Fall für die Wiederaufnahme des Strafverfahrens der Nichtigerklärung einer Rechts­ norm gleichzusetzen sei. Sachlich bestehe kein wesentlicher Unterschied darin, ob ein Strafurteil auf einer verfassungswidrigen Rechtsanwendung oder auf einer verfassungswidrigen Rechtsnorm beruhe. Nur der Klarstel­ lung diene schließlich die ausdrückliche Einbeziehung auch des Falles, dass eine Rechtsnorm vom Bundesverfassungsgericht nicht für nichtig, sondern für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden sei (vgl. BTDrucks VI / 1471, S. 6 zu Art. 1 Nr. 15 a). bb)  Dass diese Ergänzung im Gesamtkonzept des § 79 BVerfGG auf den Ausnahmefall des Absatzes 1 beschränkt bleiben, also nicht auch den Grundsatz des Absatzes 2 Satz 1 erfassen und damit auch nicht für die daran anknüpfenden Vollstreckungsverbote der Sätze 2 und 3 gelten soll, lässt sich den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen. Ein Grund für eine solche Beschränkung ist auch sonst nicht erkennbar. Im Gegenteil wäre es

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9. Analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG

geradezu ungereimt, nur die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf einer für nichtig erklärten Norm beruhen, nach § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG unberührt zu lassen und sie lediglich den Vollstreckungsverboten gemäß § 79 Abs. 2 Satz 2 und 3 BVerfGG zu unterstellen, dagegen die anderen in § 79 Abs. 1 BVerfGG neuer Fassung als rechtsähnlich angesehe­ nen Fälle der Unvereinbarerklärung und der verfassungswidrigen Auslegung schon vom Bestandsschutz des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG auszunehmen. Es ist nach allem anzunehmen, dass die Regelungslücke, die Absatz 2 des § 79 BVerfGG seinem Wortlaut nach im Vergleich zu Absatz 1 seit dessen Änderung aufweist, vom Gesetzgeber nicht erkannt wurde, als er der Emp­ fehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages zur Ausweitung des Absatzes 1 folgte, und dass sie, wenn der Gesetzgeber sie erkannt hätte, so geschlossen worden wäre, dass das Grundsatz-Ausnahmeverhältnis von Absatz 2 zu Absatz 1 in vollem Umfang weiter gewahrt bleibt. Davon ist wie selbstverständlich auch das Bundesverfassungsgericht ausgegangen, als es ausgesprochen hat, § 79 Abs. 2 BVerfGG sei analog anzuwenden, wenn das Bundesverfassungsgericht nicht auf Nichtigkeit einer Norm erkannt, sondern sich darauf beschränkt hat, deren Unvereinbarkeit mit dem Grund­ gesetz festzustellen (vgl. BVerfGE 37, 217 [262 f.]; 81, 363 [384]). Nichts anderes gilt, wenn das Bundesverfassungsgericht nicht die Norm selbst, sondern deren Auslegung für unvereinbar mit dem Grundgesetz er­ klärt hat. Wie im Rahmen des § 79 Abs. 1 BVerfGG [vgl. vorstehend unter B. II. 1. b) aa)] macht es auch im Anwendungsbereich des § 79 Abs. 2 BVerfGG sachlich keinen wesentlichen Unterschied, ob eine nicht mehr anfechtbare Entscheidung im Sinne dieser Regelung auf der verfassungs­ widrigen Auslegung einer Rechtsnorm oder auf einer verfassungswidrigen Vorschrift beruht. Im ersten Fall hat das Bundesverfassungsgericht, wenn von mehreren nach den anerkannten Auslegungsgrundsätzen möglichen Deutungen des Norminhalts wenigstens eine mit dem Grundgesetz überein­ stimmt, die Norm als solche nicht beanstandet, sie vielmehr verfassungs­ konform ausgelegt und nur die als verfassungswidrig erkannte Interpreta­ tionsvariante verworfen (vgl. zur verfassungskonformen Auslegung allge­ mein etwa BVerfGE 40, 88 [94]; 64, 229 [242]; 83, 201 [214 f.]; speziell zum Zweck der Aufrechterhaltung eines aus mehreren Teilen bestehenden, aufeinander abgestimmten Regelungssystems auch BVerfGE 86, 288 [320 f.]). Für die Zukunft bleibt diese Variante wie die nichtige und die mit dem Grundgesetz nicht vereinbare Bestimmung in den Fällen der Nichtigund der Unvereinbarerklärung von der weiteren Rechtsanwendung ausge­ schlossen. Wenn dieser Umstand den Gesetzgeber – ungeachtet der unter­ schiedlichen Rechtswirkungen nach § 31 Abs. 2 Satz 2 und § 31 Abs. 1 BVerfGG – im Rahmen des § 79 Abs. 1 BVerfGG bewogen hat, den Fall der verfassungswidrigen Auslegung neben der Nichtig- und der Unverein­



Beschluss vom 6. Dezember 2005225

barerklärung in den Anwendungsbereich der Vorschrift aufzunehmen, ist es zur Vermeidung einer inhaltlichen Widersprüchlichkeit und damit zur Wah­ rung des Grundsatz-Ausnahmeverhältnisses der Absätze 2 und 1 von § 79 BVerfGG geboten, bei Satz 1 und den Anschlussregelungen in den Sätzen 2 und 3 des § 79 Abs. 2 BVerfGG genau so zu verfahren. § 79 Abs. 2 BVerfGG ist deshalb analog auch dann anzuwenden, wenn eine nicht mehr anfechtbare Entscheidung auf einer Auslegungsvariante beruht, deren Ver­ fassungswidrigkeit das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat. c)  Die Entscheidung zu B. II. 1. b) ist mit 7 : 1 Stimmen ergangen. 2. Von der analogen Anwendung des § 79 Abs. 2 BVerfGG und speziell seines Satzes 3 können auch Entscheidungen nicht grundsätzlich ausge­ nommen werden, durch welche die Zivilgerichte, wie in der Bürgschafts­ entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 1993, ange­ halten werden, bei der Auslegung und Anwendung von Generalklauseln und sonstigen auslegungsbedürftigen Regelungstatbeständen des bürger­ lichen Rechts die jeweils einschlägigen Grundrechte interpretationsleitend zu berücksichtigen, damit deren wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 7, 198 [205 ff.]; 99, 185 [196]). Zwar bestehen zwischen dieser Art, die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das einfache Recht durchzusetzen, und den Fällen, in denen das Bundesverfassungsgericht den Fachgerichten die verfassungs­ konforme Auslegung einer Regelung vorgibt, Unterschiede. Sie sind jedoch im Hinblick auf den Grundrechtsschutz nicht von solcher Art und solchem Gewicht, dass sie die Ungleichbehandlung derjenigen, die von Entschei­ dungen des Bundesverfassungsgerichts der einen oder der anderen Art be­ troffen werden, rechtfertigen könnten. Vielmehr sind die beiden Fallkons­ tellationen einander hinsichtlich der Gewährung von Grundrechtsschutz so ähnlich, dass sie im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz gleich behandelt werden müssen. a) Dies gilt allerdings nur, wenn das Bundesverfassungsgericht, anders als der Bundesgerichtshof im angegriffenen Urteil annimmt, wie in der Bürgschaftsentscheidung vom 19. Oktober 1993 nicht nur die Verfehlung verfassungsrechtlicher Vorgaben bei der rechtlichen Subsumtion im Einzel­ fall beanstandet, sondern für die Auslegung des bürgerlichen Rechts über den Einzelfall hinausreichende Maßstäbe setzt, an welche die Zivilgerichte bei ihrer künftigen Rechtsprechung in gleichgelagerten Fällen ebenso ge­ bunden sind, wie wenn das Bundesverfassungsgericht eine Rechtsvorschrift verfassungskonform in der Weise auslegt, dass es die verfassungswidrige Interpretationsmöglichkeit ausschließt (vgl. BVerfGE 40, 88 [94]). Rechtsvorschriften, die, wie die Generalklauseln der §§ 138 und 242 BGB, das jeweilige Rechtsgebiet unmittelbar beherrschen, sind so zu kon­

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9. Analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG

kretisieren, dass die Grundrechte als „Richtlinien“ in das Zivilrecht hinein­ wirken können (vgl. BVerfGE 89, 214 [229]). Speziell für das Vertrags- und das Bürgschaftsrecht hat das Bundesverfassungsgericht weiter klargestellt, dass Privatautonomie die Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben voraussetzt, dass die Vertragsfreiheit nur im Falle eines annähernd ausgewo­ genen Kräfteverhältnisses der Vertragspartner als Mittel eines angemessenen Interessenausgleichs geeignet ist und dass es zu den Hauptaufgaben des geltenden Zivilrechts gehört, auf strukturelle Störungen des Verhandlungs­ gleichgewichts angemessen zu reagieren (vgl. BVerfGE 89, 214 [231 ff.]; für Eheverträge siehe auch, daran anknüpfend, BVerfGE 103, 89 [100]). Damit hat das Bundesverfassungsgericht den Begriffen „gute Sitten“, „Verkehrssitte“ sowie „Treu und Glauben“ in den §§ 138 und 242 BGB mit Bezug auf Bürgschaftsverträge auch für die Rechtsanwendung in anderen Fällen reproduzierbare – und für die Zivilgerichte verbindliche – Konturen gegeben. Zugleich hat das Gericht Gesichtspunkte herausgearbeitet, aus denen sich eine strukturelle Störung des Verhandlungsgleichgewichts erge­ ben kann. Insoweit kann maßgeblich sein, wer den Vertrag als Bürge abge­ schlossen hat, wie alt dieser im Zeitpunkt des Vertragsschlusses gewesen ist, in welchen wirtschaftlichen Verhältnissen er sich dabei befunden und welche Ausbildung er genossen hat. Für die rechtliche Beurteilung wesentlich ist weiter, ob der Bürge in geschäftlichen Dingen unerfahren gewesen und auf welche Weise der Vertrag zustande gekommen ist, wie sich der Bürgschafts­ gläubiger dabei verhalten hat, wie hoch das vom Bürgen übernommene Haftungsrisiko gewesen ist und ob dieser im Fall der Kreditsicherung an dem Kredit ein eigenes wirtschaftliches Interesse hatte (vgl. BVerfGE 89, 214 [230 f., 234 f.]). Der sich aus der von Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Privatautonomie erge­ bende Maßstab des gebotenen Ausgleichs zwischen strukturell ungleichen Verhandlungssituationen hat durch diese Rechtsprechung eine für die Rechtsanwendung bedeutsame Konkretisierung erfahren, die der künftigen Rechtsprechung der Zivilgerichte für die Beurteilung von Bürgschaftsfällen der hier in Rede stehenden Art abstrakt-generell und auf vorhersehbare Weise den Weg weist. Sie zwingt die Gerichte zu einer Verfeinerung und Konkretisierung der einschlägigen zivilrechtlichen Normen und hat insoweit dazu geführt, dass im Rahmen der Generalklausel des § 138 Abs. 1 BGB rechtssatzmäßig typisierbare Fallgruppen (vgl. BVerfGE 89, 214 [232]) ge­ bildet worden sind, die der weiteren Rechtsanwendung zugrunde gelegt werden können. Dies unterscheidet sich, auch wenn die abschließende Fest­ legung und Normausfüllung Sache der Zivilgerichte bleibt (vgl. BVerfGE 89, 214 [234]), hinsichtlich des Grundrechtsschutzes nicht von der verfas­ sungskonformen Auslegung einer Rechtsvorschrift im genannten herkömm­ lichen Sinne (vgl. auch Simon, EuGRZ 1974, S. 85 [86]). Die Sicherung



Beschluss vom 6. Dezember 2005227

des Grundrechtsschutzes auch für denjenigen, dessen Grundrecht verletzt wurde, weil ein Gericht die Rechtsprechung zur verfassungsgemäßen Kon­ kretisierung der betroffenen unbestimmten Rechtsbegriffe des Bürgerlichen Gesetzbuches noch nicht berücksichtigen konnte, ist unter dem Gesichts­ punkt des nach § 79 Abs. 2 Satz 2 und 3 BVerfGG zu gewährenden Voll­ streckungsschutzes ein Gebot der Gleichbehandlung. Im Lichte des allge­ meinen Gleichheitssatzes ist es deshalb verfassungsrechtlich nicht gerecht­ fertigt, den Fall der die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte sichernden Auslegung von zivilrechtlichen Generalklauseln und unbestimmten Rechts­ begriffen im Rahmen des § 79 Abs. 2 Satz 3 in Verbindung mit Satz 2 und Satz 1 BVerfGG anders zu behandeln als den Fall der verfassungskonformen Auslegung. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass sich eine unterschiedliche Be­ handlung nachteilig auf die grundrechtlich geschützte Vertragsfreiheit aus­ wirken würde. Wie der Bundesgerichtshof im Fall der Beschwerdeführerin angenommen hat, ist der von dieser geschlossene Bürgschaftsvertrag wegen Sittenwidrigkeit nach § 138 Abs. 1 BGB als nichtig anzusehen. Das gegen die Beschwerdeführerin gleichwohl erlassene Versäumnisurteil von 1992 verstößt gegen die durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Privatautonomie, weil es diese Gewährleistung bei der Konkretisierung und Anwendung des § 138 BGB nicht beachtet hat. Derartige Grundrechtsverstöße würden durch die Vollstreckung aus solchen Entscheidungen perpetuiert und die Vertrags­ freiheit des betroffenen strukturell unterlegenen Bürgen insoweit aufs Neue beeinträchtigt, wenn der Fall, dass das Bundesverfassungsgericht die Zivil­ gerichte in der geschilderten Weise maßstabbildend zur Durchsetzung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG im Rahmen des Zivilrechts angehalten hat, nicht in den Anwendungsbereich des § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG ein­ bezogen würde. Das hat solches Gewicht, dass es sich mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht vereinbaren lässt, den Fall der grundrechtsgeleiteten Konkretisierung auslegungsfähiger Zivilrechtsbegriffe anders als den Fall der Unvereinbar­ erklärung einer bestimmten Rechtsnormauslegung mit dem Grundgesetz von der Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG auszuschließen. b)  Das Fehlen eines hinreichenden Normbezugs kann danach, anders als der Bundesgerichtshof annimmt, einer Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG auf Fälle der vorliegenden Art ebenfalls nicht entgegengehalten werden. Auch bei der verfassungskonformen Auslegung einer Rechtsvor­ schrift lassen die normbezogenen Aussagen der verfassungsgerichtlichen Entscheidung den Normtext selbst unberührt. Der Normbezug beschränkt sich darauf, die Reichweite der interpretierten Vorschrift ohne Normtext­ änderung auf den verfassungskonformen Gehalt der Regelung auch für die Anwendung in anderen Rechtsfällen zu reduzieren. Ähnlich verhält es sich bei den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, deren Ziel es ist,

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9. Analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG

wie im Fall der Bürgschaftsentscheidung vom 19. Oktober 1993, die Grund­ rechte im Bereich des Zivilrechts über dessen Generalklauseln und unbe­ stimmte Rechtsbegriffe interpretationsleitend zur Geltung zu bringen. Auch dabei wird der Wortlaut der maßgeblichen Vorschrift nicht verändert, wohl aber ihr Inhalt durch Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts für typisier­ bare Fallgestaltungen (vgl. BVerfGE 89, 214 [232]) konkretisiert und damit auch für die Entscheidung anderer Fälle nutzbar gemacht. Das reicht für die Annahme des in § 79 Abs. 2 Satz 3 in Verbindung mit Satz 2 und Satz 1 BVerfGG vorausgesetzten Normbezugs aus. c) Der analogen Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG auf Ent­ scheidungen des Bundesverfassungsgerichts mit dem hier zugrunde liegen­ den Inhalt steht schließlich auch nicht entgegen, dass der von der Beschwer­ deführerin 1988 geschlossene Bürgschaftsvertrag nach der Beurteilung des Bundesgerichtshofs zwar auf der Grundlage der heutigen, durch die Bürg­ schaftsentscheidung vom 19. Oktober 1993 veranlassten Rechtsprechung seines IX. und XI. Zivilsenats wegen Sittenwidrigkeit nach § 138 BGB als nichtig anzusehen ist, das zum Nachteil der Beschwerdeführerin ergangene Versäumnisurteil aber, wie das Revisionsgericht ebenfalls ausgeführt hat, im Jahre 1992 mit der Rechtsprechung des für das Bürgschaftsrecht zuständi­ gen Senats des Bundesgerichtshofs in Einklang stand. Gemäß Satz 3 des § 79 Abs. 2 BVerfGG gilt für nicht mehr anfechtbare Entscheidungen im Sinne des Satzes 1, deren zwangsweise Vollstreckung nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung durchzuführen ist, § 767 ZPO entsprechend. Nach dessen Absatz 1 sind Einwendungen, die den durch das zu vollstreckende Urteil festgestellten Anspruch selbst betreffen, vom Schuldner im Wege der (Vollstreckungsabwehr)Klage bei dem Prozess­ gericht des ersten Rechtszuges geltend zu machen. Derartige Einwendungen sind zufolge Absatz 2 allerdings nur insoweit zulässig, als die Gründe, auf denen die Einwendungen beruhen, erst nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung, in der Einwendungen nach der Zivilprozessordnung spätestens hätten geltend gemacht werden müssen, entstanden sind und durch Ein­ spruch nicht mehr geltend gemacht werden können. Es muss sich also um Gegengründe handeln, die gegen den dem Vollstreckungstitel zugrunde lie­ genden Anspruch in dem in § 767 Abs. 2 ZPO bestimmten Zeitrahmen noch nicht vorgebracht werden konnten, weil sie erst danach entstanden sind. Bei den Einwendungen, die auf der Bürgschaftsentscheidung des Bundes­ verfassungsgerichts vom 19. Oktober 1993 gründen, ist diese Voraussetzung für eine entsprechende Anwendung des § 767 ZPO erfüllt. Sie konnten 1992, als das Versäumnisurteil gegen die Beschwerdeführerin erlassen wur­ de, noch nicht geltend gemacht werden, weil die Maßstäbe, aus denen diese Einwendungen heute abgeleitet werden können, damals vom Bundes­



Abweichende Meinung Haas229

verfassungsgericht noch nicht entwickelt und den Zivilgerichten noch nicht verbindlich vorgegeben worden waren. Das hat sich inzwischen geändert. Auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts steht auch nach Auffassung des Bundesgerichtshofs nunmehr fest, dass Entschei­ dungen, wie das gegen die Beschwerdeführerin ergangene Versäumnisurteil, mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren sind. Soweit für eine solche Feststellung im Einzelfall noch rechtliche Konkretisierungen und tatsächli­ che Ermittlungen durch die Zivilgerichte notwendig sind, weist § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG mit dem Verweis auf die Vollstreckungsabwehrklage hier­ für den Weg. Das danach eröffnete Verfahren ist geeignet, auch schwierige materiellrechtliche Fragen im Verhältnis von Vollstreckungsschuldner und Vollstreckungsgläubiger zu klären (vgl. Münzberg, in: Stein / Jonas, Zivilpro­ zessordnung, 22. Aufl., Bd. 7, 2002, § 767 Rn. 15). Die Begrenzung in § 767 Abs. 2 ZPO stellt sicher, dass dabei das Erkenntnisverfahren nicht in vollem Umfang wiederholt wird. d)  Die Entscheidung zu B. II. 2. ist mit 5 : 3 Stimmen ergangen. III. Das angegriffene Urteil ist danach gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuhe­ ben, die Sache an den Bundesgerichtshof zurückzuverweisen. […] Abweichende Meinung der Richterin Haas zum Beschluss des Ersten Senats vom 6. Dezember 2005 – 1 BvR 1905 / 02 (BVerfGE 115, 72) Der Entscheidung der Senatsmehrheit stimme ich nicht zu. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Eine verfas­ sungsrechtliche Pflicht zur analogen Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, mit denen die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das einfache Recht durchgesetzt wird, besteht nicht.   1. Die Senatsmehrheit hält zunächst eine analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG auf Entscheidungen für notwendig, die auf der vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Auslegung einer Norm beruhen. § 79 Abs. 2 BVerfGG enthalte insoweit eine Regelungs­ lücke, die sich aus einem Vergleich mit § 79 Abs. 1 BVerfGG ergebe. Diese müsse durch eine Analogie geschlossen werden, damit das Grundsatz-Aus­ nahmeverhältnis von Absatz 2 zu Absatz 1 weiter gewahrt bleibe. a)  Diese Begründung überzeugt nicht. § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ent­ hält die grundsätzliche Entscheidung des Gesetzgebers, dass nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer für nichtig erklärten Norm beru­

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hen, unberührt bleiben. Von diesem Grundsatz nimmt § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG noch nicht vollstreckte Entscheidungen aus, indem die Vollstre­ ckung aus einer solchen Entscheidung für unzulässig erklärt wird. Eine weitere, rechtsgebietsbezogene Ausnahme macht § 79 Abs. 1 BVerfGG für rechtskräftige Strafurteile. Beruhen diese auf einer für nichtig erklärten Norm, ist die Wiederaufnahme des Verfahrens nach den Vorschriften der Strafprozessordnung zulässig. Durch das Vierte Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 21. Dezember 1970 sind die Tatbestandsvoraussetzungen der Ausnahmevorschrift des § 79 Abs. 1 BVerfGG um die Fälle der Unvereinbarkeitserklärung und der verfassungs­ konformen Auslegung erweitert worden. Der Anwendungsbereich der Aus­ nahmevorschrift ist damit im Vergleich zu der Grundregel des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ausgedehnt worden. Hieraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass entsprechend auch der Anwendungsbereich der Grundregel des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG erweitert werden müsste. Die Erweiterung des § 79 Abs. 1 BVerfGG setzt die in dieser Regelung enthaltene Privilegierung strafrechtlich Verurteilter gegenüber sonstigen von nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen Betroffener fort. Sie gründet sich, wie bereits die Einräu­ mung der Wiederaufnahmemöglichkeit in der ursprünglichen Fassung des § 79 Abs. 1 BVerfGG, auf die besondere Belastung, die in einer strafrecht­ lichen Verurteilung liegt. Dieser besonderen Belastung entspricht eine be­ vorzugte Einräumung von Wiederaufnahmemöglichkeiten. Diese Wertung lässt sich auf die Fälle des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG nicht übertragen. Allein aus dem formalen Umstand, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 79 Abs. 1 BVerfGG gegenüber denjenigen des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG erweitert worden sind, kann daher keine Lückenhaftigkeit des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG abgeleitet werden. Das Grundsatz-Ausnahmeverhältnis von § 79 Abs. 2 und Abs. 1 BVerfGG bleibt auch ohne eine analoge Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG gewahrt. Zudem dürfte der Umstand, dass nur der Absatz 1 nicht aber der unmittelbar fol­ gende Absatz 2 derselben Vorschrift ergänzt wurde, eher positiv dafür spre­ chen, dass der Gesetzgeber lediglich den Ausnahmetatbestand erweitern wollte. Es ist schlechthin nicht erklärlich, weshalb der Gesetzgeber bei – unterstellt – umfassender Regelungsabsicht ausgerechnet die dem Ab­ satz 1 folgende Grundregel des Absatzes 2 übersehen haben sollte. Die Senatsmehrheit bleibt ein positives Argument für die Lückenhaftig­ keit des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG schuldig. Sie belässt es zunächst bei der negativen Feststellung, dass sich ein Grund für die „Beschränkung“ des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG aus den Gesetzesmaterialien nicht ergebe und auch sonst nicht ersichtlich sei. Sodann wird ausgeführt, der Gesetzgeber habe nicht bemerkt, dass die Erweiterung des § 79 Abs. 1 BVerfGG auch eine Ergänzung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG erforderlich mache und er



Abweichende Meinung Haas231

andernfalls die Ergänzung selbst vorgenommen hätte. Die Annahme einer Gesetzeslücke bedarf jedoch einer positiven Begründung. Denn als Geset­ zesergänzung durch die Rechtsprechung ist die analoge Anwendung einer Rechtsnorm nur unter engen Voraussetzungen möglich. Eine Analogie setzt voraus, dass eine vom Gesetzgeber unbeabsichtigt gelassene Lücke vorliegt und diese Planwidrigkeit aufgrund konkreter Umstände positiv festgestellt werden kann, andernfalls sonst jedes Schweigen des Gesetzgebers – und das ist der Normalfall, wenn er etwas nicht regeln will – als planwidrige Lücke im Wege der Analogie von den Gerichten ausgefüllt werden könnte (vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983, S. 51). Dem wird die Senatsmehrheit nicht gerecht. Entgegen der Auffassung der Senatsmehrheit ist die durch das Bundesver­ fassungsgericht in früheren Entscheidungen befürwortete analoge Anwen­ dung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG auf Entscheidungen, die auf einer nur für unvereinbar erklärten Norm beruhen, für die Begründung einer analogen Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG auf Entscheidungen, die auf einer für verfassungswidrig erklärten Auslegung einer Norm beruhen, ohne Bedeutung. Bei der Unvereinbarkeitserklärung handelt es sich um eine ein­ geschränkte Nichtigerklärung, die in Fällen erfolgt, in denen die Vorausset­ zungen einer Nichtigerklärung vorliegen, die jedoch den in bestimmten Fällen mit einer Nichtigerklärung verbundenen Eingriff in die gesetzgeberi­ sche Gestaltungsfreiheit vermeidet (vgl. M. Graßhof, in: Umbach / Clemens /  Dollinger, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005, § 78 Rn. 57 ff.). Die analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG auf Fälle der Unvereinbarkeitserklärung beruht also auf der inhaltlichen Ähnlichkeit bei­ der Tenorierungsformen. Diese Ähnlichkeit müsste auch im Verhältnis zur verfassungswidrigen Auslegung bestehen, damit eine analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG auf diese gerechtfertigt werden könnte. Der bloße Umstand, dass § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG auf die Unvereinbar­ keitserklärung analog angewendet wird, ist dagegen belanglos. Im Übrigen spielte – entgegen dem Eindruck, den die Begründung der Senatsmehrheit vermittelt – in den von der Senatsmehrheit zitierten Entscheidungen zur analogen Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG auf die Unvereinbar­ keitserklärung das Grundsatz-Ausnahmeverhältnis von § 79 Abs. 2 und Abs. 1 BVerfGG keinerlei Rolle. Die Meinung der Senatsmehrheit, es sei geradezu ungereimt, nur die rechtskräftigen Entscheidungen, die auf einer für nichtig erklärten Norm beruhen, nach § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG unberührt zu lassen und ledig­ lich den Vollstreckungsverboten gemäß § 79 Abs. 2 Satz 2 und 3 BVerfGG zu unterstellen, die anderen in § 79 Abs. 1 BVerfGG neuer Fassung als rechtsähnlich angesehenen Fälle der Unvereinbarerklärung und der verfas­ sungswidrigen Auslegung dagegen schon vom Bestandsschutz des § 79

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9. Analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG

Abs. 2 Satz 1 BVerfGG auszunehmen, bleibt ohne Rechtfertigung und ohne Bezug zur Gesamtrechtsordnung. Sie berücksichtigt insbesondere nicht, dass die Bestimmung des § 79 Abs. 1 BVerfGG eine Ausnahme nur für den be­ sonders gelagerten Fall der Korrektur rechtskräftiger strafrechtlicher Verur­ teilungen regelt. Wegen der Sensibilität der Materie und der einschneidenden Wirkung des staatlichen Eingriffs für den Betroffenen sind die Vorausset­ zungen für die ausnahmsweise angeordnete Durchbrechung der Rechtskraft (Wiederaufnahme) in diesen Fällen weit gefasst. Mit der Wertung einer Rechtslage als ungereimt in Bezug auf § 79 Abs. 2 BVerfGG bringt die Senatsmehrheit lediglich ihre rechtspolitische Vorstellung von einer in ihrem Sinne zu optimierenden Rechtslage zum Ausdruck. Als Begründung für eine planwidrige Gesetzeslücke reicht dies nicht. Vielmehr bedarf es gerade in Abgrenzung von rechtspolitischen Vorstellungen gegenüber der Begründung einer Gesetzeslücke eines Mehr, das über die lediglich subjektive Einschät­ zung des Rechtsanwenders von einer „gelungenen“ Rechtsgestaltung hin­ ausgeht und das die Erkenntnis vermittelt, was die Regelungsabsicht des Gesetzgebers war. Die lediglich rechtspolitischen Erwägungen der Senats­ mehrheit vermögen daher eine planwidrige Gesetzeslücke methodologisch nicht zu begründen. b) Neben der Darlegung einer planwidrigen Gesetzeslücke – an der es hier, wie ausgeführt, mangelt – erfordert die analoge Anwendung der für einen Tatbestand im Gesetz gegebenen Regel auf einen vom Gesetz nicht geregelten Tatbestand die Begründung, dass beide Tatbestände infolge ihrer Ähnlichkeit in den für die gesetzliche Bewertung maßgebenden Hinsichten gleich zu bewerten sind (vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissen­ schaft, 6. Aufl., 1991, S. 381). Auch insoweit überzeugen die Ausführungen der Senatsmehrheit nicht. Sie stützt sich ausschließlich auf die Überlegung, dass die als verfassungs­ widrig erkannte Auslegungsvariante wie die nichtige Norm im Fall der Nichtigerklärung von der weiteren Rechtsanwendung ausgeschlossen sei. Diese Folgen entsprächen einander so sehr, dass es verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt werden könne, beide Fälle unterschiedlich zu behandeln. Durch den untechnischen Begriff des „Ausschlusses von der weiteren Rechtsanwendung“ werden die fundamentalen Unterschiede zwischen der Nichtigerklärung eines Gesetzes und dem Ergebnis der verfassungsrecht­ lichen Prüfung einer einfach-rechtlichen Gesetzesauslegung verwischt. Bei der Nichtigerklärung wird die Geltung eines Gesetzes aufgehoben; bei der Feststellung, dass eine bestimmte Gesetzesauslegung verfassungswidrig ist, bleibt das Gesetz gerade in Kraft. Hinsichtlich förmlicher und nachkonsti­ tutioneller Gesetze des Bundes und der Länder kann die Nichtigerklärung ausschließlich durch das Bundesverfassungsgericht oder die Verfassungs­



Abweichende Meinung Haas233

gerichte der Länder erfolgen; zu der Verwerfung einer Auslegungsvariante als verfassungswidrig und korrespondierend zu der Entscheidung zugunsten einer verfassungsmäßigen Auslegungsvariante ist jeder Rechtsanwender berechtigt und auch verpflichtet. Die Nichtigerklärung eines Gesetzes hat nach § 31 Abs. 2 Satz 1 und 2 BVerfGG Gesetzeskraft; die von dem Bun­ desverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärte Auslegungsvariante ist nur in der Weise von der weiteren Rechtsanwendung „ausgeschlossen“, wie dies bei jedem anderen Verfassungsverstoß auch der Fall ist: Aufgrund § 31 Abs. 1 BVerfGG sind die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden an die Entscheidungen des Bundesverfas­ sungsgerichts gebunden und damit an einer Wiederholung eines durch das Bundesverfassungsgericht festgestellten Verfassungsverstoßes in einem an­ deren Verfahren gehindert. Entfällt durch die Nichtigerklärung rückwirkend die Geltung eines Gesetzes, drängt sich die Frage auf, inwiefern hiervon die aufgrund des Gesetzes ergangenen, nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen betroffen sind. Diese Situation regelt § 79 Abs. 2 BVerfGG. Stellt das Bun­ desverfassungsgericht dagegen nur fest, dass eine Entscheidung auf einer verfassungswidrigen Auslegung einer Rechtsnorm beruht und hebt es diese Entscheidung auf, gelten hinsichtlich anderer, nicht verfahrensgegenständ­ licher Entscheidungen, die nicht mehr anfechtbar sind und die auf der gleichen Grundrechtsverletzung beruhen, die allgemeinen Regeln über die Rechtskraft und ihre Durchbrechung, wie sie etwa auch auf die Entschei­ dungen der obersten Bundesgerichte Anwendung finden. Danach kann eine nicht mehr anfechtbare Entscheidung auch dann vollstreckt werden, wenn ein anderes Gericht in einem anderen Verfahren einen Rechtsmangel fest­ stellt, an dem auch die zu vollstreckende Entscheidung leidet, der jedoch von dem Betroffenen oder den Gerichten vor Eintritt der Unanfechtbarkeit nicht geltend gemacht oder erkannt worden war. Diese Unterscheidung zwischen den Rechtsfolgen der Nichtigerklärung eines Gesetzes in § 79 Abs. 2 BVerfGG und den Rechtsfolgen einer sonsti­ gen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, für die das Bundesverfas­ sungsgerichtsgesetz keine speziellen Regelungen enthält, knüpft zum einen an den abstrakt-generellen Charakter von Gesetzen an, die auf eine Umset­ zung in Sekundärakten angelegt sind und deren rückwirkende Nichtigerklä­ rung daher auch Auswirkungen auf diese Sekundärakte haben soll. Zum anderen berücksichtigt die unterschiedliche Regelung das Wesen der Recht­ sprechung außerhalb von Normenkontrollverfahren als Entscheidung von Einzelfällen mit lediglich mittelbarer Auswirkung auf zukünftige andere Verfahren, die ohne Rückwirkung auf nicht mehr anfechtbare Entscheidun­ gen bleibt. Der Gesetzgeber könnte diese Rechtsfolgen in anderer Weise ausgestal­ ten. Für die de lege lata getroffene Differenzierung zwischen den Rechts­

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9. Analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG

folgen der Nichtigerklärung in § 79 Abs. 2 BVerfGG und den Rechtsfolgen sonstiger Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts besteht jedoch aufgrund der dargelegten Unterschiede ein hinreichender sachlicher Grund, der die Annahme eines Gleichheitsverstoßes ausschließt. Die Senatsmehr­ heit kann sich deshalb auch nicht darauf berufen, dass die von ihr befür­ wortete Analogie zur Vermeidung von Widersprüchen zwischen § 79 Abs. 1 und Abs. 2 BVerfGG erforderlich sei. 2. Die Senatsmehrheit nimmt dann eine weitere, doppelte Analogie vor. Die analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG auf Entscheidun­ gen des Bundesverfassungsgerichts, die eine verfassungskonforme Ausle­ gung enthalten, soll wiederum analog erstreckt werden auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, welche die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das einfache Recht durchsetzen. Um die Feststellung einer planwidrigen Regelungslücke bemüht sich die Senatsmehrheit hier nicht mehr. Die Vergleichbarkeit beider Tatbestände wird erneut darin gesehen, dass die Zivilgerichte (gemeint ist sicherlich die gesamte Fachgerichtsbarkeit, da Grundrechte nicht nur in das Zivilrecht ausstrahlen) bei ihrer künftigen Rechtsprechung an beide Typen verfas­ sungsgerichtlicher Entscheidungen in gleicher Weise gebunden seien. Auch hier wird die Analogie also nur mit der Möglichkeit begründet, aus verfassungsgerichtlichen Einzelfallentscheidungen – wie aus jeder Gerichts­ entscheidung – allgemeine Rechtssätze zu abstrahieren, die allerdings nach § 31 Abs. 1 BVerfGG bindend sind. § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG wird damit auf sämtliche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts anwendbar. Auf dem Weg über die doppelte Analogie löst sich die Senatsmehrheit völ­ lig von dem normativen Ausgangspunkt, einer Bestimmung gerade der Folgen der Nichtigerklärung, um rechtsschöpferisch zu einer allgemeinen Regelung der Folgen nach § 31 Abs. 1 BVerfGG bindender verfassungsge­ richtlicher Entscheidungen zu gelangen. Die Unterschiede zwischen einer verfassungskonformen Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht und Entscheidungen, in denen die Ausstrah­ lungswirkung der Grundrechte maßgeblich ist, werden dabei durch die Se­ natsmehrheit ausgeblendet. Bei der verfassungskonformen Auslegung wird eine klar umrissene Auslegungsvariante mit dem Verdikt der Verfassungs­ widrigkeit versehen. Es handelt sich um eine negative Entscheidung, ein Verbot, eine bestimmte Auslegung zu vertreten. Die verfassungskonforme Auslegung bezieht sich auf eine einfach-rechtliche Rechtsnorm, die insoweit einen Mangel aufweist, als sie für eine Auslegungsvariante offen ist, die dem Grundgesetz widerspricht. Entscheidungen des Verfassungsgerichts, die eine Verkennung der Aus­ strahlungswirkung von Grundrechten durch die Fachgerichte konstatieren,



Abweichende Meinung Haas235

wirken demgegenüber positiv: Sie verpflichten die Fachgerichte, bei der Anwendung einfachen Rechts, also der Subsumtion des Sachverhalts unter dem Tatbestand der Norm, unmittelbar aus dem Grundgesetz abgeleitete Direktiven zusätzlich zu berücksichtigen, die aufgrund des Charakters des Grundgesetzes als Rahmenordnung notwendigerweise weit und konkretisie­ rungsbedürftig bleiben müssen. Verkennt ein Gericht die Ausstrahlungswir­ kung der Grundrechte bei der Anwendung des Rechts, liegt kein verfas­ sungsrechtlicher Mangel eines Gesetzes vor. So hat das Bundesverfassungs­ gericht in seiner Bürgschaftsentscheidung (vgl. BVerfGE 89, 214 [231 ff.]) die Verfassungsmäßigkeit des § 138 BGB nicht in Zweifel gezogen. Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr als fehlerhaft beanstandet, dass ver­ fassungsrechtliche Vorgaben, die den einfach-rechtlichen Rechtsanwen­ dungsvorgang anreichern, außer Acht gelassen worden waren. In dem fehlenden Normbezug verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, die eine ungenügende Beachtung der grundrechtlichen Ausstrahlungswir­ kung auf die Rechtsanwendung korrigieren, sieht der Bundesgerichtshof daher zu Recht einen sachlichen Grund, der einem Einbezug dieser Ent­ scheidungen in den Anwendungsbereich des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG als einer Folgenregelung der Nichtigerklärung verfassungswidriger Gesetze entgegensteht. 3. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Bürgschaftsentscheidung nicht etwa – wie die Senatsmehrheit meint – den §§ 138, 242 BGB mit Bezug auf Bürgschaftsverträge reproduzierbare Konturen gegeben. Das Ge­ richt hat sich vielmehr darauf beschränkt, die Zivilgerichte an ihre Pflicht zu erinnern, bei der Auslegung und Anwendung der Generalklauseln darauf zu achten, dass Verträge nicht als Mittel der Fremdbestimmung dienen. Sei der Inhalt eines Vertrags als Interessenausgleich offensichtlich unangemes­ sen, müssten sie – so wörtlich – „vielmehr klären, ob die Regelung eine Folge strukturell ungleicher Verhandlungsstärke sei“ (Aufforderung zur Sachverhaltsermittlung) „und gegebenenfalls im Rahmen der Generalklau­ seln des geltenden Zivilrechts korrigierend eingreifen“. Ein Verstoß gegen die grundrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie komme in Betracht, wenn das Problem gestörter Vertragsparität gar nicht gesehen oder seine Lösung mit untauglichen Mitteln versucht werde. Ausdrücklich wird den Zivilgerichten bei der Entscheidung, „wie sie dabei im Einzelnen zu verfah­ ren“ hätten und „zu welchem Ergebnis sie gelangen“ müssten, ein „weiter Spielraum“ zugestanden (vgl. BVerfGE 89, 214 [234]). Das Bundesverfas­ sungsgericht hat also nur Minimalstandards für die Berücksichtigung der Ausstrahlungswirkung gesetzt und damit einen Anstoß zu einer näheren, verfassungsrechtlich nicht im Einzelnen vorgezeichneten Konkretisierung durch die Rechtsprechung gegeben. Die von der Senatsmehrheit aufgezähl­ ten Gesichtspunkte betreffen den konkreten Einzelfall und stellen nur allge­

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9. Analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG

meine Topoi dar, die eine strukturell ungleiche Verhandlungsstärke indizie­ ren können. Die Bildung normgleich typisierbarer Fallgruppen ist dann erst durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geleistet worden. Daraus, dass das gegen die Beschwerdeführerin ergangene Versäumnisur­ teil nach Auffassung des Bundesgerichtshofs in der angegriffenen Entschei­ dung auf der Grundlage der heutigen Rechtsprechung des Bundesgerichts­ hofs als rechtswidrig anzusehen ist, kann daher auch nicht mit der Senats­ mehrheit geschlossen werden, das ohne Begründung ergangene Versäumnis­ urteil sei verfassungswidrig. Das Bundesverfassungsgericht hat im 89. Band vielmehr davon abgesehen, die einfach-rechtliche Anwendung des § 138 BGB als in jedem Detail verfassungsrechtlich determiniert anzusehen. Auch im Rahmen der Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG kommt es nicht darauf an, dass das gegen die Beschwerdeführerin ergangene Ver­ säumnisurteil nicht mit der gegenwärtigen Rechtsprechung des Bundesge­ richtshofs übereinstimmt. Zu fragen und damit allein zu prüfen ist vielmehr, ob das Versäumnisurteil den in der Bürgschaftsentscheidung des Bundesver­ fassungsgerichts geforderten verfassungsrechtlichen Mindeststandards nicht genügt. Die Beschwerdeführerin kann sich nach allem nicht nach § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG i. V. m. § 767 ZPO gegen die Vollstreckung des seinerzeit von ihr akzeptierten Versäumnisurteils wegen einer nachträglichen Recht­ sprechung zur Inhaltskontrolle von Verträgen nach §§ 242, 138 BGB, die einen der beiden Vertragspartner ungewöhnlich stark belasten und das Er­ gebnis strukturell ungleicher Verhandlungsstärke sind, wehren. Die ange­ griffene Entscheidung des Bundesgerichtshofs ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

10. Rasterfahndung Beschluss des Ersten Senats vom 4. April 2006 – 1 BvR 518 / 02 (BVerfGE 115, 320)1 Amtlicher Leitsatz: 1. Eine präventive polizeiliche Rasterfahndung der in § 31 PolG NW 1990 geregelten Art ist mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbe­ stimmung nur vereinbar, wenn eine konkrete Gefahr für hochrangige Rechtsgüter wie den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person gegeben ist. Im Vorfeld der Gefahrenabwehr scheidet eine solche Rasterfahndung aus. 2. Eine allgemeine Bedrohungslage, wie sie im Hinblick auf terroristi­ sche Anschläge seit dem 11. September 2001 durchgehend bestanden hat, oder außenpolitische Spannungslagen reichen für die Anordnung der Ras­ terfahndung nicht aus. Vorausgesetzt ist vielmehr das Vorliegen weiterer Tatsachen, aus denen sich eine konkrete Gefahr, etwa für die Vorbereitung oder Durchführung terroristischer Anschläge, ergibt.   Aus den Gründen: A. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen gerichtliche Entscheidun­ gen über die Anordnung einer präventiven polizeilichen Rasterfahndung. I. 1.  Die Rasterfahndung ist eine besondere polizeiliche Fahndungsmethode unter Nutzung der elektronischen Datenverarbeitung. Die Polizeibehörde lässt sich von anderen öffentlichen oder privaten Stellen personenbezogene Daten übermitteln, um einen automatisierten Abgleich (Rasterung) mit ande­ ren Daten vorzunehmen. Durch den Abgleich soll diejenige Schnittmenge von Personen ermittelt werden, auf welche bestimmte, vorab festgelegte und für die weiteren Ermittlungen als bedeutsam angesehene Merkmale zutreffen. 1  An dieser Entscheidung haben mitgewirkt: Präsident Papier, Richterin Haas, die Richter Hömig und Steiner, die Richterin Hohmann-Dennhardt sowie die Richter Hoffmann-Riem, Bryde und Gaier.

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10. Rasterfahndung

In Deutschland wurde die Rasterfahndung zunächst in den 1970er Jahren für den Bereich der Terrorismusbekämpfung entwickelt. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes wurden aufgrund einer solchen Rasterfahndung Ende der 1970er Jahre in Frankfurt am Main eine konspirative Wohnung der Rote Armee Fraktion (RAF) entdeckt und ein Mitglied der RAF darin fest­ genommen (vgl. auch Klever, Die Rasterfahndung nach § 98a StPO, 2003, S. 13 f.; Kube, Rasterfahndung – Kriminologische und rechtliche Aspekte, in: Cassani / Dittmann / Maag / Steiner [Hrsg.], Mehr Sicherheit – weniger Freiheit?, 2003, S. 49 [51 ff.]). Das Bekanntwerden der Maßnahme habe danach jedoch dazu geführt, dass sich die Täter auf sie eingestellt hätten. Eine spezialgesetzliche Grundlage für die Rasterfahndung zu strafprozes­ sualen Zwecken wurde in Gestalt des § 98a StPO durch das Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsfor­ men der Organisierten Kriminalität (OrgKG) vom 15. Juli 1992 (BGBl I S. 1302) geschaffen. Das Bundeskriminalamt hat allerdings nach seinen Angaben in der Zeit vor dem 11. September 2001 über viele Jahre hinweg keine entsprechenden Maßnahmen durchgeführt (zu Fällen der Anwendung des § 98a StPO auf Länderebene vgl. Klever, a. a. O., S. 19 ff.). Im Bereich der Länder ist die Rasterfahndung als präventives Fahndungs­ instrument vorgesehen. Entsprechende Ermächtigungen enthielten die meis­ ten Polizeigesetze der Länder bereits vor den terroristischen Anschlägen in den Vereinigten Staaten von Amerika am 11. September 2001. In SchleswigHolstein und Niedersachsen wurden sie erstmals 2001 geschaffen; in Bre­ men wurde die kurz zuvor aufgehobene gesetzliche Befugnis nach den Anschlägen wieder eingeführt. Die gesetzlichen Voraussetzungen, unter denen die Rasterfahndung durchgeführt werden kann, wurden in den letzten Jahren geändert. Ursprünglich setzten die meisten Regelungen eine gegen­ wärtige Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes sowie für Leib, Leben oder Freiheit einer Person voraus (vgl. Koch, Datenerhebung und -verarbeitung in den Polizeigesetzen der Länder, 1999, S. 187 ff.). Auch eine von der Bundesregierung ausgehende, bislang nicht aufgegriffene Initiative, eine europaweite Rasterfahndung zu ermöglichen, verwies dementsprechend darauf, dass der Einsatz der Rasterfahndung in Deutschland nur zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für die genannten Schutzgüter in Frage komme (vgl. Rat der Europäischen Union, Vermerk der deutschen Delegation an den Ausschuss Artikel 36, 8. März 2002, 6403 / 02 ENFOPOL 27). Während die Gesetzgebung einiger Bundesländer an diesen Voraussetzun­ gen auch weiterhin festhält, wurden in den meisten anderen Bundesländern sowohl die Anforderungen an die Gefahrenschwelle als auch diejenigen an das gefährdete Schutzgut herabgesenkt. Einige Regelungen verzichten dabei



Beschluss vom 4. April 2006239

lediglich auf das Erfordernis der Gegenwärtigkeit der Gefahr. Die überwie­ gende Zahl der Landesgesetzgeber hat hingegen das Merkmal des Vorlie­ gens der Gefahr insgesamt fallengelassen, die Ermächtigung zur Rasterfahn­ dung also zu einer polizeilichen Vorfeldbefugnis umgestaltet. Danach kann die Rasterfahndung etwa durchgeführt werden, wenn dies zur Verhütung oder vorbeugenden Bekämpfung bestimmter Straftaten von erheblicher Be­ deutung erforderlich ist, wobei teilweise verlangt wird, dass Tatsachen oder auf Tatsachen beruhende Anhaltspunkte diese Annahme rechtfertigen. 2.  Nach den terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001 führten die Landespolizeibehörden unter Mitwirkung des Bundeskriminalamtes eine bundesweit koordinierte Rasterfahndung nach islamistischen Terroristen durch, nachdem bekannt geworden war, dass einige der Attentäter zuvor in Deutschland gelebt hatten (vgl. zur Frage der Vorbereitung der Anschläge von Deutschland aus BGHSt 49, 112 [112 ff., 116 ff.]; BGH, NJW 2005, S. 2322 [2324 f.]). Ziel war insbesondere die Erfassung so genannter Schlä­ fer, also solcher Personen, die zu terroristischen Handlungen bereit sind, sich jedoch lange Zeit hindurch sorgfältig um ein gesetzeskonformes und möglichst unauffälliges Verhalten bemühen, um ihr kriminelles Vorhaben dann im entscheidenden Zeitpunkt überraschend und damit besonders wir­ kungsvoll verwirklichen zu können. Am 18. September 2001 setzte der Arbeitskreis „Innere Sicherheit“ der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder eine „Koordinierungsgruppe Internationaler Terrorismus“ unter Vorsitz des Bun­ deskriminalamtes ein, in welcher unter anderem der Bundesgrenzschutz, das Bundesamt für Verfassungsschutz und der Bundesnachrichtendienst vertre­ ten waren (vgl. BTDrucks 14 / 7206, S. 1 f.). Von dieser Koordinierungsgrup­ pe wurden nach Angaben des Bundesbeauftragten für den Datenschutz bundesweit abgestimmte Rasterkriterien zur Entdeckung potentieller isla­ mistischer Terroristen in Deutschland entwickelt. Die Landeskriminalämter erhoben anschließend Daten unter anderem bei Universitäten, Einwohner­ meldeämtern und dem Ausländerzentralregister und rasterten die Datenbe­ stände nach den folgenden Kriterien: männlich, Alter 18 bis 40 Jahre, Stu­ dent oder ehemaliger Student, islamische Religionszugehörigkeit, Geburts­ land oder Nationalität bestimmter, im Einzelnen benannter Länder mit überwiegend islamischer Bevölkerung (vgl. zu den Kriterien auch AG Wiesbaden, DuD 2001, S. 752 [753 f.]). Die durch Datenabgleich nach diesen Kriterien auf Landesebene gewon­ nenen Daten wurden anschließend an das Bundeskriminalamt übermittelt. Dort wurden sie in die bundesweite Verbunddatei „Schläfer“ eingestellt. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes übermittelten die Länder insge­ samt 31.988 Datensätze. Diese wurden anschließend mit weiteren, durch das

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10. Rasterfahndung

Bundeskriminalamt erhobenen Datenbeständen abgeglichen. Unter den Ab­ gleichsdateien befanden sich nach Angaben des Polizeipräsidiums Düssel­ dorf gegenüber der Landesbeauftragten für Datenschutz und Informations­ freiheit Nordrhein-Westfalen etwa Dateien über Inhaber von Fluglizenzen oder Personen, die gemäß § 12 b AtG einer Zuverlässigkeitsprüfung bedür­ fen. Nach Einschätzung des Bundesbeauftragten für den Datenschutz waren in diesen Abgleichsdateien zwischenzeitlich die Daten von 200.000 bis 300.000 Personen gespeichert. Als „Treffer“ sei es beim Abgleich angese­ hen worden, wenn ein Datensatz aus der Datei „Schläfer“ mit einem Ab­ gleichsdatensatz in jeweils zwei Bestandteilen eine Übereinstimmung erge­ ben habe, etwa Name und Geburtsdatum oder Name und Geburtsland. Das Ergebnis des Abgleichs sei in einer Ergebnisdatei zusammengefasst und den jeweiligen Landeskriminalämtern zur Verfügung gestellt worden. Sowohl die Daten der Verbunddatei „Schläfer“ als auch die Abgleichsdateien waren nach Angaben des Bundesbeauftragten für den Datenschutz bis 2003 beim Bundeskriminalamt gespeichert. Die Löschung der Verbunddatei erfolgte danach am 30. Juni 2003, die der Abgleichsdateien am 21. Juli 2003. Die Rasterfahndung führte, soweit ersichtlich, in keinem Fall dazu, dass „Schläfer“ aufgedeckt worden wären oder gar aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse eine Anklage – etwa wegen Mitgliedschaft in einer terroristi­ schen Vereinigung oder wegen Unterstützung einer solchen (vgl. §§ 129a, 129b StGB) – gegen eine der davon erfassten Personen erhoben worden wäre. II. 1. An der bundesweit koordinierten Rasterfahndung beteiligte sich auch das Land Nordrhein-Westfalen. a) Am 2. Oktober 2001 ordnete das Amtsgericht auf Antrag des Polizei­ präsidiums Düsseldorf die Rasterfahndung durch den mit der Verfassungs­ beschwerde angegriffenen Beschluss an. Alle Einwohnermeldeämter des Landes Nordrhein-Westfalen, das Ausländerzentralregister in Köln und die Universitäten, Hochschulen und Fachhochschulen in Nordrhein-Westfalen wurden verpflichtet, Daten von zwischen dem 1. Oktober 1960 und dem 1. Oktober 1983 geborenen Männern zu übermitteln. Im Einzelnen wurde die Übermittlung personenbezogener Daten nach den folgenden Grundsät­ zen angeordnet:



Beschluss vom 4. April 2006241 1. Einwohnermeldeämter in Nordrhein-Westfalen Adressat:

alle Einwohnermeldeämter in Nordrhein-Westfalen

Kriterien der Personenselektion:

männlich; Geburtsdatum zwischen 01.10.1960 und 01.10.1983

herauszugebende Daten:

Name; Geburtsname; Vorname; Geburtsdatum; Geburtsort; Geburtsland; Staatsangehörigkeit; Wohnort; Straße; Hausnr.; evtl. 2. Wohnsitz; Religion; Familienstand; Kinder; zuständiges Finanzamt; Einzug; Wegzug

2. Ausländerzentralregister Adressat:

Ausländerzentralregister Köln

Kriterien der Personenselektion:

männlich; Geburtsdatum zwischen 01.10.1960 und 01.10.1983

herauszugebende Daten:

Name; Geburtsname; Vorname; Geburtsdatum; Geburtsort; Geburtsland; Staatsangehörigkeit; ­zuständiges Ausländeramt; Datum Einreise; Status; ­andere Namen; Aliasnamen

3. Universitäten, Hochschulen, Fachhochschulen in Nordrhein-Westfalen Adressat:

alle Universitäten / Hochschulen / Fachhochschulen in Nordrhein-Westfalen bzw. mit Außenstellen in Nordrhein-Westfalen

Kriterien der Personenselektion:

männlich; Geburtsdatum zwischen 01.10.1960 und 01.10.1983; immatrikuliert zwischen 01.01.1996 und 01.10.2001

herauszugebende Daten:

Name; Geburtsname; Vorname; Geburtsdatum; Geburtsort; Geburtsland; Staatsangehörigkeit; Wohnort; Straße; Hausnr.; evtl. 2. Wohnsitz; Religion; Studienfachrichtung; Datum der Immatrikulation, Datum der Exmatrikulation.

b) Die Anordnung stützte sich auf § 31 des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen in der Fassung der Bekanntmachung vom 24. Februar 1990 (GVBl. S. 70; im Folgenden: PolG NW 1990). Die Vorschrift lautete: Rasterfahndung (1) Die Polizei kann von öffentlichen Stellen und Stellen außerhalb des öffent­ lichen Bereichs die Übermittlung von personenbezogenen Daten bestimmter Per­ sonengruppen aus Dateien zum Zwecke des automatisierten Abgleichs mit anderen Datenbeständen verlangen, soweit dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person erforderlich ist (Rasterfahndung).

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10. Rasterfahndung

(2)  Das Übermittlungsersuchen ist auf Namen, Anschrift, Tag und Ort der Geburt sowie andere für den Einzelfall benötigte Daten zu beschränken; es darf sich nicht auf personenbezogene Daten erstrecken, die einem Berufs- oder besonderen Amts­ geheimnis unterliegen. Von Übermittlungsersuchen nicht erfasste personenbezoge­ ne Daten dürfen übermittelt werden, wenn wegen erheblicher technischer Schwie­ rigkeiten oder wegen eines unangemessenen Zeit- oder Kostenaufwandes eine Beschränkung auf die angeforderten Daten nicht möglich ist; diese Daten dürfen von der Polizei nicht genutzt werden. (3) Ist der Zweck der Maßnahme erreicht oder zeigt sich, dass er nicht erreicht werden kann, sind die übermittelten und im Zusammenhang mit der Maßnahme zusätzlich angefallenen Daten auf den Datenträgern zu löschen und die Akten, soweit sie nicht für ein mit dem Sachverhalt zusammenhängendes Verfahren er­ forderlich sind, zu vernichten. Über die getroffene Maßnahme ist eine Nieder­ schrift anzufertigen. Diese Niederschrift ist gesondert aufzubewahren, durch technische und organisatorische Maßnahmen zu sichern und am Ende des Kalen­ derjahres, das dem Jahr der Löschung der Daten oder der Vernichtung der Akten nach Satz 1 folgt, zu vernichten. (4) Die Maßnahme darf nur auf Antrag des Behördenleiters durch den Richter angeordnet werden. Zuständig ist das Amtsgericht, in dessen Bezirk die Polizei­ behörde ihren Sitz hat. Für das Verfahren gelten die Vorschriften des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit entsprechend. (5)  Personen, gegen die nach Abschluss der Rasterfahndung weitere Maßnahmen durchgeführt werden, sind hierüber durch die Polizei zu unterrichten, sobald dies ohne Gefährdung des Zwecks der weiteren Datennutzung erfolgen kann. Die Un­ terrichtung durch die Polizei unterbleibt, wenn wegen desselben Sachverhalts ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den Betroffenen eingeleitet worden ist.

Die Vorschrift ist 2003 geändert worden. § 31 in der Fassung der Be­ kanntmachung vom 25. Juli 2003 (GVBl. S. 441; im Folgenden: PolG NRW 2003) verzichtet in Absatz 1 auf das Merkmal der Gegenwärtigkeit der Gefahr. Dieser lautet nunmehr wie folgt: Die Polizei kann von öffentlichen Stellen und Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs die Übermittlung von personenbezogenen Daten einer unbestimmten Anzahl von Personen, die bestimmte, auf Verursacher einer Gefahr im Sinne des § 4 vermutlich zutreffende Prüfungsmerkmale erfüllen, zum Zwecke des maschi­ nellen Abgleichs mit anderen Datenbeständen verlangen, soweit dies zur Abwehr einer Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person erforderlich ist (Rasterfahndung). Der Datenabgleich soll den Ausschluss von Personen bezwecken; er kann auch der Ermittlung eines Verdachts gegen Personen als mögliche Verursacher einer Gefahr sowie der Feststellung gefahrenverstärkender Eigenschaften dieser Perso­ nen dienen. Die Polizei kann zur Ergänzung unvollständig übermittelter Daten die erforderlichen Datenerhebungen auch bei anderen Stellen durchführen und die übermittelten Datenträger zur Ermöglichung des maschinellen Abgleichs technisch aufbereiten.



Beschluss vom 4. April 2006243

c) Zur Begründung seiner Anordnung vom 2. Oktober 2001 führte das Amtsgericht unter anderem aus: Es bestehe eine gegenwärtige Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person in Form von terroristischen Gewalt­ akten extremistischer islamistischer Gruppierungen. Diese seien nach den polizeilichen Erkenntnissen für die Terroranschläge in den Vereinigten Staa­ ten von Amerika vom 11. September 2001 verantwortlich. Es könne als gesichert gelten, dass diese extremistischen Gruppierungen international agierten. Ihre Mitglieder und Anhänger seien militärisch und ideologisch geschult und jederzeit zu den gravierendsten Terroranschlägen bereit. Diese Gefahr bestehe gegenwärtig. Zwar lasse sich derzeit ein unmittel­ bar bevorstehender Anschlag nicht sicher prognostizieren. Aufgrund der bereits begangenen Taten und der sich zuspitzenden Lage im Mittleren Osten, wo ein Militärschlag der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten in Kürze zu erwarten sei, müsse aber jederzeit mit einem terroristischen Vergeltungsschlag gerechnet werden. Schließlich sei für die Prognoseent­ scheidung zu berücksichtigen, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadens­ eintritts umso geringere Anforderungen zu stellen seien, je größer das Ausmaß des zu befürchtenden Schadens sei. Wie die Ereignisse vom 11. September 2001 zeigten, nähmen die Attentäter dieser extremistischen Gruppierungen bei ihren Anschlägen den Tod tausender Menschen in Kauf. Die Gefahr bestehe auch für den Bereich Nordrhein-Westfalens. Nach polizeilichen Erkenntnissen seien hier 42 Personen bekannt, die als Unter­ stützer oder Kontaktpersonen im Netzwerk des Usama Bin Laden verdäch­ tig und in Nordrhein-Westfalen ansässig seien oder ansässig gewesen seien. Damit sei davon auszugehen, dass auch in Nordrhein-Westfalen ein Teil des internationalen terroristischen Netzwerkes bestehe und handlungsfähig sei. Weiter hätten sich mehrere der mutmaßlichen Attentäter vom 11. September 2001 unter anderem auch in Bochum, Duisburg und Aachen aufgehalten. Die Anordnung der Rasterfahndung sei verhältnismäßig. Sie sei geeignet, potentielle extremistische islamistische Terroristen zu enttarnen. Nach den polizeilichen Erkenntnissen sei bei den Attentätern eine Vielzahl von Ge­ meinsamkeiten erkennbar. Es handele sich bei den „Schläfern“ um männ­ liche Studenten im Alter von 18 bis 41 Jahren mit islamischer Religions­ zugehörigkeit und legalem Aufenthalt in Deutschland. Verdachtserhärtende Kriterien seien ferner die Staatsangehörigkeit oder das Herkunftsland. Die Rasterfahndung sei erforderlich, da es keine milderen Mittel gebe, die mit vergleichbarem Aufwand zu den gleichen Ergebnissen führen würden. Der Schutz sämtlicher gefährdeter Einrichtungen sei zum einen teilweise schon nicht machbar und zum anderen mit einem unverhältnismäßigen Aufwand verbunden. Da sich „Schläfer“ im täglichen Leben unauffällig bewegten, sei

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10. Rasterfahndung

die Rasterfahndung als einzige präventive Handlungsmöglichkeit erfolgver­ sprechend. Angesichts der drohenden Gefahr für Leib und Leben der Bevöl­ kerung sei der Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen auch verhältnismäßig im engeren Sinne. 2. Der weitere Verlauf der Rasterfahndung, die auf der Grundlage des angegriffenen amtsgerichtlichen Beschlusses in Nordrhein-Westfalen durch­ geführt wurde, stellt sich wie folgt dar: Von den als Adressaten des Beschlusses angegebenen Stellen wurden zunächst etwa 5,2 Mio. Datensätze übermittelt, welche nach den dort ver­ wendeten „Kriterien der Personenselektion“ zusammengestellt worden wa­ ren. Im Einzelnen wurden nach Angaben des Justizministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen von den 396 nordrhein-westfälischen Einwohnermel­ deämtern 4.669.224, von den 61 Hochschulen und vergleichbaren Einrich­ tungen 474.517 und vom Ausländerzentralregister 89.980 Datensätze erho­ ben, insgesamt also 5.233.721 Datensätze. Aus diesen wurden sodann durch automatisierten Datenabgleich diejeni­ gen herausgefiltert, auf welche auch die weiteren bundesweit abgestimmten Rasterkriterien zutrafen. Dabei verblieben nach Angaben des Justizministe­ riums des Landes Nordrhein-Westfalen zunächst 11.004 Datensätze. Die übrigen – demnach 5.222.717 – Datensätze wurden nach Angaben der Landesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit NordrheinWestfalen bis zum 10. Dezember 2001 gelöscht, die von den übermittelnden Stellen angelieferten Datenträger vernichtet. Nach den Angaben der Landesbeauftragten, die sich hierfür auf die Dar­ stellung des Polizeipräsidiums Düsseldorf bezieht, wurden die 11.004 so ge­ wonnenen Datensätze am 5. Oktober 2001 per Kurier an das Bundeskrimi­ nalamt übermittelt. Im Rahmen weiterer Ermittlungen habe das Polizeipräsi­ dium festgestellt, dass die von den übermittelnden Stellen gelieferten Daten­ sätze in 1.185 Fällen nicht den Vorgaben des Beschlusses des Amtsgerichts Düsseldorf entsprochen hätten, zum Beispiel weil es sich um Frauen gehan­ delt habe oder die Religion als unbekannt gemeldet oder als christlich ermit­ telt worden sei. Das Bundeskriminalamt sei angewiesen worden, die entspre­ chenden Datensätze aus der Verbunddatei zu löschen. Später seien noch wei­ tere zwei Datensätze deutscher Staatsangehöriger dem Bundeskriminalamt zur Löschung benannt worden. Auf Landesebene seien diese 1.187 personen­ bezogenen Datensätze zunächst in einen nur noch der Führungsgruppe der behördeninternen Arbeitsgruppe „Lupe“ zugänglichen Bereich verlagert, so­ dann am 4. Juli 2002 gelöscht worden. Somit seien zunächst 9.817 Datensät­ ze in der Verbunddatei des Bundeskriminalamtes verblieben. Aufgrund der Übermittlung und „Zuspeicherung“ von so genannten Grenzgängern – Stu­ denten, die in einem Bundesland wohnen und in einem anderen Bundesland



Beschluss vom 4. April 2006245

studieren – seien weitere 165 Datensätze hinzugekommen, so dass sich im Ergebnis zum 31. Januar 2003 insgesamt 9.982 Datensätze aus NordrheinWestfalen in der Verbunddatei befunden hätten. Der Abgleich dieser Datensätze mit anderen Datenbeständen beim Bun­ deskriminalamt sei in Abgleichserien erfolgt. Potentielle Trefferfälle, in denen Daten aus der Verbunddatei „Schläfer“ zumindest in Teilen mit Da­ tensätzen aus Abgleichsdateien übereinstimmten, seien an das Polizeipräsi­ dium Düsseldorf gemeldet worden. Sie seien dort manuell, durch Vergleich der Datensätze auf dem Computerbildschirm, daraufhin überprüft worden, ob eine wirkliche Personenidentität vorliege. Dies sei in 816 Fällen festge­ stellt worden. Im Anschluss daran sei die gewonnene Erkenntnis, etwa, dass eine Person Inhaber einer Fluglizenz ist, dem Bundeskriminalamt mitgeteilt und dort dem Personendatensatz in der Verbunddatei „Schläfer“ als so ge­ nannte Markierung hinzugefügt worden. Nach Angaben des Innenministeri­ ums wurden zu diesem Zeitpunkt 72 Fälle „eingehender geprüft“ (vgl. Landtag Nordrhein-Westfalen, Ausschuss für Innere Verwaltung und Ver­ waltungsstrukturreform, Ausschussprotokoll 13 / 525, S. 6). Mit der Löschung der weiteren gespeicherten Datensätze wollte man bis zum Abschluss des Abgleichs beim Bundeskriminalamt abwarten (vgl. ebd., S. 8). Nach dem Datenschutzbericht der Landesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit wurden bis Juni 2003 die Datensätze von etwa 9.500 Personen, die restlichen Daten bis zum Frühjahr 2004 gelöscht (vgl. Sokol, Siebzehnter Datenschutz- und Informationsfreiheitsbericht der Lan­ desbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit Nordrhein-Westfa­ len für die Zeit vom 1. Januar 2003 bis zum 31. Dezember 2004, 2005, S. 81). Alle etwa 11.000 im Rahmen der Rasterfahndung überprüften Perso­ nen seien nach Abschluss der Überprüfungen durch das Polizeipräsidium Düsseldorf schriftlich über die Datenerhebung und den Zeitpunkt der beab­ sichtigten Löschung informiert worden. Nach Angaben des Justizministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen führten die Polizeibehörden des Landes auf der Grundlage der Ergebnisse der Rasterfahndung und von Datenabgleichen zeitweise gegen insgesamt acht Personen weitergehende Maßnahmen nach den Bestimmungen des nordrhein-westfälischen Polizeigesetzes durch. Diese hätten nicht zur Ein­ leitung von Strafverfahren geführt. III. 1. Der 1978 geborene Beschwerdeführer ist marokkanischer Staatsange­ höriger islamischen Glaubens. Im Zeitpunkt der hier angegriffenen Anord­ nung war er Student der Universität Duisburg. Er legte gegen den Beschluss des Amtsgerichts Beschwerde ein. Die Voraussetzungen des § 31 Abs. 1

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10. Rasterfahndung

PolG NW 1990 für die Anordnung einer Rasterfahndung seien nicht gege­ ben. Insbesondere fehle es am Vorliegen einer gegenwärtigen Gefahr. Das Landgericht wies die Beschwerde mit dem ebenfalls angegriffenen Beschluss als unbegründet zurück. Das Gericht folge den zutreffenden Aus­ führungen des Amtsgerichts im angefochtenen Beschluss. Insbesondere lä­ gen die Voraussetzungen der Anordnung der Rasterfahndung gemäß § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 vor. Es bestehe eine gegenwärtige Gefahr für die Sicherheit des Bundes oder eines Landes im Sinne des § 31 Abs. 1 PolG NW 1990. Gegenwärtig sei da­ nach eine Gefahr, wenn das schädigende Ereignis bereits begonnen habe oder wenn die Störung in allernächster Zeit mit an Sicherheit grenzender Wahr­ scheinlichkeit eintrete. Diese Annahme sei aufgrund der Anschläge vom 11. September 2001 in New York und der damit verbundenen Reaktionen gerechtfertigt. Dies ergebe sich bereits daraus, dass die Bundesregierung die uneingeschränkte Solidarität mit dem Vorgehen der Vereinigten Staaten von Amerika wiederholt bekundet habe und dass spätestens seit der Militäraktion gegen Afghanistan Vergeltungsschläge gegen die an den militärischen Aktio­ nen beteiligten Staaten angekündigt worden seien. Darüber hinaus sei auf­ grund des Ausmaßes der durch die Anschläge vom 11. September 2001 ver­ ursachten Folgen die Möglichkeit eines besonders gravierenden Schadensein­ tritts nicht ausgeschlossen; dies führe zu einer Relativierung des Wahrschein­ lichkeitsurteils hinsichtlich der Beurteilung der Gefahrenlage. Angesichts der geschilderten Gefahrenlage stelle sich der mit der Raster­ fahndung verbundene Eingriff in das aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitete infor­ mationelle Selbstbestimmungsrecht auch als verhältnismäßig dar. Dies gelte umso mehr, als die gewonnenen Daten entweder nach § 31 Abs. 3 PolG NW 1990 zu löschen seien oder die Betroffenen gemäß § 31 Abs. 5 PolG NW 1990 über den Verbleib ihrer Daten unterrichtet würden. 2. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Beschluss des Landgerichts weitere Beschwerde, welche durch das Oberlandesgericht mit dem ebenfalls angegriffenen Beschluss zurückgewiesen wurde. Die Entscheidung des Landgerichts beruhe nicht auf einem Rechtsfehler. a)  Die Beschwerde sei zulässig. Dem stehe nicht entgegen, dass die per­ sonenbezogenen Daten des Beschwerdeführers möglicherweise bereits ge­ löscht worden seien. Das Rechtsschutzinteresse des Beschwerdeführers be­ stehe insoweit fort, als es nunmehr auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der angeordneten Maßnahme gerichtet sei. b)  Das Landgericht habe rechtsfehlerfrei festgestellt, dass die vom Amts­ gericht angeordnete Rasterfahndung hinsichtlich des Beschwerdeführers rechtmäßig gewesen sei.



Beschluss vom 4. April 2006247

aa) Eine gegenwärtige Gefahr habe vorgelegen. Sei der zu erwartende Schaden sehr groß, seien an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts nur geringe Anforderungen zu stellen; hinreichend wahrscheinlich sei die Gefahr bei besonders großen Schäden bereits dann, wenn nur eine entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts bestehe. Auf der Grundlage mehrerer Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts sei die auch in der Literatur anerkannte Faustregel entwickelt worden, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen seien, je größer der zu erwartende Schaden und je ranghöher das Schutzgut seien. Danach sei eine gegenwärtige Gefahr zu bejahen gewesen; es hätten hin­ reichende Tatsachen vorgelegen, die für einen terroristischen Anschlag in Deutschland mit unvorstellbaren Personen- und Sachschäden gesprochen hätten. Im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung – 29. Oktober 2001 – hätten die Vereinigten Staaten von Amerika gerade mit den von ihnen an­ gekündigten militärischen Gegenschlägen begonnen gehabt; die Unterstüt­ zung durch die NATO-Staaten sei angefordert und von Seiten der Bundes­ regierung auch zugesagt gewesen. Der Botschafter Afghanistans habe um­ gehend Vergeltungsschläge auch in den an den Militäraktionen beteiligten Ländern angedroht gehabt. Diese Drohungen hätten nicht unbeachtet bleiben können, auch wenn konkrete Anzeichen für Terroranschläge in Deutschland nicht bekannt gewesen seien. Zumindest sei unter diesen Umständen eine Möglichkeit solcher Anschlä­ ge auch in Deutschland gegeben gewesen. Das Polizeipräsidium habe in seiner Antragsschrift dargelegt, dass der Polizei 42 Personen in NordrheinWestfalen bekannt seien, die als Unterstützer oder Kontaktpersonen im Netzwerk des Usama Bin Laden agierten. Es habe weiterhin zahlreiche Objekte in Nordrhein-Westfalen aufgeführt, die als mögliches Ziel eines Anschlags in Betracht kämen. Dass bei einem terroristischen Anschlag durch Mitglieder extremistischer islamischer Gruppierungen mit gravieren­ den Schäden zu rechnen sei, hätten die Anschläge vom 11. September 2001 gezeigt. Sie seien weder vorhersehbar noch in ihrer Dimension kalkulierbar. Bei derartig gravierenden Schäden dürften keine zu hohen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gestellt werden. Insgesamt sei nach der aufgrund dieser Tatsachen zu treffenden Wahrscheinlichkeits­ prognose eine gegenwärtige Gefahr im Sinne von § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 anzunehmen gewesen. bb)  Die beantragte Rasterfahndung sei auch verhältnismäßig gewesen. (1)  Mit der Rasterfahndung hätten potentielle extremistische islamistische Terroristen enttarnt werden sollen. Es sei nicht erforderlich, dass alle durch die Rasterfahndung herausgefilterten Personen als Störer anzusehen seien. Vielmehr reiche es aus, wenn auch nur die Möglichkeit der Identifizierung

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10. Rasterfahndung

eines Täters bestehe oder weitere konventionelle Ermittlungsmethoden loh­ nend schienen. Angesichts der Schwere der befürchteten Verbrechen genüge eine nur geringe Aufklärungswahrscheinlichkeit. Gemessen daran sei die angeordnete Maßnahme geeignet gewesen. (2)  Die Rasterfahndung sei auch erforderlich gewesen, da andere, weni­ ger belastende Maßnahmen zur Erreichung desselben Ziels nicht zur Verfü­ gung gestanden hätten. Anders als bei herkömmlichen Straftaten knüpfe die Ermittlungsarbeit im Bereich der organisierten Kriminalität regelmäßig an den Verdacht einer Straftat an, nicht aber an einen angezeigten Strafver­ dächtigen. Gerade bei den sich ihrer Umwelt gegenüber unauffällig verhal­ tenden Straftätern seien die üblichen Ermittlungsmethoden wie Durchsu­ chung, Beschlagnahme und Vernehmung untauglich. Eine Einzelüberwa­ chung erscheine angesichts der Vielzahl von Betroffenen weder sinnvoll noch weniger belastend. (3)  Die angeordnete Rasterfahndung stehe auch nicht zu dem angestreb­ ten Erfolg außer Verhältnis. Einschränkungen des Rechts auf informationel­ le Selbstbestimmung seien im überwiegenden Allgemeininteresse hinzuneh­ men. Dieses folge hier aus dem Anspruch aller übrigen Bürger auf Sicherheit und Schutz. Allerdings knüpfe die Einräumung solcher Befugnisse zum Zweck der Gefahrenvorsorge und Gefahrenerforschung nicht mehr an die Abwehr kon­ kreter Gefahren und das Störerprinzip an. Es gehe vielmehr um Vorfeldbe­ fugnisse der Polizei, die tendenziell Eingriffsmöglichkeiten gegen jedermann eröffneten. Bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen sei daher in besonderem Maße zu berücksichtigen, dass durch die Rasterfahndung in das grundrechtlich geschützte informationelle Selbstbestimmungsrecht eines Nichtstörers eingegriffen werde. Indes sei dies inzwischen auch für andere Bereiche wie die Fluggastkontrolle nach § 29 c LuftVG anerkannt. Die Betroffenen würden aufgrund einer besonderen räumlichen oder zeitlichen Nähe zu der polizeilichen Situation für sozialpflichtig gehalten. Die Inanspruchnahme unbeteiligter Dritter erfordere eine besonders stren­ ge Beachtung des Übermaßverbots. Der Beschwerdeführer sei durch die angeordnete Maßnahme nicht übermäßig beeinträchtigt worden. Es habe eine notstandsähnliche Situation vorgelegen. Der Beschwerdeführer habe als Nichtstörer in einer – wenn auch schwachen – Beziehung zu dieser Situa­ tion gestanden, da er eine Staatsangehörigkeit besitze, die in der Anlage zur Antragsschrift „als verdächtig aufgeführt“ sei. Wenn die Polizei aufgrund der Erkenntnisse über die Terrorismusgefahr bestimmte Staatsangehörige als verdächtig einstufe, beruhe dies auf ermittlungsbedingt begründeten Tatsa­ chen. Mit der angeordneten Rasterfahndung seien auch keine unzumutbaren intimen Angaben über den Beschwerdeführer verlangt worden, so dass der



Beschluss vom 4. April 2006249

vom Bundesverfassungsgericht für unantastbar gehaltene Bereich privater Lebensgestaltung hier nicht tangiert sei. IV. 1.  Der Beschwerdeführer sieht sich durch die angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen in seinem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verletzt. […] 2. Daneben rügt der Beschwerdeführer die Verletzung weiterer Grund­ rechte und grundrechtsgleicher Rechte. […] V. Zu der Verfassungsbeschwerde haben das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, die Landesbeauftragte für Datenschutz und Informa­ tionsfreiheit Nordrhein-Westfalen, das Bundeskriminalamt sowie der Bun­ desbeauftragte für den Datenschutz Stellung genommen. […] B. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Sie sind auf eine verfassungsgemäße Eingriffsgrundlage gestützt, geben dieser jedoch im Wege der Auslegung einen Inhalt, den auch der Gesetzgeber nicht ohne Verstoß gegen dieses Grundrecht hätte bestimmen dürfen. Die Anwendung der Vorschrift im kon­ kreten Fall beruht auf dieser Auslegung. I. § 31 Abs. 1 PolG NW 1990, auf den die Anordnung der Rasterfahndung gestützt ist, entspricht der Verfassung in formeller und materieller Hinsicht. 1.  § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 ermächtigt zu Eingriffen in den Schutzbe­ reich des durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verbürgten Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung. a) Dieses Recht gewährleistet die aus dem Grundsatz der Selbstbestim­ mung folgende Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offen­ bart werden (vgl. BVerfGE 65, 1 [43]; 78, 77 [84]; 84, 192 [194]; 96, 171 [181]; 103, 21 [32 f.]; 113, 29 [46]). Es sichert seinen Trägern insbesondere Schutz gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weiter­ gabe der auf sie bezogenen, individualisierten oder individualisierbaren Da­ ten (vgl. BVerfGE 65, 1 [43]; 67, 100 [143]; 84, 239 [279]; 103, 21 [33];

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10. Rasterfahndung

BVerfG, NJW 2006, S. 976 [979]2). Denn individuelle Selbstbestimmung setzt – auch unter den Bedingungen moderner Informationsverarbeitung – voraus, dass dem Einzelnen Entscheidungsfreiheit über vorzunehmende oder zu unterlassende Handlungen einschließlich der Möglichkeit gegeben ist, sich entsprechend dieser Entscheidung tatsächlich zu verhalten. Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffende Infor­ mationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzu­ schätzen vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden (vgl. BVerfGE 65, 1 [42 f.]). Die beobachtende oder observierende Tätigkeit der Polizei kann den grundrechtlichen Schutzbereich berühren und die rechtliche Qualität von Grundrechtseingriffen gewinnen (vgl. BVerfGE 110, 33 [56]). Das gilt na­ mentlich, wenn personenbezogene Informationen zum Zwecke der elektro­ nischen Datenverarbeitung erhoben und gespeichert werden. In der Folge sind diese Daten nicht nur jederzeit und ohne Rücksicht auf Entfernungen in Sekundenschnelle abrufbar, sie können darüber hinaus – vor allem beim Aufbau integrierter Informationssysteme – mit anderen Datensammlungen zusammengefügt werden, wodurch vielfältige Nutzungs- und Verknüpfungs­ möglichkeiten entstehen (vgl. BVerfGE 65, 1 [42]). Der mit solchen techni­ schen Möglichkeiten unter den modernen Bedingungen der Datenverarbei­ tung einhergehenden gesteigerten Gefährdungslage entspricht der hierauf bezogene Grundrechtsschutz (vgl. BVerfGE 65, 1 [42]; 113, 29 [45 f.]). b) Der Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ist durch die Ermächtigung des § 31 PolG NW 1990 berührt. Die gesetzliche Befugnis betrifft Informationen mit unterschiedlich inten­ sivem Bezug zu dem Persönlichkeitsrecht. Es kann dahinstehen, ob das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vor der Erhebung jedes einzel­ nen Datums, das von der Erhebung erfasst wird, schützt, da die Kenntnis jedes der Daten im Zusammenhang mit anderen einen eigenständigen Ein­ blick in den Persönlichkeitsbereich ermöglicht. Die Kombination der aus­ drücklich in § 31 Abs. 2 PolG NW 1990 benannten Daten – Name, An­ schrift, Tag und Ort der Geburt – mit anderen, etwa, wie im vorliegenden Fall, der Staatsangehörigkeit, der Religionszugehörigkeit oder der Studien­ fachrichtung, kann und soll Aufschluss über Verhaltensweisen und damit Verdachtsmomente und insbesondere – wie es in § 31 Abs. 1 PolG NRW 2003 nunmehr ausdrücklich heißt – über „gefahrenverstärkende Eigenschaf­ ten dieser Personen“ ermöglichen. Vor einer Datenerhebung und Datenver­ 2  BVerfGE

115, 166 [190].



Beschluss vom 4. April 2006251

arbeitung mit dieser Zielrichtung schützt das Grundrecht auf informationel­ le Selbstbestimmung. c)  Die Regelung des § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 ermächtigt zu Eingrif­ fen in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung derjenigen, auf welche sich die übermittelten Daten beziehen. aa) Die Übermittlungsanordnung stellt einen Eingriff dar, da sie die Grundlage für die Erfassung und Speicherung der Daten sowie für ihren Abgleich mit weiteren Daten schafft. Die Eingriffsqualität der Anordnung zeigt sich an ihrer Auswirkung auf das Recht auf personelle Selbstbe­ stimmung der Betroffenen. Die Anordnung macht die Daten für die Behör­ den verfügbar und bildet die Basis für einen nachfolgenden Abgleich mit Suchbegriffen. An der Eingriffsqualität fehlt es lediglich, sofern Daten un­ gezielt und allein technikbedingt zunächst miterfasst, aber unmittelbar nach der Erfassung technisch wieder anonym, spurenlos und ohne Erkenntnis­ interesse für die Behörden ausgesondert werden (vgl. BVerfGE 100, 313 [366]; 107, 299 [328]). Auch dann, wenn die Erfassung eines größeren Datenbestandes letztlich nur Mittel zum Zweck für eine weitere Verkleine­ rung der Treffermenge bildet, kann in der Datenerhebung bereits ein Ein­ griff liegen (vgl. BVerfGE 100, 313 [366 mit 337, 380]). Maßgeblich ist, ob sich bei einer Gesamtbetrachtung mit Blick auf den durch den Über­ wachungs- und Verwendungszweck bestimmten Zusammenhang das be­ hördliche Interesse an den betroffenen Daten bereits derart verdichtet, dass ein Betroffensein in einer einen Grundrechtseingriff auslösenden Qualität zu bejahen ist. Bei einer Rasterfahndung gemäß § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 ist dies je­ denfalls hinsichtlich solcher Personen der Fall, deren Daten nach einem ersten Datenabgleich noch Gegenstand weiterer, nachfolgender Maßnahmen, insbesondere weitergehender Datenabgleiche, werden sollen. Die Übermitt­ lungsanordnung stellt eine Beeinträchtigung des informationellen Selbstbe­ stimmungsrechts dieser Personen dar. Das Verlangen der Datenübermittlung richtet sich zwar nicht unmittelbar an diese Personen, es zielt aber auf die Erfassung ihrer Daten und nimmt sie damit in das Visier staatlicher Über­ wachungstätigkeit. So ist etwa im vorliegenden Fall ein Grundrechtseingriff durch die Über­ mittlung jedenfalls bei denjenigen zunächst etwa 11.000 Personen zu beja­ hen, die von den Landesbehörden im Wege des Abgleichs nach den bundes­ weit abgesprochenen Kriterien aus der Gesamtmenge der übermittelten Datensätze ausgefiltert wurden. Diese Datensätze sollten Gegenstand weite­ rer Verarbeitungsmaßnahmen werden. Dafür wurden sie an das Bundeskri­ minalamt weitergeleitet, um dort in die bundesweite Datei „Schläfer“ ein­ gestellt und mit weiteren Dateien abgeglichen zu werden. Darüber hinaus

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10. Rasterfahndung

stand der Großteil der Datensätze den Landesbehörden auch nach der Übermittlung an das Bundeskriminalamt zur Verfügung. Ein eigenständiges behördliches Ermittlungsinteresse besteht in solchen Fällen nicht nur hinsichtlich der nach Vollzug aller Teilschritte verbleiben­ den Restmenge an Daten, sondern bereits bei den ersten, für die weiteren Maßnahmen erforderlichen Teilschritten, durch welche die übermittelte Gesamtdatenmenge nach und nach reduziert wird. bb) Auch die – sei es auch nur vorläufige – Speicherung der übermittel­ ten Daten bei der Stelle, an welche sie übermittelt und bei der sie aufbe­ wahrt und für den Datenabgleich bereitgehalten werden, greift in das infor­ mationelle Selbstbestimmungsrecht derjenigen Personen ein, deren Daten nach einem solchen Datenabgleich Gegenstand weiterer Maßnahmen werden (vgl. BVerfGE 100, 313 [366]). cc) Eingriffscharakter kommt in Bezug auf diese Personen schließlich auch dem Datenabgleich selbst als Akt der Auswahl für eine weitere Aus­ wertung zu (vgl. BVerfGE 100, 313 [366]). 2.  Die in § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 enthaltene Ermächtigung zu Grund­ rechtseingriffen genügt verfassungsrechtlichen Anforderungen. a)  Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ist nicht schran­ kenlos gewährleistet. Der Einzelne muss vielmehr solche Beschränkungen seines Rechts hinnehmen, die durch überwiegende Allgemeininteressen ge­ rechtfertigt sind (vgl. BVerfGE 65, 1 [43 f.]). Diese Beschränkungen bedür­ fen jedoch einer verfassungsmäßigen gesetzlichen Grundlage, die insbeson­ dere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem Gebot der Normen­ klarheit entsprechen muss (vgl. BVerfGE 65, 1 [44]). b) Die das Grundrecht beschränkende Regelung des § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 wahrt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dieser verlangt, dass der Staat mit dem Grundrechtseingriff einen legitimen Zweck mit ge­ eigneten, erforderlichen und angemessenen Mitteln verfolgt (vgl. BVerfGE 109, 279 [335 ff.]). aa)  Mit der Abwehr einer Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person verfolgt die Regelung einen legitimen Zweck. bb) Das Mittel der Rasterfahndung ist zur Verfolgung dieses Zweckes auch geeignet. Ein Gesetz ist zur Zweckerreichung geeignet, wenn mit seiner Hilfe der erstrebte Erfolg gefördert werden kann (vgl. BVerfGE 67, 157 [173, 175]; 90, 145 [172]; 100, 313 [373]; 109, 279 [336]). Das ist vorliegend der Fall. Die Eignung scheitert nicht etwa an der großen Streubreite der Erfassungs­



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methode, die nur in vergleichsweise wenigen Fällen Erkenntnisse verspricht (vgl. BVerfGE 100, 313 [373]). cc) Der Eingriff ist auch erforderlich zur Verfolgung des gesetzgeberi­ schen Zweckes. Dieser lässt sich nicht durch mildere Mittel ebenso wirksam erreichen. dd)  Die gesetzliche Ermächtigung wahrt auch noch die Grenzen der Ver­ hältnismäßigkeit im engeren Sinn. Das Gebot der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn verlangt, dass die Schwere des Eingriffs bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe stehen darf (stRspr; vgl. BVerfGE 90, 145 [173]; 92, 277 [327]; 109, 279 [349 ff.]). Die Prüfung an diesem Maßstab kann dazu führen, dass ein an sich geeignetes und erfor­ derliches Mittel des Rechtsgüterschutzes nicht angewandt werden darf, weil die davon ausgehenden Grundrechtsbeeinträchtigungen den Zuwachs an Rechtsgüterschutz überwiegen, so dass der Einsatz des Schutzmittels als unangemessen erscheint (vgl. BVerfGE 90, 145 [173]). In dem Spannungs­ verhältnis zwischen der Pflicht des Staates zum Rechtsgüterschutz und dem Interesse des Einzelnen an der Wahrung seiner von der Verfassung verbürg­ ten Rechte ist es dabei zunächst Aufgabe des Gesetzgebers, in abstrakter Weise einen Ausgleich der widerstreitenden Interessen zu erreichen (vgl. BVerfGE 109, 279 [350]). Dies kann dazu führen, dass bestimmte intensive Grundrechtseingriffe erst von bestimmten Verdachts- oder Gefahrenstufen an vorgesehen werden dürfen. Entsprechende Eingriffsschwellen sind durch eine gesetzliche Regelung zu gewährleisten (vgl. BVerfGE 100, 313 [383 f.]; 109, 279 [350 ff.]; BayVerfGH, Entscheidung vom 7. Februar 2006 – Vf. 69-VI-04 –). Diese Voraussetzungen sind bei der Rasterfahndung gewahrt, wenn der Gesetzgeber den Grundrechtseingriff an das Vorliegen einer konkreten Ge­ fahr für die bedrohten Rechtsgüter knüpft. Das ist bei der hier maßgeblichen Regelung des § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 der Fall. (1) Der Eingriff, zu dem § 31 PolG NW 1990 ermächtigt, dient dem Schutz hochrangiger Verfassungsgüter. Mit dem Bestand und der Sicherheit des Bundes und eines Landes sowie Leib, Leben und Freiheit einer Person, die vor Gefahren geschützt werden sollen, sind Schutzgüter von hohem verfassungsrechtlichem Gewicht be­ zeichnet. Die Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungs­ macht und die von ihm – unter Achtung von Würde und Eigenwert des Einzelnen – zu gewährleistende Sicherheit der Bevölkerung sind Verfas­ sungswerte, die mit anderen hochwertigen im gleichen Rang stehen (vgl. BVerfGE 49, 24 [56 f.]).

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10. Rasterfahndung

Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG den Staat dazu, das Leben und die körperliche Unversehrtheit des Einzelnen zu schützen, das heißt vor allem, auch vor rechtswidrigen Ein­ griffen von Seiten anderer zu bewahren (stRspr; vgl. BVerfGE 90, 145 [195]; BVerfG, NJW 2006, S. 751 [757]3). Dieser Schutzpflicht des Staates kommt ein hohes verfassungsrechtliches Gewicht zu. Gleiches gilt für das Rechtsgut der Freiheit einer Person im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. (2) Zum Schutz dieser Rechtsgüter ermächtigt § 31 PolG NW 1990 zu Eingriffen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung von erheb­ lichem Gewicht. (a) Für die rechtliche Beurteilung der Art des durch die Ermächtigung ermöglichten Eingriffs ist unter anderem bedeutsam, wie viele Grundrechts­ träger wie intensiven Beeinträchtigungen ausgesetzt sind und unter welchen Voraussetzungen dies geschieht, insbesondere ob diese Personen hierfür einen Anlass gegeben haben (vgl. BVerfGE 100, 313 [376]; 107, 299 [318 ff.]; 109, 279 [353]). Maßgebend sind also die Gestaltung der Ein­ schreitschwellen, die Zahl der Betroffenen und die Intensität der individu­ ellen Beeinträchtigung im Übrigen (vgl. BVerfGE 100, 313 [376]). Für das Gewicht der individuellen Beeinträchtigung ist erheblich, ob die Betroffenen als Personen anonym bleiben, welche persönlichkeitsbezogenen Informatio­ nen erfasst werden und welche Nachteile den Grundrechtsträgern aufgrund der Maßnahmen drohen oder von ihnen nicht ohne Grund befürchtet werden (vgl. BVerfGE 100, 313 [376]; 109, 279 [353]). Das Bundesverfassungsgericht hat diese Kriterien für die Bemessung der Eingriffsintensität informationsbezogener Grundrechtseingriffe bislang vor allem in Entscheidungen zum Fernmeldegeheimnis aus Art. 10 Abs. 1 GG und zum Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 Abs. 1 GG entwickelt. Da diese Grundrechte spezielle Ausprägungen des Grund­ rechts auf informationelle Selbstbestimmung darstellen (vgl. BVerfGE 51, 97 [105]; 100, 313 [358]; 109, 279 [325 f.]), sind diese Maßstäbe auch auf das allgemeinere Grundrecht anwendbar, soweit sie nicht durch die für die speziellen Gewährleistungen geltenden Besonderheiten geprägt sind. (b)  Auch wenn die von der Rasterfahndung betroffenen Informationen für sich genommen im Regelfall eine geringere Persönlichkeitsrelevanz haben werden, als sie regelmäßig bei Eingriffen in den Schutzbereich der Grund­ rechte aus Art. 10 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 GG gegeben ist, kommt den mit der Rasterfahndung verbundenen Eingriffen angesichts der inhaltlichen Weite der Befugnis sowie der mit ihr eröffneten Möglichkeit der Verknüp­ 3  BVerfGE

115, 118 [152].



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fung von Daten auch im Hinblick auf das allgemeine Grundrecht auf infor­ mationelle Selbstbestimmung ein erhebliches Gewicht zu. (aa)  Das Gewicht eines Eingriffs in das Recht auf informationelle Selbst­ bestimmung hängt unter anderem davon ab, welche Inhalte von dem Ein­ griff erfasst werden, insbesondere welchen Grad an Persönlichkeitsrelevanz die betroffenen Informationen je für sich und in ihrer Verknüpfung mit anderen aufweisen, und auf welchem Wege diese Inhalte erlangt werden (vgl. BVerfGE 100, 313 [376]; 107, 299 [319 f.]; 109, 279 [353]). So ist die Eingriffsintensität hoch, wenn Informationen betroffen sind, bei deren Erlangung Vertraulichkeitserwartungen verletzt werden, vor allem solche, die unter besonderem Grundrechtsschutz stehen, wie etwa bei Ein­ griffen in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 13 GG oder das Fernmeldegeheimnis nach Art. 10 GG (vgl. BVerfGE 109, 279 [313 f., 325, 327 f.]; 113, 348 [364 f., 383, 391]). Sämtliche durch die Rasterfahndung betroffenen Informationen haben einen Personenbezug und erlauben durch ihre Verknüpfung mit anderen Informationen persönlichkeitsbezogene Einblicke. Eine besondere Persön­ lichkeitsrelevanz kommt vor allem Informationen zu, die sich auf anderwei­ tig, etwa in Art. 3 Abs. 3 GG oder in Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 3 WRV verfassungsrechtlich geschützte Bereiche beziehen. Dies findet auf einfachgesetzlicher Ebene etwa in der Kategorie der „beson­ deren Arten personenbezogener Daten“ gemäß § 3 Abs. 9 BDSG Ausdruck, wozu nach dieser Vorschrift Angaben über die rassische und ethnische Herkunft, über politische Meinungen, religiöse oder philosophische Über­ zeugungen, über eine Gewerkschaftszugehörigkeit und über die Gesundheit oder das Sexualleben zu zählen sind. (bb) Dem durch die Ermächtigung zur Rasterfahndung ermöglichten Grundrechtseingriff kommt grundsätzlich ein erhebliches Gewicht mit Blick auf den Inhalt sowohl der übermittelten Daten als auch derjenigen Daten zu, mit denen die übermittelten abgeglichen werden sollen. Gleiches gilt für diejenigen weiterreichenden Informationen, die aus der Zusammen­ führung und dem Abgleich der verschiedenen Datenbestände gewonnen werden können. Bereits die zu übermittelnden Daten können eine hohe Persönlichkeitsre­ levanz haben. Die gesondert genannten Identifizierungsdaten, also Name, Anschrift, Tag und Ort der Geburt, stehen zwar entstehungsgeschichtlich betrachtet im Vordergrund der Rasterfahndung. Hierauf beschränkt sich aber die gesetzliche Befugnis nicht. Vielmehr können auch alle anderen „für den Einzelfall benötigte[n] Daten“ in die Fahndung einbezogen werden (§ 31 Abs. 2 Satz 1, 1. Halbsatz PolG NW 1990). Das Übermittlungsersuchen darf

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10. Rasterfahndung

sich lediglich auf diejenigen personenbezogenen Daten nicht erstrecken, die einem Berufs- oder besonderen Amtsgeheimnis unterliegen (§ 31 Abs. 2 Satz 1, 2. Halbsatz PolG NW 1990). Im Übrigen sind die von der Befugnis erfassten Daten nach Art und Inhalt nicht eingegrenzt. Dementsprechend kann – wie vorliegend geschehen – das Ersuchen auf weitere Angaben zur Religionszugehörigkeit, Staatsangehörigkeit, zum Familienstand und zur Studienfachrichtung erstreckt werden. Die gesetzliche Befugnis umfasst demnach auch solche persönlichkeitsbezogenen Daten, an deren Privatheit der Einzelne ein hohes Interesse besitzen kann und auf deren Vertraulichkeit er baut, wie etwa seine Glaubensüberzeugung. Dies kann auch auf die „an­ deren Datenbestände“ zutreffen, mit denen die übermittelten Daten abgegli­ chen werden. Hinzu kommt, dass sich aus der Zusammenführung und Kombination der übermittelten und der sonstigen Datenbestände und ihrem wechselseitigen Abgleich vielfältige neue Informationen gewinnen lassen. Sie können nach Art und Inhalt eine besonders starke Persönlichkeitsrele­ vanz besitzen. (c) Erfasst eine Übermittlungsbefugnis, wie diejenige nach § 31 Abs. 1 PolG NW 1990, nahezu sämtliche personenbezogenen Daten, die bei ir­ gendeiner öffentlichen oder nichtöffentlichen Stelle vorhanden sind, wird damit aufgrund der Vielfältigkeit und des Umfangs der erfassten Daten dazu ermächtigt, einen Eingriff von hoher Intensität vorzunehmen. Das nordrhein-westfälische Polizeigesetz sieht außer dem allgemein zu beachtenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. § 2 PolG NW 1990) keine Begrenzung des Umfangs der erfassten Daten vor. Eine solche ergibt sich auch mittelbar weder aus einer Begrenzung der Art der erfassten Daten noch aus einer Begrenzung des Adressatenkreises. Denn die Übermittlung kann nach dem Wortlaut von § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 von allen öffent­ lichen Stellen und Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs verlangt werden. Soweit nicht in den für diese Stellen geltenden bereichsspezifischen Regelungen abschließende Übermittlungsverbote vorgesehen sind, sind da­ her sämtliche Stellen erfasst, bei denen personenbezogene Daten vorhanden sind. Diese Weite der Zugriffsbefugnis entspricht auch der Zielsetzung der Rasterfahndung. Da Ansätze zur Rasterfahndung in jeder möglichen Rich­ tung gefunden werden können, kann grundsätzlich fast jeder Datenbestand relevant werden. Die Befugnis ermöglicht es daher vorbehaltlich der Einschränkung des § 31 Abs. 2 PolG NW 1990 und der allgemeinen Grenze der Verhältnismä­ ßigkeit, alle bei irgendwelchen öffentlichen oder privaten Stellen über ir­ gendeine Person vorhandenen Daten bei Bedarf bei einer Stelle zusammen­ zuführen und gegeneinander abzugleichen. Die der Informationstechnologie eigenen Verarbeitungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten, durch welche auch



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ein für sich gesehen belangloses Datum einen neuen Stellenwert bekommen kann (vgl. BVerfGE 65, 1 [45]), werden dadurch ausgeschöpft. Dadurch entsteht ein Risiko, dass das außerhalb statistischer Zwecke bestehende strikte Verbot der Sammlung personenbezogener Daten auf Vor­ rat (vgl. BVerfGE 65, 1 [47]) umgangen wird. Denn eine solche Befugnis zur Zweckänderung kann im Ergebnis alle zu einem bestimmten Zeitpunkt bei öffentlichen oder privaten Stellen vorhandenen Daten zu einem für die Zwecke des § 31 PolG NW 1990 bereitstehenden Gesamtdatenbestand um­ funktionieren. Dies vermag eine eigene Vorratsspeicherung all jener Daten im Ergebnis zu ersetzen, die ohnehin bei irgendeiner anderen Stelle vorhan­ den sind. Auch nähert sich die Zugriffsbefugnis des § 31 PolG NW 1990 angesichts der Menge und Vielfalt der personenbezogenen Daten, die heute – bei allen öffentlichen oder privaten Stellen zusammengenommen – über nahezu jede Person vorhanden sind, der von der Verfassung nicht zugelassenen Möglich­ keit zumindest an, dass Daten mit anderen Datensammlungen zu einem teilweise oder weitgehend vollständigen Persönlichkeitsbild zusammenge­ fügt werden (vgl. BVerfGE 65, 1 [42]). Insbesondere sind auch sämtliche Datenbestände privater Stellen („Stellen außerhalb des öffentlichen Be­ reichs“) betroffen, in denen sich ein ganz wesentlicher Anteil aller gespei­ cherten personenbezogenen Daten befindet. So führen etwa die Kundenkar­ tensysteme, die in vielen Kaufhäusern eingeführt sind, dazu, dass detaillier­ te Informationen über das private Einkaufsverhalten der Inhaber solcher Karten – aber auch über ihren Aufenthaltsort und anderes – bei nichtöffent­ lichen Stellen gespeichert sind. Auch wenn die Zugriffsbefugnis des § 31 PolG NW 1990 aus verfassungsrechtlichen Gründen so auszulegen ist, dass sie keine umfassende Registrierung und Katalogisierung der Persönlichkeit durch die Zusammenführung einzelner Lebens- und Personaldaten zur Er­ stellung von Persönlichkeitsprofilen der Bürger erlaubt – dies wäre selbst in der Anonymität statistischer Erhebungen unzulässig (vgl. BVerfGE 65, 1 [53]) –, können die Erhebung und Verknüpfung entsprechender Daten der Erstellung eines Persönlichkeitsprofils nahe kommen und dadurch einen besonders intensiven Grundrechtseingriff ermöglichen. (d) Auf die Intensität des Eingriffs wirken sich ferner etwaige aus der Rasterfahndung resultierende weitere Folgen für die Betroffenen aus. Das Gewicht informationsbezogener Grundrechtseingriffe richtet sich auch danach, welche Nachteile den Betroffenen aufgrund der Eingriffe dro­ hen oder von ihnen nicht ohne Grund befürchtet werden (vgl. BVerfGE 100, 313 [376]; 107, 299 [320]). So kann die Übermittlung und Verwendung von Daten für die davon Betroffenen das Risiko begründen, Gegenstand staat­ licher Ermittlungsmaßnahmen zu werden, das über das allgemeine Risiko

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10. Rasterfahndung

hinausgeht, einem unberechtigten Verdacht ausgesetzt zu werden (vgl. BVerfGE 107, 299 [321]). Auch können informationsbezogene Ermittlungs­ maßnahmen im Falle ihres Bekanntwerdens eine stigmatisierende Wirkung für die Betroffenen haben und so mittelbar das Risiko erhöhen, im Alltag oder im Berufsleben diskriminiert zu werden. Beides trifft auf die mit der Rasterfahndung verbundenen Grundrechtsein­ griffe zu. (aa) Die Rasterfahndung begründet für die Personen, in deren Grund­ rechte sie eingreift, ein erhöhtes Risiko, Ziel weiterer behördlicher Ermitt­ lungsmaßnahmen zu werden. Dies hat etwa der Verlauf der nach dem 11. September 2001 durchgeführten Rasterfahndung gezeigt. So sind nach einem Pressebericht aufgrund der Ergebnisse dieser Rasterfahndung in Hamburg 140 ausländische Studenten von der Polizei zu „Gesprächen“ vorgeladen worden (vgl. Frankfurter Rundschau vom 22. Januar 2002). Ein Sprecher der Hamburger Polizei habe bestätigt, dass sich das Vorgehen – welches nicht bedeute, dass die Personen beschuldigt oder verdächtigt seien – gegen männliche, in Hamburg studierende Personen bestimmter Herkunft und Altersgruppen richte. Die Vorgeladenen seien aufgefordert worden, zu den Gesprächen im Polizeipräsidium unter anderem Ausweisdokumente, Studienbescheinigungen aller besuchten Hochschulen, Mietverträge, Ar­ beitsbescheinigungen und Praktikumsunterlagen, Dokumente über Reisen, Bankkonto-Unterlagen und Bescheinigungen über Vereinsmitgliedschaften mitzubringen. Die Betroffenen hätten der Vorladung zwar nicht folgen müs­ sen. Doch seien sie in solchen Fällen auf andere Weise überprüft worden (vgl. a. a. O.; siehe auch Hamburgischer Datenschutzbeauftragter [Hrsg.], 19. Tätigkeitsbericht 2002  /  2003, 2004, S. 63, wonach das Landeskrimi­ nalamt die dreistellige Zahl der „Trefferfälle“ der Rasterfahndung mit den üblichen Ermittlungsmethoden – zum Beispiel Befragung von Betroffenen, Umfelderkundungen – abgearbeitet hat). (bb)  Ferner kann die Tatsache einer nach bestimmten Kriterien durchge­ führten polizeilichen Rasterfahndung als solche – wenn sie bekannt wird – eine stigmatisierende Wirkung für diejenigen haben, die diese Kriterien er­ füllen. Das kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die Rasterfahndung – wie nach § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 grundsätzlich möglich – an die besonderen persönlichkeitsbezogenen Merkmale des Art. 3 Abs. 3 GG oder des Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 3 WRV anknüpft. Auch dort, wo keine Diskriminierung wegen der in Art. 3 Abs. 3 GG aufgeführten Merkmale vorliegt, ist nicht nur die verfassungsrechtliche Bindung an den Gleichheitssatz umso enger (stRspr; vgl. nur BVerfGE 92, 26 [51]), sondern auch die Intensität eines mit der Ungleichbehandlung verbundenen Grund­ rechtseingriffs – hier in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestim­



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mung – umso höher, je mehr sich die Merkmale, nach denen staatliche Maßnahmen differenzieren, den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten annähern. So fällt etwa für die Rasterfahndungen, die nach dem 11. September 2001 durchgeführt wurden, im Hinblick auf deren Eingriffsintensität ins Gewicht, dass sie sich gegen Ausländer bestimmter Herkunft und muslimischen Glau­ bens richten, womit stets auch das Risiko verbunden ist, Vorurteile zu re­ produzieren und diese Bevölkerungsgruppen in der öffentlichen Wahrneh­ mung zu stigmatisieren (vgl. Limbach, Ist die kollektive Sicherheit Feind der individuellen Freiheit?, 2002, S. 10). Insbesondere die kaum vermeidba­ ren Nebeneffekte einer nach der Zugehörigkeit zu einer Religion differen­ zierenden und alle Angehörigen dieser Religion pauschal erfassenden Ras­ terfahndung erhöhen das Gewicht der mit ihr verbundenen Grundrechtsein­ griffe und damit die von Verfassungs wegen an ihre Rechtfertigung zu stellenden Anforderungen. Das wirkt sich auf die Eingriffsintensität der gesetzlichen Ermächtigung des § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 aus, die eine nach derartigen Kriterien differenzierende Rasterfahndung ermöglicht. (e) Die Intensität des Eingriffs wird ferner davon beeinflusst, dass die gesetzliche Regelung nur für einen Teil der Betroffenen eine individuelle Benachrichtigung und dies erst nach Abschluss der Rasterfahndung vorsieht. Die Heimlichkeit einer staatlichen Eingriffsmaßnahme führt zur Erhöhung ihrer Intensität (vgl. BVerfGE 107, 299 [321]; BVerfG, NJW 2006, S. 976 [981]4). Eine individuelle Benachrichtigung der Betroffenen nach Abschluss der Rasterfahndung schreibt § 31 Abs. 5 Satz 1 PolG NW 1990 nur für diejenigen Personen vor, gegen die weitere Maßnahmen durchgeführt wer­ den, und auch für diese nur dann, wenn dies ohne Gefährdung des Zwecks der weiteren Datennutzung erfolgen kann. Die Unterrichtung unterbleibt nach § 31 Abs. 5 Satz 2 PolG NW 1990, wenn wegen desselben Sachver­ halts ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den Betroffenen einge­ leitet worden ist. Die in § 31 Abs. 4 Satz 1 PolG NW 1990 vorgesehene richterliche An­ ordnung reduziert zwar die Heimlichkeit der Maßnahme, sofern es – wie im vorliegenden Fall (vgl. AG Düsseldorf, DuD 2001, S. 754) – zu einer Ver­ öffentlichung kommt. Dadurch können potentielle Betroffene erkennen, dass sie zu dem von der Rasterfahndung erfassten Personenkreis gehören und gegebenenfalls – wie der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall – Rechts­ schutz beanspruchen. Jedoch ist eine derartige Veröffentlichung gesetzlich nicht vorgeschrieben. Kommt es anders als hier nicht zur Veröffentlichung, bleibt die Maßnahme ohne eine individuelle Benachrichtigung dem Einzel­ nen verborgen. 4  BVerfGE

115, 166 [194].

260

10. Rasterfahndung

(f)  Ins Gewicht fällt auch, dass die von der Rasterfahndung Betroffenen nicht durchgängig anonym bleiben (vgl. BVerfGE 100, 313 [381]; 107, 299 [320 f.]). Anonymität besteht jedenfalls für diejenigen Personen nicht, deren Daten nach Abschluss der Gesamtmaßnahme weiterhin in der Ergebnisda­ tenmenge enthalten sind. Der Personenbezug der Daten wird bei diesen Personen durchgehend gerade zu dem Zweck erhalten, weitere Ermittlungs­ maßnahmen gegen sie zu ermöglichen. (g)  Von Bedeutung ist schließlich auch, dass § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 verdachtslose Grundrechtseingriffe mit großer Streubreite vorsieht. (aa) Grundrechtseingriffe, die sowohl durch Verdachtslosigkeit als auch durch eine große Streubreite gekennzeichnet sind – bei denen also zahlrei­ che Personen in den Wirkungsbereich einer Maßnahme einbezogen werden, die in keiner Beziehung zu einem konkreten Fehlverhalten stehen und den Eingriff durch ihr Verhalten nicht veranlasst haben – weisen grundsätzlich eine hohe Eingriffsintensität auf (vgl. BVerfGE 100, 313 [376, 392]; 107, 299 [320 f.]; 109, 279 [353]; 113, 29 [53]; 113, 348 [383]). Denn der Ein­ zelne ist in seiner grundrechtlichen Freiheit umso intensiver betroffen, je weniger er selbst für einen staatlichen Eingriff Anlass gegeben hat. Von solchen Eingriffen können ferner Einschüchterungseffekte ausgehen, die zu Beeinträchtigungen bei der Ausübung von Grundrechten führen können (vgl. BVerfGE 65, 1 [42]; 113, 29 [46]). Ein von der Grundrechtsausübung abschreckender Effekt muss nicht nur zum Schutze der subjektiven Rechte der betroffenen Einzelnen vermieden werden. Auch das Gemeinwohl wird dadurch beeinträchtigt, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktions­ bedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger gegründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist (vgl. BVerfGE 113, 29 [46]). Es gefährdet die Unbefangenheit des Verhaltens, wenn die Streubreite von Ermittlungsmaßnahmen dazu beiträgt, dass Risiken des Missbrauchs und ein Gefühl des Überwachtwerdens entstehen (vgl. BVerfGE 107, 299 [328]). (bb)  Bei der Rasterfahndung gemäß § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 handelt es sich um einen verdachtslosen Eingriff. Die Vorschrift begründet Ein­ griffsbefugnisse gegen so genannte Nichtstörer, setzt also nicht voraus, dass der Adressat der Eingriffsmaßnahme für die Gefahr verantwortlich ist. Es können nach der Gesetzesfassung alle Personen einbezogen werden, welche die Auswahlkriterien erfüllen, ohne dass es Anforderungen an die Nähe dieser Personen zur Gefahr oder zu verdächtigen Personen gibt. Auch die nach der Rasterung anhand weiterer Kriterien verbleibenden Personen muss dabei noch kein konkreter Störerverdacht treffen. Ob die betroffenen Perso­ nen Tatverdächtige oder Störer sind oder nicht, soll in diesen Fällen viel­ mehr gerade herausgefunden werden, sei es bereits durch die Rasterung



Beschluss vom 4. April 2006261

anhand weiterer Kriterien, sei es erst durch die sich anschließenden konven­ tionellen personenbezogenen Ermittlungsmaßnahmen. Die Rasterfahndung ist „Verdachts-“ oder „Verdächtigengewinnungsein­ griff“ (vgl. Gusy, KritV 2002, S. 474 [483]; Brugger, Freiheit und Sicher­ heit, 2004, S. 98 f.) insbesondere dann, wenn sie – wie im vorliegenden Fall – zur Aufdeckung von so genannten terroristischen Schläfern führen soll. Da solche „Schläfer“ sich gerade durch ihr völlig angepasstes und damit unauffälliges Vorgehen auszeichnen sollen, fehlt es bei ihnen definitionsge­ mäß an konkreten Anhaltspunkten für ein Verhalten, das auf eine potentiel­ le Störereigenschaft hindeuten könnte. Für eine Rasterfahndung, durch die solche Personen aufgefunden werden sollen, müssen daher relativ unspezi­ fische Annahmen über Täterprofile entwickelt und entsprechend unspezifi­ sche Suchkriterien eingesetzt werden, mit der Folge, dass die Suche in Abkehr von traditionellen polizeirechtlichen Strukturen weit in das Vorfeld eines konkreten Störerverdachts verlagert wird. Die Situation unterscheidet sich insofern grundlegend von einer Fahndung nach einem prinzipiell be­ kannten Täterkreis mit bestimmten, vom Üblichen abweichenden Verhal­ tensmerkmalen, wie zum Beispiel der Barzahlung von Stromrechnungen, auf die bei der Fahndung nach gesuchten RAF-Terroristen unter anderem abgestellt worden war (vgl. zur damals eingesetzten Rasterfahndung Herold, RuP 1985, S. 84 [91, 93]). Gegenüber den für die frühere Rasterfahndung typischen Konstellationen wird die Verdachtslosigkeit der Maßnahme noch erhöht, wenn gerade die Un­ auffälligkeit und Angepasstheit des Verhaltens zu einem maßgeblichen Krite­ rium der Suche erhoben wird. Das wird an der im vorliegenden Fall vorge­ nommenen bundesweit koordinierten Rasterfahndung deutlich. Weder für die etwa 5,2 Mio. Personen, deren Datensätze an das Polizeipräsidium Düssel­ dorf übermittelt wurden, noch für die etwa 32.000 Personen, deren Daten nach Angaben des Bundesbeauftragten für den Datenschutz insgesamt in die bundesweite Datei „Schläfer“ aufgenommen wurden, gab es auch nur ansatz­ weise konkrete Anhaltspunkte dafür, dass es sich gerade bei ihnen um so genannte Schläfer handeln könnte oder sie mit solchen in Kontakt stehen würden. Auch die nach dem vorgesehenen Abgleich durch das Bundeskrimi­ nalamt verbliebenen Personen, deren Daten sich zugleich in den Abgleichs­ dateien fanden, traf allein aufgrund dessen noch kein konkreter Störerver­ dacht. Vielmehr diente die Rasterfahndung auch in Bezug auf sie lediglich dazu, den Kreis derer einzuengen, bei denen möglicherweise weitere Ermitt­ lungen erst zur Begründung eines derartigen Verdachtes führen sollten. (cc)  Die Rasterfahndung kann, wie die Anzahl der im vorliegenden Fall erfassten Personen zeigt, auch durch eine außerordentlich hohe Streubreite geprägt sein.

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10. Rasterfahndung

(α)  Als Fahndungsmethode weist die Rasterfahndung die Vorteile auf, die automatisierte, rechnergestützte Operationen generell mit sich bringen, er­ möglicht also die Verarbeitung nahezu beliebig großer und komplexer Infor­ mationsbestände in großer Schnelligkeit. Ein herkömmliches Verfahren, die nach dem Modell abgestufter Erkenntnisverdichtung erfolgende Ermitt­ lungstätigkeit, wird hierdurch mit einer bislang unbekannten Durchschlags­ kraft versehen (vgl. Rogall, in: Duttge u.  a. [Hrsg.], Gedächtnisschrift Schlüchter, 2002, S. 611 [617]; Welp, in: Erichsen u. a. [Hrsg.], Recht der Persönlichkeit, 1996, S. 389 f.). In grundrechtlicher Hinsicht führt die neue Qualität der polizeilichen Ermittlungsmaßnahme zu einer erhöhten Ein­ griffsintensität. (β)  Für die Beurteilung der Angemessenheit ist die Zahl nicht nur derje­ nigen Personen relevant, die von der Rasterfahndung in einer einen Grund­ rechtseingriff auslösenden Weise betroffen sind, sondern es ist – aufgrund der objektiven Bedeutung des Grundrechts – auch die Gesamtzahl der er­ fassten Personen zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 107, 299 [328]). Werden Daten nach relativ unspezifischen Kriterien zusammengestellt, kann von der Rasterfahndung eine sehr große Ausgangsmenge von Personen betroffen sein, die aus ex ante-Sicht Unverdächtige oder Nichtstörer sind. Auch die nach einem ersten Abgleich verbleibende Gruppe von Trägern der gesuchten Merkmale kann – wie im vorliegenden Fall – sehr viele Personen umfassen und wird jedenfalls in der ganz überwiegenden Mehrzahl selbst aus der ex post-Sicht aus Nichtstörern bestehen. (3) Der insofern mit der Rasterfahndung verbundene Eingriff ist ange­ sichts der hochrangigen Verfassungsgüter, deren Schutz § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 dient, zwar noch nicht als solcher unverhältnismäßig. Er ist je­ doch nur dann angemessen, wenn der Gesetzgeber rechtsstaatliche Anforde­ rungen dadurch wahrt, dass er den Eingriff erst von der Schwelle einer hinreichend konkreten Gefahr für die bedrohten Rechtsgüter an vorsieht. (a)  Der Staat darf und muss terroristischen Bestrebungen – etwa solchen, die die Zerstörung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zum Ziel haben und die planmäßige Vernichtung von Menschenleben als Mittel zur Verwirklichung dieses Vorhabens einsetzen – mit den erforderlichen rechtsstaatlichen Mitteln wirksam entgegentreten (vgl. BVerfGE 49, 24 [56]). Auf die rechtsstaatlichen Mittel hat sich der Staat unter dem Grund­ gesetz jedoch auch zu beschränken. Das Grundgesetz enthält einen Auftrag zur Abwehr von Beeinträchtigun­ gen der Grundlagen einer freiheitlichen demokratischen Ordnung unter Einhaltung der Regeln des Rechtsstaats (vgl. BVerfGE 111, 147 [158]; BVerfGK 2, 1 [5]). Daran, dass er auch den Umgang mit seinen Gegnern den allgemein geltenden Grundsätzen unterwirft, zeigt sich gerade die Kraft



Beschluss vom 4. April 2006263

dieses Rechtsstaats (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Se­ nats vom 1. Mai 2001 – 1 BvQ 22 / 01 –, NJW 2001, S. 2076 [2077]). Das gilt auch für die Verfolgung der fundamentalen Staatszwecke der Sicherheit und des Schutzes der Bevölkerung. Die Verfassung verlangt vom Gesetzgeber, eine angemessene Balance zwischen Freiheit und Sicherheit herzustellen. Das schließt nicht nur die Verfolgung des Zieles absoluter Sicherheit aus, welche ohnehin faktisch kaum, jedenfalls aber nur um den Preis einer Aufhebung der Freiheit zu erreichen wäre. Das Grundgesetz unterwirft auch die Verfolgung des Zieles, die nach den tatsächlichen Um­ ständen größtmögliche Sicherheit herzustellen, rechtsstaatlichen Bindungen, zu denen insbesondere das Verbot unangemessener Eingriffe in die Grund­ rechte als Rechte staatlicher Eingriffsabwehr zählt. In diesem Verbot finden auch die Schutzpflichten des Staates ihre Grenze. Die Grundrechte sind dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des Einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat (vgl. BVerfGE 7, 198 [204 f.]). Die Funktion der Grundrechte als objektive Prinzipien und der sich daraus ergebenden Schutzpflichten (vgl. BVerfGE 96, 56 [64]) besteht in der prinzipiellen Verstärkung ihrer Geltungskraft, hat jedoch ihre Wurzel in dieser primären Bedeutung (vgl. BVerfGE 50, 290 [337]). Bei der Wahl der Mittel zur Erfüllung einer Schutzpflicht ist der Staat daher auf diejenigen Mittel beschränkt, deren Einsatz mit der Verfassung in Einklang steht (vgl. BVerfG, NJW 2006, S. 751 [760]5). Der staatliche Eingriff in den absolut geschützten Achtungsanspruch des Einzelnen auf Wahrung seiner Würde (vgl. BVerfGE 109, 279 [313]) ist ungeachtet des Gewichts der betroffenen Verfassungsgüter stets verboten (vgl. BVerfG, NJW 2006, S. 751 [757 ff.]6). Aber auch im Rahmen der Abwägung nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne dürfen staatliche Schutzpflichten nicht dazu führen, dass das Verbot unangemesse­ ner Grundrechtseingriffe unter Berufung auf grundrechtliche Schutzpflichten leer läuft, so dass in der Folge allenfalls ungeeignete oder unnötige Eingrif­ fe abgewehrt werden könnten. (b)  Aus dem Gebot der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne kann unter bestimmten Voraussetzungen sogar die vollständige Unzulässigkeit der Vor­ nahme bestimmter Grundrechtseingriffe zu Zwecken persönlichkeitsbezoge­ ner Ermittlungen im Bereich der inneren Sicherheit folgen. So ist der Ein­ satz der Befugnisse des Bundesnachrichtendienstes, zur so genannten stra­ tegischen Kontrolle verdachtslos Fernmeldeverkehre zu überwachen und sie 5  BVerfGE 6  BVerfGE

115, 118 [160]. 115, 118 [152 ff.].

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10. Rasterfahndung

durch Abgleich mit Suchbegriffen auszuwerten, für Zwecke der personen­ bezogenen Risikoabwehr im Bereich der inneren Sicherheit in jedem Falle unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig (vgl. BVerfGE 67, 157 [157, 180 f.]; 100, 313 [389]). Lediglich eine Verwertung von Zufallsfunden im Rahmen einer nachträglichen Zweckänderung kann unter engsten Vo­ raussetzungen an die Verhältnismäßigkeit vorgesehen werden (vgl. BVerfGE 100, 313 [389 ff.]). (c)  Für die Rasterfahndung gemäß § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 folgt aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kein Verbot, das Grundrechtseingriffe zu persönlichkeitsbezogenen Ermittlungszwecken ausnahmslos ausschlösse. Allerdings gleicht die Befugnis zur Rasterfahndung den zu Zwecken der strategischen Kontrolle vorgenommenen Eingriffen in das Fernmeldege­ heimnis insofern, als auch sie vollständig verdachtslos erfolgende Grund­ rechtseingriffe in großer Streubreite vorsieht. Auch handelt es sich bei ihr nicht lediglich um eine Ermächtigung zur nachträglich zweckändernden Verwertung von Zufallsfunden. Bei ihr sollen die Erkenntnisse vielmehr von vornherein gerade zu dem Zweck zusammengeführt und ausgewertet wer­ den, einen Kreis von potentiellen Verdächtigen zu bestimmen, gegen den dann weitere personenbezogene Ermittlungsmaßnahmen gerichtet werden können. Übermittlung, Zusammenführung und Abgleich solcher Daten stel­ len eigenständige Eingriffe dar, die – anders als im Falle der strategischen Überwachung – von vornherein zu personenbezogenen Ermittlungszwecken erfolgen. (d)  Das Gewicht der mit der Durchführung einer Rasterfahndung einher­ gehenden Grundrechtseingriffe, deren Voraussetzungen zudem gesetzlich nicht eng umschrieben worden sind, ist so hoch, dass der Gesetzgeber die Maßnahme zum Schutz der hochrangigen Rechtsgüter des § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 nur bei Vorliegen einer konkreten Gefahr vorsehen darf. Der Gesetzgeber ist bei der Gestaltung von Eingriffsbefugnissen nicht zwingend an die mit dem überkommenen Gefahrenbegriff verbundenen polizeirechtlichen Eingriffsgrenzen gebunden. Er darf sie bei Eingriffen der hier vorliegenden Intensität jedoch nur bei Wahrung besonderer Anforderun­ gen an die Verhältnismäßigkeit unterschreiten. Diese sind im Falle eines vollständig verdachtslosen Grundrechtseingriffs von der Art der Rasterfahn­ dung nicht erfüllt. Die Rasterfahndung darf daher von Verfassungs wegen erst bei Vorliegen einer konkreten Gefahr eingesetzt werden. (aa) Die Verfassung hindert den Gesetzgeber nicht grundsätzlich daran, die traditionellen rechtsstaatlichen Bindungen im Bereich des Polizeirechts auf der Grundlage einer seiner Prärogative unterliegenden Feststellung neu­ artiger oder veränderter Gefährdungs- und Bedrohungssituationen fortzuent­ wickeln. Die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit darf vom Gesetzge­



Beschluss vom 4. April 2006265

ber neu justiert, die Gewichte dürfen jedoch von ihm nicht grundlegend verschoben werden. Im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im engeren Sinne hat der Gesetzgeber die Ausgewogenheit zwischen der Art und Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung einerseits und den zum Eingriff berechtigen­ den Tatbestandselementen andererseits, wie der Einschreitschwelle, der ge­ forderten Tatsachenbasis und dem Gewicht der geschützten Rechtsgüter, zu wahren (vgl. BVerfGE 100, 313 [392 ff.]). Je gewichtiger die drohende oder erfolgte Rechtsgutbeeinträchtigung und je weniger gewichtig der Grund­ rechtseingriff ist, um den es sich handelt, desto geringer darf die Wahr­ scheinlichkeit sein, mit der auf eine drohende oder erfolgte Verletzung des Rechtsguts geschlossen werden kann, und desto weniger fundierend dürfen gegebenenfalls die Tatsachen sein, die dem Verdacht zugrunde liegen (vgl. BVerfGE 100, 313 [392]; 110, 33 [60]; 113, 348 [386]). Die Anforderungen an den Wahrscheinlichkeitsgrad und die Tatsachenbasis der Prognose dürfen allerdings nicht beliebig herabgesenkt werden, sondern müssen auch in angemessenem Verhältnis zur Art und Schwere der Grundrechtsbeeinträch­ tigung und zur Aussicht auf den Erfolg des beabsichtigten Rechtsgüterschut­ zes stehen. Selbst bei höchstem Gewicht der drohenden Rechtsgutbeein­ trächtigung kann auf das Erfordernis einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit nicht verzichtet werden. Auch muss als Voraussetzung eines schweren Grundrechtseingriffs gewährleistet bleiben, dass Annahmen und Schlussfol­ gerungen einen konkret umrissenen Ausgangspunkt im Tatsächlichen besit­ zen (vgl. BVerfGE 113, 348 [386]). Insbesondere lässt die Verfassung grundrechtseingreifende Ermittlungen „ins Blaue hinein“ nicht zu (vgl. BVerfGE 112, 284 [297]; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. April 1989 – 1 BvR 33 / 87 -, NJW 1990, S. 701 [702]). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit führt dazu, dass der Gesetzgeber intensive Grundrechtseingriffe erst von bestimmten Verdachts- oder Gefah­ renstufen an vorsehen darf (vgl. BVerfGE 100, 313 [383 f.]; 109, 279 [350 ff.]). So ist eine gesetzliche Befugnis zum Verbot oder zur Auflösung von Versammlungen nur dann verhältnismäßig, wenn eine unmittelbare, aus erkennbaren Umständen herleitbare Gefährdung der geschützten Rechtsgüter gegeben ist (vgl. BVerfGE 69, 315 [353 f.]). Ob ein Grundrechtseingriff zur Abwehr künftig drohender Rechtsgutbeeinträchtigungen auch im Vorfeld konkreter Gefahren verhältnismäßig sein kann, hängt nicht nur davon ab, ob eine hinreichende Aussicht darauf besteht, dass der Eingriff Erfolg ver­ spricht (zum Erfordernis der Erfolgseignung BVerfGE 42, 212 [220]; 96, 44 [51]; BVerfG, NJW 2006, S 976 [982]7), sondern auch davon, welche Anforderungen die Eingriffsnorm hinsichtlich der Nähe der betroffenen 7  BVerfGE

115, 166 [198].

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10. Rasterfahndung

Personen zur fraglichen Rechtsgutbedrohung vorsieht (vgl. BVerfGE 100, 313 [395]; 107, 299 [322 f., 329]; 110, 33 [60 f.]; 113, 348 [385 ff., 389]). Verzichtet der Gesetzgeber auf begrenzende Anforderungen an die Wahr­ scheinlichkeit des Gefahreneintritts sowie an die Nähe der Betroffenen zur abzuwehrenden Bedrohung und sieht er gleichwohl eine Befugnis zu Ein­ griffen von erheblichem Gewicht vor, genügt dies dem Verfassungsrecht nicht. (bb) Nach diesen Maßstäben darf eine Rasterfahndung nicht schon im Vorfeld einer konkreten Gefahr ermöglicht werden, denn sie würde zu voll­ ständig verdachtslos und mit hoher Streubreite erfolgenden Grundrechtsein­ griffen führen, die Informationen mit intensivem Persönlichkeitsbezug erfas­ sen können. Die Rasterfahndung nach dem nordrhein-westfälischen Polizeirecht zeich­ net sich gegenüber anderen personenbezogenen Ermittlungsmaßnahmen im Vorfeld konkreter Gefahren, die das Bundesverfassungsgericht nicht von vornherein als unzulässig angesehen hat, dadurch aus, dass sie keinerlei tatsachengestützte Verbindung zu einer konkret für die Bedrohungssituation verantwortlichen Person voraussetzt, gegen welche die Ermittlungen gerich­ tet werden könnten. Die zur „Verdächtigengewinnung“ eingesetzte Maßnah­ me dient weder der weiteren Ermittlung gegen konkrete Beschuldigte (vgl. dazu BVerfGE 107, 299 [314 ff., 326 ff.]) noch der weiteren Verdichtung eines bereits in sonstiger Weise auf bestimmte Personen fokussierten Risi­ koverdachts (vgl. dazu BVerfGE 100, 313 [395]; 110, 33 [58 ff., 61]; 113, 348 [375 ff., 378 ff., 383]). Die vom Bundesverfassungsgericht hervorgehobene rechtsstaatliche Maß­ gabe, nach welcher auch bei fehlendem polizeirechtlichem Störer- oder strafprozessrechtlichem Straftatverdacht eine durch eine hinreichende Tatsa­ chenbasis belegte Nähebeziehung zu künftigen Rechtsgutverletzungen be­ stehen muss, läuft bei der Rasterfahndung vielmehr ins Leere. Denn eine Tatsachenkette zu einem in irgendeiner Hinsicht konkretisierten personenbe­ zogenen Verdacht besteht bei ihr nicht. Das rechtsstaatliche Defizit, das mit dem für die Rasterfahndung typischen Verzicht auf eine Nähebeziehung zwischen dem gefährdeten Rechtsgut und den von dem Grundrechtseingriff Betroffenen verbunden ist, muss auf andere Weise kompensiert werden, um die Uferlosigkeit der Ermächtigung auszuschließen. Vorliegend hat der Ge­ setzgeber nicht den Weg gewählt, die zum Rechtsgüterschutz einsetzbare Maßnahme so zu umschreiben, dass die möglichen Eingriffe keine nennens­ werte Beeinträchtigung der Betroffenen bewirken. Auch ist die Eingriffsbe­ fugnis nicht eng begrenzt worden. Dies genügt verfassungsrechtlichen An­ forderungen nur, wenn die Ermächtigung jedenfalls eine konkrete Gefahr für das Rechtsgut voraussetzt.



Beschluss vom 4. April 2006267

(cc) Die für die Rasterfahndung geltende Eingriffsschwelle muss von Verfassungs wegen allerdings nicht notwendig eine gegenwärtige Gefahr im überkommenen Sinn sein, darf aber die einer konkreten Gefahr nicht unter­ schreiten. (α)  § 31 PolG NW 1990 greift auf das traditionelle Tatbestandselement rechtsstaatlicher Begrenzung der Inanspruchnahme von Nichtstörern zurück, die gegenwärtige Gefahr. Gegenwärtig ist eine Gefahr, bei der die Einwir­ kung des schädigenden Ereignisses entweder bereits begonnen hat oder bei der diese Einwirkung unmittelbar oder in allernächster Zeit mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bevorsteht (vgl. beispielsweise § 2 Nr. 1 Buchstabe b des Niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung [Nds. SOG]). Dies genügt den verfassungsrecht­ lichen Anforderungen an eine Ermächtigung zur Rasterfahndung. Das Vorliegen einer gegenwärtigen Gefahr in diesem Sinne ist jedoch nicht von Verfassungs wegen geboten. Auch wenn nicht von vornherein ausge­ schlossen werden kann, dass die Rasterfahndung im Einzelfall binnen kurzer Zeit Erfolg haben kann, führt das gesetzliche Erfordernis eines in allernächs­ ter Zeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Schadenseintritts angesichts des mit der Rasterfahndung regelmäßig verbun­ denen Aufwandes doch dazu, dass diese in den meisten Fällen, in welchen diese Voraussetzung erfüllt ist, zu spät kommen wird, um noch wirksam zu sein. Eine derart weit reichende Beschränkung dieses Fahndungsmittels ist angesichts des hohen Ranges der in § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 genannten Rechtsgüter zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit nicht gefordert. (β)  Ausreichend ist es vielmehr, wenn der Gesetzgeber die Zulässigkeit der Rasterfahndung an das Erfordernis einer konkreten Gefahr für die be­ troffenen Rechtsgüter knüpft. Vorausgesetzt ist danach eine Sachlage, bei der im konkreten Fall die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ein Schaden für diese Rechtsgüter eintreten wird (vgl. etwa § 2 Nr. 1 Buchstabe a Nds. SOG). Den mit der Anwendung einer solchen Ermächtigung betrauten Instanzen ist es allerdings verfassungsrechtlich verwehrt, den polizeirechtlichen Gefahrenbegriff unter Ablösung von diesen Anforderungen auszulegen und dadurch die Gefahrenschwelle unter das für eine Rasterfahndung verfassungsrechtlich geforderte Maß herabzusenken. Die für die Feststellung einer konkreten Gefahr erforderliche Wahrschein­ lichkeitsprognose muss sich auf Tatsachen beziehen. Vage Anhaltspunkte oder bloße Vermutungen ohne greifbaren, auf den Einzelfall bezogenen Anlass reichen nicht aus (vgl. BVerfGE 44, 353 [381 f.]; 69, 315 [353 f.]). (γ)  Eine konkrete Gefahr in diesem Sinne kann auch eine Dauergefahr sein. Bei einer solchen besteht die hinreichende Wahrscheinlichkeit des

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10. Rasterfahndung

Schadenseintritts über einen längeren Zeitraum hinweg zu jedem Zeitpunkt. Für die Feststellung einer solchen Dauergefahr gelten jedoch ebenfalls die mit dem Erfordernis einer konkreten Gefahr verbundenen Anforderungen an die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sowie an die kon­ krete Tatsachenbasis der Wahrscheinlichkeitsprognose. Für die Annahme einer etwa von so genannten terroristischen Schläfern ausgehenden konkreten Dauergefahr sind daher hinreichend fundierte kon­ krete Tatsachen erforderlich. Außenpolitische Spannungslagen, die von ter­ roristischen Gruppierungen zum Anlass von Anschlägen gewählt werden können, gibt es immer wieder, und sie können lange anhalten. Insofern ist es praktisch nie ausgeschlossen, dass terroristische Aktionen auch Deutsch­ land treffen oder dort vorbereitet werden können. Eine derartige allgemeine Bedrohungslage, wie sie spätestens seit dem 11. September 2001, also seit nunmehr über vier Jahren, praktisch ununterbrochen bestanden hat, oder außenpolitische Spannungslagen reichen für die Anordnung einer Raster­ fahndung nicht aus. Der durch die Rasterfahndung bewirkte Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung setzt vielmehr das Vorliegen weiterer Tatsachen voraus, aus denen sich eine konkrete Gefahr ergibt, etwa weil tatsächliche Anhaltspunkte für die Vorbereitung terroristischer Anschlä­ ge oder dafür bestehen, dass sich in Deutschland Personen für Terroran­ schläge bereithalten, die in absehbarer Zeit in Deutschland selbst oder an­ dernorts verübt werden sollen. (e) Die Begrenzung auf eine konkrete Gefahr ist im Übrigen auch als Grundlage zur Bestimmung der Verhältnismäßigkeit der Rasterfahndung im Einzelfall sowie zur näheren Konkretisierung der ergänzenden – hier nicht zu überprüfenden – verfahrensmäßigen und organisatorischen Voraussetzun­ gen der Durchführung der Maßnahme geboten. Ohne diese Begrenzung wäre es nicht möglich, die weiteren Anforderungen so zu konkretisieren, dass rechtsstaatliche Bestimmtheitsgrundsätze gewahrt sind. c)  Die Ermächtigung des § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 genügt dem Gebot der verfassungsrechtlichen Normenbestimmtheit und Normenklarheit, sofern ihr Anwendungsbereich im bezeichneten Sinne verstanden wird. aa)  Ermächtigungen zu Grundrechtseingriffen bedürfen einer gesetzlichen Grundlage, die dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenbestimmtheit und Normenklarheit entspricht (vgl. BVerfGE 110, 33 [53]). Bei Eingriffen in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung – wie auch in die Spezialgrundrechte der Art. 10 und 13 GG – hat der Gesetzgeber insbeson­ dere den Verwendungszweck der Daten bereichsspezifisch und präzise zu bestimmen (vgl. BVerfGE 65, 1 [46]; 110, 33 [70]; 113, 29 [51]). Gemäß § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 dient die Datenübermittlung dem Zweck des automatisierten Abgleichs mit anderen Datenbeständen, soweit dies zur



Beschluss vom 4. April 2006269

Abwehr bestimmter Gefahren, nämlich für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person, erforderlich ist. Als Verwendungszweck ist damit der automatisierte Abgleich der übermittelten Daten mit anderen Datenbeständen zur Abwehr der in § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 benannten Gefahren festgelegt. Das ist hinreichend. Auch dem für Übermittlungsregelungen geltenden Gebot einer hinrei­ chend sicher erschließbaren Kennzeichnung der Empfangsbehörden, einher­ gehend mit Regeln, welche die Übermittlung auf deren jeweiligen spezifi­ schen Aufgabenbereich konzentrieren (vgl. hierzu BVerfGE 110, 33 [70]), ist nur genügt, wenn der Gefahrenbegriff zur Einschränkung der Ermächti­ gung verfügbar ist. Als Empfangsbehörde für die übermittelten Daten ist die Polizei benannt. Der Verwendungszweck ist auf den Zweck der Abwehr von Gefahren für im Einzelnen benannte, hochwertige Schutzgüter der öffent­ lichen Sicherheit begrenzt, also auf einen Zweck, dessen Verfolgung zum spezifischen Aufgabenbereich der Polizeibehörden zählt (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 PolG NW 1990). § 31 PolG NW 1990 ist unter den genannten Bedingungen auch insoweit hinreichend bestimmt, als nicht nur die ausdrücklich aufgezählten Typen von Daten, sondern nach Absatz 2 auch „andere für den Einzelfall benötig­ te Daten“ verlangt und verarbeitet werden dürfen. Die Bestimmtheitsanfor­ derungen sind insoweit gewahrt, weil der Begriff der „anderen für den Einzelfall benötigten Daten“ unter Berücksichtigung des Normzwecks der Gefahrenabwehr und damit auch hinsichtlich der Feststellung, wozu die Daten „benötigt“ werden, so konkretisiert werden kann, dass der Verhältnis­ mäßigkeitsgrundsatz gewahrt bleibt. bb)  Ohne die Begrenzung auf das Vorliegen einer konkreten Gefahr gäbe es demgegenüber keine hinreichenden Anhaltspunkte zur teleologischen Bestimmung der erfassbaren Daten, insbesondere soweit es sich um „ande­ re für den Einzelfall benötigte Daten“ handelt. Fehlt es an einer konkreten Gefahr, ist nicht mit verfassungsrechtlich hinreichender Bestimmtheit ermit­ telbar, unter welchen Bedingungen Daten „für den Einzelfall“ benötigt werden. Wäre Bezugspunkt der Rasterfahndung etwa eine allgemeine Ter­ rorismusgefahr und würde diese somit zum Bezugspunkt der Konkretisie­ rung der Art der Daten, die von der Polizei benötigt werden, wäre eine nahezu grenzenlose Ermächtigung geschaffen. Es fehlten jegliche Anhalts­ punkte für die Prüfung, ob die zu erhebenden Daten „für den Einzelfall benötigt“ werden. Dies würde verfassungsrechtliche Bestimmtheitsanforde­ rungen verletzen.

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10. Rasterfahndung

II. Die angegriffenen Entscheidungen genügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Sie beruhen auf einer diesen Grundsätzen widerspre­ chenden ausweitenden Auslegung des Begriffs der gegenwärtigen Gefahr in § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 und damit im Ergebnis auf einer Umformung der Ermächtigung zu einer Vorfeldbefugnis. Dadurch erhält diese Vorschrift einen Inhalt, den auch der Gesetzgeber nicht ohne Verstoß gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Ver­ bindung mit Art. 1 Abs. 1 GG hätte bestimmen können. 1. Die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den konkreten Fall sind zwar Sache der dafür zuständigen Fachgerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen (stRspr; vgl. BVerfGE 18, 85 [92 f.]). Diese haben jedoch die Tragweite der von ihren Entscheidungen berührten Grundrechte interpretationsleitend zu berücksichtigen, damit deren wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechts­ anwendungsebene gewahrt bleibt (stRspr; vgl. BVerfGE 7, 198 [205 ff.]; 101, 361 [388]). Bedeutung und Tragweite der Grundrechte sind unter an­ derem dann verkannt, wenn ein Fachgericht einer Norm durch ausweitende Auslegung ihres Anwendungsbereichs einen Inhalt gibt, den auch der Ge­ setzgeber nicht ohne Grundrechtsverstoß hätte bestimmen dürfen, und die Anwendung der Vorschrift im konkreten Fall auf einer solchen Auslegung beruht (vgl. BVerfGE 81, 29 [31 f.]; 82, 6 [15 f.]). 2.  So liegt es hier. Die angegriffenen Entscheidungen geben dem Begriff der gegenwärtigen Gefahr in § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 einen Inhalt, mit welchem er den grundrechtlichen Anforderungen an eine Ermächtigung zur Rasterfahndung, zu denen das Vorliegen jedenfalls einer konkreten Gefahr gehört, nicht genügt. a)  Die bundesweit koordinierte Rasterfahndung nach dem 11. September 2001 hat den Gerichten Entscheidungen in einer neuartigen Gefährdungssi­ tuation abverlangt. Dies bewirkte Unsicherheit im Umgang mit den Ermäch­ tigungsgrundlagen. Einzelne Fachgerichte hielten bei der Beurteilung der Rasterfahndungen an dem überkommenen Verständnis des Begriffs der ge­ genwärtigen Gefahr fest und verneinten deren Vorliegen (vgl. OLG Frank­ furt, NVwZ 2002, S. 626 [626 f.]; LG Wiesbaden, DuD 2002, S. 240 [241]; LG Berlin, DuD 2002, S. 175 [176 f.]). Hingegen senkten andere Gerichte die Anforderungen an die Schadenswahrscheinlichkeit unter Berufung auf die Größe des drohenden Schadens herab und bejahten davon ausgehend eine gegenwärtige Gefahr (vgl. OLG Düsseldorf, DuD 2002, S. 241 ff.; DuD 2002, S. 244 f.; KG Berlin, MMR 2002, S. 616 [617]; OVG Koblenz, N ­ VwZ 2002, S. 1528; VG Mainz, DuD 2002, S. 303 [305]; AG Wiesbaden, DuD 2001, S. 752 [753]; AG Tiergarten, DuD 2001, S. 691 [692]). So gingen



Beschluss vom 4. April 2006271

auch die Gerichte in den angegriffenen Entscheidungen vor. Die ihnen zu­ grunde liegende Auslegung des § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 entspricht den verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht. b)  Die angegriffenen Entscheidungen lassen außer Acht, dass die Verfas­ sungsmäßigkeit der Anordnung an das Vorliegen zumindest einer konkreten Gefahr gebunden ist und der dafür geforderte Grad der Wahrscheinlichkeit einer Rechtsgutverletzung nicht nur mit Rücksicht auf die Größe eines mög­ lichen Schadens, sondern auch im Hinblick auf die Schwere und Erfolgs­ aussichten des Eingriffs zu bestimmen ist, der zur Gefahrenabwehr einge­ setzt wird. Aus den dargestellten verfassungsrechtlichen Gründen darf der mit der Rasterfahndung verbundene Eingriff in das Grundrecht auf informa­ tionelle Selbstbestimmung einer völlig verdachtslosen Person nur erfolgen, wenn jedenfalls eine in konkreten Tatsachen begründete Gefahr gegeben ist, die Anlass für die Annahme schafft, dass auf der Grundlage der Ermittlung von Daten eines bestimmten Personenkreises Maßnahmen ergriffen werden können, die zur Abwehr dieser Gefahr beitragen. Demgegenüber hat etwa das Landgericht es schon für hinreichend erach­ tet, dass „die Möglichkeit eines besonders gravierenden Schadenseintritts nicht ausgeschlossen“ ist, und das Oberlandesgericht will eine nur „entfern­ te Möglichkeit eines Schadenseintritts“ ausreichen lassen. Sind – wie das Oberlandesgericht für die damalige Situation ausführt – „konkrete Anzei­ chen für Terroranschläge in Deutschland nicht bekannt“, sondern besteht lediglich eine auf Vermutungen beruhende „Möglichkeit solcher Anschläge“, dann handelt es sich bei der dennoch durchgeführten Rasterfahndung um eine Maßnahme im Vorfeld der Gefahrenabwehr, nicht aber um die Abwehr einer konkreten Gefahr. Dementsprechend hat das Oberlandesgericht im Rahmen seiner weiteren Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit die auf Nichtstörer ausgerichtete Rasterfahndung ausdrücklich den Vorfeldbefugnis­ sen der Polizei zugeordnet, die nicht mehr an die Abwehr konkreter Gefah­ ren und das Störerprinzip anknüpften. Die zur Begründung der derart herabgesenkten Wahrscheinlichkeitsanfor­ derungen herangezogene Tatsachenbasis war vorliegend zu diffus, um eine konkrete Gefahr bejahen zu können. So wurden außen- und sicherheitspoli­ tische Ausgangstatsachen angeführt, die zwar – wie der Militärschlag der Vereinigten Staaten von Amerika in Afghanistan und die Drohung des Botschafters dieses Landes mit Vergeltungsschlägen – Ausweitungen der militärischen Auseinandersetzung, gegebenenfalls auch terroristische An­ schläge hätten verursachen können. Es gab jedoch keine über diese allge­ meine Lage hinausgehenden Erkenntnisse über konkrete Gefährdungen oder speziell über Anschläge oder Anschlagsvorbereitungen gerade in Deutsch­ land. Ebenso vermögen sowohl der nicht näher konkretisierte Hinweis auf

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10. Rasterfahndung

42 in Nordrhein-Westfalen befindliche, der Polizei bekannte Personen, die als Unterstützer oder Kontaktpersonen im Netzwerk Usama Bin Ladens „gälten“, als auch die Benennung möglicher Anschlagsziele in NordrheinWestfalen lediglich die allgemein gegebene Möglichkeit eines terroristischen Anschlages zu unterstreichen. Darin liegen keine hinreichend konkreten Tatsachen, aus welchen die in irgendeiner Weise verdichtete Wahrschein­ lichkeit einer Vorbereitung terroristischer Anschläge durch Personen hätte gefolgert werden können, die als terroristische „Schläfer“ einzustufen gewe­ sen wären und dementsprechend durch die Rasterfahndung aufgefunden hätten werden können. Mit der Absenkung der Wahrscheinlichkeitsschwelle auf eine bloße Mög­ lichkeit terroristischer Anschläge nehmen die Gerichte einen von Verfas­ sungs wegen unzulässigen Verzicht auf das Vorliegen einer konkreten, also im einzelnen Fall gegebenen und durch hinreichende Tatsachen zu belegen­ den Gefahrenlage vor. Dies wird dadurch bewirkt, dass die Gerichte die Bedrohungslage gleichwohl dem Begriff der Gefahr zuordnen, wodurch sie diesem einen Gehalt geben, der aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht für eine Befugnis zur Rasterfahndung ausreicht. 3. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf diesen verfassungs­ rechtlichen Mängeln. Denn es liegt nahe, dass die Gerichte bei Beachtung der verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Auslegung des Begriffs der gegenwärtigen Gefahr in § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 zu einem anderen Ergebnis gelangt wären. III. Ob die angegriffenen Beschlüsse darüber hinaus gegen die Rechte des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 4 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen, bedarf keiner Entscheidung, da die Verfassungsbeschwerde bereits wegen der Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung Erfolg hat. IV. […] Die Entscheidung ist zu B II. mit 6 : 2 Stimmen, im Übrigen einstimmig ergangen.



Abweichende Meinung Haas273

Abweichende Meinung der Richterin Haas zum Beschluss des Ersten Senats vom 4. April 2006 – 1 BvR 518 / 02 (BVerfGE 115, 371) Der Entscheidung der Senatsmehrheit stimme ich insoweit nicht zu, als diese den Beschluss des Oberlandesgerichts als verfassungswidrig aufhebt. Die Auslegung und Anwendung des § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 durch das Oberlandesgericht ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Da das Oberlandesgericht die Sach- und Rechtslage umfassend geprüft hat, bedarf es keiner Erörterung der vorausgegangenen Entscheidungen des Amts- und Landgerichts. Mit der Senatsmehrheit halte ich § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 für verfassungsgemäß, wenn auch aus anderen Gründen. 1.  Mit der Senatsmehrheit und der angegriffenen Entscheidung des Ober­ landesgerichts ist davon auszugehen, dass § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG eingreift. Das gilt allerdings nur für solche auf der Grundlage des § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 durchgeführten Datenerfassungen, die nicht sogleich wieder im automatisierten Verfahren vernichtet werden (vgl. BVerfGE 100, 313 [366]; 107, 299 [328]). Das bedeutet, dass die weitaus meisten von den Maßnahmen der Rasterfahndung erfassten Personen nicht in ihrem Grund­ recht betroffen sind.   Aber auch für die übrigen von der Datenerfassung und dem Datenab­ gleich betroffenen Personen ist – wie der vorliegende Fall zeigt – der Ein­ griff von minderer Intensität (so schon Berl. VerfGH, Beschluss vom 28. Mai 2004 – VerfGH 81 / 02 –). Wenn die Senatsmehrheit raumgreifend eine Vielzahl einzelner Umstände der Datenverwertung meint anführen zu müssen, um die besondere Intensität des Eingriffs zu begründen, so dürfte dies wohl den Schluss erlauben, dass auch die Senatsmehrheit der Überzeu­ gungskraft der einzelnen Argumente nicht ganz vertraut. Denn wäre der Eingriff wirklich von so hoher Intensität wie die Senatsmehrheit meint, so läge dies offen zutage und wäre mit wenigen Sätzen begründet. Den Rah­ men dieses Sondervotums würde es sprengen, wollte ich mich mit den einzelnen Argumenten insoweit auseinander setzen. Unübersehbar ist indes­ sen, dass sich die Erwägungen teilweise widersprechen. Einerseits wird die besondere Intensität des Eingriffs mit einem Einschüchterungseffekt solcher Fahndungsmaßnahmen begründet; andererseits wird als belastend gewürdigt, dass der Betroffene nichts von der Fahndung weiß. Nichtwissen soll also ebenso wie Wissen die Eingriffsintensität steigern. Dass es ein tertium gibt, auf das der Staat zur Schonung des Betroffenen zurückgreifen könnte, zeigt die Senatsmehrheit nicht auf. Im Übrigen entspricht es der Praxis, den ­Betroffenen über ergebnislos verlaufene Fahndungsmaßnahmen – und um solche handelt es sich vorliegend – nicht zu informieren. Schonender als

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10. Rasterfahndung

zunächst ohne Wissen des Betroffenen in Dateien befindliche vom Betrof­ fenen selbst bekannt gegebene Daten abzugleichen, könnte auch kaum verfahren werden. Entscheidend für die Beurteilung der Eingriffsintensität ist meines Erach­ tens, dass auf der Grundlage des § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 nur bereits vom Betroffenen offenbarte und in Dateien gespeicherte Daten erfasst und abgeglichen werden dürfen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich das Gewicht des Eingriffs wegen der Verschiedenheit der Bedrohungslagen nur unter Berücksichtigung der dem konkreten Fahndungsraster zugrunde geleg­ ten Kriterien beurteilen lässt. Hinzu kommt, dass Merkmale wie Geschlecht, Wohnsitz, Elternschaft, Studienrichtung ohnehin für jedermann offen zutage liegen. Jedermann kann sich durch Beobachtung oder Befragung des Um­ feldes Kenntnis von diesen Merkmalen und Lebensumständen verschaffen. Ebenso kann auch der Staat diese zur Kenntnis nehmen und verwenden, ohne dass darin immer schon ein besonders schwerer Eingriff in das Per­ sönlichkeitsrecht des Einzelnen zu sehen wäre, zumal wenn es sich wie hier um Daten handelt, die von den Betroffenen selbst gerade auch staatlichen Stellen bereits offenbart oder von diesen sonst – für den Betroffenen – fest­ gehalten worden sind. Das gilt auch für das Merkmal der Religionszugehörigkeit einer Person, gerade auch bei Moslems, die ihre Religion in der Regel offen leben und dies in unserem freiheitlichen Staat auch ohne Nachteile tun können. Dass nach Art. 3 Abs. 3 GG niemand wegen seiner Religionszugehörigkeit diskri­ miniert werden darf, verleiht der Religionszugehörigkeit in diesem Zusam­ menhang kein größeres Gewicht oder keine höhere Sensibilität als dem – ebenfalls offen zutage liegenden – Gebrauch der Sprache oder des Ge­ schlechts, Merkmalen also, an die ebenfalls keine nachteiligen Folgen ge­ knüpft werden dürfen. Um Diskriminierung geht es hier ohnehin nicht. Ebenso wenig rechtfertigt es der Schutz der Wohnung in Art. 13 Abs. 1 GG im vorliegenden Zusammenhang, das Merkmal Wohnsitz oder Ort des Wohnsitzes als besonders sensibel zu beurteilen. Dies schon deshalb nicht, weil nicht die Adresse, also die Kenntnis vom Wohnsitz, sondern die Un­ verletzlichkeit der Wohnung grundrechtlich geschützt ist. Um diese Unver­ letzlichkeit geht es hier ersichtlich nicht. Da sowohl Wohnsitz als auch gelebte Glaubensüberzeugung vom Betroffenen selbst regelmäßig öffentlich gemacht werden, kann entgegen der Senatsmehrheit keine Rede davon sein, dass der Betroffene hier besonders auf Privatheit und Vertrautheit baut. Die von der Senatsmehrheit beschworene stigmatisierende Wirkung des Daten­ abgleichs nach der Religionszugehörigkeit besteht schon deshalb nicht, weil die Rasterfahndung nicht öffentlich durchgeführt wird, also grundsätzlich auch nicht zur Kenntnis der Öffentlichkeit gelangen kann. Im Übrigen hie­ ße es den Bürger zu unterschätzen, wenn man ihm ein solches Verständnis



Abweichende Meinung Haas275

von der polizeilichen Maßnahme unterstellt. Der Bürger wird verstehen, dass etwa bei der Ermittlung extremistischer religiöser Fundamentalisten die Religionszugehörigkeit ebenso Zielvorgabe sein muss wie das Geschlecht es bei der Suche nach einem weiblichen Täter ist. Niemand käme ernsthaft auf den Gedanken, damit würden Frauen stigmatisiert. Der Eingriff ist auch nicht deshalb besonders intensiv, weil die Daten einer Vielzahl von Personen erfasst und abgeglichen werden. Der Eingriff betrifft stets nur den Einzelnen. Entscheidend ist deshalb, wie einschneidend die Maßnahme für diesen ist. Ob von der Maßnahme noch weitere Personen betroffen sind, vermindert oder erhöht die Belastungsschwelle für den ein­ zelnen Betroffenen nicht. Eine große Menge abzugleichender Daten wirkt sich überdies entgegen der Senatsmehrheit eher vorteilhaft für die in ihrem Grundrecht Betroffenen aus, verbleiben sie doch trotz namentlicher Erfas­ sung in ihrer Individualität faktisch anonym. Denn gerade wegen ihres Umfangs ist die Gesamtdatenmenge zunächst unüberschaubar, was dazu führt, dass jede einzelne von der Rasterfahndung erfasste Person nicht in ihrer Individualität hervortritt, de facto Anonymität also gewährleistet ist. Erst bei einer geringen Zahl Betroffener (vorliegend im zweistelligen Be­ reich) wird der Einzelne bei der konkreten Überprüfung in seiner Individu­ alität wahrgenommen. Darauf kommt es aber für die Frage der Intensität des Eingriffs entscheidend an. Solange also die Streubreite der Rasterfahn­ dung besonders groß ist, kann von vornherein nicht von einem besonders belastenden Eingriff gesprochen werden. 2. Ungeachtet dessen, dass weder die einzelnen von der Senatsmehrheit herangezogenen Umstände des Eingriffs noch die Gesamtheit aller dieser einen Eingriff von hoher Intensität überzeugend zu begründen vermögen, gerät der Mehrheitsmeinung ein meines Erachtens ganz entscheidender As­ pekt der auf der Grundlage des § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 zulässigen Rasterfahndung aus dem Blick. Indem nämlich der Staat einzelne bereits erhobene und damit ihm ohne weiteres zugängliche Daten lediglich noch­ mals erfasst und in der dargestellten Weise auswertet, sichert und fördert er die Freiheit gerade auch der von diesem Datenabgleich Betroffenen. Es geht damit primär um Freiheitserhalt oder -förderung. Das Grundrecht auf Freiheit fordert die Gewährleistung der Sicherheit durch den Staat. Ohne Sicherheit kann die Freiheitsgewährleistung des Grundgesetzes nicht mit Leben erfüllt werden. Sicherheit ist die Grundlage, auf der Freiheit sich erst vollends entfalten kann. Zwischen Freiheit und Sicherheit besteht damit ein untrennbarer Sach- und Sinnzusammenhang. Deshalb sind alle die Sicherheit gewährleistenden Maßnahmen gleichzeitig auch als Maßnahmen zu begreifen, die Freiheitsentfaltung gewährleisten und fördern. Ein Gewinn an Sicherheit stärkt im demokratischen Rechtsstaat

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10. Rasterfahndung

die Freiheit, ist demgemäß ein Freiheitszugewinn. Und zwar auch desjeni­ gen Bürgers, der durch staatliche präventive Schutzmaßnahmen in seiner Freiheit, seinem Recht, über die Nutzung und die Verwendung der ihn be­ treffenden Daten entscheiden zu dürfen, tangiert wird, ohne selbst Veranlas­ sung zu der Annahme gegeben zu haben, die Lebensgrundlagen seiner Mitbürger beeinträchtigen oder vernichten zu wollen. Auch er hat teil am Freiheitszugewinn wie alle anderen nicht von den Maßnahmen der Raster­ fahndung betroffenen Mitbürger auch. Für die Stärkung seines Freiheits­ rechts, seines Rechts sich ungehindert bewegen zu können, ohne zugleich Angst vor Angriffen anderer Personen auf sein Leben oder auf seine Ge­ sundheit haben zu müssen, muss der Einzelne im Vergleich dazu geringfü­ gige Beeinträchtigungen hinnehmen. Der Staat ist gefordert, diese Furcht der Menschen um ihr Leben und um ihre Gesundheit ernst zu nehmen. Werden diese elementaren Rechtsgü­ ter der Menschen bedroht, beeinträchtigt oder gar vernichtet, so ist es auch mit der verfassungsrechtlich gewährleisteten Freiheit des Einzelnen, sich nach eigenem Wunsch verhalten zu können, nicht mehr weit her; hier kommt es in der Tat zu dem von der Senatsmehrheit bei der Erörterung der Intensität des staatlichen Eingriffs bemühten Einschüchterungseffekt. Um des staatlichen Schutzes willen, um der Gewährleistung der Unver­ sehrtheit ihrer elementarsten Lebensgrundlagen willen haben sich die Men­ schen ursprünglich zum Staatsverband zusammengeschlossen und damit auf die aus der Freiheit fließende Möglichkeit der Selbsthilfe verzichtet. Indem der Staat den ihm erteilten Schutzauftrag erfüllt, schränkt er die Freiheit seiner Bürger nicht ein, sondern stärkt und gewährleistet ihnen das Recht auf Freiheit. Aus der Freiheit von Furcht erwächst dem Einzelnen die Freiheit zu selbstbestimmtem Tun, zur Entfaltung seiner Persönlichkeit und damit sei­ ner Fähigkeiten. Verhaltenssteuernde oder -hemmende Bedeutung kommt entgegen der Meinung der Senatsmehrheit dem sekundenschnellen Daten­ abgleich nicht zu. Die Betroffenen werden ihr Verhalten deswegen nicht ändern. Zum einen wird dem Einzelnen der Datenabgleich in aller Regel zum Zeitpunkt des Geschehens nicht bekannt sein und zum anderen ist nicht erkennbar – auch die Senatsmehrheit führt dazu nichts aus –, inwie­ fern die Erfassung von Merkmalen, die – wie der vorliegende Fall zeigt – an Eigenschaften (Geschlecht) oder längst getroffenen Entscheidungen (Studiengang, Wohnsitz) anknüpfen, das Verhalten sollte beeinflussen kön­ nen. Die für die Telekommunikationsüberwachung entwickelte Argumenta­ tion kann nicht auf die Rasterfahndung übertragen werden. Dies umso weniger als der im Rahmen der Rasterfahndung erfolgende Datenabgleich wegen der Typik der Daten nicht täglich oder wöchentlich wiederholt wird; anders als bei der Telekommunikationsüberwachung handelt es sich



Abweichende Meinung Haas277

nicht um eine über einen gewissen Zeitraum andauernde Maßnahme, die den Inhalt zwischenmenschlicher Kommunikation und damit einer Sphäre der Vertrautheit gilt, aus der neue, bisher nicht bekannte Erkenntnisse ge­ wonnen werden. Eingeschüchtert hingegen und in seinem Verhalten beeinflusst wird der Einzelne durch die Furcht, die durch die Bedrohung von weltweit agieren­ den Terroristen verursacht wird und die auch ernst zu nehmen ist. Drohun­ gen, denen auch Taten mit Folgen von nie zuvor erlebtem Ausmaß (New York, London, Madrid) gefolgt sind und weiter folgen können. Die Furcht vor derartigem Terror, derartigen Grausamkeiten wird den Einzelnen veran­ lassen, künftig Menschenansammlungen, Lokale, öffentliche Verkehrsmittel zu meiden. Diese Bedrohungslage wird es sein, die zur Verhaltensänderung führt. Zustimmen wiederum kann ich der Senatsmehrheit, wenn sie darauf abhebt, dass durch Verhaltensbeeinflussungen wie diese auch das „Gemein­ wohl beeinträchtigt“ wird, „weil Selbstbestimmung eine elementare Funk­ tionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeiten seiner Bürger gegründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist (vgl. BVerfG, NJW 2005, S. 1917)“. Dem gilt es zu steuern, indem möglichen Eingriffen beziehungsweise Angriffen unvergleichbar höheren Gewichts als denen des Datenabgleichs vorgebeugt wird. Damit muss die Entscheidung auch dem Maßstab gerecht werden, dass das Grundgesetz nicht nur der Aufklärung von Straftaten, sondern gerade auch deren Verhinderung eine hohe Bedeutung zumisst (vgl. BVerfGE 100, 313 [388]; zuletzt BVerfG, NJW 2006, S. 976 [980]8). 3. Verfassungsrechtliche Bedenken sind insoweit nicht zu erheben, als § 31 Abs. 1 PolG NW 1990, der in Verbindung mit der Proportionalitäts­ formel als Rechtsgrundlage für die Rasterfahndung zur Anwendung kommt, das Vorliegen einer gegenwärtigen Gefahr voraussetzt. Allerdings wäre das Merkmal der gegenwärtigen Gefahr allein kein geeignetes Anknüpfungskri­ terium zur Einleitung der Rasterfahndung. Könnte eine Rasterfahndung erst eingeleitet werden, wenn die Gefahr schon gegenwärtig ist, so wäre die Rasterfahndung als Ermittlungsmethode schlechthin ungeeignet. Denn bei realitätsbezogener Betrachtungsweise erscheint diese Ermittlungsmethode dann nicht mehr erfolgversprechend. Eine gegenwärtige Gefahr im deut­ schen Polizeirecht liegt vor, wenn der Eintritt des Schadens unmittelbar bevorsteht, also sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist (vgl. BVerwGE 121, 297) oder das Schadensereignis bereits sich zu verwirkli­ chen beginnt. Insoweit unterscheidet sich die gegenwärtige Gefahr im Zeit­ faktor von der so genannten „konkreten“ Gefahr, wonach der Schaden in absehbarer Zeit eintreten wird. Wie im Beschluss dargestellt, ist die Ras­ 8  BVerfGE

115, 166 [192].

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10. Rasterfahndung

terfahndung angesichts der Methodik, der Fülle der zu verarbeitenden Da­ ten ein umständliches Verfahren, das bis zu seinem Abschluss erhebliche Zeit benötigt; im vorliegenden Fall 20 Monate. Im Zeitrahmen der „gegen­ wärtigen“ Gefahr ist diese zeitaufwändige Art der Rasterfahndung mit Si­ cherheit nicht, in dem der „konkreten“ Gefahr mit überwiegender Wahr­ scheinlichkeit nicht zum Abschluss zu bringen. Dafür, dass derartige Ras­ terfahndungen in deutlich kürzerer Zeit zum Abschluss gebracht werden könnten – wie die Senatsmehrheit meint –, ist im Verfahren nichts hervor­ getreten. Art. 31 Abs. 1 PolG NW 1990, der eine gegenwärtige Gefahr voraussetzt, ist allerdings dann verfassungsgemäß, wenn man in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung und Literatur gleichzeitig die Formel der umgekehrten Proportionalität bei der Auslegung der Norm mit berücksichtigt. Danach ist die bei der Beurteilung des Schadenseintritts erforderliche Prognose unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erstellen, und es ist deswegen nach dem Ausmaß des möglichen Schadens zu differenzieren (BVerwGE 45, 51 [61]; 47, 31 [40]; 57, 61; 62, 36; 88, 348 [351]; 96, 200; 116, 347 [356]; 121, 297; OVG Bremen, Urteil vom 27. März 1990 – 1 BA 18 / 89 -, Juris; Schenke, POR9, 4.  Aufl., Rz.  77; Wolffgang / Hendricks / Merz, POR NRW, 2. Aufl. 2004, Rz. 270; Haurand, Allgemeines POR in NRW, 4. Aufl., S. 52; Gusy, Polizeirecht, 5. Aufl. 2003, § 3 Rz. 115; Schoch in: Schmidt-Aßmann, Besonderes Verwaltungsrecht, 13. Aufl. 2005, 2. Kap. Rz. 89; Pieroth / Schlink / Kniesel, POR, 3. Aufl. 2005, 2. Teil § 4 Rz. 7). Je größer also der befürchtete Schaden, desto geringere Anforderungen dürfen an die Wahrscheinlichkeit des Eintritts des Schadens gestellt werden, damit die Polizei tätig werden darf. Der Relativierung der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts dürfte somit auch eine zeitliche Dimension zu Eigen sein. Je geringer danach die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts ist, desto ungewisser ist auch der Zeitpunkt des Eintretens des Schadens. Es entsteht ein Zeitkorridor, der es auch im Falle der Voraussetzung des Vorliegens einer gegenwärtigen Gefahr ermöglicht, Fahndungsaktivitäten zu entfalten, ohne dass die Gefahr sich bereits verwirklicht hätte oder konkret unmittel­ bar bevorsteht. Damit wird ermöglicht, dass die Polizei bereits im Vorfeld von Straftaten zu deren Verhinderung und damit zur Risikovorsorge tätig werden kann, der gerade auch vom Grundgesetz hohe Bedeutung zugemes­ sen wird (vgl. BVerfGE 100, 313 [388]; zuletzt BVerfG, NJW 2006, S. 976 [980]10). Hingegen dürfte die von der Senatsmehrheit nunmehr vorgenommene Anreicherung dieser Jahrzehnte alten, von der Rechtsprechung, auch der des 9  Polizei-

und Ordnungsrecht. 115, 166 [192].

10  BVerfGE



Abweichende Meinung Haas279

Bundesverfassungsgerichts verwendeten Formel um einen Nähebezug der Betroffenen zur Bedrohung weder von Verfassungs wegen veranlasst noch systemgerecht sein. Für die Frage der höheren oder geringeren Wahrschein­ lichkeit des Eintritts des Schadens abhängig von der Größe des Schadens vermag das Kriterium des Nähebezugs des von der Fahndungsmaßnahme Betroffenen zur drohenden Gefahr nichts beizutragen. Die Anwendung einer solchen Formel in Zusammenwirken mit der für die Rasterfahndung voraus­ gesetzten Gefahr (§ 31 Abs. 1 PolG NW 1990) erscheint auch im Ansatz verfehlt. Wird doch typischerweise die Rasterfahndung gerade dann einge­ setzt, wenn die möglichen Täter noch unbekannt sind. Mit Hilfe der Raster­ fahndung soll erst abgeklärt werden, ob der Betroffene einen Nähebezug zur Bedrohung oder zu potentiellen Tätern hat. 4. Zutreffend hat das Oberlandesgericht in der angegriffenen Entschei­ dung aufgrund der gegebenen tatsächlichen Anhaltspunkte eine terroristische Bedrohung bejaht, die es rechtfertigte, die Rasterfahndung durchzuführen. Die Senatsmehrheit hat diesen Umständen nicht die ihnen zukommende Bedeutung beigemessen. Mit Recht hebt das Oberlandesgericht darauf ab, dass bei den Attentaten vom 11. September 2001 zwei Attentäter beteiligt waren, die ihren Wohnsitz in Nordrhein-Westfalen hatten, was im Sachbe­ richt der Entscheidung des Senats nicht erwähnt wird. Der Polizei waren darüber hinaus 42 weitere Personen des internationalen Netzwerkes unter Usama Bin Laden als Kontaktpersonen oder Unterstützer bekannt, die in Nordrhein-Westfalen präsent waren. Während des Ausgangsverfahrens hat­ ten die USA mit den von ihnen angekündigten militärischen Gegenschlägen begonnen. Die Unterstützung durch die NATO-Mitgliedstaaten, zu denen auch die Bundesrepublik Deutschland gehört, war angefordert und von ­Seiten der Bundesregierung auch zugesagt worden. Der NATO-Rat stellte daraufhin den Bündnisfall fest (BTDrucks 14 / 7296). Damit war auch die Bundesrepublik Deutschland aufgefordert, im Rahmen der kollektiven Selbstverteidigung zu Maßnahmen gegen den Terrorismus beizutragen. Der Botschafter Afghanistans hatte umgehend Vergeltungsschläge gegenüber den an den amerikanischen Aktionen beteiligten Ländern angedroht. Im weiteren Verlauf gab es Sprengstoffanschläge auf U-Bahnen und Personenzüge in Madrid und London, die bestätigten, dass auch in Europa terroristische Anschläge zu befürchten waren. Aufgrund dieser Umstände durfte das Oberlandesgericht von einer hinreichenden Tatsachengrundlage für eine Gefahrenlage ausgehen. Angesichts der Bedrohungslage für eine Vielzahl unschuldiger Menschen durfte es die Interessen des Beschwerdeführers und den als nicht schwer zu wertenden Eingriff in sein informationelles Selbst­ bestimmungsrecht hinter dem Sicherheitsinteresse aller Bürger und dem Schutzauftrag des Staates zurücktreten lassen. Als gemeinschaftsbezogener und -gebundener Bürger hat der von der Rasterfahndung Betroffene den

280

10. Rasterfahndung

konkreten in Rede stehenden Eingriff von geringem Gewicht im Interesse der Allgemeinheit hier hinzunehmen. 5. Gegenstand des Verfassungsbeschwerdeverfahrens war es über die Verfassungsmäßigkeit des § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 in seiner Auslegung und Anwendung durch das Oberlandesgericht zu entscheiden. Insoweit ­bedurfte es keiner Erwägungen, ob das Vorliegen einer konkreten Gefahr als Voraussetzung für die Anordnung einer Rasterfahndung von Verfas­ sungs wegen gefordert ist. Die Senatsmehrheit geht deshalb mit ihrer Fest­ legung auf die konkrete Gefahr als der von Verfassungs wegen geforderten Einschreitschwelle über den vom Fall her gebotenen Prüfungsumfang ­hinaus. a) Dem einfachen Gesetzgeber ist es nicht verwehrt, angesichts einer veränderten Bedrohungslage und Bedrohungsqualität im Rahmen seiner Pflicht zur Risikovorsorge die Einschreitschwelle und die Voraussetzungen für gering invasive so genannte Gefahrerforschungseingriffe zum Zwecke der Risikosteuerung neu zu bestimmen und zu definieren. Verbrechensvor­ beugung bedarf heutzutage in manchen Bereichen, soll sie zum Schutz der Grundrechte des Bürgers effektiv sein, eines mehrstufigen Vorgehens. Dazu zählt die Gefahrenvorsorge, die sich im Vorfeld zukünftiger konkreter Ge­ fahren bewegt und den Eintritt einer konkreten Gefahr verhindern oder bei deren späterem Eintritt ihrer Bekämpfung dienen soll. Diese so genannte Vorfeldaufklärung bedarf allerdings eines begründeten Anlasses. Unter Be­ achtung des Übermaßverbots gilt es, die Beurteilungsgrundlage zu erheben, ob – personenbezogen – eine konkrete Gefahr vorliegt (vgl. Brugger, FS Jayme, 2004, Bd. 2, S. 1037 [1048]; Schenk, Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Aufl. 2003, Rz. 86). Das ist auch auf anderen Rechtsgebieten anerkannt (vgl. zur Erforschung von Gefahren für die Umwelt im Bodenschutzrecht § 9 Abs. 2 Satz 2 BBodSchG); „verdachtslose“ Fluggastkontrollen nach § 29 c LuftVG, die gemeinhin als weitaus lästiger empfunden werden als ein Abgleich bereits anderweit gespeicherter „weicher“ Daten oder aber auch „verdachtslose“ Personenkontrollen vor Großveranstaltungen. b) Die Verfassung lässt nach meinem Verständnis dem Gesetzgeber zu solcher Risikovorsorge Raum, um in unmittelbarer demokratischer Legiti­ mation auf neue Situationen zu reagieren, dies je nach der Entwicklung aber auch mit einfacher gesetzgeberischer Mehrheit wieder zu korrigieren. Den traditionellen polizeirechtlichen Begriff der konkreten Gefahr von Verfas­ sungs wegen als Einschreitschwelle auch für die Gefahrenerforschung und die Risikovorsorge, hier insbesondere für die präventive Rasterfahndung vorzugeben, wie dies die Senatsmehrheit will, macht den Staat und die Gemeinschaft hingegen auf einem wichtigen Feld des Grundrechtsschutzes weitgehend wehrlos, weil nicht einmal der (einfache) Gesetzgeber mehr



Abweichende Meinung Haas281

Vorfeldaufklärungsmaßnahmen zum Schutz existentieller Grundrechte unter­ halb der Schwelle einer konkreten Gefahr vorsehen kann. Nach meiner Auffassung muss das Bundesverfassungsgericht indes gegenüber der gesetz­ gebenden Gewalt richterliche Zurückhaltung üben („judicial self-restraint“). Im gewaltengeteilten Staat des Grundgesetzes und im Blick auf die Ausba­ lancierung des Gewichts der Gewalten ist es für die Verfassungsrechtspre­ chung geboten, auf die flexibleren Gestaltungsmöglichkeiten des einfachen, unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgebers Rücksicht zu nehmen. Das vernachlässigt die Senatsmehrheit.

Die Sondervoten von Evelyn Haas Malte Graßhof A. Einleitung Ein Sondervotum1 ist immer Ausdruck einer Niederlage. Der dissentieren­ de Richter hat sich im Senat nicht durchgesetzt, seine Auffassung wird von der Senatsmehrheit nicht geteilt. Wenn der unterlegene Richter die verlorene Abstimmung nicht schweigend akzeptiert, sondern sie öffentlich macht, in­ dem er unter Dispens von dem sonst geltenden Beratungsgeheimnis seine Position darlegt, hofft er, die Niederlage doch noch zu seinem Vorteil zu wenden. Nachdem die „Schlacht“2 im Beratungszimmer verloren gegangen ist, wird ein neuer Verbündeter gesucht, die Öffentlichkeit. Denn die Ausein­ andersetzung wird noch nicht aufgegeben, sondern auf andere Weise fortge­ setzt. Nunmehr gilt es, die Folgen zu begrenzen, indem der Kampf um die Deutungshoheit über die Entscheidung und ihre Wirkung auf die weitere Rechtsentwicklung eingeleitet wird. Im Idealfall fügt das Sondervotum als letztes Rückzugsgefecht der Mehrheit noch solche Verluste zu, dass sie nur einen Pyrrhussieg erzielen kann, weil das Gericht später diese Rechtspre­ chung wieder aufgeben wird und sich dem Sondervotum anschließt. Ein solcher Erfolg ist einem dissentierenden Richter jedoch nur selten vergönnt.3 Gerichte ändern ihre Rechtsprechung nur selten; die Mehrheits­ 1  Das BVerfGG spricht in § 30 Abs. 2 sowohl von „Sondervotum“ als auch von „abweichende(r) Meinung“. In den Entscheidungen des Bundesverfassungsgericht werden Sondervoten regelmäßig als „abweichende Meinung“ bezeichnet. Zur Termi­ nologie siehe auch: Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Recht­ sprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungs­ gerichts, 1985, S. 58 und Roellecke, in: Badura / Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Erster Band, 2001, S. 365. 2  Zu dieser Metapher siehe das Sondervotum von Richter Zupancic zu dem Urteil des EGMR in der Sache Jalloh vom 11.7.2006, Nr. 54810 / 00 (abrufbar über die Homepage des EGMR, www.echr.coe): „The purpose of the ‚legal battle‘ is precisely to replace the logic of the real combat, i. e. to replace the logic of power with the power of logic. In legal pro­ cess, most fundamentally, the use of force as a means of conflict resolution is replaced with logical compulsion.“ 3  Bislang wohl einziges Beispiel (nach Hennecke, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 30 Rn. 20): In BVerfGE 85, 264 (314) hat der Zweite Se­



Die Sondervoten von Evelyn Haas283

position gewinnt durch ihren Sieg also einen zusätzlichen strategischen Vorteil, der weiteren frontalen Angriffen im Senat meistens die Erfolgsaus­ sichten nimmt. Mit dem Sondervotum beginnt daher die asymmetrische Konfrontation außerhalb des geregelten Feldes der Senatsberatung. Gegen die in der Entscheidung befestigte Mehrheitsmeinung will das Sondervo­ tum einen Aufstand der juristischen Hilfstruppen organisieren; Entschei­ dungsbesprechungen und Folgeaufsätze sollen munitioniert und mit Hin­ weisen auf die schwachen Punkte der herrschenden Argumentation ausge­ rüstet werden.  Allerdings kommt es auch vor, dass mit einer juristischen Schlacht zu­ gleich der gesamte Konflikt verloren ist. Die Fortbildung und -entwicklung des Rechts lässt sich nicht beliebig rückgängig machen; die nach den bun­ desrepublikanischen Konventionen geführte verfassungsrechtliche Auseinan­ dersetzung kennt keine Fundamentalopposition eines unendlichen Partisa­ nenkampfes. Grundlegende Weichenstellungen werden nicht auf Dauer ab­ gelehnt, sondern als gemeinsamer neuer Ausgangspunkt anerkannt.4 Das Sondervotum ermöglicht in solchen Situationen einen würdevollen Rückzug. Die erfolglose und künftig folgenlose Auffassung erhält einen ehrenden Platz in der Entscheidung, die ihre Niederlage besiegelt. Sie kann noch einmal stolz ihr Haupt heben, bevor sie der Bedeutungslosigkeit an­ heim fällt. Indem das Sondervotum die Erinnerung an diese Auffassung und die Bemühungen um ihr Obsiegen bewahrt, erleichtert es die Akzeptanz der Niederlage. Die Möglichkeit, die unterlegene Auffassung Seite an Seite neben die Mehrheitsmeinung zu stellen, verdeutlicht, dass im Senat ein Kampf unter Verfassungsfreunden stattfindet, eine argumentative Auseinan­ dersetzung, bei der eine Abstimmungsmehrheit keine Garantie für inhalt­ liche Richtigkeit gewährt, sondern nur Anknüpfungspunkt für die verfah­ rensrechtliche Herbeiführung einer abschließenden Entscheidung ist. Dem Sondervotum kommt also (um damit die martialischen Metaphern abzu­ schließen) auch eine befriedende Wirkung zu.

nat sich unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung ausdrücklich der abweichen­ den Meinung des Richters Böckenförde in BVerfGE 70, 103 angeschlossen. 4  So werden etwa die Grundzüge der durch das Bundesverfassungsgericht entwi­ ckelten Grundrechtsdogmatik nicht ernsthaft in Frage gestellt (siehe hierzu etwa H. H. Klein, Grundrechte am Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Merten / Papier [Hrsg.], Handbuch der Grundrechte, Bd. I, 2004, § 6 Rn. 62 ff.) und zwar ungeachtet bedeu­ tender Sondervoten, wie etwa der abweichenden Meinung der Richterin Ruppv. Brünneck und des Richters Simon zur Fristenlösungsentscheidung (BVerfGE 39, 68) und die abweichende Meinung des Richters Grimm zum „Reiten im Walde“ (BVerfGE 80, 164).

284

Malte Graßhof

B. Überblick Am 14. September 1994 wurde Evelyn Haas zur Richterin des Bundesver­ fassungsgerichts ernannt und übernahm die Richterstelle des ausscheidenden Präsidenten Roman Herzog im Ersten Senat. Der bisherigen Richterin am Bundesverwaltungsgericht, wo sie von 1990 bis 1994 wirkte, war das Karls­ ruher Gericht nicht fremd. Denn von 1982 bis 1986 war sie dort als wissen­ schaftliche Mitarbeiterin der Richter Träger und Klein tätig. Dorthin kam sie als Richterin beim Verwaltungsgericht Braunschweig, wo sie ihre Laufbahn begonnen hatte. Nach ihrer Zeit im „Dritten Senat“ kehrte sie zunächst wie­ der in die Verwaltungsgerichtsbarkeit, an das Oberverwaltungsgericht Lüne­ burg, zurück, bevor sie von 1987 bis 1990 als Referatsleiterin in der Nieder­ sächsische Staatskanzlei die Ministerialbürokratie kennenlernte. Gleich im ersten Karlsruher Amtsjahr von Evelyn Haas standen im Ersten Senat Entscheidungen in drei gesellschaftspolitisch brisanten Verfahren an. In allen Verfahren – zu Sitzblockaden, zur Anbringung von Kruzifixen in Schulräumen und zur Beleidigung von Soldaten – setzte sich innerhalb des Senats mit einer knappen Mehrheit von fünf zu drei die „liberale“5 Posi­tion durch, in allen Verfahren wurde für die Minderheit ein Sondervotum abge­ geben. Und an jedem Sondervotum war Evelyn Haas beteiligt: In der Sitzblockaden-Entscheidung gemeinsam mit ihren Kollegen Seidel und Söll­ ner, in der Kruzifx-Entscheidung sowohl gemeinsam mit denselben Richtern als auch mit einem eigenen Sondervotum, in der Entscheidung zur Beleidi­ gung von Soldaten dann als alleinige Verfasserin des Sondervotums. Alle diese Entscheidungen der Senatsmehrheit stießen in der Öffentlich­ keit auf vehemente, zum Teil erbitterte Kritik. Für das Ansehen des Bun­ desverfassungsgerichts wurde 1995 zum „annus horribilis“; Aufsätze mit Titeln wie „Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe – ein Gericht läuft aus dem Ruder“6 und „Götterdämmerung – Zur Stellung des Bundes­ verfassungsgerichts“7 waren symptomatisch für öffentliche Angriffe, wie sie das Gericht seit langer Zeit8 nicht mehr erlebt hatte. 1996 mahnte Isensee: „In kurzer Zeit ist das Vertrauen, das in Jahrzehnten aufgebaut worden war, jäh abgestürzt, Zustimmung umgeschlagen in Ablehnung, Respekt in Ge­ ringschätzung, Bewunderung in Schelte.“9 5  Zu Möglichkeit, Sinn und Unsinn, gerade auch an Hand von Sondervoten ein­ zelne Richter als konservativ oder progressiv einzuordnen, siehe Roellecke, S.  381 ff. 6  Krey, JR 1995, 221. 7  Großfeld, NJW 1995, 1719. 8  Siehe Vogel, Videant Judices! Zur aktuellen Kritik am Bundesverfassungsge­ richt, DÖV 1978, 665. 9  Isensee, Bundesverfassungsgericht – quo vadis?, JZ 1996, 1085 (1986).



Die Sondervoten von Evelyn Haas285

Für Evelyn Haas war allerdings die Frage, die Isensee an das Bundesver­ fassungsgericht richtete – Quo vadis? – einfach zu beantworten. Sie ging daran, den übernommenen Bestand des Dezernats abzubauen. Der Blick auf die Statistik und die Erledigungszahlen war für die ursprüngliche Verwal­ tungsrichterin selbstverständliches Instrument der Dezernatsverwaltung, um eine angemessene Verfahrensdauer sicherzustellen, ohne die auch der ver­ fassungsgerichtliche Rechtsschutz ins Leere geht. Hilfreich war dabei si­ cherlich, dass in den folgenden drei Jahren keine Sondervoten geschrieben werden mussten. In dieser Zeit wurde ein weiteres Charakteristikum der Amtsführung von Evelyn Haas deutlich: Sie drängte mit ihren Verfahren nicht ohne Not in den Senat und suchte nicht die Profilierung durch Senats­ entscheidungen (erst recht nicht durch Auftritte in der Öffentlichkeit), son­ dern bestand auf einer sorgsamen Anwendung der Annahmevoraussetzungen und Zulässigkeitskriterien, so dass ihre Fälle ganz überwiegend auf der Kammerebene verblieben. Ende 1998 geriet der Erste Senat wieder in unruhige Gewässer, als er die Wogen kreuzen musste, die das jüngste Urteil des Zweiten Senats zu § 218 StGB hinterlassen hatte, und über die Verfassungsmäßigkeit des Bayerischen Schwangerenhilfeergänzungsgesetzes entschied. Das dreißigseitige10 Son­ dervotum des Vizepräsidenten Papier und der Richterinnen Haas und Graß­ hof (die in diesem Verfahren nach § 19 Abs. 4 BVerfGG als Vertreterin für Richter Steiner in den Senat gelost worden war) sowie das entgegengesetz­ te Sondervotum des Richters Kühling und der Richterin Jaeger zeigen die erheblichen Zentrifugalkräfte, die hier im Senat wirkten. Die nächsten Jahre wurde dann wieder von Sondervoten verschont. Zu dem Zeitpunkt des „Gipfelfestes“ (das den Ablauf der ersten Hälfte der Amtszeit markiert) im September 2000 bestand daher die berechtigte Hoff­ nung, dass das Jahr 1995 mit seinen drei Sondervoten gegenüber den fol­ genden fünf Jahren mit nur einer abweichenden Meinung eine statistische Anomalie bleiben würde. Der Erste Senat musste sich jedoch erneut auf das heikle Gebiet der Gesellschaftspolitik begeben. Eines der Vorzeigeprojekte der neuen rotgrünen Bundesregierung war das „Gesetz zur Beendigung der Diskriminie­ rung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaften“, mit dem das neue familienrechtliche Institut der eingetragenen Lebenspartner­ schaft geschaffen wurde. Die bayerische und die sächsische Staatsregie­ rung leiteten abstrakte Normenkontrollverfahren ein und stellten Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, um das Inkrafttreten des Geset­ zes zum 1. August 2001 zu verhindern. Die Senatsmehrheit hielt die Eil­ 10  Bezogen

auf die amtliche Sammlung (BVerfGE 98, 329–359).

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Malte Graßhof

anträge für unbegründet, anders das gemeinsame Sondervotum des Präsi­ denten Papier, des Richters Steiner und der Richterin Haas. Die Mehrheits­ verhältnisse im Senat änderten sich bei der Hauptsacheentscheidung aus dem Jahr 2002 nicht, die in ihrem umstrittenen Teil mit einer offen geleg­ ten Mehrheit von 5 zu 3 (Vereinbarkeit des Gesetzes mit Art. 6 Abs. 1 GG) und 7 zu 1 (Vereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 1 GG) erging. Präsident Papier und Richterin Haas fügten der Entscheidung jeweils eine abweichende Meinung bei. Zwischen diese Sondervoten zum Lebenspartnerschaftsgesetz schob sich Ende 2001 eine Entscheidung, die eher in das erste Amtsjahr gepasst hätte. Erneut ging es um Sitzblockaden, diesmal nicht im Rahmen der „Friedens­ bewegung“ wie in dem Sitzblockaden-Beschluss aus dem Jahr 1995, son­ dern im Zusammenhang der Proteste gegen die Nutzung der Atomenergie. Der Sachverhalt aus dem Jahr 1986 hatte nichts von seiner rechtlichen Brisanz verloren, die Entscheidung der Mehrheit wurde auf beiden Seiten des juristischen Spektrums von Sondervoten flankiert, darunter eines von Evelyn Haas. Das folgende Sondervotum aus dem Jahr 2004 verdankt seine Entstehung wahrscheinlich dem Selbstverständnis von Evelyn Haas als Verwaltungs­ richterin. Es betrifft die verfassungsgerichtliche Überprüfung der Entschei­ dung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand durch ein Verwal­ tungsgericht – kein Stoff, aus dem die Träume von Verfassungsrechtlern sind, aber Ausdruck eines zentralen Anliegens der Richterin Haas, das richtige Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Fachgerichten zu wahren. Auch das nächste Sondervotum aus dem Jahr 2005 betraf scheinbar ein Detailproblem, die verfassungsrechtliche Pflicht, §  79 Abs.  2 Satz 2 BVerfGG analog anzuwenden. Hinter dieser Einkleidung versteckten sich jedoch gewichtige Fragen: Die Senatsmehrheit hob hier eine Entscheidung des BGH, mit der dieser eine Analogie abgelehnt hatte, als gleichheitswidrig auf. Die fachgerichtliche Entscheidung über einen Analogieschluss ist damit grundsätzlich auf die Ebene des Verfassungsrechts hochgezont worden. Zu­ dem hat die von der Mehrheit geforderte Analogie den zeitlichen Anwen­ dungsbereich von Verfassungsbeschwerdeentscheidungen, mit denen origi­ näre Verfassungsverstöße durch die rechtsprechende Gewalt gerügt werden, erheblich erweitert. Das Vollstreckungsverbot des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG gilt nunmehr praktisch für jede frühere fachgerichtliche Entschei­ dung, die tragenden Gründe einer späteren Entscheidung des Verfassungs­ gerichts widerspricht. Vier Monate vor Ende ihrer Amtszeit legte Evelyn Haas dann ihr letztes Sondervotum vor. Es steht in dem düsteren Kontext der Terrorismusgefahr



Die Sondervoten von Evelyn Haas287

nach dem 11. September 2001 und betrifft die Verfassungsmäßigkeit einer Rasterfahndung nach islamistischen „Schläfern“. Unter den Sondervoten von Evelyn Haas nimmt dieses einen besonderen Rang ein. Es ist ein lei­ denschaftliches Plädoyer für einen Staat, dessen grundlegende Aufgabe da­ rin besteht, als Basis jeder Freiheitsgewährleistung die Sicherheit der Bürger zu schützen, und der daher die durch Terroranschläge geschürte Furcht der Menschen um ihr Leben und um ihre Gesundheit ernst nehmen muss. Der Senatsmehrheit hinterlässt die ausscheidende Richterin eine ernste Warnung: Werden die „elementaren Rechtsgüter der Menschen bedroht, beeinträchtigt oder gar vernichtet, so ist es auch mit der verfassungsrechtlich gewährleis­ teten Freiheit des Einzelnen, sich nach eigenem Wunsch verhalten zu kön­ nen, nicht mehr weit her.“11 Angesichts des Ausmaßes der terroristischen Bedrohung zu Beginn des neuen Jahrtausends können die Verfahren der ersten Amtsjahre, deren Sach­ verhalte überwiegend noch in der Zeit vor dem Mauerfall spielten, geradezu nostalgisch anmuten. So führte im September 1989 das Amtsgericht Ans­ bach in den Verfahren über die Beleidigung von Soldaten aus, durch Solda­ ten der Bundeswehr sei noch niemand ums Leben gekommen und der überwiegende Teil der derzeit aktiven NATO-Soldaten habe noch niemals im Ernstfall von der Waffe Gebrauch gemacht.12 Dieser Gesichtspunkt ist durch die Geschichte überholt worden. Dagegen ist angesichts der bei Aus­ landseinsätzen, vor allem in Afghanistan, getöteten Bundeswehrsoldaten das Sondervotum von Evelyn Haas zu dieser Entscheidung aktueller denn je: Die Soldaten der Bundeswehr „setzen ihr Leben ein, um von der Zivilbe­ völkerung die Greuel des Krieges fernzuhalten und deren Leben und nicht zuletzt auch das derjenigen zu schützen, die ihr Tun geringschätzen und sie in der Öffentlichkeit verächtlich machen. Eine Rechtsordnung, die junge Männer zum Waffendienst verpflichtet und von ihnen Gehorsam verlangt, muß denjenigen, die diesen Pflichten genügen, Schutz gewähren, wenn sie wegen dieses Soldatendienstes geschmäht und öffentlich als Mörder be­ zeichnet werden.“13 An dieses Anliegen, das richtige Verhältnis von Schutz und Gehorsams­ pflicht, von staatlicher Sicherheitsgewährleistung und privatem Gewaltver­ zicht wieder herzustellen, schließt zwölf Jahre später das Sondervotum zur Rasterfahndungs-Entscheidung nahtlos an: „Um des staatlichen Schutzes willen, um der Gewährleistung der Unversehrtheit ihrer elementarsten Le­ bensgrundlagen willen haben sich die Menschen ursprünglich zum Staats­ verband zusammengeschlossen und damit auf die aus der Freiheit fließende 11  BVerfGE

115, 371 (375). BVerfGE 93, 266 (270). 13  BVerfGE 93, 313 (318). 12  Nach

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Möglichkeit der Selbsthilfe verzichtet. Indem der Staat den ihm erteilten Schutzauftrag erfüllt, schränkt er die Freiheit seiner Bürger nicht ein, son­ dern stärkt und gewährleistet ihnen das Recht auf Freiheit.“14 C. Das Sondervotum als richterliche Ausdrucksform In der deutschen Gerichtstradition ist das Sondervotum ein Fremdkör­ per.15 In Deutschland gehört der Richter (soweit er nicht in den unteren Instanzen als Einzelrichter tätig wird) einem Spruchkörper an, die Entschei­ dung wird durch das Gericht erlassen, das Abstimmungsverhalten der Rich­ ter nicht aufgedeckt. Da auch die Beratungen nicht öffentlich sind und dem Beratungsgeheimnis nach § 43 DRiG16 unterliegen, bleibt der Anteil des einzelnen Richters an der Entscheidung vor der Öffentlichkeit weitgehend verborgen.17 Das Sondervotum, das nur den Richtern des Bundesverfassungsgerichts (§ 30 Abs. 2 BVerfGG) und in Anlehnung hieran einigen Landesverfas­ sungsrichtern18 offen steht, ermöglicht daher einen seltenen Blick hinter die Kulissen der Senatsentscheidung. Der dissentierende Richter wird in seiner Rechtsauffassung persönlich identifizierbar;19 er verlässt die Anonymität des Senats und tritt als individuelle Richterpersönlichkeit auf. 14  BVerfGE

115, 371 (375). Evelyn Haas, die sich schon während ihrer Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Bundesverfassungsgericht mit dem Wesen des Sondervotums beschäftigt hat, stellen Sondervoten geradezu „aristokratische Rudimente“ dar (Haas, Anonymität und Personalität bei der Veröffentlichung von Entscheidungen des Bun­ desverfassungsgerichts, in: Das wahre Verfassungsrecht, Gedächtnisschrift für F. G. Nagelmann, 1984, S. 261 [267]). Zur Entstehungsgeschichte des § 30 Abs. 2 BVerfGG siehe Eggeling, Das Sondervotum in der Verfassungsgerichtsbarkeit der neuen Bundesländer, 2005, S. 67 ff. Grundlegend zum Sondervotum: Heyde, Das Minderheitenvotum des überstimmten Richters, 1966. 16  In § 30 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG wird ausdrücklich betont, dass das Bundesver­ fassungsgericht in „geheimer Beratung“ entscheidet. 17  Eine Ausnahme sind Entscheidungen des BVerfG bei Stimmengleichheit nach § 15 Abs. 4 Satz 3 BVerfGG, bei denen die tragende und nicht tragende Begründung unter Nennung der jeweiligen Richter veröffentlicht werden. Überspitzt hierzu Roel­ lecke, S. 363: „In vier-zu-vier-Entscheidungen geht es also nicht mehr um die Dar­ stellung von Rechtsgründen, sondern um die Selbstdarstellung der einzelnen Rich­ ter.“ 18  Überblick bei Eggeling, S.  18 ff. 19  Siehe hierzu auch Lamprecht, Richter contra Richter: Abweichende Meinungen und ihre Bedeutung für die Rechtskultur, 1992, S. 291. Für ein anonymes Sonder­ votum, um den Dissenter nicht zu privilegieren, plädiert Pestalozza, Verfassungspro­ zessrecht, 3. Aufl. 1991, § 20 Rn. 39. 15  Nach



Die Sondervoten von Evelyn Haas289

Zwischen Sondervotum und Gerichtsentscheidung besteht somit ein fun­ damentaler Unterschied. Die Entscheidung ist Gemeinschaftswerk und un­ terliegt den hergebrachten Grundsätzen des Urteilsstils, wozu insbesondere eine objektive, unpersönliche Schreibweise gehört. Das Sondervotum ist ein persönlicher Text, der aus einer subjektiven Perspektive heraus verfasst wird.20 Sie wird bereits in der typischen Einleitung einer abweichenden Meinung deutlich: „Ich vermag den Ausführungen der Senatsmehrheit … nicht zuzustimmen.“21 oder „Die Begründung der Senatsmehrheit … ermög­ licht es mir jedoch nicht, der Entscheidung … zuzustimmen.“22 Dementsprechend ist es nicht notwendigerweise Aufgabe des Sondervo­ tums, eine zweite, alternative Entscheidung zu formulieren.23 Das Sonder­ votum dient in erster Linie der Erklärung, warum ein Richter sich der Mehrheit nicht anschließt; es genügt daher, die Rechtsauffassung der Mehr­ heit rein negativ zu kritisieren, ohne einen eigenen, positiven Lösungsvor­ schlag vorzulegen.24 Der Senatsmehrheit kann vorgehalten werden, was sie nicht berücksichtigt hat, ohne die Konsequenzen einer Berücksichtigung auszuarbeiten. So legt Evelyn Haas in ihrem Sondervotum in dem Verfahren über das Lebenspartnerschaftsgesetz zunächst ihre Auffassung dar, dass Art. 6 Abs. 1 GG den Gesetzgeber daran hindert, ein familienrechtliches Institut zwischen Personen gleichen Geschlechts zu schaffen, das in Rechten und Pflichten denen der Ehe entspricht. Dass daher geprüft werden muss, ob „die Rechtsform der eingetragenen Lebenspartnerschaft einen Rege­ lungsgehalt aufweist, der mit dem des Instituts der Ehe vergleichbar ist“, wird dann nur festgehalten, ohne die Prüfung im Detail durchzuführen. Die grundlegende Differenz zur Mehrheitsmeinung im Senat ist deutlich gewor­ den, einer weiteren Prüfung bedarf es nicht. Diese Beschränkung des Sondervotums, lediglich auf Widersprüche, Lü­ cken und argumentative Schwachstellen hinzuweisen, ohne selbst einen vollständigen Entscheidungsvorschlag zu erarbeiten, wird auch in den Aus­ 20  Das Sondervotum ist auch nicht Bestandteil der Entscheidung, sondern wird dieser nach § 30 Abs. 2 BVerfGG lediglich „angeschlossen“ (siehe Pestalozza, Rn. 38). 21  Sondervotum Papier zu der Entscheidung über das Lebenspartnerschaftsgesetz, BVerfGE 105, 357. 22  Sondervotum Haas zu der Entscheidung über das Lebenspartnerschaftsgesetz, BVerfGE 105, 359 (360). 23  Nicht überzeugend ist dagegen die Auffassung von Eggeling (S. 203), ein Son­ dervotum solle nicht dazu dienen, die Argumente der Mehrheit einer kritischen Würdigung zu unterziehen, sondern mit ihm solle allein die von der Mehrheit ab­ weichende Rechtsansicht des Dissenters dargestellt werden. 24  In diesem Sinn auch E. Klein, in: Benda / Klein, Verfassungsprozeßrecht, 2. Aufl. 2001, Rn. 317.

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führungen des Sondervotums zum Lebenspartnerschaftsgesetz deutlich, die sich mit Art. 3 Abs. 3 GG befassen. Zunächst wird die Argumentation der Mehrheit – Art. 3 Abs. 3 GG sei nicht verletzt, weil an die Bindung zweier Personen angeknüpft werde und nicht an das Geschlecht – in Frage gestellt. Dann wird aber die eigene Prüfung beendet und deutlich gemacht, dass nunmehr die Begründungslast wieder bei der Senatsmehrheit liegt: „Inso­ weit wäre es wünschenswert gewesen, wenn der Senat über die knappe Begründung hinaus noch weitere Ausführungen gemacht hätte.“25 Diese Technik, das Sondervotum bewusst auf einen Hinweis, manchmal auch nur eine Andeutung26, zu beschränken, nimmt der Entscheidung den Charakter einer fertigen, abschließenden Beantwortung der Streitfrage. Dem Leser wird ein noch offenes Ergebnis präsentiert, um ihn einzuladen, den Fall selbst weiter zu denken. Mehr noch als durch eine vollständige Ent­ scheidungsalternative, die aus Sicht des Entscheidungsadressaten durch das rechtskräftige Erkenntnis des Senats letztlich immer überholt ist, wird hier vermittelt, dass die verfassungsrechtliche Problematik mit guten Gründen als weiterhin ungelöst und für eine zukünftige Beschäftigung relevant ange­ sehen werden kann.27 Der dissentierende Richter ist aber natürlich nicht daran gehindert, über eine bloße Mängelliste hinauszugehen. Die abweichende Meinung kann wie eine Entscheidungsbegründung geschrieben werden. Das Sondervotum von Evelyn Haas in dem Wiedereinsetzungsfall28 liest sich etwa genau wie die Begründetheitsprüfung einer Verfassungsbeschwerde: Das Ergebnis der Prü­ fung wird objektiv formuliert und vorangestellt, es folgt ein abstrakter Maßstab und dann die konkrete Subsumtion. Insgesamt wird eine vollwer­ 25  BVerfGE

105, 359 (363). etwa in dem Sondervotum zur Entscheidung über die Soldatenbeleidigung (BVerfGE 93, 313 [317]): „Die Fachgerichte haben die herabsetzende Gleichstellung von Soldaten und Mör­ dern als Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG), nicht aber als Verletzung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) gewürdigt; obwohl zu erwägen wäre, ob der Vorwurf, ein Mörder zu sein, nicht den sittlichen Wert des Einzelnen in Frage stellt und mithin auf das Wesen des so Angesprochenen schlechthin durchgreift. Jedenfalls haben die Fachgerich­ te die zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz bestehende Spannungslage in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise aufgelöst.“ 27  Dies ändert selbstverständlich nichts daran, dass die Frage gerichtlich entschie­ den und die Entscheidung auf Grund ihrer Bindungswirkung (§ 31 BVerfGG) zu befolgen ist. Eine Sondervotum kann daher nicht als Legitimation dazu dienen, eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht zu befolgen (auf diese Gefahr, die insbesondere bei übertrieben polemisch formulierten Sondervoten bestehen könnte, weist E. Klein hin (Rn. 317). 28  BVerfGE 110, 346. 26  So



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tige Alternative zu der Senatsentscheidung präsentiert. Nur der letzte Satz verrät mit seiner besonderen rhetorischen Wiederholung („Daß sie das nicht getan haben – darin liegt …“) das Sondervotum, dem Evelyn Haas gerne eine abschließende Bekräftigungsformel anfügt.29 Hier wird der besondere stilistische Charakter eines Sondervotums deut­ lich. Wenn nicht freiwillig die strenge Form des reinen Urteilsstils gewählt wird, kann der abweichende Richter in „seiner“ abweichenden Meinung auch seinen persönlichen Stil zum Ausdruck bringen. Mit der Individualität des Sondervotums geht daher oft eine rhetorische Emphase einher30, die einer Gerichtsentscheidung üblicherweise fremd ist.31 Diese Diskrepanz zwischen der für Gerichtsentscheidungen üblichen Zu­ rückhaltung und dem zum Teil leidenschaftlichen Duktus von Sondervoten könnte aus Sicht der Mehrheit als unfair empfunden werden.32 Tatsächlich 29  Beispielhaft: „Die Wechselbeziehung

zwischen Schutz und Gehorsam gehört zu den elementa­ ren Grundsätzen einer Rechtsordnung. Dies kann und darf nicht unberücksichtigt bleiben.“ (BVerfGE 93, 313 [319])  „Mit der Eröffnung des Schutzbereichs der Grundrechte für ihre gewaltsame Durchsetzung leistet der Beschluss sonach der Radikalisierung der Gesellschaft Vorschub.“ (BVerfGE 104, 115 [124]) „Im gewaltengeteilten Staat des Grundgesetzes und im Blick auf die Ausbalancie­ rung des Gewichts der Gewalten ist es für die Verfassungsrechtsprechung gebo­ ten, auf die flexibleren Gestaltungsmöglichkeiten des einfachen, unmittelbar de­ mokratisch legitimierten Gesetzgebers Rücksicht zu nehmen. Das vernachlässigt die Senatsmehrheit.“ (BVerfGE 115, 371 [381]) 30  Zahlreiche stilistische Beispiele aus Sondervoten zu Entscheidungen des IGH finden sich bei Hussain, Dissenting and Separate Opinions at the World Court, 1984, S. 50 ff. Dieser beklagt allerdings, einige Richter hätten „all bounds of moderation and sobriety“ überschritten (S. 51). 31  Eine vergleichbare Beobachtung kann bei den Generalanwälten des EuGH gemacht werden, die in den nur von ihnen verantworteten Schlussanträgen einen individuellen Stil pflegen, der sich bewusst von der spröden Diktion des Gerichts­ hofs abhebt. Siehe etwa den Anfang des Schlussantrags von Generalanwalt Colomer zu der gemeinschaftsrechtlichen Bewertung nationaler Glückspielmonopole (Schluss­ antrag vom 16. Mai 2006 in den verbundenen Rechtssachen C-338 / 04, -359 / 04 und C-360 / 04, Procuratore della Repubblica gegen Massimiliano Placanica, Christian Palazzese und Angelo Sorrichio [noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffent­ licht], Rn. 1):  „ ‚Rien ne va plus‘. Der Gerichtshof kann sich einer tiefgehenden Auseinander­ setzung mit den Auswirkungen der Grundfreiheiten des EG-Vertrags im Glücks­ spielsektor nicht länger entziehen.“ 32  Die Verlesung des Sondervotums durch den dissentierenden Richter bei einer mündlichen Urteilsverkündung nach § 56 Abs. 3 Satz 2 GeschOBVerfG wird gele­ gentlich als Zumutung empfunden. So verließ Richter Böhmer vor der Verlesung des Sondervotums der Richterin Rupp-v. Brünneck und des Richters Simon zur Fristen­ lösungsentscheidung (BVerfGE 39, 68) demonstrativ den Saal (nach Eggeling,

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erklärt sie sich aus dem unterschiedlichen Charakter beider Genres: Das Urteil ist Ausdruck kollektiver Wahrheitssuche und -findung, das Sonder­ votum darf erste Urteilsanmerkung sein.33 Eine schwierige Zwischenform zwischen kollektiv verantworteter Senats­ entscheidung einerseits und dem persönlichen Sondervotum andererseits stellt ein gemeinsames Sondervotum dar. Die verbundenen Dissenter bege­ ben sich freiwillig in eine Art selbst formierten Spruchkörper und verbergen, wie auch die Senatsmehrheit, den individuellen Anteil an der abweichenden Meinung, um als Gemeinschaft höhere Autorität zu gewinnen. Der Natur des Sondervotums liegt es daher nicht fern, den Schritt aus der Anonymität des Senats heraus konsequent fortzusetzen und auch dann als individueller Dissenter aufzutreten, wenn die eigene Position in ähnlicher Weise von weiteren Kollegen vertreten wird.34 Ein Sondervotum kann zwar als erste Urteilsanmerkung wirken; im ­ nterschied zu den folgenden Besprechungen erhält der Senat jedoch von U dieser Kritik noch vor Veröffentlichung der Entscheidung Kenntnis. Daher rufen Sondervoten gelegentlich das Bedürfnis der Mehrheit hervor, zu ihnen unmittelbar in den Entscheidungsgründen Stellung zu nehmen. Es entwi­ ckelt sich dann ein Dialog zwischen Sondervotum und Entscheidungsbe­ gründung. Dieser wird noch intensiver, wenn nach der Replik des Sonder­ votums und Duplik der Mehrheit wiederum eine Triplik im Sondervotum erfolgt. Besonders eindrucksvoll ist dies in der Entscheidung zur Nötigung, in der die Senatsmehrheit gleich an vier Stellen explizit das Sondervotum der Richterin Haas kritisiert35, und diese die Kritik in ihrem Sondervotum wiederum in einem Punkt ausdrücklich zurückweist36. Schaltet sich dann auch noch ein weiteres Sondervotum ein, das sich unmittelbar mit dem ersten Sondervotum auseinandersetzt (wie in der Entscheidung zur Nötigung das gemeinsame Sondervotum der Richterin Jaeger und des Richters Bryde37), legt sich über die gesamte Entscheidung ein Netz von gegenseiti­ S. 212). Den Richtern des Supreme Courts steht es frei, ihre dissenting opinions zu verlesen; sie entscheiden sich hierzu nur ausnahmsweise, wenn sie die Bedeutung ihres Sondervotums besonders unterstreichen wollen (siehe hierzu den Bericht von Greenhouse, International Herald Tribune vom 1. Juni 2007, S. 2). 33  Nach Rupp schreibt sich das BVerfG seine Urteilskritik selbst, Anmerkung zu BVerfGE 30, 1, NJW 1971, 275. 34  In der Rechtsprechung des Supreme Court der Vereinigten Staaten von Ameri­ ka lässt sich dieser Trend zur Individualisierung auch der Sondervoten gut nachvoll­ ziehen, siehe Millgramm, S. 59 ff. Zu solchen „plurality votes“ siehe auch Kau, United States Supreme Court und Bundesverfassungsgericht, 2007, S. 472 f. 35  BVerfGE 104, 92 (104, 107, 108, 109). 36  BVerfGE 104, 115 (117 / 118). 37  BVerfGE 104, 124.



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gen Bezugnahmen.38 Im Ergebnis werden dadurch die Entscheidungsbe­ gründung und die Sondervoten viel enger aneinander gebunden, als es der Intention der Mehrheit entsprechen dürfte. Dieses Ping-Pong-Spiel zwischen Senatsmehrheit und –minderheit ist in der Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts nur unvollkommen abgebildet, wenn deren § 56 Abs. 1 bestimmt, dass ein Sondervotum binnen drei Wochen nach Fertigstellung der Entscheidung dem Vorsitzenden des Senats vorliegen muss. Ändert die Mehrheit nach Vorlage des Sondervotums noch einmal die Entscheidungsgründe (was ihr schon auf Grund § 26 Abs. 1 der Geschäftsordnung möglich ist, wonach die Fortsetzung der Beratung beantragt werden kann, wenn ein Sondervotum dazu Anlass gibt39), fehlt eine Fristvorgabe für eine weitere Anpassung des Sondervotums.40 Denn die dreiwöchige Frist nach § 56 Abs. 1 der Geschäftsordnung kann nicht nach jeder kleinen Änderung der Entscheidungsgründe neu beginnen, wenn das Verfahren in angemessener Zeit beendet werden soll. Solange keine aus­ drückliche Regelung in der Geschäftsordnung erfolgt (denkbar wäre etwa die Einräumung derselben Zeit, die die Senatsmehrheit für ihre Änderung in Anspruch genommen hat), muss jeweils im Einzelfall und trotz der in dieser Phase der Senatsberatung oft auch zwischenmenschlich angespannten Lage eine einvernehmliche Lösung gefunden werden. Die Frist von drei Wochen für die Erstellung eines Sondervotums ist in vielen Fällen kaum ausreichend.41 Wenn der dissentierende Richter nicht auch Berichterstatter ist (bei Evelyn Haas war das bei keinem Sondervotum der Fall), kann er nicht auf die oft monatelange Vorbereitung des Verfahrens und das eigene Votum sowie eingearbeitete Mitarbeiter zurückgreifen. Zu­ dem kann die Entscheidung, eine abweichende Auffassung zu schreiben, erst gegen Ende der Beratungen fallen, wenn sich abzeichnet, dass Kompro­ missvorschläge ohne Erfolg bleiben werden. Diese kurze Zeitvorgabe ver­ stärkt den Charakter vieler Sondervoten als reiner Entscheidungskritik. Die abweichende Meinung muss sich dann darauf beschränken, Mängel der 38  Zu ähnlichen Beispielen aus der Rechtsprechung des Supreme Courts siehe Millgramm, S. 154. 39  Siehe hierzu Hennecke, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2.  Aufl. 2005, § 30 Rn. 19. 40  Wenn es nicht dem Dissenter vergönnt ist, die Senatsmehrheit durch die Kon­ frontation mit seiner ausführlichen, schriftlich niedergelegten Argumentation doch noch umzustimmen. Diese erfolgreichsten Sondervoten (deren Existenz verbürgt ist, siehe hierzu Eggeling, S. 151 und Zöbeley, in: Umbach / Clemens, BVerfGG, 1. Aufl. 1992, § 30 Rn. 27) werden naturgemäß nicht veröffentlicht. 41  Allerdings kann sie auch zu lang sein, etwa in Eilverfahren, in denen die star­ re drei-Wochen-Frist mit dem Bedürfnis nach einer kurzfristen Entscheidung kolli­ dieren kann.

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Entscheidung aufzudecken und auf weitere Ansätze hinzuweisen, anstatt eine eigene, fertige Lösung zu präsentieren. Die Sondervoten von Evelyn Haas versuchen oft, aus dieser Not42 eine Tugend zu machen, und sich nicht im Detail zu verlieren, sondern die grundlegenden Themen anzusprechen, die sie zu der Abgabe des Sondervotums bewogen haben. D. Die Themen der Sondervoten von Evelyn Haas Die Möglichkeit, eine abweichende Meinung darzulegen, eröffnet den Richtern des Bundesverfassungsgerichts eine außergewöhnliche Freiheit. Im Unterschied zu den Richtern der Fachgerichte dürfen sie nicht nur unter ihrem Namen einen individuellen Beitrag zu der Entscheidung ihres Ge­ richts leisten, sondern sie können auch selbst entscheiden, zu welchem Verfahren sie Stellung nehmen wollen. Die Summe der Sondervoten spiegelt daher diese Auswahlentscheidungen des Richters wider und lässt aus der Masse der Verfahren, an denen er während seiner Amtszeit mitgewirkt hat, bestimmte Themen und Anliegen hervortreten.43 Das Interesse daran, diese Leitlinien einer richterlichen Tätigkeit nachzuvollziehen, und die Möglich­ keit, den Inhalt der abweichenden Meinung einem Richter individuell zuzu­ ordnen, rechtfertigt daher die Veröffentlichung der gesammelten Sonder­ voten eines Richters.44 Die Sondervoten von Evelyn Haas lassen insbesondere zwei grundlegen­ de Anliegen erkennen. Zum einen die Sorge um die juristische Qualität der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, zum anderen der Widerstand ge­ gen eine Grundrechtsdogmatik, die den normalen Bürger gegenüber der aggressiven Wahrnehmung von Minderheitsinteressen schutzlos stellt. 1.  „Über dem Bundesverfassungsgericht ist nur der blaue Himmel.“ Die­ se Position als alles überragendes Gericht ist einerseits notwendig, denn verfassungsrechtliche Streitigkeiten müssen einer rechtskräftigen Lösung zugeführt werden.45 Andererseits ist sie aber auch riskant, denn ohne die Möglichkeit einer effektiven Kontrolle besteht immer die Gefahr, dass Qua­ litätsstandards vernachlässigt werden. Angesichts dieser beständigen Versu­ 42  Deutlich etwa das „ Den Rahmen dieses

Sondervotum zur Rasterfahndung (BVerfGE 115, 371): Sondervotums würde es sprengen, wollte ich mich mit den einzelnen Argumenten insoweit auseinander setzen.“ 43  So hat etwa Lamprecht (S. 294 f.) eine Liste „großer Dissenter“ erstellt. 44  Siehe H. P. Schneider (Hrsg.), Verfassung und Verantwortung: Gesammelte Schriften und Sondervoten von Wiltraut Rupp-von Brünneck, 1983; W. Geiger, Ab­ weichende Meinungen zu Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 1989. 45  Auch wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zunehmend seine Rolle als zusätzliche Instanz ausbaut, bleibt seine Kontrollfunktion noch beschränkt.



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chung, auf dem Weg zu einer bestimmten Entscheidung eine fragwürdige Abkürzung einzuschlagen, haben Sondervoten oft die wichtige Rolle über­ nommen, durch öffentlichen Zweifel die Mehrheit zu ermahnen, künftig auf dem Pfad der juristischen Tugend zu bleiben.46 So wird in dem Sondervotum zu der Entscheidung über das Bayerische Schwangerenhilfeergänzungsgesetz die Mehrheitsbegründung einer scharfen methodischen Kritik unterzogen: „Hätte die Senatsmehrheit die Entste­ hungsgeschichte vollständig herangezogen sowie Sinn und Zweck … be­ rücksichtigt, so wäre die Spekulation um die Motive der von ihr angenom­ men Regelung des Bundesgesetzgebers überflüssig gewesen.“47 In dem Sondervotum zu der Entscheidung über das Lebenspartnerschaftsgesetz werden ein ungenauer Maßstab für die Prüfung des Gleichheitssatzes und eine „verkürzte Argumentation der Senatsmehrheit“ angemerkt.48 Und in dem Sondervotum zu der Entscheidung über die analoge Anwendbarkeit des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG wird gerügt, dass der Senat der anerkannten juristischen Methodenlehre nicht genüge: „Die lediglich rechtspolitischen Erwägungen der Senatsmehrheit vermögen daher eine planwidrige Geset­ zeslücke methodologisch nicht zu begründen.“49 Vor allem besteht aber in einem Gericht, das über grundlegende verfas­ sungsrechtliche Fragen zu entscheiden hat, die Gefahr, dass das weniger spektakuläre Prozessrecht vernachlässigt wird. Dem Verfahrensrecht gilt dagegen das besondere Interesse der ursprünglichen Verwaltungsrichterin Haas. Ein Sondervotum befasst sich mit den Wiedereinsetzung in den vori­ gen Stand50; das ergänzende Sondervotum zu der Kruzifix-Entscheidung widmet sich der Frage, ob die Mehrheit in der Verneinung eines Anord­ nungsgrundes durch den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu Recht ei­ nen Verletzung des Art. 19 Abs. 4 GG gesehen hat. Gerügt wird hier ein handwerklicher Fehler der Mehrheitsentscheidung, eine fehlerhafte Lektüre der angegriffenen Entscheidung: „Deshalb erscheint es mehr als zweifelhaft, ob die in einem einzigen Satz zusammengefassten Erwägungen des Ge­ richtshofs zum Zeitablauf isoliert betracht und dahin gewürdigt werden können, daß das Gericht die Eilbedürftigkeit des Anliegens der Beschwer­ deführerin verneint hat“.51 46  Siehe etwa das Sondervotum der Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff zur Kopftuch-Entscheidung, in dem der Senatsmehrheit ein Gehörsverstoß angelastet wird, BVerfGE 108, 282 (339). 47  BVerfGE 98, 329 (332). 48  BVerfGE 105, 359 (363). 49  BVerfGE 115, 72 (76). 50  BVerfGE 110, 339. 51  BVerfGE 93, 34 (35).

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Immer wieder nimmt die ehemalige Richterin am Bundesverwaltungsge­ richt die Fachgerichte vor Übergriffen des Bundesverfassungsgerichts in Schutz. Sie besteht darauf, dass die Sachverhaltsaufklärung und Sachver­ haltswürdigung originäre Aufgaben der Fachgerichte sind und von diesen besser bewältigt werden können als durch das Bundesverfassungsgericht: Das Bundesverfassungsgericht hat seinen Entscheidungen den im Ausgangs­ verfahren festgestellten Sachverhalt zugrunde zu legen, soweit die Feststel­ lungen nicht durch Verfahrensrügen angegriffen worden sind. In ihrem Sondervotum zur Kruzifix-Entscheidung legt sie diese Aufgabenverteilung zwischen Verfassungs- und Fachgericht mustergültig dar: „Daß der den Beschwerdeführern durch den Anblick eines Kruzifixes entstehende Nach­ teil allein in Folge Zeitablaufs unzumutbar geworden wäre, lässt sich den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs, die von den Beschwerdeführern nicht angegriffen worden sind, nicht entnehmen. Die Beschwerdeführer haben auch nichts dafür vorgetragen, daß diesbezügliches Vorbringen vom Verwaltungsgerichtshof außer Betracht gelassen worden ist.“52 Auch in dem Sondervotum zu der Entscheidung über die Beleidigung von Soldaten wird kritisiert, dass die Mehrheitsmeinung keine Grundlage in den fachgericht­ lichen Feststellungen finde.53 In dem Sondervotum zur Nötigungs-Entschei­ dung aus dem Jahr 2001 wird ebenfalls festgestellt, der Senat berufe sich nicht auf „in den Urteilen festgestellten Umstände“; um den Punkt zu un­ terstreichen, wendet sich das Sondervotum hier sogar direkt direkt an die Mehrheit und fragt noch einmal nach: „welche?“.54 Umfassend widmet sich Evelyn Haas dem Verhältnis zwischen Bundes­ verfassungsgericht und Fachgerichten in dem Sondervotum zu der Entschei­ dung über die Beleidigung von Soldaten: „Grundsätzlich gilt: Die Aufklä­ rung und Würdigung des Sachverhalts oblieg den Fachgerichten.“ Es könne nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts sein, „seine eigene Wertung der Umstände des Einzelfalls nach Art eines Rechtsmittelgerichts … an die Stelle derjenigen des zuständigen Richters zu setzen“.55 Hier schlägt die Kritik an einer unzutreffenden prozessualen Vorgehensweise im Einzelfall in einen fundamentalen Widerspruch zu der Senatsrechtsprechung um: „So­ weit der Senat bei der Auslegung von Äußerungen eine anderen Prüfungs­ maßstab anlegt, bisweilen sogar die ‚volle‘ verfassungsrechtliche Nachprü­ fung … beansprucht …, vermag ich dem nicht zu folgen.“56 Das höchste 52  BVerfGE

93, 34 (35 / 36). hätte die Berücksichtigung einer derartigen Absicht zur Vorausset­ zung, daß das Fachgericht entsprechende Feststellungen überhaupt getroffen hat; daran fehlt es etwa im Verfahren 1 BvR 102 / 92.“ (BVerfGE 93, 313 [316]) 54  BVerfGE 104, 115 (119). 55  Beide Zitate: BVerfGE 93, 313 f. 56  BVerfGE 93, 313 (314). 53  „Überdies



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Gericht soll vor der Hybris bewahrt werden, in die Bereiche einzugreifen, „die der sachnäheren Fachgerichtsbarkeit mit ihren spezifischen Aufklä­ rungsmöglichkeiten, zumal auch ihren Erkenntnismöglichkeiten in der mündlichen Verhandlung, vorbehalten sind“.57 2.  In dem Beharren auf der fachgerichtlichen Zuständigkeit für die Fest­ stellung und Würdigung des Sachverhalts zeigt sich eine erhebliche Skepsis gegenüber der Abstraktionshöhe, die verfassungsgerichtlichen Entscheidun­ gen eigen ist. Diese Distanz zu dem Ausgangsverfahren wird noch dadurch erhöht, dass in der Situation kollidierender verfassungsrechtlicher Interessen das Verfahren der Verfassungsbeschwerde oft eine Seite bevorzugt. Denn der Beschwerdeführer, der eine Grundrechtsverletzung behauptet, wird un­ mittelbar und persönlich gehört. Bürger, deren entgegenstehenden Interessen ebenfalls berührt sind, werden dagegen in vielen Verfahren nur durch staat­ liche Organe mediatisiert und haben vor dem Bundesverfassungsgericht keine eigene Stimme. Ihnen gilt die besondere Fürsorge von Evelyn Haas. Sie nimmt die Eltern und Kinder in den Blick, deren positive Bekenntnis­ freiheit durch die Entfernung der Kruzifixe in Klassenzimmern eingeschränkt wird; erinnert daran, dass die Beleidigung von Soldaten gerade die Bürger trifft, die gegenüber solchen Angriffen besonders wehrlos sind, nämlich junge, zum Gehorsam verpflichtete Wehrdienstleistende; fragt, warum ein Angestellter einer Wiederaufarbeitungsanlage sich wegen seines Berufs zur Passivität nötigen lassen muss; spricht die Furcht des Einzelnen vor Terror­ anschlägen aus, die ihn veranlassen kann, „künftig Menschenansammlungen, Lokale, öffentliche Verkehrsmittel zu meiden“58. Umgekehrt hat die Richterin Haas wenig Verständnis für die Geltendma­ chung übertriebener Empfindlichkeiten und Ansprüche. In dem gemeinsa­ men Sondervotum zur Kruzifix-Entscheidung wird zurückhaltend formuliert: „Die psychische Beeinträchtigung und mentale Belastung, die nichtchrist­ liche Schüler durch die zwangsläufige Wahrnehmung des Kreuzes im Un­ terricht zu erdulden haben, hat nur ein verhältnismäßig geringes Gewicht.“59 Ein Recht, Soldaten der Bundeswehr als Mörder zu bezeichnen, ist für sie nicht vorstellbar, im Gegenteil: „Der Verzicht auf persönliche Diffamierun­ gen im politischen Meinungsbildungsprozeß kann diesen nur befördern, indem er die politische Streitkultur hebt.“60 Keinesfalls kann sich auf Grundrechte berufen, wer die Aufmerksamkeit Dritter mit Gewalt einfor­ dert, wie die Blockierer der Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf. Dies gilt auch dann, wenn die Meinungskundgabe ein die Öffentlichkeit bewe­ 57  Ebd.

58  BVerfGE

115, 371 (376). 93, 25 (33). 60  BVerfGE 93, 313 (318). 59  BVerfGE

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gendes Thema betrifft.61 Schließlich wird in der Auffassung, wonach in der Rasterfahndung ein Eingriff von besonderer Schwere liege, eine übersteiger­ te datenschutzrechtliche Sensibilität gesehen, die an den wahren Schutzbe­ dürfnissen vorbeigeht: „Im Übrigen hieße es den Bürger zu unterschätzen, wenn man ihm ein solches [stigmatisierendes] Verständnis von der polizei­ lichen Maßnahme unterstellt. Der Bürger wird verstehen, dass etwa bei der Ermittlung extremistischer religiöser Fundamentalisten die Religionszugehö­ rigkeit ebenso Zielvorgabe sein muss wie das Geschlecht es bei der Suche nach einem weiblichen Täter ist.“62 Das übergreifende Thema der Sondervoten ist hier letztlich die Sorge um die Grundlagen des demokratischen Staats, in dem private Gewalt zuguns­ ten demokratischer Herrschaft aufgegeben worden ist. Die Einräumung einer zu weitgehenden Befugnis, politische Anliegen durch den Eingriff in die Rechte unbeteiligter Dritter zu verfolgen, „leistet der Radikalisierung der Gesellschaft Vorschub“,63 beeinträchtigt damit den gewaltfreien Charakter des Gemeinwesens. Der verfassungsgerichtliche Schutz übersteigerter Grundrechtsempfindlichkeiten ohne Beachtung des gesetzgeberischen Wer­ tungsspielraums unterlässt es, auf die „Gestaltungsmöglichkeiten des einfa­ chen, unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgebers Rücksicht zu nehmen“64, steht also im Widerspruch zu dem Prinzip der Volksherrschaft. Der Aufruf nach „judicial self-restraint“65, mit dem Evelyn Haas ihre Jus­ tizlaufbahn beendet, ist daher als Warnung zu verstehen, durch eine hyper­ trophe Grundrechtsjudikatur die „partikularistische Dekonstruktion des mo­ dernen Staates“66 voranzutreiben. Denn der historisch und rechtsvergleichend 61  BVerfGE

104, 115 ff. 115, 371 (373). Der Vergleich mit einer anderen Sachverhaltsvarian­ te ist dabei eine bevorzugte Argumentationstechnik. Die Konsequenzen der Einräu­ mung besonderer Rechtspositionen soll auf diese Weise deutlich vor Augen geführt werden, so auch in dem Sondervotum zur Nötigungsentscheidung (BVerfGE 104, 115 [121]):  „Insbesondere ist das Gewicht der Grundrechte der Opfer nicht etwa deshalb als geringer zu veranschlagen, weil ein Sachbezug derselben zum Protestgegenstand besteht. Daß dies ein gänzlich ungeeignetes Kriterium ist, wird deutlich, wenn man beispielsweise bedenkt, daß sich eine Demonstration gegen Ausländer be­ stimmter Nationalität richtet und unter einem entsprechenden Motto stattfindet. Müssen sich die angesprochenen Ausländer wegen des offensichtlichen ‚Sachbe­ zugs zum Protestgegenstand‘ tatsächlich mehr gefallen lassen als andere Auslän­ der oder Deutsche, die von einer solchen Ankettungsaktion gleichfalls betroffen sind?“ 63  BVerfGE 104, 115 (124). 64  BVerfGE 115, 371 (381). 65  BVerfGE 115, 371 (381). 66  Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 2. Aufl. 2000, S. 516. 62  BVerfGE



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denkenden Richterin ist bewusst, dass der demokratische Rechtsstaat des Grundgesetzes eine prekäre Staatsform ist. Halt gibt ihm maßgeblich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsge­ richts. An der Sicherung der Tragfähigkeit seiner Entscheidungen hat Evelyn Haas zwölf Jahre lang mitgewirkt, gerade auch durch das kritische Abklop­ fen der Mehrheitsauffassung in ihren Sondervoten.